Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle
herzlich zu dieser Plenarsitzung, insbesondere auch die
zahlreichen Gäste, die zum ersten Tagesordnungspunkt
erschienen sind. Dieser Tagesordnungspunkt behandelt
ein herausragendes historisches Ereignis mit nachhaltigen Folgen nicht nur für das Nachbarschaftsverhältnis
zwischen der Türkei und Armenien. Schon die Vereinbarung dieser Debatte im Deutschen Bundestag hat große
öffentliche Aufmerksamkeit gefunden.
Völkermord ist ein Straftatbestand im Völkerrecht für
Taten mit der Absicht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise
zu zerstören“. Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im
Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen
der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord. Er ist nicht
der letzte im 20. Jahrhundert geblieben. Umso größer ist
unsere Verpflichtung, im Respekt vor den Opfern und in
der Verantwortung für Ursachen und Wirkungen die damaligen Verbrechen weder zu verdrängen noch zu beschönigen.
Wir Deutsche haben niemanden über den Umgang
mit seiner Vergangenheit zu belehren. Aber wir können
durch unsere eigene Erfahrung andere ermutigen, sich
ihrer Geschichte zu stellen, auch wenn es schmerzt: Das
selbstkritische Bekenntnis zur Wahrheit ist Voraussetzung für Versöhnung. Dazu gehört, die Mitverantwortung des Deutschen Reiches an den Verbrechen vor
100 Jahren zu benennen. Obwohl die Reichsleitung umfassend informiert war, nutzte sie ihre Einflussmöglichkeiten nicht. Das Militärbündnis mit dem Osmanischen
Reich war ihr wichtiger als die Intervention zur Rettung
von Menschenleben. Diese Mitschuld einzuräumen, ist
Voraussetzung unserer Glaubwürdigkeit gegenüber Armenien wie der Türkei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste, Geschichte erzwingt jenseits der historischen Fakten eine
Deutung. Sie ist damit zwangsläufig politisch. Diesen
Streit mag man beklagen. Aber er ist unvermeidlich, und
er gehört ins Parlament. Seit den beispiellosen Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass es keinen wirklichen Frieden geben kann, solange nicht den
Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen Gerechtigkeit widerfährt, im Erinnern an das, was tatsächlich
geschehen ist.
Auch heute werden Menschen Opfer von Verfolgung,
aus politischen, ethnischen und auch aus religiösen
Gründen, darunter Tausende Christen. Die Türkei leistet
mit der Aufnahme von weit über 1 Million Flüchtlingen
eine immense, zu selten gewürdigte und manchen in Europa beschämende humanitäre Hilfe. Diese Bereitschaft,
Verantwortung in der Gegenwart zu übernehmen, vergessen wir ausdrücklich nicht, wenn wir an das Bewusstsein auch der Verantwortung für die eigene Vergangenheit appellieren.
Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah, aber sie ist
mitverantwortlich für das, was daraus wird. Dass sie in
einer eigenen Zeremonie einen Schritt auf die Nachfahren und den Nachbarn zugeht, würdigen wir ausdrücklich, vor allem aber die vielen mutigen Türken und Kurden, die sich zusammen mit Armeniern bereits seit
Jahren um eine ehrliche Aufarbeitung dieses finsteren
Kapitels der gemeinsamen Geschichte bemühen: Schriftsteller, Journalisten, Bürgermeister, religiöse Führer. Ich
denke an den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk
und an den Journalisten Hrant Dink, der seinen Einsatz
für die historische Wahrheit mit dem Leben bezahlte. Sie
verdienen unsere Unterstützung, und sie brauchen sie
auch. Dazu wollen wir mit unserer heutigen Debatte beitragen.
Vielen Dank.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und b sowie
den Zusatzpunkt 5 auf:
25 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD
Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern
vor 100 Jahren
Präsident Dr. Norbert Lammert
Drucksache 18/4684
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Katrin Kunert, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
100. Jahresgedenken des Völkermords an
den Armenierinnen und Armeniern 1915/
1916 - Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen
Drucksache 18/4335
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem
Özdemir, Claudia Roth ({3}), Peter
Meiwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern - Versöhnung
durch Aufarbeitung und Austausch fördern
Drucksache 18/4687
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu gibt
es offensichtlich Einvernehmen. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
heutigen 24. April, an dem 100. Jahrestag des Beginns
der Vertreibung und Massaker an den im Osmanischen
Reich lebenden Armeniern, verneigen wir uns vor den
Opfern, und wir trauern mit ihren Nachkommen. Wir tun
dies in anhaltender Erschütterung über das Massenhafte
und Wahllose des damaligen Tötens und Vernichtens
und im Wissen darum, dass heute nicht nur in Jerewan
und ganz Armenien, sondern an vielen Orten der weltweiten armenischen Diaspora an das tragische Schicksal
der Opfer erinnert wird.
Im gleichen Atemzug bekennen wir uns aber auch zur
deutschen Mitverantwortung für das Geschehen. Und
Mitverantwortung heißt hier auch historische Mitschuld,
die wir rückhaltlos einräumen. Denn längst steht fest
- es ist gut belegt -, dass deutsche Diplomaten über die
Ausrottung und Vernichtung der christlichen Armenier
nach Hause berichteten, dass deutsche Offiziere in türkischen Diensten beteiligt waren, die Reichsregierung aber
mit Rücksicht auf die Türkei als Weltkriegsverbündeten
keinerlei Einwände gegen die genozidale Vertreibungspolitik geltend machte, sondern ihr durch Wegschauen
und Stillschweigen Deckung verschaffte.
Was Deportation damals bedeutete, das hat Armin
Theophil Wegner aus dem Stab des berühmten im Ottomanischen Reich eingesetzten Feldmarschalls Colmar
von der Goltz uns in einem nachträglich verfassten Bericht überliefert. Ich zitiere:
Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste
von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt,
erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt,
von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, verdursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von
Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den
Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen,
Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen,
Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte
starben sie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gedenktage sind
dazu da, dass man innehalten kann, dass man Trauerarbeit leistet. Sie dienen gerade bei einem in der Diaspora
zerstreuten Volk der Identitätsstiftung. Aber sie mahnen
auch, sich um eine bessere Zukunft zu bemühen.
Vorgestern erreichte uns eine Botschaft des armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan. Darin wird er wie
folgt zitiert:
Es geht um ein wichtiges geschichtliches Datum für
das armenische Volk und die internationale Gemeinschaft.
Dabei wolle Armenien aber „nicht nur zurückschauen
und über historische Fakten nachdenken“. „Niemals
wieder“ müsse die Botschaft lauten. Dieser Ansatz verdient Unterstützung. Er will ganz offensichtlich das traditionelle armenische Opfervolk narrativ aufbrechen und
den engen Rahmen des Memory War verlassen. „Nicht
nur zurückschauen“ heißt in der Konsequenz, sich für
eine bessere Zukunft Armeniens einzusetzen und dabei
das immer noch verbissen geführte Ringen um die Völkermordfrage in einen wirklich von beiden Seiten getragenen Versöhnungsprozess münden zu lassen. Ohne einen solchen tatsächlich von beiden Seiten ehrlich
geführten Versöhnungsprozess wird das Leiden an der
Vergangenheit, die Fesselung in den historischen Traumata in beiden Ländern nicht aufhören können.
Im Oktober 2010 schien der Einstieg in die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern zum
Greifen nahe. Die beiden Züricher Protokolle - Produkt
zweijähriger über die Schweiz vermittelter Geheimverhandlungen - sahen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die Öffnung der seit 1993 geschlossenen
Grenzen und den Ausbau der politischen, wirtschaftliDr. h. c. Gernot Erler
chen und kulturellen Beziehungen vor, einschließlich einer gemeinsamen Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Die Züricher Dokumente wurden nicht ratifiziert. Sie
zerschellten am Widerstand nationalistischer Kräfte in
beiden Ländern. Eine Tragödie! Was wäre angemessener, als dass der große Gedenktag heute zum Ausgangspunkt eines neuen Normalisierungs- und Aussöhnungsprozesses wird? Nichts anderes will der hier vorliegende
Antrag der Koalition, der die Bundesregierung nachdrücklich auffordert, einen solchen Prozess zu unterstützen. Dasselbe Ziel hat ein am 15. April beschlossener
Antrag des Europäischen Parlaments.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch auf türkischer Seite positive Signale. Schon im vergangenen
Jahr hat Präsident Erdogan sein Mitleid mit den armenischen Opfern bekundet und von unmenschlichen Vertreibungen gesprochen. In einem Schreiben von Ministerpräsident Davutoglu heißt es - ich zitiere -:
Wir gedenken der unschuldigen osmanischen Armenier, die ihr Leben ließen, mit Respekt. Wir sprechen ihren Nachkommen unser Mitgefühl aus.
Das sind Anknüpfungspunkte. Sich zu Mitverantwortung, ja zur Mitschuld zu bekennen, reicht nicht aus. In
Deutschland stehen wir in der Pflicht, unsere Beziehungen zu beiden Ländern zu nutzen, um bei der Suche nach
Auswegen zu helfen.
Wir wissen aber auch um die schwierige Situation der
kleinen Republik Armenien: mit den geschlossenen
Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan, mit dem ungelösten Konflikt in Nagornij Karabach, an dessen
Grenze im Jahr 2014 mehr Verluste an Menschenleben
zu verzeichnen waren als in allen Jahren zuvor, mit den
besonderen Abhängigkeiten, die deutlich geworden sind,
als Armenien erst mit der EU ein Assoziierungsabkommen ausgehandelt hat, dann aber im Herbst 2013 den
Entschluss fasste, Mitglied der von Russland geführten
Zollunion und heute der Eurasischen Wirtschaftsunion
zu werden, und mit der Ausdehnung von Armut im eigenen Land. Die friedliche Lösung des Karabach-Problems
und die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Jerewan und Ankara sind die beiden Schlüsselfragen für
die 3 Millionen Menschen in Armenien. Das Land
braucht gerade an einem Tag wie heute Hoffnung. Von
unserer Debatte sollten eine solche Hoffnung und das
klare Signal unserer Hilfsbereitschaft ausgehen.
Vielen Dank.
({0})
Ulla Jelpke ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße die Gäste auf der Tribüne, insbesondere die Vertreterinnen und Vertreter der armenischen und assyrischen Verbände, die dieser historischen Debatte folgen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der
Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich. Diesem Verbrechen fielen 1,5 Millionen
Menschen zum Opfer. Hunderttausende Assyrer und andere Christen wurden damals ermordet. Die Armenier
sprechen von „Aghet“, der Katastrophe; die Assyrer
nennen diese Ereignisse „Sayfo“, das Schwert. Wir verneigen uns vor den Toten, und ihren Nachfahren drücken
wir unser tief empfundenes Mitgefühl aus.
Meine Damen und Herren, Völkermord wird von den
Vereinten Nationen als Handlung mit der Absicht definiert - wir haben es eben schon gehört -, „eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche
ganz oder teilweise zu zerstören“. Genau darum ging es
den Jungtürken mit ihrem Geheimplan zur - so wörtlich „Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamtheit“. Ihr Ziel war die Schaffung eines ethnisch homogenen Nationalstaates in Anatolien und der Raub armenischen Besitzes. Zuerst wurden im Februar 1915
armenische Soldaten der osmanischen Armee entwaffnet
und erschossen, dann, am 24. April, die armenische Führungselite aus Konstantinopel deportiert. Anschließend
wurden bei landesweiten Dorfrazzien die armenischen
Männer von der jungtürkischen Sonderorganisation massakriert und Frauen, Kinder und Alte auf Todesmärsche
getrieben. Die angeblich kriegsbedingten Deportationen
waren Verbannungen ins Nichts - das hatte Innenminister Talaat Pascha offen eingestanden. Diejenigen Armenier, die Angriffe von kurdischen und kaukasischen Räuberbanden, Krankheiten, Hunger und Durst überlebt
hatten, wurden im Sommer 1916 in der mesopotamischen Wüste von Todesschwadronen niedergemetzelt.
Ohne jeden Zweifel handelte es sich um einen vorsätzlich geplanten und durchgeführten Völkermord.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich denjenigen
Kolleginnen und Kollegen in den Fraktionen von Union
und SPD danken, die in dieser Frage nie ein Blatt vor
den Mund genommen haben.
({1})
Denn Ihrem Drängen ist es - gemeinsam mit den deutlichen Worten des Papstes, aber auch des Bundespräsidenten Gauck - zu verdanken, dass im Antrag der Koalition
zumindest das Wort „Völkermord“ enthalten ist. Doch
explizit als Völkermord benannt wird die Vernichtung
der Armenier im Koalitionsantrag immer noch nicht.
Dieses Verstecken hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten
ist einfach beschämend und diesem Anlass zutiefst unwürdig.
Meine Damen und Herren, es geht hier keinesfalls darum, Millionen in der BRD lebende türkischstämmige
Bürgerinnen und Bürger für die Verbrechen vor 100 Jahren in Kollektivhaftung zu nehmen. Doch Kenntnis und
Eingeständnis historischer Wahrheiten sind die Voraussetzung für einen Aussöhnungsprozess zwischen Türken
und Armeniern. Es soll hier auch nicht um eine selbstgerechte Belehrung der Türkei gehen. Denn wer über
1915/1916 spricht, der muss auch über unsere eigene
Geschichte sprechen. Schließlich war das Deutsche Kaiserreich der engste Verbündete des Osmanischen Reiches. Ohne dieses Kriegsbündnis, das der türkischen
Führung den Rücken freihielt, wäre der Völkermord so
nicht möglich gewesen. Die Koalition verharmlost dies
in ihrem Antrag als „unrühmliche Rolle des Deutschen
Reiches“, das nicht versucht habe, diese Verbrechen zu
stoppen. Auch der Grünen-Antrag erkennt nur in diesem
einen Punkt eine deutsche Mitverantwortung. Doch die
verbrecherische Komplizenschaft ging weit über unterlassene Hilfeleistung hinaus. Es handelte sich vielmehr
um Beihilfe zum Völkermord. Der Reichskanzler untersagte jede Kritik am türkischen Bündnis. Ich zitiere:
Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des
Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob
darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.
Lediglich der sozialistische Abgeordnete Karl
Liebknecht protestierte damals im Reichstag gegen die
Ausrottung der Armenier. Hohe deutsche Offiziere und
Diplomaten in der Türkei befürworteten sogar offen die
Vernichtung der Armenier. So notierte der deutsche Chef
der osmanischen Flotte, Admiral Souchon - ich zitiere -:
Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn
sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde
dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein.
Einige deutsche Offiziere unterzeichneten sogar Deportationsbefehle und ließen armenische Stadtviertel beschießen. Deshalb fordert die Linke heute die Bundesregierung dazu auf, sich vorbehaltlos zur historischen
Mitverantwortung des Deutschen Reiches zu bekennen.
({2})
Der Bundestag muss - genauso wie das der Präsident
heute bereits gemacht hat - bei den Armenierinnen und
Armeniern um Verzeihung bitten.
Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zur Gegenwart machen; denn wer Augenzeugenberichte aus
den Jahren 1915/1916 über Massaker und Massenvergewaltigungen liest, dem kommen unweigerlich aktuelle
Bilder aus der Region in den Sinn. Dort, wo vor 100 Jahren der Todesgang des armenischen Volkes in der syrischen Wüste endete, herrschen heute die Schlächter des
sogenannten Islamischen Staates und der Al-NusraFront. Christen, deren Vorfahren als Überlebende des
Genozids nach Syrien flohen, sind heute erneut auf der
Flucht. Kirchen werden angezündet, Frauen werden versklavt. Die dschihadistischen Mörderbanden kommen
ungehindert über die türkische Grenze. Sie erhalten logistische Hilfe, Munition und sogar Feuerschutz aus
der Türkei. Die Bundesregierung weiß das, doch sie
schweigt dazu. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, den
NATO-Partner Türkei an ihrer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Kurden oder Armenier zugrunde gehen.
Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, mit
Erdogan und seiner Regierung über 1915 und über die
Gegenwart endlich Klartext zu reden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Christoph Bergner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Gäste! Heute vor 100 Jahren hat auf Befehl der jungtürkischen Regierung eine Verhaftung der politischen und
kulturellen Elite der Armenier in Istanbul stattgefunden.
Sie sind verschleppt und ermordet worden. Dies war der
Auftakt zu einer umfassenden Verschleppung und planmäßigen Vernichtung der armenischen Untertanen des
Osmanischen Reiches. Mit dieser Debatte wollen wir
uns in das Gedenken an diese schrecklichen Ereignisse
einreihen. Ich möchte Sie einladen, der Opfer und der
Verwüstungen dieses Geschehens zu gedenken, zu gedenken der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossen
zahlreiche aramäische, chaldäische und assyrische
Christen, die brutal vertrieben, furchtbar misshandelt
und mit planvoller Konsequenz und oft hemmungsloser
Grausamkeit getötet wurden. Ich möchte Sie einladen,
zu gedenken der jahrhundertealten armenischen Kultur
Anatoliens, die infolge dieser Ereignisse weitgehend
vernichtet wurde, einer Kultur, die sich in langer Koexistenz mit anderen Kulturen der Region entwickelt und
entfaltet hat und deren Verlust für uns alle dauerhaft
schmerzhaft bleibt.
Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben
eine besondere historisch-moralische Verpflichtung, uns
an dem weltweiten Gedenken anlässlich des 100. Jahrestages dieser Ereignisse zu beteiligen und uns zu deutschen Fehlern und deutscher Schuld zu bekennen. Neben
dem Osmanischen Reich war das Deutsche Kaiserreich
der am tiefsten involvierte Staat. Aus Rücksicht auf
seine militärischen Ziele im Ersten Weltkrieg machte er
sich unterlassener Hilfeleistung gegenüber den der Vernichtung ausgesetzten Armeniern schuldig. Hierfür bitten wir um Entschuldigung. Wir stehen in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches, und wir haben
deshalb hier mit besonderer Ernsthaftigkeit die Debatten
zu führen, die seinerzeit den Mitgliedern des Reichstages wegen Zensurmaßnahmen der Reichsregierung nicht
möglich waren.
Vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag mit einer
einstimmig verabschiedeten Resolution endlich eine
90 Jahre dauernde Sprachlosigkeit der deutschen Politik
zum Schicksal der osmanischen Armenier beendet. Ich
erlebte damals die Erarbeitung und Einbringung dieses
Antrages, der mit wissenschaftlicher Unterstützung des
leider viel zu früh verstorbenen Hermann Goltz entstand.
Ich erlebte damals einen vielfältigen türkischen Widerspruch zu dieser Initiative - von der türkischen Botschaft
über Abgeordnete der AKP, aus dem türkischen Parlament bis hin zu CDU-Mitgliedern türkischer Herkunft.
Ich erinnere mich besonders an die Worte eines CDUDr. Christoph Bergner
Ortsvorsitzenden aus Berlin - ich führe ihn exemplarisch
an -, der mir sagte: Ich werde meinem Sohn nie sagen,
eine türkische Regierung habe Armenier vertrieben und
getötet; das ist für mich eine Frage der Ehre. - Meine
Damen und Herren, spätestens da habe ich begriffen, wie
schwierig das Selbstverständnis ist, mit dem wir hier zu
ringen haben. Das ist ein Ehrbegriff, der sich an dem
Gründungsmythos des türkischen Staates orientiert. Damit haben wir uns auseinanderzusetzen. Ich möchte dazu
einladen, dass wir dieser Auseinandersetzung nicht ausweichen
({0})
und die Forderung ernst nehmen, die wir in unserem damaligen Antrag beschlossen haben: Deutschland muss
zur Versöhnung von Armeniern und Türken beitragen. Das ist eine Forderung, die nicht an Aktualität verloren
hat.
Der Versöhnungsauftrag, den wir uns gegeben haben,
bezieht sich nicht nur, so wichtig das ist - Kollege Erler
ist darauf eingegangen -, auf das Verhältnis zwischen
der Türkei und Armenien. Er bezieht sich auch und insbesondere auf die Diaspora, auf die Menschen armenischer und türkischer Herkunft in unserem Land. Er bezieht sich beispielsweise auf die Kinder türkischer und
armenischer Familien; diese Kinder haben einen Anspruch darauf, in unseren Schulen ein Geschichtsbild
vermittelt zu bekommen, das sich von den Ergebnissen
der historischen Wissenschaft und dem Geiste der Aufklärung ableitet und durch seine Objektivität für Ausgleich sorgt.
Der deutsche Staat muss ein Interesse daran haben,
dass Konflikte, die Zuwanderer als Teil ihrer Identität in
unsere Gesellschaft mitbringen, nicht durch beschwichtigende Zurückhaltung und Indifferenz deutscher Politik
auf Dauer unbewältigt bleiben.
({1})
Mir liegt ein Aufruf verschiedener türkischer Verbände
zu einer Demonstration am morgigen Tag am Brandenburger Tor vor, in dessen Überschrift es heißt: „Der Völkermordlüge ein Ende! Nimm Deine Flagge und
komm!“ Es ist das Recht dieser Verbände, für ihre Auffassung zu demonstrieren. Aber ist es nicht unsere
Pflicht als frei gewählte Vertreter des deutschen Volkes,
klar zu bekennen, welche Deutung der Ereignisse vor
100 Jahren uns angemessen und richtig erscheint?
({2})
Ich habe Zweifel, dass wir, wenn wir in dieser Diskussion überzeugend auftreten und klar Stellung beziehen wollen, auf den Begriff „Völkermord“ verzichten
können.
({3})
Wir haben in der Koalition um die Angemessenheit dieses Begriffes intensiv gerungen. Ich verstehe und respektiere das Anliegen derer, die um der Verständigung
und um des Zieles der Versöhnung willen jede polarisierende Wortwahl vermeiden wollen. Aber die Berechtigung dieses Anliegens endet dort, wo semantische
Zurückhaltung zur faktischen Verharmlosung und Relativierung der Tragödie führt, die im Mittelpunkt unseres
Gedenkens steht.
({4})
Es ist richtig: Der Straftatbestand des Völkermordes,
geschweige denn der Begriff, existierte vor 100 Jahren
noch nicht. Seine Formulierung und Definition ist erst
im Zuge der Erarbeitung der UN-Konvention über die
Verhütung und Bestrafung von Genoziden gefunden
worden. Das war 1948, 33 Jahre nach der Vernichtung
der osmanischen Armenier. Aber ist es ein Grund, die
Verwendung des Begriffes „Völkermord“ für unangebracht zu halten? Ist es nicht normaler Ausdruck einer
lebendigen Sprachentwicklung, wenn sich zur Beschreibung alter Sachverhalte auch jüngerer Begriffe bedient
wird? Dies gilt umso mehr, als die Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren nachträglich zum zentralen Bezugspunkt der Erarbeitung der Völkermordkonvention
wurden. Für Raphael Lemkin, den Schöpfer des Begriffes „Genozid“ und Initiator der Völkermordkonvention
der Vereinten Nationen, schien dies jedenfalls wichtig zu
sein; denn er stellt rückblickend fest - ich zitiere Lemkin -:
Die Leiden armenischer Männer, Frauen und Kinder, die in den Euphrat geworfen … wurden, haben
den Weg für die Annahme der UN-Genozidkonvention vorbereitet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben vor zehn
Jahren die Sprachlosigkeit angesichts des Schicksals der
osmanischen Armenier überwinden können. Lassen Sie
uns die Beratung dieser Anträge im Ausschuss zum Anlass nehmen, unsere Sprachfähigkeit weiter zu üben und
fortzuentwickeln, und lassen Sie uns unter dem Auftrag
handeln, den wir uns vor zehn Jahren gegeben haben:
Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Armeniern
und Türken beitragen.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Cem Özdemir für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste! Ich möchte mich zunächst bei unserem Bundespräsidenten Gauck für seine klaren Worte gestern Abend
aus Anlass des Gedenkgottesdienstes zum 100. Jahrestag
des Völkermordes an den Armeniern, Aramäern und Assyrern bedanken. Ich danke unserem Bundespräsidenten
insbesondere für diese gewisse Portion Unbeirrbarkeit,
die ihn auszeichnet, für die wir ihn schätzen und lieben.
Ich füge nach der heutigen Rede des Bundestagspräsi9658
denten hinzu: Das gilt natürlich in derselben Weise auch
für Sie, Herr Bundestagspräsident.
({0})
Leider kann ich die Vertreter der Bundesregierung in
dieses Lob nicht mit einschließen. Denn wäre es nach Ihnen gegangen, dann würden wir bis heute das türkische
Narrativ wiederholen, dass es den Völkermord nicht gab.
Ich verstehe das nicht; denn ich unterstelle Ihnen gute
Absichten. Auch Sie wollen zur Versöhnung beitragen.
Aber diese Haltung trägt nicht zur Versöhnung bei, sondern stützt diejenigen, die den Völkermord leugnen, und
diejenigen, die Unterstützung brauchen, die Vertreter der
türkischen Zivilgesellschaft, werden im Stich gelassen.
Da kenne ich mich, glaube ich, ganz gut aus.
({1})
Ich war im März zusammen mit der Kollegin Ekin
Deligöz in Armenien. Ich habe mit Vertretern der Regierung, der Opposition, der Zivilgesellschaft, mit vielen
gesprochen. Niemand dort bemerkt, dass wir die Mittel
für die Versöhnungsarbeit im Auswärtigen Amt deutlich
erhöht haben. Auch unsere Diplomaten beklagen sich
darüber, dass sie diese Mittel gar nicht einsetzen können;
denn an Veranstaltungen, wo der Begriff Völkermord
auftaucht, dürfen sie nicht teilnehmen. Das versteht niemand. Ich hoffe, dass sich das nach dem heutigen Tage
ändern wird.
Ich habe mich, als ich dort im Andenken an die Opfer
des Völkermordes den Kranz niedergelegt habe, gefragt:
In welcher Eigenschaft mache ich das? Natürlich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages, als Vorsitzender
einer deutschen Partei. Aber wenn man im Ausland unterwegs ist, zumal in Armenien, und Cem Özdemir
heißt, dann reist die Herkunft logischerweise mit. In
meinem Fall zeigt es die ganze Zerrissenheit der Türkei.
Denn ein Teil meiner Vorfahren kommt aus dem Kaukasus; sie sind tscherkessischer Herkunft. Die Tscherkessen haben genauso wie die Muslime auf dem Balkan
selber schrecklichstes Leid erfahren, sind vertrieben
worden, sind Opfer von Mord und Vernichtung geworden. Und dieselben Tscherkessen haben sich in der Türkei zum Teil am Völkermord an den Armeniern beteiligt.
Ich sage dies auch, weil es endlich Zeit ist, sich an die
Opfer aller Völkermorde, aller Vernichtungen zu erinnern. Wir sind es den Opfern und ihren Hinterbliebenen
schuldig, dass niemand ausgelassen wird und ab heute
alles beim Namen genannt wird.
({2})
Ich habe gelesen, dass es auch darum geht, dass wir
den Versöhnungsprozess nicht unterbrechen. Ich kann
Sie beruhigen. Ich war gestern in Istanbul. Ich habe an
einer türkisch-armenischen Veranstaltung zum Andenken an die Opfer vom 24. April 1915 teilgenommen. An
dieser Veranstaltung haben Vertreter der Zivilgesellschaft, auch türkische Abgeordnete und andere Personen
teilgenommen. Alle waren sich einig in der Frage, die sie
an mich gerichtet haben: Was wird der Deutsche Bundestag 100 Jahre nach dem Völkermord in dieser Frage
machen? Ich habe dort Folgendes gesagt: Der Deutsche
Bundestag wird mit all seinen Rednern, mit all seinen
Fraktionen 100 Jahre danach aufhören, so zu tun, als ob
wir nichts mit dem Völkermord zu tun gehabt hätten. Er
wird ihn anerkennen, und er wird heute eine neue Seite
aufschlagen. - Und wir sind heute Zeugen davon, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
Ich habe noch etwas gesagt: Kein deutsches Außenministerium, kein deutsches Auswärtiges Amt wird
mehr Formulierungen verwenden wie - ich zitiere „Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/
1916“, um die damals unterlassene Hilfeleistung und
Mitverantwortung zu verleugnen. Auch das wird mit
dem heutigen Tag der Vergangenheit angehören, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Es ist aber auch für die Türkei selber wichtig, dass die
Ereignisse von 1915 aufgearbeitet werden. Denn hätte
die Türkei den Völkermord aufgearbeitet, dann hätte
1938 nicht das Massaker an den Aleviten in Dersim
stattgefunden,
({4})
dann hätten die Griechen am 6./7. September 1955 kein
Pogrom erleben müssen, dann hätte vielleicht der
schmutzige Krieg mit den Kurden nicht stattgefunden.
Ich bin mir auch sicher: Hätte man sich nicht am Besitz
der Armenier bereichert, wäre das Verständnis für die
Normen der Rechtsstaatlichkeit stärker ausgeprägt worden.
Wie sagte mein ermordeter türkisch-armenischer
Freund Hrant Dink: Wären die Armenier heute noch am
Leben, die osttürkische Stadt Van wäre heute so etwas
wie das Paris des Ostens. - Es ist wichtig, zu verstehen,
dass damals Geistliche, Ärzte, Verleger, Journalisten,
Anwälte, Lehrer wie auch Politiker umgebracht worden
sind. Manche haben sich für sie eingesetzt, beispielsweise der damalige US-Botschafter Henry Morgenthau,
der immerhin durchsetzen konnte, dass der berühmte osmanische - nicht nur armenische, sondern auch osmanische - Komponist Komitas gerettet wurde. Er hat nach
seiner Rettung nie wieder eine Note angerührt, nie wieder ein Wort geäußert angesichts des Leids, das er erfahren hat.
Ich wünsche mir künftige türkische Schulbücher, in
denen an das Leid dieser Menschen erinnert wird. Ich
wünsche mir in der Türkei Schulbücher, in denen die
Kinder etwas darüber erfahren, was dem Osmanischen
Reich und der Türkei verlorengegangen ist. Ich wünsche
mir, dass Kinder in der Türkei künftig lernen: Nicht
Talaat Pascha und Enver Pascha sind die Helden für die
Türken von heute, sondern es war der Gouverneur von
Kütahya, der gesagt hat: In meinem Verwaltungsbezirk
wird der Befehl aus Istanbul nicht angewendet. Kein einziger Armenier wird angerührt. - Das sollten die Vorbilder sein, über die unsere Kinder etwas lernen. Dann lerCem Özdemir
nen sie nämlich auch, dass sich so etwas nie wiederholen
darf.
({5})
Um auch das klar zu sagen: Es geht hier nicht um
Überheblichkeit. Es geht hier nicht darum, dass wir mit
erhobenem Zeigefinger sprechen, sondern wir sprechen
als Freunde zu Freunden. Wir wollen als Freunde der
Türkei sagen: Es liegt auch im türkischen Interesse, dass
sich die Grenze zu Armenien öffnet und sich eines Tages
die Grenze zwischen der Türkei und Armenien so darstellt wie heute Gott sei Dank die Grenze zwischen
Deutschland und Polen und zwischen Deutschland und
Frankreich. Das muss geschaffen werden, das kann geschaffen werden, und dazu müssen wir alle unseren Beitrag leisten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Ich will ein Weiteres sagen: Das zweifelhafte Privileg
des ersten Völkermordes in diesem Jahrhundert haben
leider wir Deutsche. Denn das, was damals im sogenannten Deutsch-Südwestafrika, in unserer damaligen Kolonie, mit den Herero und Nama passierte, erfüllt ebenfalls
den Tatbestand eines Völkermordes. Auch deshalb eignen wir uns nicht als Lehrer, sondern höchstens als Ratgeber,
({7})
als diejenigen, die sagen können: Wer sich mit den dunklen Flecken der eigenen Geschichte beschäftigt, der wird
daran nicht kleiner, sondern - im Gegenteil - wächst daran.
Es ist darum höchste Zeit, dass wir den Opfern endlich unser Mitgefühl aussprechen und uns entschuldigen:
bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, die
durch das Osmanische Reich damals Leid erfahren haben. Aber auch wir hatten eben ein Deutsches Kaiserreich, das nichts dafür getan hat, dass diese Menschen
geschützt werden. Ich hoffe, dass künftige Generationen
in Armenien und in der Türkei wieder die Chance bekommen, als Nachbarn, als Freunde, als Brüder und
Schwestern aufzuwachsen. Heute leisten wir einen Beitrag dazu.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich
habe gestern in der Süddeutschen Zeitung einen Hinweis
auf ein faszinierendes Internetprojekt gelesen. Nicht mit
dem Ziel der Wiederaneignung, sondern als Projekt der
Aufklärung und Erinnerung werden dort das Leben und
die Geschichte, die Kultur, die religiösen Riten, die familiären Gebräuche der 2 Millionen Armenier auf dem
Gebiet der heutigen Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt. Man mag gar nicht aufhören, darin zu
schmökern, weiterzuklicken und sich das anzusehen,
weil es so faszinierend ist. Man bekommt in etwa ein
Bild und einen Eindruck davon, wie das armenische Leben in der Türkei heute aussehen könnte, wenn es den
Völkermord nicht gegeben hätte.
Wir verneigen uns heute vor den armenischen Opfern
des Völkermords und gedenken auch der Massaker an
und der Vertreibung von Assyrern, Aramäern, osmanischen Griechen und anderen. Warum tun wir dies? Wir
können niemandem das Leben zurückgeben; aber wir
können versuchen, ein Stück der Würde zurückzugeben;
vielleicht ist auch das eine Chance für armenische Familien und das armenische Volk, das Erlittene zu verarbeiten.
({0})
Und wir warnen - deshalb sind wir es uns schuldig,
die Geschehnisse so klar zu benennen -: Niemand auf
der Welt, der Auslöschung oder Ausradieren von Bevölkerungsgruppen planen könnte - ich fürchte, es gibt solche Leute auch heutzutage auf der Welt -, niemand von
denen wird, ohne Rechenschaft dafür ablegen zu müssen, davonkommen; das ist auch die Botschaft des heutigen Tages.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin Vorsitzender
eines Deutsch-Griechisch-Türkischen Städtepartnerschaftsvereins, eines Dreierbündnisses, das dem Gedanken des Verständnisses, der Verständigung und der Aussöhnung verpflichtet ist. Nicht nur deshalb liegt mir die
Freundschaft mit der Türkei und den Türkinnen und Türken besonders am Herzen. Ich versuche die tiefen Gefühle und die Verletzungen der Armenier zu verstehen;
ich versuche aber auch zu verstehen, warum es eigentlich in der Türkei so schwierig ist und ihr so schwerfällt,
das Ganze zu verarbeiten und auch als Völkermord zu
bezeichnen.
Ich habe eine Zuschrift bekommen von einem türkischstämmigen Mitbürger. Er hat geschrieben: Ich bin
mir sicher, dass meine Vorfahren so nicht gehandelt haben. - Gestern Abend bin ich mit einem Fahrer unterwegs gewesen, der mir gesagt hat: Wenn Sie da morgen
sprechen, denken Sie bitte auch an die Türken in
Deutschland, die möglicherweise nicht verstehen werden, wie Sie die Dinge diskutieren und wie Sie sie benennen.
Ich glaube, wir alle versuchen, diese Gefühle zu verstehen, wir versuchen, zu verstehen, wie sich Menschen
fühlen, und wir versuchen, deutlich zu machen: Es geht
nicht um persönliche Verantwortung - wie könnte es um
persönliche Verantwortung gehen bei einem Völkermord, der 100 Jahre zurückliegt! -, aber es geht um eine
Gesamtverantwortung der Türkei, und es geht um eine
Verantwortung den Armeniern gegenüber. Deswegen ist
es richtig, dass wir heute so breit der Aufforderung des
Europaparlaments nachkommen und den Völkermord
auch Völkermord nennen, und es ist gut, dass wir das in
so großer Übereinstimmung der Institutionen nach einer
durchaus intensiven Debatte in den letzten Wochen tun.
({2})
Wir kommen unserer Verantwortung auch nach, weil
es - auch das ist angesprochen worden - ein ganz dunkles Kapitel deutscher Geschichte gibt. Deutschland trägt
Mitverantwortung, mindestens durch Unterlassung, bis
an die Spitze der Reichsregierung. Und Deutschland war
auch eingebunden in die Kommandostrukturen des Osmanischen Reiches. Deswegen ist es gut - wir müssen
dafür danken -, dass es mittlerweile Publikationen zu
diesem Thema gibt - man kann das nachlesen - und dass
dazu auch weiter geforscht wird.
Wir benennen heute die Verbrechen der Vergangenheit, um in die Zukunft schauen zu können. Was mir dabei Hoffnung macht, ist, dass es in der Tat - auch das ist
angesprochen worden - zarte Pflanzen von Verständigungsprozessen gibt. So hatten sich - auch das gehört
zur Wahrheit - vor 100 Jahren auch Kurden an der Vertreibung von und an Massakern an Armeniern beteiligt.
Mittlerweile, seit 2011, ist die armenische St.-GiragosKathedrale in Diyarbakir wieder renoviert und wurde
auch wieder geweiht, mit Unterstützung der Kurden. Ich
finde, das ist ein gutes Signal, wie Verständigung aussehen kann.
({3})
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich komme gerade von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg. Dort
gibt es einen Plenarsaal wie hier, und vor dem Plenarsaal
sind zwei Ausstellungen zu betrachten, ungefähr 20 Meter voneinander entfernt. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass es genau zwei Ausstellungen gibt. Die eine
wird von Armenien ausgerichtet zum Thema „100 Jahre
Völkermord“; Herr Jung nickt, wir waren gemeinsam da.
Die von der Türkei ausgerichtete Ausstellung heißt: Safe
Harbour Turkey, also Sicherer Hafen Türkei; dabei geht
es darum, was die Türkei geleistet hat während des Holocaust, aber auch aktuell in der Syrien-Krise - es ist angesprochen worden -, um Menschen zu helfen, um Menschen bei sich zu beherbergen. Das ist eine wirklich
beachtliche Leistung der Türkei.
Ich wünsche mir - das ist, glaube ich, die Hoffnung
von uns allen -, dass wir dort in einigen Jahren eine gemeinsame Ausstellung betrachten können, in der die beiden Länder sich gemeinsam der Verantwortung stellen,
sich gemeinsam mit dieser Völkermordsituation auseinandersetzen und daraus Kraft schöpfen für sich selbst,
für die Region, für Europa, aber auch für die gesamte
Welt.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Norbert Röttgen für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte mich in meinem Beitrag auf die Frage
konzentrieren, warum es so wichtig, ja warum es so notwendig ist, dass der Deutsche Bundestag in der heutigen
Debatte und fortan über den und vor allen Dingen von
dem Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren
spricht. Ich glaube, dazu müssen wir uns bewusst machen bzw. bewusst zu machen versuchen, was eigentlich
Völkermord ausmacht, gewissermaßen der Fragestellung nachgehen, worin das spezifische Unwesen von
Völkermord liegt.
Nach meiner Beobachtung geht es den Organisatoren
von Völkermord regelmäßig darum, durch physische
Vernichtung ein Volk für immer zum Schweigen zu bringen, es aus der Geschichte zu tilgen, sei es als Ganzes
oder als Minderheit in einer Bevölkerung. Völkermord
ist gewissermaßen die umfassende Negation des Rechts
der physischen Existenz und der Erinnerung an ein Volk.
Dieser umfassenden Negation dürfen wir nicht auch
noch die Negation des Verbrechens als solches hinzufügen, meine Damen und Herren. Das dürfen wir nicht!
({0})
Vielmehr ist es ein zwingendes Gebot der Solidarität
mit den Opfern und ihren Nachfahren, von dem Verbrechen als einem Völkermordverbrechen zu sprechen. Das
schulden wir den Opfern und ihren Nachfahren.
({1})
Gemäß diesem Verständnis ist die Bezeichnung als
Völkermord darum nicht eine Möglichkeit, angemessen
von den damaligen Geschehnissen zu sprechen, sondern
nach meiner Überzeugung die einzige Möglichkeit einer
angemessenen Sprache über die historischen Geschehnisse.
({2})
In der Verwendung dieses Begriffes liegt keine Reduktion der Geschehnisse auf einen Begriff, sondern die
Verwendung des Begriffes ist die Beschreibung der Dimension dessen, was stattgefunden hat. Es ist also genau
andersherum.
({3})
Wenn das so ist, dann gehört zu einer ehrlichen Debatte heute allerdings auch die Frage: Warum geschieht
das, auch in Deutschland, erst 100 Jahre später, erst
heute?
({4})
Es gehört zur Ehrlichkeit, die wir uns selbst schulden,
uns mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich glaube nicht,
dass das in Polemik abgehandelt werden sollte. Allerdings liegt dem ein Argument zugrunde, das ich für
falsch halte, und ich möchte es aussprechen und mich
damit beschäftigen. Das Argument war, dass man abwägen müsse. Zwar lägen allen die Fakten vor Augen, doch
wir müssten - so lautete das Gegenargument - abwägen,
da wir, wenn wir in dieser Weise in die Identität und das
Identitätsgefühl der Türken eingriffen, möglicherweise
keinen Beitrag zu Aussöhnung und Aufarbeitung leisteten. Das lag und liegt bei manchen womöglich noch dem
Argument der Abwägung zugrunde.
Ich bin der Auffassung, dass Abwägung ein Wesensprinzip demokratischer Politik ist. Dadurch unterscheidet sich demokratische Politik von extremistischen und
populistischen Auffassungen. Aber, um es etwas untechnisch zu formulieren: Bei Völkermord hört die Abwägung auf, meine Damen und Herren!
({5})
Die Würde des Menschen ist unantastbar - das ist das
universelle, nicht abwägungsfähige normative Grundbekenntnis unserer Verfassung. Es bindet uns politisch und
normativ. Die Anerkennung von Völkermord ist eine
Frage der Menschenwürde, meine Damen und Herren.
({6})
Es widerspricht jeder Erfahrung, dass durch fortgesetztes Verschweigen ein Beitrag zum Dialog geleistet
werden könnte. Alle Erfahrung belegt das Gegenteil.
({7})
Auch wenn es der schwierige, schmerzhafte Schritt sein
soll, wie auch wir aus unserer Erfahrung beitragen können: Mit dem Aussprechen dessen, was geschehen ist, ist
die Chance auf Aussöhnung und Aufarbeitung gegeben.
Dieser erste Schritt muss getan werden. Wir wissen, dass
es schmerzhaft ist. Es ist nicht zu billigen, es nicht zu
schildern; aber wir müssen verstehen, dass dieser Völkermord, genauer gesagt, das Bestreiten des Völkermordes für das nationale Empfinden und für die nationale
Identität in der Türkei eine besondere Rolle spielt. Das
macht die Schwierigkeit aus, aber wir dürfen die fehlende Aufarbeitung nicht durch Verschweigen fortsetzen, sondern müssen versuchen, einen Beitrag zu leisten.
Ich will kurz noch aus meiner Sicht betonen: All das
gilt prinzipiell, aber es gilt besonders für Deutsche und
Deutschland, weil es von Anfang an deutsche Mitwisserschaft gegeben hat, weil das Deutsche Reich erheblich
Einfluss hätte nehmen können, um dieses Verbrechen
aufzuhalten, zu behindern, zu stoppen, und weil es von
Anfang an - darauf hat Professor Wolfgang Seibel vor
kurzem hingewiesen - eine Komplizenschaft auch des
Deutschen Reiches und Deutschlands beim Verschweigen und Vertuschen gegeben hat.
({8})
Darum gibt es auch eine besondere deutsche Verantwortung.
Es gab Verschweigen, Verdrängen und Vertuschen
von Anfang an. Heute beenden wir das Verdrängen und
Vertuschen, aber nicht mit dem Verständnis, dass damit
ein Ende gesetzt wird, sondern in dem Bemühen, dass
durch das Aussprechen ein Beitrag zu einem Anfang für
Aufarbeitung und Versöhnung geleistet wird. Auch
100 Jahre danach ist es nicht zu spät. Es ist überfällig,
und wir versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten.
({9})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Dietmar
Nietan das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
27. Januar des Jahres 2000 hat hier, an diesem Rednerpult, der große Elie Wiesel zu uns gesprochen. Er hat uns
damals, am Holocaust-Gedenktag, eine Mahnung mit
auf den Weg gegeben. Er sagte - ich zitiere -:
Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die
Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.
Heute sind wir hier in diesem Hohen Hause zusammengekommen, um den Opfern des Völkermords an den
Armeniern vor 100 Jahren unsere Ehre zu erweisen.
Dass nunmehr in den Entschließungsanträgen aller Fraktionen vom Völkermord gesprochen wird, geschieht
nicht, um Hass zu schüren oder ein befreundetes Land
wie die Türkei belehren oder gar beleidigen zu wollen.
Vielmehr wollen wir heute deutlich machen - ganz im
Sinne von Elie Wiesels Mahnung -, dass wir uns eben
nicht dazu herbeilassen wollen, die Erinnerung an die
Opfer zu verdunkeln.
Aus diesem Grund, weil wir den unschuldigen Opfern
Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, haben wir uns
dazu entschlossen, die vom damaligen jungtürkischen
Regime befohlene systematische Vertreibung und Vernichtung der anatolischen Armenier wie auch die der
Aramäer, Assyrer, der chaldäischen Christen und
Pontusgriechen als das zu bezeichnen, was diese Verbrechen ohne Zweifel waren: ein Völkermord.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern Abend hat
unser Bundespräsident in einer sehr beeindruckenden
Rede zu Recht gefordert, dass wir Deutsche uns insgesamt der Aufarbeitung unserer Mitverantwortung oder
vielleicht sogar Mitschuld beim Völkermord an den Armeniern stellen müssen. Wir, die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages, sollten uns deshalb in aller
Form gegenüber dem armenischen Volk für die damalige
moralische Gleichgültigkeit des Deutschen Reiches entschuldigen.
({1})
Gott sei Dank sind heute viele Menschen in der Türkei in der Frage des Umgangs mit diesem Völkermord
viel weiter als ihre eigene Regierung. Schauen wir uns
nur an, welche wirklich guten zivilgesellschaftlichen Initiativen sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren gegründet haben, die das Wort „Völkermord“ nicht aussprechen, um zu polarisieren, sondern weil eben die
Wahrheit die Grundlage der Versöhnung sein muss. Hinter dieser beispielhaften, mutigen Arbeit der türkischen
Zivilgesellschaft sollten wir als Bundestag nicht zurückbleiben.
Was meine ich damit? Ich bin froh, dass die heute
vorliegenden Anträge in die Ausschüsse verwiesen werden. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag vorgelegt hätten.
({2})
Ich hoffe sehr, dass in der Ausschussberatung deutlich
wird, dass wir die richtige Balance zwischen Eifer und
Gleichgültigkeit finden.
({3})
Es geht nämlich nicht darum, dass der Antrag der beste
ist, in dem das Wort „Völkermord“ am häufigsten auftaucht. Es geht nicht darum, etwas zu unterstellen, weil
wir eine andere Meinung haben, wie man das Wort auch
im offiziellen diplomatischen Gebaren verwendet. Es
geht auch nicht darum, der Bundesregierung zu unterstellen, dass sie bisher nicht alles getan hat, oft auch hinter den Kulissen, damit es zur Versöhnung kommt und
damit sich auch die Türkei der Auseinandersetzung mit
dem Völkermord stellt. Vielmehr geht es darum, dass
wir eine verantwortungsvolle Arbeit leisten, die nur ein
Ziel haben kann, nämlich Versöhnung, nicht Rechthaberei. Das geht nur, wenn wir dabei auch die türkischen
Freunde mitnehmen.
({4})
An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass es
selbstverständlich zu begrüßen ist, wenn es jetzt und
auch schon im letzten Jahr Aussagen türkischer Regierungsmitglieder gibt bzw. gegeben hat, die den Nachfahren der Opfer ihr Beileid aussprechen. Allerdings werden in diesen Erklärungen die Verbrechen an den
Armeniern gleichzeitig weiter relativiert, indem sie als
eine Art unvermeidliche, fast schon natürliche Begleiterscheinung des Ersten Weltkriegs dargestellt werden. Wir
alle, aber auch die jetzige türkische Regierung wissen,
dass die Armenier nicht zufällig irgendwelchen Kriegswirren, sondern einem eiskalt geplanten Verbrechen des
damaligen türkischen Staates zum Opfer gefallen sind.
Dazu muss sich die Türkei bekennen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({5})
Generationen von heranwachsenden Menschen in der
Türkei wurde in den Schulbüchern ein Bild der Ereignisse eingepflanzt - so möchte ich es nennen -, mit dem
versucht wurde, auch nicht den leisesten Verdacht aufkommen zu lassen, dass sich der türkische Staat an den
Armeniern vergangen hat. Deshalb war es so leicht,
Emotionen in der Türkei zu schüren, weil man den Menschen erzählt hat: All die, die innerhalb und außerhalb
der Türkei von Völkermord sprechen, tun das, weil sie
den Ruf unseres Landes beschädigen wollen. - Das ist
falsch. Leider ist es genau umgekehrt; denn aus dem hinter diesem Geschichtsbild stehenden Zwang, die wahren
Ausmaße der damaligen Verbrechen und ihre Urheber zu
verleugnen, weil man glaubt, sonst die nationale Identität zu verlieren, erwächst am Ende nur erneutes Unrecht.
Diesen Zyklus kann nur einer durchbrechen, nämlich die
türkische Regierung.
({6})
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte
ich deutlich machen, dass ich der festen Überzeugung
bin, dass am Ende die Menschen in der Türkei selbst
wissen wollen, wie ihre Geschichte war, und dass sie
auch zu den dunklen Seiten ihrer Geschichte stehen wollen. Weil das so ist, bin ich fest davon überzeugt, dass es
zu einer Versöhnung kommen wird. Immer mehr Menschen in der Türkei fragen nach ihrer Vergangenheit und
entdecken dabei zum Beispiel ihre eigene verschüttete
armenische Geschichte.
Deshalb kann man sagen: Der 1915 gestartete Versuch, das westarmenische Volk und seine Kultur auszulöschen, ist gescheitert. Er musste scheitern, weil es einen uneinnehmbaren Ort gibt: Er nennt sich Erinnerung.
Diesen Ort gibt es nicht nur in den Herzen der Nachfahren der Opfer, sondern auch in den Herzen einer wachDietmar Nietan
senden Zahl von Menschen, die nicht vergessen und vertuschen wollen. Das Großartige ist, dass die Zahl dieser
Menschen wächst - in einem wunderbaren Land, welches wir Türkei nennen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben uns heute Vormittag hier versammelt, um Anteil
an dem Schicksal der Opfer des Genozids im Osmanischen Reich zu nehmen. Wir haben uns nicht versammelt, um irgendjemanden an den Pranger zu stellen. Wir
wollen derer gedenken, die Opfer geworden sind, und
daraus auch die Lehren ziehen.
Auf den Tag genau vor 100 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern, den Aramäern, den Assyrern, den Chaldäern und auch den Pontosgriechen im
Osmanischen Reich. Es waren alle dort ansässigen
christlichen Religionsgemeinschaften davon betroffen.
