Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und möchte Ihnen vor Eintritt in unsere Tagesordnung mitteilen, dass interfraktionell vereinbart
wurde, die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 1, also
Außenpolitik, Europa und Menschenrechte, im Anschluss an die Regierungserklärung im Umfang von
60 Minuten nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit den
Tagesordnungspunkten 2 und 3 zu verbinden. Damit
werden die Bundeswehreinsätze im Rahmen der Mandate OAF und OAE gesondert nach dem Tagesordnungspunkt 1 beraten. Die Dauer der Debatte soll für diese
beiden Punkte jeweils 25 Minuten betragen.
Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, den
Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung aus
der 17. Legislaturperiode auf der Drucksache 17/13674
federführend dem Ausschuss für Tourismus und zur Mitberatung dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie,
dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur, dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit sowie dem Ausschuss für Kultur
und Medien zu überweisen. Ich hätte auch vortragen
können, an wen er nicht überwiesen werden soll. Sind
Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerinmit anschließender Aussprache
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die heutige Aussprache nach der Regierungserklärung
5 Stunden und 30 Minuten, morgen 10 Stunden und
17 Minuten - vergessen Sie die Stoppuhr nicht - sowie
am Freitag 3 Stunden und 36 Minuten vorgesehen. - Ich
sehe überall helle Begeisterung. Dann können wir so
verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts der
aktuellen Ereignisse lassen Sie mich bitte zu Beginn einige Worte zur Lage in der Ukraine sagen. Durch den
Druck der Demonstrationen werden jetzt ganz offensichtlich ernsthafte Gespräche zwischen dem Präsidenten und der Opposition über notwendige politische
Reformen möglich. Der Bundesaußenminister, das
Kanzleramt und die deutsche Botschaft in Kiew unterstützen die Bemühungen um eine friedliche Lösung des
Konflikts und die berechtigten Anliegen der Opposition
mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir stehen dazu auch in engem Kontakt mit der Hohen Beauftragten Lady Ashton und werden unsere Bemühungen in
den nächsten Stunden und Tagen fortsetzen.
Viele Menschen in der Ukraine haben seit dem EUGipfel zur Östlichen Partnerschaft Ende November in
Vilnius in mutigen Demonstrationen gezeigt, dass sie
nicht gewillt sind, sich von Europa abzukehren.
({0})
Im Gegenteil: Sie setzen sich für die gleichen Werte ein,
die auch uns in der Europäischen Union leiten, und deshalb müssen sie Gehör finden.
Unverändert gilt, dass die Tür für die Unterzeichnung
des EU-Assoziierungsabkommens durch die Ukraine
weiter offen steht. Und unverändert gilt, dass die Gefahr
eines Entweder-oder im Hinblick auf das Verhältnis der
Länder der Östlichen Partnerschaft zu Europa oder zu
Russland überwunden werden muss und - davon bin ich
überzeugt - in geduldigen Verhandlungen auch überwunden werden kann. Genau dies haben auch der EURatspräsident Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident Barroso gestern beim EU-Russland-Gipfel gegenüber dem russischen Präsidenten Putin noch einmal zum
Ausdruck gebracht. Auch die Bundesregierung wird dies
gegenüber Russland unvermindert zum Ausdruck bringen, zum Wohle aller in der Region.
Meine Damen und Herren, bevor wir nun auf die
nächsten Jahre schauen, sollten wir kurz zurückblicken:
auf den Beginn dieses Jahrhunderts. Damals galt
Deutschland als der kranke Mann Europas. Die soziale
Marktwirtschaft, die unser Land im 20. Jahrhundert
nachhaltig geprägt hat, wurde national wie international
fast schon als Auslaufmodell angesehen. Manche meinten, dass unsere Wirtschafts- und Sozialordnung zu behäbig, zu altmodisch für die Anforderungen der Globalisierung im 21. Jahrhundert geworden sei. Und heute, zehn
Jahre später? Heute können wir feststellen: Deutschland
geht es so gut wie lange nicht. Die Wirtschaft wächst,
({1})
die Beschäftigung ist auf dem höchsten Niveau seit der
Wiedervereinigung, die Menschen schauen so optimistisch in die Zukunft wie seit dem Fall der Mauer nicht
mehr,
({2})
und von der sozialen Marktwirtschaft als Auslaufmodell
spricht keiner mehr, von Deutschland als krankem Mann
Europas erst recht nicht.
Im Gegenteil: Deutschland ist Wachstumsmotor in
Europa, Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Wir
sind rascher und stärker aus der weltweiten Wirtschaftsund Finanzkrise herausgekommen als andere. Wir tragen
maßgeblich dazu bei, dass die europäische Staatsschuldenkrise überwunden werden kann. Für diese Erfolgsgeschichte ist das Zusammenspiel der Sozialpartner ganz
entscheidend, das Zusammenspiel der Arbeitgeber und
der Gewerkschaften, das unserem Land gemeinsam mit
klugen politischen Entscheidungen die Stabilität und
Stärke gibt, die heute notwendig sind. Sie sind notwendig, wenn wir den Anspruch haben, nicht einfach irgendwie die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit zu
meistern, sondern so, dass sich die Werte und Interessen
Deutschlands und Europas auch in Zukunft im harten
weltweiten Wettbewerb behaupten können. Ich habe diesen Anspruch, die Regierung der Großen Koalition hat
diesen Anspruch.
Wir haben den Anspruch, nicht einfach irgendwie aus
den weltweiten und europäischen Finanz- und Schuldenkrisen herauszukommen, sondern stärker, als wir in sie
hineingegangen sind. Wir haben den Anspruch, nicht
einfach irgendwie mit den großen Herausforderungen
unserer Zeit beim Schutz unseres Klimas, beim Zugang
zu Energie oder beim Kampf gegen die asymmetrischen
Bedrohungen fertigzuwerden, sondern so, dass wir unseren Werten und unseren Interessen gerecht werden.
({3})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wichtiger
denn je. Längst hat die Globalisierung unsere Welt auch
im Kleinen erfasst. Heute leben über 7 Milliarden Menschen auf der Erde. Sie alle wollen am Wohlstand teilhaben. Als Exportnation sind wir auf vielfältige Weise mit
anderen Nationen verflochten. Niemand kann sich mehr
darauf beschränken, nur seine eigenen Belange im Blick
zu haben, und wenn er es doch tut, dann schadet er über
kurz oder lang sich selbst.
In den 50er-Jahren hatte nur 1 Prozent der Weltbevölkerung eine Lebenserwartung von über 70 Jahren. Heute
wird über die Hälfte aller Menschen über 70 Jahre alt.
Schon diese eine Zahl gibt uns eine Ahnung vom Ausmaß der demografischen Entwicklung, mit der ja auch
gerade Deutschland umzugehen lernen muss.
Die digitalen Möglichkeiten und das Internet verändern unser Leben rasant. Sie schaffen schier unendliche
Kommunikations- und Informationsformen, haben aber
auch eine kaum absehbare Wirkung auf den Schutz dessen, was privat und persönlich sein und bleiben sollte.
Es versteht sich von selbst: Mit der globalen und digitalen Dynamik unserer Zeit müssen wir Schritt halten.
Mehr noch: Ein Land wie Deutschland, größte und
stärkste Volkswirtschaft Europas, muss an ihrer Spitze
stehen und auch stehen wollen, und zwar nicht um uns
ihr zu unterwerfen, sondern um die Chancen erkennen
und auch nutzen zu können, die ohne jeden Zweifel in
ihr stecken. Das gilt für unsere Forscher und Entwickler,
das gilt für unser Bildungssystem, das gilt für unsere Unternehmen und Arbeitnehmer, und das gilt für unsere Art
der Energieversorgung.
Mit dieser Dynamik Schritt zu halten, an der Spitze
der Entwicklung zu stehen, das ist eine der großen politischen wie ethischen Gestaltungsaufgaben unserer Generation. Sie kann nur mit einem Kompass gelingen. Dieser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft,
({4})
weil sie immer mehr war als eine Wirtschaftsordnung,
weil sie als Wirtschafts- und Sozialordnung wirtschaftliche Kraft und sozialen Ausgleich miteinander verbindet.
Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihre
Prinzipien zeitlos gültig sind und sie doch mit der Zeit
gehen und weiterentwickelt werden können, wie dies mit
der ökologischen und der internationalen Dimension unseres Lebens gelungen ist.
Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil
sie wie keine zweite Wirtschafts- und Sozialordnung den
Menschen in den Mittelpunkt stellt. Genau darum hat es
zu gehen: um den Menschen im Mittelpunkt unseres
Handelns.
({5})
Das leitet mich seit meinem Amtsantritt im November
2005 in meinem Verständnis als Kanzlerin aller Deutschen und aller in Deutschland lebenden Menschen,
gleich welcher Herkunft, das leitet mich auch in Zukunft, und das leitet die Regierung der Großen Koalition
von CDU, CSU und SPD.
({6})
Eine Politik, die nicht den Staat, nicht Verbände, nicht
Partikularinteressen, sondern den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, eine solche Politik kann
die Grundlagen für ein gutes Leben in Deutschland und
Europa schaffen.
({7})
Die Quellen des guten Lebens sind Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, politische Stabilität, wirtschaftliche Stärke
und Gerechtigkeit. Die Regierung der Großen Koalition
will die Quellen des guten Lebens allen zugänglich machen, das bedeutet, allen bestmögliche Chancen zu eröffnen.
({8})
Im Zweifel handeln wir für den Menschen. Bei jeder Abwägung von großen und kleinen Interessen, bei jedem
Ermessen: Die Entscheidung fällt für den Menschen.
({9})
So dienen wir den Menschen und unserem Land. Wir gestalten Deutschlands Zukunft - um es mit dem ebenso
einfachen wie klaren Motto des Koalitionsvertrages von
CDU, CSU und SPD zu sagen.
Dabei setzen wir erstens auf solide Finanzen, zweitens auf Investitionen in die Zukunft unseres Landes,
({10})
drittens auf die Stärkung unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts, viertens auf die Fähigkeit Deutschlands,
Verantwortung in Europa und der Welt zu übernehmen.
Diese vier Punkte sind nicht hierarchisch gegliedert. Sie
stehen gleichrangig nebeneinander. Ohne solide Finanzen könnten wir keine Zukunft gestalten. Ohne gezielte
Investitionen in die Zukunft unseres Landes bliebe Sparen Selbstzweck. Ohne die Stärkung unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts ginge unserem Land vieles
von seiner sozialen Stabilität verloren, die ja gerade ein
Garant unseres wirtschaftlichen Erfolgs ist. Ohne die Fähigkeit Deutschlands, Verantwortung in Europa und der
Welt zu übernehmen, schadeten wir unseren Partnern
wie uns selbst, unseren Werten und Interessen, wir schadeten uns politisch und ökonomisch.
Es ist doch gerade erst etwas mehr als fünf Jahre her,
dass wir erlebt haben, wohin die verantwortungslosen
Exzesse der Märkte, Überschuldung und eine mangelhafte Regulierung der internationalen Finanzmärkte führen können. Wir haben erlebt, dass dies mit einem
Schlag gravierende Auswirkungen auf alle Staaten dieser Erde hatte, auch auf Deutschland. Wir mussten damals einen der schlimmsten Wirtschaftseinbrüche, den
schlimmsten Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland, verkraften. Es ist das bleibende Verdienst der damaligen Koalition von CDU,
CSU und SPD, Deutschland 2009 gemeinsam mit den
Sozialpartnern so rasch, so erfolgreich durch diese Krise
geführt zu haben.
({11})
Einen nachhaltigen Erfolg kann Deutschland aber
nicht alleine haben. Eine Politik, die den Menschen in
den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, setzt deshalb alles
daran, dass alle, dass die ganze Welt die Lektionen aus
dieser damaligen Krise lernt. Eine davon ist und bleibt:
Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein
Finanzplatz darf ohne angemessene Regulierung bleiben;
({12})
Finanzakteure müssen durch die Finanztransaktionsteuer
zur Verantwortung gezogen werden.
({13})
Auch in der internationalen sozialen Marktwirtschaft ist
nämlich der Staat der Hüter der Ordnung. Deutschland
übernimmt Verantwortung in Europa und der Welt, damit sich genau diese Einsicht, dass der Staat Hüter der
Ordnung ist, durchsetzen kann.
({14})
Dazu sind Fortschritte bei der Regulierung der Finanzmärkte unverzichtbar, und zwar Fortschritte, die diesen
Namen auch wirklich verdienen, wenn wir das Versprechen einhalten wollen, das wir den Menschen gegeben
haben. Das ist das Versprechen, dass sich eine solch verheerende weltweite Finanzkrise nicht wiederholen darf.
Das bedeutet, in einem Satz gesagt: Wer ein Risiko eingeht, der haftet auch für die Verluste, und nicht mehr der
Steuerzahler.
({15})
Manches ist erreicht. Vieles ist zu tun. Deshalb sind die
Regelungen für eine Bankenunion in Europa so wichtig;
denn bei der Sanierung und Abwicklung von Banken hat
für uns die Einhaltung einer klaren Haftungskaskade
eine zentrale Bedeutung.
Meine Damen und Herren, wir alle müssen verstehen,
dass es mehr denn je nicht mehr ausreicht, nur auf die eigene Kraft und Stärke zu setzen. Konkret heißt das:
Auch Deutschland ist auf Dauer nur stark, wenn auch
Europa stark ist; auch Deutschland geht es auf Dauer nur
gut, wenn es auch Europa gut geht. Doch ich kann uns
auch heute nicht ersparen, darauf hinzuweisen: Auch
wenn die europäische Staatsschuldenkrise nicht mehr
täglich die Schlagzeilen bestimmt, müssen wir doch sehen, dass sie allenfalls unter Kontrolle ist. Dauerhaft und
nachhaltig überwunden ist sie damit noch nicht. Wir haben zwar eine Wirtschafts- und Währungsunion, in der
nationale Entscheidungen jeweils Auswirkungen auf alle
anderen Mitgliedstaaten der Währungsunion haben, aber
wir haben auch eine Währungsunion, deren wirtschaftspolitische Koordinierung nach wie vor überaus mangelhaft gestaltet ist. Ohne entscheidende Fortschritte, ohne
einen Quantensprung hier werden wir die europäische
Staatsschuldenkrise nicht überwinden. Wir werden vielleicht irgendwie mit ihr zu leben lernen, aber unseren
Platz an der Spitze der globalen Entwicklung werden wir
so nicht halten können. So werden wir nicht stärker aus
der Krise herauskommen, als wir in sie hineingegangen
sind. Doch nur das kann Europas Anspruch sein: nach der
Krise stärker zu sein als vor der Krise; und weil das so ist,
dürfen wir der trügerischen Ruhe jetzt nicht trauen. Ja, es
ist wahr: Europa ist auf dem Weg zu Stabilität und Wachstum bereits ein gutes Stück vorangekommen. Wahr ist
aber auch, dass wir uns unvermindert anstrengen müssen,
um Vorsorge für die Zukunft zu treffen.
({16})
Dafür müssen wir die Wirtschafts- und Währungsunion vertiefen und damit das nachholen, was bei ihrer
Gründung versäumt wurde: der Währungsunion eine
echte Wirtschaftsunion zur Seite zu stellen.
({17})
Hierfür müssen wir auch die europäischen Institutionen
stärken. In einer echten Wirtschaftsunion werden wir um
ein Mehr an Verbindlichkeit nicht herumkommen. Ich
bin überzeugt: Dazu müssen auch die EU-Verträge weiterentwickelt werden.
Das Ziel ist ein Europa, das seine Kräfte bündelt und
das sich auf die großen Herausforderungen konzentriert.
Alle europäischen Politiken, die Energie- und Klimapolitik, die Gestaltung des Binnenmarktes, die Außenhandelsbeziehungen, müssen sich daran messen lassen,
ob sie zur Stärkung der europäischen Wirtschaftskraft
und damit auch zu Wohlstand und Beschäftigung beitragen oder nicht. Denn sie bilden zusammen mit den nationalen Reformanstrengungen die Grundlage, um neues
Wachstum und dauerhafte Beschäftigung für die Bürgerinnen und Bürger Europas zu schaffen.
Auch die europäische Politik muss den Menschen in
den Mittelpunkt des Handelns stellen. Sie soll den Alltag
der Menschen einfacher machen und nicht schwerer. Sie
soll die Rahmenbedingungen für Engagement, Eigeninitiative und Unternehmertum verbessern und nicht beeinträchtigen. Deshalb muss gelten: Wer Europa will und
wer will, dass es Europa gut geht, der muss bereit sein,
Europa stabiler, bürgernäher, stärker, einiger und gerechter zu machen,
({18})
und der muss natürlich zu Hause seine Hausaufgaben
machen.
Deutschland macht seine Hausaufgaben. Der Bund
hat bereits seit 2012 - und damit früher als vorgesehen die Vorgaben der Schuldenbremse eingehalten. Für 2014
ist ein strukturell ausgeglichener Haushalt vorgesehen.
Ab 2015 wollen wir ganz ohne Nettoneuverschuldung
auskommen. Solch ein Ende der Neuverschuldung nach
Jahrzehnten, in denen wir geradezu selbstverständlich
Jahr für Jahr immer neue Schulden gemacht haben, ist
nicht nur Ausdruck solider Finanzen, es ist vielmehr ein
zentrales Gebot der Gerechtigkeit und damit gelebte soziale Marktwirtschaft.
({19})
Das ist nur zu schaffen, wenn wir bei unseren Ausgaben klare Prioritäten setzen und konsequent in die Zukunft investieren. Wir müssen uns dabei immer wieder
vor Augen führen, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes unser Gemeinwesen nur dann akzeptieren,
wenn sie sich auch vor Ort auf funktionierende Strukturen verlassen können. Deshalb entlastet der Bund die
Kommunen auch in Zukunft: in diesem Jahr, indem er
nunmehr vollständig die Grundsicherung für ältere Menschen übernimmt, und in den Folgejahren, indem er sich
schrittweise an der Eingliederungshilfe bis zu einer
Höhe von 5 Milliarden Euro beteiligt.
({20})
Die Gespräche mit den Ländern in den Koalitionsverhandlungen haben im Übrigen einmal mehr deutlich gemacht, dass die Bund-Länder-Finanzbeziehungen ganz
grundsätzlich einer Neuordnung bedürfen, und zwar verbunden mit einer klaren Aufgabenzuordnung an Bund,
Länder und Kommunen.
({21})
Die Bundesregierung wird bis zum Sommer einen Vorschlag machen, wie die dazu notwendigen Gespräche
geführt werden können.
Meine Damen und Herren, dass unsere Haushaltslage
so gut ist, verdanken wir natürlich ganz entscheidend
auch der guten wirtschaftlichen Entwicklung und den
Millionen Beschäftigten, Selbstständigen und Unternehmen, die zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen haben. Das hat zu einem neuen Rekord an Steuereinnahmen geführt. Auch deshalb ist die Politik es den
Menschen schuldig, zu zeigen, dass wir mit dem auskommen, was wir einnehmen, und dass wir keine Steuern erhöhen oder neue einführen.
({22})
Trotz aller Erfolge dürfen wir aber unsere Hände
nicht in den Schoß legen.
({23})
Denn unser Land braucht auch in Zukunft eine starke
Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsrate. Dafür
schafft die Regierung der Großen Koalition die notwendigen Voraussetzungen, zum Beispiel indem wir die
Struktur der Bundesregierung an einer zentralen Stelle
verändert haben: Wir haben die Kompetenzen von Wirtschaft und Energie in einem Ministerium gebündelt. Wir
haben uns dazu entschieden, weil wir überzeugt sind,
dass unser Wohlstand nur mit einem starken industriellen Fundament aus großen und mittelständischen Unternehmen gesichert werden kann, dessen unabdingbare
Voraussetzung eine umweltfreundliche, sichere und bezahlbare Energieversorgung ist - für unsere Unternehmen genauso wie für die Bürgerinnen und Bürger.
({24})
Deutschland hat den Weg der Energiewende eingeschlagen. Deutschland hat sich entschieden, eine Abkehr
vom jahrzehntelangen Energiemix - einem Energiemix
aus vornehmlich fossilen Energieträgern und Kernenergie - zu vollziehen. Es gibt kein weiteres vergleichbares
Land auf dieser Welt, das eine solch radikale Veränderung seiner Energieversorgung anpackt. Diese Entscheidung wird von der überwältigenden Mehrheit der Deutschen unterstützt.
Doch machen wir uns nichts vor: Die Welt schaut mit
einer Mischung aus Unverständnis und Neugier darauf,
ob und wie uns diese Energiewende gelingen wird.
Wenn sie uns gelingt, dann wird sie - davon bin ich
überzeugt - zu einem weiteren deutschen Exportschlager. Und auch davon bin ich überzeugt: Wenn diese
Energiewende einem Land gelingen kann, dann ist das
Deutschland.
Bis 2050 wollen wir 80 Prozent unseres Stroms aus
erneuerbaren Energien erzeugen. Schon heute haben die
erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung einen
Anteil von 25 Prozent, der bis 2025 auf 40 bis 45 Prozent und bis 2035 auf 55 bis 60 Prozent ansteigen soll.
Mit diesem Ausbaukorridor können wir ganz harmonisch das Ausbauziel von 80 Prozent erreichen - allerdings nur, wenn gleichzeitig unsere Industrie im weltweiten Wettbewerb bestehen kann und Strom für alle
erschwinglich bleibt.
({25})
Mit einem Anteil von 25 Prozent an der Stromerzeugung haben die erneuerbaren Energien heute ihr Nischendasein verlassen. Bis dahin war es sinnvoll, sie
durch die Umweltpolitik zu fördern. Jetzt aber müssen
sie als zunehmend tragende Säule der Stromerzeugung
in den Gesamtenergiemarkt integriert werden. Maßstab
für den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen Planbarkeit und Kosteneffizienz sein. Deshalb muss der Ausbaukorridor auch verbindlich festgeschrieben werden.
Die einzelnen Formen der erneuerbaren Energien müssen so schnell wie möglich marktfähig werden; ihr Ausbau und der Ausbau der Transportnetze müssen Hand in
Hand gehen.
Wir sehen: Das ist eine Herkulesaufgabe; das bedarf
einer nationalen Kraftanstrengung. Gerade auch deshalb
habe ich davon gesprochen, dass die Große Koalition
eine Koalition für große Aufgaben ist. Und wenn es eine
politische Aufgabe gibt, bei der nicht Partikularinteressen im Mittelpunkt zu stehen haben, sondern der
Mensch, dann ist das die Energiewende.
({26})
Sie kann nur gelingen, wenn alle - Bund, Länder, Gemeinden, Verbände, jeder Einzelne - über ihren Schatten
springen und nur eines im Blick haben: das Gemeinwohl. Aber dann - davon bin ich überzeugt - wird die
Energiewende auch gelingen; dann wird sie ein weiteres
Beispiel gelebter ökologischer und sozialer Marktwirtschaft sein.
Das Kabinett hat die dazu vom Bundeswirtschaftsminister vorgelegten Eckpunkte beschlossen. Sie sind
Grundlage für den Gesetzentwurf zur Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die am 9. April im Kabinett verabschiedet und bis zur Sommerpause auch in
Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll.
Zusammen mit dem Netzausbau und mit Entscheidungen über Kraftwerksreserven zur Sicherung der Energieversorgung entsteht daraus der Rahmen zur Umsetzung
der Energiewende.
Die Bundesregierung wird sich in den anstehenden sicherlich nicht einfachen Beratungen um eine breite
Mehrheit bemühen; denn ich bin davon überzeugt: Je
größer die Mehrheit, desto größer ist auch die Akzeptanz
bei den Bürgerinnen und Bürgern. Zeit haben wir allerdings nicht zu verlieren: Wir müssen parallel alles dafür
tun, dass unsere Entscheidungen auch in Brüssel akzeptiert werden. Gleichzeitig müssen wir die Energiewende
in eine anspruchsvolle nationale und europäische Klimastrategie einbetten. Es ist gut, dass die Kommission
mit dem ambitionierten 40-Prozent-CO2-Reduktionsziel
die Vorreiterrolle Europas im internationalen Klimaschutz noch einmal unmissverständlich unterstrichen
hat.
Deutschland wird sich auch mit ganzer Kraft für die
Verabschiedung einer international verbindlichen Klimakonvention einsetzen. Gemeinsam mit Frankreich arbeiten
wir für einen Erfolg der internationalen Klimakonferenz
Ende 2015 in Paris, damit am Ende eine verbindliche
Regelung für die weltweite Reduktion von Treibhausgasen ab 2020 gefunden wird.
Wir setzen uns auch für einen funktionierenden Emissionshandel in Europa ein, damit umweltfreundliche
Kraftwerke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke
endlich wieder eine faire Chance auf den Märkten erhalten.
Um im Baubereich zu einer Gesamtstrategie zu kommen, in die auch der Klimaschutz integriert ist, hat die
Bundesregierung den Umweltschutz und den Baubereich
in einem Ministerium gebündelt. So können wir unsere
nationalen Klimaziele auch in den Bereichen der Energieeffizienz und der Gebäudesanierung erreichen. Im
Übrigen können unsere Wirtschaft und unser Handwerk
davon profitieren. Umweltschutz, die ökologische und
soziale Marktwirtschaft schafft Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren, vor einem Jahrzehnt, als
5 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos waren,
hatten viele Zweifel, ob und inwieweit eine der jahrzehntelangen großen Gewissheiten der sozialen Marktwirtschaft auch in Zukunft noch ihre Berechtigung
haben würde, nämlich die Gewissheit, dass es den Arbeitnehmern dann gut geht, wenn es dem eigenen Betrieb auch gut geht. Die Auswirkungen der Globalisierung hatten dieses Grundvertrauen ins Wanken gebracht.
Reformen, zuvor jahrelang verzögert oder vermieden,
wurden unumgänglich. Es folgte die Agenda 2010 der
Regierung Schröder, auf die dann weitere Reformen der
Großen Koalition von 2005 bis 2009 und der anschließend christlich-liberalen Bundesregierung fußten. Das
Ergebnis dieser Reformen: Heute hat unser Land mehr
Beschäftigte als je zuvor.
({27})
Die Arbeitslosigkeit liegt unter 3 Millionen; die Jugendarbeitslosigkeit ist die geringste in Europa.
Aber es gibt auch Schattenseiten. Aus der unverzichtbaren Flexibilisierung des Arbeitsrechts sind neue Möglichkeiten des Missbrauchs entstanden. Schon die christlich-liberale Bundesregierung hat einige davon beseitigt,
aber die Große Koalition wird weitere Korrekturen vornehmen müssen.
({28})
Konkret geschieht das in der Leiharbeit, deren Dauer
auf maximal 18 Monate beschränkt wird. Die gleiche
Bezahlung eines Leiharbeiters wie die eines Beschäftigten der Stammbelegschaft hat jetzt nach spätestens
9 Monaten zu erfolgen, und beim Abschluss von Werkverträgen ist in Zukunft der Betriebsrat zu informieren.
({29})
Es ist die gemeinsame Überzeugung von CDU, CSU
und SPD, dass derjenige, der voll arbeitet, mehr haben
muss, als wenn er nicht arbeitet.
({30})
Niemand, der ein Herz hat, ist deshalb schnell bei der
Hand damit, das Instrument eines Mindestlohns rundweg abzulehnen. Doch jeder, der ein Herz hat, muss aber
genauso sicherstellen,
({31})
dass der so nachvollziehbare Wunsch nach würdiger Bezahlung nicht Menschen, die heute Arbeit haben, in die
Arbeitslosigkeit führt.
({32})
Die Koalitionsverhandlungen um einen gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ab 2015 haben alle
Facetten dieses Dilemmas behandelt. Das Ergebnis ist
ein Kompromiss, bei dem - das sage ich aus voller Überzeugung - die Vorteile die Nachteile überwiegen.
({33})
Der Mindestlohn von 8,50 Euro wird ab Anfang 2015
gelten. Allerdings haben wir vereinbart, dass Tarifverträge, die mit einer Lohnuntergrenze von weniger als
8,50 Euro vereinbart wurden, bis Ende 2016 weitergelten können. Im Laufe dieses Jahres können solche Tarifverträge noch abgeschlossen werden. Ich sage ganz ausdrücklich: Arbeitgeber und Gewerkschaften haben damit
alle Freiheit und Möglichkeit, genau davon dort Gebrauch zu machen, wo immer dies zum Erhalt von Arbeitsplätzen notwendig ist.
Derartige Tarifverträge können in Zukunft in einem
vereinfachten Verfahren für allgemeinverbindlich erklärt
werden, da sie im öffentlichen Interesse sind. Dadurch
wird im Übrigen auch die Tarifpartnerschaft, ein Wesensmerkmal der sozialen Marktwirtschaft, wieder gestärkt, und sie muss in einigen Bereichen gestärkt werden.
({34})
Eine starke soziale Marktwirtschaft braucht international wettbewerbsfähige Unternehmen. Wir wissen aus
unseren Erfahrungen, dass das besonders gut funktioniert, wenn Frauen und Männer gleiche Chancen haben.
({35})
Deshalb werden wir für Aufsichtsräte von voll mitbestimmungspflichtigen und börsennotierten Unternehmen, die ab 2016 neu besetzt werden, eine Quote von
mindestens 30 Prozent Frauen einführen. Jahrelanges
gutes Zureden hat nicht geholfen. Deshalb müssen wir
diesen Schritt jetzt gehen.
({36})
- Nein, große Vorfreude.
({37})
Meine Damen und Herren, unsere sozialen Sicherungssysteme gehören zu den besten der Welt. Damit
dies auch in Zukunft so bleibt, müssen sie sowohl den
Erwartungen der heutigen Generation als auch den Anforderungen zukünftiger Generationen entsprechen. Sie
müssen also der demografischen Entwicklung unseres
Landes standhalten. Diesem Ziel dient die schrittweise
Einführung der Rente mit 67 bis zum Jahr 2029. Heute
haben bereits deutlich mehr Menschen im Alter zwischen 55 und 65 Jahren eine Chance auf dem Arbeitsmarkt als noch vor wenigen Jahren. Diese Entwicklung
muss fortgesetzt werden.