„Dieses schreckliche Geschehen sollte als das bezeichnet werden, was es war: ein Genozid“, stellte Josef
Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in
Deutschland, mit Recht fest. Und er fügte an: „Hitler hat
sich später den Völkermord an den Armeniern quasi zum
Vorbild für die Vernichtung der Juden genommen“.
Prophetisch hat Franz Werfel in seinem Roman „Die
vierzig Tage des Musa Dagh“ die Todesmärsche als
wandernde Konzentrationslager geschildert. Es kommt
nicht von ungefähr, dass Peter Glotz und ich seinerzeit,
vor 15 Jahren, den Menschenrechtspreis der Stiftung
„Zentrum gegen Vertreibungen“ nach Franz Werfel benannt haben, um damit einen Denkstein zu setzen. Der
erste Preisträger im Jahr 2003 war Mihran Dabag, der
Armenier, der sich mit der Genozidforschung beschäftigt
hat.
Aufarbeitung und Gedenken beginnen mit der Auseinandersetzung über das Geschehene. Es ist gut, dass
Künstler, Intellektuelle und Teile der türkischen Bevölkerung längst über das Stadium der stillen innerlichen
Artikulation hinaus sind. Die Reflektion erfolgt öffentlich. Man setzt sich mit dem Schicksal der früheren armenischen Mitbürger auseinander und nimmt Anteil daran.
So haben im Jahr 2008 viele Menschen in der Türkei
eine Erklärung veröffentlicht und das unerträgliche langjährige Schweigen durchbrochen. Das war ein wichtiger
und mutiger Schritt. Denn Mut gehörte damals wie heute
dazu, und diesen Mut sollten wir unterstützen. Das lässt
sich schon daran ermessen, wie auch heute noch seitens
der türkischen Regierung mit diesem Teil ihrer eigenen
Geschichte umgegangen wird, wenn beispielsweise Botschafter nur deshalb abgerufen werden, weil eine Vokabel verwendet wurde, mit der man sich nicht auseinandersetzen möchte.
Unverständlich und für mich unbegreiflich ist die Vehemenz, mit der heute noch auch bei uns in Deutschland
in Teilen von Politik und Gesellschaft gegen eine ungeschönte und unrelativierende Benennung dieses Genozids als Genozid reagiert wird. Ich kann es nicht verstehen.
In dem vorliegenden Antrag wird mit Fug und Recht
die seinerzeitige viel zu große Rücksichtnahme der deutschen Reichsregierung auf den türkischen Bündnispartner im Ersten Weltkrieg angeprangert. Frau Kollegin
Jelpke hat darauf hingewiesen: Karl Liebknecht war einer derjenigen, der das öffentlich angeprangert hat. Aber
es gab noch jemanden, der das getan hat, und zwar der
Zentrumspolitiker Matthias Erzberger. Ganze zwei Politiker im Deutschen Reich haben sich öffentlich mit dieser Thematik auseinandergesetzt.
Angesichts der Zurückhaltung, etwas eindeutig zu benennen, das eindeutig ist, stellt sich die Frage, ob es
nicht auch heute eine unangemessene Rücksichtnahme
auf den NATO-Bündnispartner Türkei ist, die verhindern
will, dass der Genozid im Osmanischen Reich ohne Umschweife und Verbrämung schlicht und wahrheitsgemäß
Genozid genannt wird. Die vorangegangenen Diskussionen in den letzten Wochen haben das im Grunde genommen deutlich gemacht. Was ist denn die Folge daraus?
Wir fallen damit den mutigen Kräften in der Türkei in
den Rücken. Das kann nicht unser Anliegen sein.
Was mit dem Genozid seinerzeit verbunden war, ist
für uns unvorstellbar. Es war nicht nur die Tötung einer
ganzen Gruppe von Menschen; es ging mit einer unglaublichen Brutalität vor sich. Man massakrierte die
Menschen. Martin Niepage, von 1913 bis 1916 Lehrer
an der Deutschen Schule in Aleppo, berichtete:
Viel entsetzlichere Dinge erzählten die Ingenieure
der Baghdad-Bahn, nachdem sie nach Hause zurückgekehrt waren. Sie berichteten, dass am Bahndamm bei Tel Abbait und Rasulain geschändete
Frauenleichen massenhaft herumlagen. Vielen von
ihnen hatte man Knüppel in den After hineingetrieben.
Der deutsche Konsul aus Mosul, Herr Holstein, berichtete, er habe auf manchen Stücken des Weges
von Mosul nach Aleppo so viele abgehackte Kinderhände liegen sehen, dass man damit den ganzen
Weg hätte pflastern können.
Ja, es war wohl wahr: Kinder und Frauen wurden
auch in die Sklaverei geschickt. Die Zerstörung und die
Entweihung unzähliger Kirchen und Klöster, die Vernichtung ganzer Dörfer gehörten zu dem perfiden Plan.
Die Vertreibung geschah systematisch zur Vernichtung der Menschen. Opfer starben auf den Todesmärschen in der syrischen Wüste. Ein Beamter des deutschen Konsulats beschreibt die Lage im Juli 1916 in
einem Schreiben an den Reichskanzler - die deutschen
Diplomaten haben immer wieder darauf hingewiesen
und gemahnt, aber es ist nichts erfolgt - wie folgt:
… die Strecke von Sabkha über Hammam nach
Meskene sei mit … Kleidungsstücken übersät; sie
sähe aus, als ob dort eine Armee zurückgegangen
wäre.
Er schrieb weiter, dass allein in Meskene 55 000 Armenier begraben seien.
Von mancher Seite kommt heute der Rat, die Armenier und andere Opfergruppen sollten sich auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren, statt Kraft darauf zu
verwenden, die Staaten der Welt zur Anerkennung des
Genozids am eigenen Volk aufzufordern. Die Frage
drängt sich direkt auf, ob die Wirkung eines solchen Verbrechens an einem Volk alle Zukunftsorientierung über
Generationen hinweg lahmlegt oder sie gar gänzlich
nimmt.
Ich glaube, dieses Leid zu teilen, es anzuerkennen, es
beim Namen zu nennen, hilft den Nachfahren der Opfer,
ihre eigenen Kräfte wieder zu stärken, zu bündeln und
die Zukunft besser zu bewältigen. Man braucht Solidarität von anderen, die keine Opfer waren, oder von anderen, die auch Opfer waren und sich an die Seite stellen.
Das hat Papst Franziskus sehr deutlich gemacht. Ihm
zufolge ist das Gedenken eine unabdingbare Pflicht der
Menschen; „… denn“, so Papst Franziskus, „wo es keine
Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunde … offen“.
Deshalb ist es gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
wir uns heute gemeinsam erinnern und an der Seite der
Nachfahren der Opfer stehen.
Danke.
({0})
Zum Schluss dieser Aussprache erhält der Kollege
Bernd Fabritius für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geehrte
Gäste! Lassen Sie es mich gleich beim Namen nennen:
Wir gedenken heute des Völkermordes an den Armeniern, und wir beraten Anträge. Die abscheulichen und
brutalen Ereignisse vor nunmehr 100 Jahren im Osmanischen Reich sind von meinen Vorrednern bereits beleuchtet worden. Nicht übersehen dürfen wir hier im
Deutschen Bundestag die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das über die Vorgänge bestens informiert
war und nichts dagegen unternommen hat.
Daraus erwächst für uns Deutsche heute eine ganz besondere Verantwortung. Diese gebietet uns erstens, das
geschehene Grauen niemals zu vergessen, zweitens, die
bedrückende, aber unzweifelhafte historische Wahrheit
zu fördern, drittens - und aus meiner Sicht am wichtigsten -, die Versöhnung zwischen Armenien und der Türkei voranzubringen.
Grundlage jeder Versöhnung ist eine wahrheitsgetreue,
kritische Auseinandersetzung mit der jeweils eigenen Geschichte, eine ungeschönte historische Wahrhaftigkeit.
Das wissen gerade auch die deutschen Heimatvertriebenen sehr genau. Dazu gehört auch die zutreffende Einordnung der an den Armeniern verübten Verbrechen.
Dabei geht es beileibe nicht um bloße juristische Kategorisierung. Davon zeugt allein schon die intensive Debatte der vergangenen Tage. Es geht um Anerkennung
des Leides in seinem vollen Umfang.
Der Vorwurf des Völkermordes wiegt schwer. Die
völkerrechtliche Definition wurde heute schon mehrfach
zitiert. Diese Definition hat übrigens keinesfalls eine
zeitlich einschränkende Komponente, etwa erst ab Inkrafttreten der einschlägigen UN-Konvention im Jahr
1951. Diese regelt nämlich nur die Konsequenzen für einen schrecklichen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten dieser Konvention nicht etwa weniger schrecklich gewesen
ist. Es kommt auch niemand auf die Idee, andere Völkermorde vor 1951 mit dem gleichen Argument zu beschönigen.
Mit einem solchen Vorwurf geht man nicht leichtfertig um. Wenn wir jedoch unserer Verpflichtung zur
Wahrheitsförderung gerecht werden wollen, müssen wir
aus meiner Sicht anerkennen: Die Vertreibung und Ermordung der Armenier vor 100 Jahren war Völkermord.
Eine solche Feststellung ist schon allein deshalb so
wichtig, weil sie die Opfer und deren Nachfahren vor der
ständig präsenten Relativierung oder gar Leugnung des
Erlittenen befreit und somit angemessenes - auch gemeinsames - Gedenken und Erinnern ohne Rechtfertigungsnot ermöglicht. Nicht nur aus diesem Grund bin
ich froh, dass mit dem vorliegenden Koalitionsantrag ein
Weg begonnen wurde, sich historischen Tatsachen zu nähern und diese beim Namen zu nennen. Ich verstehe
auch den Ansatz hinter der gewählten Formulierung. Die
Aufarbeitung des Geschehens und die Versöhnung zwischen Armeniern und Türken - unsere Hauptanliegen können nicht bei uns in Deutschland erfolgen. Wir können dafür aber Impulse geben.
Ich sage ganz aufrichtig: Eine klare Formulierung
halte ich für unerlässlich, und dafür plädiere ich. Ob ein
Völkermord als solcher bezeichnet wird oder nicht,
macht das Geschehene um nichts besser. Beschönigungen hingegen perpetuieren Unrecht in die Zukunft.
Schon deswegen ermuntere ich die Türkei, hier etwas
mutiger zu werden. Gleichzeitig liegt mir viel daran,
deutlich zu machen, dass sich die Bezeichnung der Verbrechen als Völkermord in keiner Weise gegen die Türkei oder gar ihre Bevölkerung richtet. Es ist kein Angriff
auf das Ansehen der modernen Türkei, wenn wir an das
Leid der Opfer des Völkermords an den Armeniern erinnern und das auch so nennen. Ganz im Gegenteil: Ein
Staat, der auch zu den dunkelsten Seiten der eigenen Geschichte steht, zeigt Stärke und wahre Souveränität.
Gerade wir Deutschen haben unsere Erfahrungen mit
der Aufarbeitung der eigenen Geschichte gemacht. Vor
Jahrzehnten hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, dass
Deutschland - nach der Schoah und den Verbrechen der
Nazis - im Jahre 2015 nicht nur mit seinen Nachbarstaaten, sondern gerade auch mit Israel in enger Freundschaft verbunden sein würde. Wir haben gelernt, dass ein
Prozess der Aufarbeitung auch schmerzhafte Erkenntnisse erfordert. Diese auszuhalten, macht aber stärker.
Verzögerung wichtiger Aufklärungsarbeit oder gar
Schönfärberei begangener Verbrechen hingegen ist sicher nicht der richtige Weg, um mit der eigenen Vergangenheit umzugehen.
Bedauerlich finde ich, dass in der Türkei diesbezüglich eher das Muster „einen Schritt vor, zwei Schritte zurück“ zu beobachten war. Das den Armeniern zugefügte
Leid wird dort inzwischen zwar offener diskutiert; ermutigenden Signalen aus der türkischen Zivilgesellschaft
folgen jedoch allzu oft Rückschläge seitens der Regierung. Jenen, die es wagten, die Wahrheit offen auszusprechen - und Orhan Pamuk ist nur ein Beispiel -, wurden Strafen angedroht, und wenn der Papst, das
Europäische Parlament oder der Europarat den Völkermord an den Armeniern als solchen benennen, reagiert
die türkische Regierung mit wütenden verbalen Ausfällen und mit Drohungen.
Die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen
Vergangenheit wäre jedoch unabdingbare Voraussetzung
für einen echten, nachhaltigen Versöhnungsprozess mit
den armenischen Nachbarn. Von diesen erwarte ich Offenheit, Versöhnungsbereitschaft und den Verzicht auf
verbale Rache. Die türkische Regierung fordere ich auf,
sich offen mit der Vergangenheit des Osmanischen
Reichs auseinanderzusetzen und eine systematische Aufarbeitung der Ereignisse vor 100 Jahren anzugehen. Das
wäre letztlich auch im Interesse der Türkei selbst.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4684, 18/4335 und 18/4687 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 18/4335 zum
Tagesordnungspunkt 25 b soll ebenfalls federführend
beim Auswärtigen Ausschuss beraten werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich möchte Sie dann noch darauf aufmerksam machen, dass sich der Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt hat, wegen des gesetzlichen
Feiertags am 1. Mai, den wir selbstverständlich nicht aufheben wollen, die Frist für die Einreichung von Fragen
zur mündlichen Beantwortung, die üblicherweise freitagmittags endet, in der Sitzungswoche vom 4. Mai aus diesem Grund auf Donnerstag, den 30. April, 10 Uhr, zu verlegen, und frage, ob jemand dagegen Widerspruch
anmeldet. - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir auch
das einvernehmlich so festgehalten.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann ({0}), Jutta Krellmann, Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Programm für gute öffentlich geförderte Beschäftigung auflegen
Drucksache 18/4449
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Einen Widerspruch dazu sehe ich nicht.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Landesministerin Heike Werner das Wort.
({2})
Heike Werner, Ministerin ({3}):
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte
Damen und Herren! Die Beschäftigungslage in Deutschland zeichnet sich durch drei Dinge aus: einen hohen Beschäftigungsgrad, einen hohen Anteil an niedrig entlohnter und unsicherer Beschäftigung und einen hohen Anteil
dauerhaft erwerbsloser Menschen. Trotz der sogenannten Hartz-IV-Reformen und der derzeit guten Konjunkturlage stagniert die Zahl der Menschen, die länger als
ein Jahr erwerbslos sind, seit 2011 bei über 1 Million.
Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dieser Zahl
verbergen sich individuelle Biografien von Menschen,
die über Jahre hinweg die Erfahrung machen müssen,
dass sie in der Arbeitswelt nicht gebraucht werden, dass
ihr Beitrag zum Wohlstand nicht benötigt wird. Das ist
eine erniedrigende Erfahrung. Ich denke, darüber sind
wir uns in diesem Haus alle einig. Ich gehe auch davon
aus, dass wir darin übereinstimmen, dass wir deshalb
mehr für diese Menschen tun müssen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Es mehren sich auch schon seit längerem die Stimmen, nicht nur in der Linken, die Zweifel an der Agenda
2010 äußern; denn, sehr geehrte Damen und Herren, es
ist vollkommen richtig, dass nicht mehr Menschen deshalb eine Arbeit finden, weil man sie mit Leistungskürzungen zwingt, miese Jobs anzunehmen. Umgekehrt ist
es ja wohl so, dass die Reformen mit schlecht bezahlter
Arbeit gut bezahlte Arbeit verdrängt haben.
({4})
Was also tun, wenn der einstige Heilsweg sich als Holzweg erweist?
In den 90er-Jahren hatte sich die richtige Erkenntnis
durchgesetzt, dass die Arbeitsmarktpolitik die kontinuierliche Anpassung der beruflichen Qualifikationen an
die sich wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt unterstützen muss. Zum Glück wurde mit Hartz IV diese
aktive Arbeitsmarktpolitik nicht ganz aufgegeben, auch
wenn ich hinzufügen muss, dass mit Hartz IV das For9666
Ministerin Heike Werner ({5})
dern eindeutig die Oberhand über das Fördern gewonnen
hat.
Dabei ist es erwiesen, dass die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, also berufliche Qualifizierung,
Einarbeitungszuschüsse, Umschulungen usw., in einer
bestimmten Situation von Nutzen sein können. Wir wissen, dass davon vor allem diejenigen profitieren, die
noch nicht lange erwerbslos sind oder unmittelbar von
der Arbeitslosigkeit bedroht sind. Deshalb sollten wir an
diesen Instrumenten festhalten.
Aber wir müssen uns auch fragen: Was tun wir für
diejenigen, die schon seit Jahren raus sind aus dem Job?
Viele von ihnen haben Hunderte Bewerbungen geschrieben, haben sich weitergebildet oder umschulen lassen.
Sie haben Bewerbungstrainings mitgemacht, haben sich
in 1-Euro-Jobs verdingt, haben als Leiharbeiter gejobbt
oder für ein, zwei Jahre in einem Beschäftigungsprojekt
gearbeitet. Was sagen wir diesen Menschen? Erzählen
wir ihnen weiterhin, dass nur die zweite Beschäftigungsmaßnahme, die dritte Schulung oder das vierte Bewerbungstraining durchlaufen werden muss und dann ganz
bestimmt ein fester Arbeitsplatz da sein wird? Ich bitte
Sie! Das kann nicht unser Ernst sein. Diese Menschen
wissen ganz genau, genauso gut wie wir hier, dass ihnen
eine weitere Maßnahme nichts nützen wird.
({6})
Es ist gut gemeint, wenn es heißt, dass die Arbeitsmarktpolitik den Menschen eine Brücke in den ersten
Arbeitsmarkt bauen soll. Aber in den Ohren derjenigen,
die schon über viele dieser Brücken gegangen sind, ohne
dass am anderen Ende ein Arbeitsplatz gestanden hat,
sind das leere Worte. Ich sage Ihnen: Die Menschen haben damit recht. Sie haben recht, wenn sie sagen, dass
sie einen anständigen Arbeitsplatz wollen, an dem sie
zeigen können, was in ihnen steckt, an dem sie Bestätigung erfahren und wo ihre Leistung wertgeschätzt wird.
({7})
Wenn es diese Arbeitsplätze weder in Unternehmen
noch im öffentlichen Dienst gibt, dann sind wir dazu
verpflichtet, anderswo ordentliche Arbeitsplätze zu
schaffen.
({8})
Manche mögen jetzt einwenden, dass das bereits
geschieht. Richtig: Wir haben Bürgerarbeit, wir haben
1-Euro-Jobs. Aber ist das gute Arbeit? Sind das die Arbeitsplätze, die die Menschen brauchen? Von einem guten Arbeitsplatz erwarten die Menschen zu Recht, dass
er anständig entlohnt ist, dass er voll sozialversicherungspflichtig ist, dass er auf Freiwilligkeit beruht und
die Chance auf eine dauerhafte Beschäftigung bietet. All
das bieten die diversen Modelle von Bürgerarbeit gerade
nicht. Auch das neue Programm von Arbeitsministerin
Nahles für 10 000 geförderte Arbeitsplätze, das wir
grundsätzlich begrüßen, erfüllt diese Anforderungen leider nicht. Die zentrale Schwachstelle dieser Programme
ist, dass sie denjenigen Menschen, die keine Chance auf
dem Arbeitsmarkt haben, keine dauerhafte Beschäftigungsperspektive bieten. Mit Beginn ihrer Beschäftigung kennen die Menschen schon das Datum, an dem sie
wieder mit Hartz IV auf der Straße stehen werden. Das
ist keine Perspektive.
({9})
So sieht das im Übrigen auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise. Er sagte: „Wir müssen
feststellen, dass für diese Menschen kein Angebot da
ist.“ Eine wirkliche Perspektive - auch das hat Herr
Weise in dieser Woche gesagt - besteht darin, öffentlich
geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, die prinzipiell auch
von Dauer sein können. Genau dieser Aufgabe stellen
wir uns in Thüringen.
Ich möchte dabei eines klarstellen: Mir geht es nicht
darum, Leistungen für Ausbildung, Qualifizierungen,
Praktika usw. zurückzufahren. Das ist aber in den letzten
Jahren im Bund geschehen, was ich ausdrücklich kritisiere. Wir müssen beides tun: die Vermittlung stärken
und Arbeitsplätze für diejenigen schaffen, die anderweitig keine realistische Chance auf einen Job haben. Das
sind nicht wenige Menschen. Nach Auffassung der Bundesagentur für Arbeit hat von den 1 Million Langzeitarbeitslosen in Deutschland nur rund die Hälfte mithilfe
von Qualifizierungs- und Schulungsangeboten eine
Chance, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Stelle zu
bekommen. Weitere 300 000 Langzeitarbeitslose bedürften Trainingsmaßnahmen und sind damit vielleicht auf
mittlere Frist in eine Stelle zu vermitteln. Weitere
200 000 Menschen haben keinerlei Chance auf dem Arbeitsmarkt, darunter viele Ältere und Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. In Thüringen sind das
20 000 Menschen. Sie beziehen seit 2005 durchgängig
Hartz IV.
Dennoch haben viele dieser Menschen immer noch
den starken Wunsch, sich über Arbeit in die Gesellschaft
einzubringen. Das zeigt die große Nachfrage, die bereits
die Ankündigung unseres geplanten Beschäftigungsprogramms für Langzeitarbeitslose ausgelöst hat. Wir müssen feststellen, dass unter denjenigen, die nachfragen,
vor allem ältere Menschen sind, deren sogenanntes Vermittlungshemmnis einzig und allein ihr Alter ist. Wer
mit 56 oder 57 Jahren erst einmal ein Jahr oder länger
raus aus dem Job ist, dem helfen keine Qualifizierungsmaßnahmen. Kommen dann vielleicht noch gesundheitliche Probleme dazu - zum Beispiel der kaputte Rücken
bei einem Handwerker oder einer Krankenschwester -,
dann finden diese Menschen schlicht und einfach keinen
Arbeitsplatz mehr, selbst dann nicht, wenn sie hochmotiviert und leistungsbereit sind. Diesen Menschen sollten
wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung eine
Chance geben, sich produktiv einzubringen.
({10})
Die Gesellschaft würde davon profitieren.
Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Das ist keine
Beschäftigungstherapie, sondern das sind produktive Tätigkeiten, die erfüllt werden können, die unserem Gemeinwohl dienen. In diesem Sinne haben wir in Thüringen vor zwei Tagen gemeinsam mit der Bundesagentur
für Arbeit ein Programm für gemeinwohlorientierte Beschäftigungsförderung auf den Weg gebracht. In diesem
Ministerin Heike Werner ({11})
Jahr fördern wir gemeinsam mit der Bundesagentur
500 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bei Kommunen, Vereinen, Kirchen, Umweltinitiativen und dergleichen. In den kommenden Jahren wollen wir die Zahl
erhöhen. Der Bruttolohn liegt bei 1 100 Euro, und die
Beschäftigungsdauer beträgt bis zu drei Jahre.
Jetzt werden Sie sagen: Das ist nicht der große Wurf,
und es entspricht auch nicht eins zu eins dem Antrag,
den die Linke heute eingebracht hat. - Da kann ich nur
antworten: Sie haben recht. Wir würden gern mehr Arbeitsplätze fördern, mit höheren Löhnen und längerer
Laufzeit. Dazu braucht es aber Partner. Das gilt für Thüringen wie für jedes andere Bundesland. Wir haben in
Thüringen das Glück, mit der Bundesagentur für Arbeit
einen Partner zu haben, der unsere Sicht teilt. Es ist besser, für diejenigen, die keine Chance mehr auf eine Stelle
haben, Arbeit zu finanzieren, als sie mit Hartz IV nach
Hause zu schicken.
({12})
Warum also nicht passive Leistungen aktiv in Löhne
umwandeln? Ohne den Bund - das wissen wir alle ganz
genau - kann kein Bundesland auf dem Arbeitsmarkt
dauerhaft und substanziell etwas bewegen. Darum hatten
wir uns über das positive Signal aus dem Bundesarbeitsministerium im Hinblick auf einen Passiv-Aktiv-Transfer gefreut. Jetzt heißt es leider: Finanzminister Schäuble
zieht nicht mit. Und in der Tat: Es ist so. Frau Kipping
hat im Finanzministerium nachgefragt und bekam eine
entsprechende Antwort.
Nach Auffassung des Staatssekretärs Kampeter lassen
sich das Arbeitslosengeld II und die Kosten der Unterkunft nicht in Lohnkostenzuschüsse umwandeln, weil
- ich zitiere - „eine belastbare Einschätzung über das
Realisieren der Einsparungen durch Wegfall dieser Leistungen bei ausgewählten Leistungsempfängern nicht
möglich ist“.
Zwei Dinge an dieser Antwort sind bemerkenswert:
erstens die Auffassung des Finanzministeriums, bei der
Umwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne gehe
es um Einsparungen. Nein, meine Damen und Herren, es
geht um Investitionen. Indem wir Löhne statt Hartz IV
auszahlen, schaffen wir Arbeitsplätze.
({13})
Mit der Arbeit in Vereinen, in Kirchengemeinden und in
Kommunen schaffen diese Menschen Werte, die der Gesellschaft zugutekommen. Es wäre schön, wenn das
Bundesfinanzministerium einmal zur Kenntnis nehmen
würde, dass Arbeit im Gemeinwohlbereich echte Wertschöpfung ist.
({14})
Zweitens. In der Antwort - dieser Aspekt der Antwort
ist beachtlich - heißt es sinngemäß, es sei recht kompliziert, die haushalterischen Auswirkungen der Umwandlung von Hartz-IV-Leistungen in Löhne zu bestimmen.
Darauf kann ich nur antworten: Sie machen es sich ein
bisschen einfach. Meine Damen und Herren, wir reden
hier darüber, Zehntausenden Menschen eine für sie und
die Gesellschaft sinnvolle Alternative zur Arbeitslosigkeit zu erschließen. Und der Finanzminister lässt mitteilen, es sei ihm zu aufwendig, die notwendigen Berechnungen anzustellen.
({15})
Sehr verehrte Damen und Herren, Ihnen liegt der Antrag der Linken vor, der die Grundzüge eines Programms
für öffentliche Beschäftigung enthält. Darin machen wir
einen konkreten Vorschlag, wie Hartz-IV-Leistungen in
Lohnleistungen umgewandelt werden können. Dazu
müssten nicht einmal die Gesetze geändert werden. Mit
einem Haushaltsvermerk über die gegenseitige Deckungsfähigkeit der verschiedenen Titel der Arbeitsmarktpolitik wäre es möglich, dass das bei den passiven
Leistungen nicht ausgegebene Geld für aktive Leistungen - also die Bezahlung von Arbeit - verwendet werden kann.
({16})
Die öffentlich geförderte Beschäftigung gemeinwohlorientierter Arbeit ist eine Win-win-Situation für alle
Beteiligten. Die Kommunen könnten davon profitieren,
zum einen durch die eingesparten Kosten der Unterkunft, zum anderen durch die Unterstützung ihrer sozialen Infrastruktur. Sie profitieren auch, weil Kosten
gespart werden, die durch die Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit entstehen.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bitte Sie sehr
herzlich, dem Antrag der Linken zuzustimmen; denn gemeinwohlorientierte Arbeit über einen Passiv-AktivTransfer ist für einen Teil der Langzeitarbeitslosen der
einzige Weg in Beschäftigung. Die soziale Infrastruktur
wird durch die erbrachte Arbeitsleistung gestärkt, was
uns allen zugutekommt. Schließlich werden die öffentlichen Haushalte nachhaltig von den Folgekosten der
Langzeitarbeitslosigkeit entlastet. Es wäre also in unser
aller Interesse, wenn sich die Union dieser Einsicht nicht
länger verschließen würde.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Zimmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
nicht das erste Mal, dass wir aufgrund eines Antrags der
Linken über öffentlich geförderte Beschäftigung reden;
aber es ist das erste Mal, dass von der Fraktion der Linken zu einem eigenen Antrag niemand das Wort ergreift ganz so, als ob sie sich des Antrags schämen würde.
({0})
Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass die
Ministerin offensichtlich keinerlei Anlass sah, über den
Antrag zu reden, sondern im Wesentlichen über die Situation in Thüringen gesprochen hat. Das finde ich
schon sehr seltsam.
({1})
Nichtsdestotrotz: Ein solcher Antrag der Linken ermöglicht es natürlich, über die unterschiedlichen Grundphilosophien nachzudenken. Der Antrag der Linken
verfolgt den Ansatz der öffentlichen Förderung von Beschäftigung. Wir in der Koalition hingegen sehen in der
Förderung der Menschen den richtigen Weg.
({2})
Wir wollen die Stärken und Begabungen der Menschen
in den Fokus nehmen und helfen, diese weiterzuentwickeln.
({3})
Wir haben, wie Sie selbst im Antrag schreiben, mehr
als 500 000 Menschen, die länger als zwei Jahre keine
Arbeit hatten. Vermutlich ist die Zahl höher. Sie ist sicherlich höher, wenn wir die Menschen einbeziehen, die
ein Jahr oder länger arbeitslos sind. Nun wollen Sie öffentlich geförderte Beschäftigung im Umfang von
200 000 Stellen schaffen. Die Stellen sollen jedem offenstehen, der ein Jahr oder länger arbeitslos ist. Eingrenzungen oder Auswahlverfahren finden nicht statt. Ich
stelle mir die Frage: Wie stellen Sie sicher, wenn sich
500 000 und mehr auf Ihr Programm bewerben, dass die
200 000 Stellen auskömmlich sind? Dazu schreiben Sie
nichts in Ihrem Antrag.
({4})
- Ich merke schon aufgrund der Zwischenrufe, dass das
Bedürfnis bei der Fraktion der Linken, zu diesem Tagesordnungspunkt zu reden, groß ist. Aber dann hätten Sie
nicht die Ministerin reden lassen sollen.
({5})
Also, meine Damen und Herren, ich vermute einmal,
dass Sie, wenn die 200 000 Stellen nicht auskömmlich
sind, ganz schnell 1 Million Stellen fordern. Es gibt aus
Ihrer Sicht nämlich nichts, was man nicht mit mehr Geld
regeln könnte.
({6})
Herr Kollege Zimmer, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Zimmermann zu?
Nein; denn sie hatte die Möglichkeit, selber zu sprechen, und hat die Ministerin sprechen lassen.
({0})
Meine Damen und Herren, hier wird die Differenz
zwischen Ihrer und unserer Grundphilosophie deutlich.
Die Linke will einfach 200 000 Stellen zur Verfügung
haben. Darauf kann sich jeder bewerben. Die Fallmanager mit ihrer Qualifikation und Erfahrung sind nicht
mehr gefragt, weil es gar nicht darum geht, Langzeitarbeitslosen zu helfen, passgenaue Maßnahmen zu finden.
({1})
Der einzelne Mensch mit seinen Stärken und Schwächen
ist egal - Hauptsache, öffentlich gefördert. Die Wahrheit
aber ist: Sie fördern damit niemanden, sondern Sie verstecken Arbeitslosigkeit hinter öffentlich geförderter Beschäftigung.
({2})
Sie machen alle Menschen gleich, weil Ihnen die Unterschiede egal sind. Mit der gleichen Grundphilosophie
hat es schließlich und endlich auch in der DDR keine
Arbeitslosen gegeben.
({3})
Dann enthält Ihr Antrag viel linke Folklore, etwa dass
wir nicht die Arbeitslosigkeit bekämpfen, sondern die
Arbeitslosen, dass die Hartz-IV-Leistungen unter der
Armutsgrenze seien oder die 1-Euro-Jobs perspektivlos.
Zu jedem dieser Punkte ließe sich trefflich etwas sagen.
Ich versage es mir hier, weil mir schon klar ist: Folklore
ist gegen Argumente immun.
({4})
Folklore wärmt das Herz, weniger den Verstand.
({5})
Aber auf eines will ich schon einmal eingehen: Sie wollen von den Arbeitgebern eine zeitlich befristete Sonderabgabe zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit erheben. Angesichts solcher Forderungen - das ist nicht
Ihre einzige Forderung - frage ich mich dann schon: Haben Sie denn keine Bedenken, dass Ihnen irgendwann
das Geld anderer Leute ausgehen könnte?
({6})
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den letzten
Jahren zurückgegangen. Insofern war die Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre erfolgreich. Aber auch hier zeigt
sich Ihr kreativer Umgang mit Statistiken. Zwischen
2009 und 2014, so schreiben Sie, sei der Anteil der
Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen von 33,3 auf
37,2 Prozent gestiegen.
({7})
Sie verschweigen aber zweierlei: Zum einen ist die Anzahl der Arbeitslosen deutlich gesunken, zum anderen
auch die Anzahl der Langzeitarbeitslosen. Von beiden
haben wir heute deutlich weniger als 2009.
({8})
Lediglich das Verhältnis von Arbeitslosen zu Langzeitarbeitslosen hat sich geändert, aber auf niedrigerem Niveau. Ihre Zahlen hingegen unterstellen, die Zahl der
Langzeitarbeitslosen sei irgendwie gestiegen. Das ist
aber überhaupt nicht der Fall.
({9})
Richtig hingegen ist, dass es einen schwer zu vermittelnden Kern von Erwerbslosen gibt. Hier reichen die
bisherigen Antworten vermutlich nicht mehr aus.
({10})
Daher ist es richtig, dass wir uns den Werkzeugkasten
der Arbeitsmarktpolitik noch einmal genauer anschauen.
Ich will drei Aspekte exemplarisch nennen, die wir innerhalb der Koalition in den kommenden Wochen intensiver zu erörtern haben.
Ein erster Punkt betrifft die Förderung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Hier halte ich die
Integration von Leistungen wie die sozialpädagogische
Betreuung oder auch die Vermittlung von beruflichen
Kenntnissen, also von Leistungen nach § 45 SGB III, in
§ 16 SGB II für sinnvoll, um Leistungen aus einer Hand
für die Betroffenen zu ermöglichen. Dazu gehört, dass
wir Maßnahme und Begleitung praxistauglich in einem
Instrument zusammenfassen und aufeinander abstimmen.
Der zweite Punkt betrifft die zeitliche Befristung der
Förderung. Es macht meines Erachtens keinen Sinn, erfolgversprechende Fördermaßnahmen mit einer starren
Grenze von zwei Jahren innerhalb eines Zeitraums von
fünf Jahren zulasten der Betroffenen zu begrenzen. Stattdessen sollten wir über ein Jahresmodell nachdenken,
bei dem die Fallmanager vor Ort jedes Jahr neu über die
Maßnahme bzw. die Höhe der Förderung entscheiden,
auch für eine Zeit von insgesamt mehr als zwei Jahren.
Der letzte Punkt, den ich an dieser Stelle anregen
mag: Wir sollten die Kriterien für Arbeitsgelegenheiten
überdenken. Ich meine, dass Maßnahmen, die in erster
Linie den Gedanken der Wettbewerbsneutralität und der
Zusätzlichkeit und weniger dem Interesse der Langzeiterwerbslosen entsprechen müssen, eher zu Beschäftigungstherapien pervertieren, als dass sie Menschen helfen, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Mein
Plädoyer ist daher, diese Kriterien abzuschaffen oder zumindest so abzuschwächen, dass die Kompetenz der lokalen Akteure berücksichtigt wird. Ich höre übrigens,
dass es in Berlin Fälle gibt, in denen die Beiräte weitgehend ignoriert werden. Das geht aus meiner Sicht nicht.
Hier muss die Bundesagentur für Arbeit deutlich machen, dass eine erfolgreiche Leitung vor Ort auch ein gutes Verhältnis zu den lokalen Akteuren pflegt.
Meine Damen und Herren, ich freue mich immer,
wenn wir einen Antrag der Linken diskutieren.
({11})
- Ich sehe schon an der Unruhe, dass die Freude nur auf
meiner Seite ist; ich dachte zumindest, dass die Freude
auch bei Ihnen durchaus vorhanden ist.
({12})
Die halbsozialistische Folklore wärmt vielen das
Herz,
({13})
und die Welt ist auf wundersame Weise einfach, ganz
ähnlich wie in der bösen Karikatur, die einmal in der
Titanic gezeigt wurde. Der Untertitel war: „Endlich: Der
Hunger in der Welt ist besiegt“. In der Zeichnung sah
man einen älteren Mann, der lächelnd eine Schöpfkelle
schwang und rief: „Einfach mehr essen“.
({14})
So kommt mir Ihr Antrag auch daher. Er hilft keinem,
weil er der Komplexität des Themas nicht gerecht wird.
Er ist schädlich, weil er die Menschen gleichmacht, anstatt nach ihren Stärken zu fragen. Er beruht auf der falschen Idee, man könne mit anderer Leute Geld alle Probleme lösen. Das ist Grund genug, den Antrag zu
diskutieren, aber auch Grund genug, ihn abzulehnen. Er
ist nämlich auch irgendwie eine Karikatur.
({15})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin
Zimmermann das Wort.
Lieber Kollege Zimmer, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört und muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin
schon sehr enttäuscht,
({0})
dass Sie das Thema Langzeitarbeitslosigkeit im Eingang
und auch im Abgang Ihrer Rede so in die Lächerlichkeit
gezogen haben.
({1})
Das ist eine große Schweinerei - ich muss es Ihnen
wirklich so deutlich sagen -, denn Ihre Fraktion hat die
Sabine Zimmermann ({2})
1 Million langzeitarbeitslosen Menschen in diesem Land
schon lange abgeschrieben.
({3})
Das ist die Realität, und der sollten Sie sich wenigstens
einmal stellen.
({4})
Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass die Landesministerin zum Thema, zu unserem Antrag, gesprochen hat
({5})
und damit gleichzeitig verbunden hat, darzustellen, wie
es in der Praxis aussieht, was die Bundesregierung alles
nicht tut, warum es im Land Thüringen und in allen anderen Bundesländern nicht zum Passiv-Aktiv-Transfer
kommt und Langzeitarbeitslosigkeit nicht wirklich ernsthaft bekämpft werden kann.
({6})
Ich muss Ihnen sagen: Es haben hier auch schon CDULandesminister gesprochen; das ist nichts Neues. Das
sollten Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen.
({7})
Sie sagten in Ihrer Rede, der Mensch stehe bei Ihnen
im Mittelpunkt. Jawohl! Dazu muss ich sagen: Ministerin Nahles hat ein Programm für 43 000 Teilnehmer aufgelegt. Damit will sie die Langzeitarbeitslosigkeit von
1 Million Menschen bekämpfen. Ich muss Ihnen sagen:
Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Bei Ihnen steht
nicht der Mensch im Mittelpunkt; das sieht man hier
ganz deutlich.
({8})
Im Übrigen muss ich Ihnen sagen: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen geht seit 2012 wieder hoch. Die Zahlen
sind vom Bundesministerium; sie werden sicherlich
stimmen. Die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Bezieher ist
nur um 9,2 Prozent zurückgegangen. Das Geld, das Sie
in den letzten Jahren eingespart haben, steht dazu in gar
keinem Verhältnis.
Sie kritisieren, dass 200 000 Stellen geschaffen werden sollen. Angesichts der wenigen Arbeitsstellen und
der vielen arbeitslosen Menschen - wir haben ein Missverhältnis von 1:3 - frage ich mich doch aber: Haben die
arbeitslosen Menschen überhaupt eine Chance auf eine
solche Stelle? Ihre Argumente sind doch Schwachsinn.
Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen: Die Teilnehmerzahl ist von 2010 bis 2013 von 342 534 auf 110 000
zurückgegangen. Daran sehen Sie doch, dass das, was
Sie für langzeitarbeitslose Menschen tun, ein Tropfen
auf den heißen Stein ist. Damit werden Sie die Langzeitarbeitslosigkeit in unserem Land nicht bekämpfen.
({9})
Zur Erwiderung Herr Kollege Zimmer.
Verehrte Frau Kollegin Zimmermann, für das Erfüllen
Ihrer Erwartungen sind meine Reden sicherlich nicht zuständig. Wenn Sie da enttäuscht gewesen sind, dann liegt
es vielleicht daran, dass ich Argumente vorgebracht
habe, die Sie so noch nicht gehört haben. Insofern mag
es Ihnen vielleicht auch gutgetan haben, der Rede zuzuhören.
({0})
Allerdings habe ich jetzt auch festgestellt, dass Sie relativ gut vorbereitet gewesen sind.
({1})
Ich frage mich schon, warum Sie nicht selber in die Bütt
gegangen sind.
({2})
Stattdessen haben wir einer Ministerin zuhören dürfen,
die ganz im Sinne einer präventiven Immunisierung
schon heute erklärt, warum das im Land Thüringen alles
nicht funktionieren wird, nämlich weil am Ende der
Bund schuldig ist. Dass Sie sich hergegeben haben, dafür eine parlamentarische Plattform zu bilden, das finde
ich ausgesprochen schade.
({3})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Zimmer, vielleicht zunächst ein Wort zu dem Begriff
„kreative Statistik“. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist nach
Ihrer Statistik seit 2010 um 7 Prozent zurückgegangen.
Aber wenn Sie die Zahl derjenigen, die Sie schlicht und
ergreifend ungerechtfertigterweise nicht mitzählen, zum
Beispiel die 58-Jährigen, die ein Jahr lang kein Angebot
bekommen haben, berücksichtigen - das sind über
166 000 Menschen -, dann sind Sie bei einem Rückgang
der Langzeitarbeitslosigkeit von 0,6 Prozent. Herr
Zimmer, wenn Sie an dieser Stelle wirklich eine Debatte
über Statistik führen wollen, dann machen Sie sich erst
einmal ehrlich.
({0})
Hören Sie auf, das Problem kleinzureden!
({1})
Ich weiß nicht, ob Sie manchmal auch Zeitung lesen.
In der Süddeutschen Zeitung vom 22. April stand, dass
selbst Herr Alt, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit,
der Meinung ist, dass von den 1 Million Langzeitarbeitslosen 500 000 bis auf Weiteres und die Hälfte von diesen
500 000 auch langfristig keine Chance haben werden,
auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er sagt, sie
brauchen mindestens zum Übergang einen zweiten Arbeitsmarkt. Ich zitiere ihn: „Hier wurde in den vergangenen Jahren deutlich abgebaut“. Ich ergänze: Es wurde
deutlich abgebaut, und zwar über 200 000 Stellen.
Herr Zimmer, Sie wissen, ich schätze Sie, aber heute
haben Sie wirklich nicht den richtigen Ton getroffen.
Das war selbstgefällig.
({2})
Sie bieten ein ESF-Programm mit 33 000 Plätzen an, das
nur das einst von Frau von der Leyen initiierte Programm „Bürgerarbeit“ mit ebenfalls 33 000 Plätzen ersetzt. Damit schaffen Sie keinen einzigen zusätzlichen
Platz für die Langzeitarbeitslosen. Dabei geht es hier
um, ich wiederhole, 500 000 Menschen!
({3})
Im Zuge des Teilhabeprogramms werden 10 000 Plätze
geschaffen. Das Geld für dieses Teilhabeprogramm wird
den Jobcentern aber vorher abgezogen. Das Programm,
das hier aufgelegt wird, geht also zulasten von Plätzen in
anderen Bereichen. Sie schaffen kein einziges zusätzliches Angebot.
Was Sie hier heute angedeutet haben, wird der Größenordnung und der Dimension des Problems in keiner
Weise gerecht. Das ist weder quantitativ noch qualitativ
wirklich ein Angebot.
({4})
Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung.
Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt, und wenn
wir den finanzieren wollen, dann brauchen wir einen
Passiv-Aktiv-Transfer. Darüber sind sich wirklich alle
Arbeitsmarktexperten und alle Akteure auf dem Arbeitsmarkt inklusive der BA einig.
({5})
Es gab Zeiten, in denen auch die SPD zu den kundigen
Thebanern gehörte.
({6})
Ich glaube allerdings nicht - das will ich an dieser
Stelle deutlich sagen -, dass die öffentlich geförderte Beschäftigung so umgesetzt werden könnte und sollte, wie
die Linken das vorschlagen.
({7})
Ich finde, Sie fallen sehr weit hinter Erkenntnisse zurück, die wir längst haben.
({8})
Das Beharren auf dem Kriterium der Zusätzlichkeit führt
dazu, dass sehr arbeitsmarktferne Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Verzicht auf jedes Kriterium bei der Frage,
wer in dieses Programm aufgenommen werden soll, führt
zu extremen Creaming-Effekten. Wir haben 1 Million Langzeitarbeitslose. Sie reden von 200 000 Plätzen. Die Gefahr ist sehr groß, dass ausgerechnet die, die das Programm am dringendsten brauchen, hinten herunterfallen.
({9})
Bei einer Fokussierung auf die gemeinwohlorientierte
Arbeit werden eben nicht die positiven Effekte berücksichtigt, die zum Beispiel Baden-Württemberg durch die
Einbeziehung privater Unternehmer erzielt.
Richtig katastrophal finde ich aber Ihren Vorschlag,
allen über 55-Jährigen einen Rechtsanspruch zu geben.
Das heißt, Sie halten diese Menschen in einem Sonderarbeitsmarkt. Damit entlasten Sie die Unternehmen von ihrer Verantwortung, auch für diese Gruppe etwas zu tun.
({10})
Ich habe also viel Kritik im Detail. Aber, Herr
Zimmer, Ihre Kritik wäre glaubwürdiger, wenn Sie
selbst etwas anzubieten hätten.
({11})
Sie sagen - ich halte das für einen Treppenwitz der Weltgeschichte -, bei Ihnen stehe die Förderung von Menschen im Fokus. Seit dieser Legislaturperiode, seit Beginn der Amtszeit von Frau Nahles haben sich die
Chancen der Langzeitarbeitslosen noch einmal verschlechtert. Die Aktivierungsquote ist 2014, in Ihrer
Amtsperiode, mit 17,4 Prozent so niedrig wie seit 2010
nicht mehr. Ich finde wirklich, Sie sollten ein bisschen
kleinere Brötchen backen.
({12})
Sie lassen die Langzeitarbeitslosen wirklich im Stich
und nehmen sehenden Auges in Kauf, dass das Teilhabeversprechen für Langzeitarbeitslose nicht mehr gilt.
Das BMAS hat neulich auf einer Tagung der HansBöckler-Stiftung auf die Forderung der Länder nach zusätzlichen Instrumenten, insbesondere des sozialen Arbeitsmarktes, gesagt, eine Instrumentenreform würde zu
viel Unruhe in die Jobcenter bringen.
({13})
Wissen Sie, was die Länder dem BMAS geantwortet haben? Unruhe bringt das ständige Programmhopping. Zi9672
tat: Hören Sie endlich auf, uns mit Sonderprogrammen
zu überfallen. - Ja, hören Sie damit endlich auf.
({14})
Ich habe diese Woche mit einem Mitarbeiter aus einem Jobcenter in Bad Segeberg telefoniert. Er hat mir
gesagt, mit wie viel Engagement sie das Programm
„50 plus“ aufgebaut haben. Dieses Programm läuft überaus erfolgreich, aber jetzt wird es einkassiert, weil Sie
mit den Aktivierungszentren um die Ecke kommen. Ich
finde, Sie sollten sich einmal fragen, welchen Sinn Modellprojekte haben, wenn man sie, sobald sie erfolgreich
laufen, wieder einkassiert und eben nicht in die Regelförderung übernimmt. Das macht doch keinen Sinn.
({15})
Richtig verzweifelt sind die Jobcenter übrigens, wenn
es um den bürokratischen Aufwand für das ESF-Programm geht. Der Aufwand ist offenbar so groß, und
zwar nicht nur bei der Beantragung, sondern auch bei
der Bewilligung, dass wir immer noch nicht wissen, was
aus diesem Nahles-Programm geworden ist, obwohl die
Prüfungen bis Ende März abgeschlossen sein sollten.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben
jetzt eine Menge Erfahrung gesammelt und wissen, welche Konsequenzen wir ziehen sollten und wie wir mit
Langzeitarbeitslosen umgehen sollten. Dazu will ich Ihnen drei Punkte nennen: Erstens. Die Strategie der
schnellen Vermittlung ist gescheitert.
Frau Kollegin Pothmer, das wird ein bisschen schwierig.
Das wird schwierig? - Dann sage ich noch ein Letztes
und zitiere Frau Mast, die eine kluge Kollegin ist: Unterstützung für Menschen, die am Rand stehen, gibt es nicht
zum Nulltarif. Wir müssen ausreichend Geld in die Hand
nehmen, um Langzeitarbeitslose zu fördern. - Ich kann
nur sagen: Das war in der letzten Legislaturperiode richtig, und das ist auch in dieser Legislaturperiode richtig.
Aber es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt
ist außerordentlich gut. Wir alle freuen uns über eine
sehr stabile wirtschaftliche Situation, und auch der Arbeitsmarkt zeigt sich erstaunlich robust. Wir sehen gute
Tarifsteigerungen, und wir haben einen gesetzlichen
Mindestlohn, der sehr viele Menschen aus dem Hilfebezug holt.
Es gäbe also einige gute Argumente für Partylaune zumindest theoretisch. Gleichzeitig sehen wir praktisch,
dass sich in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarktes,
gerade im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, seit einigen Jahren de facto nichts bewegt. Es ist offenkundig,
dass die sehr gute konjunkturelle Lage Hunderttausenden Menschen in Deutschland nicht hilft, ebenjenen
Menschen, die sehr lange arbeitslos sind; sie können
auch unter diesen tollen Rahmenbedingungen nicht ohne
Weiteres zurück auf den Arbeitsmarkt finden.
Jetzt gibt es verschiedene Strategien, damit umzugehen. Es gibt die Strategie der Vorgängerregierung, deren
Fokus auf schönen Arbeitsmarktzahlen und guten Nachrichten lag. Man vertraute darauf, dass sich dadurch von
alleine etwas bewegen würde, dass es dadurch leichter
würde, die Arbeitslosen zu vermitteln, und dass in der
Folge die aktive Arbeitsmarktförderung reduziert werden könnte.
Diese Bundesregierung mit Andrea Nahles als Ministerin für Arbeit und Soziales verfolgt eine ganz andere
Strategie. Sie sagt: Uns ist es ganz besonders wichtig,
hinzuschauen. Wir anerkennen, dass es eine große Herausforderung ist, die Menschen, die sehr lange aus dem
Erwerbsleben heraus sind, zurückzuholen in die Gesellschaft, ihre Teilhabe zu organisieren und sie im besten
Fall im ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Das ist
Andrea Nahles und der SPD ein Herzensanliegen. Wir
werden nicht zuschauen, wie 1 Million Menschen und
ihre Familien zu Hause sitzen, hinter ihren Gardinen verschwinden und weitgehend vom sozialen Leben ausgeschlossen sind.
({0})
Das zeigt sich auch daran, dass Andrea Nahles eigentlich
bei jeder Grundsatz- oder Haushaltsrede in diesem Hohen Hause das Thema Langzeitarbeitslosigkeit als eine
ihrer Topprioritäten benennt und deutlich macht, was sie
diesbezüglich plant.
Es gibt 1 Million gute Gründe und sehr viele objektive Fakten, die zeigen, dass wir mit Blick auf die Gesellschaft bei diesem Thema etwas unternehmen müssen.
({1})
Da ist natürlich die materielle Armut der Langzeiterwerbslosen. 84 Prozent der Langzeiterwerbslosen leben unter der Armutsrisikogrenze. Erwerbsarbeit ist in
Deutschland Grundlage für soziale Teilhabe. Arbeit zu
verlieren bedeutet den Verlust sozialer Beziehungen, den
Verlust des sozialen Status, und für viele Menschen ist es
auch subjektiv ein ganz massiver Schicksalsschlag.
Langzeitarbeitslosigkeit hat gesundheitliche Auswirkungen. Der Gesundheitszustand der Betroffenen ist
objektiv und subjektiv schlechter. 64 Prozent der Betroffenen haben schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen. Das ist kein Henne-Ei-Problem, sondern
das bedingt sich gegenseitig. Wer langzeiterwerbslos ist,
wird kränker, und wer kränker wird, hat größere Probleme, aus der Langzeiterwerbslosigkeit herauszukommen.
Es gibt familiäre Probleme, seelische Probleme, körperliche Probleme. Die Menschen werden stigmatisiert.
Langzeiterwerbslosigkeit hat auch schwerwiegende gesellschaftliche Folgen. Wir sehen, dass Kinder in Familien groß werden, in denen die Eltern langzeiterwerbslos
sind. Wir erleben sozialräumliche Effekte. Ganze Stadtteile sind massiv von Langzeiterwerbslosigkeit betroffen
und auch geprägt. Außerdem verursacht Langzeiterwerbslosigkeit massive gesellschaftliche Kosten: fehlende Steuereinnahmen, hohe Kosten der Arbeitslosigkeit, hohe
Gesundheitskosten usw.
Das sind genügend Gründe, dies anzugehen und auch
mit dem Klischee aufzuräumen, dass Langzeiterwerbslose nicht arbeiten wollen. Ich kenne in meinem Wahlkreis sehr viele Betroffene. Sie sagen: Ich will raus. Ich
will etwas Sinnvolles tun. Ich will wieder Sinn und
Struktur in meinem Leben haben. Ich will nicht stigmatisierende, sondern würdevolle Beschäftigung. - Das ist
es, was ich von den Betroffenen höre. Dabei müssen wir
sie unterstützen.
({2})
Die Mittel des Bundes für aktive Arbeitsmarktförderung sind von der Vorgängerregierung massiv gekürzt
worden. Erst diese Regierung hat das Thema wieder
ganz weit nach oben auf die Agenda gesetzt. Dafür gebührt Ministerin Andrea Nahles ein großes Lob.
({3})
Andrea Nahles reagiert mit einem differenzierten Ansatz
und hat damit dem Antrag der Linken, von wem auch
immer er präsentiert wurde, einige Denkschritte voraus.
Denn es gibt nicht die eine Gruppe Langzeiterwerbslose,
die man mit öffentlich geförderter Beschäftigung beglückt, und dann ist das Problem gelöst. Wir können
doch nicht dem Anfang 20-Jährigen, der ein Drogenproblem hat und den Anfang seiner Berufskarriere verstolpert,
({4})
mit der Diplom-Ingenieurin vergleichen, die mit Mitte
50 durch eine Insolvenz des Unternehmens keine Arbeit
mehr hat und keinen Fuß mehr in die Tür bekommt.
({5})
- Ich komme gleich dazu, Brigitte, keine Sorge.
({6})
Alleinerziehende mit kleinen Kindern und ohne soziales Umfeld haben doch ganz andere Probleme als jemand, der keine Berufsausbildung gemacht hat oder bei
dem sie ewig lange her ist. Deswegen hat Andrea Nahles
Ende letzten Jahres ein ganzes Bündel von Maßnahmen
vorgestellt und eben nicht eine Lösung für alle. Diese
Vielfalt der Maßnahmen wird auch der Vielfalt der
Gruppe gerecht.
Es wird das ESF-Programm „Perspektive in Betrieben“ für Langzeitarbeitslose ohne verwertbaren Berufsabschluss geben. Es wird ein Bundesprogramm für sehr
arbeitsmarktferne Langzeiterwerbslose geben.
({7})
Darüber hinaus wird es eine viel bessere Betreuung in
Aktivierungszentren geben. Darüber ist hier überhaupt
noch nicht gesprochen worden.
({8})
Wir wollen diejenigen 46 Prozent mit gesundheitlichen
Einschränkungen in den Fokus nehmen und natürlich
auch der Situation der Alleinerziehenden viel mehr gerecht werden. Dazu haben Sie schon einiges von dieser
Regierung gehört.
({9})
So sehr wir als Sozialdemokraten öffentlich geförderte Beschäftigung als wichtigen Aspekt sehen und uns
da auch mehr vorstellen und mehr wünschen, an einem
Punkt widersprechen wir den Aussagen im Antrag der
Linken fundamental. Sie wollen den Zugang zu diesem
Programm einfach so, ohne Kriterien gewähren. Das ist
ja schön und gut gemeint, kann aber im Zweifel mehr
Schaden anrichten als nutzen.
({10})
Wir reden über eine sehr teure Maßnahme. Ohne Zugangskriterien würde es Creaming- und Lock-in-Effekte
geben. Dadurch würden Personen in das Programm
kommen, denen mit Weiterbildung, mit einer guten Vermittlung, mit einer guten Kinderbetreuung viel mehr geholfen wäre. Schlussendlich diskreditieren Sie mit dem
gutgemeinten Ansatz, immer noch eine Schippe drauflegen zu wollen, ein wirklich sinnvolles Projekt.
Schauen Sie sich bitte Ihren Antrag und die Konzepte,
die schon auf dem Tisch liegen, noch einmal an. Über
Passiv-Aktiv-Tausch wollen wir als Sozialdemokraten
natürlich sehr gerne reden. Das wollen wir gerne verfolgen.
({11})
Aber dieser Gut-gemeint-Ansatz, den Sie hier in typischer Linken-Manier vorbringen, geht an der Zielgruppe
vorbei,
({12})
die viel diverser ist, als Sie es hier darstellen.
({13})
Aber jetzt müssen Sie bitte zum Schluss kommen,
Frau Kollegin Kolbe.
Das tue ich. Das Thema bleibt ja sowieso auf der
Agenda. - Jedenfalls werden wir Sozialdemokraten weiter dafür sorgen, dass Langzeiterwerbslose in unserem
Land eine Chance bekommen.
({0})
Bis zum nächsten Mal zu diesem Thema.
({1})
Vielen Dank. - Der Kollege Kai Whittaker ist jetzt für
die CDU/CSU-Fraktion der nächste Redner.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Linksfraktion, Sie kennen sich ja bestens mit dem Thema Langzeitarbeitslosigkeit aus. Das ist kein Wunder; denn Sie
befinden sich ja in einer Art politischen Langzeitarbeitslosigkeit. Seit zehn Jahren sind Sie in der Opposition,
und Besserung ist nicht in Sicht.
({0})
Wer Ihren Antrag liest, sieht auch keine Perspektive für
eine Vermittlung in die Regierung. Deshalb lautet mein
Vorschlag an Sie: Lassen Sie uns uns gemeinsam Gedanken machen, woran das liegen könnte. Welche Vermittlungshemmnisse liegen bei Ihnen offenkundig vor?
({1})
Schon in meiner ersten Rede hier im Deutschen Bundestag habe ich bedauerlicherweise feststellen müssen,
dass es mit Ihren volkswirtschaftlichen Kenntnissen
nicht allzu weit her ist. Ihr heutiger Antrag ist der Beweis, dass Sie auch mit der Lebenswirklichkeit nicht
allzu viel anfangen können.
({2})
Sie fordern, alle Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, sollen sich auf einen sozialen Arbeitsplatz
bewerben können; das sind mehr als 1 Million Menschen
in Deutschland. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag, dass es - nur - 200 000 solcher Arbeitsplätze geben
soll. Was ist mit den anderen 800 000 Menschen? Wer
soll diese 200 000 Arbeitsplätze überhaupt bekommen?
Gerade die Antwort auf die letzte Frage bleiben Sie
schuldig; denn Sie grenzen die Zielgruppe nicht ein. Damit erreichen Sie eben nicht diejenigen, die am weitesten
vom Arbeitsmarkt entfernt sind, sondern Sie helfen ausgerechnet denjenigen, die diese Hilfe nicht brauchen.
Da wollen Sie uns immer in das gelobte Land, in dem
Milch und Honig fließen, führen, und dann bleiben Sie
mitten in der Wüste Sinai stecken.
({3})
Aber in der politischen Wüste sind Sie ja zu Hause.
({4})
Tragischerweise machen Sie in Ihrem Antrag genauso
weiter. Sie verlangen für die sozialen Arbeitsplätze einen
Bruttolohn von 1 500 Euro. Das entspricht für den Steuerzahler einem Betrag von fast 2 000 Euro.
({5})
Bei 200 000 Arbeitsplätzen sind das pro Jahr sage und
schreibe 4,7 Milliarden Euro, die Sie zusätzlich ausgeben wollen.
({6})
Das ist ein Viertel dessen, was der Bund jedes Jahr für
das Arbeitslosengeld II ausgibt.
Damit nicht genug: Sie schaffen es mit Ihrem Antrag
auch noch, ein Zweiklassensystem von Arbeitslosen zu
installieren. Die 800 000 Menschen, die es nicht in Ihr
Programm schaffen, bekommen weiterhin Hartz IV. Die
anderen 200 000 Menschen, die in Ihrer Soziallotterie
gewonnen haben, bekommen doppelt so viel.
({7})
Somit schafft die Linke das, was sie der FDP immer vorgeworfen hat: eine Umverteilung von unten nach oben
im Hartz-IV-System.
({8})
Man könnte meinen, das sei genug. Aber Sie setzen
noch eins drauf: Sie schlagen eine Sonderabgabe von
0,5 Prozent der Lohnsumme vor.
({9})
Selbstverständlich sollen die Arbeitgeber sie bezahlen;
etwas anderes haben wir von Ihnen auch nicht wirklich
erwartet.
({10})
Bei Ihrem Vorschlag bleiben Sie aber seltsam vage.
Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder
wollen Sie sich ganz dreist an der Arbeitslosenversicherung bedienen. Denn die Arbeitgeber und die Versicherten bezahlen jedes Jahr einen 3-prozentigen Beitragssatz
an die Arbeitslosenversicherung - das sind ungefähr
30 Milliarden Euro im Jahr -, und Ihre 0,5 Prozent Sonderabgabe ergäbe - oh Wunder, oh Wunder! - genau die
5 Milliarden Euro, die Sie brauchen.
({11})
Nur: Dieses Geld gehört den Versicherten und nicht Ihrem aufgeblähten Steuerstaat.
({12})
Oder aber - das ist die Alternative - Sie wollen eine
Strafsteuer für Arbeitgeber einführen; Sie nennen sie
eben Sonderabgabe. Für eine solche Abgabe aber muss
es eine ganz spezifische Verbindung zwischen dem Zahler und dem Zweck geben; das schreibt unsere Verfassung vor.
({13})
Aber die schließen Sie ja aus, weil private Arbeitgeber
die sozialen Arbeitsplätze gar nicht anbieten dürfen.
({14})
Kommen wir zu einem weiteren Vermittlungshemmnis bei Ihnen: zum logischen Denken. In meiner ersten
Rede im Bundestag ging es um Ihren Antrag im Hinblick auf einen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde.
Damals fand ich Ihren Antrag irgendwie süß.
({15})
Denn wir haben uns in der Großen Koalition auf einen
Mindestlohn von 8,50 Euro verständigt;
({16})
seitdem ist Ihnen dieses Thema ja abhandengekommen.
Da Sie den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro
nicht einführen konnten, haben Sie sich wahrscheinlich
gedacht: Jetzt probieren wir es durch die Hintertür, nämlich bei den Arbeitslosen.
({17})
Denn Sie fordern für die sozialen Arbeitsplätze ja einen
Mindestlohn von 10 Euro.
Sie fordern in Ihrem Antrag auch eine 35-StundenWoche. Aber darüber möchte ich mich gar nicht beschweren; das wäre nämlich ein höheres Arbeitspensum
als bei Ihnen üblich.
({18})
Liebe Linke, nachdem ich Ihr Vermittlungshemmnis
jetzt anschaulich beleuchtet habe, möchte ich Ihnen etwas an die Hand geben.
({19})
Schließlich ist es ja unser gemeinsames Ziel, Vermittlungshemmnisse abzubauen, also auch Ihre. Worum geht
es der Union bei der Integration der Langzeitarbeitslosen? Ich habe es schon in meiner letzten Rede hier im
Deutschen Bundestag gesagt - ich wiederhole es -:
({20})
nicht Integration durch Beschäftigung, sondern Integration durch Arbeit. So bringen wir die Menschen wieder
in den ersten Arbeitsmarkt hinein. Wir dürfen die Menschen nicht vernachlässigen, wir dürfen sie nicht in irgendwelchen sozialen Arbeitsmärkten parken, und wir
dürfen sie auch nicht aufgeben, sondern wir müssen ihre
Stärken in den Mittelpunkt stellen. Das Ziel ist ganz klar,
sie an den ersten Arbeitsmarkt heranzubringen. Dafür
gibt es meiner Meinung nach fünf Ansatzpunkte:
Wenn wir die Langzeitarbeitslosen wieder in die Nähe
des ersten Arbeitsmarktes bringen wollen, brauchen wir
bessere Konzepte statt Maßnahmen. Der Mehrwert der
meisten Maßnahmen geht gegen null. Was diese Menschen eigentlich brauchen, sind Fähigkeiten, die am ersten Arbeitsmarkt gefragt sind. Ein Beispiel wären,
glaube ich, die sogenannten Sozial- und Integrationsfirmen; dieses Konzept haben wir im SGB IX bei den
Menschen mit Behinderung bereits verankert. Einer der
Hauptunterschiede zwischen den bestehenden Instrumenten im SGB II und diesen Sozialfirmen ist die Stellung der Langzeitarbeitslosen: In einer Maßnahme sind
sie nur Teilnehmer; aber in einer Sozialfirma sind sie Beschäftigte. Ein weiterer Vorteil ist meiner Meinung nach,
dass die Sozialfirmen Betreuung aus einer Hand anbieten können, und sie bieten insbesondere arbeitsmarktnahe Beschäftigung. Dadurch können die Übergänge in
den ersten Arbeitsmarkt besser gestaltet werden.
Wie können wir diese Übergänge noch erleichtern?
Damit wären wir beim zweiten Punkt: Ausbildung fördern. Über 40 Prozent der Arbeitslosengeld-II-Bezieher
haben keinen Berufsabschluss. In der Vergangenheit haben wir den Fokus zu sehr auf die schnelle Vermittlung
gelegt. Wir wollen nicht, dass Langzeitarbeitslose in
Zeit- und Leiharbeit vermittelt werden, um sich in wenigen Monaten wieder einen neuen Job suchen zu müssen.
({21})
Deshalb muss der Vorrang von Ausbildung vor Vermittlung konsequent in die Praxis umgesetzt werden.
Ein dritter Ansatzpunkt sind die Jobcenter. Es ist die
Aufgabe der Jobcenter, individuelle und passgenaue
Möglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu finden.
({22})
Diesem Anspruch können die Jobcenter nicht immer gerecht werden. Deswegen sollten wir an dieser Stelle auch
darüber diskutieren, wie wir die freie Förderung reformieren, sie flexibler gestalten können. Dies würde den
Jobcentern die Freiheit geben, eine ganzheitliche Betreuung anzubieten.
Ein weiterer Aspekt ist die Verbesserung des Arbeitgeberservices. Die Jobcenter müssen ihren lokalen Arbeitsmarkt viel besser kennen, um passgenau vermitteln
zu können.
Als Letztes möchte ich noch die Notwendigkeit von
Evaluierungen ansprechen. Meiner Meinung nach müssen wir alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente nach ihrer Einführung regelmäßig überprüfen. Dadurch können
wir schneller feststellen, was wirkt und was nicht wirkt
und wo wir nachsteuern müssen.
Werte Kollegen, in der Arbeitsmarktpolitik verfolgen
wir alle das gleiche Ziel: Wir möchten Menschen wieder
in Arbeit bringen. Unsere Wege sind jedoch höchst unterschiedlich. Leider werden viele Anträge von den Linken immer noch von ideologischen Blaupausen dominiert,
({23})
wie wir heute mehr als einmal festgestellt haben. Darin
liegt, denke ich, die Krux der ganzen Sache. Der
Schweizer Aphoristiker Paul Schibler hat einmal sehr
treffend und passend formuliert: „Ideologie ist ein Synonym für Begrenztheit.“ Ihr Antrag, liebe Linke, ist ein
Synonym für Begrenztheit. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank.
({24})
Vielen Dank. - Als Nächster hat der Kollege Matthias
Bartke, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich
finde, dass wir heute einem bemerkenswerten parlamentarischen Schauspiel beiwohnen dürfen: Die Linkspartei
hat einen Antrag geschrieben und ihre gesamte Redezeit
an eine Landesministerin aus Thüringen gegeben.
({0})
Nachdem die Redezeit verbraucht war, wurde eine Kurzintervention - eher eine Langintervention - gemacht, die
vorbereitet war.
({1})
Man kann so etwas als Missbrauch parlamentarischer
Bräuche beschreiben. Das nur vorab.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist jedes Mal wieder
eine hervorragende Nachricht: Die Arbeitslosenzahlen
sinken. Dieser Trend setzt sich nun schon seit langem
fort. Gleichzeitig - das ist natürlich auch wahr - müssen
wir uns aber eingestehen: Bei den Langzeitarbeitslosen
hat sich bislang leider zu wenig getan. Auch wenn es anderslautende Stimmen gibt: Die Zahlen bleiben seit langem auf gleichem Niveau, nämlich bei etwa 1 Million
stehen.
Sorgen machen muss uns dabei vor allem die Mischung aus strukturellen Bedingungen und persönlichen
Einschränkungen, die dahintersteckt. Diese Mischung
macht aus Lebenssituationen Vermittlungshemmnisse,
lässt aus Menschen Langzeitarbeitslose werden und
führt zur Ausgrenzung aus unserer Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, wir stellen uns dieser Realität. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat bereits
im vergangenen Jahr ein umfassendes Konzept zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt.
({3})
Es ist völlig klar: Die Chance von Langzeitarbeitslosen,
im nächsten Monat eine Beschäftigung zu haben, ist momentan viel zu niedrig. Diejenigen, die weniger als ein
Jahr arbeitslos sind, haben eine sechsmal höhere Chance,
einen Job zu bekommen. Das macht erschreckend deutlich, wie gering die Chancen Langzeitarbeitsloser sind.
Dieses Problem werden wir angehen. Das ist auch dringend notwendig; denn Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet
nicht nur, kein Geld zu verdienen. Im schlimmsten Fall
bedeutet sie auch fehlendes Selbstwertgefühl, fehlende
Anerkennung und fehlende Teilhabe an der Gesellschaft.
Viel zu häufig begegnen wir auch Vorurteilen gegenüber Arbeitslosen, die deren mangelndes SelbstwertgeDr. Matthias Bartke
fühl dann noch verstärken. Natürlich gibt es immer den
einen oder anderen, der keinen Job haben will und sich
in der Arbeitslosigkeit scheinbar gut eingerichtet hat.
Aber die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslosen möchte gern arbeiten. Manche - das ist leider auch
die Wahrheit - trauen sich reguläre Arbeit nicht mehr zu,
auch wenn sie durchaus noch arbeiten könnten.
Die konjunkturelle Entwicklung in unserem Land ist
momentan vielversprechend, aber auch ihre Wirkung hat
Grenzen. Langzeitarbeitslose sind manchmal nicht mehr
arbeitsmarktfähig. Das heißt aber nicht, dass sie arbeitsunfähig sind. Für ihre Probleme gibt es kein Patentrezept. Vielmehr brauchen wir Angebote, die helfen, die
spezifischen Probleme zu bewältigen. Genau dieser Ansatz findet sich in dem Konzept von Arbeitsministerin
Andrea Nahles zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit
wieder. In den geplanten Aktivierungszentren - meine
Kollegin Kolbe hat schon darauf hingewiesen - werden
Leistungsberechtigte gebündelt Unterstützungsleistungen erhalten. Hier wird auf soziale, psychische und gesundheitliche Vermittlungshemmnisse eingegangen.
Genauso wird auch an die Bewältigung von Bildungsdefiziten und Alltagsproblemen herangegangen; „maßgeschneidertes Betreuungsprogramm“ ist hier das Stichwort. Die Aktivierungszentren werden noch in diesem
Jahr vorbereitet. Anfang nächsten Jahres werden sie arbeitsfähig sein.
Ebenfalls Bestandteil des Konzepts ist das ESF-Programm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter. Dessen Umsetzung ist bereits gestartet. Die
Unterscheidung zwischen nicht arbeitsmarktfähig und
arbeitsunfähig wird hier unmittelbar gelebt.
Arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose ohne verwertbaren Berufsabschluss werden bei der Integration in den
Arbeitsmarkt unterstützt. Dabei sind Arbeitnehmercoaching auch nach Beginn der Beschäftigung und Lohnkostenzuschüsse zentrale Elemente; dazu kommt - ganz
wesentlich im Programm - die gezielte Ansprache und
Beratung der Arbeitgeber, auch wenn das in manchen
Ohren banal klingt. Fakt ist aber leider, dass nur jeder
dritte Betrieb bereit ist, Langzeitarbeitslosen im Einstellungsprozess überhaupt eine Chance zu geben. Dabei
bewertet etwa die Hälfte der Betriebe, die Langzeitarbeitslose berücksichtigen, deren Motivation und Zuverlässigkeit als gut oder sogar sehr gut.
Denjenigen, die auch nach intensiver Förderung nicht
in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können,
bietet das Programm „Chancen eröffnen - soziale Teilhabe sichern“ eine neue Chance. Der Name ist dabei
Programm: Vorderstes Ziel ist die soziale Teilhabe am
Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben. Durch
Zuschüsse bis zu 100 Prozent sollen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse gefördert werden.
Auch dieses Programm startet noch in diesem Jahr.
({4})
Darüber hinaus befürworten wir Sozialdemokraten
auch die Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes über
den Passiv-Aktiv-Transfer; das ist kein Geheimnis.
({5})
Wir wollen auch kein Geheimnis daraus machen, dass
dies vom Finanzminister derzeit verhindert wird.
Es gibt Dinge, die man schlicht nicht versteht: Meine
Heimatstadt Hamburg hat angeboten, bei einem PassivAktiv-Transfer die Finanzierung eventuell notwendiger
Restmittel zu übernehmen. Also null Kostenrisiko für
den Bund! Das ist mit dem Finanzminister trotzdem
nicht zu machen. Ich frage mich, ob man im Alter wirklich immer weiser wird.
({6})
Aber, verehrte Frau Ministerin Werner, Ihren Rezepten
kann ich auch nur begrenzt etwas abgewinnen. Mit Ihrer
Situationsanalyse gehe ich in weiten Teilen mit, bei der
Therapie aber nicht. Sie fordern 200 Stellen in einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, auf die sich
alle Langzeitarbeitslosen
({7})
- 200 000 Stellen - bewerben können. Es ist hier eben
schon gesagt worden: Sie sagen nichts über die Auswahlkriterien für die Vergabe dieser Stellen. Dabei ist
doch klar, dass bei einem solchen Konzept ein Creaming
stattfinden wird. Das heißt, die mit den besten Vermittlungsaussichten bekommen die Stellen, und die
Schwächsten der Schwachen gucken wieder einmal in
die Röhre.
Herr Kollege Bartke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Ja, gern.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Bartke, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass der Erste Bürgermeister der Hansestadt
Hamburg das Angebot gemacht hat, zur Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarktes eventuell sogar zusätzlich
Geld zur Verfügung zu stellen, und Sie haben den Bundesfinanzminister - wie ich finde, zu Recht - kritisiert.
Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Herr Scholz auch einmal Bundesarbeitsminister war und in seiner Amtszeit
den Passiv-Aktiv-Transfer seinerseits abgelehnt hat?
({0})
Das ist schon längere Zeit her. Herr Scholz ist derzeit
Erster Bürgermeister in Hamburg. Die Diskussion um
den Passiv-Aktiv-Transfer hat es damals in dieser Intensität ja noch gar nicht gegeben.
({0})
Unser Wunsch ist es - das ist ja bekanntermaßen auch
bei Teilen der CDU so -, den Passiv-Aktiv-Transfer
durchzuführen. Wenn wir das in dieser Legislaturperiode
nicht tun, dann werden wir uns bemühen, das in der
nächsten Legislaturperiode zu machen. Gute Sachen soll
man tun, und wenn man sie nicht heute macht, dann
macht man sie morgen.
({1})
Das Konzept des sozialen Arbeitsmarktes und die soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt richten sich an die
Schwächsten der Schwachen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt diese Gruppe auf
100 000 bis 200 000 Personen. Für diese eingegrenzte
Gruppe der ganz Schwachen sollte eine öffentlich geförderte Beschäftigung geschaffen werden. Sie erhalten
dann eine öffentlich finanzierte Beschäftigung, damit sie
überhaupt wieder am sozialen Leben teilnehmen können, der Tag strukturiert wird und sie Anerkennung finden. Die Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
steht dabei durchaus nicht im Vordergrund.
Das Konzept von Andrea Nahles ist ein gutes Konzept. Bei der Umsetzung dieses Konzepts haben wir ein
gutes Stück harte Arbeit zu bewältigen, aber am Ende
lohnt es sich. Aber auch hier gilt die alte Weisheit von
Marie Curie, die einmal gesagt hat:
Man merkt nie, was schon getan wurde; man sieht
immer nur das, was noch zu tun bleibt.
Ich danke Ihnen.
({2})
Vielen Dank. - Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, erteile ich der Kollegin Sitte das Wort, die Gelegenheit zu einer Kurzintervention hat.
({0})
Recht schönen Dank, Frau Präsidentin. - Ich muss
jetzt doch einmal etwas klarstellen, damit sich das bei
den Zuhörerinnen und Zuhörern nicht falsch einschleift:
Erstens. Kurzinterventionen - ob vorbereitet oder unvorbereitet; das schreibt die Geschäftsordnung nicht vor sind gängiges Mittel hier im Bundestag.
({0})
Herrn Zimmers sonstige Beiträge in diesem Bundestag
haben bei uns nicht den Wunsch ausgelöst, eine vorbereitete Kurzintervention zu bieten. Auch die heutige war
unvorbereitet. Gerade als Vertreter der CDA haben Sie
hier schon ziemlich kluge Beiträge zum Thema Arbeitslosigkeit und dazu geleistet, wo die Verantwortung der
Gesellschaft liegt. Ihren heutigen Beitrag dazu fand ich
suboptimal, um es einmal so zu beschreiben.
({1})
Das Zweite, was ich als Parlamentarische Geschäftsführerin gerne anmerken möchte, weil es der Kollege der
SPD für notwendig befunden hat, noch einmal Bezug
darauf zu nehmen: Unser Vorgehen ist übliche Praxis im
Deutschen Bundestag. Artikel 43 Absatz 2 des Grundgesetzes gibt den Mitgliedern des Bundesrates und der
Bundesregierung sowie ihren Beauftragten nämlich das
Recht, sowohl in den Ausschüssen als auch im Plenum
des Deutschen Bundestages zu sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Fraktion, die das hier
nicht schon praktiziert hat. Im Gegenteil: Das ist auch
eine Begegnung mit dem Leben von Landesministerien.
Unser Antrag beschreibt die Probleme auf Bundesebene. Die Diskussion darüber wurde hier um das ergänzt, was man in Thüringen tun kann. Das ist doch eine
wirklich gute Verbindung; das muss man nicht beklagen.
Wenn man die Chance dazu hat, dann sollte man sie nutzen, und wir hatten die Chance.
Da wir die Landesministerin von Thüringen selbstverständlich nicht für einen sechsminütigen Redebeitrag
herholen wollten, hat sie natürlich unsere zwölf Minuten
Redezeit bekommen.
Danke.
({2})
Herr Kollege Bartke.
Das Bemerkenswerte an dieser Sache ist doch, dass
Sie selber einen Antrag geschrieben haben, zu dem es in
der Kernzeit eine 96-minütige Debatte gibt, und Ihre gesamte Redezeit weggeben und selbst nicht dazu reden.
({0})
- Formalrechtlich ist das, was Sie gemacht haben, natürlich total zulässig, aber ich habe das als einen Missbrauch bezeichnet, und Sie müssen mir auch freistellen,
so etwas zu tun.
Danke.
({1})
Zur allgemeinen Verständigung: Generell darf jeder
Parlamentarier hier im Saal das sagen, was er gerne sagen möchte, solange er andere nicht beleidigt. Da der
amtierende Bundestagspräsident zu der Zeit auch als
oberster Hüter der Geschäftsordnung hier gesessen hat,
gehe ich davon aus, dass er sich voll bewusst darüber geVizepräsidentin Ulla Schmidt
wesen ist, dass die Geschäftsordnung so ausgelegt werden kann, wie Frau Sitte das gerade gesagt hat.
Jetzt hat der Kollege Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Thema ist in der Tat viel zu ernst, als
dass man hier mit solchen merkwürdigen Scharmützeln
arbeiten sollte. Ich fand den Stil in manchen Reden von
Vertretern der Koalition etwas unangemessen.
({0})
Ansonsten bin ich den Linken für ihren Antrag sehr
dankbar, weil damit auf ein zentral wichtiges Thema hingewiesen wird. Außerdem gibt er uns noch einmal die
Möglichkeit, die unterschiedlichen Ansätze von Linken
und Grünen klar darzustellen. Die Linken machen in ihrem Antrag sehr deutlich, dass sie zentrale Merkmale
unseres Ansatzes eines grünen sozialen Arbeitsmarktes
ablehnen. Darauf werde ich jetzt eingehen.
Das Ziel der Grünen ist eine Gesellschaft, an der alle
Menschen selbstbestimmt teilhaben können. Wir streben
eine Gesellschaft an, in der niemand ausgegrenzt wird.
Die Umsetzung der Forderungen im Antrag der Linken
würde in der Tat eher das Gegenteil bewirken, was ich
an ein paar Punkten ausführen möchte.
Der erste Punkt ist die Frage: Wer ist eigentlich die
Zielgruppe? Da sagen Sie: alle Langzeitarbeitslosen.
Alle Langzeitarbeitslosen - so schimmerte es sowohl in
der Rede von Frau Werner als auch in Ihrem Antrag
durch - hätten überhaupt keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Das ist eine Stigmatisierung der Langzeitarbeitslosen, die wir unterlassen sollten.
({1})
Es ist mitnichten so, dass alle Langzeitarbeitslosen
überhaupt keine Chance haben. Viele Langzeitarbeitslose sind gut qualifiziert und verfügen über besondere
Fähigkeiten. Mit einer guten Förderung eröffnen wir ihnen viele Möglichkeiten. Viele Menschen finden auch
nach mehr als einem Jahr Arbeitslosigkeit wieder aus der
Arbeitslosigkeit heraus.
({2})
- Frau Präsidentin.
({3})
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
({0})
Ich gestatte sie sehr gerne.
Bitte schön.
Ich habe mich vorbereitet; das wollte ich vorweg sagen. - Vielen Dank, Kollege Strengmann-Kuhn.
Ich will einfach nur etwas klarstellen. In unserem Antrag steht: Qualifizierung und Weiterbildung haben Vorrang. - Wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden kann, ist das gut. Deswegen möchte ich
einfach klarstellen, dass nicht alle Langzeitarbeitslosen
in den öffentlichen Sektor hinein sollen, sondern für uns
steht die Vermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt wirklich an erster Stelle.
({0})
Sie schreiben aber in Ihrem Antrag, dass sich auf die
200 000 Plätze alle Langzeitarbeitslosen bewerben können, und zwar ohne Einschränkungen. Das gilt dann
auch für diejenigen, die Chancen auf eine Stelle auf dem
ersten Arbeitsmarkt hätten. Das führt dazu, dass diejenigen, die keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben,
auch keine Chance auf einen ihrer 200 000 Arbeitsplätze
haben. Das heißt, die Ausgrenzung an dieser Stelle, die
wir mit dem sozialen Arbeitsmarkt angehen wollen, besteht in Ihrem Konzept weiterhin. Die 200 000 Menschen, die langzeitarbeitslos sind und mehrere Vermittlungshemmnisse haben, hätten auch in Ihrer öffentlich
geförderten Beschäftigung keine Chance. Das führt zur
Ausgrenzung. Das ist ein Punkt, den wir in Ihrem Vorschlag kritisieren.
({0})
Der zweite Punkt ist: In welche Art von Beschäftigung kommen diese Menschen? Es ist für uns wichtig,
dass Barrieren abgebaut werden und dass wir an die Sache inklusiv herangehen. Deswegen sprechen wir nicht
von einem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt mit einem
hierarchischen Aufbau, sondern wir sprechen von einem
sozialen Arbeitsmarkt ohne Barrieren und Hindernisse
zum normalen Arbeitsmarkt. Die Grenzen zwischen sozialem Arbeitsmarkt und normalem Arbeitsmarkt sollen
fließend sein.
Genau diese Grenzen ziehen Sie in Ihrem Antrag wieder ein, indem Sie sagen: Die Beschäftigung muss zusätzlich sein. - Was heißt denn „zusätzlich“? Das heißt,
es ist keine normale Beschäftigung. Das heißt also, die
Beschäftigung besteht darin, einen Laubhaufen von einer Stelle zu einer anderen zu schieben. Das macht keinen Sinn. Wir brauchen normale Beschäftigung, die
nicht zusätzlich ist, die allen offensteht und mit der die
Menschen gefördert werden können, die geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
Das Gleiche gilt für die Frage, ob es nur um öffentlich
geförderte Beschäftigung gehen soll. Kollegin Pothmer
hat schon auf das Modell in Baden-Württemberg verwiesen, wo explizit und vorrangig private Unternehmen angesprochen werden. Das ist genau der richtige Weg. Wir
müssen mit dem sozialen Arbeitsmarkt auch Beschäftigung fördern, die der auf dem ersten Arbeitsmarkt entspricht und marktgängig ist. Nur dadurch bekommen wir
es tatsächlich hin, dass die Menschen am sozialen Arbeitsmarkt nicht in einem Sondersystem sind und stigmatisiert und ausgegrenzt werden.
({1})
Es gibt schon gute Beispiele
({2})
wie Nordrhein-Westfalen, wo die Grünen an einer rotgrünen Regierung beteiligt sind, und das Baden-Württemberger Modell - dort koalieren die Grünen mit der
SPD -, wo diese Kriterien enthalten sind. In Hessen haben sich die Koalitionspartner Grüne und CDU diese
Woche auf einen Einstieg in einen sozialen Arbeitsmarkt
geeinigt, der auch diesen Kriterien entspricht. Das zeigt:
Da, wo Grüne regieren, geht es in die richtige Richtung.
Grün wirkt!
({3})
Es ist der SPD, die auch Sympathien für den sozialen
Arbeitsmarkt hat, auf Bundesebene nicht gelungen, die
CDU zu überzeugen.
({4})
Das haben wir, wie gesagt, in Hessen geschafft.
Ich fordere die Regierungskoalition noch einmal auf,
sich einen Ruck zu geben. Nehmen Sie sich ein Beispiel
an den Bundesländern, in denen die Grünen mitregieren!
Denn nur dann, wenn wir es auf Bundesebene schaffen,
den Passiv-Aktiv-Transfer umzusetzen, kann es einen
flächendeckenden sozialen Arbeitsmarkt geben, bei dem
die Dauerarbeitslosen nicht mehr ausgegrenzt werden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion erhält
jetzt die Kollegin Christel Voßbeck-Kayser das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich werde teilweise aus NRW-Sicht reden. Vieles
wurde schon gesagt. Wiederholungen werden sich wohl
nicht vermeiden lassen.
Wir haben in Deutschland eine hervorragende Arbeitsmarktlage, und wir können hohe Beschäftigungszahlen vorweisen. In der Gruppe der Langzeitarbeitslosen in Deutschland bewegt sich zum Teil weniger, oder
genauer gesagt: In diesem Bereich verfestigen sich bestimmte Personengruppen. Wenn wir gemeinsam feststellen, dass wir die Zielgruppe der Langzeitarbeitslosen
mit den vorhandenen Vermittlungsstrukturen nicht oder
nur unzureichend erreichen können, dann müssen wir
die Vermittlungsstrukturen und den vorhandenen Instrumentenkasten prüfen und entsprechend anpassen. Ziel
aller Maßnahmen und Programme muss es sein, den
Übergang in den ersten Arbeitsmarkt und damit in die
sozialen Sicherungssysteme zu ermöglichen.
Ich glaube aber, dass wir gerade bei diesem Thema,
das uns allen wichtig ist, verschiedene Aspekte beleuchten müssen. Ob Ihre Vorstellung, Kollegen der Fraktion
Die Linke, die öffentlich geförderte Beschäftigung mit
200 000 Stellen auszubauen, die richtige Lösung für die
Beseitigung von Langzeitarbeitslosigkeit ist, wage ich
zu bezweifeln. Wir müssen uns dabei nämlich auch die
Frage stellen, ob wir nicht mitunter diese Personengruppe in dem System sogar verfestigen. Es gibt nämlich
nicht den Normalfall bei Langzeitarbeitslosen. Es ist Teil
der Herausforderung, dass wir es bei den Langzeitarbeitslosen nicht mit einer homogenen Gruppe zu tun haben; es sind vielmehr Menschen, die häufig mehrere
Vermittlungshemmnisse aufweisen und auch unterschiedlichen Unterstützungsbedarf haben.
Die unterschiedlichen Erwerbslosenbiografien sind
bereits angesprochen worden. Circa 1 Million Menschen
sind schon länger als ein Jahr ohne Arbeit. Fast die
Hälfte von ihnen ist länger als zwei Jahre arbeitslos.
Dass 20 Prozent vier Jahre oder länger arbeitslos sind, ist
nicht gut; dem müssen wir entgegenwirken. Wir müssen
- die Bundesarbeitsagentur agiert bereits entsprechend die individuellen Potenziale der Langzeitarbeitslosen
verstärkt in den Blick nehmen und nach Talenten und
Begabung fragen und den Betroffenen die Möglichkeit
geben, diese weiterzuentwickeln.
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die
Langzeitarbeitslosen vielfach soziale, gesundheitliche,
schulische oder familiäre Probleme haben. Deshalb
gehört es für uns in der Union dazu, dass wir die Rahmenbedingungen so gestalten wollen, dass sich Betreuungsintensität, Betreuungsqualität und auch Betreuungsdichte steigern lassen, wobei es einer Abstimmung
zwischen den Akteuren, die an diesem Prozess beteiligt
sind, bedarf.
Sie wissen: Ich habe 30 Jahre im Gesundheits- und
Sozialbereich gearbeitet. Ich bin der Meinung, dass Unterstützungsleistungen wie Schuldnerberatung, psychosoziale Beratung und anderes einen immensen Stellenwert bei der Begleitung von Langzeitarbeitslosen haben.
Häufig scheitert diese Unterstützung aber an zu weiten
Wegen. Dabei entscheidet sie oft über Erfolg oder Misserfolg von Maßnahmen für Langzeitarbeitslose. Wir
müssen hier die Rahmenbedingungen so setzen, dass die
räumliche Bündelung besser möglich wird.
({0})
Wir schaffen mit dem Instrument der assistierten Begleitung eine sinnvolle ergänzende Hilfe. Das ist schon
angesprochen worden. Bei der Begleitung oder Beratung
kommt es nicht darauf an, ob sie von einem Pädagogen
oder einem Sozialpädagogen geleistet wird. Ich habe
auch große Sympathien für Menschen, die lebens- und
berufserfahren sind, die schon im Ruhestand sind, aber
sagen: Ich bin fit, ich bringe meine Kenntnisse und Fertigkeiten ein, ich übernehme Patenschaften für Menschen, die arbeitslos sind - ob das nun junge oder ältere
Leute sind -, und begleite sie. - Das sind erfolgreiche
Instrumente. Deshalb glaube ich auch, dass wir mit diesem Instrument, das über den Zeitraum einer Maßnahme
hinaus eingesetzt werden soll, auf dem richtigen Weg
sind.
Des Weiteren soll die Vereinbarung von Zwischenzielen möglich sein, und zwar im Sinne eines Stufensystems. Manches Training, ob in einer Berufsbildungsstätte
oder in einem Verein, oder auch manches Praktikum, wo
durch das Zusammensein mit anderen Menschen kommunikative Kompetenzen, Kritik- und Teamfähigkeit,
aber auch einfache Alltagsstrukturen wie das Einhalten
von Terminen und Regeln gelebt oder wieder erlernt
werden, ist dabei hilfreich.
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die
Hälfte der Langzeitarbeitslosen leider keinen Berufsabschluss hat. Also muss es unser Ziel sein, bei den Maßnahmen zu schauen, wie wir Langzeitarbeitslose ohne
Berufsabschluss in eine Ausbildung vermitteln können,
anstatt sie einfach irgendwie zu beschäftigen.
Ich meine, dass wir bei der Gruppe der Alleinerziehenden ein gutes Beispiel finden, wie Instrumente, die
schon auf den Weg gebracht worden sind, gut wirken. Ja,
es gibt 120 000 Alleinerziehende in der Gruppe der
Langzeitarbeitslosen. Für sie ist zum einen notwendig,
dass Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorhanden sind.
Die haben wir mit dem Kitaausbau, mit Betreuungsplätzen und regionalen Netzwerken vor Ort geschaffen; wir
haben sogar vielfältige Möglichkeiten geschaffen. Auf
der anderen Seite müssen wir aber auch die Arbeitgeber
so einbinden, dass die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf möglich ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pothmer?
Im Moment nicht. Ich würde gerne erst den Gedanken
zu Ende führen.
({0})
Wenn die Redezeit nicht zu Ende ist.
Ein Umdenken wegen offener Azubistellen, die nicht
besetzt werden können, findet bei den Arbeitgebern in
unterschiedlichem Maße schon statt, auch angesichts des
regionalen Fachkräftemangels. Ein Beispiel aus meinem
Wahlkreis: Ein Bäcker, der ein Familienunternehmen betreibt, hat einer alleinerziehenden Mutter durch verkürzte Arbeitszeiten, angepasst an die Kitaöffnungszeit,
die Möglichkeit geboten, eine Ausbildung als Bäckereifachverkäuferin zu machen. Das ist ein gutes Beispiel,
das zeigt, dass Instrumente wirken und aufseiten der Arbeitgeber, der Handwerksbetriebe und auch der Gewerkschaften einiges im Fluss ist.
({0})
Sie wundern sich vielleicht, dass ich heute etwas
milde bin, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Das Thema ist uns allen wichtig. Nur, jetzt muss ich
folgenden Punkt erwähnen: die Finanzierung öffentlich
geförderter Berufstätigkeit. Sie wollen den Eingliederungstitel durch eine Sonderabgabe der Arbeitgeber in
Höhe von 0,5 Prozent der Lohnsumme deutlich erhöhen.
Dazu kann ich nur ein Bild aus der Landwirtschaft nehmen und sagen: Wie lange wollen Sie eine Kuh melken?
({2})
Jeder von uns weiß: Eine gesunde Kuh kann man nur begrenzt melken. Auch unsere gesunde Kuh, die deutsche
Wirtschaft und den Mittelstand, kann man nicht unbegrenzt melken.
({3})
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Langzeitarbeitslosigkeit ist ein komplexes Problem,
({4})
das - darf ich dies noch zu Ende ausführen? - nicht einfach mit neuen Arbeitsmarktprogrammen oder der Ausdehnung der öffentlich geförderten Beschäftigung zu lösen ist. Vielmehr ist ein Bündel von Maßnahmen in der
Arbeitsmarktpolitik erforderlich. Es ist ferner nötig, im
Bildungssystem Maßnahmen, die räumlich gebündelt
und vernetzt sind, auf den Weg zu bringen. Ihr Antrag
greift aus unserer Sicht zu kurz, und deshalb lehnen wir
ihn ab.
({5})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Waltraud Wolff,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Letztes Jahr im August haben meine
Kollegin Daniela Kolbe und ich die Forderung der ost9682
Waltraud Wolff ({0})
deutschen Bundestagsabgeordneten nach einem sozialen
Arbeitsmarkt vorgestellt. Ganz ehrlich: Wir haben im
letzten August nicht geglaubt, dass die Bundesarbeitsministerin in der Zwischenzeit mehrfach hier im Hohen
Hause diese Forderung unterstützen und sagen würde,
sie werde Lösungsmöglichkeiten vorstellen. Wir wissen
ja, dass wir im Haushalt keine zusätzlichen Mittel haben.
Meine beiden Kollegen, Herr Bartke und Frau Kolbe,
haben schon dargestellt, welche die Zielgruppen sind
und wie wichtig es ist, dass hier etwas passiert.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist für uns
oberstes Gebot, Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu
bauen; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass für
Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, die Angebote
der Arbeitsmarktpolitik nicht passen. Richtig ist also
auch, dass neben der Brücke auf den ersten Arbeitsmarkt
die Teilhabe am Erwerbsleben und damit auch am gesellschaftlichen Leben ein wichtiges Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein muss.
({2})
Dieses Ziel wird uns gemeinsam immer wichtiger, weil
wir die Dringlichkeit und die Not erkannt haben. Darüber, muss ich sagen, bin ich persönlich sehr froh. Ich
bin auch deshalb sehr froh darüber, weil Arbeit mehr ist
als Broterwerb. Arbeit ist Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe, und auf diese Teilhabe hat ein Teil der
Menschen in unserem Land keine Chance mehr. Diesen
Menschen - das haben wir in dieser Debatte schon breit
diskutiert - können wir mit öffentlich geförderter Beschäftigung helfen. Das halte ich für sinnvoll und notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im August 2014 haben wir als SPD unseren Vorschlag vorgestellt. Im Oktober 2014 hat eine Gruppe von Unionskollegen ihren Vorschlag zu öffentlich geförderter Arbeit gemacht. Heute
diskutieren wir einen Antrag der Linken. Das heißt also,
dass es eine breite Unterstützung für einen solchen Ansatz gibt. Die gute Nachricht ist: Es bleibt nicht nur bei
Anträgen; es bleibt nicht nur bei Lippenbekenntnissen.
Es wird auch die Umsetzung dieses Ansatzes geben.
({3})
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird mit
seinem Programm - darüber haben wir auch schon diskutiert - 10 000 Menschen einen Einstieg über das ESFProgramm ermöglichen. Das ist ein wichtiger Schritt.
({4})
Es ist wichtig, einen Einstieg zu finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie haben in Ihrem Antrag deutlich gemacht, dass Ihnen das
nicht weit genug geht. Ich habe dafür Verständnis. Auch
mir persönlich und allen, die an dieser Debatte teilnehmen, reicht das nicht.
Sie haben in Ihrem Antrag auch die Kosten für diesen
Ansatz benannt. Wenn man die Zahlen einmal zusammenrechnet, sieht man: Es handelt sich um 6 Milliarden
Euro. 6 Milliarden Euro! Das ist auch von meinen Kollegen aus der Union schon angesprochen worden. Auch
die Sonderabgabe ist erwähnt worden. Ich sehe nicht,
überhaupt nicht, dass diese Vorschläge durchsetzbar
sind.
Wenn wir keine zusätzlichen Mittel im Haushalt haben, ist der Einstieg, den Frau Nahles hier macht, das
Beste, was uns überhaupt passieren kann;
({5})
denn ohne zusätzliche Mittel im Haushalt hat Ministerin
Nahles für dieses Jahr 75 Millionen Euro freigekämpft,
und sie hat es möglich gemacht, für das nächste Jahr
150 Millionen Euro bereitzustellen. Ich sage noch einmal: ohne zusätzliche Haushaltsmittel. Ich glaube, dass
es hier einen Anfang gibt, der wichtig ist und mit dem
man soziale Teilhabe möglich machen kann.
({6})
Warum ist der Konsens dazu derart breit? Weil nicht
nur wir, sondern auch die Länder diesen Weg mitgehen!
Sie haben das für Thüringen gesagt, Frau Ministerin
Werner. Nordrhein-Westfalen, Hessen, alle haben sich
hier schon geoutet. Dann schaue ich mal zu mir nach
Hause, nach Sachsen-Anhalt. Ich freue mich, dass gerade daran gearbeitet wird, dieses Bundesprogramm von
Frau Nahles um 1 000 Stellen aufzustocken. SachsenAnhalt ist nicht gerade ein Land, das mit Reichtum gesegnet ist. Aber wir nehmen 35 Millionen Euro ESFMittel zusätzlich in die Hand und schaffen für die nächsten drei Jahre für 1 000 Menschen eine Beschäftigungsmöglichkeit.
Menschen brauchen das Gefühl, gebraucht zu werden. Die meisten wollen arbeiten. Sie wollen Teil der
Gesellschaft sein. Sie brauchen die Kontakte, die über
die Arbeit entstehen.
Meine Damen und Herren, es gibt gleichzeitig viele
Aufgaben, die überhaupt nicht wahrgenommen werden.
Es heißt immer: Soziale Arbeit kann nur stattfinden,
wenn keine ordentlichen Arbeitsplätze gefährdet werden. - Etliche Kommunen in Ostdeutschland schrumpfen. Nicht nur Wohnungen stehen leer, auch Kleingärten
fallen brach. Die gemeinnützigen Gartenvereine können
es nie im Leben schaffen, hier den Rückbau zu leisten.
Da sehe ich eine gute Möglichkeit.
({7})
In Krankenhäusern, in Pflegeheimen ist die Einsamkeit
greifbar. Pflegekräfte haben nicht die Zeit, die notwendig ist. Das ist eine zusätzliche Aufgabe. In vielen Orten,
in vielen Dörfern gibt es nicht einmal mehr Geschäfte,
sodass Kommunen sagen: Wir müssen wenigstens einen
Dorfladen schaffen. - Auch da sind Möglichkeiten vorWaltraud Wolff ({8})
handen. Es gibt tausend Ideen. Die wenigen Beispiele
sollen zeigen, dass im Rahmen von sozialer Arbeit sinnvolle und wichtige Beschäftigung möglich ist. Dafür
müssen wir eine Unterstützung hinbekommen.
Natürlich muss man das vor Ort entscheiden. Ich
sage, dass die Beiräte bei den Jobcentern das am besten
entscheiden sollten: Da sind Arbeitgeber. Da sind Gewerkschaften. Da ist Politik. Es fehlen zwar die Sozialverbände, aber das sollte keine unüberwindbare Hürde
sein.
Es heißt immer, meine Damen und Herren: Politik ist
die Kunst des Möglichen. Uns eint das Ziel, soziale Teilhabe für alle Menschen zu gewährleisten.
({9})
Lassen Sie uns diesen Weg doch gemeinsam gehen!
Aber lassen Sie uns dabei auch immer im Blick behalten,
was möglich ist! Dann, glaube ich, werden auf diesen
ersten Schritt weitere Schritte folgen.