({38})
Dennoch - das sollten wir nicht vergessen - haben
wir bei der Einführung der Rente mit 67 bereits diejenigen vom Anstieg der Lebensarbeitszeit ausgenommen,
die 45 Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt haben. Diese Regelung werden wir jetzt modifizieren. Wir werden für Menschen mit 45 Beitragsjahren
inklusive des Bezugs von Arbeitslosengeld I eine abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren, aufwachsend dann bis
Anfang der 30er-Jahre auf 65 Jahre, einführen. Ich füge
hinzu: In der Zwischenzeit müssen wir dafür Sorge tragen, dass sich auch die Beschäftigungschancen langjährig Beschäftigter weiter deutlich verbessern.
({39})
Wir wollen im Übrigen nicht länger die Augen davor
verschließen, dass viele Frauen eine gerechte Anerkennung der Leistungen für die Erziehung der Kinder anmahnen. Wie ist die Lage heute? Heute werden für die
nach 1992 geborenen Kinder drei Jahre im Rentenrecht
anerkannt, für die davor geborenen Kinder nur ein Jahr.
Das ist in den Augen vieler nicht gerecht.
({40})
Eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, muss und will das verändern. Wir haben in den letzten Jahren große Anstrengungen für die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf unternommen: den
Ausbau der Kitaplätze, verbesserte Möglichkeiten für
flexible Arbeitszeiten, die Einführung des Elterngelds
mit Vätermonaten. In dieser Legislaturperiode werden
wir die Teilzeitarbeit der Eltern durch das ElterngeldPlus
erleichtern und den Ausbau der Kitaplätze fortsetzen.
Mütter, die vor 1992 ihre Kinder geboren haben, hatten
nicht annähernd so gute Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Deshalb wollen wir diesen
Müttern, über 9 Millionen Frauen, im Rentenrecht wenigstens ein Jahr mehr für die Anerkennung ihrer Erziehungsleistung anrechnen lassen.
({41})
Wegen der guten Beschäftigungssituation kann die
Rentenversicherung diese Aufgabe zurzeit erfüllen. Wir
wissen aber: Mittelfristig werden wir einen Teil durch
weitere Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt ergänzen.
({42})
Außerdem werden wir die Renten im Falle von Erwerbsunfähigkeit verbessern. Das ist unerlässlich. Denn
Erwerbsunfähigkeit ist heute eine der Hauptursachen für
Altersarmut. Sie wissen: Wir haben heute genau dieses
Gesetzespaket auf den Weg gebracht und zur parlamentarischen Beratung überwiesen.
({43})
Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich vor
allem an ihrem Umgang mit Schwachen.
({44})
Sie zeigt sich in den Situationen, in denen Menschen auf
Schutz und Hilfe angewiesen sind: wenn sie alt sind und
wenn sie krank sind. Der medizinische Fortschritt ermöglicht immer neue Heilungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Unsere Lebenserwartung steigt stetig an, und
gleichzeitig sind immer mehr Menschen auf Pflege angewiesen. Jeder muss die medizinische Versorgung bekommen, die er braucht, und jeder Mensch muss in
Würde sterben können. Das sind die zentralen Aufgaben
der Politik für unser Gesundheits- und Pflegesystem.
Die Bundesregierung will dafür Sorge tragen, dass die
medizinische Versorgung verbessert wird, insbesondere
bei der Versorgung mit Fachärzten. Jeder muss schnell
und gut behandelt werden. Die hohe Qualität unserer
medizinischen Versorgung muss auch in Zukunft gerade
im ländlichen Raum gesichert werden. Dabei spielt die
Entwicklung der Telemedizin im Übrigen eine zentrale
Rolle.
Für die Pflege werden wir die Leistungen in den
nächsten vier Jahren um insgesamt 25 Prozent gegenüber heute steigern. Die zusätzlichen Mittel werden wir
insbesondere erstens für die Verbesserung der pflegerischen Leistungen einsetzen - dabei werden wir gleichzeitig die Bürokratie mindern -, zweitens für eine bessere Ausbildung und Bezahlung der Pflegekräfte nutzen,
um den vielerorts herrschenden Pflegenotstand abzubauen,
({45})
und drittens für den Aufbau einer demografischen Reserve verwenden, um zukünftige Generationen vor zu
hohen Belastungen zu schützen.
({46})
Auch werden wir Hospize und die Palliativmedizin stärken.
Doch bei allem dürfen wir zu keiner Zeit vergessen:
Immer noch leisten Familienangehörige die meiste Pflegearbeit. Sie gehen dabei oft bis an die Grenzen ihrer
Kräfte, nicht selten darüber hinaus. Sie sind die stillen
Helden unserer Gesellschaft.
({47})
Das zeigt einmal mehr: Die Familien sind das Herzstück
unserer Gesellschaft. Deshalb arbeiten wir für verlässliche und gute Rahmenbedingungen.
({48})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Veränderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft garantieren auf Dauer nur Investitionen in Forschung und Bildung die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand unseres
Landes im globalen Wettbewerb. Wir müssen in vielen
Bereichen zu den Besten der Welt gehören. Deshalb investieren wir 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in
Forschung und Entwicklung und gehören damit in
Europa, allerdings nicht unbedingt immer weltweit, zu
den führenden Ländern.
Unsere Hightech-Strategie setzt Maßstäbe für die
Spitzenforschung. Der Bund will seinen Anteil von
3 Prozent für die Forschung auch in den nächsten Jahren
halten. Der Bund wird aber zusätzlich auch die Länder
entlasten, indem wir den Aufwuchs bei den Mitteln für
die außeruniversitäre Forschung voll übernehmen, also
auch den Länderanteil, und uns erstmalig auch an der
Grundfinanzierung der Universitäten beteiligen werden,
um den Abstand zwischen außeruniversitärer Forschung
und universitärer Bildung und Forschung nicht zu groß
werden zu lassen.
({49})
In den letzten Jahren ist die Zahl derer, die ein Hochschulstudium aufnehmen, auf über 50 Prozent gestiegen.
Das ist erfreulich. Aber die Bundesregierung wird in dieser Legislaturperiode gerade auch der anderen Säule unseres Bildungssystems, der dualen Berufsausbildung, be568
sonderes Augenmerk zukommen lassen. Sie ist ein
Markenzeichen unserer sozialen Marktwirtschaft.
({50})
Wir wollen den Ausbildungspakt zu einem Pakt für
Aus- und Weiterbildung fortentwickeln, an dem sich neben den Arbeitgebern in Zukunft auch die Gewerkschaften wieder beteiligen sollen. Ohne hervorragend ausgebildete Menschen ist Deutschland kein wirtschaftlich
starkes Land.
In den nächsten Jahren werden immer weniger junge
Menschen in Deutschland ins Berufsleben eintreten. Das
heißt, wir müssen jedem jungen Menschen die Chance
auf eine gute Bildung sichern. Das beginnt beim Ausbau
der Kindertagesstätten, an dem der Bund sich weiter beteiligen wird. Das setzt sich fort mit unserer Initiative
„Chance Beruf“, die der Bund zu einem flächendeckenden Angebot ausweiten will. Wir führen den Hochschulpakt fort. Studienabbrecher bekommen in Zukunft die
Chance, auch eine duale Berufsausbildung zu machen.
Junge Menschen über 25, die noch keine abgeschlossene
Berufsausbildung haben, sollen eine zweite Chance bekommen.
({51})
Dies ist auch eine zentrale Aufgabe unserer Integrationspolitik. Auf dem Integrationsgipfel in diesem Jahr
- so haben wir es besprochen - werden wir uns schwerpunktmäßig mit der Ausbildung von Migrantinnen und
Migranten befassen. Auch werden wir jungen Menschen
mit Migrationshintergrund unser Willkommen in Deutschland dadurch verdeutlichen, dass wir bei der Staatsbürgerschaft die Optionspflicht für in Deutschland geborene
und aufgewachsene Jugendliche abschaffen.
({52})
Es ist im Übrigen ein Gebot unserer sozialen Marktwirtschaft, dass gerade die Jüngeren der ja immer noch
fast 3 Millionen Arbeitslosen eine berufliche Perspektive bekommen; denn wenn sie das in jungen Jahren
nicht bekommen, wird es über Jahrzehnte schwierig für
sie. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass es
mir schon Sorge bereitet, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen wieder steigt. Dem müssen wir zusammen mit
der Bundesagentur für Arbeit entgegenwirken. Der Bund
verwendet jährlich mehr als 30 Milliarden Euro für die
Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Jeder hier
nicht benötigte Euro kann für Zukunftsprojekte verwendet werden.
Zusätzlich müssen wir natürlich weiter offen für
Fachkräfte aus dem Ausland sein. Deutschland wird die
Möglichkeiten nutzen und nutzen müssen, die die Freizügigkeit in Europa bietet.
({53})
- Deutschland wird die Möglichkeiten nutzen, die die
Freizügigkeit in Europa bietet.
({54})
Dennoch - auch das gehört hierher - dürfen wir die Augen vor ihrem möglichen Missbrauch nicht verschließen.
({55})
Es bedarf einer Klärung, wer aus dem europäischen Ausland unter welchen Bedingungen Anspruch auf Sozialleistungen hat. Angesichts völlig unterschiedlicher Sozialsysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union darf es durch das Prinzip der Freizügigkeit nicht
zu einer faktischen Einwanderung in die Sozialsysteme
kommen.
({56})
Ob sich hier aus der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs nationaler oder europäischer Handlungsbedarf ergibt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Dies ist
aber auch nicht auszuschließen, weil deutsche Gerichte
Vorlagen in dieser Sache an den Europäischen Gerichtshof gegeben haben. Deshalb hat die Bundesregierung einen Staatssekretärsausschuss unter Federführung des
Innen- und des Sozialministeriums gebildet, der die offenen Fragen klären wird und mit heute schon besonders
betroffenen Kommunen Hilfsmöglichkeiten des Bundes
bespricht.
({57})
Als Land in der Mitte Europas ist Deutschland auf
eine funktionierende Infrastruktur zwingend angewiesen. Wir haben entschieden, das Verkehrsministerium zu
einem Infrastrukturministerium auszubauen. Wir werden
in die klassischen Verkehrsstrukturen allein aus Bundesmitteln bis 2017 5 Milliarden Euro mehr investieren.
Wir werden die streckenbezogene Nutzungsgebühr für
Lkw ausweiten. Für ausländische Pkw werden wir eine
Gebühr auf Autobahnen einführen, ohne dass der deutsche Fahrzeughalter stärker als heute belastet wird.
({58})
- Warten Sie es doch einfach mal ab!
({59})
Bis dahin gibt es doch auch noch eine Menge anderer
Sachen zu tun. Also wirklich!
({60})
- Einfach noch mal zuhören.
Erweitert werden die Zuständigkeiten des Verkehrsministeriums um die Aufgaben der digitalen InfrastrukBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
tur. 2018 soll jeder Deutsche Zugang zum schnellen
Internet haben. Hier geht es nicht einfach um ein technisches Ziel, hier geht es gerade für Menschen im ländlichen Raum um gleichwertige Chancen zur Teilhabe an
Bildung, medizinischer Versorgung und wirtschaftlicher
Tätigkeit.
({61})
Dazu werden wir alle Kräfte zum Netzausbau in einer
Netzallianz bündeln. Die europäischen und internationalen Investitionsbedingungen müssen verbessert werden.
Dies ist unerlässlich, wenn wir uns klarmachen, welch
technologischer Unterschied schon heute in vielen Bereichen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika,
asiatischen Ländern und Europa besteht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir spüren immer
mehr, welch tiefgreifendem Wandel unsere Gesellschaft
durch die Digitalisierung ausgesetzt ist. Bildung, Ausbildung, der Arbeitsalltag, die industrielle Produktion verändern sich. Informationen aus der ganzen Welt sind in
Sekunden verfügbar. Die Kommunikation der Menschen
ist schier grenzenlos. Daten über jeden Einzelnen können in beliebigem Umfang gespeichert werden. Wir wollen, dass das Internet eine Verheißung bleibt; deshalb
wollen wir es schützen.
({62})
- Ja, wir wollen, dass es für die Menschen, so wie es
heute viele erleben, eine Verheißung bleibt.
Allerdings heißt das: Wir wollen es schützen vor Zerstörung von innen durch kriminellen Missbrauch und
durch intransparente, allumfassende Kontrolle von außen.
({63})
Der bisherige rechtliche Rahmen für eine vernünftige
Balance von Freiheit und Sicherheit - das ist offensichtlich geworden - reicht nicht mehr aus. Einen internationalen Rechtsrahmen gibt es noch nicht. Das heißt, wir
betreten Neuland.
({64})
Jeder Einzelne von uns ist davon betroffen.
Deshalb wird die Bundesregierung in diesem Jahr unter der gemeinsamen Federführung des Innen-, des Wirtschafts- und des Infrastrukturministeriums eine digitale
Agenda erstellen und im Laufe der Legislaturperiode
umsetzen. Wir arbeiten an einer europäischen Datenschutzgrundverordnung mit Hochdruck. Aber wir achten
dabei sehr darauf, dass der deutsche Datenschutz durch
die Vereinheitlichung des europäischen Datenschutzes
nicht unverhältnismäßig geschwächt wird.
({65})
Mit großer Wucht sind wir vor einem halben Jahr
durch Informationen von Edward Snowden über die Arbeitsweise der amerikanischen Nachrichtendienste mit
Fragen der Datensicherheit konfrontiert worden. Niemand, der politische Verantwortung trägt, kann ernsthaft
bestreiten, dass die Arbeit der Nachrichtendienste für
unsere Sicherheit, für den Schutz unserer Bürgerinnen
und Bürger unverzichtbar ist. Niemand, der politische
Verantwortung trägt, kann ernsthaft bestreiten, dass die
Arbeit der Nachrichtendienste im Zeitalter asymmetrischer Bedrohung, für die der 11. September exemplarisch steht, noch wichtiger als ohnehin schon geworden
ist. Gerade um diese Gefahren bannen zu können, ist
nicht nur die Arbeit unserer eigenen Dienste von großer
Bedeutung für uns, sondern ebenso die Zusammenarbeit
mit Nachrichtendiensten unserer Verbündeten und Partner.
Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass wir
gerade unseren amerikanischen Partnern wertvolle Informationen verdanken. Umgekehrt leisten innerhalb dieser
internationalen Kooperation auch unsere eigenen
Dienste wertvolle Beiträge. Das Parlamentarische Kontrollgremium wird jeweils darüber unterrichtet. Aber
niemand, der politische Verantwortung trägt, kann auch
ernsthaft bestreiten, dass das, was wir seit einem halben
Jahr über die Arbeit insbesondere der amerikanischen
Nachrichtendienste zur Kenntnis nehmen müssen, ganz
grundsätzliche Fragen aufwirft.
Es geht um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Es
geht darum, in welchem Verhältnis zur Gefahr die Mittel
stehen, die wir dann wählen, um dieser Gefahr zu begegnen. Die Bundesregierung trägt Verantwortung für den
Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Anschlägen
und Kriminalität, und sie trägt Verantwortung für den
Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen
auf ihre Privatsphäre. Sie trägt Verantwortung für unsere
Freiheit und Sicherheit. Seit jeher stehen Freiheit und Sicherheit in einem gewissen Konflikt zueinander. Sie
müssen durch Recht und Gesetz immer wieder in der Balance gehalten werden.
Wir kennen das in Deutschland ja zu gut aus unseren
langen Diskussionen um Wohnraumüberwachung und
Vorratsdatenspeicherung. Kann es also richtig sein, dass
unsere engsten Partner wie die Vereinigten Staaten von
Amerika oder Großbritannien sich Zugang zu allen
denkbaren Daten mit der Begründung verschaffen, dies
diene der eigenen Sicherheit und der Sicherheit der Partner? Wir hätten also auch etwas davon. Kann es richtig
sein, dass man auch deshalb so handele, weil andere auf
der Welt es genauso machten? Kann es richtig sein,
wenn es zum Schluss gar nicht mehr allein um die Abwehr terroristischer Gefahren geht, sondern darum, sich
auch gegenüber Verbündeten, zum Beispiel für Verhandlungen bei G-20-Gipfeln oder UN-Sitzungen, Vorteile zu
verschaffen - Vorteile, die nach meiner jahrelangen Erfahrung sowieso völlig zu vernachlässigen sind?
({66})
Unsere Antwort kann nur lauten: Nein, das kann nicht
richtig sein.
({67})
Denn es berührt den Kern dessen, was die Zusammenarbeit befreundeter und verbündeter Staaten ausmacht:
Vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage für Frieden und
Freundschaft zwischen den Völkern. Vertrauen ist erst
recht die Grundlage für die Zusammenarbeit verbündeter
Staaten. Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel
heiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auch
gemacht wird, verletzt Vertrauen; es sät Misstrauen. Am
Ende gibt es nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.
({68})
Darüber reden wir mit den Vereinigten Staaten von
Amerika. Ich bin überzeugt, dass Freunde und Verbündete in der Lage und willens sein müssen, Grundsätze ihrer Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Abwehr
von Bedrohungen zu vereinbaren, und zwar in ihrem jeweils eigenen Interesse.
Die Vorstellungen sind heute weit auseinander. Viele
sagen, die Versuche für eine solche Vereinbarung seien
von vornherein zum Scheitern verurteilt, ein unrealistisches Unterfangen. Mag sein. Mit Sicherheit wird das
Problem nicht schon durch eine Reise von mir gelöst
und abgeschlossen sein.
({69})
Mit Sicherheit wäre auch der Abbruch von Gesprächen
in anderen Bereichen, wie etwa denen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen, nicht wirklich hilfreich. Auch andere sogenannte Hebel, wie es in diesen
Tagen so oft heißt, die Amerika zum Umdenken zwingen könnten, gibt es nach meiner Auffassung nicht.
Trotzhaltungen haben im Übrigen noch nie zum Erfolg
geführt.
({70})
Ich führe - und das mit allem Nachdruck - diese Gespräche mit der Kraft unserer Argumente, nicht mehr und
nicht weniger. Aber ich glaube, wir haben davon gute.
({71})
Der Weg ist lang; aber lohnend ist er allemal. Denn
die Möglichkeiten der digitalen Rundumerfassung der
Menschen berühren unser Leben im Kern. Es handelt
sich deshalb um eine ethische Aufgabe, die weit über die
sicherheitspolitische Komponente hinausweist. Milliarden Menschen, die in undemokratischen Staaten leben,
schauen heute sehr genau, wie die demokratische Welt
auf Bedrohungen ihrer Sicherheit reagiert, ob sie in souveräner Selbstsicherheit umsichtig handelt oder ob sie an
jenem Ast sägt, der sie in den Augen genau dieser Milliarden Menschen so attraktiv macht - an der Freiheit
und der Würde des einzelnen Menschen.
({72})
Doch bei allen Konflikten, bei allen Enttäuschungen,
bei allen Interessenunterschieden werde ich wieder und
wieder deutlich machen: Deutschland kann sich keinen
besseren Partner wünschen als die Vereinigten Staaten
von Amerika. Die deutsch-amerikanische und die transatlantische Partnerschaft sind und bleiben für uns von
überragender Bedeutung.
({73})
Zusammen sind wir in Afghanistan im Einsatz.
Deutschland ist bereit, sich auch nach 2014 an der Ausbildung der Sicherheitskräfte und am wirtschaftlichen
Aufbau des Landes zu beteiligen. Voraussetzung ist, dass
Präsident Karzai - das sage ich allerdings mit allem
Nachdruck; ich habe es neulich auch persönlich dem
Präsidenten gesagt - das Sicherheitsabkommen mit den
USA und der NATO unterzeichnet.
Deutschland beteiligt sich an Einsätzen im Kosovo,
vor den Küsten Somalias und des Libanon oder in Mali.
Das Mandat in Mali zur Ausbildung malischer Sicherheitskräfte wollen wir nicht nur fortsetzen, sondern auch
verstärken.
Hinzu kommt die Frage, wie Deutschland seinen Verbündeten Frankreich gegebenenfalls bei der europäischen
Überbrückungsmission in der Zentralafrikanischen Republik unterstützen kann; ich sage: gegebenenfalls. Hierbei
geht es nicht um einen deutschen Kampfeinsatz, sondern
allenfalls um unsere Fähigkeit zur Rettung und Behandlung Verwundeter.
Immer gilt: Kein Konflikt kann allein militärisch gelöst werden. Das leitet die Bundesregierung. Deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik setzt auf die Vernetzung
militärischer und ziviler Mittel, und darin sehen wir uns
in den letzten Jahren noch mehr bestärkt.
2015 übernimmt Deutschland die G-8-Präsidentschaft.
In dem Jahr werden die Vereinten Nationen neue Entwicklungsziele festlegen. Unsere Präsidentschaft wird
deshalb auch im Zeichen dieser Neuausrichtung der Entwicklungsziele stehen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, nicht Partikularinteressen stehen im Mittelpunkt unseres Handelns,
sondern der Mensch steht im Mittelpunkt.
({74})
Unser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft. Damit
setzen wir auf solide Finanzen, Investitionen in die Zukunft, die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Deutschlands Fähigkeit, Verantwortung in
Europa und der Welt zu übernehmen - für unsere Werte
und für unsere Interessen und in dem Bewusstsein, dass
sie sich weltweit stets aufs Neue behaupten müssen.
Es ist in diesem Jahr 100 Jahre her, dass der Erste
Weltkrieg ausbrach. Er war die erste große Katastrophe
des 20. Jahrhunderts, der alsbald die zweite folgen sollte:
der Zivilisationsbruch der Schoah und der Beginn des
Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren.
Die anschließend folgende europäische Einigung, die
uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat, erscheint aus dieser Perspektive wie ein Wunder. Wir leben heute in einer politischen Ordnung, in der nicht wie
vor 100 Jahren wenige in geheimer Diplomatie die Geschicke Europas bestimmen, sondern in der alle 28 Mitgliedstaaten gleichberechtigt und im Zusammenwirken
mit den europäischen Institutionen die Dinge zum Wohl
der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam gestalten. Das
Europäische Parlament, das gut 375 Millionen Menschen im Mai neu wählen werden, und die nationalen
Parlamente sorgen für die notwendige demokratische
Legitimität und Öffentlichkeit.
Vor 65 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland
gegründet. Vor 25 Jahren fiel die Mauer. Vor 10 Jahren
erlebten wir den Beginn der EU-Osterweiterung. Weitere
Grenzen in Europa konnten abgebaut werden. Wir Deutschen und wir Europäer, wir sind heute zu unserem
Glück vereint.
({75})
Die neue Bundesregierung will dazu beitragen, dieses
Glück zu schützen und zu wahren, indem wir die Quellen guten Lebens allen zugänglich machen: Freiheit,
politische Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche
Stärke, Gerechtigkeit. Das ist unser Auftrag, und dafür
bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({76})
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, bevor ich die
Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen - sicher im Namen aller Mitglieder des Hauses - eine baldige und vollständige Genesung von Ihrer Verletzung wünschen.
({0})
Da das sicher alle nachfolgenden Redner gleich als Einstieg hatten vortragen wollen, spart es diesen bei ihrer
knapp bemessenen Redezeit einige wichtige Sekunden,
({1})
beispielsweise dem Vorsitzenden der Fraktion Die
Linke, dem ich in der nun eröffneten Aussprache als Erstem das Wort erteile.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,
dass ich außerhalb meiner Redezeit doch noch einen
Satz dazu sagen darf.
({0})
Frau Kanzlerin, ich hatte im letzten Jahr auch einen Skiunfall. Wir müssen einfach beide lernen, altersgerecht
Sport zu treiben.
({1})
- Wir werden das hinbekommen.
Aber nun zum Ernst der Lage und damit zu Ihrer Regierungserklärung: Sie haben eine Erklärung abgegeben,
die in weiten Teilen mit der Realität nichts, aber auch gar
nichts zu tun hatte.
({2})
Sie haben allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass
wir in diesem Jahr den 100. Jahrestag des Beginns des
Ersten Weltkrieges, den 75. Jahrestag des Beginns des
Zweiten Weltkrieges begehen. Deshalb begreife ich
nicht, weshalb auch diese Regierung derart militärisch
denkt und handelt. Frau von der Leyen hat gesagt: Es geschähen ja Mord und Vergewaltigung; darum müsse die
Bundeswehr nach Afrika marschieren. - Ich bitte Sie:
Wenn das das Ziel ist, dann müssten wir die Bundeswehr
ja weltweit einsetzen.
({3})
Aber nicht nur darum geht es. Es geht um etwas ganz
anderes. Wenn es Ihnen wirklich um die Bekämpfung
von Not geht, sollten Sie sich eine Zahl vor Augen führen: Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Menschen, davon 18 Millionen an Hunger und den Folgen
von Hunger. Da sterben Millionen Kinder, Millionen
Frauen. Ich habe noch nie von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, oder von Ihnen, Frau von der Leyen, oder von Ihnen, Herr Gabriel, gehört, dass Sie sagen: Das ist die
Not, die wir bekämpfen müssen. Wir müssen sofort da
hin und etwas unternehmen.
({4})
Nur wenn geschossen wird, dann soll die Bundeswehr
mitschießen. Das ist doch wirklich überhaupt kein Argument. Ich kann es wirklich nicht verstehen.
Die Hilfe, die wir weltweit gegen Hunger leisten, gerade auch in Afrika, ist sehr, sehr gering, viel zu gering.
Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen - ich
muss es Ihnen sagen - töten zum Teil, und sie werden
zum Teil auch getötet; das ist schlimm genug. Wenn sie
dann zurückkommen, kommen sie zum Teil auch krank
zurück. Ein Drittel aller Soldatinnen und Soldaten sind
psychisch gestört. Das militärische Vorgehen, der Krieg,
ist der falsche Weg. Die Probleme der Menschheit müssen wir gänzlich anders lösen.
({5})
Sie haben über NSA gesprochen. Nun wissen wir ja
dank Snowden, dass 80 Prozent aller Übermittlungen per
Internet, Handy, SMS, über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter abgehört und kontrolliert werden. Sie,
Frau Bundeskanzlerin, haben gesagt, Sie arbeiteten mit
der Kraft der Argumente. Ich sage Ihnen: Das ist deutlich zu wenig! - Wenn Sie Ihre Unterwürfigkeit gegenüber den USA nicht aufgeben, gibt es keine Partnerschaft und keine Freundschaft. Diese erzeugt vielmehr
genau das Gegenteil davon.
({6})
Im Grundgesetz ist doch der Schutz der Privatsphäre
geregelt. Es gibt ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Sie haben einen Eid geleistet, die Bevölke572
rung zu schützen. Wo bleibt denn hier der Schutz? Indem
man nur mit der US-Regierung redet, geht es nicht weiter.
Warum weisen Sie nicht Leute, die aus den Botschaften
heraus Spionage betreiben, aus unserem Land aus?
({7})
Warum werden von der Bundesanwaltschaft keine Ermittlungsverfahren eingeleitet, obwohl Straftaten begangen worden sind? Wieso gilt hier zweierlei Recht? Auch
das ist nicht hinnehmbar.
({8})
Nun kommt noch eines hinzu. Präsident Obama hat ja
erklärt, dass die Staats- und Regierungschefs befreundeter Staaten nicht mehr abgehört werden. Das ist ein
Schutz für Herrn Gauck und für Frau Merkel. Was ist
aber mit den 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern dieses Landes? Für diese tragen Sie eine Verantwortung!
({9})
Jetzt kommt etwas Neues. Herr Snowden hat erklärt das haben wir übrigens von Anfang an gesagt -, dass natürlich auch Wirtschaftsspionage betrieben wird. Dazu
haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, kein Wort gesagt. Von
Anfang an haben wir gesagt, dass auch Wirtschaftsspionage betrieben wird. Jetzt ist es die Linke, die allein die
Unternehmen schützen muss. So weit ist es inzwischen
in dieser Gesellschaft gekommen.
({10})
- Ja, machen Sie denn etwas dagegen, dass die Unternehmen ausspioniert werden? Nein, die Einzigen, die
sich wirklich dagegen wenden, sind wir.
Sie haben über Europa gesprochen. Europa und die
Europäische Union sind wichtig. Der Frieden zwischen
den Mitgliedsländern ist etwas, was erst jetzt zur Realität
geworden ist. Frühere Jahrhunderte waren völlig anders
geprägt. Aber wenn wir die Europäische Union wollen,
dann müssen wir erreichen, dass die Menschen sie als
Hort des Friedens, der Demokratie und des sozialen
Wohlstands wahrnehmen können. Was macht die EU
stattdessen? Sie fasst Aufrüstungs- und Militärbeschlüsse.
Zwei Banker werden ohne Volkswahlen einfach zu Ministerpräsidenten gemacht, so in Griechenland und in
Italien. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. In Griechenland haben wir eine Jugendarbeitslosigkeit von über
60 Prozent, in Spanien von über 50 Prozent. Und das alles auch auf Druck der vorherigen Bundesregierung!
Herr Steinmeier, als Sie noch in der Opposition waren, haben Sie an diesem Pult die Sparpolitik im Hinblick auf Griechenland kritisiert. Jetzt fahren Sie als Außenminister nach Griechenland und sagen, sie müssten
so weitermachen wie bisher. Das heißt, es soll bei diesem Sozialabbau bleiben. Das ist antieuropäisch, aber es
ist nicht antieuropäisch, wenn man soziale Gerechtigkeit
für Europa fordert.
({11})
Ich will auch folgenden Zusammenhang erwähnen:
Wir stellen in Deutschland doppelt so viel her, wie wir
benötigen. Also sind wir auf den Export angewiesen.
Aber das bedeutet, dass andere Länder weniger herstellen müssen, als sie benötigen. Um unsere Waren zu kaufen, brauchen diese Länder Geld. Dafür machen sie
Schulden. Nun werfen wir ihnen die Schulden vor, nachdem wir an unseren Waren so viel verdient haben.