Vielen herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Als Nächste spricht die Kollegin Jutta
Eckenbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als eine der letzten Rednerinnen und als eine,
die heute in diesem Hohen Hause, im Bundestag, schon
viele Reden gehört hat, will ich sagen: Eigentlich eint
uns Sozialpolitiker vieles. Ich möchte die Unterschiede
aber doch noch einmal deutlich machen.
Bei den Linken ist es so: Sie wollen eigentlich den
Arbeitsplatz, den Arbeitgeber mehr belasten. Ich habe
das einmal ausgerechnet. Es handelt sich nicht um Milliardensummen. Aber wenn Sie das, was Sie fordern, auf
einen Arbeitgeber beziehen, heißt das, dass er bei 35
Mitarbeitern einen Ausbildungsplatz weniger finanzieren kann. Da frage ich mich, inwiefern das sozial sein
soll.
({0})
Ich will auch Ausbildungsplätze schaffen. Ihr Vorschlag
läuft dem aber entgegen.
({1})
Sie vertreten die Philosophie - das wurde ja hier
schon mehrmals erwähnt -: Ich schaffe einen Arbeitsmarkt, packe die Menschen dort hinein und - wenn ich
Frau Werner aus Thüringen richtig verstanden habe gebe ihnen 1 100 Euro im Monat, lasse sie drei Jahre in
einer öffentlich geförderten Beschäftigung; danach sind
sie ein Jahr in der Arbeitslosenversicherung, und dann
stecke ich sie wieder in ein Programm. - Wie lange wollen Sie das durchziehen?
({2})
Es gibt ja kein Andocken an den Arbeitgeber. Sie schaffen einen öffentlich geförderten, geschützten Arbeitsraum für drei Jahre. Da frage ich mich: Was ist eigentlich mit dem, der psychosoziale Schwierigkeiten hat, der
gar nicht acht Stunden arbeiten kann? Werden Sie den
auch mit 1 100 Euro ausstatten? Das sind für mich ganz
wichtige Fragen, wenn es um das Thema Passiv-AktivTransfer geht. Sie wissen, dass auch ich das verfechte.
Aber für mich sind noch nicht alle Fragen beantwortet.
Ich bekomme nämlich aus diesem System nur denjenigen heraus, der voll arbeitsfähig ist. Bei demjenigen, der
große Schwierigkeiten hat, bin ich sofort wieder bei der
Aufstockung, weil er nicht aus dem System heraus ist.
Uns kann es doch nur darum gehen, die Menschen herauszubekommen und an einen Arbeitgeber, in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Was ist dafür notwendig? Dafür sind nicht nur die Programme, die Frau
Nahles jetzt auflegt, notwendig. Frau Nahles hat in der
Tat die Programme alleine aufgelegt, liebe Kollegen der
SPD; denn politisch haben wir diese hier im Hohen
Hause noch nicht beraten. Insofern werden wir - da
freue ich mich auf eine spannende Diskussion - diskutieren müssen, wie wir damit umgehen. Aber im Moment
ist es ein Nahles-Programm und kein Programm der
SPD, kein Programm der CDU. Es ist ein Programm der
Ministerin.
Wenn man sich einmal damit beschäftigt - das habe
ich getan - und vor Ort schaut, wie das Programm läuft,
dann kann man feststellen, dass wir momentan nicht alle
Stellen besetzt bekommen. Wir haben eigentlich 33 000
Stellen, bekommen mit Mühe und Not aber nur 24 000
Stellen besetzt. Woran liegt das? Das liegt daran, dass
wir die Arbeitgeber brauchen. Das liegt daran, dass wir
Menschen befähigen müssen, genau dort, wo sie gebraucht werden, die Arbeit aufzunehmen. Dazu ist aber
ein enormer Aufwand an Begleitung erforderlich. Deswegen ist es wichtig, dass wir darauf achten: Jede Region ist anders; jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch
muss die Fähigkeiten, die er besitzt, ausbauen. Ich habe
das hier einmal mit „Wir müssen die Stärken stärken“
umschrieben. Genau das ist es doch, wofür wir bei dem
Einzelnen zunächst einmal sorgen müssen. Meines Erachtens müssen wir in der Tat sehr flexibel sein. Wir
werden für Hamburg andere Programme als für das
Ruhrgebiet oder Bayern brauchen, wo ganz andere Probleme vorherrschen. Darüber werden wir zukünftig reden müssen. Vieles haben wir ja probiert.
Frau Pothmer, gestatten Sie mir, da Sie behaupten,
wir hätten in der letzten Regierung nichts getan, eine Bemerkung - ich habe gerade noch einmal nachgefragt -:
Das ganze Programm einschließlich der Systematik, in
die Langzeitarbeitslosigkeit zu kommen, ist ein Programm von Rot-Grün. Ich will das nur richtigstellen.
Das Ganze ist letztendlich auf Hartz IV zurückzuführen,
weil wir genau an dieser Stelle nicht die richtigen Instrumente eingeführt haben. Wir sollten also die gegenseitigen Schuldzuweisungen lassen. Wir sollten vielleicht
auch diese Anträge lassen, die uns vorgaukeln, wir könn9684
ten das Ganze über einen Arbeitsplatz und mit viel Geld
steuern.
({3})
Nein, wir brauchen Regionalität. Wir brauchen die
Anerkennung dessen, was der einzelne Langzeitarbeitslose an unterschiedlichen Fähigkeiten braucht. Gerade
vor dem Hintergrund, dass wir schon viele Langzeitarbeitslose in Arbeit gebracht haben und es heute mit einer
Gruppe zu tun haben, die wirklich enorme Hilfe benötigt, wird uns das sehr schwerfallen.
Wir haben in Essen - um das zum Schluss als Beispiel
zu nennen - ganz früh eine Joborientierung - aber immer
stufenorientiert, also ausstiegsorientiert - genau für
diese Menschen angeboten. Wir wollen sie befähigen, in
den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Ich glaube, dass
dies Maßnahmen sind, die wir in der Tat benötigen. Ich
kann für die CDU/CSU-Fraktion hier und heute sagen:
Wir werden uns genau daran orientieren.
Ich freue mich schon heute auf eine sehr interessante
Debatte, die sich mit den Fragen beschäftigen wird: Wie
beseitigen wir Langzeitarbeitslosigkeit? Wie bringen wir
Menschen in Arbeit, die heute noch in der Langzeitarbeitslosigkeit sind? Was muss ich genau für diese Menschen tun? Wenn wir das alle gemeinsam machen, sind
wir, glaube ich, auf einem richtigen Weg. Wir werden
dabei Haushaltsdisziplin wahren müssen, und wir müssen dabei darauf achten, wie wir die Arbeitgeber mitnehmen können. Aber diese Ziele sollten uns Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker hier alle bewegen. Insofern
freue ich mich auf die nächsten Debatten. Sie werden anstrengend genug sein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Markus Paschke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollegin Eckenbach, ich muss das, was Sie eben gesagt haben, doch ein bisschen korrigieren. Die Ministerin hat
dieses Programm höchstpersönlich im Ausschuss vorgestellt. Wir haben intensiv darüber diskutiert. Es würde
mich freuen - und ich lade Sie dazu ein -, wenn wir auf
diesem Weg weitergehen würden und den Schwerpunkt,
den wir gesetzt haben, nämlich für die Langzeitarbeitslosen etwas zu machen, noch stärker ausbauen und weitere
Mittel dafür zur Verfügung stellen könnten.
({0})
Seit zwei Jahren erhalten wir fast monatlich Erfolgsmeldungen wie: „Bester Arbeitsmarkt seit der Wiedervereinigung“, „Arbeitslosigkeit geht weiter zurück“ oder
auch „Viel Arbeit, die Arbeitslosenquote ist so niedrig
wie seit langem nicht mehr“.
({1})
Ja, es liegt noch viel Arbeit vor uns. Denn wir hören
zwar, dass die Arbeitslosenzahlen gesunken sind. Das
verleitet einige auch dazu, zu denken, alles sei im grünen
Bereich; es verleitet dazu, zu denken, am Arbeitsmarkt
sei alles in Ordnung. Aber es ist nicht alles in Ordnung;
denn die Joberfolge kaschieren Probleme. So schreibt es
die Börsen-Zeitung, und sie steht wahrlich nicht im Verdacht, eine sozialdemokratische Hauspostille zu sein.
Fakt ist: Viele Langzeitarbeitslose profitieren nicht
von diesen Erfolgszahlen. Sie haben keinen Anteil an
den guten Entwicklungen. Jeder von uns wünscht sich,
dass jeder Mensch - ob Mann oder Frau, ob jung oder älter - seinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden
kann. Die Realität ist aber leider eine andere: Nicht wenige Menschen in Deutschland bekommen leider keine
Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Es gibt definitiv einen Bedarf an individuellen Lösungen, die es jedem Menschen ermöglichen, Anteil am gesellschaftlichen Leben zu nehmen. Ein wichtiger Bestandteil dieses gesellschaftlichen Lebens ist bei uns die
Erwerbsarbeit, das Gefühl, gebraucht zu werden und seinen Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können.
Wir brauchen Lösungen, die die Stärken, aber auch
die Schwächen des Einzelnen berücksichtigen. Wir brauchen also Angebote für diejenigen, die heute die Chance
auf einen Platz im ersten Arbeitsmarkt nicht haben.
Diese Angebote müssen die derzeitige physische und
psychische Situation sowie die Fähigkeiten des Einzelnen berücksichtigen. Die betroffenen Menschen brauchen wieder die Chance, Mut zu fassen und ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Und sie brauchen vor allen
Dingen das Gefühl, wieder gebraucht zu werden. Das alles sollte immer mit dem Ziel vor Augen geschehen, irgendwann wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen.
Das kann zwei, drei oder fünf Jahre oder auch länger
dauern. Wir brauchen ganzheitliche Konzepte, die die
Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wir brauchen
Konzepte, die dort, wo Hilfe benötigt wird, diese Hilfe
auch sicherstellen. Dafür brauchen wir Geld. Denn auch
das gehört zur Ehrlichkeit dazu: Solche ganzheitlichen
Konzepte sind nicht kostenlos zu haben. Schon das Wort
„Langzeitarbeitslosigkeit“ signalisiert ja deutlich, dass
häufig keine kurzfristigen Maßnahmen sinnvoll sind.
Wir dürfen also nicht in Haushaltsjahren rechnen,
sondern wir müssen die positiven Wirkungen mittel- bis
langfristig betrachten. Deutschland ist schließlich kein
DAX-Konzern, der seine Aktionäre befriedigen muss,
sondern eine soziale und demokratische Gesellschaft. In
diese Gesellschaft und ihren Zusammenhalt den einen
oder anderen Euro mehr zu investieren, sollten wir ruhig
bereit sein.
({2})
Die meisten Menschen, die ich kenne, wollen arbeiten. Warum geben wir ihnen nicht die Chance? Warum
finanzieren wir Arbeitslosigkeit statt Arbeit?
({3})
Wie es gehen kann, zeigen Modellprojekte aus Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg.
({4})
Nehmen wir das Beispiel Baden-Württemberg. Dort
wird als einer von fünf Bausteinen des Landesprogramms „Gute und sichere Arbeit“ der Passiv-AktivTausch, also ein sozialer Arbeitsmarkt, erprobt. Statt den
sogenannten Regelbedarf und die Kosten für die Unterkunft zu finanzieren, können die verwendeten Gelder als
Zuschuss für eine Beschäftigung eingesetzt werden. Baden-Württemberg erprobt das in einem Programm mit
562 Plätzen, die auch genutzt werden. Eine Evaluation
ist für 2015, 2016 vorgesehen. Ich bin davon überzeugt,
dass es uns Erkenntnisse liefern wird, die unsere Arbeit
für nachhaltige Beschäftigungserfolge für Langzeitarbeitslose voranbringen wird.
({5})
In der Bundesregierung ist die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit als ein wichtiger Schwerpunkt erkannt. Das Programm, das Bundesministerin Andrea
Nahles vor einigen Monaten vorgestellt hat, weist in die
richtige Richtung. Die wesentlichen Bestandteile sind
heute mehrfach erwähnt worden. Angesichts der Zeit
werde ich sie nicht wiederholen. Aus meiner Sicht sind
es gute und wichtige Schritte. Ich danke der Bundesministerin ausdrücklich dafür, dass sie sich dieses Themas angenommen und es sich auf die Fahnen geschrieben hat.
({6})
Wir sind also schon einen Schritt weiter, als Ihr Antrag suggeriert. Natürlich wäre mehr wünschenswert.
Wir werden auch dafür kämpfen, mehr Geld für die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose zur Verfügung zu haben. Das Programm der
Bundesregierung mit seinen konkreten Vorschlägen ist
im Gegensatz zu Ihrer Wünsch-dir-was-Liste gut angelegtes Geld. Es ist wichtig, dass wir mit den Steuergeldern und den Haushaltsmitteln ordentlich umgehen.
Es ist mir zu einfach, zu leicht und zu billig, immer
mehr zu fordern. Ich finde, die SPD macht eine gute
Politik. Sie sagt nämlich: Im Mittelpunkt unserer Politik
muss der einzelne Mensch stehen. Die, die es am
schwersten haben, sind auf unsere Unterstützung und
Solidarität angewiesen. Deshalb halten wir die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit für wichtig. Das Mögliche machen und weiter für das Wünschenswerte kämpfen, das ist gute sozialdemokratische Politik, meine
Damen und Herren.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Mehr als 1 Million
Menschen in unserem Land sind langzeitarbeitslos mehr als 1 Million ganz unterschiedliche Schicksale. Oft
sind sie langzeitarbeitslos, weil sie neben den Stärken,
die selbstverständlich jeder Mensch hat, nicht nur ein
Problem mitbringen, sondern gleich mehrere. Sie haben
keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung, sie
sind krank oder müssen sich um jemanden kümmern, sie
sind alleinerziehend oder nicht mehr ganz jung, sie haben Schulden, es gibt einfach nicht die passende Stelle,
sie sind alkoholkrank oder nehmen Drogen, sie sprechen
unsere Sprache nicht, sind nicht belastbar oder motiviert;
manche haben Vorstrafen, und andere können oder wollen nicht umziehen. Wer erst einmal längere Zeit arbeitslos ist, bei dem wird die Langzeitarbeitslosigkeit an sich
zum sogenannten Vermittlungshemmnis.
Jeder Fall ist anders zu bewerten. Eines jedenfalls ist
sicher nicht richtig, nämlich dass all diese Menschen für
den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr zu gebrauchen sind
und von Haus aus für eine öffentlich geförderte Beschäftigung infrage kommen. Mit Ihrem Antrag fordern Sie
groß angelegte Beschäftigungsprogramme. Sie stellen
damit viele, viele Menschen auf das Abstellgleis. Das
Gleis führt nämlich nicht weiter auf den ersten Arbeitsmarkt; da ist dann einfach Endstation.
({0})
Sie wissen gut, dass wir als Koalition die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem unserer
obersten Ziele erklärt haben. Ihre Behauptung im Antrag, nicht die Arbeitslosigkeit sei bekämpft worden,
sondern die Betroffenen seien bekämpft worden, ist deshalb reichlich verfehlt, liebe Kollegen.
({1})
Das Arbeitsministerium hat die verschiedenen Programme für Langzeitarbeitslose hier bereits vorgestellt,
und wir haben auch schon öfter darüber diskutiert. Unsere Programme eint, dass sie auf eine intensive Beratung und Betreuung der einzelnen Betroffenen setzen,
dass sie eben die individuelle Lebenssituation der eigenverantwortlich handelnden Menschen in den Mittelpunkt
stellen und sie unterstützen, dass sie auf Stärken der
Menschen aufbauen und sie dabei unterstützen, eine
Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden und zu behalten.
Öffentlich geförderte Beschäftigung kann in so guten
Zeiten, wie sie unser Arbeitsmarkt momentan erlebt, immer nur für einen sehr kleinen Personenkreis sinnvoll
sein. Dieser muss sehr genau definiert sein. Auch müssen die Tätigkeiten sehr genau definiert sein, damit keine
regulären Jobs verdrängt werden. In Ihrem Antrag ist leider keiner dieser Punkte berücksichtigt.
Um Ihnen das Problem deutlich zu machen, möchte
ich mit Ihnen einen kurzen Ausflug in die Geschichte
unternehmen. Schon im 19. Jahrhundert hatten Städte
und Gemeinden versucht, Teile der erwerbslosen Bevölkerung mit sogenannten Notstandsarbeiten in Arbeit zu
bringen. Wie der Name aber schon sagt, wurde diese
Form der Beschäftigung nur in ganz besonders schlechten Arbeitsmarktsituationen eingeführt, zum Beispiel bei
Missernten oder Konjunktureinbrüchen. Auch in der
Weimarer Republik gab es solche Programme, weil
breite Bevölkerungsschichten damals Gefahr liefen, aus
der Gesellschaft ausgegliedert zu werden. Das betraf
beispielsweise die vielen Kriegsveteranen und junge
Menschen, die infolge der Wirtschaftskrise von 1923
ohne jede Chance auf Arbeit waren.
Eine ganz besondere Bedeutung erlangte die öffentlich geförderte Beschäftigung mit der Wiedervereinigung. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden in
den 90er-Jahren bekanntlich in außerordentlichem Maße
eingesetzt. Sie sollten damals als Brücke fungieren. Das
entstandene Arbeitsplatzdefizit in den neuen Bundesländern sollte damit verringert werden. Die Teilnehmer
sollten neue Qualifikationen erlangen.
Was aber hatten all diese Situationen in der Geschichte gemeinsam? Es waren extrem schwere Zeiten
auf dem Arbeitsmarkt. Die öffentlich geförderte Beschäftigung war dafür da, die extremsten Folgen für die
Menschen abzufedern. Sie war noch nie der Königsweg
der Arbeitsförderung; sie war immer nur die Ultima Ratio.
Das hat seine Gründe. Vor allem nach der letzten großen Welle öffentlich geförderter Beschäftigung wurde
geschaut, was diese Maßnahmen denn eigentlich bringen, außer dass sie natürlich die Statistik verbessern. Je
mehr man forschte, umso deutlicher wurde, dass die
positiven Erfahrungen recht begrenzt waren und die negativen Effekte überwogen. Da gab es Lock-in-Effekte:
Menschen, die in öffentlich geförderter Beschäftigung
standen, nahmen seltener eine reguläre Arbeit auf, vor
allem deswegen, weil sie weniger Zeit für Arbeitssuche
und Bewerbungen hatten. Es gab auch Creaming-Effekte
- sie wurden heute schon erwähnt -: Es kamen Menschen in öffentlich geförderte Beschäftigung, die auch so
eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt hätten.
Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, krankt Ihr Antrag. Aber Sie geben wenigstens zu,
dass Ihr Vorschlag richtig teuer ist, mal eben ein paar
Milliarden kosten würde. Weil Sie wissen, dass die Finanzierungsfrage zwangsläufig kommt, haben Sie vorgesorgt und schon einmal grob aufgezeigt, wie das Ihrer
Meinung nach funktionieren könnte, zum Beispiel dadurch, die Arbeitgeber mit einer Sonderabgabe in Höhe
von 5 Milliarden Euro zu belasten. Wenn das so einfach
wäre! Der wichtigste Schlüssel zum Abbau von Arbeitslosigkeit ist die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft,
die damit neue Arbeitsplätze schafft. Sie schreiben in Ihrem Antrag selbst, dass die Arbeitslosigkeit durch fehlende Arbeitsplätze entsteht. Nun wollen Sie aber die
Unternehmen belasten und die Arbeit teurer machen?
Das kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nicht gut gehen. Arbeitslosigkeit können wir nur gemeinsam mit den Arbeitgebern abbauen,
({2})
und sicher nicht, indem wir sie mit 5 Milliarden Euro zur
Kasse bitten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4449 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 c sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes
Drucksache 18/4654
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den
Umsetzungsstand der Empfehlungen des
2. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages in der 17. Wahlperiode
({1})
Drucksache 18/710
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Petra Pau, Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Wirksame Alternativen zum nachrichtendienstlich arbeitenden Verfassungsschutz
schaffen
Drucksache 18/4682
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian
Ströbele, Irene Mihalic, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Zäsur und einen Neustart in der
deutschen Sicherheitsarchitektur
Drucksache 18/4690
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Thomas de Maizière für die Bundesregierung.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im November letzten Jahres
haben wir des dritten Jahrestages - man scheut sich, das
Wort „Jahrestag“ zu verwenden - der Aufdeckung der
terroristischen Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds gedacht. Wir haben festgestellt
und sind uns einig: Das waren nicht nur einzelne Pannen, das waren nicht nur einzelne Ermittlungsfehler, die
dafür gesorgt haben, dass diese Mordserie so lange unentdeckt bleiben konnte. Nein, es waren auch Strukturen, es waren Haltungen von Sicherheitsbehörden, von
Verantwortlichen, die dazu führten, dass die Ermittlungen so lange - zu lange - auf das Umfeld der Opfer begrenzt blieben, mit all den Folgen, die wir diskutiert haben und an denen wir noch arbeiten. Es ist deshalb
unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass so etwas in unserem
Land nicht mehr passiert.
({0})
Der Verfassungsschutz von Bund und Ländern stand
damals stark in der Kritik. Das ging bis hin zu der Forderung, man solle Verfassungsschutzbehörden abschaffen.
Ich halte das für falsch. Das würde die Sicherheit unserer
Bürgerinnen und Bürger und unseres Landes schädigen.
Die aktuelle Bedrohungslage unterstreicht die Bedeutung des Verfassungsschutzes für unseren Rechtsstaat,
bei islamistischem Terrorismus ebenso wie bei massiven
Gewaltanwendungen, bei Demonstrationen und den Erkenntnissen im Vorfeld dazu oder bei rechtsextremistischer Hetze zum Thema Flüchtlinge.
Der Verfassungsschutz ist und bleibt ein wichtiger
Teil unserer Sicherheitsarchitektur. Gerade deshalb aber
muss er sich fortentwickeln, weiterentwickeln, sich zukunftsorientiert aufstellen. Die Aufklärungsarbeit zum
terroristischen NSU, an der der Untersuchungsausschuss
dieses Hauses in der letzten Legislaturperiode maßgeblich beteiligt war, und auch die Debatten in dieser Legislaturperiode haben das eindrücklich aufgezeigt. Der Verfassungsschutz hat diese Herausforderung seit 2012
angenommen, sowohl im Verbund der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern als auch beim
Bundesamt, das seine Binnenreform in 230 Einzelprojekten konzentriert betrieben hat, weiter betreibt und
weiter betreiben muss.
Mit dem heute in erster Lesung zu behandelnden Gesetzentwurf der Bundesregierung setzen wir diesen Reformprozess nun auch legislativ um.
Das ist richtig. Das haben wir uns in der Koalition
vorgenommen, und das ist sorgfältig mit den Ländern
abgestimmt. Auch damit folgen wir den Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses.
Die zentralen Ziele dieses Gesetzentwurfs sind: Stärkung der Zentralstelle und des Verbundes, Verbesserung
des Informationsflusses und Ausbau der Analysefähigkeit, Klarheit beim Einsatz von V-Leuten. Lassen Sie
mich dazu im Einzelnen vortragen.
Erstens: zur Stärkung der Zentralstelle. Für eine bessere Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund wird
das Bundesamt für Verfassungsschutz in seiner Zentralstellenfunktion gestärkt. Es koordiniert das arbeitsteilige
Zusammenwirken aller Verfassungsschutzbehörden. Ich
sage dazu aber auch: Wichtiger als Paragrafen im Bundesgesetzblatt ist hier die echte Bereitschaft zu verstärkter Zusammenarbeit. Dieser Geist der Zusammenarbeit
wird mit diesem Gesetz gefördert. Im Grunde muss er
aber von jedem einzelnen Mitarbeiter gelebt werden.
Hier ist, ehrlich gesagt, noch ziemlich viel zu tun.
({1})
Das wird deutlich, wenn man die Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Polizeibereich mit der im Verfassungsschutzbereich vergleicht. Mit dem Gesetzentwurf wird
es jedenfalls ein gesetzlicher Auftrag des BfV, also des
Bundesamtes, dieses Potenzial zu entwickeln.
Zum anderen kann in Zukunft das Bundesamt, wo es
nötig ist, bei lediglich regionalen, aber gewaltorientierten Bestrebungen im Benehmen mit dem Land selbst in
die Beobachtung eintreten. Das haben manche Länder
kritisiert, manchmal scharf. Dazu möchte ich hier sagen:
Manches an dieser Kritik wundert mich, weil exakt dies
Gegenstand eines Kompromisses mit zum Teil den Innenministern war, die das anschließend kritisiert haben.
Gut, das mag in der Politik mitunter so sein. Ich will
jetzt keine Namen nennen, aber doch sagen, dass mich
das jedenfalls gewundert hat.
Diese Regelung verdrängt die Länderzuständigkeit
nicht. Sie hat vielmehr eine Auffangfunktion, die - das
zeigen die Erfahrungen, die wir gemacht haben - aus
fachlicher Sicht in der Sache geboten ist. In der Praxis
wird schon aus Ressourcengründen nicht leichtfertig davon Gebrauch gemacht werden. Hinzu kommt: Das Bundesamt wird nur tätig, wenn es nach dem Benehmen mit
dem Land gar nicht anders geht, zum Beispiel, wenn ein
Land sich weigert, eine regional gewalttätige verfassungsfeindliche Organisation zu beobachten. Wollen wir
wirklich, dass das Verfassungsschutzsystem in einem
solchen Fall blind ist? Wir haben doch gelernt: Beim gewaltorientierten Extremismus darf es in Deutschland
keine blinden Flecken geben.
({2})
Zweiter Punkt: Verbesserung des Informationsflusses.
Der NSU-Untersuchungsausschuss hat gerade hier klare
Mängel aufgezeigt. Die einen wussten nicht, was die anderen wussten, und haben nicht weitergegeben, was sie
wussten, und vieles hätte vielleicht verhindert werden
können. Bund und Länder haben zügig gehandelt, bereits
im Dezember 2011, mit der Einrichtung des Gemeinsamen Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus. Mit
diesem Gesetzentwurf vertiefen und verbreitern wir jetzt
diesen zusammenführenden Ansatz im Verfassungsschutzverbund. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat
zum Verfassungsschutz an erster Stelle klipp und klar
empfohlen - ich zitiere -: Informationen zentral zusammenführen und gründlich auswerten. - Das ist eigentlich
selbstverständlich. Das ist jetzt wesentliches Kernelement des Gesetzentwurfs und trotzdem umstritten.
Künftig müssen alle relevanten Informationen zwischen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht werden. Ich wiederhole: Das ist eigentlich selbstverständlich. Nun wird das gesetzlich bekräftigt. Dazu gibt es das
Verbundsystem NADIS, Nachrichtendienstliches Informationssystem. Es muss jetzt auch dafür genutzt werden.
NADIS ist zugleich das Analysetool, um Beziehungen
zwischen Personen und Ereignissen zu erkennen und gezielt Strukturen aufzuklären. Bislang war NADIS jedoch
teils auf einen bloßen Aktennachweis beschränkt. Diese
Beschränkung soll entfallen. So vermeiden wir gefährliche Informationsinseln und gewinnen einen verbesserten
bundesweiten Überblick über extremistische Strukturen.
Es wäre aus meiner Sicht unverantwortlich, weiter nur in
regionaler Abschottung zu operieren. All das, worüber
wir hier reden, nämlich die Nutzung von nachrichtendienstlichen Informationen innerhalb eines Landes, innerhalb der Verfassungsschutzbehörden eines Landes, ist
dort längst selbstverständlich und vollständig unproblematisch. Die Analyse länderübergreifender Zusammenhänge erfordert aber eine zentrale Auswertung auf Basis
der zusammengeführten Daten. Darum geht es bei
NADIS, um nicht mehr und nicht weniger. Das hat der
NSU-Untersuchungsausschuss gefordert, und das setzen
wir jetzt um.
({3})
Diese Erweiterung ist auch datenschutzrechtlich eingebettet; denn wir haben einerseits die Zugriffs- und
Abfragerechte derer, die darauf zugreifen können, beschränkt und andererseits eine Vollprotokollierung im
Gesetz festgeschrieben. Es besteht also eine vollständige
Kontrolle auch im Nachhinein, wer welche Information
mit welcher Berechtigung nachgefragt hat.
Dritter Punkt - das wird sicher gleich diskutiert werden; es ist auch ein schwieriger Punkt -: Einsatz von
V-Leuten. Wir schaffen hier bei einem wichtigen Punkt
Klarheit. V-Leute - das will ich noch einmal unterstreichen - sind keine verdeckten Ermittler, keine Beamten.
V-Leute sind mitunter Menschen, mit denen man eigentlich nicht so gerne zusammenarbeiten möchte. Sie leben
in einer Szene, in der es szenetypisches Verhalten gibt,
das wir politisch und häufig auch rechtlich missbilligen.
Man braucht sie aber, um an Informationen zu gelangen.
Für jeden Nachrichtendienst sind sie ein unverzichtbares
Aufklärungsmittel. Bisher gab es zum Einsatz von
V-Leuten nähere Regelungen nur in Verwaltungsvorschriften. Das ändern wir jetzt, indem wir eine klare
rechtsstaatliche Grundlage für den Einsatz von V-Leuten
schaffen. Auch das hat der NSU-Untersuchungsausschuss gefordert.
({4})
Auswahl und Führung von V-Leuten erhalten jetzt
erstmalig einen klaren gesetzlichen Rahmen und klare
Grenzen. Bei der Auswahl gibt es Ausschlusskriterien,
zum Beispiel Minderjährigkeit oder Vorstrafen. Es gilt
der Grundsatz: Verurteilung wegen eines Verbrechens
oder zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung schließen
die Anwerbung eines V-Manns oder einer V-Frau aus.
({5})
Das ist der Grundsatz. Ausnahmen sind möglich, hier jedoch nur durch die Behördenleitung.
({6})
Das ist, Herr von Notz, sicher diskussionswürdig,
({7})
und auch mir ist es nicht leichtgefallen, das so zu regeln.
({8})
Aber wenn wir durch eine solche V-Person Einblicke in
die Szene bekommen und dadurch die Möglichkeit erhalten, Schlimmes zu verhindern, dann kann es unsere
Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürgerinnen
und Bürger unter wenigen einzelnen Umständen gebieten, auch eine solche Quelle zu nutzen.
In der Strafprozessordnung gilt übrigens Ähnliches.
Selbst Schwerverbrecher sind geeignete Kronzeugen,
({9})
wenn sie zuverlässige Informationen bieten, die zur Aufklärung oder Verhinderung weiterer schwerer Straftaten
führen.
({10})
Ein gegenläufiger Rigorismus bei der nachrichtendienstlichen Informationsbeschaffung ist für mich sachlich
nicht überzeugend und wäre im Vergleich dazu auch
wertungswidersprüchlich. Dazu werden Sie sicher gleich
vortragen.
Damit hier kein Missverständnis entsteht, möchte ich
ausdrücklich betonen: Ich habe von der Vorstrafenrelevanz für eine Anwerbung gesprochen. Im Einsatz selbst
erhält die V-Person natürlich keine Befugnis, andere zu
schädigen.
({11})
Wir legen im Gesetzentwurf konkret fest, was jemand
als V-Mann darf und was er nicht darf; auch das gab es
bisher nicht. Klar ist: Um strafbare und terroristische
Vereinigungen von innen aufzuklären, muss die V-Person Mitglied einer solchen Organisation sein können
oder sich im Unterstützungsumfeld betätigen dürfen.
Daher enthält der Gesetzentwurf dazu eine entsprechende Befugnis. Wenn sich eine solche V-Person in der
Szene bewegt, so muss sie sich szenetypisch verhalten
können. Hierbei schaffen wir aber klare rechtliche Grenzen. Voraussetzung ist, dass das Verhalten zur Akzeptanz
in der Szene unerlässlich und nicht unverhältnismäßig
ist. In der rechtsextremistischen Szene kann das beispielsweise die Verwendung verbotener Nazisymbole
sein, ein Hitlergruß oder Ähnliches. Das ist szenetypisch; das kann man noch akzeptieren. Klare Grenze ist
jedoch: keine Eingriffe in Individualrechte. Sachbeschädigungen bleiben verboten, egal ob sie szenetypisch sind
oder nicht; hier gibt es keine Ausnahmen.
({12})
Wenn die V-Person also nicht nur an einer militanten Demonstration teilnimmt, sondern selbst Sachbeschädigung begeht, ist und bleibt das strafbar. Es bliebe dann
nur, den situativen Bezug und den Einsatzzusammenhang bei der Frage einer Verfahrenseinstellung zu würdigen - das kennen wir im Strafprozessrecht auch -, und
auch dafür setzt der Gesetzentwurf klare Grenzen.
Alles in allem enthalten die Regelungen zu V-Leuten
schwierige rechtsstaatliche Abwägungsentscheidungen.
Sie sind im Gesetzentwurf meines Erachtens ausgewogen gelungen. Wir können in den Ausschussberatungen
gerne weiter darüber diskutieren.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte schön, sonst redet er hinterher sowieso.
Herr Kollege Ströbele.
Herr Minister, geben Sie mir recht, dass der von Ihnen
vorgelegte Gesetzentwurf in § 9 a - hier soll das Bundesverfassungsschutzgesetz geändert werden -, der auch
in § 9 b Anwendung findet, folgende Regelung enthält:
Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür
bestehen, dass Verdeckte Mitarbeiter rechtswidrig einen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung verwirklicht haben, soll der Einsatz unverzüglich beendet werden;
- jetzt kommt der entscheidende Satz über Ausnahmen entscheidet der Behördenleiter
oder sein Vertreter.
Das heißt, das, was Sie hier so darstellen, als sei es
Gesetz, hat auch wieder Ausnahmen. Wir wissen, wie
von diesem Ausnahmerecht Gebrauch gemacht wird.
({0})
Darauf kommen wir nachher noch zu sprechen. Geben
Sie mir recht, dass das hier drinsteht?
Ja, natürlich, ich habe das auch genauso vorgetragen.
({0})
Diese Ausnahme muss eng begrenzt sein.
({1})
- Das können wir da gerne hineinschreiben. Das ist gar
kein Problem.
({2})
Tatsache ist, dass es eine Sollregelung und ein Grundsatz ist. Ein Grundsatz - unter uns Juristen gesprochen,
Herr Kollege Ströbele - bedeutet immer, dass alles andere eine Ausnahme ist. Das ist bei jeder Sollregelung
so. Deswegen kann man trotzdem „Ausnahmen“ hineinschreiben. Entscheidend ist nur, dass in diesen Fällen
nicht der V-Mann-Führer alleine entscheiden kann, die
Arbeit fortzusetzen, sondern das muss der Behördenleiter oder sein Stellvertreter entscheiden.
Ich will in diesem Zusammenhang gerne noch etwas
anderes sagen. Es geht nicht nur um die V-Leute, wo wir
uns einig sind, dass wir vieles von dem, was sie tun,
missbilligen, sondern es geht auch um den Schutz der
Mitarbeiter - es sind überwiegend Beamte - in den Verfassungsschutzbehörden. Denn wenn ein V-Mann eine
Straftat begeht und der V-Mann-Führer die Arbeit fortsetzt, dann könnte es sein, dass gegen diesen Beamten
ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe eingeleitet
wird.
({3})
Wenn das der Fall ist, dann, glaube ich, kann man das
V-Mann-Geschäft insgesamt vergessen. Die Linke will
dies natürlich: entweder den Verfassungsschutz ganz abschaffen oder keine V-Leute.
({4})
Das ist, wenn man so will, schlüssig, aber falsch.
({5})
- Nein, schlüssig, aber falsch. Konsistent ist das, was Sie
vortragen; dem kann ich nicht widersprechen.
({6})
Wenn man aber daran festhält, nicht weil diese Menschen besonders sympathisch sind oder weil man sie besonders schön findet, sondern weil wir ihre Informationen brauchen, um Schlimmeres von der Gesellschaft
abzuwenden, wenn man diesen Grundsatz bejaht, dann
muss man sich in den schwierigen Abwägungsprozess
begeben: Was darf der V-Mann, was darf er nicht, und
was bedeutet das für den V-Mann-Führer? Hierzu haben
wir einen Vorschlag vorgelegt. Darüber sollten wir in
den Ausschussberatungen weiter entscheiden.
Meine Damen und Herren, wir ziehen mit diesem Gesetzentwurf die Lehren aus den festgestellten Mängeln
bei der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden. Wir entwickeln den kritisierten Rahmen fort. Wir stellen die Mängel ab, soweit das mit einem Gesetz geht. Der Reformprozess im Übrigen bleibt bestehen. Im Reformprozess
des Verfassungsschutzes ist dieses Gesetz ein wichtiger
Baustein, beileibe nicht der einzige. Ich bitte um gründliche und konstruktive Beratungen - dazu sind wir bereit und dann um eine breite Unterstützung.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin
Petra Pau, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden über ein Gesetz, das Schlussfolgerungen für
den Verfassungsschutz aus dem NSU-Nazi-Mord-Desaster verheißt. Ich greife daraus jetzt nur einen Aspekt auf:
das V-Mann-Unwesen. Ein Vorzug sei - das stellten Sie
gerade wieder dar, Herr Bundesinnenminister -, dass die
fragwürdige V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden
nunmehr besser geregelt werde. Ich zitiere, was Sie
kürzlich in einer Befragung der Bundesregierung gesagt
haben:
Wir haben … Klarheit bei den V-Leuten geschaffen. … Szenetypisches Verhalten einschließlich
Straftaten ist zulässig. … Die Verletzung von Individualgütern wie Körperverletzung … nicht …
Wenn es im Einzelfall einmal anders ist, muss darüber der Behördenleiter … entscheiden.
Das klingt gut, ist es aber nicht; denn de facto bleibt alles
beim Alten.
Dazu eine exemplarische Geschichte aus dem NSUNazi-Mord-Desaster. Carsten S. war ein strammer Nazi
aus Brandenburg. Gemeinsam mit rechtsextremen Kumpanen versuchte er, einen Nigerianer zu erschlagen, zu
verbrennen, zu ertränken. Das Opfer entkam nur knapp
dem Tod. Carsten S. wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Von da an wurde er für den Verfassungsschutz interessant, als V-Mann „Piatto“. Sein V-MannFührer vom Verfassungsschutz chauffierte „Piatto“ verlässlich aus dem Gefängnis zu Nazikonzerten. So blieb
Carsten S. in der Szene und für sie aktiv. Später absolvierte Carsten S. ein Praktikum. Obendrein hatte er eine
Festanstellung in Aussicht.
Das beeindruckte offenbar auch eine Richterin. Er
wurde vorzeitig entlassen, mit der klaren Auflage, sich
künftig strikt von der Naziszene fernzuhalten. Der Richterin wurden allerdings zwei wesentliche Fakten verschwiegen: Das gelobte Praktikum hatte „Piatto“ in einem Naziszeneladen absolviert, und seine mögliche
Festanstellung sollte in einer neuen Filiale desselben
sein - alles von Verfassungsschutzes Gnaden, Täuschung der Justiz inklusive. Kurzum: Der Verfassungsschutz half, Verfassungsfeinde aufzubauen, anstatt die
Verfassung zu schützen. Klarer kann sich das Amt nicht
delegitimieren.
({0})
Nun zum neuen Gesetz. Es besagt, dass Nazis, die
sich schwerer Verbrechen gegen Leib und Leben schuldig gemacht haben, in aller Regel nicht mehr als V-Leute
angeworben werden dürfen. Sind damit neue „Piattos“
ausgeschlossen? Nein; denn „in aller Regel“ bedeutet
eben: Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel wenn das Informationsinteresse der Ämter für Verfassungsschutz schwerer wiege als die Straftaten von Nazis. In diesen Fällen
werde die V-Leute-Frage zur Chefsache - Sie haben das
eben ja auch noch einmal zitiert -, und diese Chefs
müssten dann klug abwägen.
Also zurück zu „Piatto“. Ich habe den damaligen
V-Mann-Führer von Carsten S. gefragt: Wie sehen Sie
das im Rückblick? Glauben Sie nicht auch, dass das ein
fataler Fehler war? Seine Antwort war unmissverständlich: Nein. Wochen später wurde derselbe „Piatto“-Führer Präsident des Verfassungsschutzes im Freistaat Sachsen. Wenn sich Sachsen entschließen würde, Ihren
Gesetzentwurf als Landesgesetz zu übernehmen, wäre er
also heute der neue Chefentscheider. Sie sehen: Das Gesetz hält nicht, was es verspricht. Deshalb wird die Linke
Nein sagen.
Ich bleibe bei der V-Mann-Kontroverse. Der Thüringer Landtag gehört zu den wenigen Parlamenten, die
sich intensiv mit dem NSU-Desaster auseinandergesetzt
haben. Die rot-rot-grüne Regierung zog Konsequenzen:
({1})
Die V-Leute-Praxis soll radikal heruntergefahren werden.
({2})
Dafür wird sie heftig als Sicherheitsrisiko beschimpft.
({3})
- Ich finde: zu Unrecht, Kollege Schipanski.
({4})
Denn wer eine Praxis beendet, die Nazis verharmlost
und letztlich stärkt, handelt rechtsstaatlich und humanistisch. Was sonst?
Gestatten Sie mir noch ein, zwei Sätze zu dem Antrag, den die Linke als Alternative vorgelegt hat. Im
Kern geht es um zwei Vorschläge: Die Ämter für Verfassungsschutz sollen als Geheimdienste aufgelöst und in
eine transparente Politikberatung umgewandelt werden.
Und: Die V-Leute-Praxis der Sicherheitsbehörden ist
umgehend zu beenden. Unser Vorschlag ist weitgehend,
grundgesetzkonform und obendrein geeignet, gesellschaftliches Engagement für Demokratie und Toleranz
zu stärken. Ich freue mich auf Ihre Neugier beim Studium dieses Antrags und auf Ihre kluge Zustimmung.
({5})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt
Burkhard Lischka das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
kein normaler Gesetzentwurf, den wir heute beraten, und
alltäglich ist der Gesetzentwurf erst recht nicht. Er ist
eine Reaktion auf einen Skandal, der niemals in Vergessenheit geraten darf, einen Skandal, der übrigens nicht
nur darin bestand, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe 13 Jahre lang unerkannt mindestens zehn Morde,
zwei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle
verüben konnte, sondern auch darin, dass dieser Terrorzug einherging mit einer Chronik des Versagens unserer
Sicherheitsbehörden - aller Sicherheitsbehörden, aber
eben auch des Verfassungsschutzes.
Von Dummheit bis Sabotage: Alle Formen von
Staatsversagen sind in den verschiedensten Abschlussberichten der NSU-Untersuchungsausschüsse festgehalten. Wir wissen heute: Möglicherweise könnten Menschen noch leben, wenn unsere Sicherheitsbehörden
verantwortungsbewusst und untadelig gearbeitet hätten.
Mit dieser Schuld müssen viele, müssen wir alle leben.
Dieser Fall hat unserer Gesellschaft einen Spiegel ihrer
schlechtesten Seiten vorgehalten. Dieser Fall ist zugleich
Verpflichtung, alles dafür zu tun, dass es einen zweiten
NSU-Fall nie wieder gibt.
({0})
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein kleiner, aber eben auch kein unwesentlicher
Baustein, die richtigen Lehren aus dem NSU-Desaster
zu ziehen. Die verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüsse sind vor allen Dingen auch mit einer regelrechten Krankheit unserer Verfassungsschutzbehörden konfrontiert worden: dass man sich nicht austauscht, dass
man Informationen für sich behält, dass man sie nicht
weiterleitet. Wir wissen heute: Nur etwa 20 Prozent der
Informationen, die seit 1998 zu dem NSU-Mördertrio in
den Landesämtern für Verfassungsschutz vorlagen, wurden auch tatsächlich weitergeleitet. Das war fatal; denn
so konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen,
noch konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz seiner Koordinierungsfunktion nachkommen. Das NSUMördertrio musste nur von einem Bundesland in das
nächste ziehen, und schon verlor sich die Spur. Dieses
Neben- und Gegeneinander der Verfassungsschützer, das
wir da erlebt haben, gefährdet unsere innere Sicherheit.
16 Schlapphutprovinzen, die alle vor sich hin werkeln,
können wir uns nicht leisten; damit muss Schluss sein,
meine Damen und Herren!
({1})
Deshalb ist für uns Sozialdemokraten von entscheidender Bedeutung, dass künftig die Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlich
gestärkt wird durch einen verpflichtenden Informationsaustausch und, ja - da, wo notwendig -, auch mit eigenen Durchgriffsrechten. Gerade föderale Strukturen
verlangen beim Antiterrorkampf klare Führung und Verantwortung sowie einen schnellen Daten- und Informationsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ich
weiß, dass sich einige Bundesländer mit der Stärkung der
Zentralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwertun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf es
nach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr geben.
({2})
Der NSU konnte auch nur deshalb jahrelang mordend
und raubend durch Deutschland ziehen, weil unsere Sicherheitsbehörden zu wenig miteinander geredet haben.
Solche blinden Flecken darf es nicht mehr geben und
Verfassungsschutzämter, die im eigenen Saft schmoren,
erst recht nicht, meine Damen und Herren.
Zweiter wichtiger Aspekt: Der NSU-Skandal ist auch
ein V-Mann-Skandal. Frau Pau hat es angesprochen: Da
wurde ein V-Mann angeworben, der wegen versuchten
Mordes an einem Asylbewerber im Gefängnis einsaß.
Da gab es Zahlungen an dubiose Informanten, die das
Jahresgehalt eines Polizisten bei weitem übersteigen.
({3})
All das ist eines Rechtsstaates unwürdig, und zwar ohne
Wenn und Aber, meine Damen und Herren.
Nun gibt es einige, die daraus folgern, man solle auf
V-Leute künftig am besten ganz verzichten. Bei allem
verständlichen Ärger, der da mitschwingt: Was diese
Sicht vollkommen außer Acht lässt, ist der Umstand,
dass gerade kriminelle und militante Gruppen ihre Aktivitäten und Planungen seit jeher nicht offen, sondern
konspirativ und abgeschottet betreiben. Wer da komplett
auf V-Leute verzichten will, nimmt zumindest billigend
in Kauf, dass sie ungestört Anschläge und schwerste
Verbrechen planen können, ohne dass der Staat auch nur
den Hauch einer Chance hat, sie dabei zu stören.
({4})
Nein, meine Damen und Herren, ein Staat, der eben
auch die Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger trägt, darf sich nicht vollkommen
taub und blind machen, wenn es um feige Morde und
Anschläge geht. Das kann nun wirklich nicht die Lehre
aus dem NSU-Desaster sein.
({5})
Nur, wir dürfen dabei auch nicht den Boden der
Rechtsstaatlichkeit verlassen. Der Zweck heiligt in einem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel.
({6})
Eine Zusammenarbeit mit vorbestraften Schwerstkriminellen darf es niemals geben und auch kein Hintertürchen im Gesetz, das das zulässt. Darauf werden wir Sozialdemokraten in den weiteren Beratungen achten,
meine Damen und Herren.
({7})
Insofern sind das wichtige Beratungen, die vor uns
liegen, nämlich darüber, den Verfassungsschutz besser
aufzustellen und klare rechtsstaatliche Grenzen ohne
Hintertürchen zu markieren. Das sind zwei Seiten ein
und derselben Medaille, denen wir uns jetzt akribisch
widmen müssen. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern
des NSU-Terrors schuldig.
({8})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Dr. Konstantin
von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier die Zukunft des Verfassungsschutzes, aber
eben auch den Innen- und Sicherheitsbereich dieses Landes, einstmals das vermeintliche Aushängeschild konservativer Politik. Und heute? Probleme, Baustellen und
Skandale überall.
({0})
Trotz der von der Bundeskanzlerin versprochenen
rückhaltlosen Aufklärung versuchen derzeit noch fünf
Untersuchungsausschüsse in den Ländern - und wahrscheinlich bald auch wieder einer in diesem Hause -, die
vollständige Aufklärung der NSU-Morde zu gewährleisten, die bisher leider ausgeblieben ist.
Jede Woche gibt es neue Hiobsbotschaften bei den
Geheimdiensten, gestern beim BND. Es hat erst eines Beweisantrages des Untersuchungsausschusses NSA bedurft, um zutage zu fördern, was BND und Bundeskanzleramt jahrelang bestritten haben. Und es gibt eine
weitreichende Verstrickung Deutschlands im völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg, der eben auch vom deutschen Territorialgebiet aus geführt wird. Das ist der Istzustand nach zehn Jahren Verantwortung der CDU für
die Innenpolitik, und so geht es nicht weiter, meine Damen und Herren.
({1})
Ihr Antragspotpourri hier heute ist die Fortsetzung
dieser Planlosigkeit. Sie stehen hier ohne einen einzigen
Vorschlag, Herr de Maizière, zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle, ohne jegliche Ansätze für einen
besseren Daten- und Grundrechtsschutz und ohne eine
einzige Idee, wie man im digitalen Zeitalter nachrichtendienstliche Aufklärung und Bürgerrechte besser miteinander vereinbaren kann.
({2})
Stattdessen haben Sie angekündigt, hier demnächst
die abwegige Weltraumtheorie in Gesetzesform gießen
zu wollen. Nach NSU und NSA stocken Sie anlasslos
massenhaft Stellen auf und wollen allen Ernstes die
hochproblematische V-Leute-Praxis einfach legalisieren
und ausbauen. Darum geht es im Kern bei allen schönen
Worten, Herr de Maizière.
Das Liken, Twittern und Chatten aller Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land soll in Echtzeit überwacht
werden können, und das alles auch noch ohne eine konkrete gesetzliche Rechtfertigung. All das ist mit uns
nicht zu machen.
({3})
Doch damit nicht genug. Gleichzeitig kommen Sie allen Ernstes in diesen Tagen wieder mit der Vorratsdatenspeicherung um die Ecke. Herr Innenminister, ich will
die Gelegenheit für folgende Kritik nutzen: Sie haben
gesagt, Ihr Kompromiss - in Anführungsstrichen - wäre
eine Chance, einen jahrelangen, teilweise erbittert geführten Streit zu befrieden. Das wäre schön. Die Leitlinien, die Sie vorlegen, widersprechen den Vorgaben des
EuGH und des Bundesverfassungsgerichts aber offensichtlich, und das befriedet leider niemanden.
({4})
Noch vor der Sommerpause wollen Sie Ihren Gesetzentwurf ganz offenbar ohne Anhörung und mit dem Hinweis, dass es ja eh keine Änderungen mehr durch das
Parlament geben dürfe, durch dieses Hohe Haus peitschen. Auch das ist ein Affront gegen den Deutschen
Bundestag.
({5})
Sie legen seit Jahren - und die SPD macht jetzt fröhlich mit - einen verfassungswidrigen Gesetzentwurf
nach dem anderen vor, und dann beschweren Sie sich,
Herr Schipanski, in der letzten Woche aus der Union
auch noch allen Ernstes über das Bundesverfassungsgericht, das seine verfassungsrechtliche Arbeit macht. Das
Bundesverfassungsgericht wird beschimpft. Wo sind wir
eigentlich?