SPD und Grüne sind damals mit der Agenda 2010 einen bestimmten Weg gegangen. Man hat einen Niedriglohnsektor eingeführt, übrigens der größte in Europa.
Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganz
Europa. Sie haben die prekäre Beschäftigung eingeführt.
Wir hatten sinkende Reallöhne und Realrenten. Dadurch
wurde alles billiger, und dadurch hat der Export zugenommen. Wann begreifen wir denn endlich, dass wir einen umgekehrten Weg gehen müssen? Wir müssen einen
Ausgleich im Außenhandel herstellen. So etwas gelingt
nur, wenn wir höhere Renten, höhere Löhne, höhere Sozialleistungen haben und wenn wir endlich die Binnenwirtschaft durch höhere Kaufkraft stärken. Das ist der
Weg, den wir gehen müssen.
({12})
Jetzt treiben Sie den Sozialabbau im Süden Europas
voran. Eines Tages kann es passieren, dass unser Export
stark beeinträchtigt wird, weil der Süden Europas unsere
Waren nicht mehr bezahlen kann. Die Steuereinnahmen
sind dort ebenfalls rückläufig. Was machen Sie dann?
Fordern Sie dann eine neue Agenda 2010? Wollen Sie,
um noch etwas verkaufen zu können, dass die Sozialleistungen weiter gesenkt werden? Es wäre verheerend. Wir
müssen heraus aus diesem Kreislauf.
Das Ungerechteste in der Euro-Zone ist folgende Tatsache: Alle Millionäre der Euro-Zone besitzen ein Geldvermögen - ich rede nicht von Immobilien und Unternehmen, sondern nur vom Geldvermögen -, das größer
ist als die Staatsschulden der Euro-Staaten. Das ist die
eigentliche Ursache. Aber Sie trauen sich nicht an die
geringste Umverteilung heran. Das wird das Problem
dieser Bundesregierung werden.
({13})
Herr Gabriel, Sie haben gesagt, die Linke sei europafeindlich. Sie schauen in die ganz falsche Richtung.
Schauen Sie einmal in Richtung Regierungsbank. Dort
sitzt die CSU. Sie warnt vor Rumäninnen und Rumänen,
vor Bulgarinnen und Bulgaren, vor Armutsmigration etc.
Das ist europafeindlich, und nicht die Linke, die mehr
soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie und mehr Frieden fordert.
({14})
Zur Umverteilung, zu Armut und Reichtum. Es gibt
eine neue Statistik von Oxfam. Da hat sich Folgendes
herausgestellt: Die reichsten 85 Menschen der Erde besitzen genauso viel wie die finanziell untere Hälfte der
Menschheit. Das heißt, 85 Menschen haben das gleiche
Vermögen wie 3,5 Milliarden Menschen. Daran, Frau
Merkel, wollen Sie nichts ändern? Sie haben es noch nie
kritisiert. Das machen Sie und auch die SPD einfach
mit? Wir haben weltweit eine große Verteilungsungerechtigkeit. Ich sage Ihnen, dass eine so extreme Verteilungsungerechtigkeit zu Verteilungskriegen führt, die
wir zum Teil schon erleben.
Wie sieht es in Deutschland aus? In unserem Land
sieht es nicht viel besser aus. Die finanziell untere Hälfte
unserer Bevölkerung - also 40 Millionen - besitzen 1 Prozent des Vermögens - 1 Prozent! 0,65 Prozent besitzen
20 Prozent des Vermögens, nämlich 2 Billionen Euro.
Das ist eine so große Ungerechtigkeit. Und da wollen
Sie noch nicht einmal eine ganz geringe Steuererhöhung,
kein bisschen Steuergerechtigkeit? Es soll dabei bleiben,
dass die Mitte der Gesellschaft alles bezahlt? Das sind
die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, das sind die Angestellten, das sind auch die Handwerkerinnen und
Handwerker, die Mittelständler und die Selbstständigen.
Sie alle sollen für die Gesellschaft zahlen, nur weil Sie
sich nicht heranwagen an das Vermögen, an die Bestverdienenden und an die Leute, die wirklich viel zu viel
Geld haben.
Im Übrigen weiß ich, was Banker zum Teil verdienen;
es ist - selbst wenn sie fleißig sind - völlig überzogen.
Auch deren Tag hat nur 24 Stunden, und 8 Stunden müssen sie noch schlafen. - Damit wir uns nicht missverstehen: Ich will keinen gleichen Lohn für alle. Ich möchte
schon, dass es Unterschiede gibt, aber sie müssen nachvollziehbar sein. Es ist maßlos geworden, und Sie gehen
an dieses Problem nicht heran.
({15})
Sie wollen endlich den Mindestlohn einführen, was
ich sehr begrüße. Es wird auch höchste Zeit. Jahrelang
haben wir dafür gekämpft. Aber jetzt geht es um Ausnahmen. Nun hat sich herausgestellt: Wenn man die
Ausnahmen macht, die die CSU will, dann bedeutet das,
dass die Hälfte derjenigen, die heute unter ihrem gesetzlichen Mindestlohn verdienen, weiterhin unter dem
gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Wenn es einen gesetzlichen Mindestlohn geben soll, dann muss er flächendeckend sein und keine Ausnahmen regeln.
({16})
Außerdem kommt er zu spät, und er ist zu niedrig.
Dann haben Sie geregelt - die Kanzlerin hat es auch
wieder betont -, dass bestehende Tarifverträge, die einen
geringeren Mindestlohn vorsehen, noch bis 2017 weitergelten können. Die Regierung, auch die SPD, die Gewerkschaften und Herr Jörges vom Stern unterliegen hier
einem Irrtum. Sie glauben nämlich, das sei ein genialer
Trick: Dadurch werde man gezwungen, Tarifverträge abzuschließen, und dann hätten wir sehr viel mehr Tarifverträge in Deutschland und der Tariflohn spiele dann
eine größere Rolle. Ich sage Ihnen: Das ist eine Illusion.
Die meisten Unternehmen machen dies nicht für die
zwei Jahre, weil sie wissen, dass sie dann auf lange Zeit
gebunden sind. Es ist immer schlau gedacht, aber es
kommt nichts dabei heraus, außer dass die Leute einen
geringeren Lohn beziehen, als sie es in jeder Hinsicht
verdient haben.
Wenn ich mir Ihre Änderungen hinsichtlich der prekären Beschäftigung ansehe: Mein Gott, Frau Merkel und
Frau Nahles! Sie sagen: Nach neun Monaten soll es einen Anspruch auf gleichen Lohn geben. Damit sagen Sie
den Unternehmen: Nach neun Monaten müsst ihr wechseln. Das ist alles, was Sie damit sagen.
({17})
Dann sagen Sie: Nach 18 Monaten muss man sogar
einen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis
haben. Das heißt, nach spätestens 18 Monaten müssen
die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gewechselt werden. Ich sage Ihnen: Die Unternehmer, die anständig
sind, machen es sowieso. Für diese brauchen wir es
nicht. Die anderen, die es nicht machen, werden es auch
dann nicht machen, sondern sie werden die Frist entsprechend beachten.
Was machen Sie gegen den Missbrauch der Werkverträge und gegen Dumpinglöhne? Sie sagen: Personalund Betriebsräte sind zu informieren, aber sie dürfen
nicht entscheiden. - Ich sage: Wir brauchen hier ein Mitbestimmungsrecht, damit sie das Ganze unterbinden
können.
({18})
Nun zur Rente. Sie ändern nichts an der Senkung des
Rentenniveaus, nichts an der Rente erst ab 67. Das wird
massiv zu Altersarmut führen. Das wissen Sie alle. Nun
haben Sie drei Änderungen geplant. Die eine sieht die
sogenannte Rente ab 63 abschlagsfrei vor, wenn man
45 Beitragsjahre hat. Erstens ist der Name „Rente ab 63“
falsch, weil Sie ja generell den Eintritt der Rente bis auf
67 verschieben und die Änderung nachher tatsächlich
bedeutet, dass man mit 65 Rente bekommt und nicht mit
63. Also streichen Sie die 63 und sagen, dass es Ihnen
um zwei Jahre geht.
Es wird zweitens so getan, als ob das eine grundlegende Änderung ist. Schon jetzt können Menschen mit
65 in Rente gehen, obwohl andere erst später in Rente
gehen können, wenn sie 45 Beitragsjahre haben. Das
heißt, Sie helfen nur einem Teil der Bevölkerung und
auch nur vorübergehend. Dieser Teil ist übrigens sehr
männlich. Dies erreichen kaum Frauen. Das muss man
auch erwähnen. Dann machen Sie Folgendes: Sie sagen,
Zeiten mit ALG-I-Bezug sollen mit angerechnet werden,
weil auch Beiträge gezahlt werden. Aber wenn dann tatsächlich das Renteneintrittsalter 67 gilt und die Menschen dann 45 Beitragsjahre haben und mit 65 in Rente
gehen dürfen, dann gilt die heutige Regelung, bei der
Zeiten mit ALG-I-Bezug nicht mit einbezogen werden.
Auch das muss korrigiert werden. Aber diese Absicht
haben Sie nicht.
({19})
Übrigens: In besseren Zeiten sind während des
ALG-II-Bezugs auch Beiträge bezahlt worden. Auch das
soll nicht anerkannt werden.
Dann komme ich zur Mütterrente - auch ein blöder
Name. Frau Merkel, Sie müssen mir eines erklären:
Wieso war es vor 1992 so viel leichter, Kinder aufzuziehen, als nach 1992? Wenn es nicht so war, dann müssen
Sie mir mit Blick auf das Grundgesetz erklären, warum
diese Kinder weniger wert sind.
({20})
Sie verbessern die Stellung, aber Sie stellen nicht gleich.
Man bekommt jetzt für ein nach 1992 geborenes Kind
3 Rentenpunkte und für ein vor 1992 geborenes Kind
1 Rentenpunkt. Das wollen Sie auf 2 Rentenpunkte erhöhen. Mit anderen Worten: Sie lassen einen Unterschied.
Jetzt kommt aber noch etwas hinzu: Diese Rentenentgeltpunkte unterscheiden sich nach Ost und West. Das
heißt, Frau Merkel, dass man im Osten für ein Kind einen geringeren Rentenzuschlag bekommt als im Westen.
({21})
- Ja, eben.
({22})
Es ist jetzt schon ein Skandal, Herr Kauder. Und dass Sie
das im 24. Jahr der deutschen Einheit beibehalten und es
für die Zukunft so regeln, dass Kinder aus dem Osten
weniger wert sind als Kinder aus dem Westen, ist indiskutabel und grundgesetzwidrig.
({23})
Das, Frau Merkel, können Sie dem Osten nicht erklären.
Dann planen Sie eine völlig falsche Finanzierung.
Also, ich bitte Sie! Sie wollen das Ganze über die Beiträge finanzieren; aber Kinder haben doch mit den Beiträgen nichts zu tun. Kinder sind doch eine Leistung für
die gesamte Gesellschaft. Und was kommt dabei heraus?
Die Verkäuferin im Bäckerladen, die Lidl-Kassiererin
und der Bäckermeister - also auch die Unternehmen bezahlen die sogenannte Mütterrente, und wir Bundestagsabgeordnete beteiligen uns nicht mit einem halben
Euro daran, weil wir ja keine Beiträge in die gesetzliche
Rentenversicherung einzahlen. Indiskutabel! Es ist aus
Steuern zu bezahlen, damit es die gesamte Gesellschaft
bezahlt und nicht, wie Sie es gegenwärtig planen, die
Beitragszahlerinnen und -zahler und die Unternehmen
alleine.
({24})
Zur Lebensleistungsrente nach 40 Beitragsjahren. Es
liegt noch kein Gesetzentwurf vor, aber Sie haben gesagt, dass sie 30 Rentenentgeltpunkte betragen soll. Das
bedeutet, sie beträgt für Menschen aus den alten Bundesländern etwa 850 Euro, für Menschen aus den neuen
Bundesländern rund 760 Euro, weil der Wert der Rentenentgeltpunkte im Osten niedriger ist als im Westen.
Beide Beträge sind zu niedrig - das sage ich ganz deutlich -; das löst das Problem der Altersarmt nicht. Aber
im 24. Jahr der deutschen Einheit dem Osten wiederum
eine geringere Rente zuzubilligen als dem Westen - das,
Frau Bundeskanzlerin, darf man dieser Regierung nicht
durchgehen lassen.
({25})
Nehmen Sie einen einheitlichen Betrag, regeln Sie das
gleich!
Zur Energiewende. Herr Gabriel, Sie wollen die gesetzlich zugesicherte Förderung reduzieren, und zwar
gerade bei der Windenergie. Und wen trifft’s? Die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Denn im Offshorebereich kürzen Sie natürlich nicht - da geht es um
die berühmten Windenergieanlagen im Meer, die von
den vier großen Konzernen betrieben werden. Oh Gott,
oh Gott, es wäre ja so mutig gewesen, denen einen halben Euro wegzunehmen, aber das trauen Sie sich nicht.
({26})
Nein, Sie treffen damit wiederum die kleinen und mittleren Unternehmen und damit natürlich auch die Beschäftigten dieser Unternehmen. Und wer schützt wieder die
kleinen und mittleren Unternehmen? Ich sage es: die
Linke.
({27})
Ich habe es Ihnen vorhin schon bei der Wirtschaftsspionage gesagt; hier ist es genauso.
({28})
Insofern sage ich: So kriegen Sie die Preise nicht sozial gestaltet. Wenn wir wirklich den Strom preiswert
machen wollen, sodass sich jede und jeder ihn leisten
kann, brauchen wir ganz andere Schritte:
Wir müssen die Strompreisaufsicht wieder einführen.
Ich sage Ihnen auch einen Grund: Der Strompreis an der
Energiebörse ist extrem niedrig, aber er wird nicht an die
Kundinnen und Kunden weitergereicht. Genau dafür
muss eine staatliche Strompreisaufsicht sorgen.
Wenn die EEG-Umlage erhöht wird, müssen Sie die
Stromsteuer senken oder vielleicht sogar ganz abschaffen; sie hat keine ökologische Wirkung.
Die Ausnahmen für die Industrie müssen auf ein Minimum reduziert werden. Es geht doch nicht, dass die
Mieterin das alles bezahlt, aber die großen Industrieunternehmen nichts bezahlen müssen. Auch das ist nicht
gerechtfertigt.
({29})
Dann brauchen wir endlich eine Abwrackprämie für
die Verschrottung stromfressender Haushaltsgeräte,
wenn energiesparende angeschafft werden. Bei Autos
konnten wir das doch machen. Warum können wir das
nicht endlich mal bei Haushaltsgeräten machen? Gerade
die ärmeren Haushalte wären sehr darauf angewiesen.
Außerdem brauchen wir einen gebührenfreien Sockeltarif; auch das müssen wir haben. Dann wären wir
diese Sorgen los und könnten wirklich sagen: Ja, die
Energiewende gelingt, und zwar vernünftig, und bleibt
für die Leute bezahlbar. Ich warne Sie: Wenn wir den ärmeren Teil der Bevölkerung nicht mitnehmen und ihn
mit überhöhten Strompreisen verschrecken, werden wir
eine antiökologische Einstellung verursachen, die wir
alle uns nicht leisten können.
Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Ihr Leitfaden ist die
soziale Marktwirtschaft. Ich bitte Sie! Fragen Sie die
Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, fragen Sie die
ALG-II-Bezieherinnen und ALG-II-Bezieher, fragen Sie
die Leute, die befristet beschäftigt werden! Übrigens:
Mehr als die Hälfte aller Neueinstellungen sind befristete Beschäftigungen. Dagegen haben Sie nichts unternommen. Da soll sich gesetzlich auch nichts ändern. Die
werden Ihnen erzählen, dass sie diese Marktwirtschaft
als höchst unsozial empfinden. Sie wecken hier einfach
Illusionen. Ich sage Ihnen eines - das fällt mir schwer -:
Unter Kohl war die Marktwirtschaft sozialer als heute.
Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken, Frau
Merkel.
({30})
Ich glaube, dass die Große Koalition zunächst hektisch das eine oder andere beschließen wird, aber viel zu
wenig verändern wird. Die Politik von Schwarz-Gelb
wird im Kern fortgesetzt. Wir werden später Stillstand
und dann Herumwurstelei erleben. Man soll ja nicht wetten, aber ich könnte mit Ihnen wetten, dass die Bevölkerung nach der Regierungszeit der Großen Koalition tief
enttäuscht sein wird.
({31})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung
deutlich gemacht, wie unsere gemeinsame Regierung
mit den Fraktionen von CDU, CSU und SPD in den
nächsten vier Jahren die Zukunft unseres Landes gestalten will.
Dies war in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland die erste Regierungsbildung, die vom Ausgang eines Mitgliederentscheides abhängig war, und
diese Hürde haben wir souverän gemeistert.
({0})
256 000 SPD-Mitglieder haben sich für diese Regierung
entschieden. Sie wollen, dass dieser Koalitionsvertrag
umgesetzt wird und dass dadurch das Leben der Menschen in Deutschland besser und gerechter wird. Sie
wollen, dass diese Regierung Erfolg hat. Das wollen wir
auch. Deshalb freue ich mich auf die gemeinsame Arbeit. Packen wir es an!
({1})
Herr Gysi, Sie sind erstmals Vorsitzender der größten
Oppositionsfraktion.
({2})
Sie antworten deshalb unmittelbar auf die Kanzlerin. Sie
sind jetzt sozusagen Oppositionsführer. Herzlichen
Glückwunsch!
({3})
Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann streben
Sie gar nicht an, der größte Oppositionsführer in der Geschichte des Deutschen Bundestages zu werden, sondern
Ihr Wunsch ist es, die Linke in die Regierung zu führen.
Wenn das wirklich Ihr Wunsch ist, Herr Gysi, genügt es
allerdings nicht, so über Europa zu reden, wie Sie es
eben getan haben. Vielmehr müssen Sie dafür sorgen,
dass Ihre Fraktion und Ihre Partei anders über Europa
denken und sprechen.
({4})
Welchen Wert Europa für uns hat, wird uns in diesem
Jahr besonders bewusst, wenn wir uns an den Beginn des
Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnern. Damals taumelte Europa verblendet vom Nationalismus in einen
furchtbaren Krieg. Der Erste Weltkrieg war der erste
Krieg, in dem moderne Massenvernichtungswaffen eingesetzt wurden. Das Versagen der Diplomatie in Europa
forderte 17 Millionen Tote, und trotz dieser Erfahrungen
zettelte Deutschland kurze Zeit später einen noch viel
furchtbareren Krieg an. Ich finde, jeder, der sich vor Augen führt, welch schreckliche Dinge ihren Ausgangspunkt im nationalistischen Deutschland genommen haben, der muss doch erkennen, wie unschätzbar wertvoll
die europäische Integration vor allem für uns Deutsche
ist.
({5})
Die Entscheidung für Europa war die beste Antwort sowohl auf den Ersten Weltkrieg als auch auf den Zweiten
Weltkrieg. Sie war die beste Antwort auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft,
({6})
und sie ist der beste Weg, den Frieden auch in Zukunft
zu sichern.
({7})
Aber Europa steht nicht nur für Frieden, sondern Europa steht auch für unser gemeinsames Wertesystem: unsere Freiheit, unsere Demokratie und unser europäisches
Sozialstaatsmodell, das Menschen, die in Not geraten,
nicht fallen lässt, sondern sie absichert und ihnen wieder
neue Chancen gibt.
({8})
In unserer globalisierten Welt wäre jedes einzelne Land
zu klein und zu schwach, um diese Werte allein zu verteidigen. Das schaffen wir nur gemeinsam. Deshalb darf
es keine Rückkehr zum nationalstaatlichen Denken geben. Gerade im Jahr der Europawahl sage ich ausdrücklich: Wir dürfen Europa nicht den nationalen Populisten
überlassen, egal ob sie von links oder von rechts kommen.
({9})
Lieber Herr Gysi, Ihr Parteivorstand nennt die EU in
der Präambel eines Leitantrages zur Europawahl eine
„militaristische und weithin undemokratische Macht“.
({10})
Das ist nicht etwa ein Zitat von Rosa Luxemburg, mit
dem sie die Zustände des deutschen Kaiserreiches vor
100 Jahren beschreibt, sondern das ist Ihre Beschreibung
für Europa im Jahr 2014, für eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ich finde das unglaublich.
({11})
Das ist so abenteuerlich, dass Sie sich davon distanzieren mussten. Ich füge hinzu: Ich glaube Ihnen, dass Sie
sich davon ehrlich distanziert haben, dass das Ihre aufrichtige Meinung ist. Aber ich bezweifle, dass diese Distanzierung von Ihrer Partei und Ihrer Fraktion mitgetragen wird.
({12})
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie in diesem Hause Partner finden wollen, müssen Sie Ihr Verhältnis zu Europa
und zum Euro klären. Klären Sie Ihr Verhältnis zur internationalen Verantwortung Deutschlands. Damit haben
Sie in den nächsten vier Jahren genug zu tun.
({13})
Das Bekenntnis zu Europa als Macht des Friedens
und Hüterin unserer Werte allein reicht nicht. Die EUKommission und die europäische Politik müssen klar
besser werden, wenn dem Populismus das Wasser abgegraben werden soll. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, benutzte kürzlich ein sehr treffendes Bild, als er von den zwei Denkschulen sprach, die
sich in der Europäischen Kommission sozusagen gegenseitig im Wege stehen: Die einen geben nicht eher Ruhe,
bis auch der letzte kommunale Friedhof in Europa privatisiert ist. Und die anderen hören nicht auf, bevor nicht
eine einheitliche Friedhofsordnung für ganz Europa entstanden ist. „Das macht die Leute verrückt“, sagt Martin
Schulz. Und ich sage: Der Mann hat recht.
({14})
Europa muss nicht alles machen, vor allem nicht das,
was die Mitgliedstaaten selber können.
Deshalb sage ich: Die Europäische Kommission muss
sich in den nächsten Jahren stärker um das kümmern,
was Europa eint, was uns stark macht und was die Einzelnen alleine nicht schaffen. Dazu gehört die weitere
Bändigung der Finanzmärkte. Dazu gehört die Bekämpfung von Steueroasen und Steuerschlupflöchern, die unsere Steuerzahler hier in Deutschland Milliarden kosten.
Dazu gehört die Verringerung des Wohlstandsgefälles
innerhalb der Europäischen Union. Und dazu gehört
ganz gewiss nicht zuletzt die Bekämpfung der horrenden
Arbeitslosigkeit von jungen Menschen in vielen Ländern
Europas.
({15})
Auf diese Dinge muss sich die EU konzentrieren, damit
die Menschen erkennen können, warum Europa so wichtig für uns alle ist.
Viele fragen sich, wie wir in den harten Verhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD zueinandergefunden
haben. In der Tat, bei so schwierigen Themen wie Mindestlohn, Rente, Leiharbeit, Pflege oder Frauenquote
war es überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir uns
am Ende verständigen. Das lag natürlich auch an der auf
beiden Seiten vorhandenen Kompromissbereitschaft.
Aber ich glaube, das lag in erster Linie daran, dass es in
Deutschland einen gesellschaftlichen Grundkonsens
gibt, einen Grundkonsens über die soziale Marktwirtschaft - darüber hat auch die Bundeskanzlerin gesprochen; und ich stimme ihr zu -: 90 Prozent der Menschen
finden die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft richtig für unser Land, und sie wollen, dass sie gesichert und
gestärkt werden.
({16})
Die Arbeitnehmer wissen doch ganz genau, dass
Wohlstand für alle ohne eine starke Wirtschaft nicht
möglich ist. In der sozialen Marktwirtschaft muss der
Staat Rahmenbedingungen setzen, die es Unternehmen
ermöglichen, Gewinne zu machen. Unternehmer, die
keine Gewinne machen, gefährden am Ende Arbeitsplätze. Deshalb brauchen wir Produktivitätsfortschritt,
deshalb brauchen wir Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite brauchen wir auch faire Regeln auf dem Arbeitsmarkt, faire
Löhne, Arbeitnehmerrechte, Kündigungsschutz und Mitbestimmung. Das sind keine Problemfaktoren, sondern
das sind positive Standortfaktoren in einer erfolgreichen
Wirtschaft.
({17})
Das eine darf nicht auf Kosten des anderen durchgesetzt
werden. Wir brauchen beides: Wettbewerb und faire Regeln. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf der wir die soziale Marktwirtschaft in Deutschland in eine stabile Balance bringen können. Das wollen wir umsetzen. Das ist
unser Programm.
({18})
Damit fangen wir gleich an. Noch in diesem Jahr
wird die Koalition den gesetzlichen Mindestlohn von
8,50 Euro beschließen. Für viele Menschen, die 4, 5 oder
6 Euro in der Stunde verdienen, wird das die kräftigste
Lohnerhöhung in ihrem Leben. Das wird das Alltagsleben von Millionen Menschen in diesem Land positiv
verändern.
({19})
Dieser Mindestlohn generiert milliardenschwere
Kaufkraft. Das ist ein gewaltiges Konjunkturprogramm,
das die Binnennachfrage stärken und für zusätzliches
Wachstum sorgen wird. Das ist gut für unsere Wirtschaft. Der Mindestlohn ist nicht nur sozial gerecht, weil
er der Arbeit wieder Wert und Würde gibt, sondern er ist
auch ordnungspolitisch richtig, weil er Wettbewerbsverzerrungen durch Lohndumping beseitigt.
({20})
Wenn wir den Mindestlohn haben, wenn wir die Leiharbeit regulieren, wenn wir die missbräuchliche Nutzung
von Werkverträgen beenden und dafür sorgen, dass in
den Betrieben gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt
wird, dann werden sich Arbeit und Anstrengungen für
Millionen Menschen in Deutschland wieder lohnen. Genau das wollen wir: eine Politik für die fleißigen Leute
und für die verantwortungsvollen Unternehmer.
({21})
Das gilt natürlich auch für die Rentner. Wer ein Leben
lang hart gearbeitet und Kinder großgezogen hat, hat
Anspruch auf ein sicheres Auskommen im Alter. Wenn
jetzt bezüglich des Gesetzentwurfs, den Andrea Nahles
heute in das Kabinett eingebracht hat, von Unternehmern die Sorge geäußert wird, das könnte zu Frühverrentungen führen, dann sage ich: Diese Arbeitgeber
können zuerst selber verhindern, dass es zu Frühverrentungen kommt,
({22})
indem sie 61-Jährige nicht mehr in die Arbeitslosigkeit
schicken.
({23})
Wenn es zu einem Missbrauch kommen sollte, dann werden wir diesen Missbrauch mit geeigneten Maßnahmen
sofort wieder abstellen. Denn dafür haben wir die Rente
nach 45 Berufsjahren nicht eingeführt.
Die Mütterrente und die abschlagsfreie Rente nach
45 Beschäftigungsjahren haben eine Debatte über Generationengerechtigkeit ausgelöst, und wir werden uns
dieser Debatte stellen. Bei der Rente geht es übrigens
immer um Generationengerechtigkeit, aber in beide
Richtungen und nicht nur in eine Richtung.
({24})
Frau Göring-Eckardt, Sie haben den Begriff der Generationenkumpanei in diese Debatte eingeführt.
({25})
Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich in
E-Mails und Briefen an uns darüber empören, dass mit
diesem Begriff ihre Lebensleistung abgewertet wird.
({26})
Das ist unfair gegenüber den Müttern und denjenigen,
die 45 Jahre hart gearbeitet haben. Das sind doch diejenigen, die mit ihrer harten Arbeit ein umlagefinanziertes
stabiles Rentensystem überhaupt erst ermöglichen, Frau
Göring-Eckardt.
({27})
Wir sollten uns davor hüten, die Generationen gegeneinander auszuspielen. Die Zukunftschancen der jungen
Generation hängen doch nicht in erster Linie von der
Rentenpolitik ab, sondern sie hängen davon ab, was wir
bildungs- und wirtschaftspolitisch in diesem Lande machen.
({28})
Die Perspektiven hängen davon ab, ob wir in 20 oder
30 Jahren in Deutschland noch eine starke Wirtschaft haben und ein starkes Industrieland sind. Sie hängen davon
ab, ob wir jungen Menschen attraktive Jobs anbieten
können und ob dort hohe Löhne verdient werden können. Das sind doch die Fragen. Ich sage: Diese Regierung wird die Grundlagen dafür legen. Ich freue mich,
dass diese Regierung mit Sigmar Gabriel als Wirtschaftsminister endlich wieder eine aktive Industriepolitik für Deutschland macht.
({29})
Da ist natürlich die ganze Regierung gefordert; denn
eine starke Wirtschaft wird es in Zukunft nur geben,
wenn wir eine moderne Infrastruktur haben. Wir müssen
den Investitionsstau abarbeiten, und wir brauchen gut
ausgebildete Fachkräfte. Wir haben 9 Milliarden Euro
für Investitionen in Kitas, Forschung und Entwicklung
bereitgestellt. Wir brauchen ein hohes Niveau an Forschung und Entwicklung und nicht zuletzt ein Energiesystem, das Versorgungssicherheit, Preisstabilität und
Klimaschutz miteinander verbindet. Deswegen ist es gut,
dass das Kabinett schnell Eckpunkte für die Energiewende vorgelegt hat, mit denen der weitere Preisanstieg
der erneuerbaren Energien gebremst wird; denn ein
funktionierendes Energiesystem ist das Herz-KreislaufSystem der Wirtschaft; ohne ein solches System kann
unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Alles hängt davon
ab, dass Energie bezahlbar bleibt. Ich finde es richtig,
dass wir die Nutzung der erneuerbaren Energien weiter
ausbauen; aber wir müssen sie so ausbauen, dass Energie
für die Menschen und für die Wirtschaft auch bezahlbar
bleibt.
({30})
Da muss uns die Europäische Union auch die Möglichkeit lassen, energieintensive, tatsächlich im internationalen Wettbewerb stehende Unternehmen von der
EEG-Umlage zu befreien. Das sind doch keine wettbewerbsverzerrenden Entlastungen - entsprechende Belastungen in anderen Ländern gibt es doch gar nicht.