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, die Mechanismen unserer Verfassung sind Konsequenzen aus
unserer Geschichte. Das Bundesverfassungsgericht anzugreifen, verfassungswidrige Gesetzentwürfe immer
wieder billigend in Kauf zu nehmen und hier vorzulegen
und das Parlament zu marginalisieren: Das geht einfach
nicht, und wir widersprechen dem ausdrücklich.
({7})
Die Alternative zu Ihrem ideenlosen und grundrechtsfeindlichen Weiter-so ist unser Entschließungsantrag.
Als Konsequenz aus dem unsäglichen NSU-Skandal
fordern wir eine Zäsur beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Das Amt muss aufgelöst und vollkommen neu
durchsortiert werden.
({8})
Die bisherige V-Leute-Praxis mit all ihren Skandalen
muss endlich ein Ende haben. Weder darf der Staat überzeugte Nationalsozialisten beschäftigen und finanzieren, Herr de Maizière, noch darf man mit schweren
Straftätern vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das ist
völlig inakzeptabel.
({9})
Statt des Ausbaus der strategischen Internetrasterfahndung brauchen wir effektive grundrechtsschonende
Instrumente, eine gesetzliche Begrenzung der Überwachung der digitalen Kommunikation und ein völlig neues
parlamentarisches Kontrollsystem.
Die innere und öffentliche Sicherheit und die Menschen in Deutschland haben Besseres verdient als Ihren
Gesetzentwurf.
Ganz herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute in
erster Lesung über die Novellierung des Bundesverfassungsschutzgesetzes und damit über einen wesentlichen
Bestandteil, wenn es um die Umsetzung der insgesamt
47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses
aus der letzten Legislaturperiode geht.
Bei einer Neujustierung der Sicherheitsarchitektur
geht es auch um eine Verbesserung der Arbeit der Nachrichtendienste, aber nicht nur. Wir haben schon etwas
getan, zum Beispiel, als es darum ging, die Position des
Generalbundesanwaltes zu stärken. Ich sage hier aber
auch in aller Deutlichkeit: Nicht nur der Bund ist gefordert, auch die Länder müssen ihre Hausaufgaben machen, wenn es darum geht, die Arbeit der Nachrichtendienste und der Polizeibehörden zu verbessern.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf beheben wir Mängel in der
Sicherheitsarchitektur Deutschlands. Eines sage ich hier
aber auch in aller Deutlichkeit - gerade am heutigen Tag
und gerade auch im Lichte der aktuellen Debatte über
die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes -: Wir brauchen funktionsfähige und gut ausgestattete Nachrichtendienste.
({1})
Es ist vielleicht nicht populär, sich für Nachrichtendienste auszusprechen, und es ist immer einfacher, angenehmer und bequemer, Nachrichtendienste zu kritisieren.
({2})
Gerade angesichts der aktuellen Debatte möchte ich
aber Folgendes einmal deutlich machen: Der Bundesnachrichtendienst hat - selbst konservativ berechnet mit seiner Arbeit in Afghanistan dazu beigetragen,
19 konkret geplante Anschläge auf Bundeswehrsoldaten
zu verhindern.
Das ist nun einmal die Krux bei der Arbeit der Nachrichtendienste: Sie fallen nicht auf, wenn sie gut arbeiten, weil sich dann Gott sei Dank kein Anschlag ereignet
- sei es in Afghanistan gegenüber unseren Angehörigen
der Bundeswehr, oder sei es auch im Inland, in Deutsch9694
Stephan Mayer ({3})
land -, aber sie fallen dann auf, wenn vermeintlich etwas
nicht so läuft, wie wir alle uns das wünschen.
({4})
Ich sage das hier ganz deutlich auch an die Adresse
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichtendienste gerichtet und auch ganz bewusst in dem Wissen,
dass dies derzeit vielleicht nicht populär ist: Wir stehen
zu den Nachrichtendiensten. Wir brauchen gut qualifizierte, motivierte und kompetente Mitarbeiter in den
Nachrichtendiensten.
({5})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, darin unterscheiden wir uns als CDU/CSU-Fraktion diametral von den Linken und auch von den Grünen.
({6})
Frau Kollegin Pau, Sie fordern ganz offen die Abschaffung des BfV,
({7})
die Einführung einer Bundesstiftung, einer politischen
Beratung,
({8})
die nur noch als Kontaktstelle für die Nachrichtendienste
im Ausland dienen soll.
({9})
- Ich spreche von dem Antrag der Linken, Herr Kollege
von Notz.
({10})
- Zu Ihnen komme ich noch, Herr von Notz.
({11})
Sie haben wenig zu unserem Gesetzentwurf gesagt. Sie
haben sich wieder nur - Stichwort: l’art pour l’art - eher
an der Oberfläche bewegt.
({12})
Das zeigt offenbar, dass der Gesetzentwurf so schlecht
nicht ist.
Ganz konkret zum Antrag der Linken. Die Linken
fordern die Abschaffung des Bundesamtes, die Einführung einer politischen Beratung, die nicht einmal öffentlich zugängliche Quellen auswerten darf.
({13})
Wenn man diesem Weg folgen würde, würden wir die
Sicherheit Deutschlands sehenden Auges gefährden. Das
wäre ein enormes Risiko für die Sicherheitslage in unserem Land.
({14})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein
Wort an die Adresse der Länder. Ich finde es schade,
dass kein Vertreter der Länder hier auf der Bundesratsbank Platz genommen hat.
({15})
Es geht doch um einen Gesetzentwurf, der von den Ländern, egal welcher Couleur, sehr offen und sehr deutlich
kritisiert wurde.
({16})
Ich bin der festen Überzeugung: Die Bedenken und
Zweifel der Länder sind unbegründet. Ich möchte, auch
wenn kein Vertreter anwesend ist, an die Adresse der
Länder deutlich sagen: Dieser Gesetzentwurf wird nicht
gegen die Länder, sondern er wird für die Länder gemacht.
({17})
Mit einer Stärkung der Zentralstellenfunktion des
Bundesamtes für Verfassungsschutz ist mitnichten eine
Schwächung der Landesämter verbunden. Die Landesämter profitieren von einem starken Bundesamt. Sie profitieren davon, wenn das Bundesamt als Dienstleister gestärkt wird. Ich hoffe, dass die weitere Debatte etwas
sachlicher und objektiver erfolgt;
({18})
denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Landesämter und damit auch die Landesregierungen von den im
Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen und der stärkeren Koordinierung der Arbeit durch das BfV enorm
profitieren können.
Es ist richtig, dass es dem BfV im Einzelfall ermöglicht wird, zu handeln, wenn sich nur regional engagierte
und tätige Gruppierungen, die aber gewaltbereit sind,
breitmachen. Man muss auch ganz offen sagen: Die
Leistungsfähigkeit der Landesämter ist nun einmal sehr
unterschiedlich. Deswegen bin ich der festen Überzeugung: Dieses Gesetz wird dem Verfassungsschutz insgesamt guttun, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene.
Ein wichtiger Rückschluss aus den Erfahrungen der
schrecklichen Mordserie des NSU-Trios muss sein, dass
die Behörden offener miteinander kommunizieren. Wir
brauchen einen offeneren Austausch zwischen den Landesämtern und mit dem Bundesamt. Ich sage hier ganz
Stephan Mayer ({19})
offen: Dafür ist mit Sicherheit auch auf Ebene der Mitarbeiter ein Mentalitätswechsel erforderlich.
Wir brauchen auch eine Neuregelung des Zugangs
zum Nachrichtendienstlichen Informationssystem,
NADIS. Ein Verfassungsschutz ohne ein vernünftiges
Informationssystem macht definitiv keinen Sinn. Ich
sage auch angesichts der Kritik bezüglich der Neuregelung des Zugangs zu NADIS ganz deutlich: Diese Neuregelung erfüllt höchste datenschutzrechtliche Anforderungen, zum einen, wenn es darum geht, die Befugnis
derer, die auf die Daten zugreifen können, zu begrenzen,
und zum anderen, wenn es darum geht, eine umfangreiche Protokollierungspflicht aufzuerlegen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ein
wesentlicher Bestandteil dieses Gesetzentwurfes ist, wie
schon im Vorfeld diskutiert wurde, die Neuregelung für
den Einsatz von V-Leuten. Um dies klar zu sagen: Wir
brauchen V-Leute in den Verfassungsschutzämtern. Die
Arbeit ist ohne V-Leute nicht möglich. Das ist mit Sicherheit nicht angenehm. Das ist auch nicht immer appetitlich. Die V-Leute, mit denen man dabei zu tun hat,
sind auch keine angenehmen Zeitgenossen.
Aber es ist richtig, in der Frage, wer für die Arbeit als
V-Mann infrage kommt, höhere qualitative Anforderungen gesetzlich festzulegen. Zur Erinnerung: Bisher war
die Frage, wer V-Mann werden konnte, nur auf der
Ebene der Verwaltungsvorschriften geregelt. Jetzt wird
eine gesetzliche Normierung vorgenommen. Dies ist
auch richtig so.
Es ist klar, dass Minderjährige nicht in Betracht kommen, dass Parlamentarier nicht in Betracht kommen und
dass diejenigen, die als V-Mann in Betracht kommen,
nicht allein von den ihnen zugewendeten Geld- und
Sachleistungen ihren Lebensunterhalt bestreiten dürfen.
Es kommen auch keine Personen in Betracht, die in Aussteigerprogrammen sind. Und um es noch einmal klar zu
sagen: Es dürfen auch definitiv keine Personen in Betracht kommen, die sich schwerer Straftaten schuldig gemacht haben.
Frau Kollegin Pau, Sie haben den Fall „Piatto“ angesprochen. Dazu habe auch ich eine ganz klare Einschätzung: Wenn das Gesetz so das Licht der Gesetzeswirklichkeit erblicken würde, wie es heute im Entwurf
vorliegt, wäre der Fall „Piatto“ - dessen bin ich mir definitiv sicher - nicht mehr möglich.
({20})
Im rechts- und linksextremistischen Bereich wollen
wir mit derartigen Straftätern nichts zu tun haben. Sie
werden auch in Zukunft nicht mehr als V-Leute in Betracht kommen. Es gibt aber, offen gesagt, einen anderen
Bereich, in dem man möglicherweise in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen durchaus auch auf derart
schwere Jungs zurückgreifen muss: Das ist der salafistische und islamistisch motivierte Bereich.
Sie alle wissen, dass es bisher noch keinen einzigen
bekannten Aussteiger aus der dschihadistischen Szene
gibt. Ich glaube, wir täten insgesamt gut daran, wenn unsere Verfassungsschutzämter endlich jemanden fänden,
der sich traut, aus dieser schwierigen Szene auszusteigen. Ich muss ganz offen sagen: Wenn er dann etwas
mehr auf dem Kerbholz hat,
({21})
dann sind es mir die Sicherheit Deutschlands und die
Verhinderung eines Anschlags in Deutschland wert, in
einem derart eng begrenzten Ausnahmefall auch auf einen V-Mann zurückzugreifen.
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Bitte schön, Herr Kollege Ströbele.
Danke, Herr Kollege Mayer. - Ich lege immer Wert
darauf, dass wir eng am Gesetz entlang diskutieren.
({0})
Sie haben gerade selber darauf hingewiesen, dass keine
erheblich Vorbestraften eingesetzt werden dürfen. Im
Gesetzentwurf steht aber ein ganz wichtiges Wort:
„grundsätzlich“. „Grundsätzlich“ heißt: Es geht auch anders. Man muss auch die Begründung lesen. Wann sollen
Ausnahmen möglich sein? Auch bei erheblichen Straftaten? Wenn die Personen als zuverlässig erscheinen?
Wenn sie einen großen Wert für die Arbeit bedeuten?
Danach wäre „Piatto“, von dem Frau Pau vorhin gesprochen hat und den der Verfassungsschutz im Gefängnis
angeworben hat, nachdem er sich dazu bereit erklärt hat
- aus Sicht des Verfassungsschutzes war er zuverlässig -,
auch nach dem grauenhaften Mordversuch nach wie vor
ein Kandidat, den Sie wieder einstellen können.
({1})
Das heißt, der Gesetzentwurf geht völlig an dem vorbei,
was Sie hier vortragen.
({2})
Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen ganz herzlich
für diese konkretisierende Nachfrage. Mir ist sehr wohl
bewusst, wie das Wort „grundsätzlich“ auszulegen ist
und dass es Ausnahmemöglichkeiten zulässt. Ich habe
aber auch an die Adresse der Kollegin Pau deutlich gesagt, dass es in der links- und rechtsextremistischen
Szene durchaus andere Möglichkeiten gibt, an V-Leute
Stephan Mayer ({0})
heranzukommen, sodass in diesem Bereich die Hürde
für eine mögliche Ausnahme von der grundsätzlichen
Bestimmung so hoch gelegt ist, dass man es in diesen
Fällen auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit Sicherheit nicht rechtfertigen kann, auf einen
derart „schweren Jungen“, wie es Carsten S. alias „Piatto“ war, zurückzugreifen.
({1})
- Falls Sie nicht zugehört haben: Ich habe ganz bewusst
den islamistischen Bereich und vor allem die dschihadistische Szene genannt. Wir sind beide im Parlamentarischen Kontrollgremium. Insofern sind wir zur Geheimhaltung verpflichtet, aber selbst der Präsident des
Bundesamtes für Verfassungsschutz, Maaßen, hat diese
Woche noch einmal öffentlich klargemacht, dass die
salafistische Szene in Deutschland mittlerweile auf
7 300 Personen angewachsen ist. Sie hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt.
Ich hoffe, dass wir uns einig sind, Herr Kollege
Ströbele, dass es, wenn es gelänge - ich spreche bewusst
im Konjunktiv -, einen der aus Syrien zurückkehrenden
Dschihadisten - mittlerweile sind ungefähr ein Drittel
bzw. etwa 200 Personen derer, die aus Deutschland nach
Syrien gereist sind, zurückgekommen - dazu zu bewegen, sich als V-Mann zur Verfügung zu stellen, um die
Szene besser aufklären zu können, in diesem konkreten
Ausnahmefall unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit
aus meiner Sicht angemessen und gerechtfertigt wäre,
diese Person als V-Mann anzuwerben, selbst wenn er etwas mehr auf dem Kerbholz hat.
({2})
Um es klar zu sagen: Ich beziehe mich nicht auf den
links- oder rechtsextremistischen Bereich, sondern ich
beziehe mich in aller Deutlichkeit auf den islamistischen
Terrorismus, der nun einmal - das hat die Vergangenheit
gezeigt - für Deutschland eine große Gefahr darstellt.
({3})
Mit diesem Gesetz wird ferner die Analysefähigkeit
des Bundesamtes gestärkt und die Möglichkeit für die
Länder geschaffen, gemeinsam Landesämter für Verfassungsschutz einzurichten. Ich glaube, die sollten sich
überlegen, von dieser Öffnungsklausel Gebrauch zu machen. Wir schaffen eine gesetzliche Grundlage für die
elektronische Akte und verbessern die Möglichkeit des
Zugriffs auf justizielle Register und das europäische
Visa-Informationssystem. Genauso konkretisieren wir in
Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts
die Befugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz
hinsichtlich der Weitergabe von Informationen an Polizeibehörden.
Uns liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor,
der intensiv mit den Ländern vorberaten wurde. Auch
das ist ein Unikum. Noch kein Gesetzentwurf ist im Vorfeld, schon vor der Kabinettsbefassung, so intensiv mit
den Ländern besprochen worden. Ich glaube, wir tun gut
daran, mit sehr viel Sorgfalt diesen Gesetzentwurf zu erörtern. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Gesetz eine gute Grundlage dafür ist, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland zu stärken und insbesondere die
qualitative Arbeit sowohl des Bundesamtes für Verfassungsschutz als auch der Landesämter für Verfassungsschutz zu heben.
In diesem Sinne freue ich mich auf konstruktive und
sachliche Beratungen.
({4})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat André Hahn
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
die Linke ist für den Schutz der verfassungsmäßigen
Ordnung.
({0})
Wir sind aber anders als die übergroße Mehrheit in diesem Haus der Meinung, dass wir dafür weder eine Behörde mit geheimdienstlichen Befugnissen noch staatlich bezahlte V-Leute brauchen.
({1})
Die von uns aus guten Gründen geforderte Auflösung
des Verfassungsschutzes als Geheimdienst ist hier im
Parlament derzeit nicht durchsetzbar. Deshalb müssen
auch wir uns mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auseinandersetzen, obwohl wir schon den Grundansatz für falsch halten.
({2})
Statt zu versuchen, den seit langem heftig umstrittenen
Einsatz von V-Leuten oder von ihnen begangene Straftaten irgendwie auf rechtliche Grundlagen zu stellen,
sollte der Bund vielmehr dem Beispiel von Thüringen
folgen und die derzeit noch aktiven V-Leute schnellstmöglich abschalten,
({3})
im Übrigen auch, um das laufende NPD-Verbotsverfahren nicht weiter zu gefährden.
({4})
Wir halten es für völlig falsch, dass im Gesetzentwurf
Straftaten durch V-Leute legitimiert werden sollen. Das
ist der falsche Weg und schon gar nicht die Umsetzung
der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses.
({5})
Ich habe den Minister in der Fragestunde gebeten, doch
einmal einen Fall zu nennen, bei dem V-Leute schwere
Verbrechen verhindert haben. Er konnte keinen einzigen
Fall hier im Bundestag nennen. Auch das ist bezeichnend für die Arbeit der V-Leute.
Zurück zum Gesetzentwurf. Sie, Herr de Maizière,
haben auf einige Punkte hingewiesen, zum Beispiel darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesamt und den Landesämtern verbessert werden soll. Das
erscheint auf den ersten Blick sogar sinnvoll. Unklar
aber bleibt, durch wen das künftig parlamentarisch kontrolliert werden soll; denn das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages erhält keine Auskunft
über die Tätigkeit der Landesämter, und die Kontrollkommissionen der Länder erhalten keine Auskunft und
keine Akten über den Bund. Das heißt, die Unterlagen
über die geplante verstärkte Kooperation schweben
quasi in einem kontrollfreien Raum. Im Gesetzentwurf
der Regierung gibt es dazu keine Regelung.
Problematisch ist für mich als Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums auch der Zeitpunkt,
Herr de Maizière, zu dem die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf einbringt. Das Gremium hat zu Beginn der
Legislaturperiode entschieden, nicht nur aktuelle Vorgänge zu prüfen, sondern auch präventiv zu arbeiten.
Derzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe mit der V-LeutePraxis beim Verfassungsschutz und will noch in diesem
Jahr Empfehlungen für die künftige Arbeit mit den sogenannten Vertrauenspersonen vorlegen. Das weiß die
Bundesregierung, und sie hätte deshalb auch aus Respekt gegenüber dem Parlament die Ergebnisse abwarten
und nicht vorschnell einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen sollen.
({6})
Ich füge hinzu, Herr Kollege Lischka: Guter Stil sieht
mit Sicherheit anders aus.
Wieder zurück zum Gesetzentwurf. Obwohl gerade
die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern
beim Thema NSU nahezu vollständig versagt haben und
auch die V-Leute nichts gebracht haben oder deren Informationen aus Quellenschutzgründen zurückgehalten
wurden, soll das Bundesamt nunmehr mit 261 zusätzlichen Planstellen de facto belohnt werden. Das kostet
17 Millionen Euro. Dem werden wir definitiv nicht zustimmen.
({7})
Zudem - dies hatte hier schon eine Rolle gespielt soll die Begehung von Straftaten von V-Leuten künftig
offiziell ermöglicht und gegebenenfalls von der Verfolgung durch Staatsanwaltschaften freigestellt werden. Ich
frage: Wo sind wir eigentlich hingekommen? Wir wissen
aus dem NSU-Skandal - Frau Pau hat das erwähnt -,
dass selbst wegen versuchten Totschlags verurteilte Personen vom Verfassungsschutz als Spitzel angeworben
wurden. Die Bundesregierung will das nun auch noch
per Gesetz zulassen. Herr Kollege Mayer, der Fall
„Piatto“ könnte sich aufgrund der von Ihnen vorgesehenen gesetzlichen Ausnahmeregelung betreffend den Behördenleiter wiederholen.
({8})
Natürlich soll die Zusammenarbeit bei schweren
Straftaten beendet werden, wenn es um eine Haftstrafe
von mehr als einem Jahr und ohne Bewährung geht. Das
ist aber nur als Sollvorschrift festgehalten, und es gibt
die besagte Ausnahme. Wenn man schon eine solche Regelung betreffend den Behördenleiter aufnimmt - was
wir für falsch halten -, dann sollte man aber zumindest
festlegen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium
des Bundestages unterrichtet werden muss; denn das
Behördenhandeln und die Entscheidungen des Behördenleiters müssen kontrolliert werden. Hier fehlt eine
entsprechende Regelung. Das bedarf dringend der Korrektur.
({9})
Die Redezeit reicht leider nicht, um alle Kritikpunkte
anzuführen. Fazit: Das Gesetz löst keine Probleme, sondern schafft neue. Deshalb kann der Entwurf nicht unsere Zustimmung finden.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Kollege
Uli Grötsch von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In diesen Tagen gedenken wir alle der unzähligen Menschen, die den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg
zum Opfer gefallen sind. In vielen Orten in Deutschland
finden auch an diesem Wochenende Gedenkveranstaltungen anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der
Konzentrationslager statt, so auch bei mir zu Hause in
der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Es ist mir wichtig,
dies auch in dieser Debatte einleitend zu sagen: Wir alle
haben die große Verantwortung und auch die Verpflichtung gegenüber den Opfern des Holocaust, dass sich so
etwas niemals wiederholt.
({0})
Um es mit den Worten von Max Mannheimer, einem
Überlebenden des Holocaust und einem wichtigen Zeitzeugen, zu sagen:
Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah.
Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.
Im Jahr 2011 mussten wir mit unsagbarer Fassungslosigkeit feststellen, dass die Neonazi-Szene in Deutschland größer, besser vernetzt und viel brutaler ist, als wir
alle es uns jemals hätten vorstellen können. Was aber
mindestens genauso schlimm ist, ist die Tatsache, dass
der Nationalsozialistische Untergrund erst so spät aufgedeckt wurde. Ich denke, alle Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land, jeder hier in diesem Haus und im Besonderen die Mitglieder der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse haben sich gefragt, wie das eigentlich
passieren konnte. Schließlich haben wir gleich mehrere
Behörden, die eben genau solche schrecklichen Gewalttaten wie die des NSU verhindern sollen. Gerade der
Verfassungsschutz hat im Bund und in den Ländern an
vielen Stellen ganz klar und auch unbestritten versagt.
Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
da kann man sich schon fragen, ob der nachrichtendienstlich arbeitende Verfassungsschutzverbund aufgelöst werden sollte, so wie Sie es in Ihrem Antrag fordern.
({1})
Ich sage aber: Wir brauchen das Bundesamt für Verfassungsschutz, gerade weil wir es in Deutschland mit
immer mehr im Untergrund agierenden Organisationen
der verschiedensten Strömungen und Ausprägungen zu
tun haben, die wir in den Griff bekommen müssen. Eine
Koordinierungsstelle, die lediglich die Aufgabe hat, Unterlagen zu sammeln, ohne handlungsfähig zu sein,
reicht da nicht aus. Transparente Beratung allein wird
nicht genügen.
({2})
Nein, die Lösungen, die Sie hier vorschlagen, führen
nach unserer Überzeugung nicht zu einem effektiveren
Verfassungsschutz. Das BfV hat sehr wohl seine Daseinsberechtigung. Ja, ich halte es in Deutschland für unverzichtbar, und ich halte es im Grunde für eine Behörde
mit höchster Intelligenz. Schwarz-Weiß-Denken hilft
uns auch in diesem Bereich nicht weiter.
({3})
Aber - das sage ich auch ganz deutlich - das BfV muss
aus seinen Fehlern lernen und daraus Lehren ziehen.
({4})
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die 47 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses noch in
dieser Legislaturperiode umzusetzen. Ich bin der festen
Überzeugung, dass wir uns dahin gehend auf einem sehr
guten Weg befinden.
({5})
Die bereits umgesetzten Handlungsempfehlungen zeigen, wie ernst die Große Koalition und wie ernst alle
Abgeordneten, die sich ernsthaft und sachlich mit dieser
Materie befassen, die Ergebnisse aus dem Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses nehmen.
Einer der wichtigsten Bausteine ist dabei meines Erachtens die Reform des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Deshalb begrüße ich ganz ausdrücklich den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der
Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes,
um den es hier heute geht. Im NSU-Untersuchungsausschuss hat sich gezeigt, dass die einzelnen Behörden ungenügend oder schlichtweg gar nicht zusammengearbeitet haben. Fast täglich hören wir inzwischen aus den
NSU-Untersuchungsausschüssen der Länder oder aus
dem Gerichtsverfahren in München, wie schlecht der
Austausch von Informationen tatsächlich abgelaufen ist
und wie Berichtspflichten regelrecht ignoriert wurden.
Erst vorgestern hat sich in München bei der Aussage des
sächsischen Verfassungsschutzpräsidenten wieder einmal gezeigt, wie unzureichend der Informationsfluss
zwischen den einzelnen Behörden war. Es ist also notwendig - und ich finde es auch richtig -, dass im Zuge
der Reform die Zentralstellenfunktion des BfV gestärkt
wird und ein effektiver Informationsaustausch unumgänglich wird.
({6})
Konkurrenzdenken und Eitelkeiten, wie sie der Untersuchungsausschuss zum Teil festgestellt hat, müssen endlich passé sein und dürften damit auch passé sein.
Eine zweite zentrale Änderung wird beim Einsatz der
V-Leute vorgenommen, oder, besser gesagt, der Einsatz
wird überhaupt erst geregelt; meine Vorredner haben
schon darauf hingewiesen. Im Gegensatz zu meinen
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bin ich für
den Einsatz von V-Leuten. Viele Informationen aus der
Szene sind nur durch geheime Quellen, durch Insider
also, zu erlangen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir
ohne die V-Leute so direkte Einblicke in die Szene bekommen sollen.
({7})
Aber wie schon erwähnt, der Einsatz muss auf einer
Rechtsgrundlage beruhen, und das wird zukünftig auch
so sein. Es muss unmissverständlich klar sein, dass die
angeworbenen Personen dem Staat dienen und sich dementsprechend verhalten müssen. Auch wenn es sich im
ersten Moment vielleicht eigenartig anhören mag, sage
ich: V-Personen müssen unter dem Strich innere Sicherheit produzieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Ob und inwieweit die Regelungen zum Einsatz von
V-Leuten im Gesetzentwurf ausreichen, das müssen wir
jetzt im weiteren parlamentarischen Verfahren sehr genau prüfen. Ich danke Ihnen, Herr Bundesinnenminister
de Maizière, dass Sie bereits heute weitere Gesprächsbereitschaft angekündigt haben. Ich persönlich hätte mir
noch strengere Regelungen zur Einsatzbefugnis von
V-Leuten gewünscht. Die Einbindung der G 10-Kommission halte ich hier nach wie vor für sinnvoll.
Ich wünsche mir mehr Transparenz und einen echten
Mentalitätswechsel. Der Schlapphut, liebe Kolleginnen
und Kollegen, muss endlich im Kleiderschrank verstaut
werden.
({9})
Dazu gehört - auch wenn sich das bei einem Geheimdienst vielleicht etwas eigenartig anhören mag - eine
verbesserte Öffentlichkeitsarbeit. Noch wichtiger ist, innerhalb des BfV für mehr Sensibilität und Kommunikation zu sorgen; denn bei den Fehlern rund um den NSU
handelt es sich ja nicht nur um mangelnden Informationsfluss zwischen den Behörden. Auch innerhalb der
Behörden gab es - man muss es so offen sagen - ein echtes Problem der Wahrnehmung von gefährlichen Tätern.
Um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den
Verfassungsschutz wiederherzustellen, ist die geplante
Reform natürlich nicht alles. Aber sie ist ein erster wichtiger Schritt. Ich möchte sagen: Das ist auf diesem Weg
ein wahrer Meilenstein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Zum Ende meiner Rede möchte ich sagen, dass wir
die Reformprozesse, die im Bundesamt für Verfassungsschutz in den letzten Jahren in Gang gesetzt wurden,
durchaus zur Kenntnis nehmen; auch das darf hier einmal gesagt werden. Aber sie dürfen nicht ins Stocken geraten. Das muss ein kontinuierlicher Prozess sein, bei
dem der Deutsche Bundestag das Bundesamt für Verfassungsschutz im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle und der Gesetzgebung begleiten muss und auch
begleiten wird. Wir Parlamentarier können nur einen gesetzlichen Rahmen schaffen, in dem sich das Bundesamt
für Verfassungsschutz dann bewegen muss. Für ein echtes Umdenken, für einen Mentalitätswechsel im Denken
und Tun ist das BfV selbst zuständig. Um am Ende
nochmals auf das eingangs erwähnte Zitat von Max
Mannheimer zurückzukommen: Auch das BfV ist vor allem selbst dafür verantwortlich, dass Derartiges wie in
der Vergangenheit in Zukunft nie wieder passiert.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Irene
Mihalic von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor drei Jahren hat die Bundeskanzlerin den
Familien der NSU-Opfer versprochen, alle zuständigen
Behörden in Bund und Ländern würden mit Hochdruck
an der Aufklärung arbeiten. Heute wissen wir, wie dieser
Hochdruck aussieht. Fast jeden Tag tauchen neue Fragen
und Widersprüche auf, aber nicht etwa weil sie von den
Sicherheitsbehörden aufgedeckt wurden, sondern weil
sie durch Untersuchungsausschüsse und den unablässigen Einsatz von zivilgesellschaftlichen Initiativen,
Journalisten, Wissenschaftlern und Vertretern der Nebenklage im Münchener NSU-Prozess aufgedeckt werden. Ihnen allen kann man gar nicht genug danken.
({0})
Aber nicht nur bei der Aufklärung tritt die Bundesregierung auf der Stelle. Auch bei den Konsequenzen aus
dem NSU-Skandal geht es einfach nicht voran. Deshalb
waren wir alle sehr gespannt auf diese große Verfassungsschutzreform, die uns angekündigt wurde. Wir haben ja eigentlich nicht zu hoffen gewagt, dass Sie tatsächlich eine grundsätzliche Zäsur und einen Neustart
wagen, so wie wir Grüne uns das eigentlich immer vorgestellt haben. Aber ein paar echte Reformanstöße hätte
ich nach all den Erkenntnissen doch schon erwartet.
({1})
Einer Ihrer wichtigsten Punkte ist die Stärkung der
Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Was Sie dabei von den Reformen in den
Ländern halten, haben Sie schon deutlich gemacht - das
machen Sie auch mit dem Gesetzentwurf allzu deutlich -, nämlich gar nichts. Jedenfalls erschließt sich mir
nicht, wie Sie die Länder für Ihren Ansatz gewinnen
wollen. Inhaltlich finde ich es grundsätzlich richtig, dass
der Bund versucht, das Handeln aller Verfassungsschutzämter, so gut es geht, zu koordinieren;
({2})
denn der mangelnde Informationsaustausch war ja eines
der zentralen Probleme beim NSU. Aber wenn ich nun
in Gesprächen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz höre, dass zum Beispiel in Sachen V-Leute-Register - auch einer der Reformschritte - nicht vorgesehen ist, die Klarnamen der V-Leute zentral zu erfassen,
um auszuschließen, dass diese in den Ländern oder beim
Bund doppelt abkassieren, und dass es bei diesem Register eigentlich nur darum geht, Quellenlücken zu schließen, dann muss ich ganz klar feststellen: Ihnen fehlt dabei jegliches Problembewusstsein.
({3})
Denn das Problem des V-Leute-Einsatzes rund um den
NSU war ja nicht etwa die mangelnde Quellendichte
- V-Leute gab es ja reichlich -, sondern, dass dieser völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Nur, daraus ziehen Sie
keinerlei Konsequenzen.
({4})
Herr Lischka, als Sie sich mit Frau Högl im Januar für
eine echte Reform des Verfassungsschutzes ausgesprochen haben, hatte man noch etwas Anlass zur Hoffnung.
Sie haben damals in Ihrem Papier immerhin ein paar
ganz klare Kriterien für den V-Leute-Einsatz formuliert.
Da Sie diese Regierung mittragen, habe ich gehofft, dass
Sie die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs entsprechend
beeinflussen werden. Doch offensichtlich hat sich der
Bundesinnenminister für Ihr Papier überhaupt nicht interessiert; denn Regelungen für die Einsatzdauer von
V-Leuten findet man im Gesetzentwurf zum Beispiel
nicht. Kriterien zur Führung von V-Leuten? - Fehlanzeige! Regeln, die wirksam verhindern, dass schwere
Straftäter eingesetzt werden? - Fehlanzeige! Denn im
Zweifelsfall entscheidet eben der Behördenleiter, und es
gilt auch nur grundsätzlich. Herr Mayer, auch wenn Sie
hier gebetsmühlenartig wiederholen, wie „grundsätzlich“ zu verstehen ist: Es steht so nicht im Gesetz, und
das ist der Fehler.
({5})
Da muss ich einfach feststellen: Die Bundesregierung
hat offensichtlich gar nichts aus den Fehlern gelernt, die
bei den „Piattos“ und Tino Brandts dieser Welt sowie bei
anderen V-Leuten gemacht wurden, und nicht verstanden, dass der Staat dadurch rechtsextreme Strukturen
mindestens mitfinanziert und somit aufgebaut hat. Allen
Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, die intensiv an
der NSU-Aufklärung mitgearbeitet haben und das noch
heute tun, muss es doch in der Seele wehtun, dass die
Bundesregierung an diesem Problem so völlig vorbeiläuft.
({6})
Deshalb bitte ich Sie dringend, jetzt im Gesetzgebungsverfahren nicht lockerzulassen. Lassen Sie sich mit diesem Gesetzentwurf nicht abspeisen! Sorgen Sie mit uns
gemeinsam dafür, dass eine echte Reform des Verfassungsschutzes auf den Weg gebracht wird.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Tankred
Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses. Wir haben den tadellosen Entwurf eines
Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes vor uns liegen. Ich bin ein ganzes
Stück weit entsetzt über die Empörungsrhetorik, die hier
vonseiten der Grünen und der Linken bei einem so sensiblen Thema dargeboten wird.
Meine Damen und Herren, noch nie haben eine Bundesregierung und ein Parlament so planvoll und detailliert auf Ergebnisse eines Untersuchungsausschusses reagiert und seine Empfehlungen umgesetzt.
({0})
Lassen Sie mich einmal den Gesamtkontext und die Zeitenfolge in Erinnerung rufen. Am 26. Januar 2012 haben
alle fünf Fraktionen dieses Hohen Hauses den NSU-Untersuchungsausschuss eingesetzt. Bereits als der Ausschuss tagte bzw. arbeitete, gab es erste gesetzgeberische
Maßnahmen. Entsprechende Stichworte wurden heute in
der Debatte schon genannt: Errichtung des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums sowie die Errichtung der gemeinsamen Verbunddatei gegen Rechtsextremismus. Alle fünf Fraktionen dieses
Hohen Hauses haben in der letzten Legislaturperiode
- am 23. August 2013 - 50 Handlungsempfehlungen
vorgelegt. Am 2. September 2013 debattierten wir dann
über diese unter den Augen der Angehörigen der Opfer
des NSU und des Bundespräsidenten. Unser Parlament
hat die Handlungsempfehlungen in der 18. Legislaturperiode am 20. Februar letzten Jahres noch einmal bekräftigt. Der Schlüsselbegriff in der damaligen Debatte war
„Änderung der Arbeitskultur unserer Sicherheitsbehörden“. Am 26. Februar 2014 legte die Bundesregierung
ihren Umsetzungsbericht vor, der an Transparenz und
Klarheit nicht zu überbieten ist. Dieser Umsetzungsbericht ist wie eine To-do-Liste gegliedert. Er stellt für uns
ein hervorragendes parlamentarisches Monitoring dar.
Am 5. November letzten Jahres gab es die Debatte zum
dritten Jahrestag der Aufdeckung des NSU. Am 14. November letzten Jahres wurde der Gesetzentwurf des Justizministeriums - Kollege Mayer hat es angesprochen mit den wesentlichen Änderungen vorgelegt, die wir
vorgenommen hatten.
Heute findet folgerichtig die Debatte über ein Gesetz
statt, welches die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden optimieren wird und klare Standards für ihre Arbeit
festsetzt. Das nenne ich vorbildliche Parlaments- und
Regierungsarbeit. Dies hat nichts mit einem Peitschen
durch das Parlament zu tun, sondern das ist Diskutieren
und Debattieren, wie es sich für einen Deutschen Bundestag gehört.
({1})
Ich kann - genauso wie meine Kollegen - nur dazu
aufrufen, dass sich alle Beteiligten bzw. Verantwortlichen - allen voran auch die in den Ländern - genauso
vorbildlich verhalten, wie es Legislative und Exekutive
im Bund tun. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf betrifft meines Erachtens den Kernbereich - ich möchte sagen: das Herzstück - der Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses in der letzten Legislaturperiode.
Bereits in der Sachverständigenanhörung zur deutschen Sicherheitsarchitektur am 29. März 2012 stellten
wir uns die Frage, ob es nicht vielmehr eine Unsicherheitsarchitektur ist. Die Sachverständigen zeigten uns
Zuständigkeitsvielfalt und Kompetenzkonflikte auf. Sie
zeigten uns eine Informationskultur und Informationsverteilung der Nachrichtendienste auf, welche von einer
Risiko-, Geheimnis- und Abschottungskultur geprägt
war. Es ist umso dramatischer, dass sich all das, was in
der Theorie bekannt war, dann wirklich bei der NSUVerfolgung bestätigt hat.
Mehr noch: Die Werthebach-Kommission stellte in
ihrem Abschlussbericht mit dem Titel „Signale für eine
neue Sicherheitsarchitektur“ im Dezember 2010 - also
noch vor der Aufdeckung des NSU - fest:
Eine erfolgreiche Sicherheitspolitik - insbesondere
in einem föderal organisierten Staat - setzt eine intensive Kooperationsbereitschaft der Sicherheitsbehörden voraus. Diese spiegelt sich gerade in Informationspflichten auf allen Ebenen wider. Viele
Defizite in der Zusammenarbeit der Behörden entstehen durch unzureichende Information und Kooperation.
Meine Damen und Herren, genau diese Erkenntnisse
der Werthebach-Kommission aus dem Jahr 2010 und die
Erkenntnisse des NSU-Untersuchungsausschusses aus
dem Jahr 2013 greift nun der Gesetzentwurf, über den
wir in erster Lesung beraten, auf. Ich möchte jetzt nicht
in die juristische Debatte einsteigen. Die juristischen
Feinheiten können Sie - Kollege Ströbele hat das schon
gemacht - in der Gesetzesbegründung nachlesen. Ich
möchte einfach drei Schlüsselbegriffe herausgreifen.
§ 5 Bundesverfassungsschutzgesetz. Es gibt eine
klare Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz und dem Bundesamt für
Verfassungsschutz. Wir haben jetzt eine Reservezuständigkeit - das wurde angesprochen -, und das BfV wird
erstmalig als Zentralstelle bezeichnet, die eine Koordinierungsfunktion wahrnehmen kann. Erstmalig bekommt diese Zentralstelle auch eine Unterstützungsfunktion für die Landesämter als gesetzliche Aufgabe
zugewiesen. Der Kollege von der SPD sagte es bereits:
Das ist ein Meilenstein.
§ 6 Bundesverfassungsschutzgesetz. Dort werden gegenseitige Unterrichtungsregeln aufgestellt und zusammengefügt. Relevante Informationen müssen nunmehr
zwischen den Verfassungsschutzbehörden ausgetauscht
werden; das ist verpflichtend. Eine gemeinsame Datei,
eine gemeinsame Software von allen Landesämtern und
dem Bundesamt für Verfassungsschutz - der Name fiel
schon -, NADIS, ist unerlässlich und wichtig. Ich habe
mir das im Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen angesehen. Natürlich wird damit die Analysefähigkeit des Verfassungsschutzes stark und richtigerweise
ausgebaut. Daher kann man das nur vollumfänglich begrüßen. Das ist wiederum ein Meilenstein, von dem die
Polizei noch ein ganzes Stück entfernt ist.
Die IMK hat 2012 beschlossen, auch für die Polizei
einen Informations- und Analyseverbund namens PIAV
einzurichten. Leider Gottes lässt er noch auf sich warten.
Daher lautet meine herzliche Bitte in dieser Debatte, dieses Verbundsystem entschieden voranzutreiben.
§§ 9 a und 9 b wurden schon angesprochen. Es geht
um verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute, ein wichtiges nachrichtendienstliches Mittel. Hier führen wir
zum ersten Mal gesetzliche Mindeststandards ein. Die
Vorgaben des NSU-Untersuchungsausschusses werden
faktisch eins zu eins umgesetzt. Hier erhalten sie im Zusammenhang mit V-Leuten sogar Gesetzesrang. In anderen Bereichen unserer föderalen Ordnung wie dem Bildungsbereich sind wir davon noch weit entfernt. Die
Kultusministerkonferenz diskutiert seit Jahrzehnten
Standards, Koordinierung, Zentralstellen und verpflichtende Zusammenarbeit. All das verwirklicht dieses Gesetz für den Bereich der inneren Sicherheit. Das ist für
unseren föderalen Staat sehr wichtig und sehr gut.
Meine Damen und Herren, umso beunruhigter bin ich
von dem - das wurde schon angesprochen -, was in einzelnen Bundesländern passiert. Einzelne Bundesländer
leisten keinen Beitrag zur Sicherheitsarchitektur. Sie
verstoßen im weitesten Sinne gegen den Grundsatz der
Bundestreue und der Amtshilfe. Aus ideologischen
Gründen werden V-Leute abgeschafft bzw. abgeschaltet.
Somit wird im Freistaat Thüringen die Sicherheit der
Bürgerinnen und Bürger gefährdet. Thüringen begibt
sich in eine Isolation im gesamtdeutschen Sicherheitsverbund. Mich entsetzt auch, dass nach zwei Jahren
konsensualer Arbeit mit Blick auf die Umsetzung der
Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses die
Grünen von diesem gemeinsamen Pfad abweichen, sich
den Linken anschließen und erklären: V-Leute, das ist
ganz furchtbar. - Sie wollen im weitesten Sinne sogar
die Sicherheitsorgane abschaffen. Das ist schon sehr
überraschend.
Wir haben den V-Mann „Piatto“ in dieser Debatte angesprochen; die Kollegin Pau hat ihn erwähnt. Ich will
einmal anführen, was der Zeuge Meyer-Plath im Untersuchungsausschuss gesagt hat: Im Jahre 1994 gab es in
Brandenburg faktisch keine V-Leute. Die in Brandenburg vorhandenen Erkenntnisse waren nur Nebenprodukte
anderer Behörden. Durch den Einsatz von V-Leuten eröffneten sich erstmals Einblicke in die extremistischen
Strukturen, in Brandenburg, im Bund und international.
Das Lagebild verbesserte sich. Es war ein Quantensprung. Ähnliches berichteten auch andere Zeugen.
Durch den Einsatz von V-Leuten wurde man sehend, wo
man vorher blind war. Natürlich war es katastrophal, für
welchen V-Mann man sich entschieden hat; das ist völlig
richtig.
Aber warum? Weil man vorher überhaupt keine VLeute hatte, war man darauf angewiesen, einen solchen
Mann wie diesen Carsten S. zu nehmen. Das ist nicht
richtig. Das jetzt vorliegende Gesetz - wir sollten daran
denken, dass hier eine Ermessensausübung der Behördenleitung vorgesehen ist - würde das letztlich ein ganzes Stück weit verhindern.
({2})
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich finde die Wortwahl, die die Grünen und die Linken heute in den Anträgen und in der Debatte mit Blick auf die V-Leute wählen, unangemessen.
({3})
- Nein, nein, Herr Ströbele.
Ich kann nur sagen: Die Koalition setzt weiterhin die
50 Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses
eins zu eins um. Wir werden uns der sachlichen, notwendigen Arbeit weiter stellen und uns durch die von der
Opposition vorgelegten Anträge nicht vom richtigen
Weg abbringen lassen.
({4})
Wir stärken die Sicherheitsarchitektur in unserem föderalen Bundesstaat. Ein herzliches Dankeschön geht an
die Innenminister von Bund und Ländern, die auf der Innenministerkonferenz 2012 faktisch den Grundstein für
dieses Gesetz gelegt haben. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen im Bundestag.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Wolfgang
Gunkel von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner meiner Fraktion und als später Redner in der
Debatte ist es natürlich unheimlich schwierig, nun nicht
alles zu wiederholen, was die Vorredner schon gesagt
haben.
({0})
Herr Schipanski, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf
ein Problem aufmerksam gemacht haben, was die Polizeibehörden anbelangt. Ich als ehemaliger Polizeibeamter habe natürlich großes Interesse daran, dass die Polizei nicht gegenüber dem zurücksteht, was andere
Behörden für sich in Anspruch nehmen.
Ich glaube aber auch - das hat der Minister in seiner
Rede sehr schön gesagt -, dass nicht nur der Gesetzestext von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch,
was die Personen tun, wie sie das ausfüllen und wie das
gehandhabt wird. Ich glaube nach wie vor: Der NSUSkandal basiert in erster Linie auf einem riesigen Kommunikationsproblem beim Gedanken- bzw. Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei.
An dieser Stelle muss ich sagen: Die Bundesrepublik hat
schon seit Jahren das Problem, dass diese beiden Behörden sehr häufig
({1})
nebeneinanderher gearbeitet haben und ihr Verhältnis
nicht gerade von gegenseitigem Vertrauen geprägt war.
Das hat auch seine Gründe, warum das so ist.
Ich nenne nur ein Beispiel: Wenn man als Polizeibeamter Verantwortung trägt, eine Einsatzbewältigung vor
sich hat und dann am Freitagnachmittag um 15 Uhr irgendeine Horrormeldung präsentiert bekommt, die vom
Verfassungsschutz stammt und die niemand mehr verifizieren kann, weil man nicht rückfragen kann, man also
nicht nachvollziehen kann, was die Quelle ist, dann weiß
man: Es ist dreimal besser, wenn die Polizei ihre eigene
Aufklärung betreibt. Das hat mir dann immer weitergeholfen; denn ich habe dann die Informationen bekommen, die nötig waren, um eine Einsatzlage zu bewältigen.
Nichtsdestotrotz: Was hier jetzt erarbeitet worden ist,
ist Ausfluss und Umsetzung der Folgerungen, die der
NSU-Untersuchungsausschuss gezogen hat; und das
finde ich richtig. Ich kann also keineswegs erkennen,
warum man die Informationsquelle Verfassungsschutz
nun unbedingt abschalten muss oder außer Kraft setzen
sollte. Mit den jetzt vorgesehenen Änderungen lehnt
man sich ja auch ein bisschen an die Regelungen an, die
das BKA-Gesetz vorsieht. Wir haben dem BKA in der
16. Legislaturperiode weitreichende Kompetenzen bei
der Terrorismusbekämpfung eingeräumt, indem es erstmalig ermöglicht wurde, die Ermittlungen der Länder
zusammenzufassen und zu leiten. Hier geschieht Ähnliches, jedoch nur auf dem Informationsweg, also indem
Informationen zusammengefasst und über die Länder
koordiniert werden.
Was mich an dem Gesetzesentwurf ein klein wenig
stört - Herr Minister, ich würde gerne darüber diskutieren -, ist die Frage der verdeckten Mitarbeiter, die im
neuen § 9 a Absatz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes geregelt werden soll. Die verdeckten Mitarbeiter
wären mit den verdeckten Ermittlern der Polizei vergleichbar. Deren polizeiliche Tätigkeiten sind sehr stark
normiert und geregelt, nämlich im Zusammenhang mit
der Strafverfolgung in § 110 a der Strafprozessordnung,
wo klar festgelegt wird, zu welchem Zwecke verdeckte
Ermittler eingesetzt werden sollen und dass Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft herzustellen ist. Das
heißt, sie können nicht frei operieren. Als Vollzugsbeamte sind sie zusätzlich auch noch an § 163 StPO gebunden, sie müssen also Strafverfolgung betreiben und dürfen nicht selbst unbegrenzt Straftaten begehen; es ist
ihnen nicht einmal gestattet, solche zu begehen. An dieser Stelle sieht man ganz deutlich, dass das ein begrenzter Auftrag ist.
Was verdeckte Tätigkeiten im Verfassungsschutz bedeuten, ist mir nicht so ganz klar, insbesondere nicht, wo
da die Grenzen liegen. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt es, dass eine Trennung zwischen Nachrichtendienst und Polizei nach wie vor erforderlich ist
und auch grundgesetzkonform ist. Die Polizei wäre
durchaus in der Lage, verdeckte Ermittlungen zu erledigen, aber man ist an die entsprechenden Regelungen gebunden; und das wollen wir so beibehalten. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das sonst zu sehr großem
Behördenballast führt und dass die Befugnisse Einzelner
dann weit über das hinausgehen, was unsere Rechtsordnung vorsieht.
({2})
- Danke für den Beifall.
Die Begründung des Entwurfs ist aus meiner Sicht ein
bisschen verschwurbelt, Herr Schipanski. An der Stelle
würde ich gerne noch einmal nachforschen. Ich kann
nicht erkennen, was im Einzelnen gemeint ist, und das
stört mich ein wenig. Ansonsten kann ich den vorliegenden Gesetzentwurf nur unterstützen.
Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Die Linkspartei, die sonst relativ gute Vorschläge macht
({3})
- ich habe mir die Punkte aufgeschrieben, damit ich sie
zitieren kann -, fordert die Umwandlung des BfV in eine
„Koordinierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, die aber keine Ermittlungen führen oder sich irgendwo Informationen besorgen
darf. Sie darf im Grunde nichts machen. Wir hätten dann
noch mehr beamtete Zeitungsleser; davon haben wir
aber schon genug.
({4})
Ich glaube, jeder Lagedienst kann diese Aufgabe übernehmen und die Ergebnisse entsprechend auswerten.
Des Weiteren fordern Sie eine Bundesstiftung zur Beobachtung und Erforschung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Damit schaffen Sie eine weitere Behörde, die parallel zu der gerade genannten arbeitet.
Diese könnte letzten Endes keinerlei Informationen liefern, die für die konkrete Arbeit der Verfassungsschutzämter und vor allen Dingen der Polizei, die ja nach wie
vor Strafverfolgungsbehörde ist, wichtig wären. Das
Ganze ist also, wie ich glaube, sehr abgehoben, und hat
nur im Sinn, den Begriff Verfassungsschutz zurückzudrängen.
In Thüringen bricht nun nicht gleich die Welt zusammen, weil Sie dort ein paar V-Leute abschalten, aber ich
halte das nicht für richtig. Die Zukunft wird zeigen, wie
sich das Ganze entwickelt.
({5})
- Das muss man abwarten. Ich will nicht vorwegnehmen, was da passiert.