({31})
Wenn übrigens an anderer Stelle argumentiert wird,
dass wir auf die energieintensiven Unternehmen in
Deutschland im Interesse einer besseren Ökobilanz vielleicht ganz verzichten könnten, dann halte ich das für absolut verantwortungslos. Die Stärke unserer Wirtschaft,
das sind doch nicht einzelne industrielle Leuchttürme.
Stark sind wir doch deshalb in Deutschland, weil wir
über die ganze Wertschöpfungskette verfügen: von der
Grundstoffindustrie bis zu den Hightechunternehmen
und den hochwertigen Dienstleistungen.
({32})
Diese Wertschöpfungskette darf nicht zerstört werden,
meine Damen und Herren.
Ich finde, Energieminister Gabriel hat in dieser Debatte einen ganz wichtigen Satz gesagt, der übrigens
auch etwas über die Art und Weise, wie Politik gemacht
werden sollte, aussagt: Die Summe der jetzt geltend gemachten Interessen ist nicht identisch mit dem Gemeinwohl. - Da hat er recht.
({33})
Natürlich müssen alle Interessen und Argumente gehört,
diskutiert und gewichtet werden; aber am Ende muss es
eine Entscheidung für eine Energiepolitik im Interesse
des Allgemeinwohls geben.
({34})
Dafür hat der Bundeswirtschaftsminister die volle Unterstützung der Koalition.
({35})
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren
grundlegend verändert. Wie vielfältig wir geworden
sind, spiegelt übrigens auch der Deutsche Bundestag wider: Spitzenreiter bleibt zwar der Nachname „Schmidt“,
auf den sechs Kollegen und Kolleginnen hören, aber
„Özdemir“ kommt inzwischen genauso häufig vor wie
„Mayer/Meier“: zwei Mal.
({36})
Ich freue mich, dass wir vielfältiger geworden sind - genauso wie unser Land.
({37})
Auch wenn die Koalition nicht in allen Fragen der
doppelten Staatsangehörigkeit wirklich einer Meinung
ist, finde ich es doch gut, dass wir es geschafft haben,
uns darauf zu verständigen, dass wir junge Menschen,
die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind,
nicht mehr in die Zwangslage bringen wollen, sich, um
Deutsche bleiben zu können, vor Vollendung des 23. Lebensjahres gegen die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern
und Großeltern zu entscheiden. Das wollen wir diesen
Menschen ersparen, indem wir ihnen die doppelte
Staatsangehörigkeit ermöglichen.
({38})
Meine Damen und Herren, Deutschland ist vor allem
wegen seines starken Arbeitsmarktes ein attraktives Einwanderungsland geworden. Angesichts der demografischen Veränderungen und des Fachkräftemangels gilt
Einwanderung heute nicht mehr als Belastung, sondern
als Chance. 2012 kamen 370 000 Menschen, im letzten
Jahr 400 000 Menschen mehr nach Deutschland, als
weggegangen sind. Das sind ganz überwiegend gut Ausgebildete und hoch Qualifizierte. Sie sind ein Riesengewinn für unsere Wirtschaft. Deutschland profitiert wie
kein anderes Land in der Europäischen Union von der
Arbeitnehmerfreizügigkeit.
({39})
Deshalb sage ich: Wir freuen uns über jeden und über
jede, die zu uns kommen, um hier zu arbeiten, Geld zu
verdienen und ihr Glück zu machen.
({40})
Natürlich bleibt es eine große Herausforderung, unsere Einwanderungsgesellschaft so zu organisieren, dass
alle Menschen gut zusammenleben können. Aber da, wo
durch Zuwanderung Probleme entstehen - wie in Duisburg, Dortmund, Mannheim oder Berlin -, helfen keine
lautstarken Debatten und Parolen, sondern da ist tatkräftiges Handeln gefragt.
({41})
Deshalb begrüße ich es, dass die Regierung schnell einen Staatssekretärsausschuss eingesetzt hat und wir alsbald mit geeigneten Maßnahmen beginnen können, um
vor allem den betroffenen Kommunen zu helfen. Wir
dürfen diese Kommunen mit ihren Problemen nicht alleinlassen.
({42})
Auch wenn das jetzt vielleicht überraschen mag,
möchte ich unserem Koalitionspartner CSU in diesem
Zusammenhang ein Kompliment machen.
({43})
Jetzt aber langsam zum Mitschreiben.
Die Idee von Horst Seehofer,
({0})
einem Minister aus seinem Kabinett die Zuständigkeit
für die Heimat zu übertragen, musste ja viel Spott ertragen, aber ich finde sie überhaupt nicht abwegig.
({1})
Heimat ist die emotionale Verbindung der Menschen
mit einer ihnen vertrauten Umgebung. Für ganz viele
Menschen in der heutigen Welt ist Heimat alles andere
als selbstverständlich. Ob sie aus Syrien fliehen, um ihr
Leben zu retten, oder ob sie innerhalb Europas nach
neuen Chancen suchen: Viele Menschen sehen sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Deshalb muss es
doch die Aufgabe der Politik sein, denen, die einen Neuanfang in Deutschland machen wollen, hier in Deutschland auch eine Heimat zu geben, in der sie sich wohlfühlen und von wo sie nicht gleich wieder weggehen
wollen, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse ändern.
({2})
Dazu können wir alle und kann dann auch ein Heimatminister beitragen.
({3})
Die Große Koalition hat im Deutschen Bundestag
eine Mehrheit von 504 Abgeordneten. Natürlich werden
wir unsere politischen Ziele mit dieser Mehrheit umsetzen. Diese große Mehrheit darf uns aber nicht zu Arroganz verleiten. Deshalb wollen wir die Arbeit des Parlamentes mit Augenmaß gestalten.
Ich bin mir sicher, dass wir uns über die Minderheiten- und Oppositionsrechte noch einigen werden. In den
Vorschlägen, die der Bundestagspräsident gemacht hat,
sehe ich eine gute Grundlage. Hinsichtlich der Redezeit
bitte ich um Verständnis, dass auch die Abgeordneten
der Koalition frei gewählte Abgeordnete sind und dass
sie zu Wort kommen müssen und hier nicht zu Statisten
degradiert werden können.
({4})
Die Kontrolle der Regierung ist zwar zuerst die Aufgabe der Opposition, aber nicht allein Aufgabe der Opposition, sondern des gesamten Parlamentes.
({5})
Deshalb, liebe Britta Haßelmann und lieber Herr Gysi,
werden wir die Kontrolle der Regierung nicht allein den
Oppositionsfraktionen überlassen.
({6})
Wie wichtig diese Arbeit des Parlamentes ist, hat in
der letzten Wahlperiode die fraktionsübergreifende Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses gezeigt. Der
Ausschuss hat die eklatanten Versäumnisse der Sicherheitsbehörden aufgedeckt und eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, um das gestörte Vertrauen in die Fähigkeit des Staates wiederherzustellen, allen Menschen,
unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion, in Deutschland Sicherheit und Schutz zu
bieten.
({7})
Die Koalition hat sich darauf verständigt, all diese
Empfehlungen umzusetzen. Daran können Sie sehen,
wie wichtig eine fraktionsübergreifende Kontrolle der
Regierung durch das Parlament ist.
({8})
Wir bieten Ihnen deshalb auch an, beim NSA-Untersuchungsausschuss zusammenzuarbeiten. Dass Millionen Bürger abgehört werden und dass das Mobiltelefon
der Bundeskanzlerin abgehört wird, ist eine Angelegenheit, die das ganze Parlament etwas angeht.
({9})
Die Regierungsbildung war nicht einfach. Wir haben
hart gerungen und uns Zeit genommen - auch, um die
außergewöhnliche Beteiligung unserer Partei zu ermöglichen. Jetzt erwarten die Menschen, dass unsere Vorhaben umgesetzt werden und wir Ergebnisse liefern.
Menschen, die nach langer Arbeit auf eine Rente in
Würde hoffen, warten auf die Möglichkeit, nach 45 Berufsjahren in Rente zu gehen. Arbeitnehmer, die trotz
Vollzeitjob nicht genug zum Leben verdienen, hoffen auf
den Mindestlohn. Pflegebedürftige und ihre Pfleger erwarten, dass die Politik den Pflegenotstand beseitigt.
({10})
Frauen, die im Beruf Nachteile erfahren, warten auf eine
neue Gleichstellungspolitik.
({11})
Unternehmen, die viel Energie zum Produzieren brauchen, erwarten eine neue Verlässlichkeit in der Energiepolitik.
Wir werden Antworten auf diese Erwartungen geben.
Mit diesen Antworten werden wir Deutschland Stück für
Stück ein bisschen besser und gerechter machen.
({12})
Das ist der Anspruch. Daran sollten wir in vier Jahren
gemessen werden.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Anton Hofreiter für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich aufgrund der aktuellen Ereignisse ganz kurz etwas zur Ukraine sagen. Nach den Ergebnissen der letzten Tage ist die Hoffnung größer geworden, dass es eine friedliche Lösung gibt. Aber wir
erwarten von Europa, wir erwarten insbesondere auch
von der Bundesregierung, dass sie sich stark dafür einsetzen, dass es eine friedliche und demokratische Lösung
gibt und dass die demokratische und proeuropäische Opposition nicht alleingelassen wird. Diese Erwartung haben wir an Sie.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzlerin, Sie haben über die Regierungspolitik in den kommenden vier Jahren gesprochen. Sie haben die Unterstützung von 80 Prozent der Abgeordneten hier. Das sind
viele; das bezweifeln wir nicht. Aber Masse macht noch
nicht automatisch Klasse. Ihre Mehrheit ist groß, der Koalitionsvertrag ist dick. Aber Ihr Regierungsprogramm
ist zukunftsvergessen, perspektivlos, eine Verwaltung
des Stillstandes.
({1})
Die Große Koalition denkt nicht an morgen. Sie stellt
nicht das Klima, sondern die Kohle unter Schutz. Sie investiert nicht in die Zukunft. Und die rechte Hand der
Koalition zündelt am gemeinsamen Haus Europa. Das
ist ein arg kleiner Plan für so viel Masse, Frau Merkel.
({2})
Vor kurzem stand in der Zeitung: Angela Merkel ist
auf dem Zenit ihrer Macht und am Tiefpunkt ihrer inhaltlichen Ansprüche angekommen. - Eine treffende Bemerkung! Dazu fällt mir ein altes Bild ein. Sie haben
sich einmal als Klimakanzlerin inszeniert - erinnern Sie
sich noch? Das schöne Bild von Ihnen mit der roten Jacke vor den fotogenen Eisbergen in Grönland. Was ist
davon übrig geblieben? Ich kann nichts erkennen. Frau
Merkel, Herr Gabriel, verspielen Sie die Chance nicht,
die Ihnen die Menschen gegeben haben. Gehen Sie die
großen Herausforderungen unserer Zeit an.
({3})
Was ist eigentlich Ihre Idee für die kommenden vier
Jahre, Frau Merkel? Ich habe Ihnen gut zugehört, auch
wenn es manchmal nicht einfach war, aber ich habe
nichts gefunden. Sie setzen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, anstatt etwas Großes zu wagen. Je größer
die Mehrheit, desto kleiner der Anspruch, so scheint es
zu sein. Das ist wohl die Realität dieser Großen Koalition.
„Deutschlands Zukunft gestalten“ steht auf dem Titelblatt des Koalitionsvertrages. „Den Status quo verwalten“ wäre die treffendere Bezeichnung gewesen. Überall
da, wo neue Wege dringend erforderlich sind, hat die
Dagegen-Partei CDU blockiert: gegen den Ausbau der
Infrastruktur, gegen eine faire Verteilung der Steuerlast,
gegen Klimaschutz, gegen Datenschutz, gegen Verbraucherrechte, gegen Gleichberechtigung und Gleichstellung. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.
({4})
Jetzt sitzen Sie, Frau Merkel, zum dritten Mal als neu
gewählte Kanzlerin hier. Ich gratuliere Ihnen ehrlich und
wünsche Ihnen wirklich gute Besserung. Sie falten die
Hände zur Raute und sagen schöne Worte. Sie wollen
die Banken und Finanzmärkte regulieren.
({5})
Wäre das Ihre erste Regierungszeit, würde ich sagen:
Richtig! Aber Sie regieren seit acht Jahren, und passiert
ist fast nichts.
({6})
Der Soziologe Ulrich Beck bezeichnet solch ein Verhaltensmuster als verbal aufgeschlossen bei weitgehender
Verhaltensstarre.
({7})
Alles soll so bleiben, wie es ist. Aber ohne Veränderung gibt es keine gute Zukunft in Deutschland und Europa, ob beim Klimawandel, der Erhaltung unseres
Wohlstandes oder beim Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Gestalten statt verwalten: Darum muss es gehen.
Aber dazu scheinen Ihnen der Mut, die Ideen oder vielleicht sogar beides zu fehlen.
({8})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
kommt es Ihnen, wenn Sie morgens in Richtung Parlament laufen, nicht manchmal seltsam vor, dass Sie jetzt
mit der Union die Politik machen, die Sie noch vor ein
paar Monaten ach so sehr bekämpft haben? Wie sehr haben Sie die ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen beklagt. Was wollten Sie in der Steuerpolitik
nicht alles anders machen. Und was haben Sie davon
durchgesetzt?
In Deutschland leben über 2,5 Millionen Kinder unter
der Armutsgrenze. Was aber unternehmen Sie, um das
zu ändern? Wie viel mehr haben Sie dafür übrig? Laut
Ihrem Koalitionsvertrag nicht 1 Cent mehr. Ist das wirklich Ihr Ernst, Herr Gabriel?
Auch wenn es schön ist, dass Frau Schwesig nachträglich Vorschläge macht, gilt auch hier: Für eine
Ministerin ist reden allein zu wenig. Im Wahlkampf
wollten Sie von der SPD die Steuern erhöhen, um in
Schulen und Kitas zu investieren. Aber jetzt tragen Sie
eine Politik mit, die diese Probleme ignoriert.
Wie sehr haben Sie für einen radikalen Kurswechsel
in der Europapolitik gekämpft. Jetzt tragen Sie die Politik der Kanzlerin einfach mit, als ob nie etwas gewesen
wäre. Sie waren gegen eine Politik für Banken und, wie
Sie schrieben, Finanzjongleure. Jetzt müssen Sie diese
Politik mittragen.
Sie wollten für ein gemeinsames Haus Europa eintreten. Nun sitzen Sie am Kabinettstisch, mit Ihren neuen
Freunden von der CSU, die auf das gemeinsame Haus
Europa eintreten. Diesen ekelhaften Populismus der
CSU gegen Rumänen und Bulgaren konnten Sie in Ihrer
eigenen Koalition nicht unterbinden.
({9})
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
Ihr Wahlprogramm hieß „Das WIR entscheidet.“ Sie haben es vielleicht schon gemerkt: Es ist meist die Kanzlerin, die entscheidet, wenn in dieser Koalition überhaupt
etwas entschieden wird.
Immerhin will auch Frau Merkel jetzt den Mindestlohn: teilweise, mit Ausnahmen, später, aber immerhin.
Bei der Mietpreisbremse oder der zaghaften Frauenquote
gehen Sie immerhin in die richtige Richtung. Ich gratuliere Ihnen zu diesen Schritten.
Aber was ignoriert diese Regierung nicht alles? Vor
dem Überwachungswahn der US-amerikanischen Regierung haben Sie kapituliert. Frau Merkel, Sie freuen sich
über das Versprechen, dass Ihr Handy nicht mehr ausgespäht wird. Aber Sie sind nicht Kanzlerin, um nur Ihre
persönlichen Grundrechte zu schützen. Als Kanzlerin
sind Sie verpflichtet, für den Schutz der Grundrechte aller Menschen in Deutschland zu sorgen.
({10})
Diese Menschen haben ebenfalls ein Recht darauf, dass
ihre Daten geschützt werden. Auch dafür wurden Sie gewählt, wobei sich die Frage stellt, wer in diesem Kabinett eigentlich dafür zuständig ist.
Anstatt die Kompetenzen zu bündeln, sind die Zuständigkeiten über acht Ministerien verstreut, bis hin zu
einem neuen Minister für Ausländermaut und Breitbandkabel. Mit diesem Kompetenzwirrwarr gibt es bestimmt
keine Verbesserung beim Datenschutz, selbst wenn Sie
dies wollten, was allerdings angesichts Ihrer Position zur
Vorratsdatenspeicherung leider mehr als fraglich ist.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne haben
bekanntlich nichts dagegen, Lasten gerecht zu verteilen.
Starke Schultern können mehr tragen als schwache. Das
ist solidarisch und gerecht. Die Altersarmut ist ein massives Problem. Reicht das Geld im Alter? Diese Frage
bereitet vielen Sorgen. Sie wollen 160 Milliarden Euro
an zusätzlichen Ausgaben für die Rente beschließen.
Man könnte doch meinen, mit so einer Summe sollte das
Problem sich lösen lassen. Aber Sie verschütten das
viele Geld wie mit der Gießkanne, ohne das Problem der
Altersarmut von heute oder von morgen zu lindern.
Die armen Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung fallen durchs schwarz-rote Raster. Eine
Rentnerin in der Grundsicherung, die Anspruch auf die
Mütterrente hätte, bekommt diese wieder komplett abgezogen und behält nicht einen Cent. Damit nutzt Ihre Reform ausgerechnet den ärmsten Rentnerinnen nichts. Ist
das gerecht?
({12})
Genauso ergeht es Menschen, die lange arbeitslos waren: Von der Rente mit 63 haben sie nichts. Das ist ungerecht und auch noch ungerecht finanziert. Die zukünftigen Generationen, die das finanzieren müssen, müssen
sogar noch mehr um ihre Rente bangen. Das ist eine
traurige Form von Sozialpolitik. Es ist keine Politik für
eine gute Zukunft.
({13})
Ich habe erwähnt, dass Sie die vielen Herausforderungen, die vor uns liegen, nicht anpacken, sondern den
Stillstand verwalten. Ich will auf zwei Herausforderungen besonders eingehen. Erstens: Wie können wir die
Energiewende klug und gemeinsam gelingen lassen, damit Wohlstand und unsere Lebensgrundlagen gesichert
sind? Zweitens: Wie können wir Europa wieder zu einem positiven Projekt machen, das uns auch morgen
Frieden und Demokratie garantiert?
Wofür machen wir die Energiewende eigentlich? Wir
machen sie doch nicht, weil wir Windräder schön finden
oder weil Solaranlagen wunderbar blau funkeln auf den
Dächern. Wir machen sie, um aus der Atomkraft und der
Kohlenutzung auszusteigen. Wir machen sie, damit nicht
noch mehr klimaschädliches Kohlendioxid in die Luft
geblasen wird. Der internationale Klimarat stellt fest:
Gelingt nicht bald eine radikale Verminderung dieser
Klimakiller, dann wird das Weltklima völlig aus den Fugen geraten. - Die Klimakatastrophe ist für viele Menschen jetzt schon real. Extreme Wetterereignisse häufen
sich, und der steigende Meeresspiegel vertreibt bereits
jetzt Menschen aus ihrer Heimat. Der Klimawandel gefährdet die Lebensgrundlagen von uns allen auf diesem
Planeten. Es ist höchste Zeit, zu handeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, nutzen
Sie doch Ihre 80-Prozent-Mehrheit! Nehmen Sie den
Kampf gegen den Klimawandel auf.
({14})
Aber was ist die Antwort von Ihnen, Herr Gabriel?
Der Klimakiller Kohle bleibt der liebste Genosse der Sozialdemokratie. 2013 hat Deutschland so viel Braunkohle zu Strom verbrannt wie seit 1990 nicht mehr. Die
klimafreundlichen Erneuerbaren bremsen Sie aus. Das
ist doch das Gegenteil von verantwortlicher Politik.
({15})
Das ist nicht nur schlecht für das Klima. Es ist auch
schlecht für die deutsche und die europäische Wirtschaft,
wie sogar die EU-Kommission, die nicht gerade für besonderen Ehrgeiz beim Klimaschutz bekannt ist, zugeben muss. 1,25 Millionen neuer Jobs könnten entstehen,
wenn die Energiewende klug angepackt werden würde.
Das wären viele Jobs in den südlichen Krisenländern.
Aber auch in Deutschland, zum Beispiel in NordrheinWestfalen, hängen Tausende Jobs von der Energiewende
ab. Es stehen alleine dort Investitionen von 1 Milliarde
Euro auf dem Spiel. Die Zukunft Deutschlands finden
Sie nicht in Ihren Braunkohlegruben! Die Zukunft
Deutschlands entsteht im Sektor der erneuerbaren Energien. Sie entsteht durch die Nutzung von Sonne und
Wind.
({16})
Wir Grüne wollen, dass die Energiewende gelingt.
({17})
Wir wollen mit Ihnen zusammenarbeiten, weil wir uns
unserer Verantwortung im Bundestag, in den Landtagen
und als Partei bewusst sind
({18})
und die Energiewende nur in einem gesellschaftlichen
Konsens gelingen kann. Wir strecken die Hand zum
Konsens aus, Ihren Fehlstart zu korrigieren. Hören Sie
auf, ausgerechnet die kostengünstigste Form der Erneuerbaren, die Windenergie, auszubremsen! Lassen Sie die
Energiewende in den Händen der Bürger!
({19})
Machen Sie Deutschland wieder zum Vorreiter des Klimaschutzes! Dann können wir gemeinsam dieses historische Projekt voranbringen.
Sehr geehrte Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede
von einem starken Deutschland in einem starken Europa
gesprochen. Wer würde sich das nicht wünschen? Ich befürchte nur, dass wir nicht das Gleiche darunter verstehen. Ich wünsche mir ein Deutschland, das solidarisch
ist mit seinen Partnern, dessen Regierung eine Wirtschaftspolitik betreibt, die zu Stabilität und Wachstum
beiträgt, mit einer Regierung, die beim Klimaschutz vorangeht, die mehr Flüchtlinge aufnimmt und nicht zusieht, wie Menschen - Männer, Frauen und Kinder - im
Mittelmeer ertrinken. Stattdessen bauen Sie weiter mit
an der Festung Europa, einem Europa der Ausgrenzung,
der Abschottung. Ich wünsche mir ein Europa, das stark
ist, weil es die Freiheit der Menschen nicht nur achtet,
sondern auch garantiert.
({20})
Die offenen Grenzen innerhalb Europas sind eine riesige Errungenschaft. Sie geben uns die Freiheit, dort zu
leben und zu arbeiten, wo wir wollen. Diese Freiheit ist
in Gefahr durch die Rechtspopulisten von Wilders bis Le
Pen. Aber auch das unverantwortliche Geschwätz von
Ihrem Koalitionspartner CSU vergiftet das gesellschaftliche Klima in Deutschland.
({21})
Die Populisten von der CSU gaukeln vor, die Sorgen der
Menschen ernst zu nehmen.
({22})
Das tun sie nicht. Sie vergiften die Debatte, machen Vorurteile hoffähig und erschweren damit genau die Lösung
von Problemen.
({23})
Frau Merkel, wir erwarten von einer verantwortungsvollen Kanzlerin, dass sie diesen Unsinn beendet. Stellen
Sie sich klar auf die Seite der Offenheit und Freiheit in
Europa und gegen die kleingeistigen Brandstifter, die
nicht erkennen, dass Deutschland nur in einem starken
und einigen Europa eine gute Zukunft hat.
({24})
Europa als Verheißung, als Ort der Solidarität und des
Fortschritts, Europa als Ort der Freiheit und als eine Idee
im Dienst der Menschen - so soll unser Europa sein. Es
soll keines der Schlagbäume und Grenzen sein, kein Europa des Freihandelsabkommens auf Kosten des Verbraucherschutzes und keines nur für die Interessen einzelner Lobbys.
Frau Merkel, Sie tragen schon acht Jahre lang große
Verantwortung für Europa.
({25})
In der Vergangenheit haben Sie Ihre Macht für lasche
Regeln für die Automobilindustrie und die Deutsche
Bank eingesetzt. Damit gewinnt man weder das Herz
noch den Verstand der Menschen für unser Europa. Nutzen Sie Ihre dritte Amtszeit richtig, damit Europa zu einem Erfolg für alle wird, mit einer Politik, die die Finanzmärkte endlich an den Krisenkosten beteiligt, die
die Banken endlich in ihre Schranken weist und nicht
nur hier davon redet, die den sozialen Fortschritt über
die Interessen einzelner Lobbyisten stellt, mit einer
Politik, die gegen Massenarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten vorgeht, mit einer Politik, die gegen den Klimawandel kämpft und den Verfolgten einen sicheren Zufluchtsort bietet,
({26})
mit einer Politik, die Zukunft nicht verwaltet, sondern
klug und weitsichtig im Interesse aller gestaltet.
Vielen Dank.
({27})
Nun erhält Volker Kauder das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
Thomas Oppermann hat es in seinem Beitrag angesprochen: Wir, die CDU/CSU und die SPD, haben während
des ganzen Bundestagswahlkampfes nicht daran gedacht, dass wir zum Start in die neue Legislaturperiode
des Deutschen Bundestages in einer Koalition landen
würden.
({0})
Wenn man dies weiß, ist auch verständlich, dass es
uns nicht leichtgefallen ist, bei dem, was Schwerpunkt
und Ziel dieser Großen Koalition sein soll, zusammenzukommen. Ich finde, dass es eine gute Grundlage für
diese Koalition ist, dass wir dies auch nicht verborgen
haben, sondern dass wir in den Koalitionsverhandlungen
ernsthaft gerungen haben und dass wir die Themen offen
auf den Tisch gelegt haben. Aber es war uns auch klar,
dass wir nicht um unseretwillen in den Deutschen Bundestag gewählt worden sind, sondern dass wir für dieses
Land in einer schwierigen Situation eine stabile und
handlungsfähige Regierung stellen müssen.
({1})
Es hat auch andere gegeben, die dieses nicht so gesehen haben. Deswegen kam es zur Großen Koalition. Ich
bin dankbar, dass dies jetzt gelungen ist. Wenn man den
Koalitionsvertrag anschaut und das, was die Bundeskanzlerin vorhin für die Bundesregierung gesagt hat, anhört, dann kann man doch erkennen, dass dies eine gute,
gemeinsame Ausgangslage darstellt, um dieses Land tatsächlich in eine gute Zukunft zu führen.
({2})
Ja, Thomas Oppermann, ich teile die Auffassung: Wir
müssen uns daran messen lassen, dass es den Menschen
und dem Land nach diesen vier Jahren Großer Koalition
besser geht als vorher.
({3})
Dafür gibt es eine ganze Reihe von wichtigen Punkten. Das zentrale Thema, auf das es ankommt, ist auch in
den nächsten Jahren dieser Großen Koalition Europa.
Wenn wir in Europa Fehler machen, schwere Fehler machen, können wir sie mit keiner nationalen Gesetzgebung mehr korrigieren. Deswegen ist Europa so entscheidend.
In Europa gibt es politische Leitlinien, die zu beachten sind. Da ist die wirtschaftliche, die finanzielle Situation. Ich finde es gut, dass wir uns trotz unterschiedlicher
Ausgangslage in dieser Koalition darauf verständigt haben, wie wir die Europapolitik in den nächsten Jahren
gestalten wollen. Wir waren uns einig: Ja, wir Deutsche
sind solidarisch in Europa; aber wir verlangen auch die
notwendigen Veränderungen. Solidarität ja, aber auch
die notwendigen Reformen. Keine Leistung ohne Gegenleistung.
({4})
Das ist unsere Position. Man sieht ja, dass dieser Kurs
durchaus erfolgreich ist.
({5})
Jetzt muss man natürlich eines auch sagen: Meine Generation weiß, dass es, gerade wenn man an Europa
denkt, einige Zeit dauern kann, bis man Ziele erreicht.
Wir alle sind in einer so ungeduldigen Hektik: heute Beschluss, morgen Erfolg. Wir müssen uns alle ein wenig
Zeit geben, die Entwicklung hinzubekommen. Große
Werke gelingen natürlich nur mit einem entsprechenden
Startschuss. Aber dann bedürfen sie auch einer geduldigen Betreuung und Pflege, damit die Dinge vorankommen.
Da sind wir, wie ich finde, auf einem guten Weg. Natürlich ist ein zentrales Thema, dass wir die Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen. Von jungen Menschen,
die erleben, dass sie keinen Einstieg in die Berufswelt
und in ein selbstständiges Leben bekommen, kann man
kaum Begeisterung für dieses Europa erwarten.
({6})
Deshalb ist es richtig, dass diese Bundesregierung
entsprechende Initiativen ergreift, um in Europa junge
Menschen voranzubringen. Daher ist es richtig, dass wir
in Deutschland jungen Menschen aus Europa die Möglichkeit geben, hier zu arbeiten, Erfahrungen zu sammeln und dann auch wieder in ihre Heimat zu gehen.
Das ist alles in Ordnung. Und es ist auch richtig, dass
wir unser anerkanntes System der dualen Berufsausbildung in die anderen europäischen Länder tragen, wenn
sie dies wünschen.
({7})
Dies heißt aber auch, dass wir selber diese duale Berufsausbildung in unserem Land ernst nehmen und dass
wir sagen: Jawohl, ein exzellent ausgebildeter Meister
ist uns so wichtig wie ein Diplom-Ingenieur.
({8})
Wir brauchen beides. Wir sehen ja beispielsweise in Spanien, wohin es geführt hat, wenn man glaubt, nur akademische Ausbildung führe zum Erfolg. Das heißt, auch
wir in Deutschland müssen unsere duale Berufsausbildung weiter auf Kurs halten.
Es ist natürlich richtig, dass wir in Europa all die
Dinge bekämpfen und korrigieren, die zu diesen Ergebnissen geführt haben. Es ist natürlich richtig, dass wir
eine europäische Bankenaufsicht schaffen und dass daraus entsprechende Konsequenzen folgen, dass diese
Bankenaufsicht also bestimmte Auflagen erteilen kann.
Wir wissen aus der Erfahrung der letzten Jahre, dass in
manchem europäischen Staat die nationale Bankenaufsicht nicht so hingeschaut hat, wie es notwendig gewesen wäre, um zu dem entsprechenden Ergebnis zu kommen. Ich finde es richtig, dass die Aufsicht in einer
besonderen Abteilung der EZB angesiedelt wird. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, eine Bankenaufsicht, die einer politischen Kontrolle unterstellt wäre, würde nie dieselben Ergebnisse bringen wie eine unabhängige Bankenaufsicht. Deswegen ist die Ansiedlung, die jetzt
gemacht wird, völlig richtig, und wir unterstützen sie
auch.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
dieses Europa anschauen, müssen wir sagen: Europa hat
auch deshalb immer wieder Probleme gehabt, weil man
sich nicht an das gehalten hat, was man miteinander vereinbart hat. Dabei ist der Satz „Europa hat deshalb Probleme bekommen“ sogar noch falsch. Nicht Europa trägt
dafür Verantwortung, sondern es sind noch immer die
Nationalstaaten, die dieses Europa bilden und die Verantwortung tragen.
({10})
Deswegen kann ich nur sagen: Deutschland muss dafür sorgen, dass die einmal getroffenen Vereinbarungen
eingehalten werden. Das gilt sowohl bei den finanziellen
Fragen als auch bei anderen. Es macht keinen guten Eindruck, wenn wir beispielsweise nicht energisch sagen:
Die Stabilitätskriterien müssen eingehalten werden. Jede Ausnahme gilt nämlich nicht nur für einen, sondern
für das ganze System, und so kam das System ins Rutschen. Wir haben Vereinbarungen, die wir getroffen haben, selber nicht eingehalten, und das kann so nicht weitergehen.
({11})
Das gilt aber auch in allen anderen Bereichen. Damit
will ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, der in der
politischen Diskussion der letzten Wochen durch die
Klausurtagung der CSU-Landesgruppe eine gewisse
Rolle gespielt hat. Zunächst einmal rate ich immer dazu,
sich genau anzuhören, was gesagt worden ist. Dann rate
ich dazu, in den Koalitionsvertrag zu schauen und zu lesen, was zu dem Thema dort vereinbart wurde. Und dann
wird in den allermeisten Fällen ein gutes Ergebnis herauskommen.
({12})
Auch das hat mit Europa zu tun. In Europa haben wir
uns selbst das große Geschenk der Freizügigkeit gemacht, und daran will auch überhaupt niemand rütteln.
({13})
- Daran will niemand rütteln. - Aber wir haben in den
Regelungen zur Personenfreizügigkeit in der EU klar
und deutlich gesagt, dass in Europa Zuwanderung in Arbeit richtig ist, aber Zuwanderung in soziale Sicherungssysteme nicht erwünscht ist. Wenn man sieht, dass sich
das in dem einen oder anderen Fall anders verhält, muss
man dies auch ansprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Koalitionsvertrag steht ausdrücklich, dass wir
uns solche Fehlentwicklungen anschauen wollen.
({14})
Wir sind für die Freizügigkeit und die Zuwanderung.
Aber wir werden mehr Verständnis der Bürgerinnen und
Bürger für Europa und für die Politik nur dann bekommen, wenn wir die eine Botschaft klar sagen - und uns
nicht von Populisten von links oder rechts beeindrucken
lassen -, wenn wir aber auch den Mut haben, in aller
Nüchternheit und Klarheit Fehlentwicklungen anzusprechen und dafür zu sorgen, dass sie abgestellt werden.
({15})
Das ist das gemeinsame Thema, und da brauchen wir
Belehrungen von links oder von ganz rechts außen nicht.
Wenn wir das so machen, dann kommen wir auch gut
voran; das findet sich im Koalitionsvertrag wieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Europa muss
auch mehr sein als ein Europa von Euro und Cent. Ich
bin Thomas Oppermann dankbar, dass er angesprochen
hat, dass wir eine Wertegemeinschaft sind. Es geht natürlich auch darum, dass wir diese Werte umsetzen. Da
haben wir - auch das muss man sagen - in unserem eigenen europäischen Haus an der einen oder anderen Stelle
noch miteinander zu tun. Wir sind mit der Situation von
Rechtsstaatlichkeit, von Unabhängigkeit der Justiz in
dem einen oder anderen europäischen Land nicht zufrieden. Das müssen wir klar und deutlich sagen. Wir können auch nicht zufrieden sein, wenn ein europäisches
Land - ich nenne einmal den Namen, nämlich Rumänien sich nicht noch mehr anstrengt, Roma im eigenen Land
besser zu integrieren.
({16})
Das muss angemahnt werden. Dafür hat die Europäische
Union Geld zur Verfügung gestellt. Es gehört also beides
zusammen: Wir sind eine Wertegemeinschaft und müssen diese Werte auch umsetzen.
Dann sage ich auch: Die Erfahrung der letzten Jahre
hat gezeigt, dass wir bei Verhandlungen mit Ländern, die
zur Europäischen Union gehören wollen, nicht nur einseitig auf die wirtschaftliche Situation schauen dürfen
- das sowieso -, sondern auch dafür sorgen müssen, dass
der Rechtsstaat und auch die Freiheits- und Bürgerrechte
umgesetzt werden. Wir dürfen uns nicht darin täuschen,
dass sie erst dann umgesetzt werden, wenn ein Land in
Europa ist. Vielmehr muss dies vorher geschehen. Deswegen bitte ich die Bundesregierung ausdrücklich, bei
den Verhandlungen mit der Türkei das Thema Rechtsstaatlichkeit, Religionsfreiheit nicht bis zu den Verhandlungen über das letzte Kapitel zu verschieben, sondern
deutlich zu machen, dass dieses Thema ein Wesenselement der Wertegemeinschaft Europa ist.
({17})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es den
Menschen nach vier Jahren dieser Großen Koalition bessergeht, wird darüber hinaus ganz entscheidend - auch
dies ist von Thomas Oppermann gesagt worden - von
der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Deswegen
muss es das erste Ziel sein, alles dafür zu tun, dass die
deutsche Wirtschaft sich entwickeln und wachsen kann.
Unser Mittelstand steht in einer unglaublichen Wettbewerbssituation, in Asien, aber auch in Europa. Es sind
enorme Investitionen notwendig, um die neuen Herausforderungen annehmen zu können. Deswegen war es
richtig, das Geld dort zu lassen, wo es gebraucht wird,
um die Wirtschaft wachsen zu lassen, statt es durch Steuererhöhungen in den Staatshaushalt hineinzuspülen. Damit haben wir eine richtige Entscheidung getroffen. Ich
bin dankbar dafür, dass diese Entscheidung in der Großen Koalition möglich war. Ich will es nur noch einmal
sagen - wir brauchen es nicht weiter zu vertiefen -: Bei
der Entscheidung „keine Steuererhöhungen“ bleibt es in
dieser Koalition in den nächsten vier Jahren.
({18})
Ich bin der Auffassung, auch wenn unterschiedliche
Positionen in unseren Gesprächen bei der einen oder anderen Frage zum Vorschein gekommen sind, dass das,
was wir jetzt im Koalitionsvertrag vereinbart haben, verantwortet werden kann, sowohl das Rentenpaket als
auch die Maßnahmen, die wir im Umfeld des Arbeitsmarktes vereinbart haben. Aber wir sollten uns immer
auch darüber im Klaren sein: Verantwortet werden kann
es - und wir stehen dazu - nur dann, wenn die wirtschaftliche Entwicklung stabil verläuft. 100 000 Arbeitslose mehr bedeuten 2,2 Milliarden Euro Mehrausgaben
bei der Bundesanstalt für Arbeit. Es soll uns immer leiten, alles, was wir machen, daraufhin genau anzuschauen,
ob es dazu dient, mehr Arbeit zu schaffen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen und nicht weniger. Das muss
die Hauptaufgabe bei all diesen Dingen bleiben, diesen
Kontrollmechanismus müssen wir genau im Auge behalten.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht nur
die innenpolitischen Themen sind entscheidend für unser
wirtschaftliches Wachstum. Die Energiepolitik - sie ist
schon angesprochen worden - ist ein zentrales Thema.
Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich kann es an dieser Stelle nur noch einmal sagen: Diese große Aufgabe,
die Energiewende voranzubringen und zum Erfolg zu
führen, diese Aufgabe, die Sie nun in der Regierung und
wir in der gesamten Koalition haben, betrachten wir
nicht als die Aufgabe eines SPD-Bundesministers; vielmehr ist es die gemeinsame Aufgabe von uns allen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({20})
Sie können sicher sein, dass wir Sie bei dieser Aufgabe
begleiten, vielleicht zuverlässiger als mancher aus Ihren
eigenen Reihen, den Sie jetzt gerade hören.
({21})
Damit wende ich mich an die Bundesländer - die
Bundeskanzlerin hat es schon angesprochen -: Es geht
nicht um Partikularinteressen. Wir müssen klar und deutlich formulieren: Wir machen Energiepolitik für Deutschland. Dafür trägt auch der Bundesrat eine Verantwortung.
Natürlich schauen wir auf das eine oder andere Anliegen
der Länder. Aber wir machen Energiepolitik, damit
Deutschlands Wirtschaft wachsen kann und die Menschen nicht übermäßig zahlen müssen. Auf diesem Weg
haben Sie uns an Ihrer Seite.
({22})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die
deutsche Wirtschaft ist nicht nur entscheidend, was wir
in diesem Land machen. Wir sind eine Exportnation.
Deswegen sind wir natürlich auch auf die europäischen
Märkte angewiesen. Aber wir sind nicht nur in Europa,
sondern weltweit unterwegs. Das muss auch in Zukunft
so bleiben. Wir müssen uns daher darum bemühen, dass
es in einigen Krisenherden in der Welt wieder mehr Stabilität gibt, und wir müssen uns stattgefundene Veränderungen anschauen. Wir werden deshalb in dieser Koalition für drei Bereiche eine neue Situationsbeschreibung
machen müssen.
Erstens. Die Veränderungen in Asien waren dramatisch. Wir sehen, dass es neben Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich auch Unsicherheiten gibt. Denken
Sie nur an die Situation auf der koreanischen Halbinsel
oder die Beziehungen zwischen China und Japan. Wir
brauchen deshalb eine neue Asien-Strategie. Wir müssen
uns fragen: Wie gehen wir mit der neuen Situation um?
Zweitens. In diesen Tagen sehen wir ja, was in Afrika
los ist. Niemand glaube, dass wir nach dem Motto „Was in
Afrika passiert, das geht uns nichts an!“ leben können.
Wir brauchen daher eine neue Afrika-Strategie. Da müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie das Verhältnis
von politischen Aktivitäten, also dem Vorhererkennen von
Krisen und Präventionsmaßnahmen, zu militärischen
Notwendigkeiten aussieht. Ich halte das für völlig richtig, was in der Bundesregierung gesagt worden ist, nämlich dass wir auch in Afrika unseren Beitrag leisten.
Aber ich bin schon der Meinung, dass wir uns noch einmal darüber unterhalten sollten, was wir konkret machen
wollen.
Ich kann beim allerbesten Willen nicht erkennen - ich
halte unsere damalige Entscheidung für richtig -, dass
der militärische Einsatz in Libyen tatsächlich ein Erfolg
war. Die Waffen, die dort waren, sind in andere Staaten
Afrikas gelangt. Deswegen ist es völlig richtig, wenn wir
uns politische und diplomatische Maßnahmen sowie die
Notwendigkeit für militärische Aktionen ganz genau anschauen und auf ihre Erfolgsmöglichkeiten hin überprüfen.
Drittens. Wir brauchen eine neue Lateinamerika-Strategie. In Lateinamerika wird zu Recht immer wieder beklagt, dass wir uns zu wenig um diese Länder kümmern.
Zum Schluss. All das, was wir jetzt beispielsweise in
Afrika sehen, hat auch etwas mit unserer eigenen Sicherheit zu tun. Wir sehen eine neue Entwicklung in der
Welt. Jeder weiß, dass ich mich mit dem Thema Religionsfreiheit in besonderer Weise befasse. Früher hatten
wir immer das Problem, dass Staaten Religionsfreiheit
eingeschränkt haben und dass dort Gläubige verfolgt
wurden. Zunehmend stellen wir fest, dass die Risiken
von Unfreiheit, von Bekämpfung von Glaubensbekenntnissen in sogenannten gefallenen Staaten, in denen es
keine staatliche Autorität mehr gibt, steigen. Entlang von
ethnischen Grenzen und Glaubensüberzeugungen wird
eine Auseinandersetzung geführt. Wo es keine staatliche
Gewalt mehr gibt, entstehen islamistische Terrorgruppen, die auch zum Leidwesen der einheimischen muslimischen Bevölkerung ihr Unwesen treiben. Deshalb ist
die Frage, mit welcher Strategie wir an diese Fragen herangehen, ein zentrales Thema der Menschenrechte, aber
auch der wirtschaftlichen Entwicklung.
({23})
Ich finde, Herr Hofreiter, dass diese Koalition die
wirklich großen Fragen in ihrem Koalitionsvertrag angesprochen hat; die Bundeskanzlerin hat diese genannt.
Viele Punkte, die in der Koalitionsvereinbarung stehen,
sind für Gruppen, aber auch für einzelne Menschen
wichtig. Ich kann nur sagen: In Europa dafür zu sorgen,
dass es wieder vorangeht, wirtschaftliches Wachstum
und Frieden und Stabilität in dieser Welt zu fördern,
das sind die großen Herausforderungen, denen wir uns
stellen.
Herzlichen Dank.
({24})
Vielen Dank, Herr Kauder. - Das Wort hat Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eines können wir zu Beginn dieser Legislaturperiode eindeutig feststellen: Das Feld ist sehr gut bestellt.
Die Konjunktur hat wieder an Schwung gewonnen; die
Steuereinnahmen haben einen Höchststand erreicht. Es
sind wieder mehr Menschen in Beschäftigung als in früheren Jahren, und sie verdienen im Durchschnitt mehr
als die Menschen in der Europäischen Union. Dies
macht deutlich: Deutschland ist das Chancenland in
Europa. Das ist die Ausgangsposition.
({0})
Das hängt damit zusammen, dass die Menschen fleißig
sind, dass wir tüchtige Unternehmer haben, dass die Tarifpartnerschaft funktioniert. Aber es hängt auch damit
zusammen, dass in den vergangenen acht Jahren unter
der Führung von Angela Merkel eine gute Politik für die
Menschen im Land gemacht wurde. Der Vertrauensbeweis, den sie und diese Regierungskoalition, insbesondere die Unionsfraktion, bekommen haben, macht deutlich: Die Menschen wollen keinen Politikwechsel. Sie
wollen, dass der politische Stabilitätskurs der vergangenen Jahre fortgesetzt wird.
({1})
Vor genau dieser Ausgangsposition standen wir zu
Beginn der Koalitionsverhandlungen. Es ist bereits von
Volker Kauder und Thomas Oppermann deutlich gemacht worden, dass es wahrlich nicht selbstverständlich
war, sich auf ein so starkes Programm für die Menschen
im Land, für eine weitere gute Entwicklung zu verständigen. Aber uns war klar: Es ist keine Zeit, um sich
zurückzulehnen, schon gar keine Zeit, um von der Substanz zu leben. Der Auftrag, den wir alle haben, ist, dieses Land und die Menschen gut zu regieren und die Herausforderungen, die vor uns stehen, mutig anzugehen.
Das haben wir gemacht.
({2})
Als Erstes geht es um die zentrale Frage: Wie kann
der Kurs in Richtung Vollbeschäftigung gehalten werden? Eines der wichtigsten Themen dabei war - das
wurde gerade von Volker Kauder angesprochen - das
Nein zu jeder Art von Steuererhöhungen. Wir hatten da
zunächst unterschiedliche Positionen. Aber weil wir wissen, dass Steuererhöhungen Gift für die Wirtschaft, Gift
für eine weiterhin gute Beschäftigungssituation wären,
haben wir uns gemeinsam darauf verständigt, dass es
keine Steuererhöhungen gibt. Dabei muss und wird es
auch bleiben.
({3})
Wir haben uns auf ein Zweites verständigt, das für die
weitere Beschäftigungsentwicklung von entscheidender
Bedeutung ist: den Vorrang von Bildung, Forschung und
Innovation. Auch dabei geht es um die Fortführung des
Kurses der letzten Legislaturperiode. Damals wurden
vonseiten des Bundes zusätzliche Gelder gerade für Forschung ausgegeben, und auch diesen Kurs setzen wir
fort. Das, was wir in unsere Kinder und Jugendlichen, in
die Köpfe der Menschen investieren, das kann ihnen niemand mehr nehmen. Es ist das Kapital unseres Landes,
für eine weitere erfolgreiche Entwicklung der Menschen
selbst, aber auch unserer gesamten Volkswirtschaft. Deshalb ist dies so wichtig.
({4})
Wir haben einen dritten Schwerpunkt gesetzt, auch
dies in Fortführung dessen, was in der letzten Legislaturperiode begonnen wurde, und zwar auf die Verbesserung
der Infrastruktur. Wir alle wissen, dass ohne eine ausreichende Verkehrsinfrastruktur wirtschaftliche Prosperität
nicht stattfinden kann. Wir haben hier Nachholbedarf
aus früheren Jahren. Deshalb brauchen wir zusätzliche
Mittel für die Verkehrsinfrastruktur und auch eine Beteiligung derjenigen, die sich bisher nicht beteiligen, nämlich der Ausländer, die auf unseren deutschen Autobahnen fahren. Das wollen und werden wir auch realisieren.
({5})
Zu einer guten Infrastruktur gehört auch die Versorgung mit einem modernen Breitbandnetz. Deshalb ist es
richtig, die Kompetenzen für die Infrastruktur, die Verkehrskompetenz und die Breitbandkompetenz, in einem
Ministerium zu bündeln. Wir können es nicht zulassen,
dass nur in den Ballungsgebieten, dort, wo es sich marktwirtschaftlich rechnet, eine schnelle Internetverbindung
zur Verfügung steht. Jeder Unternehmer, jeder Student,
jeder Schüler, jede Privatperson, auch im ländlichen
Raum, hat einen Anspruch auf eine schnelle Internetverbindung. Deshalb begrüße ich es besonders, die
Kommunen hier finanziell besser zu unterstützen. Ich
begrüße auch die Anstrengungen einiger Länder; Bayern
tut dies in vorzüglicher Weise.
({6})
Ein Viertes ist für die Beschäftigungssituation und die
weitere wirtschaftliche Entwicklung von elementarer
Bedeutung: die Bewältigung der Energiewende. Das ist
vorhin schon mehrfach angesprochen worden. Was machen wir in diesem Bereich? Wir nehmen im Endeffekt
eine Reparatur dessen vor, was insbesondere von den
Grünen forciert wurde. Sie haben sich nämlich damals
überhaupt nicht um den Netzausbau und den Speicherausbau gekümmert.
({7})
Sie haben sich auch nicht um die Preisentwicklung gekümmert, sondern einen unkoordinierten und ungebremsten Ausbau der erneuerbaren Energien betrieben.
({8})
Wir haben jetzt das zu reparieren, was Sie durch Ihre
Fehler und Defizite hinterlassen haben. Das ist die Ausgangsposition. Nun geht es darum, die Energiewende
weiter zu begleiten und dabei eben nicht nur darauf zu
schauen, dass sich der Anteil der erneuerbaren Energien
erhöht, sondern auch darauf, dass die Versorgung gesichert ist, und zwar auch dann, wenn die Sonne nicht
scheint und der Wind nicht weht, und dass die Preise
nicht davonlaufen, damit sie jeder private Verbraucher,
jede Rentnerin und jeder Rentner, jeder Arbeitnehmer
und jedes Unternehmen, das Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, auch zahlen kann. Darum geht es, meine
Damen und Herren; das haben wir in gemeinsamer Verantwortung zu bewerkstelligen.
({9})
Der Bundesminister hat dazu Eckpunkte vorgelegt;
({10})
das sind richtige Weichenstellungen. Er wird auf Grundlage dieser Eckpunkte einen konkreten Gesetzentwurf
vorlegen. Wir werden bei dieser komplizierten Materie
natürlich alles diskutieren; das ist auch unsere Verantwortung. Aber eines muss klar sein: Wir müssen dieses
Projekt gemeinsam begleiten. Wir alle wissen um die
sehr unterschiedlichen regionalen Interessen, um die
unterschiedlichen Interessen der Verbände und der betroffenen Wirtschaftszweige. Unser Augenmerk muss
immer darauf gerichtet sein, die Aspekte Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und
Akzeptanz in der Bevölkerung unter einen Hut zu bringen. Das ist eine schwierige Aufgabe - wenn es leicht
wäre, hätten wir das längst erledigt -, die wir gemeinsam
bewerkstelligen müssen. Sie haben unsere Unterstützung
bei der Bewältigung der Energiewende.
({11})
All dies ist die Grundvoraussetzung dafür, dass alle
notwendigen Anpassungen im sozialpolitischen Bereich
zufriedenstellend gelöst werden können. Bevor ich aber
darauf zu sprechen komme, möchte ich einen weiteren
Komplex ansprechen, der für die Zukunft unseres
Landes von ganz entscheidender Bedeutung ist. Es geht
um die Frage: Wie gehen wir mit unseren öffentlichen
Finanzen um? Wie halten wir es mit unseren Haushalten? Das ist nicht nur theoretisch zu entscheiden. Es geht
auch nicht darum, dass etwas auf dem Papier steht. Hier
geht es vielmehr um unser Selbstverständnis, zumindest
um mein Selbstverständnis, von politischer Arbeit; denn
wir machen nicht nur für die heutige Generation Politik,
sondern immer auch mit Blick auf diejenigen, die nach
uns kommen, auf unsere Kinder und Enkelkinder. Wenn
wir unsere Verantwortung, für solide öffentliche Finanzen zu sorgen, nicht ernst nehmen, dann versündigen wir
uns an den nachfolgenden Generationen, an unseren
Kindern und Enkeln.
({12})
Ein gutes Beispiel ist Bayern. Seit fast zehn Jahren
haben wir einen ausgeglichenen Haushalt; mittlerweile
sind wir bei der Tilgung der Altschulden. Auch auf
Bundesebene sind wir auf einem sehr guten Weg. In diesem Jahr werden wir einen strukturell ausgeglichenen
Haushalt haben und für das nächste Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Das ist das Ergebnis unserer
harten Arbeit in den vergangenen Jahren. Wir dürfen
jetzt aber nicht stehen bleiben. Deswegen bin ich sehr
dankbar, dass wir uns in den Koalitionsverhandlungen
bei zunächst unterschiedlicher Ausgangsposition auf
diesen Weg der Stabilität verständigt haben.
Das Gleiche gilt für Europa. Auch hier haben wir
- die Bundeskanzlerin hat es vorhin angesprochen - in
den vergangenen Jahren durch unseren Stabilitätskurs
und durch die Hartnäckigkeit der Bundeskanzlerin viel
erreicht. Die Situation in den Problemländern hat sich
deutlich verbessert. Aber auch hier gilt es, Kurs zu
halten; wir sind noch nicht über den Berg. Wir müssen
immer wieder deutlich machen: Eine zu hohe Staatsverschuldung ist die Basis für eine weiter schlechte wirtschaftliche Entwicklung auf Jahrzehnte. Wir wollen eine
Stabilitätsunion in Europa, statt den Weg in eine Schuldenunion zu gehen.
({13})
Das Thema Europa ist mehrfach angesprochen worden. Ich will dazu nur einige Bemerkungen machen.
Trotz all der schwierigen Entscheidungen, die wir in
letzter Zeit zu treffen hatten, konnten wir uns die Vorteile Europas bewusst machen und durften erkennen,
welch großartiges Geschenk es ist, in der jetzigen Zeit,
auch nach schwierigen Phasen in Europa, in Deutschland leben und dieses Europa weiter gestalten zu
können. Die Erfahrungen aus der Geschichte haben gezeigt, dass wir ein starkes Europa brauchen, wenn es um
Außen- und Sicherheitspolitik geht, wenn es um Wirtschaftskoordinierung und um Währungsfragen geht oder
auch um die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in
den europäischen Ländern. Aber wir brauchen ein
schlankes Europa, wenn es darum geht, den Alltag der
Bürger zu gestalten. Europa muss sich nicht in jede Kleinigkeit einmischen - vom Trinkwasser bis zu den
Duschköpfen -, sondern sollte sich auf die wesentlichen
Aufgaben beschränken. Ich bin froh, dass dieser Gedanke der Subsidiarität, der früher im Wesentlichen ein
Gedanke der Union war, gelegentlich sogar nur mit der
CSU verbunden wurde, in Europa mittlerweile auch in
anderen Parteien Platz gegriffen hat. Das begrüße ich
sehr.
({14})
Ich begrüße auch - wenn ich das sagen darf - das
große Verständnis für die CSU-Position zur Freizügigkeit in Europa, das heute mehrere Redner zum Ausdruck
gebracht haben. Ich betone es hier noch einmal: Ich
stehe mit meiner Partei voll zur Freizügigkeit in Europa.
Niemand in meiner Partei stellt das infrage, niemand.
({15})
Aber wir wollen keinen Missbrauch der Freizügigkeit,
und wir müssen eine Antwort geben auf die Klagen der
Kommunen und Städte über die Situation vor Ort. Ich
bin sehr dankbar dafür, dass sich der Staatssekretärsausschuss dieser Probleme annimmt und eine Lösung sucht.
({16})
Das ist eine notwendige und richtige Konsequenz. Wenn
wir vorhandene Probleme nicht ansprechen, dann brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass sich am
rechten und am linken Rand unserer Gesellschaft Kräfte
tummeln, die wir alle miteinander nicht haben wollen.
({17})
Ich will noch einen Komplex ansprechen. Unser Land
lebt ganz wesentlich vom gesellschaftlichen Zusammenhalt, vom Zusammenhalt der Generationen, vom Zusammenhalt der unterschiedlichen sozialen Gruppierungen.
Deshalb ist es uns wichtig, den Stellenwert der Familie
und den Stellenwert der Erziehung immer wieder deutlich herauszustellen. Wir haben dafür gekämpft, dass
das, was in der letzten Legislaturperiode erreicht wurde,
nicht reduziert wird. Das haben wir geschafft. Außerdem
haben wir dafür gekämpft, dass bei der Rentenversicherung die Erziehungszeiten derjenigen, die vor 1992 Kinder geboren haben, besser anerkannt werden, als das früher der Fall war.
({18})
Das sind wir den Müttern dieser Generation schuldig,
die unter viel schwierigeren Bedingungen als heute ihre
Kinder großgezogen haben, die häufig gezwungen waren, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten und deshalb
niedrigere Renten haben.
Wir vergessen ferner weder diejenigen, die pflegebedürftig sind, noch diejenigen, die die Pflegebedürftigen
pflegen, egal ob in den Familien oder hauptberuflich,
stationär oder ambulant. Deshalb wird uns das große
Werk der Reform der Pflegeversicherung stark in Anspruch nehmen.
Wir vergessen auch die Menschen mit Behinderungen
nicht. In diesem Zusammenhang denken wir auch an die
Kommunen; denn wir wissen sehr wohl, dass die Leistung für behinderte Menschen, die Eingliederungshilfe,
nicht eine kommunalpolitische Leistung ist, sondern
eine Leistung, die in den Verantwortungsbereich aller
Ebenen fällt, des Bundes, der Länder und der Kommunen. Deshalb werden wir mit dem Bundesleistungsgesetz auch hier ein Zeichen setzen.
({19})
Wir haben bei all diesen Themen eine gemeinsame
Verantwortung in diesem Land. Gemeinsame Verantwortung bedeutet aber nicht, dass man über unterschiedliche Positionen nicht kontrovers diskutieren darf. Zu einer Demokratie gehört Meinungsvielfalt, auch einmal
Streit im guten Sinne des Wortes. Man darf auch einmal
innerhalb einer Partei oder einer Koalition streiten; das
sind wir den Menschen schuldig. Das geschieht aber immer unter dem Gesichtspunkt, dass wir alle miteinander,
egal welcher Partei, den Auftrag haben, den Menschen
zu dienen und dafür zu sorgen, dass es ihnen noch besser
geht als heute schon. Das sind Auftrag und Verpflichtung dieser Koalition.
Ich danke Ihnen.
({20})
Vielen Dank, Frau Kollegin Hasselfeldt. - Ich gebe
nun das Wort der Beauftragten für Kultur und Medien,
der Staatsministerin Professor Monika Grütters.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von
dem wunderbaren, gelegentlich ein wenig satirisch daherkommenden Mark Twain stammt der Satz: Kultur ist
das, was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar ausgegeben
ist. - Hier ist er einmal ganz nüchtern gewesen. In der
Tat, Mark Twain hat recht: Kultur ist eben mehr als alles
andere, Kultur ist ein Wert an sich. Geld ist nicht alles;
das wissen wir hier besser als alle anderen. Ohne Dollars
und Euros geht es halt nicht. Zum Glück haben Bundestag und Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode den Etat des Staatsministers für Kultur immer
wieder ein wenig aufwachsen lassen. Es wäre schön,
wenn es dabei bliebe.
Gerade in Zeiten ökonomischer Krisen, wie wir sie
nicht nur in Europa, sondern weltweit seit Jahren erleben, wird die Wertegemeinschaft, wird das, was wir das
Kulturprojekt Europa nennen, immer wichtiger. Wo,
wenn nicht in der Kultur, können Antworten gesucht
werden auf die Frage, was uns zusammenhält? Die Frage
stellt sich einmal mehr in einem so intensiven Gedenkjahr wie 2014. Welche Werte erkennen wir eigentlich als
gemeinsames Fundament an? Eine Kulturnation wie
Deutschland, die in ihren Traditionen so reich, aber in ihren Brüchen auch so radikal ist - mehr als alle anderen -,
muss sich mehr denn je nach ihrer Rolle im heutigen und
im zukünftigen Europa fragen. Ich glaube, Antworten
auf diese Fragen sind wir schuldig, und zwar vor
Deutschland, vor Europa und auch vor den Augen der
Welt.