({6})
Vielleicht machen sie es ja indirekt auf andere Art und
Weise, etwa so wie das die Grünen formuliert haben.
Die Grünen haben in ihrem Antrag sehr gute Anhaltspunkte herausgearbeitet, die ich durchaus teilen kann.
({7})
Ich möchte insbesondere einen Aspekt aus Ihrem Antrag
aufgreifen: Die beste Voraussetzung für Terrorbekämpfung ist eine gut ausgebildete und ausgestattete Polizei. Diesbezüglich haben Sie meine volle Zustimmung.
({8})
- Moment, nicht alles. - Aber letztendlich kommen auch
Sie zu dem Schluss - es erscheint mir ein bisschen sehr
krampfhaft, wie Sie unbedingt dies sagen wollen -: Wir
wollen den Verfassungsschutz nicht mehr. Sie wollen
stattdessen eine „Inlandsaufklärung“, also eine Stelle,
„die Spionageabwehr und die Aufklärung genau bestimmter gewaltgeneigter Bestrebungen“ leisten soll.
Nun weiß ich nicht, was „genau bestimmte gewaltgeneigte Bestrebungen“ sind. Sie sollten einmal genauer
erklären, was man darunter verstehen soll. Im Wesentlichen ist das, etwas abgespeckt, auch eine Tätigkeit, die
man im Prinzip mit Aufklärung und nachrichtendienstlicher Gewinnung in Zusammenhang bringen kann; es
wird nur etwas anders genannt.
Wir als Regierungskoalition können also beiden Anträgen nicht zustimmen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist, unter Berücksichtigung der Ausnahmen,
die ich genannt habe, meiner Ansicht nach im Großen
und Ganzen gelungen. Der Minister hat angedeutet, dass
darüber noch diskutiert werden kann. Ich hoffe, dass wir
den einen oder anderen Punkt noch einarbeiten können.
Ein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte,
sind die sogenannten V-Leute. Jeder weiß - die Landesgesetze geben es her -, dass auch die Polizei Vertrauensleute einsetzt. Ich befürchte, dass sich dann, wenn solche
Einsätze im Übermaß gefördert werden, die V-Leute von
Polizei und Verfassungsschutz gegenseitig umrennen.
Man müsste schon dafür Sorge tragen, dass die eine Behörde von der anderen Behörde weiß, was jeweils die
andere im Einzelnen beabsichtigt. Man kann in der Tat
auf die V-Leute nicht verzichten, aber es darf zu keiner
Doppelbelegung kommen und erst recht nicht dazu, dass
die Arbeit der einen Behörde die Arbeit der anderen
praktisch aufhebt. Ich denke, dass man diesen Punkt beachten sollte. Von daher: Information und Kommunikation sind eigentlich alles. Die Menschen, die in diesem
Bereich arbeiten, sollten eigentlich die Leistungsträger
bei der Terrorismusbekämpfung sein.
Da meine Zeit abläuft, möchte ich es dabei belassen.
({9})
Ich hoffe, dass die Gesetze, die demnächst beschlossen
werden, zu dem Ergebnis führen, das wir alle uns erhoffen.
Schönen Dank.
({10})
Die Redezeit war abgelaufen, aber nicht deine Zeit,
lieber Wolfgang.
({0})
Hans-Christian Ströbele spricht als nächster Redner
für Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Minister, es stimmt,
dass wir uns in der letzten Legislaturperiode in diesem
Hause einig waren, dass man die Neonazis, die Nationalsozialisten, und zwar nicht nur die im Untergrund, bekämpfen muss. Wir hatten uns auch vorgenommen, vieles gemeinsam zu machen. Diesen Weg verlassen Sie
jetzt, indem Sie hier einen Gesetzentwurf vorlegen, mit
dem Sie, sofern Sie überhaupt etwas regeln, nur Regeln,
die es bisher in Form von Verwaltungsvorschriften gab
oder die in Übung waren, ins Gesetz schreiben.
({0})
Damit werden diese Regeln aber nicht besser. Damit verhindern Sie so schreckliche Straftaten wie die, die hier
zehn Jahre lang verübt worden sind, nicht.
Vielleicht muss ich erst einmal mit dem Begriff aufräumen: Vertrauensleute sind nicht Leute, die Vertrauen
verdienen. Sie haben gesagt, man müsse keine Sympathie für diese Leute empfinden. Kollege Lischka hat gesagt, das müssen keine sympathischen Leute sein. Aus
den Reihen der SPD wurde dann aber sogar gesagt, man
solle den V-Leuten die Sicherheit in diesem Staate anvertrauen.
({1})
Darf ich Sie darauf hinweisen, dass es sich bei diesen
V-Leuten, um die es hier geht, die diese schrecklichen
Verbrechen mit möglich gemacht haben - auch das Versagen bei der Führung dieser V-Leute hat daran natürlich
Anteil -, um Rechtsextreme, Rassisten, Neonazis und
bekennende Nationalsozialisten gehandelt hat? Ich will
doch die Sicherheit in diesem Land nicht solchen Leuten
anvertrauen. Wo kämen wir denn da hin?
({2})
Sie dürfen ebenfalls nicht übersehen - das konnte man
sogar im Fernsehen sehen -, dass Leute wie „Piatto“, Tino
Brandt oder „Corelli“ nicht nur irgendwelche Informationen geliefert haben, sondern bei Demonstrationen und
Kundgebungen auch die führenden Einpeitscher der
Neonazis gewesen sind. Man konnte sehen, wie sie sich
am Mikrofon aufgespielt und Leute aufgehetzt haben.
Und denen wollen Sie die Sicherheit in diesem Lande
anvertrauen? Das ist ein unmöglicher Gedankengang.
({3})
Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Hätte es
geholfen, wenn das, was Sie jetzt vorgelegt haben, schon
damals Gesetz gewesen wäre?
({4})
Tino Brandt - er ist ja jetzt wieder in Haft genommen
worden - hat sich gerühmt, dass er die vielen Hunderttausend Euro für die Organisation, für den Thüringer
Heimatschutz eingesetzt hat.
({5})
Wäre das durch so ein Gesetz verhindert worden? Nein!
- Gegen Tino Brandt liefen 35 strafrechtliche Ermittlungsverfahren, von denen nicht ein einziges zu einem
Prozess, geschweige denn zu einer Verurteilung geführt
hat. Würde das jetzt anders sein? Nein!
Mit diesem Gesetz schaffen Sie quasi eine gesetzliche
Grundlage, um V-Leute, die während ihrer Einsatzzeit
als V-Leute Straftaten begehen, dafür nicht strafrechtlich
zur Rechenschaft zu ziehen. Sie geben dem Staatsanwalt
die Möglichkeit, das Verfahren einzustellen. Was bisher
halblegal, im Verborgenen passiert ist, stellen Sie jetzt
auf eine gesetzliche Grundlage.
Nehmen Sie „Piatto“. „Piatto“ war nicht nur ein wegen eines grauenhaften Mordversuches Verurteilter. Er
ist trotzdem nicht nur angeworben worden, sondern ihm
wurde auch noch die Möglichkeit gegeben, aus dem Gefängnis in Brandenburg heraus Neonazi-Zeitschriften
wie Der Weiße Wolf herauszugeben. Als die Gefängnisleitung eingeschritten ist, hat der Verfassungsschutz gesagt: Unser Mann muss weiterarbeiten können,
({6})
den holen wir weiter täglich mit dem Dienstwagen ab
und fahren ihn zum nächsten Neonazi-Treff.
({7})
Wäre so etwas ausgeschlossen, wenn Ihr Gesetz in Kraft
tritt?
({8})
Das wäre doch nicht ausgeschlossen, Herr Minister. Wie
soll dieses Gesetz dagegen helfen?
({9})
- Das ist keine Ermessensausübung,
({10})
sondern das ist die Ideologie, die dahintersteht:
({11})
dass die Verfassungsschutzbehörden der Meinung sind,
sie stünden außerhalb des Gesetzes und sie könnten machen, was sie wollen, Hauptsache, die Quelle sprudelt.
Und denen ist völlig egal, welche Quelle da sprudelt.
Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, so etwas zu ermöglichen. Deshalb kann man diesen Gesetzentwurf nur ablehnen. Er hilft nämlich überhaupt
nicht gegen die Missstände, gegen die wir gemeinsam
mit einschränkenden Gesetzen vorgehen wollten. Das
vorliegende Gesetz ist aber kein einschränkendes Gesetz, das dieses Versagen in Zukunft verhindern würde.
({12})
Deshalb sind wir dagegen.
Ich kann nur dringend an Sie appellieren: Packen Sie
das, was Sie uns hier vorgelegt haben, wieder ein, und
treten Sie in vernünftige Diskussionen ein! Wir haben
das ja eine ganze Legislaturperiode lang nach dem Motto
praktiziert: Die Gemeinsamkeit der Demokraten muss
sich auch in Gesprächen über das, was man in Zukunft
macht, niederschlagen und entsprechend artikuliert werden. Das ist in dem von Ihnen vorgelegten Law-and-Order-Gesetz, das völlig daneben ist, nicht der Fall.
({13})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Armin
Schuster von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Ströbele, es ist der Debatte - das haben
viele gesagt - nicht angemessen, wenn Sie hier von einem Law-and-Order-Gesetz sprechen. Ich glaube, wir
sollten uns bei allen Unterschieden zwischen den Anträgen und unserem Gesetzentwurf bewusst machen, dass
heute wieder einmal ein extrem positives Signal aus dem
Plenarsaal des Deutschen Bundestages ins Land ausgesendet wird.
({0})
Die Mitglieder des NSU-Untersuchungsausschusses
haben im September 2013 hier ein dickes Papier abgeliefert, und wir lassen Taten folgen - bei aller Unterschiedlichkeit unserer Ideen. Aber wichtig ist: Dieser
NSU-Untersuchungsausschuss hat dazu geführt, dass
wir in Deutschland Schritt für Schritt Reformen vornehmen, und auf diesem Weg ist der heute vorliegende Gesetzentwurf - das haben schon viele vor mir gesagt - ein
großer Meilenstein.
Drehen Sie uns bitte nicht das Wort im Mund herum.
Niemand - nicht der Minister und auch sonst niemand hat behauptet, dass die V-Leute für die Sicherheit in
Deutschland verantwortlich wären. Das ist nicht fair.
({1})
Jetzt drehe ich einmal mein ganzes Manuskript um
und fange mit den V-Leuten an - Dr. Hahn ist jetzt gerade leider nicht da -: Es ist auch ein bisschen unfair -
Herr Kollege Schuster, Sie sehen, dass der Wunsch
nach einer Zwischenfrage besteht.
Logo; dafür sind wir ja hier.
Gut.
„Dafür sind wir hier“, sehr gut! Da Sie, Herr Schuster,
Ihr Manuskript gerade sowieso umgedreht haben, ist es
nett, dass Sie meine Frage zulassen. - Bitte sagen Sie
einmal anhand von folgendem Beispiel etwas zu dem
Thema - Beispiele werden ja oft bemüht -: Nehmen wir
an, es kommt jemand zurück, der in Syrien schwere
Straftaten begangen, der, um das einmal zuzuspitzen,
enthauptet hat. Kann es allen Ernstes sein, dass der deutsche Staat mit solchen Leuten zusammenarbeitet? Kann
es allen Ernstes sein, dass wir hier qua Gesetz legalisieren, dass solche Leute vom Staat Geld bekommen
({0})
und wir mit diesen Straftätern zusammenarbeiten?
Der Gesetzentwurf regelt ja, dass wir grundsätzlich
mit solchen Leuten nicht zusammenarbeiten.
({0})
Das heißt auch - ich bin nicht Jurist, aber das weiß auch
ich -: Ausnahmen sind möglich.
({1})
Es sind eng begrenzte Ausnahmen. Ich habe Vertrauen in
die Menschen - im Gegensatz zu Ihnen; Sie versuchen
das immer durch Regeln herzustellen.
({2})
Ich habe ein großes Vertrauen auch in Menschen, die
einmal Fehler gemacht haben. Ihre moralingeschwängerte Verurteilung des gesamten BfV geht mir einfach zu
weit.
({3})
Ich habe Vertrauen, dass ein BfV-Präsident in der Lage
ist, in so einem Fall eine Güterabwägung vorzunehmen.
Herr Dr. Hahn, Sie sind PKGr-Vorsitzender. Es war
unfair,
({4})
Armin Schuster ({5})
hier zu sagen, Sie hätten noch nie ein Beispiel für die
Sinnhaftigkeit eines V-Leute-Einsatzes gehört.
({6})
- Der Minister kann Ihnen diese Frage nicht beantworten; Sie wissen doch, dass er darüber schweigen muss.
({7})
Sie haben in dieser Woche im PKGr live gehört - jetzt
bewege ich mich dicht an der Grenze -, dass ein V-Mann
zu weit über 20 hochgradigen Verurteilungen echter Terrorgefährder beigetragen hat. Aber hier tun Sie so, als ob
es das nicht gäbe.
({8})
Meine Damen und Herren, es gibt handfeste Belege
für die Wirkung von V-Leuten, über die wir hier leider
oder Gott sei Dank nicht sprechen dürfen. Aber dass Sie
verunglimpfen, dass mit diesen Leuten gearbeitet wird,
ist ein Stück weit unfaire Verhandlungsführung. Das
muss ich Ihnen sagen.
({9})
Herr Schuster, auch Herr Hahn möchte eine Zwischenfrage stellen.
Herr Dr. Hahn.
Sehr geehrter Herr Kollege Schuster, würden Sie bitte
zur Kenntnis nehmen, dass ich den Minister in der Fragestunde gefragt habe, ob er mir konkrete Beispiele für
Verbrechen, die durch V-Leute, auch durch V-Leute, die
strafbar geworden sind, verhindert worden sind, nennen
kann? Er hat keinen Fall nennen können. Das hat nichts
mit dem PKGr zu tun.
({0})
Im vorliegenden Fall ging es um Mitgliedschaften - das
kann man ja sagen - in terroristischen Strukturen oder
verbotenen Organisationen. Das war etwas anderes als
das, was ich gefragt habe. Die Frage nach konkreter Tätigkeit von V-Leuten und der Verhinderung von Verbrechen hat der Minister nicht beantworten können, und das
habe ich in meiner Rede kritisiert.
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das noch einmal klarstellen. Vielleicht auch für die Zuschauer: PKGr heißt
Parlamentarisches Kontrollgremium. Herr Dr. Hahn ist
im Moment der ehrenwerte Vorsitzende und weiß deshalb wahrscheinlich am besten in diesem Parlament,
dass der Minister zu keiner Gelegenheit in einer Fragestunde einem Fragesteller - mag dieser noch so hochmögend sein - darauf antworten darf.
({0})
Das darf er nicht. Ich bin Gott dankbar, dass er es nicht
getan hat. Wo kämen wir denn hin, wenn wir jetzt im
deutschen Parlament die V-Leute-Einsätze besprechen
würden? Das wissen Sie ganz genau.
({1})
- Wenn Sie nicht aufhören, unfair zu sein, dann rede ich
jetzt gleich noch viel schlimmer über Sie.
({2})
Meine Damen und Herren, vom heute vorgelegten
Gesetzentwurf geht ein deutliches Signal aus, aber wir
brauchen nicht nur Aktivitäten im Bund, sondern auch in
den Ländern. Alleine schaffen wir das nicht. Im Fall des
NSU-Terrors wären tiefere Einsichten in dem einen oder
anderen Land hilfreich. Deshalb ist es nur zu begrüßen,
dass Sachsen, Thüringen, Bayern, Nordrhein-Westfalen,
Hessen und endlich auch Baden-Württemberg in eigenen
Untersuchungsausschüssen weiter aufklären.
Herr Dr. von Notz,
({3})
es ist mir völlig schleierhaft, wieso Sie sich hier hinstellen und mit extremer Hybris über uns herziehen, während man eine grün-rote Landesregierung in BadenWürttemberg zum Jagen tragen musste. Anfangs hatte
man dort doch überhaupt keine Lust, diesen Fall aufzuklären.
({4})
Entschuldigen Sie bitte, aber würde ich Ihre Rede jetzt
nach Baden-Württemberg schicken, müsste Herr
Kretschmann knallrot werden; denn das trifft alles auf
ihn zu, aber nicht auf uns. Wir haben aufgeklärt. Er hat
monatelang bestritten, dass das überhaupt notwendig sei,
und stolpert jetzt von einer Krise in die nächste.
({5})
Ich will Ihnen einmal eines sagen - ich beruhige mich
wieder -: Das, was in Baden-Württemberg abläuft, zeigt
uns, dass es durchaus eine interessante Idee sein kann,
über einen NSU-Untersuchungsausschuss 2.0 im Bund
nachzudenken. Es gibt jedenfalls genügend Kollegen,
die dieser Meinung sind. Darüber müssen wir weiter diskutieren.
Meine Damen und Herren, die Innenminister arbeiten
schon seit der letzten Wahlperiode intensiv an dem
Schritt-für-Schritt-Konzept. Wir wollen alles wahrmachen, was wir in den Katalog geschrieben haben. Wir
Armin Schuster ({6})
schütten aber nicht das Kind mit dem Bade aus. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Linken und von den
Grünen, unsere Sicherheitsbehörden zu reformieren
heißt - jedenfalls wenn man regiert -:
({7})
Wir müssen unter akuter Terrorbedrohung für dieses
Land und mit extrem hohen Belastungen der Sicherheitsbehörden, quasi unter vollen Segeln aller Behörden,
({8})
die Reformschritte vollziehen, die wir im NSU-Untersuchungsausschuss empfohlen haben. Das ist eine ganz
schwierige Aufgabe. Sie ist aber garantiert nicht dadurch
zu meistern, dass ich da jetzt etwas auflöse, hier Stiftungen schaffe und dort radikale Reformvorschläge mache.
Das Land braucht jetzt funktionierende Sicherheitsbehörden.
Uns gelingt es, in vernünftigen Schritten und in einer
sinnvollen Dosis zu reformieren. Ich denke an das Terrorismusabwehrzentrum und an die Rechtsextremismusdatei. Ich danke dem Justizminister für ein umfangreiches
Gesetzespaket, in dem er die Empfehlungen des NSUUntersuchungsausschusses umgesetzt hat. Heute danke
ich dem Bundesinnenminister für vier klare und wichtige
Schritte - das alles sind Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses -: Zentralstellenfunktion des Bundesamtes stärken, Informationsfluss verbessern, die
Analysefähigkeit von NADIS ausbauen sowie den Einsatz von V-Leuten klarer regeln. Wir haben immer gesagt: Nicht das Ob, sondern das Wie muss geregelt werden.
({9})
Das können Sie auch im Empfehlungskatalog nachlesen.
({10})
Ihrem Befund, Kolleginnen und Kollegen von Grünen
und Linken, kann ich folgen.
({11})
Wir waren uns ja einig: Es gab strukturelle Defizite,
Missstände, Versagen, allzu häufig kleinliches Kompetenzgerangel; manchmal meine ich, dass mir, wenn ich
die Innenminister der Länder höre, da etwas im Ohr klingelt. Aber wir hatten diese Defizite bei allen Beteiligten:
bei Staatsanwaltschaften, bei Gerichten, bei der Polizei,
beim Verfassungsschutz;
({12})
nicht einmal den Innenausschuss des Deutschen Bundestages hat dieser Fall jemals erreicht. Wollen Sie die eigentlich alle auflösen?
({13})
Diesen Vorschlag habe ich noch gar nicht gehört: Das
hat nicht funktioniert, also lösen wir die auf. - Meine
Damen und Herren, das ist doch nicht die Lösung.
Wenn man Ihrem Vorschlag bzw. Ihrer Therapie konsequent folgen würde, dann müsste man sagen: Weg mit
allen! - Das tun wir nicht. Man merkt, ich bin nachsichtig mit Ihnen. Sie haben ja - Gott sei Dank - noch nie ein
Innenministerium in diesem Land geleitet;
({14})
deswegen üben wir Nachsicht. Eigentlich müsste man
Ihre Anträge als Sicherheitsrisiko bezeichnen; aber das
tue ich natürlich nicht.
({15})
Meine Damen und Herren, bei der Verfassungsschutzreform geht es um zwei Aspekte - eigentlich um drei,
aber den dritten bekommen wir noch nicht hin -: Es
muss besser kommuniziert werden, es muss vernetzter
kommuniziert werden, und es muss koordiniert werden.
({16})
Und - das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen -: Wenn
man den NSU-Fall betrachtet und Kriminaldirektor
Geier aus Bayern, dem Leiter der BAO, folgt, dann hätte
es auch einer einheitlichen Führung bedurft. Wir haben
in unserem Empfehlungskatalog aber nie gesagt, dass
der Bund das tun soll - das muss man den Ländern vielleicht noch einmal zurufen -, sondern wir haben gesagt:
In Ausnahmelagen wie Terrorserien, in solchen Fällen,
in denen unsere föderale Struktur den Tätern in die
Hände spielt oder in denen sie von ihnen gar bewusst genutzt wird, müssen wir eine zentrale Führung gewährleisten. Wir haben auch gesagt: Sichergestellt werden
soll dies entweder durch ein Land - das hätte im NSUFall Bayern sein können; das hätte auf der Hand gelegen - oder durch den Bund, aber bitte einheitlich.
Ich glaube nicht - da bin ich ganz ehrlich -, dass unser föderales System ins Wanken gerät, wenn wir in extremen Ausnahmelagen wie im Fall von Terror die Führung in eine Hand legen. Wenn ich an die Ereignisse in
Paris, Brüssel, Kopenhagen, Dresden, Braunschweig
und Bremen denke - führen Sie sich die Kommunikationsprobleme, die es bei den Ereignissen in Braunschweig gab, mal vor Augen; das geschah ja an einem
Wochenende; um Gottes willen! -, glaube ich nicht, dass
der Verweis auf die Verfassung und die Polizeihoheit der
Länder bei unseren Diskussionen der Weisheit letzter
Schluss sein kann.
Wir brauchen überregionale Verfahren für hochflexible Ermittlungsgruppen über Ländergrenzen hinweg.
Damit will ich nicht im Ansatz das föderale System antasten; ich will es für Ausnahmesituationen krisenfest
Armin Schuster ({17})
machen. Ich will Tätern nicht die Chance geben, uns
vorzuführen, nur weil 16 Länder Verfassungsschutz und
Polizei organisieren, wovon ich in Wirklichkeit ein großer Anhänger bin. Deshalb widerspreche ich den aktuellen Aussagen einiger Landesinnenminister, da ich sie für
grenzwertig halte - Zitat -:
Die Gefahrenabwehr in einem föderalen System ist
Sache der Länder …
Dass eine Bundesbehörde … eingreife oder gar den
Einsatz übernehme, sei „völlig unvorstellbar“.
Ich nenne den Namen und die Partei des Betreffenden
nicht.
Für mich war im Untersuchungsausschuss oft einiges
unvorstellbar. Dabei ging es aber nicht darum, dass in
diesem Land eigenartig geführt wird. Wo sind wir denn?
({18})
Deshalb, meine Damen und Herren, empfehle ich vor allen Dingen den Nicht-NSU-Tatortländern, sich endlich
einmal mit diesem Fall zu beschäftigen und ihre eigene
Leistungsfähigkeit an dem zu spiegeln, was wir dort
festgestellt haben.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in die
Richtung - das ist für mich ein großer Schritt -, uns mit
den Ländern enger abzustimmen, notfalls auch ohne deren Einverständnis. Ich weiß, das ärgert die. Allerdings
ist dieser Kompromiss auf einmalige Art und Weise zustande gekommen. Ich habe an der Besprechung mit
dem Bundesinnenminister, zu der auch die Länder eingeladen waren, teilgenommen. Ich fand, das war sehr kooperativ.
Ein Landesinnenminister sagte vor einer Woche - Zitat -: „Das ist eine Aushebelung des Föderalismus“.
Nein, das ist es nicht. Wer dem Föderalismus eine Zukunft geben will, der darf ihn nicht einmauern, sondern
muss ihn weiterentwickeln und krisenfest machen,
meine Damen und Herren. Ich glaube, wir dürfen deshalb dem Bundesinnenminister für all die Kämpfe, die er
mit den Länderkollegen geführt hat, danken. Ich sehe
noch die von diesem Fall Betroffenen vor mir, die im
September 2013 oben auf der Tribüne gesessen haben.
Wir haben ihnen zugerufen: Wir versprechen euch, dass
wir Wort halten. - Durch das, was der Minister vorgelegt
hat, können wir Wort halten. Dafür bedanke ich mich,
und ich freue mich auf die Beratungen.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/4654, 18/710, 18/4682 und 18/4690
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Ich frage Sie: Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den nächsten Tagesordnungspunkt auf
- das ist der Tagesordnungspunkt 26 - sowie den Zusatzpunkt 7:
26 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Erfolg führen
Drucksache 18/4685
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die europäische Sicherheitsstruktur retten Übereinkommen in Gefahr
Drucksache 18/4681
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen, und wir können mit der Aussprache beginnen; die Kollegen sitzen auch bereits.
Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Ute Finckh-Krämer von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den
Tribünen! Anlass der heutigen Debatte ist die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die am
Montag beginnt und alle fünf Jahre stattfindet.
Vor fünf Jahren gab es im Deutschen Bundestag einen
fraktionsübergreifenden Antrag. Leider ist es diesmal
nicht gelungen, wieder einen fraktionsübergreifenden
Antrag zustande zu bringen. Ich möchte ausdrücklich
betonen, dass das nicht an den Kolleginnen und Kollegen aus dem Unterausschuss Abrüstung liegt.
Die SPD wollte gerne konventionelle und nukleare
Rüstungskontrolle und Abrüstung gemeinsam betrachten, auch über die Themen hinaus, die voraussichtlich
bei der NVV-Überprüfungskonferenz behandelt werden.
Das wurde leider von den Verantwortlichen in der Union
abgelehnt.
Nun hat interessanterweise die Deep Cuts Commission, die aus Wissenschaftlern aus Deutschland, aus
Russland und aus den USA besteht, in ihrem zweiten
Bericht, den sie rechtzeitig zur Überprüfungskonferenz
vorgelegt hat, genau das vorgeschlagen: die eskalierenden Konflikte in Europa und konventionelle und nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle gemeinsam zu
betrachten. Dass der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, genau diesen Ansatz in
seinem Vorwort zu diesem Bericht der Deep Cuts
Commission für richtig und wichtig erklärt, zeigt, dass
die Arbeit der Deep Cuts Commission auch für die klassischen Sicherheitspolitiker in Deutschland interessant
ist. Ischinger verweist darauf, dass die Beobachtungsflüge, die im Rahmen des Open-Skies-Vertrages, also
unter dem OSZE-Regime, gemacht werden, in der
Ukraine-Krise einen wichtigen Beitrag zur Deeskalation
geleistet haben, was für uns wichtig werden wird, wenn
wir in den Haushaltsberatungen über die Beschaffung einer deutschen Open-Skies-Plattform diskutieren werden.
Das Problem, vor dem wir mit der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag stehen, ist, dass
sich seit dem Inkrafttreten des New-START-Vertrages
am 5. Februar 2011 im Bereich der nuklearen Abrüstung
nicht viel getan hat. Allerdings ist - und das ist gut und
richtig so - eine Debatte um die humanitären Konsequenzen des Einsatzes von Atomwaffen in Gang gekommen, eine erneute Debatte; denn wir wissen seit dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki,
wie katastrophal die Konsequenzen eines Atomwaffeneinsatzes sind.
Alexander Kmentt, der Leiter der Abteilung für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Non-Proliferation im österreichischen Außenministerium, formuliert daher zu
Recht - ich zitiere -:
Die Schlussfolgerungen des humanitären Diskurses
sollten zu einer tiefgreifenden Überprüfung der Abschreckungstheorie führen. Die Annahme über den
Sicherheitsgewinn, den die Existenz von Atomwaffen mit sich zu bringen behauptet, kann angesichts
der Erkenntnisse über die schwerwiegenderen Auswirkungen und größeren Risiken kaum aufrechterhalten werden. Das Beharren auf Nuklearwaffen ist
ein letztlich unverantwortliches Glücksspiel, das
auf einer Illusion von Sicherheit aufbaut. Das Vertrauen der „Abschreckungs-Realisten“ auf diese
Illusion ist daher die eigentliche „Utopie“, während
ein klarer Fokus auf Prävention und nukleare Abrüstung als die einzig nachhaltige und „realpolitisch“ vernünftige Konklusion gelten muss.
Die Ungeduld der Staaten, die auf ihrem Territorium
keine Atomwaffen dulden, wächst daher zu Recht und
ebenso die Ungeduld internationaler Organisationen wie
der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von
Atomwaffen - ICAN -, der International Physicians for
the Prevention of Nuclear War - IPPNW -, der Mayors
for Peace, aber auch des Internationalen Komitees vom
Roten Kreuz, die sich intensiv mit den Risiken des erneuten nuklearen Wettrüstens auseinandersetzen, oder
auch der Global-Zero-Bewegung, die von hochrangigen
Politikern und Diplomaten aufgrund ihrer Erfahrungen
aus dem Kalten Krieg mit initiiert wurde.
Ich möchte an dieser Stelle daher all denen danken,
die sich in diesen und vielen weiteren Organisationen
meist ehrenamtlich für eine Welt ohne Atomwaffen engagieren.
({0})
Ihr Engagement und ihre Fachkunde sind unverzichtbar
für alle, die sich in Regierungen und Parlamenten für nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung einsetzen.
Ebenso möchte ich denjenigen danken, die als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Vorschläge zu nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung erarbeiten.
Die Verhandlungen um das iranische Nuklearprogramm zeigen, was geduldige und hartnäckige diplomatische Bemühungen bewirken können. Wir können stolz
darauf sein, dass neben den fünf offiziellen Atommächten auch Deutschland daran beteiligt war und ist.
Wenn - wie in den letzten Jahren - Konflikte eskalieren, werden Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht
überflüssig, sondern - im Gegenteil - notwendiger als
zuvor. Das ist eine der Lehren, die Politikerinnen und
Politiker in aller Welt aus dem Kalten Krieg gezogen haben. Ich hoffe, dass auf der Überprüfungskonferenz diejenigen Gehör finden, die sich im Sinne von Alexander
Kmentt als Realpolitiker erweisen, also konstruktive
Vorschläge machen, wie wir dem Ziel einer Welt ohne
Atomwaffen näherkommen können.
Ich bitte daher um Zustimmung zum gemeinsamen
Antrag der SPD und der Union. Ich bin aber dafür, dass
wir den Antrag der Linken ablehnen, der sich sehr viel
stärker mit dem befasst, was von Politikern und Diplomaten in letzter Zeit an unsinnigen Forderungen aufgestellt worden ist, als mit dem, was konstruktiv zum Erfolg der Überprüfungskonferenz beitragen kann.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Inge Höger
von der Linken das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 70 Jahre
nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki gelingt es immer noch nicht, diese schrecklichen
Massenvernichtungswaffen endlich abzuschaffen. Das
liegt in erster Linie an den fünf offiziellen Atommächten. Es liegt an den USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China, die an ihren Bomben festhalten. Es
liegt auch an den inoffiziellen Atomwaffenstaaten, die
durch den Besitz dieser Bomben ihren Einfluss in der
Welt vergrößern wollen.
Es ist bezeichnend, dass die Koalitionsfraktionen in
ihrem Antrag eine gemeinsame europäische Position
einfordern. De facto bedeutet das nichts anderes, als dass
man sich der Abrüstungsverweigerung der Regierungen
Frankreichs und Großbritanniens anschließt. Da macht
die Linke nicht mit,
({0})
und wir sind uns da mit den Friedensbewegungen in
Frankreich und England einig.
Nun ist es leicht, von diesem Pult aus den mangelnden Abrüstungswillen anderer Staaten zu kritisieren.
Doch Abrüstung beginnt vor der eigenen Haustür.
({1})
Union und SPD erzählen in ihrem Antrag viel über
Deutschlands Anstrengungen für Abrüstung, Rüstungskontrolle und andere hehre Ziele. Doch wenn es konkret
wird, ist davon überhaupt nichts mehr zu sehen. Immer
noch lagern in Büchel 20 US-Atomsprengköpfe. Sie haben jeweils eine Sprengkraft von 20 Hiroshima-Bomben. Anstatt sie endlich zu vernichten, werden sie in den
kommenden Jahren modernisiert, um sie leichter einsatzfähig zu machen. Für den Ernstfall hält die Bundeswehr Tornado-Flugzeuge vor, die Atomwaffen transportieren und abwerfen können. Bundeswehrsoldaten
werden eigens für den Zweck eines Atomkrieges ausgebildet.
Solange die Bundesregierung auf diese Art und Weise
den USA Beihilfe zu einem potenziellen Atomkrieg leistet, so lange bleiben Ihre rhetorischen Anstrengungen,
die Sie hier oder in New York ableisten, pure Heuchelei.
Sorgen Sie endlich dafür, dass alle Atomwaffen aus
Deutschland abgezogen werden!
({2})
In den Feststellungen des Koalitionsantrages singen
Sie das schon oft gehörte Lied von den Bösen und den
Guten - und natürlich von der ganz besonders guten
Bundesregierung, die sich überall in der Welt fleißig für
Abrüstung einsetzt. Dass davon wenig zu halten ist, habe
ich eben skizziert.
Aber auch Ihre Geschichte von den bösen Russen und
der guten NATO fällt typischerweise sehr einseitig aus.
Zur Eskalation gehören immer zwei Seiten. Bitte vergessen Sie nicht, dass die NATO durch ihre Osterweiterung
und aktuell durch die Stationierung von Truppen im Baltikum maßgeblich zur gespannten Situation in Osteuropa
beiträgt.
Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnen wir ab.
Frieden und Abrüstung erreicht man nur durch konkrete
Abrüstungsschritte.
Es ist schon interessant: CDU/CSU und SPD weisen
in ihrem Antrag darauf hin, dass die Ukraine 1994 nur
gegen die Garantie ihrer territorialen Integrität auf ihre
Atomwaffen verzichtet hat.
({3})
- Ich lege großen Wert darauf. - Ich kann mich noch gut
erinnern, dass das Geschrei groß war, als Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner 1998 anmerkten, die NATO
würde Belgrad vielleicht nicht bombardieren, wenn
Jugoslawien Atombomben hätte. So ändern sich die Zeiten.
Auf eines ist allerdings Verlass: Die Linke lehnt jeden
Völkerrechtsbruch ab und setzt sich auch weiterhin für
die Abschaffung aller Atomwaffen ein.
({4})
Es freut mich, dass die Koalition die massenvernichtungswaffenfreie Zone im Nahen Osten voranbringen
will. Aber auch hier würde ich mir statt der bisherigen
Sprechblasen ein beherztes Handeln von der Bundesregierung wünschen. Für einige Staaten - das wissen Sie
alle - hängt der Fortbestand des Atomwaffensperrvertrages von Fortschritten bei diesem Thema ab. Es wird bei
der Überprüfungskonferenz in New York von zentraler
Bedeutung sein, ob es im Nahen und Mittleren Osten zu
einer atomwaffenfreien Zone kommt.
Ein echtes Zeichen für Deeskalation und Abrüstung
ist es, wenn Sie gleich für den Antrag der Fraktion Die
Linke stimmen.
({5})
Wir bleiben dabei: Atomwaffen gehören auf den Müllhaufen der Geschichte. Es wäre wünschenswert, wenn
die New Yorker Konferenz in den nächsten Wochen einen Schritt in diese Richtung macht.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Redner hat Dr. Andreas Nick von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor fast genau 70 Jahren, im August 1945, beendete der
erstmalige Einsatz von Atomwaffen in Hiroshima und
Nagasaki auch in Asien den Zweiten Weltkrieg. Hundertausende Menschen starben; viele leiden teilweise bis
heute unter den Folgen. Vier Jahre später zündete auch
die Sowjetunion ihre erste Atombombe.
Das Gleichgewicht des Schreckens der folgenden
40 Jahre zwischen den beiden atomaren Supermächten,
der nukleare Friede, beruhte letztlich auf der glaubhaften
Androhung wechselseitiger Vernichtung, der Mutual Assured Destruction, deren Kürzel „MAD“ wohl nicht zufällig dem englischen Wort für „verrückt“ entspricht.
Spätestens mit der Kuba-Krise 1962 wurde deutlich,
wie nah sich die Welt am Abgrund einer atomaren Vernichtung bewegte. Die Atommächte trugen damit eine
besondere Verantwortung. Trotz aller Gegensätze war
ein hohes Maß an Berechenbarkeit und Vertrauensbildung auf beiden Seiten gefordert. In der Folge - nicht
zuletzt der Kuba-Krise - kam es 1968 dann zum Abschluss des Vertrages über die Nichtverbreitung von
Kernwaffen mit drei zentralen Pfeilern:
Erstens. Die Zahl der Nuklearmächte sollte weltweit
nicht weiter ansteigen und auf die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt bleiben.
Zweitens. Im Gegenzug wurde den atomwaffenfreien
Staaten das uneingeschränkte Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie eingeräumt.
Drittens. Die Atommächte selbst verpflichteten sich,
Verhandlungen mit dem Ziel einer vollständigen nuklearen Abrüstung zu führen.
Die Abrüstungsverträge über nukleare Mittelstreckenraketen INF und über strategische Trägersysteme START
waren wichtige Meilensteine in der Beendigung des Kalten Krieges.
Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. In einer multipolaren Welt mit einer Vielzahl von Akteuren
ist die Gefahr regionaler nuklearer Rüstungswettläufe
deutlich angestiegen. Inzwischen gibt es mindestens vier
zusätzliche Staaten, die über Atomwaffen verfügen. Insbesondere der indische Subkontinent mit den beiden rivalisierenden Atommächten Indien und Pakistan, aber
auch Ostasien mit Nordkorea und nicht zuletzt der Mittlere Osten bergen ein großes Konflikt- und Eskalationspotenzial.
Mit der Verfügbarkeit sogenannter taktischer Nuklearwaffen droht eine Absenkung der Einsatzschwelle
mit der Gefahr, dass ein vermeintlich begrenzter nuklearer Krieg führbar erscheinen könnte. Umso bedenklicher
ist, dass mit Russland auch eine der Atommächte in
jüngster Zeit seine substrategischen Nuklearwaffen modernisiert und Drohungen mit nuklearen Waffen offenbar
wieder Teil der russischen Außenpolitik zu werden
scheinen.
Vor allem aber ist die Entwicklung in der Ukraine ein
massiver Rückschlag für das Ziel der Nichtverbreitung
von Kernwaffen. Im Gegenzug zur Abgabe der früheren
sowjetischen Atomwaffen war der Ukraine im Budapester Memorandum von 1994 die Achtung ihrer territorialen Integrität sowie die Wahrung ihrer politischen und
wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugesichert worden,
auch unmittelbar durch Russland. Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem militärischen Vorgehen im Osten der Ukraine hat Russland diese Vereinbarung in eklatanter Weise verletzt.
Meine Damen und Herren, wenn aber internationale
Vereinbarungen wie das Budapester Memorandum keinen verlässlichen Bestand mehr haben, dann ist doch
kaum zu erwarten, dass künftig noch irgendein Staat auf
der Welt freiwillig auf den einmal erreichten Besitz von
Atomwaffen verzichten wird. Im Gegenteil: Wenn sich
der Eindruck weiter verstärkt, nur dies würde sie in die
Lage versetzen, ihre staatliche Souveränität und territoriale Integrität dauerhaft zu sichern, dann werden insbesondere kleinere Staaten mehr und mehr versucht sein,
Kontrolle über Atomwaffen zu erlangen. Nuklearwaffen
wären quasi die ultimative Währung nationaler Souveränität.
Dies verdeutlicht einmal mehr: Nukleare Abrüstung
und Nichtverbreitung von Kernwaffen können nicht isoliert erreicht werden, sondern nur, wenn sie in eine verlässliche globale Friedensordnung und in ein robustes
System regionaler Sicherheitsstrukturen eingebettet
sind.
Es gibt aber auch ermutigende Entwicklungen. Dazu
gehört zweifelsohne, dass nach langjährigen Bemühungen in Lausanne eine Einigung über die Eckpunkte einer
Vereinbarung im Hinblick auf das iranische Atomprogramm erzielt werden konnte, nicht zuletzt auch durch
den beharrlichen Einsatz unserer Bundesregierung, der
wir dafür ausdrücklich unseren Dank aussprechen. Wenn
damit der Anreiz zu einem nuklearen Wettlauf in der Region erheblich gesenkt werden kann, wäre dies ein wichtiger Schritt zu der vorgeschlagenen Errichtung einer
massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren Osten. Zusammen mit unseren Partnern in der EU und der
Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative NPDI werden wir auf die baldige Umsetzung hinarbeiten.
Die Vereinbarungen von Lausanne zeigen aber auch
die zentrale Bedeutung der internationalen Atomenergiebehörde IAEO bei der Überwachung der zivilen Nutzung der Kernenergie. Dabei geht es gar nicht nur um
die Nichtverbreitung von Atomwaffen, sondern insbesondere auch um die Überwachung des Verbleibs spaltbaren Materials; denn es muss uns klar sein: Auch eine
mit nuklearem Material versetzte sogenannte schmutzige
Bombe könnte in den Händen von Terroristen oder anderen nichtstaatlichen Akteuren verheerende Folgen haben.
Meine Damen und Herren, die von Nuklearwaffen
ausgehenden Bedrohungen für den Fortbestand der
Menschheit sind weiterhin gewaltig. Eine weltweite
vollständige nukleare Abrüstung, das auch von Präsident
Obama eingeforderte Global Zero, muss deshalb unser
langfristiges Ziel bleiben.
Der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ist dafür ein wichtiger Meilenstein der internationalen Ordnung. Gemeinsam mit unseren Partnern wird sich
Deutschland daher aktiv für einen positiven Abschluss
der Überprüfungskonferenz im kommenden Mai einsetzen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Agnieszka
Brugger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vier
Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag. Es ist das wichtigste Regime in der
internationalen Abrüstungspolitik. Die Verhandlungen
stehen leider unter keinem guten Stern, und die Erwartungen sind mehr als bescheiden. Man hofft darauf, dass
man das, was man vor fünf Jahren erreicht hat, noch einmal festschreiben kann und dass es überhaupt zu einer
Einigung kommt.
Liebe Kollegin Höger, ich meine, man kann an diesem Koalitionsantrag zu Recht viel kritisieren, aber die
Forderung, dass sich die EU mit Blick auf diese so wichtige Konferenz um eine gemeinsame Position bemühen
solle, ist richtig und unterstützenswert. Ich finde, es wäre
ein Drama, wenn die Europäische Union in dieser wichtigen Frage keine einheitliche Haltung hätte. Das wäre
ein großer Rückschritt für die internationale Abrüstungspolitik.
({0})
Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass sich die internationalen Rahmenbedingungen für Abrüstung in den
letzten Jahren - gerade im Zusammenhang mit der
Ukraine-Krise - verschlechtert haben, dann sollte man
nicht so darauf reagieren wie die Bundesregierung und
nur lethargisch die Achseln zucken. Genau das machen
Sie von der Koalition mit Ihrem Antrag. Vielmehr sollte
man sagen: Gerade weil die Lage so schlecht ist, muss
man Ausschau halten, wo es neue Ideen und Initiativen
gibt und wo neue Dynamik entsteht.
Es gibt beispielsweise, aus der Zivilgesellschaft angestoßen, die Humanitäre Initiative, die die fatalen ökologischen, aber auch humanitären Folgen eines Atomwaffeneinsatzes kritisiert. Mittlerweile sind 155 Staaten
dieser wichtigen Initiative beigetreten, die viel Dynamik
und Hoffnung in die Debatte gebracht hat. Deutschland
war aber mit Verweis auf seine NATO-Mitgliedschaft
bisher nicht dazu bereit.
Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, fordern jetzt in Ihrem Antrag, dass Deutschland sich weiter
an den Diskussionen beteiligen soll. Kleiner geht es
wohl nicht mehr.
({1})
Wie weitere konkrete Ideen aussehen könnten und was
Deutschland selbst tun könnte, um neue Bewegung in
das Thema hineinzubringen, haben wir schon vor Wochen in unserem grünen Antrag deutlich aufgezeigt. Es
wäre gut gewesen, wenn Sie ihn noch einmal gelesen
und sich ein bisschen daraus bedient hätten. Denn Ihre
lustlose und ideenlose Haltung zur Humanitären Initiative ist nur ein Beispiel, warum Ihr Antrag wenig überzeugend ist.
Ihr Antrag bedeutet auch einen Rückschritt. Vor fünf
Jahren hat sich der gesamte Bundestag nach langen Verhandlungen auf eine gemeinsame Position verständigen
können. Es war ein sehr wichtiges Zeichen, das von diesem Parlament aus auch bis in die Verhandlungen der
Überprüfungskonferenz hineingestrahlt hat, was international sehr breit wahrgenommen wurde. Wir waren zu
Verhandlungen bereit. Es gab auch erste Gespräche. Sie
sind ausgestiegen. Ich finde das parteipolitisch kleinkariert. Das ist die Arroganz dieser Großen Koalition.
({2})
Sie hätten noch einmal den alten, guten Antrag lesen
sollen. Wir haben uns damals auf die Forderung geeinigt, dass die 20 US-amerikanischen Atombomben, die
sich derzeit noch in Büchel in Rheinland-Pfalz befinden,
abgezogen werden sollen. Ein atomwaffenfreies Deutschland ist doch ein wichtiges Ziel, gerade wenn man auf internationaler Ebene glaubwürdig für nukleare Abrüstung
streiten will. Das ist, finde ich, das Schlimmste an Ihrer
Initiative: In dem von Ihnen vorgelegten Antrag findet
sich diese Forderung nicht mehr. Sie haben sich damit
offensichtlich von diesem Ziel verabschiedet. Das ist
völlig falsch.
({3})
Ihr Antrag wirft uns damit um Jahre zurück. Ich kann
auch nicht verstehen, wie eine Partei wie die SPD, die
den Anspruch an sich hat, Friedens- und Abrüstungspartei zu sein, so etwas unterstützt. Das ist mir wirklich
schleierhaft.
Ebenso schleierhaft ist mir auch, warum der Kollege
Carsten Müller aus der Union in der letzten Debatte zu
unserem grünen Antrag vom „sicheren Schoß der nuklearen Teilhabe der NATO“ gesprochen hat. Das ist in
doppelter Hinsicht Humbug: Diese Waffen haben keinen
militärischen Zweck, und Atomwaffen bzw. Massenvernichtungswaffen machen die Welt nicht sicherer. Nur
Abrüstung bringt am Ende des Tages mehr Frieden und
Sicherheit für alle.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
es wäre besser gewesen, wenn Ihre ideenlose und mutlose Initiative den Bundestag nicht erreicht hätte. Denn
sie revidiert eine zentrale Position und bringt uns keinen
Schritt weiter in der Forderung nach einem Deutschland,
das frei ist von Atomwaffen. Wer so wenig Engagement
in dieser Frage zeigt, kann sich zwar den Erfolg der
Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag
wünschen. Er muss sich aber auch fragen lassen, was er
selbst dazu beigetragen hat.
Wir Grüne werden weiter dafür streiten, dass
Deutschland der Humanitären Initiative beitritt und sich
für die weltweite Ächtung der Atomwaffen einsetzt und
dass die Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden. Wir werden auch weiter gegen einen gefährlichen
Modernisierungskurs bei diesen Massenvernichtungswaffen streiten.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Wolfgang
Hellmich von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut,
dass der Bundestag in vielen Debatten immer wieder die
gemeinsame Position deutlich gemacht hat: Wir wollen
eine Welt ohne Atomwaffen. Ich denke, diese Aussage
eint uns.
({0})
Wir waren in dieser Frage schon einmal wesentlich
weiter. Ich denke an das Jahr 2010, in dem dieser Bundestag einen gemeinsamen Beschluss - ich glaube, damals ohne die Linken - gefasst hat, in dem eine gemeinsame Position für die Überprüfungskonferenz formuliert
wurde. Das hat die Konferenz im Jahr 2010 vorangebracht.
Wir sollten uns darum bemühen, dass wir durch einen
gemeinsamen Beschluss dieses Parlaments auch zu der
jetzt anstehenden Konferenz Ideen einbringen und dem
Prozess einen Schub verleihen, damit die Konferenz, die
in der Tat - mehrere haben es hier beschrieben - unter
einem nicht gerade guten Stern steht - sie steht vielmehr
unter einem schlechten Stern; ich erinnere an die verschärfte internationale Lage -, trotzdem zu guten Ergebnissen in einem Abschlussdokument kommt, die die
Konferenz weiterbringen und die das System von Abrüstungsverträgen als Kern einer weltweiten Friedensordnung am Leben erhalten bzw. weiterbringen.
Wir leben in einem Jubiläumsjahr. Es ist daran erinnert worden: Vor 70 Jahren gab es den ersten Abwurf
von Atombomben, vor 100 Jahren die erste Anwendung
von Giftgas im Ersten Weltkrieg. Wir leben in einem
Jahr, in dem viele schreckliche Ereignisse ihren Jahrestag haben. Wir können in diesem Jahr aber auch deutlich
machen: Ohne internationale Verträge und ohne das gemeinsame Formulieren gleicher Ziele, ohne den Willen,
zu Abrüstungsschritten zu kommen, werden wir aus der
Rüstungsdynamik nicht herauskommen. Wir müssen
eine Dynamik hin zu mehr Abrüstung erreichen. In diesem Zusammenhang spielt die Überprüfungskonferenz
eine wichtige Rolle. Es müssen dort Schritte vereinbart
werden, damit der gemeinsame Wille zur Abrüstung
deutlich wird.
Die Kernaufgabe liegt bei den Großen in dieser Welt,
bei denjenigen, die entscheidend über die Frage von
Atomwaffen verhandeln. Von denen erwarten viele Staaten gerade im Zuge der Konferenz, dass man bei den
Verhandlungen weiterkommt. Das betrifft auch die Verhandlungen über den Abzug von Atomwaffen aus
Europa. Das ist keine unilaterale Veranstaltung, sondern
das ist eine bilaterale Frage, die in den Verhandlungen
zwischen Russland und den USA geklärt werden muss.
Das muss im Mittelpunkt der Gespräche auch dieser
Konferenz stehen, damit klar ist, wo die Verantwortung
liegt. Es geht auch darum, den Staaten, die auch Unterzeichner des NVV sind und die keine Atomwaffen haben, aber vielleicht danach streben, deutlich zu machen,
dass wir auf dem Weg zur Abrüstung atomarer Waffen
klare und deutliche Fortschritte erzielen wollen.