({0})
Ein Blick auf unsere ja so sperrige Geschichte macht
deutlich, dass die Kultur in den vergangenen Jahrhunderten in Deutschland immer eine besondere Rolle gespielt hat. Sie war und ist bis heute das geistige Band,
das uns auch über manche föderalen Schwierigkeiten
hinweg zusammenhält. Deutschland war zuerst eine
Kultur- und dann eine politische Nation. Nationale Identität wächst eben auch zuallererst aus dem Kulturleben
eines Landes. Aus den Zusammenbrüchen unserer Geschichte mit zwei Diktaturen in einem Jahrhundert haben
wir eine Lehre gezogen. Bereits in Art. 5 Abs. 3 unseres
Grundgesetzes heißt es: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Das ist der oberste Grundsatz jeder verantwortlichen Kulturpolitik.
({1})
Frei sein können Kunst und Wissenschaft nur, wenn
der Staat ihre Freiheiten schützt. Diese staatliche Fürsorge für die Kultur und ihre Freiheit, die mit dem Mut
zum Experiment natürlich auch das Risiko des Scheiterns einschließt, hat immer wieder weltweit beachtete
Leistungen hervorgebracht. Dieses hartnäckige Engagement für die Künste, die ja nicht immer leicht zu ertragen sind, hat entscheidenden Anteil am mittlerweile wieder hohen Ansehen Deutschlands in der Welt. Eine
solche Kultur ist eben nicht das Ergebnis des Wirtschaftswachstums; sie ist vielmehr dessen Voraussetzung. Kulturelle Existenz in Deutschland ist keine Ausstattung, die sich unsere Nation leistet, sondern eine
Vorleistung. Wir haben dafür Sorge zu tragen, dass sie
allen zugutekommt.
Eine so verstandene Kultur ist auch kein dekorativer
Luxus, sondern Ausdruck eines menschlichen Grundbedürfnisses. Sie ist nicht allein Standortfaktor, sondern
auch Ausdruck von Humanität. Deshalb ist es mir besonders wichtig, neben der Fürsorge für unser kulturelles
Erbe, also für die Institutionen, ganz besonders auch die
Künstler in den Blick zu nehmen, die Kreativen, und
Sorge für die Rahmenbedingungen zu tragen, unter denen sie leben.
({2})
- Danke, ich habe auch Sie persönlich gemeint.
({3})
Denn es sind ja die Künstler, die uns immer wieder mit
ihren herausragenden Leistungen beglücken. Ich finde,
das, was von den Kreativen kommt, darf auch mal wehtun, darf auch unbequem sein. Sie sind das kritische Korrektiv, das wir brauchen und von dem eine vitale Gesellschaft lebt. Sie dürfen uns zum Nachdenken und auch
zur Kritik herausfordern. Ich bin Ihnen ausdrücklich
dankbar dafür, dass das immer wieder und so hartnäckig
passiert.
({4})
Bei einem solchen Verständnis von Kultur verbieten
sich eine allzu kleinliche Steuerung und ein staatliches
Kriterienkorsett. Künstler brauchen keine autoritativen
Vorgaben; was sie brauchen, sind Inspiration, Anstöße
und unseren gemeinsamen Diskurs.
Lassen Sie mich an dieser Stelle als Münsteranerin in
Berlin und als Berlinerin in diesem Amt ein Wort zu
Berlin sagen.
({5})
Mein Berliner Kollege Swen Schulz, meine Kollegin
Högl, mir wird immer unterstellt, ich würde jetzt nur
noch Berlin sehen.
({6})
Aber Berlin ist eben die Hauptstadt, und das, was in dieser Hauptstadt kulturell gelingt, wird in den Augen der
Welt dem ganzen Land gutgeschrieben.
({7})
Andererseits wird - jedenfalls in den Augen der Öffentlichkeit - für das, was hier schiefgeht, auch das ganze
Land verantwortlich gemacht. Kulturpolitik in Berlin ist
also, ob man das will oder nicht, immer auch Bundespolitik,
({8})
und die Bundeskulturpolitik in und für Berlin ist Ausdruck der Anerkennung der besonderen Rolle der Hauptstadt für die Nation.
Gleich wird es Ihnen nicht so gefallen. - In der Kulturpolitik muss den Ländern klargemacht werden, dass
Berlin kein konkurrierendes Bundesland, kein Bundesland wie jedes andere ist, sondern unser aller Mittelpunkt. Berlin selbst muss dem Bund aber auch klarma590
chen, dass er als Erster von einer kulturell blühenden
Hauptstadt profitiert. Ich würde mich schon freuen - da
können Sie mir alle helfen -, wenn Berlin auch einmal
Danke sagen würde oder einfach nur erkennen ließe,
dass Hauptstadt sein auch eine dienende Funktion ist.
({9})
Um also allen Mutmaßungen entgegenzutreten: Ich
verstehe mich als Kulturstaatsministerin für ganz Deutschland, nicht nur, aber ganz besonders auch für Berlin, unsere Hauptstadt. Deshalb hat mich meine erste Dienstreise nach Frankfurt geführt und dort nicht in einen
Tempel der Hochkultur, sondern ins Jüdische Museum.
({10})
Dort wird nämlich gerade sehr eindrucksvoll in einer
kleinen Kammerausstellung gezeigt, dass es den Nazis
1938 nicht nur und nicht in erster Linie darum ging, die
Kunst der Moderne als entartet zu diffamieren, sondern
dass das Hauptziel war, auch im Kunstbetrieb jüdische
Mitbürger und Akteure zu eliminieren. Deshalb bleiben
Provenienzrecherche und Restitution, also die Rückgabe
geraubter Güter, für uns ein ganz wichtiges Anliegen.
({11})
Es gehört zu unseren großen Verantwortungen, uns
unserer Geschichte und ihren Folgen immer wieder und
auch auf diesem bitteren Feld zu stellen, damit das geschehene Unrecht nicht auch noch latent fortdauert. Ich
finde es schlicht unerträglich, dass sich immer noch
Naziraubkunst in deutschen Museen befindet.
({12})
Allerdings ist in puncto Provenienzrecherche in den vergangenen Jahren sehr viel geschehen. Die Arbeitsstelle
für Provenienzforschung hat 2008 ihre Arbeit aufgenommen; finanziert wird sie übrigens vom Bund und von den
Ländern. Seitdem sind 14,5 Millionen Euro in die Herkunftssuche geflossen. Was häufig nicht gesehen wird:
90 000 Objekte in 67 Museen und mehr als 520 000 Bücher und Drucke in 20 Bibliotheken wurden mittlerweile
überprüft. Nach unseren Erkenntnissen wurden bis September letzten Jahres mehr als 12 200 Objekte - meist
diskret - zurückgegeben.
Die Koordinierungsstelle Magdeburg, die Arbeitsstelle für Provenienzforschung und die Limbach-Kommission leisten eine hervorragende Arbeit, die übrigens
im Ausland sehr wohl anerkannt wird. Aber es fehlt ein
erkennbarer Ansprechpartner. Darum sollen die Aktivitäten von Bund, Ländern und Kommunen in den Bereichen Provenienzforschung und Restitution, also tatsächliche Rückgabe, künftig gebündelt und nachhaltig - ich
spreche von einer Verdopplung der Bundesleistungen gestärkt werden. Ich habe dazu viele Gespräche mit Länderkollegen geführt und nur positive Rückmeldung bekommen.
Es geht uns um mehr als um Kunstobjekte. Es geht
um das große Unrecht, um geraubte Identität, um den
Verlust von Erinnerungen, die ja mit diesen Stücken verbunden waren, an geliebte Menschen. Ich finde, hier darf
sich keine öffentliche Institution wegducken. Bei der
Restitution geht es nicht in erster Linie um materielle
Werte. Den Anspruchstellern ist besonders wichtig, dass
sie, die Opfer, auch als Opfer anerkannt werden. Sie
möchten, dass wir alle ihre zerstörten Lebensläufe kennen und dass durch die Anerkennung das Unglück und
das Leid, das sie erlitten haben, wenigstens nachträglich
sichtbar werden. Ich finde, es ist unsere moralische
Pflicht, genau das zu leisten.
({13})
Deshalb ist auch klar, dass die Museen künftig nicht
nur, wie bisher, an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik, sondern auch daran gemessen werden, wie sie mit ihrer Geschichte und mit der Geschichte ihrer Sammlung
umgehen. Weil das nur gemeinsam gelingt, habe ich ein
zweites wichtiges Thema auf meiner Agenda: Wir
möchten enger mit den Ländern zusammenarbeiten.
Ich habe mit den 16 Länderministern inzwischen verabredet, dass wir uns, wenn es irgendwie geht, zweimal
im Jahr treffen. Das erste Treffen soll auf meine Einladung hin stattfinden. Dazu möchte ich dann auch die
kommunalen Spitzenverbände einladen, weil immerhin
44 Prozent der Kulturleistungen in Deutschland von den
wackeren Kommunen erbracht werden.
({14})
Der zweite Besuch - ich respektiere ja mit großer Begeisterung die Kulturhoheit der Länder - soll dann von
der KMK selber ausgehen. Wir wollen gemeinsam Strategien dafür entwickeln, wie wir unsere kulturelle Infrastruktur retten können; denn sie wird sich ja vor dem
Hintergrund der Demografie und der ethnischen Durchmischung verändern.
Dazu gehört eben auch die Stabilisierung der Künstlersozialversicherung; denn der Erfolg der Kreativwirtschaft, die in Deutschland hinter der Automobilindustrie
mittlerweile immerhin an zweiter Stelle rangiert, darf
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die allerwenigsten
Künstler und Kreativen Großverdiener sind. Die Einführung der Künstlersozialversicherung vor 31 Jahren war
ein sozial- und kulturpolitischer Meilenstein.
({15})
Die Künstlersozialkasse garantiert bis heute ganz wesentlich die soziale Absicherung der freiberuflich tätigen
Künstler und Publizisten, und ich finde, wir dürfen bei
aller immer wieder laut werdenden Kritik aus einschlägigen Kreisen nicht zusehen, wie diese Errungenschaft
jetzt beschädigt wird.
({16})
Das hat nämlich auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.
Wer künstlerische Leistungen in Anspruch nimmt, der
muss eben auch ein bisschen dafür Sorge tragen, dass
Künstler von ihrer Arbeit leben und nicht nur knapp
überleben können, also angemessen bezahlt werden.
Andererseits sollen die, die regelmäßig Abgaben entrichten, eben nicht zu Zahlmeistern werden, weil sich die
anderen drücken. Deshalb ist eine stärkere, intensivere
Prüfung notwendig. Im vergangenen Sommer waren wir
kurz davor, das durchzusetzen. Ich bin meiner Kollegin
Nahles sehr dankbar, dass auch sie das Thema Künstlersozialkasse ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Vielleicht schaffen wir es jetzt.
({17})
- Ja, ich finde, das ist einen Applaus wert.
Die Absicherung ist das eine, noch wichtiger ist es
aber, dass Künstler von ihrer kreativen Arbeit überhaupt
leben können - auch im digitalen Zeitalter. In der kommenden Legislaturperiode wird es deshalb darum gehen,
das Urheberrecht weiter an das digitale Umfeld anzupassen.
({18})
Es gilt vor allem, den Wert geistigen Eigentums besser
zu vermitteln. Künstlerische Leistungen sind im Internet
ja frei verfügbar; das ist unbestritten. Umsonst dürfen sie
aber nicht sein.
({19})
Urheberrechtsverletzungen im Netz verursachen gravierende Schäden, nicht nur volkswirtschaftlich. Deshalb müssen wir in der Rechtsdurchsetzung konsequenter sein, und die Rechteinhaber stehen für mich dabei im
Mittelpunkt. Wir wollen die Verbraucher nicht sanktionieren, sondern sensibilisieren und aufklären.
Mit den digitalen Techniken sind nicht nur Risiken
verbunden, sondern sie eröffnen auch einen ganz anderen Zugang zu Kultur und Bildung. Deshalb ist es uns
ein wichtiges Anliegen, das kulturelle Erbe zu digitalisieren. Ich möchte hier aber nicht verschweigen, dass
das vor allen Dingen sehr teuer ist. Trotzdem ist es bitter,
dass wir hier im Vergleich zu anderen Ländern, wie
Frankreich, weit hinterherhinken. Das betrifft vor allen
Dingen unser nationales Filmerbe, das nicht nur digitalisiert, sondern auch viel besser aufbewahrt werden muss.
Als Kulturpolitikerin ist es mir in diesem Kontext wichtig, dass wir auch hier nach den gesellschaftlichen Veränderungen und den Werten fragen, die nicht im Rausch
des technisch Machbaren untergehen dürfen.
Erlauben Sie mir zum Schluss bitte noch ein Wort zu
meinem Herzensanliegen, zum größten Kulturprojekt
Europas; denn das entsteht in Berlins Mitte auf dem zentralen Platz der Republik: Es ist das Humboldt-Forum.
Das ist schon lange kein Luftschloss mehr. Sie sehen,
dass der Keller gedeckt ist und dass es auf starken Fundamenten steht. Ich traue der Stiftung auch zu, dass am
Jahresende der Rohbau zu sehen sein wird.
Ich möchte versuchen, anhand von zehn einfachen
Punkten zu sagen, warum ich eine so leidenschaftliche
Verfechterin bin.
Erstens. Deutschland hat als einzige Nation der Welt
die historische Chance, den zentralen Platz der Republik
am Beginn des 21. Jahrhunderts neu zu definieren. Wir
machen kein Parkhaus, kein Hotel und auch kein Central
Park East, sondern wir laden die Kunst ein.
Zweitens. In einer einzigartigen Verbindung werden
die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Universität
und die Bibliothek die Mitte der Hauptstadt bespielen.
Drittens. Hier sollen sich vor allen Dingen die außereuropäischen Künste selbstbewusst darstellen.
Viertens. Das Ganze geschieht im direkten Dialog mit
unserer eigenen Kunstgeschichte, gegenüber auf der
Museumsinsel.
Fünftens. Es soll um die Betrachtung der großen
Menschheitsthemen gehen, wie die Grenzen des Lebens,
Geburt, Tod, Gott, die Bedeutung der Religion, Identität
und Migration. Hier erfahren wir das, was wir alle über
unser Leben wissen wollen.
Sechstens. Wir alle erleben immer wieder, was es
heißt, als Minderheit in einer Diaspora zu leben, zum
Beispiel ich als Katholikin in Marzahn oder die Schwaben in Prenzlauer Berg.
({20})
Kosmopolitische Städte wie Berlin sind unsere Zukunft.
In Museen gilt dieser Unterschied nicht; da sind alle
Menschen gleich. Die Unterschiede sind kleiner als die
Gemeinsamkeiten.
Siebentens. Ich finde, es muss eine Vision für Berlin,
die Hauptstadt, her, für Deutschland, eine der bedeutendsten Kulturnationen der Welt. Ich glaube, das kann
an diesem Platz in aufregenden Kunstpräsentationen seinen Ausdruck finden.
Achtens. Wir wollen die Diskussion interdisziplinär
und auf hohem Niveau führen.
Neuntens. Berlin ist der Sehnsuchtsort für viele junge
Menschen, die Deutschland attraktiv finden. Wir laden
die Jugend ein, denn dort sprechen wir eine neue, junge
Sprache.
Zehntens und last, but not least. Das Humboldt-Forum ist mit einer einzigartigen Idee verbunden. Es geht
dabei ja nicht um ein besseres Völkerkundemuseum oder
um die pragmatische Unterbringung unserer Sammlung.
Es geht um neuartige Kunst- und Kulturerfahrung und
um das Wissen über gleichberechtigte Weltkulturen und
neue Kompetenzen im Weltverständnis. Damit das gelingt, müssen wir nicht nur das bauliche Entstehen begleiten, sondern wir müssen sehr schnell die Inhalte
durch eine Intendanz profilieren, um die ich mich sehr
zügig kümmern möchte.
Letzter Satz. Der Name „Humboldt-Forum“ steht für
die Tradition der Aufklärung, für die weltoffene und
selbstbewusste Annäherung der Völker und für das Ideal
eines friedlichen Dialogs. Für diese Ideen müssen wir
werben. Sie sind von grundlegender Bedeutung für uns
in der Gegenwart und in der Zukunft; denn Kultur ist ein
Modus für das Zusammenleben.
Kultur darf, ja, sie muss zuweilen Zumutung sein.
Wenn sie darüber hinaus noch unterhält, umso besser.
Wenn wir für all das Sorge tragen, dann bleibt sie uns,
selbst wenn Mark Twains letzter Dollar ausgegeben ist.
Ich danke Ihnen.
({21})
Vielen Dank, Monika Grütters. - Das Wort hat Sigrid
Hupach für die Linksfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich komme aus Thüringen, einem Land, in
dem Goethe, Schiller, Bach und das Bauhaus wirkten.
Frau Staatsministerin Grütters, Sie sagen gern: Kunst
und Kultur brauchen größtmögliche Freiheit, um sich
entfalten zu können. - Da kann ich Ihnen nur zustimmen.
({0})
Die entscheidenden Fragen für mich sind aber: Was
bedeutet das für die Kulturpolitik, für Kulturfinanzierung und -förderung? Wie viel Marktfreiheit braucht
Kultur, und wie viel Staat und Regulierung verträgt sie?
Damit sich Kunst und Kultur entfalten können, brauchen
Künstlerinnen und Kreative Rahmenbedingungen, die
ihnen Freiräume verschaffen. Aber sie brauchen auch
Rahmenbedingungen, die ihnen eine soziale Absicherung garantieren.
({1})
Dazu gehört die Künstlersozialkasse genauso wie
steuerliche Vergünstigungen. Viel zu viele Kulturschaffende und Kreative sind nicht nur keine Schwerverdiener, sondern sie leben und arbeiten in prekären Verhältnissen. Als freischaffende Architektin weiß ich, wovon
ich rede.
Welche Gefahren in einer rein marktorientierten
Wahrnehmung von Kultur liegen, zeigen aktuell die
Auseinandersetzungen um das Freihandelsabkommen
der EU mit den USA. Es war allein Frankreich, welches
sich in den Verhandlungen zum Mandatstext für eine
kulturelle Ausnahme starkgemacht hat. Deutschland unterstützte es nicht. Aber ein Freihandelsabkommen ohne
kulturelle Ausnahme bedroht Errungenschaften wie die
Buchpreisbindung, den reduzierten Mehrwertsteuersatz
oder die Filmförderung; das sind Mittel der Kulturförderung, deren Wegfall Kultur und Künstlerinnen existenziell gefährden würden. Da machen wir nicht mit.
({2})
Im Koalitionsvertrag bekennt sich die Bundesregierung zu dem besonderen Schutzbedürfnis von Kultur
und Medien. Dieses müsse bei den Verhandlungen über
ein Freihandelsabkommen durch Ausnahmeregelungen
berücksichtigt und gesichert werden. Wir erwarten, dass
dem nun Taten folgen.
({3})
Statt Geheimverhandlungen brauchen wir Transparenz
und eine Staatsministerin, die sich für die kulturelle Ausnahme einsetzt.
Die Linke hat im Wahlkampf ein Bundeskulturministerium gefordert. Als Ministerin mit Kabinettsrang hätte
Frau Grütters in dieser Debatte jetzt auf der europäischen Ebene einen viel besseren Stand. Dies ist aber
nicht die einzige vertane Chance im Koalitionsvertrag.
Seit Jahren fordert die Linke ein Kooperationsgebot
für Bildung und Kultur. Zwar bekennt sich die Bundesregierung zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern,
aber hierfür fehlen entscheidende Voraussetzungen. Wie
will die Koalition ohne ein Staatsziel Kultur, eine Gemeinschaftsaufgabe, ein Kooperationsgebot und eine
Verbesserung der Finanzsituation der Länder und Kommunen die Probleme anpacken?
Herr Bundestagspräsident Lammert sagte kürzlich in
einer Rede, mit Klauen und Zähnen müssten die Deutschen die traditionell gewachsene reiche Kunst- und
Kulturlandschaft verteidigen. Da bin ich ganz bei Ihnen,
Herr Lammert.
({4})
Der Koalitionsvertrag aber gleicht in seinen allgemeinen
Formulierungen eher einem zahnlosen Tiger.
Danke.
({5})
Vielen Dank, liebe Kollegin. Im Namen des ganzen
Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede und
wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrer neuen Funktion.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl für die SPD.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unser Koalitionsvertrag wie auch die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und diese Debatte, die wir
schon eine ganze Zeit führen, zeigen eines ganz deutlich:
Wir haben vier Jahre engagierter Politik vor uns. Darauf
freue ich mich richtig doll.
Diese Große Koalition wird viele sehr konkrete Verbesserungen für viele Menschen in Deutschland, in Europa und darüber hinaus bringen. Wir wissen - das gehört zur Wahrheit dazu; das muss ich erwähnen -, dass
viele Themen vier Jahre lang liegen geblieben sind. Wir
mit dieser Koalition beenden jetzt Stillstand und Blockade. Wir verlieren keine Zeit mit unsinnigem Streit
über Kleinigkeiten, sondern wir haben das Wesentliche
im Blick.
({0})
Wir werden die große Mehrheit in diesem Hause dafür nutzen, zu gestalten. Wir fangen direkt damit an. Wir
legen tatkräftig los. Lieber Herr Hofreiter - er ist nicht
mehr anwesend, aber er verfolgt bestimmt die Debatte -,
wir haben sowohl Mut als auch Ideen, um genau das zu
tun, was wir uns vorgenommen haben, nämlich zu gestalten.
({1})
Unser Koalitionsvertrag ist voller guter Ideen, und
zwar mit konkreten Vorschlägen und klaren Vereinbarungen. Es gibt nicht nur Absichtserklärungen und Prüfaufträge, sondern konkrete Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger, und wir leisten mit diesem Beitrag
auch ganz konkret etwas Entscheidendes für die Modernisierung unserer Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, damit spreche ich ein paar
Themen an, die zwar nicht in den Kulturteil dieser Aussprache gehören, aber viel mit der Kultur unseres Zusammenlebens zu tun haben. Die Reihenfolge der Reden
ist immer etwas unterschiedlich. Zur Kultur wird gleich
mein Kollege Martin Dörmann noch ausführlich Stellung nehmen. Es gibt ein paar andere Themen, die viel
mit unserem Zusammenleben zu tun haben und dem
Motto folgen, das wir, wie gesagt, in den nächsten vier
Jahren verwirklichen wollen: einerseits Verbesserungen
für die Bürgerinnen und Bürger und andererseits die Modernisierung unserer Gesellschaft.
Als allererstes Beispiel nenne ich ein Thema, das
nicht nur in Berlin, sondern weit darüber hinaus ganz
wichtig ist und das wir gleich am Anfang angehen werden: Wir werden die Stellung der Mieterinnen und Mieter verbessern. Das ist dringend erforderlich.
({2})
Wir werden eine klar definierte Obergrenze für Mietsteigerungen bei der Wiedervermietung von Wohnungen
einführen. Wir werden damit direkt zu Beginn der Legislaturperiode ein Wahlversprechen umsetzen. Wir helfen
damit vielen Menschen in den Ballungszentren und
Großstädten, eine bezahlbare Wohnung zu finden und in
ihren angestammten Kiezen wohnen bleiben zu können.
({3})
Das verhindert die massenweise Verdrängung an die
Stadtränder, und es hilft vor allen Dingen den Kommunen und den Bundesländern. Sie werden mitspielen,
liebe Frau Wawzyniak, eine zielgerichtete Wohnraumpolitik zu machen. Wir werden das Ganze flankieren
- ich bin sehr stolz darauf, dass wir das im Koalitionsvertrag vereinbart haben - mit einer Aufstockung der
Mittel für das Programm „Soziale Stadt“. Damit können
wir eine klar akzentuierte Politik für viele Bürgerinnen
und Bürger machen.
({4})
Ich spreche noch ein Thema an, das heute schon oft
angesprochen wurde, und zwar zu Recht, weil es so
wichtig ist. Wir werden im Staatsbürgerschaftsrecht die
Optionspflicht abschaffen. Damit werden wir für viele
Menschen in unserem Land konkrete Verbesserungen erreichen, nämlich für all diejenigen, die sich bisher mit
23 Jahren für einen von zwei Pässen entscheiden mussten. Wir sagen Ja zu jungen Menschen mit türkischer
Familiengeschichte, die hier geboren sind. Denn wir
wissen: Deutschland ist ihr Heimatland - Thomas
Oppermann hat zum Thema Heimat etwas sehr Wichtiges gesagt -, und gleichzeitig sind diese Menschen in
der Kultur ihrer Vorfahren verwurzelt. Deswegen ist es
sehr wichtig, dass eine unserer ersten Maßnahmen dazu
dient, sie nicht mehr vor eine quälende Entscheidung zu
stellen, sondern ihnen beide Perspektiven zu eröffnen,
also beide Pässe behalten zu dürfen.
({5})
Damit sagen wir auch ganz klar Ja zu Deutschland als
Einwanderungsgesellschaft. Das ist unser Beitrag zu einer Modernisierung unserer Gesellschaft.
Ich möchte noch ein drittes Thema ansprechen. Auch
hier beenden wir Stillstand und vor allen Dingen einen
jahrelangen ideologisch völlig überhöhten Streit, nämlich den Streit um die Frauenquote. Es ist ein großer Erfolg der SPD - das sage ich so deutlich; denn auf Ihrer
Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
gab es viele, die das nicht wollten -, dass wir endlich
eine Frauenquote in Aufsichtsräten einführen. Ich habe
mich heute über die deutlichen Worte der Bundeskanzlerin hierzu sehr gefreut.
({6})
Das ist nicht nur ein Schritt zur Beseitigung bestehender
Diskriminierung von Frauen - wir haben hier im Bundestag einen Handlungsauftrag -, sondern wir helfen vor
allen Dingen - das ist mir besonders wichtig - all den
exzellent ausgebildeten und hervorragend qualifizierten
Frauen, die wir in Deutschland haben, endlich auf die
Plätze zu kommen, die ihnen immer vorenthalten wurden: in Vorständen, in Aufsichtsräten und im mittleren
und höheren Management. Wir machen Schluss mit der
gläsernen Decke. Auch das ist ein ganz wichtiger Beitrag zur Unterstützung von Frauen, aber auch zur Modernisierung unserer Gesellschaft.
({7})
Lassen Sie mich noch etwas zu einem Thema sagen,
bei dem es mich ganz besonders geärgert hat, dass die
letzte Bundesregierung und die sie tragende Koalition
hier vier wertvolle Jahre verschenkt haben. Das ist das
Thema Menschenhandel. In unserem Land leben Menschen, die Opfer von Zwangsprostitution werden und deren Arbeitskraft widerlich ausgebeutet wird; das ist ein
ganz wichtiges Thema. Diese Menschen brauchen unseren Schutz und unsere Hilfe. Hier besteht Handlungsbedarf, und zwar nicht nur weil es eine gute EU-Richtlinie
gibt, sondern weil wir diese Menschen schützen und ihnen helfen müssen. Wir wollen die Opfer besser schüt594
zen und die Täter wirksam bestrafen. Deswegen haben
wir im Koalitionsvertrag vereinbart, das Thema Menschenhandel engagiert anzugehen und endlich zu konkreten Vorschlägen zu kommen. Ich möchte eine Ergänzung machen, weil das in diesem Kontext immer
erwähnt wird: Diese Koalition hat sich ganz klar dazu
bekannt, Prostitution - im Gegensatz zu Frankreich nicht zu verbieten. Wir werden die Stellung von Prostituierten stärken, ihre Beschäftigungsbedingungen verbessern und ganz sorgfältig trennen zwischen Menschenhandel, der bekämpft werden muss, und legaler Prostitution.
({8})
Zum Schluss möchte ich ein Thema ansprechen, bei
dem nicht die Regierung gefragt ist, sondern wir hier im
Deutschen Bundestag. Es geht hier nicht darum, unsere
Positionen entlang der Fraktionsgrenzen bzw. nach
Mehrheiten festzulegen. Vielmehr versuchen wir, eine
gute Debatte in Gang zu bringen, um dann hoffentlich
ein hervorragendes Ergebnis bei einem ganz schwierigen
Thema zu erzielen - das ist unsere Aufgabe in dieser Legislaturperiode -, nämlich dem Thema Sterbehilfe. Wir
werden diese Debatte mit Sorgfalt, ausreichender Zeit
und Sensibilität führen. Wir werden hoffentlich eine
kluge und sehr wertschätzende Debatte führen.
Auch diese Debatte führen wir anders als in der letzten Legislaturperiode, in der ein Gesetz vorgelegt, dann
aber doch nicht verabschiedet wurde, weil gar nicht genügend Zeit zur Beratung war. Das Anliegen der Koalition,
soweit wir uns bisher vereinbart haben, ist vielmehr, einen
intensiven und ausführlichen Diskussionsprozess nicht
nur hier im Parlament - ich lade alle ein, mitzumachen -, sondern in der gesamten Gesellschaft zu initiieren.
Es geht bei dem Thema Sterbehilfe sowohl um den
Umgang mit unheilbaren und sehr schweren Erkrankungen, mit dem Ende des Lebens, um Fragen der Selbstbestimmung, als auch um die Würde des Menschen, und es
geht natürlich auch um Nächstenliebe und unser Menschenbild. Es geht nicht darum, die Bundesregierung
aufzufordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, und es
geht auch nicht darum, die Debatte auf einzelne Begriffe
im Zusammenhang mit Sterbehilfe zu reduzieren, sondern es geht um viel mehr, um unser Verständnis von
Beistand und Unterstützung und letztendlich um Sterbebegleitung.
Deswegen begrüße ich, dass wir uns hier im Parlament bereits auf zwei Dinge verständigt haben: erstens,
dass wir diese Debatte sorgfältig führen, dass wir uns
Zeit für diese Debatte nehmen, und zweitens - da sind
wir jetzt alle gefordert -, dass wir das zu einer Gewissensentscheidung machen.
({9})
Wir sortieren uns nicht entlang der Fraktionsgrenzen,
sondern entlang unserer individuellen Auffassungen. Ich
habe das Thema extra hier in dieser Generaldebatte angesprochen, weil es - Sie merken das -, ein wichtiges
Thema ist, weil ich mich mit vielen Kolleginnen und
Kollegen engagieren möchte und weil ich Sie alle einladen möchte - da spreche ich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der Opposition an -, mit uns gemeinsam diesen Prozess zu gestalten, zu guten Debatten im
Bundestag zu kommen und dann eine gute Regelung für
dieses schwierige Thema zu finden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank, Eva Högl. - Ich gebe das Wort an Ulle
Schauws für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Kultur ist keine Subvention, sondern eine Investition in unsere Zukunft.
Diese Aussage findet sich in Ihrem Koalitionsvertrag,
und sie ist absolut zutreffend; aber sie geht nicht weit genug. Kultur ist mehr als ein Wirtschaftsgut, Kultur ist
notwendiger Teil der Daseinsvorsorge.
({0})
Der kulturelle Reichtum allein in unserem Land sollte
uns wirklich beglücken. Er fordert uns auf, alle Möglichkeiten zu nutzen, jede Art von Kunst und Kultur und alle
Talente zu fördern. Gerade deshalb engen Förderregeln
wie das Kooperationsverbot in der Kulturförderung oder
konventionelle Definitionen von Kultur, wie sie sich im
Koalitionsvertrag andeuten, das, was kreative Vielfalt
ausmacht, ein.
({1})
Was wir brauchen, ist der Wille, Kultur für alle erlebbar
zu machen. Dazu gehört der Mut, finanzielle Mittel auch
vielen kleinen Initiativen in aller Bandbreite zur Verfügung zu stellen.
({2})
Aber ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Welche Zukunftsperspektive bietet die Bundesregierung
denjenigen Menschen in unserem Land, die Kultur gestalten? Im Koalitionsvertrag lassen Sie diese dringende
Frage leider offen. Sie begnügen sich mit der vagen Aussage, man müsse zuerst einmal die „Lücken in der sozialen Absicherung von Künstlern … identifizieren …“ Das
ist entschieden zu wenig;
({3})
denn die soziale Lage der Kulturschaffenden ist längst
bekannt. Sie leben mehrheitlich in prekären Verhältnissen. Sozialversicherungspflichtige werden in die Scheinselbstständigkeit gedrängt, verdienen durchschnittlich
unter 1 000 Euro monatlich. Darunter sind vor allem
viele Frauen. Im Schnitt liegt der Rentenanspruch bei
420 Euro.
Angesichts eines wachsenden Marktes der Kulturund Kreativwirtschaft um jährlich gut 3 Prozent frage
ich mich, warum von dieser Wachstumsdividende nichts
bei den Kulturschaffenden selbst ankommt. Während
meiner Zeit als Filmschaffende war diese Frage für mich
existenziell. Daher sage ich: Mir fehlt Ihr klares Bekenntnis zu sozialen Mindeststandards.
({4})
Mir fehlen Ihre Lösungsvorschläge für die vorprogrammierte Altersarmut vieler Kreativer. Gerade deshalb wären weitere Einschränkungen beim Zugang zur Künstlersozialkasse absolut kontraproduktiv.
({5})
Wir Grüne wollen seit langem die circa 1 Million
Kulturschaffenden - das sind deutlich mehr Beschäftigte
als etwa in der gesamten Automobilindustrie; ich habe
da andere Zahlen, Frau Staatsministerin; es handelt sich
hierbei um knapp 0,75 Millionen Beschäftigte - fest in
das soziale Netz und in die Sozialversicherungssysteme
einbinden. Das heißt, wir wollen auch Mindestlöhne und
Honoraruntergrenzen im Kulturbereich verankern und
selbstverständlich auch Frauen im Kulturbetrieb gleichstellen. Außerdem wollen wir ein deutlich verbessertes
Urhebervertragsrecht; denn die Profite müssen stärker
bei den Urheberinnen und Urhebern selbst ankommen
und dürfen nicht nur bei den Verlagen und Providern
hängen bleiben.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf 2014,
dem europäischen Erinnerungsjahr mit zahlreichen Jahrestagen, wird es um die Frage gehen, wie wir angemessen gedenken. Hier warten wir immer noch auf Ihre konkreten Vorschläge. In diesem Kontext ist aber auch die
aktuelle Debatte um die Beute- und Raubkunst von Bedeutung. Wir Grüne stehen hier für eine rückhaltlose und
koordinierte Aufklärung, und das nicht nur im Falle
Gurlitt.
({7})
Bundeskulturpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen,
darf sich auch nicht auf die Förderung prestigelastiger
Schaufenster- und Großprojekte in Berlin, wie zum Beispiel des Stadtschlosses oder einer Staatsoper, deren
Umbaukosten gerade explodieren, konzentrieren.
({8})
Ein Blick in die Provinz täte ganz gut. Wenn wir der
Vielfalt der Kultur von morgen eine Chance geben wollen, brauchen wir jetzt politische Weitsicht, nachvollziehbare und sozial gerechte Förderkriterien und mehr
Transparenz.
Da setzen wir ganz besonders auch auf Sie, Frau
Staatsministerin; denn Sie haben in den vielen Jahren als
Vorsitzende des Kulturausschusses auch mit meiner
Fraktion sehr gut und kooperativ zusammengearbeitet.
Wenn es Ihnen um eine Kulturpolitik für alle Bürgerinnen und Bürger und eine starke kulturelle Infrastruktur
und Bildung in diesem Land geht, dann stehen wir gerne
zur Verfügung.
({9})
Kultur ist nämlich keine Subvention, sondern eine Investition in unsere Zukunft und Daseinsvorsorge für alle.
Lassen Sie uns diesen Grundsatz gemeinsam umsetzen.
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, liebe Kollegin Ulle Schauws. - Auch
Ihnen gratuliert das ganze Haus zu Ihrer ersten Rede im
Bundestag.
({0})
Wir wünschen Ihnen alles Gute als Abgeordnete mit
dem Arbeitsschwerpunkt Kultur.
Als Nächster hat das Wort Michael Kretschmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir leben in einer einzigartigen Zeit von Chancen und Möglichkeiten. Die Regierungserklärung der
Bundeskanzlerin und die Diskussion darüber haben gezeigt, wie stark unser Land im internationalen Wettbewerb dasteht und wie gut deswegen auch die Chancen
für Kunst- und Kulturförderung in unserem Land sind.
Für CDU, CSU und SPD ist klar, dass die Freiheit von
Kunst und Kultur ein unumstößliches Prinzip ist, wobei
für uns Kunst und Kultur und die Freiheit dazu immer
auch die Freiheit des Andersdenkenden ist, also dessen,
der eine andere Meinung hat. Das zu verteidigen und
Freiräume für künstlerische Tätigkeit zu garantieren, das
ist das Prinzip der Bundesrepublik Deutschland, das in
den vergangenen Jahren, seitdem es einen Kulturstaatsminister gibt, immer Arbeitsauftrag und Verpflichtung
war.
Die Koalitionsverhandlungen über den Bereich Kultur haben in einer beeindruckenden Harmonie stattgefunden, getragen von dem Willen, gemeinsam etwas für
die Kunst und die Kultur, für die Künstlerinnen und
Künstler in unserem Land zu erreichen. Ich denke, das
Ergebnis dieses Koalitionsvertrages kann sich sehen lassen, gerade im Bereich der Kulturpolitik.
Wichtig ist uns, dass die Künstlersozialversicherung
auch in Zukunft eine Sonderstellung für die Kulturschaffenden in Deutschland hat. Sie soll soziale Sicherheit
schaffen. Die besonderen Herausforderungen, vor denen
die Künstlerinnen und Künstler stehen, müssen eben
auch in der Ausgestaltung der Künstlersozialversicherung ihren Niederschlag finden. Dazu ist es notwendig,
dass die Abgabepflicht und die Prüftätigkeit wirklich geregelt werden. Das muss in den nächsten Wochen und
Monaten dringend auf den Weg gebracht werden.
({0})
Meine Damen und Herren, für uns ist klar, dass bei
dem Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen
Union und den USA keine Zugeständnisse im Bereich
kultureller und audiovisueller Dienstleistungen gemacht
werden können. Hier ist der Kern unserer kulturellen
Identität getroffen. Hier können wir keine Kompromisse
machen.
({1})
Bernd Neumann hat die beeindruckende Bilanz der
verschiedenen Staatsministerinnen und -minister für
Kultur zu einer Größe gebracht, wie viele sie nicht für
möglich gehalten haben. Als das Amt eingeführt wurde,
haben die Länder parteiunabhängig geschimpft und Bedenken vorgebracht. Kritisiert, dass der Bund sich in diesem Bereich engagiert. Heute ist man froh darüber, dass
der Bund sich in der Kultur so stark engagiert und dass
Monika Grütters unsere neue Kulturstaatsministerin ist,
meine Damen und Herren.
({2})
Wir wollen den Haushalt von 1,2 Milliarden Euro
auch in Zukunft stetig anwachsen lassen. Wir wollen die
identitätsstiftende Kraft von Kunst und Kultur gerade in
einer Zeit mit hoher Migration nach Deutschland fördern. Wir haben heute auch dazu etwas gehört. Viele
Menschen werden zu uns kommen. Der Begriff „Heimat“ ist gefallen und positiv besetzt worden, auch von
unseren Freunden von der Sozialdemokratie. Wir wollen
also gerade in diesen Zeiten Kunst und Kultur als identitätsstiftende Kraft fördern. Deswegen werden wir in diesen Bereich weiter investieren.
Für uns ist wichtig, dass die kulturelle Bildung gestärkt wird. Das geht nur in Zusammenarbeit mit den
Kulturverbänden, in einer großen Harmonie mit den
Ländern und mit den Kommunen. Aber es ist wichtig, zu
begreifen, dass Bildung mehr ist als nur Mathematik und
Geschichte; es geht darum, Persönlichkeitsentwicklung
zu betreiben, soziale Kompetenzen aufzubauen, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.
Dazu müssen wir stärker als bisher in die kulturelle Bildung investieren.
({3})
Meine Damen und Herren, die beeindruckende Feierstunde am Montag dieser Woche mit unserem Gast aus
Russland hat vielen von uns und auch mir gezeigt, wie
schnell man in der Deutung von Geschichte auf Abwege
geführt werden kann. Ich gebe zu, dass für mich aufgrund der Prägung durch die DDR-Bildung die Belagerung von Leningrad als großer Kampf in Erinnerung geblieben ist, bei dem großer Widerstand geleistet wurde.
Wie die Schattenseiten aussahen, wie die neutrale, unabhängige Bewertung ist, wie wir sie hier gehört haben,
das hatte sich mir über lange Zeit nicht eingeprägt.
Deswegen müssen wir, was die Erinnerung und die
Aufarbeitung der Geschichte unseres Landes und der europäischen Geschichte angeht, weiter investieren. Wir
dürfen nicht nachlassen. Wir müssen dafür sorgen, dass
Gedenktage wie der 25. Jahrestag des Mauerfalls oder
im kommenden Jahr der 25. Jahrestag der Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht in Vergessenheit geraten, und dafür, dass die Täter von damals nicht die Geschichtslehrer von heute werden. Deswegen müssen wir
diese Daten bewusst besetzen und sie zum Anlass nehmen, breite Diskussionen anzustoßen.
({4})
Das gilt für auch die anderen Jahrestage, für den
100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, für
den Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, und für
die positiven Gedenktage unserer Geschichte, beispielsweise das Reformationsjubiläum.
Meine Damen und Herren, eine große Herausforderung in den kommenden Jahren ist die Digitalisierung
gerade auch im Kulturbereich. Wir haben hier große
Erfolge vorzuweisen. Wir haben eine Digitalisierungsoffensive gestartet, die fortgeführt werden muss. Die
Deutsche Digitale Bibliothek zielt schon heute auf
30 000 Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen ab, die
sich hier vernetzen sollen. Es ist klar, dass in Zukunft
nur das, was digital verfügbar ist, aufgefunden werden
kann. Deswegen muss hier investiert werden. Das gilt
auch und gerade bei der Digitalisierung unseres Filmerbes und der digitalen Nutzung verwaister und vergriffener Werke. Hier haben wir in den vergangenen Jahren
viel bewegt, und hier werden wir in den nächsten Jahren
noch viel mehr bewegen.
({5})
Der fortschreitende demografische Wandel stellt so
manche Region in Deutschland vor die Frage, wie es mit
dem Angebot von Kultureinrichtungen und kulturellen
Initiativen weitergehen kann. Deswegen bin ich froh darüber, dass wir uns in unserem Koalitionsvertrag verständigt haben, hier neue Akzente zu setzen. Wir wollen
im demografischen Wandel mit neuen Kooperationsmodellen auf kommunaler Ebene lebendige Kulturräume
erhalten. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Ansatz
ist.
Meine Damen und Herren, Kulturpolitik hat in den
vergangenen Jahren in diesem Parlament immer eine
große Rolle gespielt. Wir haben hierfür Ressourcen bereitgestellt, während in anderen Politikbereichen gekürzt
wurde. Das ist richtig. Das muss auch weiter so gehen.
Das ist der Wille von CDU/CSU und SPD.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. Eigentlich hätten Sie
noch ein bisschen weiterreden können.
({0})
- Nein, man muss nicht, aber man darf, Herr Strobl. Also, vielen Dank, Herr Kollege. Das passiert ja nicht so
oft.
({1})
Der letzte Redner in der Aussprache zur Regierungserklärung ist Martin Dörmann für die SPD.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich übernehme gerne die zwei Minuten des koalitionären
Kollegen,
({0})
ich hoffe aber, dass ich auch so auskomme.
Lassen Sie mich zu den verabredeten Projekten der
Großen Koalition im Bereich Kultur und Medien mit einigen außerparlamentarischen Stimmen beginnen. So
sagt die ARD-Kulturkorrespondentin Maria Ossowski:
Noch nie hat es eine so ausführliche und detailreiche kulturpolitische Festschreibung irgendwann in
einem Koalitionsvertrag gegeben.
Der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes, DJV, Michael Konken, bewertet den Koalitionsvertrag als „in einigen Punkten interessant für die Anliegen der Journalistinnen und Journalisten“. Und der stets
aufmerksam-kritische Geschäftsführer des Deutschen
Kulturrates, Olaf Zimmermann, meint: „Es ist wirklich
ein guter Koalitionsvertrag für die Kultur.“ - Genau so
ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich freue mich,
dass auch außen wahrgenommen wird, dass wir uns viel
vorgenommen haben.
Der Koalitionsvertrag beschreibt für den Bereich Kultur und Medien ein kooperatives Grundverständnis im
Zusammenwirken von Bund und Ländern, selbstverständlich unter Wahrung der primären Kompetenzen auf
der Länderebene. Mit der Schaffung des Amtes des Beauftragten für Kultur und Medien unter Rot-Grün ist eine
Kultur- und Medienpolitik des Bundes entstanden, die
die Aktivitäten der Länder unterstützt, gleichzeitig aber
auch eigene Akzente setzt. Eine starke Kultur- und Medienpolitik des Bundes wirkt sich so verstanden eben
auch positiv und befruchtend auf die Länder aus. Es war
kein Zufall, dass die Länder bei den jüngsten Koalitionsverhandlungen in besonderer Weise beteiligt waren.
Die Große Koalition hat konkrete Vorhaben vereinbart, die wir nun schnellstmöglich anpacken wollen. Zu
den drängendsten Themen gehören aus meiner Sicht insbesondere vier Punkte:
Erstens die bereits erwähnte Absicherung der Künstlersozialversicherung.
({1})
Schwarz-Gelb hat in der letzten Legislaturperiode nicht
vermocht, die notwendigen Regelungen zu treffen, um
alle Unternehmen regelmäßig und gleichmäßig zu überprüfen, damit sie ihrer gesetzlichen Pflicht zur Zahlung
der Künstlersozialabgabe auch wirklich nachkommen.
So gerät das wichtige Sicherungssystem der Künstlersozialkasse zunehmend unter Druck; der Abgabesatz steigt.
Sehr zügig wollen wir dies nun angehen und eine Lösung erreichen.
Ich bin sehr froh, dass unsere Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles angekündigt hat, gerade auch diesen
Punkt in ihre Vorhabenplanung für dieses Jahr mit aufzunehmen. Das ist ihr ein Herzensanliegen. Wir sehen ja
schon am Rentenpaket, wie schnell sie gearbeitet hat.
Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir da auch in diesem Jahr zu einer gesetzlichen Lösung kommen werden.
Ich will auch daran erinnern, dass es damals der SPDFraktionskollege Dieter Lattmann gewesen ist, der am
Ende der sozialliberalen Koalition das Ganze auf den
Weg gebracht hat.
({2})
Zweiter Punkt ist die einzusetzende Expertenkommission zur Zukunft der Stasiunterlagenbehörde. Auch hier
sind wichtige Aufgaben noch unerledigt. Wir erinnern
uns: Am 15. Januar 1990, also vor gut 24 Jahren, erstürmten mutige Bürgerinnen und Bürger der damaligen
DDR die verhasste Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg
und stellten kilometerweise Akten sicher, die unter menschenunwürdigen Umständen entstanden sind. Das war
ein bis heute einzigartiger Vorgang, der zeigt, wie entschlossen die Menschen waren, ihr Schicksal nun selbst
in die Hand zu nehmen.
Die Stasiunterlagenbehörde mit der Aufgabe, Zugang
zu diesen Akten zu gewähren, war nie auf Dauer angelegt. Damit die Aufarbeitung dieses Kapitels deutscher
Geschichte eine Zukunft hat, muss nun geklärt werden,
wie und in welcher Form die Aufgaben der Behörde fortgeführt werden können.
Dritter Punkt: eine konsequente Provenienzforschung
und gegebenenfalls Restitution, also Rückgabe geraubter
Kulturgüter. Der Fund von 1 280 Kunstwerken von
teilweise ungeklärter Herkunft im Privatbesitz von
Cornelius Gurlitt hat dieses Thema auf die Tagesordnung der Politik gesetzt und offenbart, dass wir vor einem weitgehend noch unbewältigten Kapitel deutscher
Geschichte stehen. Wir müssen die Entrechtung von Eigentümern von Kunstwerken in der Nazizeit zwingend
aufklären und zügiger diskutieren, als wir dies bisher
getan haben. Dazu bedarf es - Frau Staatsministerin
Monika Grütters hat es bereits erwähnt - einer verstärkten Provenienzforschung. Wir müssen uns aber auch
überlegen, ob rechtliche Anpassungen gegebenenfalls
notwendig sind.
({3})
Der vierte und letzte Punkt, den ich erwähnen
möchte, betrifft die Reform der Medienordnung. Die Digitalisierung und das Internet führen gerade im Bereich
der Medien zu großen Umbrüchen. Die Koalition wird
die Bemühungen der Länder um eine der Medienkonvergenz angemessene Medienordnung tatkräftig unterstützen. Dazu haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet. Wie Sie wissen, soll hierzu eine zeitlich befristete
Bund-Länder-Kommission eingesetzt werden. Sie soll
klären, ob es an den Schnittstellen zwischen Medienaufsicht, Telekommunikationsrecht und Wettbewerbsrecht
mit unterschiedlichen Kompetenzen zwischen Bund und
Ländern zu Anpassungen kommen sollte, die dann auch
den Bundesgesetzgeber betreffen könnten. Messlatte für
die SPD-Fraktion wird dabei die Frage sein, wie wir
auch in einer veränderten Medienwelt die Freiheit, Unabhängigkeit und Vielfalt der Medien bewahren und
stärken können.
In diesem Zusammenhang will ich Folgendes ergänzen: Frau Staatsministerin Grütters hat in ihren ersten Interviews begrüßenswerterweise darauf hingewiesen,
dass wir uns innerhalb der Koalition darauf verständigt
haben, beispielsweise auch auf EU-Ebene dafür zu sorgen, dass die Möglichkeit besteht, Bücher und Zeitungen
mit Blick auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz sowohl im Online- als auch im Offline-Bereich gleich zu
behandeln. Ich glaube, das wäre ein wichtiger Schritt,
der dafür sorgt, dass die Medien im Internet am Ende
Qualitätsjournalismus finanzieren können. Dazu sollten
wir einen Beitrag leisten.
({4})
Eine Baustelle bleibt uns zum Glück erspart. Das
Bundesverfassungsgericht hat gestern die Rechtmäßigkeit der Filmförderung durch das Filmfördergesetz bestätigt. Das Urteil ist zugleich ein klares Bekenntnis für
eine kulturelle Filmförderung. Das ist ein großer Erfolg.
({5})
Ich will in diesem Zusammenhang noch auf einen
Punkt hinweisen: Film ist nach unserem Grundverständnis zwar auch ein Wirtschaftsgut, aber in erster Linie ein
kulturelles Gut. Es geht um die Förderung kultureller
Werte, und zwar über das hinaus, was die bloße Logik
des Marktes ausmacht. Gleiches muss für das Freihandelsabkommen gelten - das ist bereits von dem Kollegen
Kretschmer erwähnt worden -: Wir werden dafür sorgen, dass dort die Ausnahmen für die Bereiche Kultur
und audiovisuelle Dienste wirklich zum Tragen kommen. Das ist ein ganz zentraler Punkt für uns.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der erste Kulturstaatsminister im Amt, Michael Naumann, hat einmal
treffend formuliert: Kultur ist die schönste Form der
Freiheit. - Ich will hinzufügen: Freie, unabhängige und
vielfältige Medien sind eine Grundvoraussetzung für
eine funktionierende Demokratie. Daher ist es wichtig,
Kultur und Medien zu stärken, damit wir auch die Freiheit und die Demokratie stärken. Ich freue mich, dass
wir heute in dieser Debatte sehr viele Gemeinsamkeiten
auch über Fraktionsgrenzen hinweg erkennen konnten.
Deshalb freue ich mich in besonderer Weise auf unsere
gemeinsame Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. Es liegen keine weiteren
Wortmeldungen vor.
Damit kommen wir zum nächsten Punkt: Außen,
Europa und Menschenrechte. Die Debatte wird eröffnet
von unserem Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({0})
Danke, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nun wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit, dass ich nach acht Jahren wieder an diesem Pult
stehe und die Chance habe, einen neuen Blick auf die
deutsche Außenpolitik und die internationalen Beziehungen zu werfen. Ich versichere Ihnen, dass es für mich
nicht einfach eine Wiederholungstat ist, wenn ich Ihnen
hier als Außenminister zum zweiten Male innerhalb von
wenigen Jahren gegenübertrete. Das liegt auf der Hand;
denn zwar ist das Büro, das ich inzwischen im Auswärtigen Amt bezogen habe, dasselbe - völlig unverändert wie das, welches ich vor vier Jahren verlassen habe; aber
der Zustand der Welt, über den zu reden ist, hat sich innerhalb dieser letzten vier Jahre gravierend verändert.
Krisen und Konflikte sind in dieser Zeit spürbar näher an
uns herangerückt. Das alles hat mit uns zu tun: dass die
Folgen sowohl außenpolitischen Tuns als auch außenpolitischen Unterlassens uns hier in Deutschland immer
irgendwie berühren. Deshalb seien Sie versichert, meine
Damen und Herren: Ich weiß, was auf mich zukommt;
aber ich freue mich darauf und bitte um Ihre Unterstützung. Gerade weil ich um die eine oder andere Meinungsverschiedenheit in diesem Hohen Hause, insbesondere wenn wir über Mandate reden, weiß, biete ich Ihnen
ausdrücklich offene und faire Zusammenarbeit an. Das
hat heute Morgen im Ausschuss ganz gut begonnen, und
ich hoffe, das setzt sich hier im Plenum fort. Herzlichen
Dank schon im Voraus.
({0})
Wenn ich mich in Europa umschaue, dann stelle ich
fest, dass sich dieses Europa in den letzten Jahren völlig
auf sich selbst konzentriert hat. Seit vier Jahren ringen
wir alle miteinander mit der europäischen Krise. Das
war auch notwendig. Ich habe aber den Eindruck, dass
beim Ringen um den Weg aus der europäischen Krise
das ein bisschen aus dem Blick geraten ist, was sich sozusagen jenseits des europäischen Tellerrandes tut. Man
muss, glaube ich, die internationale Lage gar nicht in den
schwärzesten Farben zeichnen, um zu sehen: Die dramatischen Zuspitzungen, die wir in uns ganz nahen Teilen
dieser Welt erleben, werden im Augenblick in der Mitte
Europas, erst recht da, wo es wirtschaftlich stabil ist, unterschätzt. Ein Blick in den Mittleren Osten, in den Nahen Osten, in Teile der arabischen Welt reicht aus, um zu
sehen, was bei unterstelltem schlechtem Verlauf unserer
Bemühungen, die wir und andere gegenwärtig unternehmen, in kurzer Zeit zur Entladung kommen kann - möglicherweise mit Ergebnissen, die überhaupt nicht mehr
beherrschbar sind, weder in der Region noch in der
Nachbarschaft, auch nicht von uns.
Ein Blick in die osteuropäische Nachbarschaft zeigt,
dass in die Ukraine gerade eine Form von Unfriedlichkeit zurückgekehrt ist, von der wir nach fast 70 Jahren
Frieden in Europa und nach Erreichen der Wiedervereinigung Europas dachten, dass dafür eigentlich gar kein
Raum mehr ist, nicht in Europa und auch nicht in den
Randzonen der Europäischen Union.
Oder schauen wir nach Afghanistan, wo wir im Augenblick noch darum ringen, dass das Land nach dem
Abzug der internationalen Streitkräfte nicht einfach wieder zurückfällt in den Status der Konflikte, die es vor
2001 und in den Jahrzehnten des Bürgerkrieges dort gab.
Oder schauen wir nach Ostasien. Ich glaube, wir müssen miteinander eingestehen, dass wir - das ist überhaupt kein Vorwurf - die historische Tiefenschärfe des
Konfliktes zwischen China und Japan, der sich scheinbar
um ein paar Inseln dreht, überhaupt noch nicht verstanden haben, und das ausgerechnet im Falle einer Region
- darum erwähne ich es hier -, in der die Staaten noch
nach bei uns gar nicht mehr geltenden Kriterien von sehr
schlichten geopolitischen Vorstellungen oder sehr vereinfachenden Gleichgewichtsmodellen miteinander umgehen. Das macht diesen Konflikt zu einem nicht ganz
ungefährlichen Konflikt. Ich glaube, wir müssen das
sehr sorgfältig im Auge behalten, selbst wenn wir von
hier aus nicht unmittelbar Einfluss darauf nehmen können. Ich bin ganz sicher: Diese Debatten werden uns beschäftigen.
Wir werden uns - Thomas Oppermann hat heute Morgen darauf hingewiesen - diesen Debatten gerade in einem Jahr wie diesem nicht verweigern können, in dem
beim Gedenken an 1914, liebe Kolleginnen und Kollegen, an vieles erinnert wird, zum Beispiel an das Versagen von Diplomatie, an das Ausbleiben von Außenpolitik - auch davon waren die sechs Wochen vor Ausbruch
des Ersten Weltkrieges gekennzeichnet ({1})
oder an das wachsende Maß der Entfremdung oder der
Sprachlosigkeit zwischen den Staaten. Die Folgen dessen zeichnen sich im Kriegsbeginn 1914 ab. Aber all das
hat - ohne dass ich vordergründige Parallelen ziehen
oder gar Gleichsetzungen machen will - Bezüge zu
heute, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Mit Blick auf Millionen von Menschen, die heute Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen sind oder darunter
leiden, mit Blick auf die Millionen, die durch diese Auseinandersetzungen vielleicht zu einer Flucht ins Ausland
gezwungen werden, sage ich Ihnen vorneweg meine
ganz persönliche Meinung: Ich finde es nicht nur unerträglich, sondern sogar ein bisschen zynisch, was man in
den letzten Jahren immer wieder - viel zu häufig, wie
ich finde - über den Bedeutungsverlust - das wäre ja
noch gegangen - oder gar die Bedeutungslosigkeit der
Außenpolitik in diesen Zeiten lesen konnte. Demnach
sei es geradezu unanständig, das Amt des Außenministers anzutreten, weil das ja alles nichts mehr wert sei.
Mit Blick auf eine Welt - ich habe sie eben nur mit einigen Strichen gezeichnet -, die zahlreiche Aufgaben für
uns vorhält, finde ich das ziemlich unerträglich.
Ich gebe zu: Ja, Außenpolitik folgt nicht unbedingt
dem Rhythmus von Onlinemeldungen; das ist wahr. Der
Iran-Konflikt zum Beispiel ist ein Konflikt, der uns seit
mehr als 30 Jahren beschäftigt. Zehn Jahre lang haben
wir verhandelt, und es hat zehn Jahre gedauert, bis zum
ersten Mal eine Perspektive für eine Entschärfung des
Konfliktes - noch nicht für eine Lösung - sichtbar geworden ist. Ich glaube, das muss man sich vor Augen
führen: Gäbe es keine aktive Außenpolitik, auch nicht
jene, die sich sozusagen im Zustand der Aussichtslosigkeit immer wieder um kleinste Fortschritte bemüht, dann
würden solche Konflikte eben eskalieren.
Es gibt diesen alten Satz, der wie verstaubt klingt, einen Satz aus dem vergangenen Jahrhundert: Solange
verhandelt wird, wird nicht geschossen. ({2})
Der Satz ist nicht verstaubt. Denn der Iran-Konflikt hat
uns gezeigt: Solange verhandelt wurde, wurde nicht geschossen. Aber das Entscheidende ist: Auch die Tür zu
einer politischen Lösung wurde mit solchen langandauernden Bemühungen offengehalten. Deshalb, meine Damen und Herren, plädiere ich so sehr für einen hohen
Stellenwert der Außenpolitik und für eine aktive Außenpolitik.