({1})
Es ist richtig: Gespräche über atomwaffenfreie Zonen
im Nahen Osten und in anderen Regionen der Welt zu
führen, muss auch das Bestreben der Bundesregierung
sein. Wenn ich die Gespräche, auch die Beratungen im
Unterausschuss, richtig verstanden habe, ist es nicht so,
dass unsere Regierung die Hände in den Schoß legt; vielmehr bemüht sie sich in vielen Gesprächen und auf vielen internationalen Konferenzen, in dieser Frage ein
Stück weit weiterzukommen. Sie setzt sich dafür ein, die
Finanzierung der Internationalen Atomenergie-Organisation so zu gestalten, dass sie auch als Verifikationsorgan gestärkt wird. Sie bemüht sich - das ist ein wesentlicher Punkt -, den NVV nicht isoliert zu betrachten,
sondern ihn in andere Abrüstungs- und Vertragssysteme
einzubeziehen, den Atomteststoppvertrag CTBT weiterzuentwickeln und weitere Unterzeichner für diesen Vertrag zu gewinnen.
Wir müssen in der Tat zu einem gemeinsamen europäischen Standpunkt kommen. Ich denke, im Kern der
europäischen Strategie, die zu formulieren ist, wird auch
die Frage der atomaren Abrüstung und der Weiterentwicklung der Abrüstungsregime eine zentrale Rolle spielen müssen. Auch in dieser Hinsicht bemüht sich die
Bundesregierung, die Diskussion weiterzubringen. Berichte liegen auf dem Tisch. Ich denke, das ist ein Punkt,
wo die Bundesregierung unter Beweis stellt, dass sie
sich aktiv dafür einsetzt, dass es zu weniger atomarer
Rüstung kommt.
Es gibt aber einen Zusammenhang, den wir sehen und
den wir diskutieren müssen. Wir können den NVV und
andere Verträge nicht losgelöst von der konventionellen
Rüstung sehen. Wenn in der Militärdoktrin der Russischen Föderation steht, Russland behalte sich das Recht
vor, als Antwort auf den Einsatz von Atomwaffen oder
anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie und/oder
ihre Verbündeten sowie bei einer Aggression gegen die
Russische Föderation unter Einsatz konventioneller
Waffen Atomwaffen einzusetzen, dann sieht man den
Zusammenhang zwischen dieser Strategie und den
Atomwaffen.
Ich komme zum Schluss: Die Fortsetzung des KSEProzesses, die Aufnahme weiterer Gespräche, die Bekräftigung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Plattform zur Rüstungskontrolle im Rahmen des Wiener Dokumentes - das sind die richtigen Signale. Damit leisten
wir auf der europäischen Ebene die Beiträge, die wir
dringend brauchen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Stimmen
Sie bitte diesem Antrag zu. Ich fordere alle, die in New
York bei den Diskussionen dabei sein werden, auf, dies
aktiv zu vertreten.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dr. HansPeter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Am kommenden Montag kommen die Teilnehmer zur neunten Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag in New York zusammen. Die Bilanz
ist aus heutiger Sicht durchwachsen. Die letzte Überprü9714
fungskonferenz im Jahr 2010 sendete noch positive Signale aus. Erstmals seit 2000 konnte man sich wieder
auf ein Abschlussdokument verständigen. Zudem wurde
ein Aktionsplan verabschiedet. Die Vorbereitungen für
diese Konferenz im Jahr 2015 zeigen jedoch: Trotz der
positiven Signale aus dem Jahr 2010 ist es nicht zu einer
stärkeren Annäherung der Teilnehmer gekommen. Bei
vielen Themen liegen die Positionen diametral auseinander.
Die aktuelle weltpolitische Lage belastet die Konferenz in der Tat zusätzlich. Die Annexion der Krim durch
Russland bedeutet einen schweren Rückschlag für den
Bereich der nuklearen Abrüstung. Russland verletzt mit
der Annexion das Völkerrecht. Das wird allgemein so
gesehen. Insbesondere aber der Bruch des Budapester
Memorandums von 1994 ist ein schwerer Schlag. In diesem Memorandum wurden der Ukraine die Unabhängigkeit und die politische Integrität garantiert. Im Gegenzug
verpflichtete sich Kiew, dem Atomwaffensperrvertrag
beizutreten und die Rückführung aller Atomwaffen nach
Russland durchzuführen. Russlands Vertragsbruch ist fatal. Sein Verhalten ist kontraproduktiv für die weltweiten
Bemühungen, eine neue Dynamik nuklearer Aufrüstung
zu vermeiden. Hinzu kommt, dass Moskau in jüngster
Zeit seine Nuklearwaffen nicht abrüstet, sondern modernisiert und deren Einsatzschwelle absenkt. Drohungen
mit nuklearen Mitteln gehören wieder zur russischen
Rhetorik.
Umso erfreulicher sind die positiven Signale aus Lausanne von Anfang April. Die Verhandlungen zu einem
geordneten Atomprogramm mit dem Iran sind auf einem
guten Weg. Die Verständigung über Eckpunkte ist auch
dem unermüdlichen Einsatz des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier zu verdanken, und das
sollte hier erwähnt werden. Alle Unterstützung muss nun
einem erfolgreichen Verhandlungsabschluss mit dem
Iran bis zum Sommer gelten.
Der Atomwaffensperrvertrag ist als Stabilitätsanker
heute wichtiger denn je. Deutschland ist bereit, mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, dass wir international weiterhin eine wichtige
und aktive Rolle bei Abrüstung und Nichtverbreitung
von Atomwaffen einnehmen. Deshalb muss die deutsche
Delegation ihr ganzes diplomatisches Verhandlungsgeschick nutzen, um trotz schwieriger Bedingungen vernünftige Abrüstungsvereinbarungen zu erreichen.
Ich bedanke mich.
({0})
Vielen Dank. - Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Dr. Katja Leikert, ebenfalls von der CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn es ein internationales Rüstungskontrollregime gibt, für das wir uns starkmachen sollten, dann ist
das allen voran das Nichtverbreitungsregime. Durch
seine klaren Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren
hat der NVV die Spielregeln zwischen den Staaten mit
Blick auf Erwerb und Entwicklung von Kernwaffen sowie die zivile Nutzung von Nukleartechnologie unmissverständlich festgelegt. Für mich steht fest, dass er in
den letzten 45 Jahren unsere Welt sicherer gemacht und
erheblich zu mehr Vertrauen zwischen den Staaten beigetragen hat.
Beachtliche 190 Staaten haben das Vertragswerk mittlerweile unterzeichnet. Lediglich Indien, Israel, Pakistan
und Südsudan sind keine Mitglieder, und Nordkorea
zähle ich nicht mehr dazu. Iran gehörte hingegen zu den
ersten Unterzeichnerstaaten im Jahr 1968.
In wenigen Tagen beginnt die Überprüfungskonferenz
zu diesem sogenannten Atomwaffensperrvertrag, und es
liegt an uns, dass wir uns für ein erfolgreiches Gelingen
einsetzen; denn es bestehen weiterhin große Herausforderungen, bis wir die Global Zero, also eine Welt ohne
Atomwaffen, erreichen. So verfügen heute Indien, Pakistan und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Nordkorea
über Atomwaffen.
Neben dem Problem der Weiterverbreitung ist auch
das Thema „Abrüstung bei Kernwaffenstaaten“ nach wie
vor aktuell. Immerhin ist die Zahl der weltweit stationierten Atomsprengköpfe in den letzten fünf Jahren um
mehr als ein Viertel gesunken: von 22 000 auf 16 000.
Aber erstens sind das natürlich immer noch viel zu viele
Sprengköpfe, und zweitens arbeiten die Atomwaffenstaaten nach wie vor an der Modernisierung ihrer Nuklearsysteme, allen voran Russland. Gerade mit Blick auf
die unverhohlenen Drohungen mit dem Einsatz nuklearer Mittel durch Russland kann ich die Putin-Versteher
einmal weniger verstehen. Wer sich über sämtliche Bestimmungen des Völkerrechts hinwegsetzt, ist nicht im
21. Jahrhundert angekommen.
({0})
Da manche Staaten zur Sicherung ihres Überlebens nach
wie vor auf Realpolitik der alten Schule setzen wie Aufrüstung und Expansion, bleibt die Bemühung um internationale Regeldurchsetzung gerade in dem hochsensiblen Bereich der Kernwaffen für mich so aktuell wie
vor 45 Jahren.
Jetzt steht die nächste Überprüfungskonferenz zum
NVV an. Wir von der schwarz-roten Koalition nehmen
dies zum Anlass, die Bundesregierung aufzufordern,
verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, damit eine
neue Dynamik nuklearer Aufrüstung und eine Weiterverbreitung von Atomwaffen vermieden werden.
Es wäre jetzt natürlich leicht, angesichts dieser globalen Dimension zu sagen: Die Herausforderungen sind zu
groß. Man sollte die Erwartungen an die Überprüfungskonferenz so niedrig wie möglich hängen. - Da ist es natürlich wie immer im Leben: Wenn man keine Erwartungen hat, dann kann man auch nicht enttäuscht werden.
So einfach können wir uns das nicht machen.
({1})
Bei allen Schwächen eines internationalen Regimes
gibt es auch sehr viel Positives. Iran ist das beste Beispiel. Ich bin überzeugt davon, dass überhaupt nur durch
die offenen Kommunikationskanäle, die das NV-Regime
bietet, der aktuelle Verhandlungserfolg erzielt werden
konnte. Natürlich waren wir alle skeptisch. Ich denke jedoch, dass angesichts der Verhandlungen Optimismus
nun umso mehr begründet ist.
Dank der auch von deutscher Seite so engagiert geführten Verhandlungen ist der Weg Irans zur Atombombe nun langfristig ausgeschlossen. Teheran verpflichtet sich ganz konkret, in den kommenden zehn
Jahren mehr als zwei Drittel der bestehenden Urananreicherungskapazitäten stillzulegen. Über 95 Prozent des
bereits angereicherten Urans sollen entweder verdünnt
oder außer Landes gebracht werden. Was die kommenden Jahre angeht, so sollen die Anreicherung und Forschung ausschließlich zu zivilen Zwecken und nur in engen Grenzen erlaubt sein - bei engmaschigen Kontrollen
durch die IAEO.
Der Hebel, mit dem die E3+3 den Durchbruch bei den
Nuklearverhandlungen erzielt haben, sind ganz klar die
wirtschaftlichen Anreize. Dazu werden die Sanktionen
schrittweise gelockert. Wir sehen also ein ganz realpolitisches Geben und Nehmen. Vielleicht ist das auch eine
Blaupause für all diejenigen Staaten, die bisher dem
NVV noch nicht viel abgewinnen konnten.
Was wir aus den E3+3-Verhandlungen ebenfalls mitnehmen können: Deutschland kommt seiner internationalen Verantwortung als westlicher Nichtnuklearwaffenstaat erfolgreich nach und sollte dies weiterhin verstärkt
tun. Ich finde, wir haben eine besondere Vermittlerrolle
zwischen den Nuklearwaffenstaaten und den Nichtnuklearwaffenstaaten. Ich sage dies ganz bewusst mit Blick
auf die anstehende Überprüfungskonferenz und auch vor
dem Hintergrund der hier im Hause geführten Diskussionen der vergangenen 25 Jahre über Deutschlands Rolle
in der Welt: Es gibt keinen Grund für eine Zurückhaltung mit unseren Positionen. Der multilaterale Kurs in
sämtlichen Bereichen unserer Außenpolitik, auch in der
Abrüstungspolitik, ist richtig. Die umsichtige und zugleich unmissverständliche Art und Weise unseres Außenministers, der hier schon öfter zu Recht gelobt
wurde, verkörpert diesen Ansatz sehr treffend.
({2})
Das Ziel „Eine Welt ohne Atomwaffen“ ist kein politisches Pathos. Es ist aber nur durch gemeinsames politisches Handeln erreichbar. Hier liegt es an uns, sich immer wieder für dieses Ziel einzusetzen. Daher freuen wir
uns über die Unterstützung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/4685 mit dem Titel „Die NVV-Überprüfungskonferenz zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4681 mit dem
Titel „Die europäische Sicherheitsstruktur retten - Übereinkommen in Gefahr“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Damit ist dieser Antrag mit den
Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt
worden.
Damit ist dieser Tagesordnungspunkt abgeschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,
Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Versorgung am Lebensende sichern Palliativ- und Hospizversorgung stärken
Drucksache 18/4563
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dagegen
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das auch
so beschlossen.
Wir beginnen mit der Aussprache. Als erste Rednerin
hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Viele Menschen haben große Angst vor der
letzten Lebensphase. Diese ganz natürliche Angst vor
dem Sterben verstärkt sich noch durch die Angst, einsam
zu sterben: einsam in einem Krankenhaus, einsam in einem Pflegeheim. Wir alle haben Angst davor, vielleicht
der Familie zur Last zu fallen oder sogar der ganzen Gesellschaft. Wir haben Angst davor, Schmerzen ertragen
zu müssen, Schmerzen, die vielleicht niemand lindern
kann.
Natürlich können wir, das Parlament, diese Ängste
hier nicht einfach auf Knopfdruck beseitigen. Wir können aber dafür sorgen, dass sich jeder schwerstkranke
und auch jeder sterbende Mensch auf eine gute und würdige Versorgung am Lebensende verlassen kann.
({0})
Dabei darf es keine Rolle spielen, ob ein Mensch in der
Stadt oder auf dem Land lebt. Es darf keine Rolle spielen, ob es sich um ein Kind oder um eine Bewohnerin in
einem Pflegeheim handelt. Zum Glück für uns alle ist
die Palliativ- und Hospizversorgung in unserem Land in
den letzten Jahren viel besser geworden. Problematisch
ist aber, dass diese Versorgung nicht allen Menschen zugänglich ist. Deshalb ist es grundsätzlich gut, dass Gesundheitsminister Gröhe vor kurzem einen Referentenentwurf für ein Hospiz- und Palliativgesetz vorgelegt
hat. Wir Grüne im Bundestag bringen heute unsere Vorschläge dazu ein.
Ich werde gleich auf die Inhalte eingehen. Zuerst habe
ich aber noch eine Bitte an die Vorstände der Koalitionsfraktionen. Ich bitte Sie ganz herzlich: Gehen Sie dieses
für uns alle so wichtige Thema doch bitte etwas vorsichtiger und sensibler an. In Ihrem Vorstandsbeschluss zur
Hospiz- und Palliativversorgung vom 16. April 2015
vermengen Sie dieses Thema mit der sogenannten aktiven Sterbehilfe. Das ist nicht sonderlich hilfreich. Das
stiftet nur Verunsicherung bei den Menschen. Das
Thema „aktive Sterbehilfe“ hat weder etwas mit Palliativ- und Hospizversorgung noch mit der Debatte um den
assistierten Suizid zu tun.
({1})
Die Debatte zur Hospiz- und Palliativversorgung ist von
hoher symbolischer Bedeutung.
Wir alle müssen hier unsere Worte sehr gut wählen.
Ganz besonders wichtig ist: Wir dürfen uns nicht darauf
zurückziehen, nur schöne, empathische Worte zu finden.
Es darf nicht nur bei symbolischen Maßnahmen bleiben!
({2})
Diesen Eindruck habe ich aber leider bei manchen
Regelungen, die im Entwurf von Herrn Gröhe vorgesehen sind. Es gibt in dem Entwurf einiges, das wir sofort
unterschreiben können. Darin ist zum Beispiel auch von
der Stärkung der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung, der sogenannten AAPV, die Rede. Es gibt darin
aber auch einige Allgemeinplätze. Die zentralen Fragen
umschiffen Sie. Sie unternehmen nichts gegen den dramatischen Personalmangel in der Pflege, und Sie tun
nichts zur Verbesserung der leider rückständigen deutschen Forschung in diesem Bereich. Ebenfalls nichts tun
Sie zur Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung.
({3})
Wir Grüne wünschen uns von der Großen Koalition hier
weniger Kleinmut und mehr Weitblick.
({4})
Dabei geht es nicht nur um mehr Geld, sondern auch um
Dinge, die erst einmal ganz unerheblich wirken, vermeintlich kleine Dinge, die dann aber am Ende des Tages eine ganz große Wirkung haben.
Wir müssen die Angehörigen sterbender Menschen
viel besser unterstützen. Dazu sagen Sie kaum etwas.
Wir fordern in unserem Antrag, dass die Krankenkassen
künftig auch Angebote der Trauerbegleitung für Angehörige mitfinanzieren. Das wird übrigens nicht viel Geld
kosten. Viele Angehörige fühlen sich schon während einer Sterbebegleitung alleine gelassen. Für viele kommt
aber die richtig harte Zeit erst danach. Dann gibt es Einsamkeit und Erschöpfung, und dann gibt es natürlich
auch die Ängste vor dem eigenen Sterben. Das kann
krank machen. Häufig leiden Trauernde in der Folge an
Depressionen. Hier ist eine gezielte Prävention enorm
hilfreich, und Trauerbegleitung ist ein Teil davon.
({5})
Ein ganz elementarer Punkt ist die Personalsituation
in der Pflege. Sie schreiben in Ihrem Entwurf, Ziel sei
es, die Versorgung Sterbender vor allem in stationären
Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Dieses Ziel ist richtig. Häufig aber ist das weder fachlich noch kulturell
noch finanziell zu stemmen. Es fehlt oft an allen Ecken
und Enden an Personal. So können Pflegekräfte einfach
keine würdige Pflege für die Sterbenden leisten. Die
Pflegekräfte selbst leiden doch auch sehr unter dieser Situation.
Viele Einrichtungen haben einfach nicht genügend
Leute, um eine gute Pflege sowie eine gute Palliativ- und
Hospizversorgung zu leisten. Darauf geben Sie im Moment noch keine Antwort. Das dürfen wir aber nicht länger so laufen lassen! Deswegen fordern wir in unserem
Antrag die Einführung von „verbindlichen Personalbemessungsinstrumenten“.
({6})
Ich weiß, „Personalbemessungsinstrument“ ist ein sperriges Wort. Es geht hierbei darum, in Pflegeheimen und
Krankenhäusern objektiv festzustellen, wie viel Personal
für welche Tätigkeit gebraucht wird. Uns allen hier ist
doch klar: Schon für die Pflege an sich, aber auch für die
Palliativ- und Hospizversorgung brauchen die Einrichtungen einfach viel mehr Hände, als derzeit da sind.
({7})
Das wird Geld kosten. Wir Grüne sagen schon seit vielen
Jahren: Für eine bessere Pflege darf der Einsatz von
mehr Finanzmitteln kein Tabu sein. Das gilt genauso für
die Palliativ- und Hospizversorgung.
Gute Pflege kostet Geld. Wir werden sie nicht zu
Dumpingpreisen bekommen. So denken nicht nur wir
hier im Parlament. Die breite Mehrheit der deutschen
Bevölkerung sieht das doch genauso. Uns muss wirklich
noch einmal deutlich werden: Gute Pflege geht uns alle
an!
Meine Damen und Herren, genau jetzt ist der Zeitpunkt, genau jetzt kann die Hospiz- und Palliativversorgung verbessert werden! Wir Grüne wirken sehr gerne
konstruktiv daran mit.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Emmi
Zeulner von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich
freue mich, dass Sie uns heute einen Anlass geben, über
die Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung in
Deutschland zu diskutieren. Die Verantwortlichen in Ihrer Fraktion haben einen sehr guten Antrag ausgearbeitet. Viele Ihrer Vorschläge finden sich in unserem Eckpunktepapier wieder. Auf der Grundlage dieser
Eckpunkte werden wir in Kürze einen Gesetzentwurf
einbringen.
Bei der Erarbeitung dieses Entwurfs haben wir eng
und konstruktiv mit dem Ministerium zusammengearbeitet. Ich möchte mich ausdrücklich bei Minister
Hermann Gröhe und Staatssekretärin Annette WidmannMauz für die vertrauensvolle und zielorientierte Zusammenarbeit bedanken.
Es ist unser Anspruch, schwerstkranken und sterbenden Menschen die Errungenschaften der Hospiz- und
Palliativversorgung unabhängig von ihrem Wohnort und
ihrem Versichertenstatus zugänglich zu machen. Gerade
vor dem Hintergrund der Debatte um die Suizidbeihilfe
ist eine Stärkung so wichtig. Denn egal wie die Gesetzgebung dort ausfällt: Für eine selbstbestimmte Entscheidung am Lebensende gilt, zuerst alle Möglichkeiten der
Hospiz- und Palliativversorgung ausschöpfen zu können.
({0})
Deshalb ist die Aufklärung in diesem Bereich so wichtig.
Mit dem Gesetz werden wir die Krankenkassen in die
Pflicht nehmen, ihre Versicherten über entsprechende
Leistungen zu informieren. Zudem werden wir Versorgungsplanungen für die letzte Lebensphase in Pflegeheimen auch erstattungsfähig machen. Das ist eine Antwort
auf die berechtigte Sorge von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen, dass bei den heutigen medizinischen
Möglichkeiten eine Übertherapie stattfindet. Gerade dies
konterkariert den Gedanken der Hospiz- und Palliativversorgung.
So ist es mir auch ein großes Anliegen, dass wir bei
der Finanzierung der Palliativstationen nachbessern. Das
Fallpauschalensystem, wie es in Krankenhäusern üblich
ist, belohnt ein Mehr an Leistung mit mehr Geld. Das
passt einfach nicht für Palliativstationen. Tagesgleiche
Pflegesätze hingegen machen die Vergütung unabhängig
von erbrachter Therapie. Wenn ein Sterbenskranker
keine Musiktherapie mehr haben möchte, dann sollte das
ohne einen finanziellen Nachteil für die Station möglich
sein. Zukünftig wollen wir eine echte Wahlmöglichkeit
zwischen den Systemen schaffen. Es wird Krankenhäusern per Gesetz das Recht zugesprochen, gegenüber den
Kassen die Abkehr vom DRG-Entgeltsystem auf Palliativstationen zu erklären, wenn sie es wollen.
Des Weiteren halte ich es wie Sie für unbedingt notwendig, die Hospizbewegung mit ihren Einrichtungen
noch mehr zu unterstützen; denn dort wird unschätzbar
wertvolle Arbeit erbracht, vieles davon ehrenamtlich. So
werden künftig Erwachsenenhospize bei den zuschussfähigen Kosten mit Kinderhospizen gleichgestellt, und der
kalendertägliche Mindestzuschuss wird von 7 auf 9 Prozent angehoben.
Auf ambulante Hospizdienste kommt eine Vielzahl
von Aufgaben zu, zum Beispiel die Betreuung von Angehörigen. Ihre Aufgaben umfassen zudem zum einen
die palliativpflegerische Beratung, zum anderen die Gewinnung, Schulung, Koordination und Unterstützung der
ehrenamtlich tätigen Personen, die für die Sterbebegleitung zur Verfügung stehen. Auch die Netzwerkarbeit
zwischen den vielen Akteuren wird von den Hospizdiensten bewältigt. Bei der Erfüllung dieser vielfältigen
Aufgaben stoßen die Dienste oftmals an ihre Kapazitätsgrenzen. Es ist uns ein Anliegen, diese bei ihrer wertvollen Arbeit weiter zu unterstützen. Deshalb werden wir
alles daransetzen, Finanzierungslücken, die es tatsächlich gibt, zu schließen.
({1})
Auch Ärzte, die besonders qualifiziert sind und interprofessionell mit anderen Leistungserbringern kooperieren, sollen künftig eine Zusatzvergütung erhalten. Damit
schaffen wir Anreize für eine Weiterbildung der bereits
praktizierenden Mediziner. Dass die Kooperation und
Vernetzung zwischen den einzelnen Akteuren weiter
ausgebaut werden muss, ist als dringendes Handlungsfeld erkannt. Nicht nur in Pflegeheimen, auch in Krankenhäusern möchten wir ambulanten Hospizdiensten die
Möglichkeit eröffnen, Sterbebegleitung zu leisten. Zudem soll die ärztliche Versorgung in Pflegeeinrichtungen
ausgebaut werden.
Schließlich gilt es, den Ausbau der SAPV weiter zu
forcieren. Gerade in ländlichen und strukturschwachen
Regionen gibt es noch weiße Flecken. Insbesondere die
Möglichkeit, schwerstkranke Kinder und Jugendliche zu
Hause zu versorgen, ist heute noch ungenügend. Den
Abschluss von SAPV-Verträgen wollen wir durch Einführung eines Schiedsverfahrens künftig erleichtern.
Ich stimme schließlich mit Ihnen überein, liebe Fraktion Die Grünen, dass die Forschung im Bereich der
Hospiz- und Palliativversorgung ausgebaut werden
muss. Wir brauchen mehr Evidenzbasierung, auch im
Bereich der Trauerbegleitung. Um dem Anspruch einer
hochwertigen Palliativversorgung gerecht zu werden,
müssen wir im Bereich der Forschung noch deutlich
mehr tun. Aber dazu stehen wir auch im Austausch mit
dem Forschungsministerium und dem Parlamentarischen
Staatssekretär Müller sowie den Vertretern der Charta
zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen.
Wenn wir uns anschauen, woher wir kommen - von
der Hospizbewegung zu den Hausärzten, die schon immer Begleiter sterbender Menschen waren und sind, zur
spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, die erst
2007 als Leistungsbestandteil in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen wurde, bis hin zum Festschreiben der Palliativmedizin als Pflichtfach im Medizinstudium im Jahr 2009 -, dann sind wir schon einen
langen Weg gegangen. Die von unten gewachsene Struktur umfasst sehr viel Qualität und sehr viel Engagement
und Einsatz der Beteiligten. Es ist uns ein Anliegen,
diese weiter zu fördern und zu unterstützen.
Ich würde mich freuen, wenn wir miteinander an den
bestmöglichen Lösungen arbeiten könnten. Denn es ist wie auch Sie, liebe Kollegin Scharfenberg, gesagt haben
- ein Thema, das jeden von uns ganz persönlich betrifft.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Pia
Zimmermann von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Würde des Menschen ist unantastbar,
und das gilt für alle Menschen in diesem Land.
({0})
Alle Menschen, unabhängig von Alter, Lebenslage und
Lebensverlauf, müssen ein gesetzlich und praktisch gesichertes Anrecht darauf haben, frei zu wählen, ob sie in
der letzten Phase ihres Lebens zu Hause, im Hospiz oder
in einer Pflegeeinrichtung ihren Bedürfnissen entsprechend palliativmedizinisch versorgt und palliativ gepflegt werden wollen.
({1})
Meine Damen und Herren, es geht hier um ein Menschenrecht; es geht um die „Dreieinigkeit“, die staatliche
Pflicht, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und
zu gewährleisten.
Aus den Erfahrungen meiner langjährigen Tätigkeit
in der Pflege kann ich bestätigen: Der vorliegende Antrag der Grünen bietet Ihnen von der Großen Koalition
ein gutes Angebot, Ihre bisherigen Positionen zu überprüfen, zu erweitern und die bestehenden Ungleichheiten aufzuheben.
Ihr Antrag, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, ist in einigen Fragen allerdings noch ausbaufähig. Angesprochen haben Sie zum Beispiel die
Hospiz- und Palliativversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen. Wir sind der Auffassung, dass sichergestellt werden muss, dass in allen Einrichtungen eine
fachlich hochwertige palliative Pflege- und Hospizarbeit
angeboten werden kann.
({2})
Wir sagen auch, dass dies nicht zu zusätzlichen Kosten
für die Menschen mit Pflegebedarf führen darf. Gute
Pflege darf auch hier nicht vom Geldbeutel abhängig
sein.
({3})
In deutschen Pflegeeinrichtungen - das ist noch ein
Knackpunkt - leben 764 000 Menschen; viele von ihnen
sind chronisch krank, schwerbehindert oder erkranken in
der letzten Phase ihres Lebens schwer. Genau diese
Menschen haben aber so gut wie gar keinen Anspruch
auf Hospizversorgung. Denn in der Rahmenvereinbarung zu § 39 a Absatz 1 SGB V steht Folgendes - ich zitiere -:
Die Notwendigkeit einer stationären Hospizversorgung liegt grundsätzlich nicht bei Patientinnen und
Patienten vor, die in einer stationären Pflegeeinrichtung versorgt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heißt, wir haben in
Deutschland eine gravierende Ungleichbehandlung von
Menschen in der letzten Lebensphase. Diese Zweiklassenbetreuung ist nicht hinnehmbar.
({4})
Eine ähnliche strukturelle Ungleichbehandlung gibt
es bei der palliativmedizinischen Versorgung von
Schmerzpatienten in Pflegeeinrichtungen, und das trotz
des bestehenden Rechtsanspruchs auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Das liegt an der fachärztlichen und palliativmedizinischen Unterversorgung in
Alten- und Pflegeheimen und daran, dass diese Einrichtungen noch immer nicht ausreichend Schmerzmittel für
Akutsituationen vorhalten dürfen. Hier setzt der Antrag
von den Grünen wiederum die richtigen Akzente.
Meine Damen und Herren, in den letzten zehn Jahren
hat sich die Zahl der Ehrenamtlichen in der Hospiz- und
Palliativversorgung auf 100 000 verdoppelt. Dieses Engagement ist nicht hoch genug zu bewerten. An dieser
Stelle gilt den Ehrenamtlichen mein besonderer Dank.
({5})
Aber das Ehrenamt muss eine Ergänzung bleiben. Bürgerschaftliches Engagement ist kein Ersatz für fehlende
Fachkräfte und aufsuchende Pflege. Bürgerschaftliches
Engagement darf nicht missbraucht werden, um vorhandene strukturelle Defizite zu verschleiern. Wir benötigen
eine verbindliche Personalbemessung in gesetzlicher
Form.
({6})
Ich teile daher diese Forderung im Antrag der Grünen
ausdrücklich, vermisse aber konkrete Vorschläge.
Einig sind wir darin, dass die Hospiz- und Palliativversorgung eine besonders professionalisierte Pflegearbeit ist und dass es mehr Beratung, hospizliche Sterbebegleitung, Palliativteams und Pflegezeit geben muss. Das
gilt sowohl für Kliniken als auch für Pflegeeinrichtungen. Dafür braucht es aber eine konkrete Personalbemessung. Wir fordern mindestens zwei Vollzeitstellen pro
100 Bewohnerinnen und Bewohner zusätzlich. Doch das
darf nicht zu höheren Kosten für die Bewohnerinnen und
Bewohner führen.
Auf den Punkt gebracht heißt das: Wer wirklich allen
Menschen in Deutschland die Hospiz- und Palliativversorgung zugänglich machen will, muss den Einrichtungen den finanziellen Spielraum dafür bieten, muss das
Personal, welches dafür benötigt wird, besser kalkulieren und die Ungleichheiten zwischen stationärer und ambulanter Pflege sowie den Hospizen aufheben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat die Kollegin
Helga Kühn-Mengel von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie legen heute
einen Antrag vor, den wir in vielen Punkten unterstützen
können. An vielen Stellen sind seine Forderungen deckungsgleich mit denen der SPD. Das Entscheidende ist
aber: Wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen, den wir
in der nächsten Zeit behandeln, vertiefen und sicherlich
an manchen Stellen auch noch verändern werden.
({0})
Wir tun das - es ist schon mehrfach gesagt worden -,
weil die Menschen Sorge darüber haben, was Selbstbestimmung, Würde und Wertschätzung auf der letzten
Wegstrecke des Lebens bedeuten. Wir müssen uns mit
der Angst der Bürger und Bürgerinnen auseinandersetzen, im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung genau diese zu verlieren. Sie haben Angst davor, Schmerzen zu haben, allein zu sein und womöglich anderen
- auch dies ist schon gesagt worden - zur Last zu fallen.
Die hospizliche und die palliative Versorgung kann
mit der Besonderheit, dass dort haupt- und ehrenamtliche Kräfte tätig sind, vieles leisten. Wir wissen von
jenen, die dort arbeiten, dass durch Schmerz- und
Symptomkontrolle, durch Zuwendung und durch Begleitung der Wunsch nach Sterben häufig in den Hintergrund
tritt, dass der Suizidgedanke aufgegeben wird - das ist
nicht nur durch Erfahrung, sondern auch durch Studien
belegt - und dass manche - so paradox es klingt - sogar
wieder Lebensmut schöpfen. Deshalb muss man - ich
betone das ausdrücklich - zu den aktuellen Äußerungen
der Strafrechtslehrerinnen und -lehrer zu diesem Thema
etwas sagen - ich will nicht vertieft darauf eingehen,
weil ich nur wenige Minuten Redezeit habe -; denn
diese haben den Kern der hospizlichen und palliativen
Versorgung überhaupt nicht verstanden.
({1})
Sie differenzieren nicht, sie vermischen die Begrifflichkeiten, sie kritisieren die wirklich hervorragende Arbeit
der Menschen in den Hospizen und auch im ambulanten
Bereich, und sie vernebeln das, was sie wirklich wollen.
In den letzten Jahren wurden viele Verbesserungen erreicht: die Förderung der ambulanten und stationären
Hospizarbeit, die Stärkung des Ehrenamtes - natürlich
als Ergänzung und nicht als Ersatz -, die Weiterentwicklung der Schmerztherapie, die Einführung der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung mit einhergehender Qualifizierung der Ärzte und nicht zuletzt - auch das
ist ganz wichtig - ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine ganz andere Auseinandersetzung mit
diesem Thema.
Jetzt müssen wir mit den guten Angeboten und den
richtigen Weichenstellungen in die Fläche gehen. Der
Gesetzentwurf setzt Schwerpunkte bei der Weiterentwicklung der ambulanten palliativen Versorgung, bei der
Vernetzung und Koordination in der Region, gerade im
ländlichen Raum, bei der Verbesserung der Finanzierung
ambulanter und stationärer Hospize, bei der Finanzierung der Palliativstationen, bei der Patientenberatung
und bei Informationen zu Fragen der hospizlichen Versorgung und Begleitung.
Durch das Gesetz würde ein neuer Rechtsanspruch
geschaffen. Dieser neue Rechtsanspruch - die Kollegin
hat es schon erwähnt - ist ein großer Fortschritt für die
Versicherten; denn eine bessere Aufklärung und Information der Betroffenen und ihrer Angehörigen ist wichtige Voraussetzung für einen gerechten Zugang zu diesen
Versorgungsangeboten, unabhängig vom sozioökonomischen Status und unabhängig von dem Ort, an dem die
Menschen in ihrer letzten Lebensphase versorgt werden.
Es gibt Hinweise darauf, dass nur ein Fünftel der Patienten und Patientinnen Zugang zu diesen Angeboten
hat. Viele wissen gar nichts darüber. Es ist wichtig, dass
die Finanzierung der stationären und ambulanten Hospize verbessert wird und Zuschüsse angehoben werden.
Wichtig ist aber auch, dass keine Vollfinanzierung vorgenommen wird, weil über das Ehrenamt und über die
Spenden das Thema in die Gesellschaft getragen werden
soll.
Wir werden ausreichend Gelegenheit haben, den Gesetzentwurf vertiefend zu behandeln und noch einmal einen Blick auf die palliativpflegerische Versorgung in stationären Einrichtungen wie Pflegeheimen zu werfen. Vor
allem werden wir noch einmal den Bereich der ambulanten Krankenhausversorgung beleuchten. Das ist nämlich
auch ein ganz wichtiger Punkt. Wir wissen, dass
46,6 Prozent der Menschen, also knapp die Hälfte, in
Krankenhäusern sterben. Wir müssen diesen ganzen Diskussionsprozess mit dem Charta-Prozess verbinden.
Zum Schluss will ich zitieren, was ich auf einer Veranstaltung gehört habe: Hospiz ist kein Ort, Hospiz ist
eine Haltung.
({2})
Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Seit Einführung der Pflegeversicherung hat
die Pflegepolitik noch nie so viel Aufmerksamkeit erfahren wie in dieser Legislaturperiode. Ich denke an die beiden Pflegestärkungsgesetze, an den Bürokratieabbau, an
die Neugestaltung des Pflege-TÜVs oder die Reform der
Pflegerausbildung. Aber auch das Versorgungsstärkungsgesetz und sogar das Präventionsgesetz kann man
im Kontext der Pflegeversicherung sehen. Die laufende
Legislaturperiode steht im Zeichen der Pflege. Es gibt
kein Gesetz im Gesundheitsbereich, das nicht direkt oder
mittelbar die Pflege in Deutschland verbessert. Das ist
eine wirklich gute Sache.
Der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung gehört folgerichtig ebenfalls zu unserer Pflegegesetzgebung. Union und SPD haben im Koalitionsvertrag ja verbindlich vereinbart, die Hospize weiter zu unterstützen
und die Versorgung mit Palliativmedizin auszubauen.
Ich gehe davon aus, dass der entsprechende Gesetzentwurf der Koalition bald den Weg ins Plenum finden
wird. Wir werden dann selbstverständlich auch die Vorschläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in die Beratung einbeziehen.
Es liegt auf der Hand, dass die Aufgaben der Palliativ- und Hospizversorgung, das Thema Patientenverfügung und die Diskussion über die Sterbehilfe sich wechselseitig berühren und teilweise überschneiden. Der
Debatte über die Sterbehilfe möchte ich nicht vorgreifen.
Es geht heute um die Belange schwerstkranker und sterbender Menschen, und deren Belange sind ein eigenständiges Anliegen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die besondere Bedeutung von Patientenverfügungen hinweisen.
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass wir den gesetzlich Versicherten zusammen mit der Information zur
Organspende künftig ab dem 50. Lebensjahr auch eine
entsprechende Information über Patientenverfügungen
zukommen lassen. Ich persönlich bin ein entschiedener
Anhänger und Verfechter der Patientenverfügung.
Sehr viele Menschen in unserem Land - wahrscheinlich die meisten - lehnen eine medizinische Überversorgung dezidiert ab. Sie wollen nicht gegen ihren Willen
künstlich am Leben erhalten werden.
Diesen Wunsch nach einem Sterben in Würde haben
wir zu respektieren. Das entspricht einer humanen Gesellschaft. Umgekehrt gilt: Niemand sollte sich den Tod
wünschen, um anderen nicht zur Last zu fallen. Und niemand sollte dies müssen, weil er unter unerträglichen
Schmerzen leidet.
Deshalb ist der Ausbau der modernen Palliativmedizin so wichtig und ein zentrales Ziel unserer Gesundheitspolitik. Die Antwort auf die Nöte Schwerstkranker
und Sterbender muss in einer umfassenden ärztlichen,
pflegerischen und psychosozialen Begleitung bestehen.
So sehen das übrigens auch die beiden großen Kirchen,
die gerade in diesen Tagen die „Woche für das Leben“
proklamiert haben und unter dem Motto „Sterben in
Würde“ zur Stärkung der Palliativ- und Hospizversorgung aufrufen.
Mir liegt vor allem am Herzen, auch im ländlichen
Raum das Leistungsangebot auszubauen, die palliative
Pflege in Heimen und in der häuslichen Umgebung
nachhaltig zu stärken sowie insbesondere die Vernetzung
und Kooperation zwischen den Akteuren voranzubringen. Es ist gut und richtig, wenn es hier mehr Geld für
Ärzte und Kliniken geben wird. Wünschenswert erscheint mir darüber hinaus aber auch, zusätzliche Mittel
für die eigentliche Pflegearbeit bereitzustellen.
Meine Damen und Herren, wir wollen das Versprechen des Koalitionsvertrags einlösen und den Menschen
in Deutschland Zugang zu einer spürbar besseren Hospizarbeit und einer flächendeckenden Palliativversorgung verschaffen. Wir möchten eine Kultur der Hilfe im
Sterben anbieten, die es erlaubt, die letzte Lebensphase
selbstbestimmt und bestmöglich begleitet zu verbringen.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat die Kollegin Bettina Müller für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über die Versorgung schwerkranker und sterbender
Menschen wird in diesem Jahr viel diskutiert. Die Stärkung der Hospiz- und Palliativversorgung ist für die Koalition ein wichtiges Anliegen.
In diesem Bereich gibt es bereits viele Angebote,
sowohl in Form der allgemeinen als auch in Form der
speziellen ambulanten Palliativversorgung. Aber viele
Menschen sind immer noch sehr schlecht über die vorhandenen Strukturen informiert. Zudem reichen die Angebote bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.
Gründe dafür sind die demografische Entwicklung, die
Auflösung der Familienverbände, Singlehaushalte und
der Wunsch der Menschen nach adäquater Versorgung
am Lebensende, möglichst in der häuslichen Umgebung.
Daher hat sich die Koalition entschlossen, einen Gesetzentwurf noch vor dem Sommer ins Parlament einzubringen. Es ist gut, dass auch die Grünen die Notwendigkeit des Ausbaus der Palliativversorgung sehen. Wir
müssen hier fraktionsübergreifend arbeiten. Beim Sterben geht es nicht um Parteizugehörigkeit.
Als Signal nach außen möchte ich jedoch deutlich
machen: Der beste gesetzliche Rahmen reicht nicht aus,
wenn er nicht durch Akteure vor Ort mit Angeboten und
Verträgen ausgestaltet wird. Zum Wohle der Patienten
muss auch auf dieser Ebene mit allen Beteiligten zusammengearbeitet werden. Es kommt also auf die Krankenkassen, die Ärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen,
die SAPV-Vertreter, die Kommunen, die Kreise, die Einrichtungsträger und die vielen Ehrenamtlichen an, um
die Versorgung sinnvoll und zielgerichtet zu stärken.
Konkurrenzdenken, wie es an manchen Stellen noch
vorhanden ist, ist hier völlig fehl am Platz.
Wichtig ist: Bei der Versorgungsplanung darf nicht
nach Schema F vorgegangen werden. Die regionalen Besonderheiten, die schon vorhandenen Strukturen, die Aktivitäten von Ärzten und Kassen und die Zahl der Ehrenamtlichen sind nämlich von Bundesland zu Bundesland
sehr unterschiedlich. Hier gilt es, funktionierende Versorgungsstrukturen nicht zu zerschlagen, sondern vorhandene Netze zu stärken und weiter auszubauen.
Palliative Versorgung sollte zudem immer wohnortnah möglich sein, damit die Betroffenen so oft wie möglich von ihren Angehörigen und von ihren Freunden besucht werden können. Zurzeit ergeben sich Probleme bei
SAPV und AAPV, also der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung, vor allem im ländlichen Raum. Gründe
dafür sind zu geringe Bevölkerungszahlen und zu große
Flächen, sodass die SAPV nicht kostendeckend arbeiten
kann. Darüber hinaus sind die Strukturanforderungen
von SAPV und Palliativstationen im Krankenhaus in
ländlichen Regionen die gleichen wie in Ballungsgebieten, obwohl dort natürlich viel weniger Patienten zu
versorgen sind. Für onkologische Zentren und Krankenhäuser in größeren Städten ist es viel leichter, die Einrichtung einer Palliativstation mit mindestens fünf Betten zu organisieren. In ländlichen Regionen mit deutlich
weniger Patienten kann eine eigenständige Abteilung
hingegen nicht kostendeckend betrieben werden.
Ein wichtiges Ziel der Koalition ist deshalb, im ländlichen Raum Anreize für den Ausbau des Leistungsangebotes zu schaffen. Ein wesentliches Thema ist hierbei
die Erhaltung und der Ausbau der hausärztlichen palliativen Versorgung. Abgesehen davon, dass es in vielen
Bereichen bereits einen Ärztemangel gibt, ist die Versorgung durch weite Wege sowie häufige und nicht lukrative Bereitschaftsdienste viel aufwendiger als in Ballungsgebieten. Gerade die Hausärzte, die oft einen
jahrelangen und sehr intensiven Kontakt zu den schwerkranken Menschen haben, sollten aber eine wesentliche
Rolle in der Versorgung von Palliativpatienten spielen.
({0})
Wichtig ist hier, nicht zu hohe Hürden und zu teure
Strukturen zu basteln, die in der Praxis zu Problemen
führen. Angesichts des rasant steigenden Bedarfs werden wir ganz schnell ganz viele Ärzte und Pflegende
brauchen, die auch in Alteneinrichtungen und Kliniken
eingesetzt werden können. Ein gelungenes Beispiel stellt
in meinen Augen das Modell in Westfalen-Lippe dar, bei
dem Hausärzte in enger Zusammenarbeit mit SAPVTeams eine flächendeckende palliative Versorgung gewährleisten.
Für Patienten, aber auch für Leistungserbringer müssen der Zugang und die Teilnahme zur Versorgung niedrigschwellig sein. Wer mithelfen will, Sterbenden ein
gutes und erträgliches Lebensende zu bereiten, muss es
auch tun können. Dazu müssen die Akteure miteinander
handeln und nicht gegeneinander. Platzhirschdenken und
Versorgungswettbewerb am Sterbebett wären fatal.
({1})
Umsetzung und Verträge brauchen aber viel Zeit, die
die schwerkranken Menschen sehr oft nicht haben. Daher gilt es, die Beratungen jetzt zügig durchzuführen und
die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Versorgungsstruktur zu schaffen. Machen wir uns an die Arbeit!
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Roy Kühne für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute Nachmittag über ein ganz wichtiges Thema,
das in den letzten Minuten einen sehr großen Raum bekommen hat und das in unserer Gesellschaft eines noch
größeren Raums bedarf. Ich begrüße den Vorschlag der
Grünen, und ich denke, dass es dringend notwendig ist,
über Palliativversorgung zu reden, bedarfsgerechte
Strukturen zu definieren und eine bessere finanzielle
Ausstattung zu organisieren. Es geht darum, dass wir
Menschen bis ans Ende ihres Lebens würdevoll begleiten.
Die Auseinandersetzung mit lebensbedrohenden
Krankheiten und mit dem Sterben ist aber nicht nur für
den Betroffenen selbst, sondern auch für viele Angehörige, für das familiäre und berufliche Umfeld eine sehr
schwere Angelegenheit und verlangt viel Kraft. Die Gesellschaft sollte an dieser Stelle verantwortungsvoll damit umgehen und Mittel und Strukturen bereitstellen, um
die damit verbundenen Belastungen aufzufangen. Niemand sollte in der letzten Phase des Lebens allein sein,
weder derjenige, der jemanden begleitet, noch derjenige,
der sich in der selbigen Situation befindet. Wir haben in
Deutschland ein weltweit anerkanntes gutes Gesundheitssystem. Ich denke, es ist wertvoll, dass wir genau
diese Versorgungsstandards, die wir pflegen, wirklich
bis zum Ende des Lebens beibehalten. Damit erweisen
wir Respekt und Würde bis zum Tod.
Eine Befragung des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes aus dem Jahre 2012 hat aber leider ergeben,
dass nur rund die Hälfte der Deutschen den Begriff „Palliativmedizin“ überhaupt kennt und nur etwa ein Drittel
weiß, was sich dahinter ungefähr verbirgt. In vielen Gesprächen, die ich mit Bürgerinnen und Bürgern geführt
habe, wurde des Öfteren klar und deutlich gefragt: Was
ist das eigentlich? Genau hier liegt unsere Herausforderung: Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung erarbeitet, einen weiteren Beitrag zur wertvollen Hospiz- und Palliativversorgung leisten. Ich
denke, dass gerade diesem Gesetzentwurf eine große Bedeutung zukommt. Wir wollen damit die Versorgung
derjenigen verbessern, die eine Begleitung der Schmerztherapie und am Lebensende benötigen, und vor allen
Dingen das Wissen der Bevölkerung um den Wert dieser
Maßnahmen stärken.
Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sind viele
gute Punkte enthalten, die auch von der Koalition bereits
aufgegriffen wurden. Ich denke, es herrscht großer Konsens, dass hier Einigkeit erzielt wird; auch die bereits gehaltenen Reden machen dies deutlich. Wir wollen Änderungen herbeiführen, und wir müssen Änderungen
herbeiführen. Sie müssen genau dort ankommen, wo sie
gebraucht werden: bei den Menschen.
Wie die Erkenntnisse des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes zeigen, muss eine Verbesserung der
Transparenz, der Information und der Beratung stattfinden. Es gibt Versorgungsangebote, die wesentlich dazu
beitragen, dass es besser wird. Diese müssen kommuniziert werden. Natürlich müssen am Schluss auch die
Krankenkassen die entsprechenden Kapazitäten dafür
schaffen. Wir werden in einem nächsten Schritt sicherlich die Vernetzung der Teilnehmer verbessern müssen.
Wir alle wissen, dass gerade die Zusammenarbeit im Gesundheitssystem ein ganz wichtiger Faktor ist, um erfolgreich zu sein. Wir müssen Kooperationen fördern
und die Vergütung spezifisch qualifizierter Vertragsärzte
anpassen.
Darüber hinaus werden wir die Bedeutung der häuslichen Krankenpflege für die Palliativversorgung herausstellen - sie wurde bereits angesprochen - und durch
eine bessere finanzielle Ausstattung die Hemmnisse für
die ambulanten Hospizdienste abbauen. Es ist nach meiner Meinung sehr wichtig, dass wir die multiprofessionelle Arbeit - ich betone das noch einmal -, also die Zusammenarbeit der Menschen, die sich mit diesem
Sachgebiet auseinandersetzen, was sicherlich nicht einfach ist, stärken, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Zudem werden wir die Sterbebegleitung - sie wurde vom Kollegen schon angesprochen - in
den stationären Hospizen finanziell fördern und die ambulante Hospizarbeit in stationären Pflegeeinrichtungen
ebenfalls stärker berücksichtigen.
Weiterhin geht es darum, die Finanzierung von Maßnahmen im Hinblick auf die ambulante Versorgung in
der Fläche bereitzustellen. Wir sind in Deutschland oftmals so aufgestellt, dass wir in vielen Bereichen eine
Flächenversorgung gewährleisten müssen. Auch da sind
wir gefordert.
Gerade in strukturschwachen und ländlichen Regionen sind regionale Initiativen zu fördern. Wir brauchen
sie vor Ort. Mit dem kommenden Gesetzgebungsverfahren werden wir in diesem Jahr die Weichen dafür stellen,
die Folgen der demografischen Entwicklung für die
Gesundheitsversorgung - sie ist nicht aufzuhalten - abzumildern. Wir müssen auch auf die zukünftigen Bedarfe reagieren. Besonders in Verbindung mit dem
Pflegestärkungsgesetz, dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz und dem Gesetz zur Verbesserung der Hospizund Palliativmedizin werden wir, so denke ich, einen
wichtigen Schritt zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung in Deutschland machen. Damit können wir auch
im Hinblick auf die letzte Phase des Lebens einen würdevollen Beitrag leisten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4563 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus
Drucksache 18/4655
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Akzeptanz ist ein entscheidendes Stichwort,
wenn es um den dringend notwendigen Ausbau unserer
Strom- und Gasnetze geht. Wir wollen Planern und BeParl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer
hörden mehr Möglichkeiten geben, Erdkabel unter bestimmten Voraussetzungen auf Pilotstrecken in technisch
und wirtschaftlich sinnvollen Abschnitten zu testen.
Durch eine maßvolle Erweiterung der Möglichkeiten zur
Teilerdverkabelung wollen wir mehr Erfahrung mit dieser Technologie sammeln. Neben den bisherigen Pilotvorhaben, zu denen auch die geplanten neuen Stromautobahnen in Nord-Süd-Richtung gehören, werden nun
weitere Pilotverfahren und -vorhaben eingeführt.
Zudem erweitern wir die Kriterien dafür, wann ein
Erdkabel verlegt werden darf: Neben dem Abstand zu
Siedlungen, der durch eine Freileitung nicht gewahrt
würde, kommen nun Naturschutzgründe und die Querung von großen Bundeswasserstraßen wie Rhein oder
Elbe in Betracht.
Damit die Möglichkeiten weit vorangeschrittener
Projekte nicht gebremst werden, kann der Vorhabenträger bei laufenden Verfahren wählen, ob er von der neuen
Regelung Gebrauch macht oder nicht. Diese Übergangsregelung für bereits beantragte Planfeststellungsverfahren betrifft vor allem die EnLAG-Vorhaben.
Wir wollen dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen
und Bürger künftig stärker in den vielschichtigen Prozess der Netzplanung einbringen und die damit einhergehenden Entscheidungen besser einordnen können.
Mit dem Gesetz soll der bisher jährliche Turnus der
Neufassung der Netzentwicklungspläne im Strom- und
Gasbereich durch einen zweijährigen Planungszeitraum
abgelöst werden. Mit dieser von vielen Akteuren und
auch Umweltverbänden geforderten Veränderung des
Rhythmus sollen die komplizierten parallelen Planungsprozesse der Vergangenheit künftig vermieden werden.
Darüber hinaus haben alle Beteiligten, vor allen Dingen auch die Bürgerinnen und Bürger, ausreichend Zeit
für die Konsultation der jeweiligen Entwürfe. Damit erhöht die Bundesregierung die Transparenz und auch die
Nachvollziehbarkeit der Verfahren zur Ermittlung des
Bedarfs für den Aus- und Umbau der Strom- und Gasnetze.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ausbau
der Stromnetze ist für eine erfolgreiche Energiewende
dringend erforderlich. Wir wollen hier vorankommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein dafür.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung will jetzt die Bedingungen für die
Erdverkabelung lockern, unter anderem um Akzeptanz
zu schaffen. Das klingt erst einmal nicht schlecht; aber
wenn man sich das genau anschaut, muss man feststellen: Auch die Erdverkabelung ist nicht ganz unproblematisch:
Erstens eröffnete dieses Gesetz die Möglichkeit, Trassen durch empfindliche Naturräume zu legen, die dafür
bislang nicht infrage kamen. Unter Naturschutzgesichtspunkten, Stichwort „Biodiversität“, ist es ganz wichtig,
auf diesen Punkt zu achten.
({0})
Zweitens gibt es die falsche Vorstellung, Erdkabel
wären naturverträglich. Doch man muss bedenken, was
mit der Erdverkabelung auch zusammenhängt: alle
900 Meter ein Zugangsschacht, eine kaum nutzbare
Schneise und 40 Tonnen schwere Kabelrollen, die irgendwie zur Baustelle im sensiblen Gebiet gelangen
müssen.
Drittens bekomme ich ein ungutes Gefühl, wenn bei
einer kritischen Infrastruktur wie dem Übertragungsnetz
von technischer Erprobung die Rede ist.
Trotzdem sehen wir auch Vorteile der Erdverkabelung: wenn es um den Landschaftsschutz geht. Aber bevor jetzt alle „Hurra!“ zur Erdverkabelung rufen, wäre es
wichtig, über den Sinn und Zweck des Netzausbaus generell nochmals nachzudenken. Was wissen wir eigentlich über die Notwendigkeit des Netzausbaus? Wir wissen, was die Übertragungsnetzbetreiber als Bedarf
ausgerechnet haben. Wir wissen, dass der marktwirtschaftliche Rahmen dafür auf unbestimmte Zeit so bleiben soll wie heute. Wir wissen, dass sie von einem
wachsenden und ungehemmten Stromhandel in Europa
ausgehen. Und wir wissen, dass ihre Modellrechnungen
die Emissionsziele der Bundesregierung verfehlen. Was
wir aber auch wissen, ist, dass die Bundesregierung
nichts weiß.
({1})
Wie will die Bundesregierung der Bevölkerung glaubhaft machen, dass der Netzausbau genau so vonstattengehen muss, wenn sie die bestehenden Netzkapazitäten
nicht einmal beziffern kann und keine Ahnung hat, in
welchem Zustand sich das bestehende Netz befindet? Das hat sie zumindest auf eine Kleine Anfrage meiner
Fraktion geantwortet.
Alles, womit die Bundesregierung argumentiert, ist
das Ergebnis einer Modellrechnung, die Geschäftsgeheimnis der Übertragungsnetzbetreiber ist und zweifelhafte Annahmen für die Zukunft zugrunde legt.
Wenn wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die
Bedingungen für die Erdverkabelung lockern und den
Netzentwicklungsplan auf einen Zweijahresturnus umstellen, dann lassen Sie uns doch noch mehr beschließen:
Sorgen wir dafür, dass die Bevölkerung, wir Abgeordnete und auch die Bundesregierung wissen können, womit der Netzbedarf überhaupt errechnet wird.
({2})
Die Netzbetreiber sollen ihre Lastflussdaten und ihre Berechnungsmethodik öffentlich machen. Dann kann man
das nachvollzeihen, und wir können auch besser streiten.
Die Linke begrüßt es, den Netzbetreibern mehr Zeit
für die Erstellung der Netzentwicklungspläne einzuräumen. Die Netzbetreiber sollten diese zusätzliche Zeit
nutzen, um Szenarien auszurechnen, mit welchen Maßnahmen der Netzausbau minimiert werden könnte. Das
ist wichtig.
({3})
Dann könnten wir den Rahmen an die Erfordernisse anpassen und müssten nicht - wie jetzt - einen Netzausbau
für eine überholte Energiepolitik voller Fehlallokationen
vorsehen. Denn das möchten die Bürgerinnen und Bürger nicht - vor allem die in Bayern nicht -, und deshalb
bekommt die Bundesregierung auch keine Akzeptanz für
ihre Mammuttrassen. Eine sinnlose Stromtrasse kann
man zwar verlegen - lieber am Nachbarort vorbei oder
durch ein anderes Bundesland führen, man kann sie
oberirdisch führen oder auch vergraben -, das ändert
aber nichts daran, dass sie weiterhin sinnlos ist.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Energiewende ist eines unserer größten energiepolitischen Projekte und zugleich eine große Herausforderung. Wir werden sie bewältigen, aber der Erfolg der
Energiewende hängt ganz wesentlich auch von der Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, den Menschen in unserem Land, ab.
Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie und der starke Ausbau der erneuerbaren Energien
führen dazu, dass Strom vermehrt dezentral und damit
fernab der Verbrauchsstellen erzeugt wird. So erfordern
die Energiewende und der wachsende europäische
Stromhandel in den kommenden Jahren einen umfassenden und beschleunigten Ausbau des deutschen Höchstspannungsnetzes. Auch hinsichtlich der Gasfernleitungsnetze stehen erhebliche Veränderungen an.
Ein zentraler Bestandteil der Energiewende ist natürlich die Versorgungssicherheit; sie ist notwendig. Diese
kann durch neue Höchstspannungsnetze erreicht werden.
Hier gilt, meine sehr verehrten Damen und Herren: So
wenig Netzausbau wie möglich, so viel wie nötig.
Beim Leitungsausbau stehen Optimierung und Nutzung von Bestandsnetzen vor einem Neubau. Maßstab
der Union ist: was Deutschland nutzt, was unsere Wirtschaft braucht und was den Menschen im Land hilft.
Energiepolitik ist Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck. Der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der
Kernenergie ist beschlossene Sache. Wir haben die Weichen in Richtung klimafreundliche Energieversorgung
gestellt und müssen den Weg nun konsequent fortsetzen.
Dazu bedarf es allerdings einer Anpassung der Leitungsinfrastruktur. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf
beim gezielten Ausbau der Energieleitungen.
Beim Umstieg zu einer umweltschonenden, bezahlbaren und sicheren Energieversorgung müssen wir vor allem eines im Auge behalten: die Akzeptanz bei den Bürgern. Es ist daher richtig und wichtig, dass der Deutsche
Bundestag mit den vorliegenden Änderungen des Energieleitungsausbaugesetzes verstärkt auf die Information
der Menschen setzt. Wie schon gesagt: Wir werden die
Energiewende nur mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes schaffen.
Der Bau eines modernen und leistungsfähigen Energieleitungsnetzes muss den Anforderungen und Bedürfnissen der nahen Zukunft entsprechen und angepasst
werden. Da gibt es noch einiges zu tun.
Um den Netzausbau schneller zu realisieren, müssen
wir zum einen die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für
den Ausbau erhöhen und zum anderen die Errichtung
des Netzes durch den Einsatz neuer Technologien erleichtern und damit beschleunigen. Eine verstärkte Erdverkabelung ist dabei ein zentrales Element zur Erhöhung dieser Akzeptanz und erleichtert den erforderlichen
Netzausbau.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung
von Bestimmungen des Rechts des Energieleitungsbaus
leiten wir diese Schritte nun ein. Konkret sieht der vorliegende Gesetzentwurf zum Beispiel folgende wesentliche Änderungen vor:
Erstens. Bereits angesprochen wurde ein Turnuswechsel der Netzentwicklungsplanung für den Stromund für den Gasbereich. Insgesamt hat sich das System
der Netzentwicklungsplanung bewährt. Bei der Bedarfsermittlung in der Praxis zeigt sich allerdings, dass es zu
zeitlichen Überschneidungen bei der Entwicklung des
Szenariorahmens und des Netzentwicklungsplans kommt.
Das wollen wir in Zukunft vermeiden, weshalb wir
den Turnus für den Strom- und Gasbereich von einem
Einjahresrhythmus auf einen Zweijahresrhythmus umstellen. Das führt positiv dazu, dass die Komplexität der
Bedarfsermittlung verringert wird. Zudem werden die
Verfahren für alle Beteiligten generell transparenter insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger.
Die Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber
werden verpflichtet, in den Kalenderjahren, in denen
kein Netzentwicklungsplan vorzulegen ist, einen Umsetzungsbericht vorzulegen. Der Umsetzungsbericht soll im
Wesentlichen eine Fortschreibung der Umsetzungsberichterstattung aus den Netzentwicklungsplänen sein.
Mit diesen Änderungen werden Anregungen aus der
Öffentlichkeitsbeteiligung und von der Agentur für die
Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden in
Europa aufgegriffen.
Zweitens. Wir erleichtern die Möglichkeiten zur Teilerdverkabelung. Bisher wurde der Einsatz von Erdkabeln nur auf einige Pilotprojekte beschränkt. Die restriktive Zulassung der Erdverkabelung wurde zu Recht
kritisiert. Aktuell ist eine Teilerdverkabelung bei vier Pilotprojekten von insgesamt 23 im EnLAG genannten
Leitungsprojekten möglich - und dies auch nur „auf
technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten“. Dies ist zu wenig.
Bislang erfolgte die Genehmigung für eine Erdverkabelung nur unter der Voraussetzung einer Siedlungsannäherung auf 200 bis 400 Meter. Eine Ergänzung der
Kriterien ist erforderlich. Erdkabel sollen künftig in den
Fällen vorgesehen werden können, in denen eine Freileitung gegen bestimmte Bestimmungen des Naturschutzes
verstoßen würde. Dies dient dem Arten- und dem Gebietsschutz. Zudem soll eine Erdverkabelung möglich
sein, wenn die Leitung eine große Bundeswasserstraße
überqueren soll.
Es sollten darüber hinaus weitere geeignete Projekte
bezüglich einer möglichen Erdverkabelung geprüft werden. In dem heutigen Gesetzentwurf werden noch zu wenige Projekte zur Erdverkabelung vorgesehen. Die Erdverkabelung muss bei allen Trassen möglich sein - zum
Schutz von Mensch, Tier und Natur.
Neben der Erweiterung der Kriterien sollen weitere
Vorhaben als Pilotstrecken für die Erdverkabelung festgelegt werden. Hier sollte vor allem die Möglichkeit in
Betracht gezogen werden, die Erdverkabelung auf einem
technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitt
vorzunehmen. Das sollte auch im Fall eines Ersatzneubaus von Stromtrassen möglich sein und gelten. Daher
geht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung, da er
darauf abzielt, die Erdverkabelung auf technisch und
wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten auch auf Basis
der gewonnenen Erkenntnisse weiterzuentwickeln und
zu erleichtern.
Zudem ist es sehr erfreulich und ein wichtiger Fortschritt, dass es künftig grundsätzlich möglich sein soll,
auch auf einer längeren Strecke - zum Beispiel von bis
zu 20 Kilometern - ein Erdkabel zu verlegen. Ob dies
nur als Pilotvorhaben im Rahmen einer 10 bis 20 Kilometer langen Teststrecke getestet werden soll, werden
wir im parlamentarischen Verfahren zu klären haben.
Weiterhin wird durch eine Erweiterung des Erdkabelbegriffs zukünftig die Möglichkeit geschaffen, im Rahmen der vorgesehenen Pilotvorhaben für Teilverkabelung auch Erfahrungen hinsichtlich anderer technischer
Lösungen zur unterirdischen Verlegung von Höchstspannungsleitungen zu sammeln. Ziel der Bemühungen ist
eine Beschleunigung des Netzausbaus insgesamt.
Bereits weit fortgeschrittene Verfahren sollen durch
Umplanungen nicht beeinträchtigt werden. Für bereits
laufende Planungsverfahren ist daher eine Übergangsregelung vorgesehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung arbeitet zielstrebig an der Energiewende. Wir
werden Deutschland nachhaltig stärken und den Menschen und der Wirtschaft in unserem Land Versorgungssicherheit geben.
Ich freue mich daher auf die anstehenden parlamentarischen Beratungen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Holmeier, Sie haben in Ihrer Redezeit von zehn Minuten vieles Richtige gesagt; da will ich gar nicht widersprechen. Sie haben auch viel Grundsätzliches gesagt.
Da Sie schon grundsätzlich über den Netzausbau sprechen, hätte mich die Antwort auf die Fragen, die die
ganze Debatte bewegen, interessiert: Wie geht es in Bayern mit der Formel „2 minus x“ weiter?
({0})
Ist das, was Sie hier vorgetragen haben, die Position der
Union? Sonst redet ja niemand von der Union.
({1})
Die Antworten auf diese Fragen fände ich spannend.
Aber um die Antwort drücken Sie sich herum.
Man muss sich nichts in die Tasche lügen. Aber es ist
doch so: Wir hatten - da muss man in der Vergangenheitsform sprechen - mit dem Bundesbedarfsplangesetz
hier einen großen Konsens über den Netzausbau erzielt,
und zwar trotz aller Unzulänglichkeiten, die das haben
mag.
({2})
Aber diesen Konsens gab es, und er war grundsätzlich.
Nun wird er infrage gestellt. Man kann sich hier über
viele Detailfragen unterhalten. Aber solange diese grundsätzliche Frage nicht gelöst ist, wird im Rahmen des
Netzausbaus wenig oder fast gar nichts gelingen.
({3})
Das ist Ihre Verantwortung als Große Koalition. Darum
müssen Sie sich insgesamt kümmern.
({4})
Ich habe hier im Jahr 2012 gestanden und gesagt: Wir
brauchen Erdkabel nicht nur für Pilotstrecken, sondern
wir brauchen sie im Bundesbedarfsplangesetz, und wir
brauchen sie auch im EnLAG. Man kann die Erdverka9726
belung nicht auf Pilotstrecken beschränken. Das kann
man den Menschen nicht erklären.
Für diese Forderung bin ich damals beschimpft worden: von allen, auch von euch.
({5})
Es hieß damals, diese Forderung wäre unverantwortlich.
Ich bin froh, dass ein Kollege der CSU hier wörtlich
sagt: Wir brauchen überall die Möglichkeit der Erdverkabelung. - Das ist ein Erkenntnisfortschritt. Wenn Sie
das schon 2012 erkannt hätten, dann hätten wir uns viele
Auseinandersetzungen sparen können, und es hätte viele
Akzeptanzverluste beim Netzausbau nicht gegeben. Das
sollten Sie sich an dieser Stelle einmal merken.
({6})
Vielleicht sind Sie aber mit Ihren Erkenntnissen insgesamt etwas spät dran.
Jetzt legen Sie Ihren Gesetzentwurf vor. Darin steht
manches Richtige. Ich will mich aber auf die Erdkabel
konzentrieren. Anstatt es so zu machen, wie es der Kollege Holmeier vorschlägt, also zu sagen: „Bei jedem
EnLAG-Projekt, das nicht schon in Bau ist, führen wir
die Möglichkeit der Erdverkabelung ein“, machen Sie
das nur an drei Teilstrecken.
Das führt zu folgendem Sachverhalt. Ich nenne einmal ein Beispiel: EnLAG-Projekt Nr. 16 in Gütersloh.
Dort soll ein Teilbereich erdverkabelt werden können.
Das ist okay. Aber im nächsten Teilabschnitt soll das
nicht so sein. Deswegen haben wir alle Post vom Landrat bekommen, der uns fragt: Warum macht ihr das nicht
auch im nächsten Teilabschnitt? - Eine Begründung dafür finden Sie im Gesetzentwurf nicht.
Sie finden auch keine Begründung dafür, warum es
aber bei anderen Leitungen gemacht wird. Ich will jetzt
gar nicht vom Wahlkreis von Sigmar Gabriel reden.
({7})
Das ist eine andere Debatte. Aber warum nur bestimmte
Strecken für die Erdverkabelung ausgewählt werden,
statt zu sagen: „Wir geben diese Möglichkeit allen“, das
kann ich nicht nachvollziehen.
Völlig irrsinnig wird es dann im schönen Hürth bei
Köln. Da gibt es die Leitung Nr. 15: Osterath-Weißenthurm. Auch dieses EnLAG-Projekt ist kein Pilotprojekt.
Es handelt sich bei dieser Gegend um eine extrem dicht
besiedelte Region, in der keine Erdverkabelung möglich
ist. Selbst der Netzbetreiber sagt, er würde das gerne machen. Aber nach den gesetzlichen Regelungen geht das
nicht. Stattdessen wird dort jetzt eine Freileitung gebaut.
Hinzu kommt die Bundesbedarfsplanleitung. Nach der
Rechtslage wäre jetzt prinzipiell eine Erdverkabelung
möglich. Das geht aber nicht, weil da schon die EnLAGLeitung als Freileitung gebaut wird.
Meine Damen und Herren, diese Dinge können Sie
den Menschen vor Ort nicht mehr erklären. Ich nehme
wahr, dass das auch die Abgeordneten der Großen Koalition vor Ort nicht mehr erklären können und sich teilweise dagegen aussprechen. Deshalb werden wir uns mit
diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Ich sage Ihnen: Das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vorgelegt haben, ist keine Antwort auf diese Frage.
Wenn Sie das anpacken, dann möchte ich den Kollegen Holmeier beim Wort nehmen. Das heißt in der Konsequenz: Wenn wir uns für die Erdverkabelung entscheiden, dann sollten wir sie für alle EnLAG-Projekte
ermöglichen. Das wäre ein Beitrag zur Akzeptanz für
den Netzausbau. Da könnten wir vorankommen.
Ich bin gespannt, ob das in den Ausschussberatungen
vorgeschlagen wird. Wir stehen für konstruktive Debatten zur Verfügung. Sie können an dieser Stelle beweisen,
ob Sie es mit dem Netzausbau ernst meinen oder ob Sie
sich weiter hinter Paragrafen verstecken und vor Ort eine
ganz andere Politik als hier in Berlin machen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Johann
Saathoff das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Krischer, heute beraten wir den
Gesetzentwurf in erster Lesung. Es ist also nicht so, dass
wir heute darüber abstimmen müssen, sondern wir sind
noch in der Entscheidungsfindung. Ich nehme Ihr Angebot eines konstruktiven Dialogs gerne auf, und ich
denke, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten
sicherlich noch sehr viel darüber sprechen werden.
Klar ist: Wer die Energiewende will, muss auch den
Leitungsausbau wollen.
({0})
Das ist untrennbar miteinander verbunden und wird
überall anerkannt. Es geht also nicht darum, ob wir die
Leitungen ausbauen, sondern darum, wie.
Frau Kollegin Bulling-Schröter, wenn Sie von einer
sinnlosen Leitung sprechen - ich weiß nicht, ob ich es
richtig verstanden habe, dass Sie damit SuedLink meinen -, dann macht mir, ehrlich gesagt, die Allianz in
Bayern langsam Sorge.
({1})
Egal von welcher Fraktion es kommt: Von sinnlosen Leitungen zu sprechen und gleichzeitig die Energiewende
zu fordern, ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung.
Ich habe auch etwas anderes nicht richtig verstanden.
Sie sagten, Erdkabel seien nicht wirklich sinnvoll, StichJohann Saathoff
wort: 40-Tonnen-Schwerlaster. Wenn wir keine Kabel
legen und keine Überlandleitungen bauen dürfen, dann
müssen Sie mir erklären, wie wir den Strom aus der
Nordsee zu Ihnen nach Bayern bringen sollen.
Was genau soll geregelt werden? Das hätte ich gerne
noch einmal deutlich gemacht, aber ich glaube, das haben wir heute schon dreimal gehört. Deswegen will ich
mich auf die zentralen Punkte beschränken.
Die zentralen Punkte im Artikelgesetz sind erstens die
Erweiterung der Strecken - sie ist für die Energiewende
dringend notwendig - und zweitens die breitere Möglichkeit des Einsatzes von Erdverkabelung. Ich habe in
den letzten Wochen eine ganze Menge Gespräche mit
Bürgerinitiativen geführt. Ob Sie es glauben oder nicht:
In diesen Gesprächen kam immer heraus, meist gleich
im ersten Satz: Wir akzeptieren, dass durch Deutschland
Leitungen gelegt werden müssen; aber bitte akzeptieren
Sie dann auch, dass wir diese Leitungen so verlegt haben
wollen, dass wir gut damit leben können. - Das ist die
Forderung nach Erdkabeln.
Die Erdkabel sind eine wesentliche Voraussetzung für
die Bürgerakzeptanz. Das ist mittlerweile, glaube ich, allenthalben bekannt. Der Gesetzentwurf schlägt den Weg
zu einer Verlegung von mehr Erdkabeln ein. Das ist die
richtige Richtung. Die Gründe dafür sind bekannt: gesundheitliche Auswirkungen von Stromleitungen, Werterhalt der Grundstücke, Erhalt der Wertschöpfung der
Regionen, insbesondere für den Tourismus, und Erhalt
des Landschaftsbildes.
Dass die Verlegung von Erdkabeln kein großes Problem ist, kann ich am Beispiel meiner Heimat Ostfriesland deutlich machen. Dort werden derzeit viele Erdverkabelungen aus den Offshorewindparks durchgeführt.
Dazu gibt es null negative Resonanz aus der Bevölkerung.
({2})
Wenn man den Erhalt des Landschaftsbildes, der
Wertschöpfung beim Tourismus und des Wertes der
Grundstücke in die Diskussion um die Mehrkosten der
Verkabelung einbezieht, dann, denke ich, wird es eine
faire Diskussion. In Ostfriesland würde man sagen: De
een hett Knippke, un de anner hett dat Geld.
Folglich sollten wir prüfen, ob nicht noch weitere Kriterien für die Erdverkabelung aufgenommen werden sollen. Vielleicht sollten wir sogar - ich weiß, dass ich mich
dabei ein bisschen auf dünnem Eis bewege - zumindest
bei HGÜ über ein Primat der Erdverkabelung als möglicherweise besseren Weg nachdenken.
({3})
Das wäre jedenfalls bei der Gesamtbetrachtung aller
Kosten, angesichts einer möglichen Verzögerung der
Umsetzung, die sich ergeben kann, wenn Menschen vor
Ort die Leitung nicht wollen, und in Bezug auf die Verfügbarkeit zu überlegen. Wir sollten uns zwischen der
ersten und der zweiten Beratung die Zeit nehmen, uns in
einer öffentlichen Anhörung die Sicht vor Ort vor Augen
zu führen und über die weiteren Entscheidungen nachzudenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Energiewende
wird von den Bürgerinnen und Bürgern getragen. Sorgen
wir also dafür, den Leitungsausbau so zu gestalten, dass
er von den Bürgerinnen und Bürgern auch akzeptiert
werden kann!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/4655 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
Drucksache 18/4683
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe wiederum dem
Kollegen Johann Saathoff für die SPD-Fraktion das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun wissen Sie auch, warum ich gerade nicht schon ein
schönes Wochenende gewünscht habe. Seien Sie gewiss:
Für mich ist es genauso ungewöhnlich wie für Sie, zwei
Reden hintereinander zu halten. Wir versuchen es, und
wir bekommen es miteinander hin.
Die Energiewende ist ein Projekt, das man nicht einfach einmal per Gesetz beschließt, und dann wird alles
gut. Das erzähle ich immer wieder, wenn wir Besuch
von ausländischen Delegationen bekommen, die teils
sehr euphorisch zu uns in den Wirtschaftsausschuss
kommen. Erst fragen sie: Meint ihr das eigentlich ernst
mit der Energiewende? - Wenn wir das bejahen, dann
fragen sie: Wie bekommt ihr das eigentlich hin? - Die
Euphorie wird leicht gebremst, wenn man darüber be9728
richten muss, dass es nicht reicht, ein Gesetz zu verabschieden, damit die Energiewende stattfindet, sondern
dass man während des Prozesses der Energiewende ständig nachjustieren muss. Wir haben es bei der Energiewende ganz oft mit Anpassungsbedarfen zu tun, aber
nicht deshalb, weil das Gesetz etwa schlecht wäre, was
man ab und an hört, sondern weil sich die Rahmenbedingungen auch aufgrund des guten Gesetzes, das vorher
verabschiedet wurde, verändern.
Was soll in diesem Rahmen neu geregelt werden? Wir
werden zwei Branchen in die Besondere Ausgleichsregelung wieder aufnehmen, nämlich solche, die sich mit
der Herstellung von Schmiede-, Press-, Zieh- und Stanzteilen, also der Wärmebehandlung von Stahl, befassen.
Das betrifft insbesondere die Unternehmen der Umformung, zum Beispiel den in Deutschland wichtigen Karosseriebau. Diese Branchen erfüllen nach den neuesten
Erkenntnissen die Voraussetzungen, die wir im letzten
Jahr formuliert haben: Sie haben nämlich eine Handelsintensität von 4 Prozent und eine Stromkostenintensität
von 20 Prozent. Die Branchen, die diese Voraussetzungen erfüllen, dürfen nicht schlechtergestellt werden. Es
ist nur gerecht, dass sie mit aufgenommen werden.
Der zweite Bereich, den wir ändern wollen, ist die anteilige Direktvermarktung. Auch darüber haben wir im
letzten Jahr - ich kann mich gut erinnern - im Sommer
lange miteinander gesprochen.
({0})
Mehrere Anlagen werden zum Beispiel in einem Windpark an einem Netzverknüpfungspunkt angeschlossen.
Bisher war nur die Direktvermarktung insgesamt möglich; man konnte es nicht aufteilen. Nun ist das auch anteilig möglich. Die durch die alte Regelung, durch die
Verhinderung der anteiligen Direktvermarktung, entstandenen wirtschaftlichen Nachteile sollen nun ausgeglichen werden. Auch das ist nur mehr als gerecht.
({1})
Die weiteren Regelungsinhalte sind eher unspannend.
Dabei haben wir im Moment gar keinen Mangel an spannenden Themen. Deswegen will ich dazu etwas sagen.
Zuerst zum nationalen Klimabeitrag. Das 40-ProzentZiel war Konsens; es steht im Koalitionsvertrag. Die
Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2 ist seit dem
Kabinettsbeschluss vom Dezember bekannt. Im Dialog
mit der Kraftwerkswirtschaft haben wir Lösungen zu
finden. Dieser Dialog hat endlich begonnen. Das ist etwas, was wir begrüßen können. Klar ist: An der zusätzlichen Einsparung von 22 Millionen Tonnen führt kein
Weg vorbei. Wie bei den Energieleitungen würde ich
aber auch hier sagen: Es geht nicht um das Ob, sondern
um das Wie. Um das Wie ausreichend beleuchten zu
können, fehlen im Moment die Alternativvorschläge.
Fragen sind zwar besser als Antworten - Stichwort:
„Günther Jauch“ -, aber das reicht nicht.
Wir alle wissen, dass dieses Wochenende zwei große
Demonstrationen in Berlin und in der Lausitz stattfinden. Wir werden diesen Menschen verantwortungsvoll
gegenübertreten müssen, und wir werden mit ihnen zusammen eine Lösung finden müssen. Wir werden die Alternativvorschläge, die von diesen Menschen kommen,
bewerten und abwägen müssen, um gemeinsam zu einer
Lösung zu kommen. Wir wollen nämlich nicht, dass
durch die Einsparung von 22 Millionen Tonnen CO2,
wie von vielen befürchtet - die Sorgen muss man ernst
nehmen -, Strukturbrüche entstehen. Die tatsächlichen
direkten Auswirkungen auf jedes der 1 500 Kraftwerke
in Deutschland sind noch nicht kalkuliert. Sie müssten
die Grundlage für eine faire Bewertung jedes Vorschlages bilden.
Wir wollen die Menschen, die in der Stromversorgung arbeiten, mitnehmen. Das sind wir ihnen schuldig.
Darauf können sie sich auch verlassen. Deswegen sind
Alternativvorschläge gerne gesehen, Alternativvorschläge von der Wirtschaft, von den Gewerkschaften,
von den Umweltverbänden und auch von den Bürgerinnen und Bürgern.
Durch die Diskussion zum Klimabeitrag gerät die
Diskussion zum Strommarktdesign völlig in den Hintergrund. Man kann sich fragen: Ist dies gut, oder ist es
schlecht? - Das Grünbuch liegt vor; wir sind in der
Phase, in der die Reaktionen ausgewertet werden. Wir
stehen vor der Erarbeitung des Weißbuches durch das
Ministerium, und ich habe bisher in der gesamten Diskussion keine grundsätzlichen Bedenken gegen den
Strommarkt 2.0 vernommen. Es gibt einige, die grundsätzliche Bedenken haben; jedoch haben sie diese aus
meiner Sicht nicht ausreichend begründet.
Einigkeit besteht in großen Teilen bei den sogenannten Sowieso-Maßnahmen: Die Spot- und Regelleistungsmärkte sollen weiterentwickelt werden. Wir alle wissen:
Dort steckt Potenzial. Ferner ist die EU-Marktkopplung
zu vergrößern. Darüber sind wir uns weitestgehend einig. Alternative Anbieter von Regelleistungen sollen zugelassen werden. Dafür würde ich eine breite Mehrheit
prognostizieren wollen. Es geht außerdem darum, die
Bilanzkreisverantwortung zu stärken und dadurch Effizienz zu schaffen. Ich glaube, hier sind wir uns im Großen einig. Dann sollen die Stromnetze ausgebaut werden, und dabei ist auch auf die Bürgerakzeptanz zu
achten. Darüber haben wir gerade gesprochen. Schließlich soll die einheitliche Preiszone erhalten bleiben, und
die europäische Kooperation soll intensiviert werden.
Auch hier kann ich, so glaube ich, eine breite Mehrheit
im Hause sehen.
Die energiepolitische Gemengelage ist derzeit nicht
einfach, keine Frage. Darüber, dass sie nicht einfach ist,
können wir uns einig sein. Trotzdem sollten wir die
Dinge, bei denen Einigkeit besteht - ich habe sie gerade
benannt -, zügig abarbeiten und nicht warten, bis endgültig weißer Rauch bei allen Fragen aufsteigt. Dass wir
jetzt in der Energiewende zügig weiterarbeiten, das können die Bürger von uns erwarten; denn sie haben die
Energiewende insgesamt eben auch gewollt.
Dazu gehört auch das KWKG. Die Positionen liegen
aus meiner Sicht nicht weit auseinander. Herr Krischer,
bevor Sie eine Zwischenfrage stellen, sage ich es lieber
gleich: Wir haben einen doppelten CO2-Einspareffekt.
Ich habe schon in meiner letzten Rede dazu über die
Möglichkeit eines Wärmebonus gesprochen. Auf jeden
Fall müssen wir das Potenzial des KWKG in der Verbindung mit den regenerativen Energien sehen und das stärken. Ich könnte mir also vorstellen, dass zu KWKG-Anlagen auch thermische Solaranlagen mit Speichern
gehören. Diese Speicher können auch eine nicht unbedeutende Rolle bei der Energiewende spielen, nämlich
dann, wenn wir zu viel Strom im Netz haben.
Die Themen sind kompliziert. Normal ist, dass die
Opposition und die die Regierung tragende Koalition unterschiedliche Ansichten vertreten. Beide sind gut beraten, einander gut zuzuhören. De een kann rieden, un de
anner hett dat Peerd, heißt es in Ostfriesland, wenn Entscheidungen getroffen werden. Viele Entscheidungen
wollen gut abgewogen und gut überlegt sein. Einige
können wir bereits jetzt treffen, damit wir die von den
Bürgerinnen und Bürgern gewünschte Energiewende
weiter fortführen können.
Und nun wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
({2})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich hätten die Industrierabatte beim Ökostrom zurückgefahren werden sollen, so hieß es vor gut einem
Jahr, kurz vor der EEG-Reform 2014. Damals hatte EUKommissar Almunia wegen der Industrieprivilegien das
ganze EEG als unerlaubte Beihilfe infrage gestellt.
Gabriel und Almunia einigten sich schließlich, aber das
Ergebnis war eine böse Überraschung: Die Industrieprivilegien sind nicht beschränkt, sondern sogar noch ausgeweitet worden. Zum Tausch wurde das EEG gefleddert: Ausschreibungen für die Erneuerbaren ohne Not
schon ab 2017 und die Pflicht zur Direktvermarktung.
So wurde im EEG quasi die eigene Abschaffung festgelegt. Ich finde, das war ein zu hoher Preis.
({0})
Aber die Industrie sollte ja um jeden Preis ihre Vorteile behalten. 90 Prozent des produzierenden Gewerbes
können heute Anträge stellen. Wer 4 bis 10 Prozent Handel mit dem Ausland treibt und als stromintensiv gilt, bekommt bei der EEG-Umlage Rabatte. Die so privilegierten Hersteller können also mit staatlicher Unterstützung
diejenigen Hersteller niederkonkurrieren, die nur für das
Inland produzieren. Für gerecht halte ich das nicht.
({1})
Die 4,8 Milliarden Euro Industrieentlastung werden
von den übrigen Verbraucherinnen und Verbrauchern gestemmt - auch an dieser Stelle ein Sozialprogramm für
die Industrie sondergleichen. Man hätte die EEGReform nutzen können, um die Industrieprivilegien auf
ein sinnvolles Maß zurückzustutzen; darüber haben wir
x-mal diskutiert. Das ist total versäumt worden. Stattdessen halten immer mehr Branchen die Hand auf, nun auch
die Hersteller von Türklinken und Armaturen und allerlei Stanz- und Prägeteilen. Sigmar Gabriel wird die
Geister, die er selber rief, nicht mehr los. Es ist nur gerecht, wenn die dann auch etwas fordern und bekommen.
Hunderttausende Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie seien sonst gefährdet, so redete Gabriel
damals. Wenn jemand mit 100 000 Arbeitsplätzen argumentiert, dann, finde ich, sollte man immer sehr hellhörig sein.
({2})
Allmählich muss man sich schon fragen, ob nicht auch
die Existenz der energieintensiven Friseurbetriebe, der
familiengeführten Kleinstbäckereien und, und, und gefährdet ist, weil sie den Strompreis vielleicht nicht zahlen können. Wie soll man rechtfertigen, dass sie keine
Privilegien bekommen, liebe Kolleginnen und Kollegen?
({3})
Just in diesen Tagen fliegen Minister Gabriel wieder
angebliche 100 000 Arbeitsplätze um die Ohren. Diesmal mobilisieren Kohlelobby, IG BCE und Verdi. Auch
dies sind, sage ich, die Geister, die der Minister selber
rief. Wenn morgen hier in Berlin von den Gewerkschaften mit der angeblichen Gefährdung von 100 000 Arbeitsplätzen Stimmung gegen die Klimaabgabe gemacht
wird, ist das genauso schief, wie es damals Gabriels Arbeitsplatzzahlen bei der energieintensiven Industrie waren.
Der Klimabeitrag ist eine notwendige Abgabe für die
dreckigsten und ältesten Kohlemeiler, um einen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, die Klimakatastrophe aufzuhalten; die trifft uns alle. Die Mobilisierung der Kohlelobby gegen den Klimabeitrag ist umso absurder, wenn
man weiß, dass auch die Braunkohletagebaue nach wie
vor privilegiert sind. Sie sind aufgrund von Eigenverbrauch komplett von der EEG-Umlage befreit. Das sind
jährlich Hunderte Millionen Euro Subventionen für die
klimaschädlichste Form der Stromerzeugung, und das ist
schlicht unfassbar.
({4})
Nichtsdestotrotz ist klar: Wir müssen für alternative
Arbeitsplätze sorgen. Ich verstehe die Probleme und
Sorgen der Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen
wirklich etwas tun
({5})
und ihnen auch die Ängste nehmen, um das hier noch
einmal klar und deutlich zu sagen.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Andreas Lenz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Bulling-Schröter, nur kurz zu den Begrifflichkeiten.
Konkurrenz kann nur bestehen, wenn man im Wettbewerb steht. Ich habe noch nicht erlebt, dass Härtereien
mit Friseuren im Wettbewerb stehen. Dies vielleicht zur
Klarstellung der Begrifflichkeiten, sodass man in der Sache diskutieren kann.
({0})
Mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sorgen wir dafür, dass energieintensive Unternehmen aus
den Branchen Schmieden, Oberflächenveredelung und
Härtereien die Besondere Ausgleichsregelung in Anspruch nehmen können. Damit können die betroffenen
Unternehmen von der EEG-Umlage entlastet werden. Es
geht um rund 80 Unternehmen, für die wir so Planungsund Investitionssicherheit schaffen. Zudem enthält der
Gesetzentwurf eine Klarstellung zur anteiligen Direktvermarktung.
Mit der Reform des EEG im vergangenen Jahr sind
wir bei der Energiewende einen wichtigen Schritt vorangekommen. Wir haben einen planbaren und verlässlichen Ausbaupfad geschaffen. Wir werden bis 2025 einen
Anteil der erneuerbaren Energien im Strombereich von
40 bis 45 Prozent und bis 2035 von 55 bis 60 Prozent haben.
Das Sinken der EEG-Umlage auf 6,17 Cent pro Kilowattstunde sowie der Rückgang der Strompreise sind
gute Signale. Millionen von privaten Haushalten profitieren davon.
Der Erfolg der Energiewende muss sich aber auch daran messen lassen, dass Deutschland ein wettbewerbsfähiger Wirtschafts- und Industriestandort bleibt. Dazu
sind Sonderregelungen für die stromintensiven Industrien schlichtweg erforderlich. Die europafeste Reformierung der Besonderen Ausgleichsregelung war deshalb ein Schwerpunkt bei der Novelle des EEG. Wir
kümmern uns um den Industriestandort Deutschland.
Uns sind die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze
im Industriebereich wichtig.
Oft wird gesagt, die Industrie leiste keinen Beitrag für
die Energiewende. Das ist weit gefehlt. Die deutsche Industrie zahlt 7,4 Milliarden Euro EEG-Umlage. Das ist
nahezu so viel, wie die privaten Haushalte insgesamt bezahlen. Die Industrie trägt somit knapp ein Drittel der
Gesamtkosten der EEG-Umlage. Übrigens bezahlen die
Industrie, der Handel und das Gewerbe über die Hälfte
der EEG-Umlage.
Ohne die Besondere Ausgleichsregelung für stromintensive Unternehmen würde die EEG-Umlage für
2014 lediglich um 1,36 Cent pro Kilowattstunde geringer ausfallen. Hinsichtlich der jetzt zu treffenden Änderungen für die Härtereien würde die Minderbelastung lediglich bei etwa 0,001 Cent pro Kilowattstunde liegen.
Die zusätzliche Belastung für die übrigen Umlagezahler
hält sich also in engen Grenzen. Der Nutzen für die betroffenen Unternehmen und die damit verbundenen Arbeitsplätze ist dafür umso höher. Ohne die Besondere
Ausgleichsregelung würde ein privater Haushalt zwar im
Schnitt circa 55 Euro pro Jahr weniger bezahlen, wegen
der zu erwartenden Wohlstandsverluste würde das real
verfügbare Einkommen jedoch im Durchschnitt um rund
500 Euro pro Jahr sinken.
Gerne wird auch die Mär verbreitet, Deutschland
habe im Vergleich niedrige Industriestrompreise. Lassen
Sie mich dazu aus dem kürzlich vorgelegten Fortschrittsbericht zur Energiewende zitieren:
Die durchschnittlichen Strompreise für Industriekunden liegen in Deutschland in weiten Teilen über
dem EU-Durchschnitt und deutlich über den Strompreisen in den USA.
Es besteht die Gefahr, dass hohe Stromkosten zu einer
schleichenden Deindustriealisierung und zu Arbeitsplatzverlusten in Deutschland führen. Bereits heute ist
die Investitionstätigkeit der energieintensiven Industrie
in Deutschland chronisch schwach. Wie eine Studie des
Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, wurde im vergangenen Jahrzehnt nicht einmal ausreichend investiert,
um den Verschleiß der Produktionsstätten auszugleichen.
Wir brauchen also gerade für energieintensive Unternehmen einen verlässlichen Rahmen für Investitionen.
Diesen haben wir durch die Besondere Ausgleichsregelung europarechtlich sicher geschaffen. Auch für Härtereien und Schmieden liegen die entsprechenden Voraussetzungen vor. Deshalb weiten wir jetzt endlich auch die
Besondere Ausgleichsregelung auf diese Branche aus.
Es ist übrigens Unsinn, in diesem Zusammenhang von
Dienstleistungen zu sprechen. Die Branche verfügt über
eine hohe industrielle Wertschöpfungstiefe.
Es gibt auch andere Branchen, die die Kriterien erfüllen könnten. Dies gilt es, jetzt im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen. Was bedeutet die Aufnahme der Härtereien konkret? Ich habe hierzu in dieser Woche mit
einem betroffenen Unternehmer aus Schwaben gesprochen. Aus der AG habe ich ja nun hinreichende Schwäbischkenntnisse und habe den Gesprächspartner dementsprechend auch verstanden.
({1})
Das Unternehmen hat seit über einem Jahr eine Baugenehmigung für eine weitere Fertigungshalle. Pläne wurden bis jetzt auf Eis gelegt. Nach Aufnahme wird die
Härterei jetzt 200 neue Arbeitsplätze schaffen und zusätzlich Arbeitsplätze sichern können. Bei einem Stromverbrauch von 50 Millionen Kilowattstunden beträgt die
Entlastung für das Unternehmen rund 500 000 Euro im
Jahr, Geld, das jetzt für Zukunftsinvestitionen für den
Erhalt und Aufbau von Arbeitsplätzen zur Verfügung
steht. Wir finden das richtig.
Mit dem Änderungsgesetz ist auch eine Klarstellung
im Bereich der anteiligen Direktvermarktung verbunden.
Auch zukünftig wird es möglich sein, bei der anteiligen
Direktvermarktung eine gemeinsame Messeinrichtung
zu verwenden. Gerade Windparks profitieren davon.
Missbrauchsgefahren entstehen dadurch nicht. Daher ist
es richtig, dass wir nun diese Klarstellung im Gesetz
vornehmen. Ansonsten hätten einzelne Betroffene auch
hier massive Einschnitte zu erwarten gehabt. Daran sehen wir: Wir betreiben eine ausgewogene Energiepolitik.
Wir kümmern uns um sachgerechte Lösungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die
Energiewende voranbringen, ohne dabei Bürgerinnen
und Bürger sowie Unternehmen in unserem Land zu
überfordern. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung stehen hinter der Energiewende. Das soll auch so bleiben.
Das Änderungsgesetz ist ein wichtiger und sinnvoller
Beitrag zur langfristigen Planung und zur Investitionssicherheit für die energieintensive Industrie in Deutschland. Künftig müssen wir die erneuerbaren Energien
noch mehr an den Markt heranführen. Die Ergebnisse
der ersten Ausschreibungen im Photovoltaikbereich sind
vielversprechend. Wir werden diese jedoch genau prüfen.
Zudem gilt es, die Systemdienlichkeit stärker zu berücksichtigen: Wo macht der Zubau welcher erneuerbaren Energien Sinn? Die Kraft-Wärme-Kopplung muss
auch zukünftig eine wichtige Rolle im Konzert der Maßnahmen für das Gelingen der Energiewende spielen.
Herr Saathoff hat das natürlich schon ausgiebig formuliert. Das war eines der wenigen Dinge, die ich verstanden habe. Beim Friesischen war ich nicht so - ({2})
- Beim Plattdeutschen - da fängt es schon an - war ich
nicht so kundig.
({3})
- Genau! Aber es gibt ja Hoffnung, dass ich auch beim
Plattdeutschen noch Erkenntnisgewinne erlangen werde.
Weiterhin beschäftigt uns - wir haben das schon gehört - die Ausgestaltung des künftigen Strommarktdesigns in Deutschland. Die ersten Vorschläge dazu liegen
hier auf dem Tisch. Es gilt nun, intensiv zu diskutieren.
Da gibt es durchaus noch Diskussionsbedarf.
Wir sollten den Mut zu marktwirtschaftlichen Ansätzen für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit
haben. Gleichzeitig ist die damit verbundene Kapazitätsreserve so auszugestalten, dass die notwendigen Kapazitäten auch flächendeckend verteilt vorhanden sind.
Bei allen nationalen Anstrengungen ist zudem eine
enge Koordinierung auf europäischer Ebene notwendig.
Es gibt nach wie vor viel zu tun. Wir stellen uns den
Aufgaben und finden - wie jetzt bei den Härtereien und
der anteiligen Direktvermarktung - verantwortliche Lösungen.
Ein schönes Wochenende! Für mich war es die letzte
Rede! Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte
Damen und Herren! Vor nicht einmal einem Jahr haben
wir bzw. Sie als Große Koalition die Änderungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes verabschiedet. Heute müssen wir uns schon wieder mit einer Änderung dieses Gesetzes befassen. Wieder geht es darum, dass die
Industrieprivilegien ausgeweitet werden, also mehr Unternehmen als bisher bei der EEG-Umlage begünstigt
werden.
Ich erwarte, dass die Bundesregierung ab sofort mehr
Elan an den Tag legt und sich bei den energiepolitischen
Themen, wo auch die Bürgerinnen und Bürger profitieren - zum Beispiel diejenigen, die sich für die Energiewende engagieren -, mehr einsetzt. Es gäbe wirklich
genug Bedarf, beim Erneuerbare-Energien-Gesetz nachzusteuern.
({0})
Weil die Zeit knapp ist, nenne ich Ihnen beispielhaft
nur drei Punkte:
Erstens. Sie haben uns einen Ersatz für das weggefallene Grünstromprivileg versprochen. Zurzeit kann Ökostrom aus deutschen EEG-Anlagen nicht als solcher verkauft werden. Das heißt, der wertvolle Grünstrom
verschwindet im diffusen Graustrom. Für die Akzeptanz
der Energiewende - auch für Integration der erneuerbaren Energien - ist aber ein Grünstromvermarktungsmodell wichtig. Es liegen inzwischen mehrere Vorschläge
vor. Deshalb frage ich Sie von der Bundesregierung,
wann Sie hier endlich aktiv werden.
Es gab zweitens auch noch den Vorschlag eines Mieterstrommodells, bei dem auch Mieter, die sich keine eigene Solaranlage auf das Dach setzen können, mehr von
der Energiewende profitieren. Auch hierzu hören wir
von der Regierung nichts.
Drittens besteht dringender Handlungsbedarf bei der
Photovoltaik. Der Ausbau ist inzwischen auf 1 800 Megawatt im Jahr eingebrochen. Wenn wir nur die letzten
sechs Monate betrachten, ergibt sich noch etwas Gravierenderes. Es wäre dann, hochgerechnet auf das Jahr, nur
noch ein Ausbau von 1 200 Megawatt. Eigentlich wollte
die Bundesregierung das Doppelte pro Jahr erreichen.
Das heißt also, Sie müssen Maßnahmen ergreifen, um
überhaupt Ihr eigenes, selbstgestecktes Ziel zu erreichen.
Wir erwarten da Vorschläge von Ihrer Seite. Es ist dringend nötig, bei der Energiewende voranzukommen, weil
wir den Mix aller erneuerbaren Energien brauchen.
({1})
Grundsätzlich scheint bei Ihnen in der Koalition gerade so einiges schiefzulaufen. Kaum macht Minister
Gabriel einen halbwegs vernünftigen Vorschlag zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes in der Energiewirtschaft,
schon malt die Braunkohleindustrie den drohenden Verlust von Zehntausenden Arbeitsplätzen an die Wand. Das
sind wirklich abenteuerliche Berechnungen.
Die CDU - namentlich Herr Fuchs und Herr Kauder stellten sich gegen diese Pläne auf. Nun stehen Sie vor
einem Problem; denn die Braunkohle emittiert allein genauso viel CO2, wie im Rahmen des CO2-Budgets für
das Jahr 2050 überhaupt nur vorgesehen ist. Das heißt,
die Abschaltung der Braunkohlekraftwerke ist unausweichlich, wenn Sie denn Ihre eigenen Klimaziele nicht
aufgeben wollen.
({2})
Es ist jetzt Ihre Pflicht, den Strukturwandel einzuleiten
und zu gestalten, statt wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß
aufzustampfen und Nein zu schreien.
({3})
Heute war in der Zeitung zu lesen, dass die Energiewende unter dem Strich viele neue zusätzliche Arbeitsplätze bringt. Besonders hilfreich sei, wenn am dezentralen Ausbau des Ökostroms vor allem kleine und mittlere
Unternehmen beteiligt sind. Wenn die Bundesregierung
im Bereich Wärme- und Energieeffizienz endlich einmal
aus den Puschen kommen würde, könnten hier noch sehr
viel mehr Jobs entstehen, heißt es in dieser zitierten Studie.
Der notwendige Strukturwandel kommt sowieso.
Deswegen sollte die Politik ihn nun aktiv gestalten, auch
arbeitsmarktpolitisch. Es wäre doch Ihre Aufgabe, auf
die Sorgen der Menschen einzugehen, ihnen ganz konkrete Angebote zu machen. Doch stattdessen gießt die
Union ständig neues Öl ins Feuer, missbraucht ganz
populistisch die Angst der Menschen und hintertreibt die
Pläne ihres eigenen Koalitionspartners. Da sind Sie von
der Union ausnahmsweise einmal auf einer Linie mit den
Gewerkschaften, die in dieser Debatte mit Zahlen operieren, die wirklich jeglicher Grundlage entbehren.
({4})
- Ja.
({5})
- Ja. Schauen Sie einmal in die Studie des Umweltbundesamtes, die heute Morgen in der Zeitung stand: 4 700 Arbeitsplätze.
({6})
Laut Koalitionsvertrag wollen Sie beide - SPD und
Union - die Energiewende. Aber dann überzeugen Sie
die Menschen! Nehmen Sie sie mit!
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksacke 18/4683 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. Mai 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich schließe mich all den
guten Wünschen für das Wochenende an.