({3})
Wenn ich - das hören Sie heute nicht zum ersten Mal
von mir - für Zurückhaltung und gegen vorschnelle Entscheidungen in Bezug auf einen Einsatz von Militär bin,
hat das gleichwohl seinen Grund nicht darin, dass ich
meinen würde - da würden Sie mich missverstehen -,
Abwarten wäre die richtige Reaktion. Ich sage eher etwas anderes: So richtig die Politik der militärischen Zurückhaltung ist, sie darf nicht als eine Kultur des Heraushaltens missverstanden werden. Dafür sind wir, auch in
Europa, inzwischen ein bisschen zu groß und ein bisschen zu wichtig. Wir sind nicht ein Kleinstaat in einer
europäischen Randlage, sondern der bevölkerungsreichste, größte Staat der Europäischen Union; wir haben die stärkste Wirtschaftskraft. Wenn sich ein solches
Land bei dem Versuch, internationale Konflikte zu lösen,
heraushält, dann werden sie nicht gelöst, dann gibt es
keine belastbaren Vorschläge.
Das ist der Grund, weshalb eine der ersten Entscheidungen, die Frau von der Leyen und ich dem Kabinett
vorgeschlagen haben, eine Änderung des Verhaltens in
Bezug auf die Beseitigung und Vernichtung von Chemiewaffen in Syrien war.
({4})
Dieser Fall ist ein plausibles Beispiel dafür, welche
Rolle wir spielen. Ich glaube, wir haben richtig gelegen,
als wir gesagt haben: In einer solchen Situation Bomben
auf Damaskus abzuwerfen, wäre der falsche Weg, wahrscheinlich eher ein Umweg, wenn man irgendwann später zu politischen Lösungen kommen will. Aber man
kann sich nicht gegen militärische Optionen aussprechen
und sich dann auch noch in Bezug auf die übrig bleibenden Alternativen heraushalten.
Aus diesem Grund sage ich: Verantwortung in der
Außenpolitik bedeutet, dass man als größtes Land in Europa auch in solchen Situationen Verantwortung übernimmt und sagt: Wenn wir die Möglichkeit haben, eine
kleine Basis zu schaffen, auf der dann zukünftig politische Verhandlungen möglich sind, dann müssen wir
auch zur Verfügung stehen und unseren Teil dazu beitragen. Ich bin jedenfalls froh, dass das Kabinett eine sehr
schnelle Entscheidung getroffen hat, die dazu führen
wird, dass wir den größeren Teil der Chemierestbestände, die bei der Vernichtung entstehen, in Deutschland vernichten werden.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann nicht enden, ohne einen Blick - nicht auf den Mittleren und Nahen Osten - in die europäische Nachbarschaft zu werfen.
Die Entwicklung in der Ukraine hat uns alle miteinander
in den letzten Tagen und Wochen hinreichend beschäftigt. Die gute Nachricht ist: Die letzte Nacht war die ruhigste Nacht seit langem. Die schlechte Nachricht ist:
Bisher sind alle Angebote, die vonseiten des Präsidenten
an die Opposition gegangen sind, nicht belastbar.
Ein Einstieg in politische Gespräche konnte stattfinden, weil Janukowitsch auf Druck der Opposition und
der internationalen Staatengemeinschaft notwendigerweise anbieten musste, sein Gesetz zur Unterdrückung
der politischen Betätigung zurückzunehmen. Es gehörte
weiterhin zum Einstieg in politische Gespräche, dass der
Ministerpräsident seinen Rücktritt angeboten hat und
dass infolgedessen die ganze Regierung zurücktrat.
Aber das ist noch nicht die Lösung. Noch wissen wir
nicht, ob in der Ukraine vonseiten des Präsidenten auf
Zeit gespielt wird. Die Unterzeichnung der notwendigen
Gesetze macht Janukowitsch davon abhängig, ob es der
Opposition gelingt, den Maidan zu räumen, obwohl er
weiß, dass die Opposition nicht auf jeden der beteiligten
Demonstranten Einfluss hat. Wir müssen mit unseren
Einschätzungen deshalb noch vorsichtig sein. Es gibt
aber einen Hoffnungsschimmer, dass die jetzt begonnenen Gespräche - das ukrainische Parlament tagt zu dieser Stunde - vielleicht doch noch den Weg für eine politische Lösung der Konflikte eröffnen. Sicher ist das
jedoch nicht.
Wir haben uns ganz in den Dienst von Lady Ashton
gestellt, die für die Europäer das Vermittlungsgeschäft in
der Ukraine übernommen hat. Sie ist gestern dort angekommen und wird heute den ganzen Tag vor Ort sein.
Ich denke, wir können uns im Namen des ganzen Hauses
bei ihr für das bedanken, was sie bisher getan hat, und
Glück und Fortune wünschen, dass es am Ende zu einer
friedlichen Lösung für die Ukraine kommt und dass das
Land beieinander bleibt.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. Sie sehen die
Unterstützung des ganzen Hauses. - Der nächste Redner
in dieser Debatte ist Wolfgang Gehrcke für die Linksfraktion.
({0})
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe gerade
ein bisschen länger gewartet, bis ich zum Rednerpult gegangen bin. Denn es wäre mir wirklich unangenehm gewesen, Beifall, der Frank-Walter Steinmeier galt, für
mich in Anspruch zu nehmen.
({0})
Das wird nicht stattfinden; da kann ich Sie beruhigen.
Herr Außenminister, ich habe auf eine Botschaft von
Ihnen gewartet. Sie haben zu Recht gesagt, dass die Außenpolitik ihren guten Ruf verloren hat. Vielleicht hätte
man einmal überlegen sollen, ob es an der Qualität der
Außenpolitik liegt, dass sie bei vielen Menschen in dieser Welt so schlecht angesehen ist. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich habe oft den Eindruck, dass, wenn hier
von Menschenrechten geredet wird, eigentlich Öl, Wasser und andere Naturressourcen gemeint sind.
({1})
Das weiß man in der Welt. Die Doppelbödigkeit und die
Doppelzüngigkeit der Außenpolitik, auch der deutschen
Außenpolitik, haben den Ruf der Außenpolitik versaut.
({2})
Ich finde, da sollte man ansetzen.
Ich habe auf eine Botschaft, auf ein Wort von Ihnen
zu Edward Snowden gewartet, trotz der vorhandenen
Schwierigkeiten, die mir bewusst sind. Ich habe auf die
folgende Botschaft gewartet: Wir möchten als Bundesregierung dazu beitragen, dass Edward Snowden in
Deutschland Asyl erhalten kann. Das wäre wichtig gewesen für die internationale Politik. Das wäre übrigens
auch eine wichtige Ermutigung für die Menschen in unserem Land und in den USA. Es ist doch unsinnig, zu
behaupten, dass man sich gegen die Menschen in den
USA richtet, wenn man Edward Snowden Asyl gewährt.
Ganz im Gegenteil: Das wäre für viele mutige Menschen
in den USA eine Ermunterung.
({3})
Aber die Bundesregierung taucht ab. Sie sind nicht bereit, auf Augenhöhe, partnerschaftlich mit den USA darüber zu sprechen. Das spricht dafür, dass immer dann,
wenn es schwierig wird, wenn sich die Sache zuspitzt,
auf diese Bundesregierung kein Verlass ist.
Ich kann Ihnen ankündigen, dass wir als Linke die Alternativen, die Sie nicht präsentieren, vorstellen werden.
Wir werden ein Stück weit das schlechte Gewissen des
sozialdemokratischen Teils dieser Großen Koalition
sein, weil wir uns an vieles halten, was auch die Grundlage Ihrer Geschichte ist. Es wäre gut, wenn Sie mal wieder einen Blick auf Ihre eigene Geschichte werfen würden.
({4})
Sie haben aus der Bundeswehr ein Instrument der Außenpolitik gemacht. Wir sind strikt dagegen. Wenn nach
dem Balkan, dem Mittelmeerraum und Zentralasien jetzt
Afrika das neue Betätigungsfeld wird, dann kann ich nur
sagen: Wir bleiben dabei, dass wir alle Auslandseinsätze
der Bundeswehr beenden wollen, und wir möchten, dass
die Soldaten zurückgeholt werden - ohne Abstriche.
({5})
Das sind Alternativen, über die zu streiten ist. Da gehen
wir nicht zusammen.
Ich möchte auch, dass wir hier in einer anderen Art
und Weise über das Freihandelsabkommen zwischen der
EU und den USA diskutieren. Für mich wäre dieses
Freihandelsabkommen, wenn es in der jetzt vorgesehenen Form durchgesetzt würde, so etwas wie eine ökonomische NATO. Ich finde, schon die NATO ist zu viel,
und ich möchte nicht zusätzlich noch eine ökonomische
NATO haben. Deswegen bin ich gegen diese Verhandlungen. Ich bin dafür, dass sie abgebrochen werden,
({6})
nicht wegen der Auseinandersetzung um Edward
Snowden, sondern weil das Ergebnis eine neue Barriere
in der Welt wäre.
Ich möchte, dass wir gemeinsam darüber nachdenken,
ob es nicht doch Alternativen zur NATO gibt. In Ihrem
Koalitionsvertrag steht, dass Sie die NATO stärken wollen. Wir wollen, dass die NATO aufgelöst wird, dass sie
sich auflöst, dass an ihre Stelle ein kollektives Sicherheitssystem tritt, das nicht auf dem Militär basiert. Es
gab einmal einen großen Sozialdemokraten, der für ein
kollektives Sicherheitssystem in Europa eintrat. Haben
Sie das schon alle vergessen?
({7})
Wir als Linke möchten, dass ein anderer Kurs eingeschlagen wird. Ich hoffe, dass wir uns zumindest darüber
einig sind, dass das jetzige Vorgehen in Bezug auf Russland nicht fortgesetzt werden kann. Sie haben zu Recht
gesagt, dass alle Probleme nur in Kooperation mit Russland zu lösen sind. Dann müssen wir aber auch ein Stück
weit von unserem hohen Ross herunterkommen. Zur
Krise in der Ukraine hat auch die EU-Politik einen gewissen Teil beigetragen.
({8})
Es kann doch nicht sein, dass wir die Bürgerinnen und
Bürger der Ukraine vor die Alternative „Russland oder
EU“ stellen. Beides ist für die Bürgerinnen und Bürger
wichtig. Ich möchte, dass die Ukraine eine Brücke nach
Russland ist und nicht ein Bollwerk gegen Russland.
Das wäre eine vernünftige Politik.
({9})
Lassen Sie mich noch etwas hinzufügen: Ich möchte,
dass wir klipp und klar sagen, dass wir mit den Rechten,
den Nationalisten, den Rechtsextremen in der Ukraine
nichts zu tun haben wollen.
({10})
Das sind keine Freiheitskämpfer, sondern das sind Menschen, die die Freiheit beerdigen wollen.
Nun sehen Sie: Eine andere Außenpolitik ist denkbar
und möglich. Ich konnte Ihren Beifall zu Recht nicht für
mich in Anspruch nehmen, aber Sie können meinen auch
nicht für sich in Anspruch nehmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({11})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff das Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Steinmeier,
Sie haben zu Beginn des Jahres 2014, am Anfang dieser
Legislaturperiode an das Fehlen von Diplomatie, an das
Versagen der Außenpolitik vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges erinnert. Der britische Historiker Christopher
Clark hat dies in einem Buch mit dem Titel Die Schlafwandler eindrucksvoll dargestellt. Wenn wir uns heute
an diese Zeit erinnern und uns fragen, was wir daraus
lernen können, dann sehen wir, dass die Außenpolitik
nicht nur in den letzten sechs Wochen vor dem Ausbruch
des Krieges nicht mehr funktioniert hat, wodurch die
Mächte Europas in diesen Krieg hineingestolpert sind,
sondern dass die Menschen in Europa ein ganzes Jahrzehnt vor Ausbruch des Krieges im Bewusstsein einer
Vorkriegszeit gelebt haben, in einer Logik der Hegemonie, der Eroberung, der Nullsumme, in der sie sich nicht
gefragt haben, ob es zum großen Krieg kommt, sondern
wann es zum großen Krieg kommt.
Wenn wir aus unserer Geschichte etwas gelernt haben, dann ist es die zivilisatorische Leistung Europas.
Heute denken wir eben nicht mehr in dieser Nullsummenlogik. Wir sagen heute nicht mehr: Wenn wir unsere
Werte verteidigen, wenn wir unseren Interessen dienen,
dann tun wir das gegen die Interessen unserer Nachbarn.
Was wir gewinnen, müssen wir den anderen wegnehmen. - Heute gestalten wir unsere Außen- und Sicherheitspolitik in einer Logik der Integration. Nur miteinander, in einer immer tieferen Zusammenarbeit können wir
unsere Werte, unsere Lebensweise und unsere Interessen
verteidigen.
Dazu passt eine Kernaussage unseres Koalitionsvertrages. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag geschrieben: „Sicherheit in und für Europa lässt sich nur
mit und nicht gegen Russland erreichen.“ Das sehen wir
in diesen Tagen bei vielen Fragen, die uns beschäftigen,
etwa wenn es um eine erste humanitäre Hilfe in Syrien
geht, wenn es um eine Lösung des Nuklearkonfliktes mit
dem Iran geht oder - auch darauf wurde hingewiesen wenn es um die Vorgänge in Kiew geht. Deswegen haben wir ein Interesse daran, mit Russland einen konstruktiven und intensiven Dialog zu führen.
Wir wollen mit Russland überall da zusammenarbeiten, wo es möglich ist. Wir wollen im Verhältnis zwischen Russland und der NATO - auch hinsichtlich der
Frage der Raketenabwehr - Fortschritte erzielen. Wir
wollen eine mit politischer Substanz gefüllte Modernisierungspartnerschaft mit Russland voranbringen. Wir
wollen auch das EU-Russland-Partnerschaftsabkommen
endlich ein Stück weit voranbringen.
Leider passt dazu nicht, dass Russland in letzter Zeit
immer wieder zu verstehen gegeben hat, es brauche keinen Dialog, es brauche die Zusammenarbeit mit der EU
nicht. Diese Haltung nützt niemandem, auch nicht Russland.
Deswegen sollten wir den Vorschlag, den Präsident
Putin mehrfach geäußert hat, aufgreifen. Präsident Putin
sprach von einem großen wirtschaftlichen und humanitären Raum Europa. Diesen Raum wollen wir mit Russland gemeinsam gestalten. Dazu gehört aber auch - auch
das schreiben wir im Koalitionsvertrag -, dass wir bei
der Zusammenarbeit mit Russland die berechtigten Interessen unserer gemeinsamen Nachbarn berücksichtigen
müssen. Deshalb ist es nicht tolerierbar, dass Russland
beispielsweise die wirtschaftliche Notlage der Ukraine
ausnutzt und die Ukraine erpresst. In einem humanitären
und wirtschaftlichen Raum Europa kann es keine Hegemonie geben. Diese Haltung haben Sie, Herr Steinmeier,
zu Recht als empörend bezeichnet.
({0})
Wir sollten mit Russland auch über unterschiedliche
Vorstellungen von einer Modernisierungspartnerschaft
sprechen. Solange Russland damit Know-how-Transfer
oder westliche Investitionen hauptsächlich in technologische Projekte versteht, wir aber auch mehr Rechtsstaatlichkeit, weniger Korruption und mehr zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit, so lange können wir das
Potenzial, das in dieser Partnerschaft steckt, nicht ausschöpfen. Deswegen hoffen wir, dass wir zu substanziellen Vereinbarungen über eine tiefere zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit kommen und dass wir auch in der
Frage der Rechtssicherheit zu Fortschritten kommen.
Wir unterstützen Sie bei einer solchen Politik gegenüber
Russland ausdrücklich.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rücknahme der
repressiven Einschränkungen des Demonstrationsrechts
und der Meinungsfreiheit und der Rücktritt der Regierung Asarow in Kiew waren erste Erfolge der Bewegung
der Bürger auf dem Maidan und anderswo in der
Ukraine. Jetzt müssen weitere Schritte folgen: eine Amnestie und eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die
dem Parlament und der Regierung die demokratischen
Rechte verleiht, die sie gegenüber dem Präsidenten brauchen. Die Ukraine braucht vor allem mehr Rechtsstaatlichkeit.
Dabei kann die EU helfen; aber wir brauchen jetzt
auch eine Strategie, wie wir der Ukraine auf ihrem Weg
in Richtung Europa helfen wollen. Die Situation ist
heute eine andere als im Dezember nach dem Gipfel in
Vilnius. Es reicht heute nicht mehr, zu sagen: „Die Tür
bleibt offen“, oder: „Wir sind weiterhin bereit, den Assoziierungsvertrag zu unterschreiben“. Wir brauchen die
Bereitschaft zu intensiverer wirtschaftlicher Zusammenarbeit.
({2})
Dazu gehört ein klares Konzept zu Finanzhilfen im Zusammenhang mit dem IWF. Dazu gehören vor allem
auch Unterstützungsmaßnahmen im Hinblick auf mehr
Rechtsstaatlichkeit.
Vor allem aber müssen wir der Ukraine klarmachen,
dass wir zu Art. 49 des Vertrages über die Europäische
Union stehen: dass jedes europäische Land - und die
Ukraine ist zweifellos ein Land in Europa - eine europäische Perspektive hat, auch wenn diese in den nächsten 20 Jahren vielleicht noch nicht konkret wird und
noch nichts abgeschlossen wird. Es ist wichtig, dass die
Menschen, die sich heute auf dem Maidan für Freiheit
und Menschenrechte einsetzen, weil sie so leben wollen
wie wir und Freiheit und Integration in Europa so verstehen wie wir, sich darauf verlassen können, dass ihnen
diese europäische Perspektive nicht genommen wird.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen das
militärische Engagement der Franzosen in der Zentralafrikanischen Republik. Dort drohte ein religiös motivierter Streit zwischen Christen und Muslimen so zu eskalieren, dass die Vereinten Nationen schon von einem
Genozid gesprochen haben. Damit drohte ein weiterer
gescheiterter Staat oder scheiternder Staat, von denen es
in Afrika schon so viele gibt. Ich glaube, wir brauchen
uns heute nicht mehr darüber zu unterhalten, ob das Eingreifen im französischen oder im europäischen Interesse
liegt. Natürlich ist die Kombination von fundamentalistischem Terror, organisierter Kriminalität, religiöser Verfolgung, Menschenhandel, Drogenhandel usw. eine der
gefährlichsten Bedrohungen für Europa.
Wir begrüßen deshalb, dass, wie es die Bundeskanzlerin, der Herr Außenminister und am Wochenende die
Verteidigungsministerin angedeutet haben, Deutschland
das Engagement der Bundeswehr in Mali verstärken
wird, um den Franzosen mehr Kapazitäten für das Vorgehen in der Zentralafrikanischen Republik zu lassen.
Diese Frage zeigt doch einmal mehr, dass wir uns nicht
erst dann, wenn eine Krise eskaliert, nicht erst dann,
wenn eine konkrete Mandatsentscheidung ansteht, Gedanken machen können, wo wir gemeinsame, europäische Sicherheitsinteressen haben, wo wir gemeinsam
vorgehen müssen, wo wir die Mittel haben, gemeinsam
zu agieren. Stattdessen brauchen wir eine strategische
Debatte darüber, in welchen Regionen wir in der Lage
sind, mit zivilen und militärischen Mitteln das zu tun,
was für die Sicherheit Europas notwendig ist.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo brauchen wir
denn eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Wir brauchen sie nicht in Asien. Wir brauchen
sie auf absehbare Zeit auch nicht in Lateinamerika. Wir
brauchen sie mit Sicherheit in Afrika.
Die GSVP-Mission Atalanta, die GSVP-Ausbildungsmission in Somalia, zwei Bundeswehrmandate im
Sudan, Active Endeavour zur Terrorismusbekämpfung
im Mittelmeer, worüber wir heute noch abstimmen werden, Mali und jetzt die Zentralafrikanische Republik:
Wir müssen uns in Europa gemeinsam überlegen, was
wir mit den Mitteln, die wir haben, tun können - denn
wir können nicht überall sein -, und wir müssen dann
auch klare Prioritäten setzen, wo wir arbeitsteilig gemeinsam vorgehen wollen.
Dass das Auswirkungen auf das Parlamentsbeteiligungsgesetz hat, steht im Koalitionsvertrag. Deswegen
werden wir eine Expertengruppe einsetzen, die uns binnen eines Jahres Vorschläge dazu machen soll, wie wir
dieses Parlamentsrecht erhalten und ausweiten können,
um uns darauf vorzubereiten, dass wir künftig stärker arbeitsteilig mit unseren Partnern vorgehen wollen. Dies
müssen wir gegenüber der Bevölkerung und unseren
Partnern verlässlich und berechenbar machen.
100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges,
75 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
und 25 Jahre, nachdem wir die Teilung unseres Landes
friedlich - vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse
ist das ein besonderes Glück - überwunden haben, stehen wir vor großen Herausforderungen. Die CDU/CSU
steht zu einer Kultur der Verantwortung und auch zu einer Kultur der Mithilfe, gemeinsam mit unseren Partnern. Das wird in den nächsten Jahren, in dieser Legislaturperiode nicht einfach werden,
({5})
aber wir empfinden das als ein großes Glück für unser
Land.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, natürlich haben gerade Sie als bisheriger Chef einer Oppositionsfraktion auch Anspruch
auf die berühmten 100 Tage Zeit für den Start, und zwischen uns und Ihnen gibt es sicher auch viele außenpolitische Schnittmengen. Aber den Koalitionsvertrag haben
Sie unterschrieben und zu verantworten, und der ist in
zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen
durch ein eher verwirrtes Sowohl-als-auch geprägt. Ich
will das an drei Beispielen deutlich machen:
Rüstungsexporte. Waffenexporte dürfen kein normales Instrument der Außenpolitik werden bzw. bleiben.
Aber es bleibt bei den unverbindlichen Leitlinien für
Rüstungsexporte wie bisher. Sie versprechen nur, dass
sie strikter eingehalten werden sollen. Der klare Interessengegensatz in der Koalition bei der Exportfrage bleibt
bestehen, und man darf wirklich gespannt sein, wer sich
im Einzelfall durchsetzt. Klarheit sieht wirklich anders
aus.
({0})
Sie wollen sich auch für eine atomwaffenfreie Welt
einsetzen, bekennen sich aber mehrfach ohne jeden Vorbehalt zur NATO-Strategiekonzeption und damit zur
nuklearen Teilhabe. Sie versprechen den Abbau der
Atomwaffen, und dann unterstützen Sie stattdessen ihre
Modernisierung. Das nenne ich doppelte Buchführung.
({1})
Jeder kann an vielen Stellen in diesen Koalitionsvertrag hineinlesen, was er will. Ganz drastisch wird das
beim Thema „bewaffnete Drohnen“. Die Union will hier
ein Bekenntnis dafür und schürt Erwartungen auf die
baldige Beschaffung. Die SPD sieht das nicht so; viele
völkerrechtliche Prüfungen, die im Koalitionsvertrag
vorgesehen sind, sollen die Sache totprüfen.
Man weiß bei keinem dieser Themen, wie die konkrete Politik nun aussehen soll und wer sich im Einzelfall durchsetzen wird. Viel politischer Nebel, wenig
klare Konturen!
Das gilt leider auch für zentrale Punkte der Europapolitik.
Ich will hier aber mit etwas Positivem beginnen: Die
neue Akzentsetzung bei der Stärkung der deutsch-französischen Kooperation ist wichtig. Eine politische Initiative war lange überfällig. Da haben Sie unsere Unterstützung.
({2})
Aber worin besteht die Linie der Koalition bei der aktuellen Kernfrage in der Europäischen Union? Was soll
als Antwort auf die Krise zur Ankurbelung der europäischen Wirtschaftsentwicklung getan werden? Das bleibt
nebulös. Ein schlichtes Beschwören des im Sommer
2012 geschlossenen Paktes für Wachstum und Beschäftigung im Koalitionsvertrag hilft da nicht weiter. Neues ist
nicht in Sicht. Sie blockieren sich gegenseitig in der Koalition, und das Resultat ist Stillstand der Marke 2012.
Was die transatlantischen Beziehungen, einen Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik, betrifft, wird der
politische Nebel immer dichter. Nehmen wir die NSASpionage, die offenbar auch Wirtschaftsspionage ist:
Was wollen Sie denn jetzt tun, wenn es kein No-Spy-Abkommen mit den USA gibt? Ihre Koalition sendet doch
das klare Signal über den Atlantik, dass Sie nicht den
Willen haben, dann zum Beispiel in der Europäischen
Union eine Aussetzung des SWIFT-Abkommens auf die
Tagesordnung zu setzen. Ich sage Ihnen: Wer vorher signalisiert, dass er keine relevanten Konsequenzen ziehen
wird, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er nur mit
netten Worten abgespeist werden wird.
({3})
Was die Gespräche über ein Handels- und Investitionsabkommen mit den USA betrifft, ist ein merkwürdiges Schweigen der Regierung zu verzeichnen. Für die
Öffentlichkeit ist der Verhandlungsprozess weitgehend
undurchsichtig. Die Befürchtungen sind massiv. In den
vertraulichen Berichten, die nur Abgeordnete sehen dürfen, steht sehr oft ganz wenig. So wird Kontrolle unterlaufen.
Wir hören aber, dass Kommissar de Gucht unter dem
abstrakten Stichwort „Horizontal Regulatory Cooperation“ über eine Art Handelsverträglichkeitsprüfung für
jede ordnungspolitische Maßnahme in der EU verhandelt. Das bedeutet dann die systematische Unterordnung
unserer Standards und übrigens auch einer sozialverträglichen Industriepolitik unter Handelsinteressen. Von dieser Bundesregierung mit sozialdemokratischer Beteiligung kommt kein Wort der Kritik. Ich sage: Kommissar
de Gucht muss gestoppt werden. Die Aussetzung der
Verhandlungen ist nötig. Hören Sie auf, zu schweigen!
Sie müssen hier endlich handeln.
({4})
In Bezug auf die Russlandpolitik gibt es im Koalitionsvertrag keine klaren Antworten auf die Entwicklung
der letzten Jahre und Monate. Ja, Europa braucht Russland. Das ist zentral für deutsche Außenpolitik. Aber die
Regierung Putin betreibt eine repressive und modernisierungsfeindliche Gesellschaftspolitik, vor der wir nicht
die Augen verschließen dürfen.
Sie betreibt eine Nachbarschaftspolitik in Bezug auf
Weißrussland und die Ukraine, gegen die klarer Widerspruch geboten ist. Da kann es nicht einfach die Fortschreibung einer Politik der sogenannten strategischen
Partnerschaft geben, die sich auf gemeinsame Werte und
Wertorientierungen gründen sollte, flankiert von regelmäßigen Protestnoten. Sie werden sich dieser Entwicklung anders stellen müssen, als Sie dies in Ihrem Koalitionsvertrag tun.
({5})
Wir haben eine separate Debatte zur Entwicklung in
der Ukraine für den Freitag vereinbart. Ich finde es sehr
gut, dass sich der Deutsche Bundestag dieses Themas in
einer separaten Debatte annimmt. Deswegen will ich nur
wenige Sätze hierzu sagen: Wir alle wissen, dass die
Entwicklung auf der Kippe steht. Es ist nicht klar, in
welche Richtung sie geht. Wir setzen natürlich unsere
Hoffnung darauf, dass es eine friedliche Entwicklung
hin zu Freiheit und mehr Demokratie gibt. Wir hoffen,
dass die Europäische Union eine wichtige Rolle dabei
spielen kann, diese Entwicklung voranzubringen. Wir
hoffen auch, dass die Bundesregierung diese Politik der
Europäischen Union unterstützt. Wir ermutigen Sie, sich
hier zu engagieren.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist offenkundig,
dass in dem Krisenbogen vom Nahen Osten über die
Länder Nordafrikas bis hin zur Sahelzone eine der zentralen Herausforderungen für die europäische Außenpolitik liegt. Wir erwarten da von Ihnen keine fertigen
Antworten. Aber ich sage auch: Ministerinnenthesen, die
darauf hinauslaufen, dass eine Kultur der militärischen
Zurückhaltung überholt sei, weisen auf jeden Fall in die
falsche Richtung.
({7})
Unbedingt notwendig - das möchte ich noch sagen ist eine drastische Kurskorrektur bei der Aufnahme von
Flüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkrieg.
({8})
Die Zusage der Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen in
Deutschland im letzten Jahr war schon traurig wenig.
Aber bis heute sind davon noch nicht einmal 3 000 Menschen hier angekommen und aufgenommen worden. Das
ist und bleibt eine Schande für unser Land.
({9})
Die Ankündigung einer europäischen Initiative ist
nicht genug. Deutschland muss hier eine aktive Vorreiterrolle übernehmen. Die Zahlen müssen drastisch erhöht werden. Wir müssen aktiv dafür sorgen, dass es
klappt, dass die Menschen aufgenommen werden. Das
gilt auch für den Einsatz zur humanitären Hilfe in der
Region selbst. Wir wünschen uns wirklich, dass Sie dazu
die Kraft finden.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Frank
Schwabe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!
In der Tat ist es wohltuend, einen Außenminister zu haben, der schon in kurzer Zeit Deutschlands Stimme in
Europa und in der Welt deutlich wahrnehmbar gemacht
hat
({0})
und sich mit ganzer Kraft der Konfliktbewältigung und
auch der Konfliktprävention widmet, und zwar - das
darf ich an dieser Stelle sagen - in guter sozialdemokratischer Tradition. Das finden wir sehr gut und befriedigend, und das macht uns als Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten auch ein bisschen stolz.
({1})
Frank-Walter Steinmeier steht auch für gute Personalentscheidungen. Ich gratuliere ganz herzlich Christoph
Strässer, der heute von der Bundesregierung zum Beauftragten für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe
ernannt wurde.
({2})
Christoph Strässer ist jemand, der - so habe ich ihn
jedenfalls kennengelernt - mutig seine Stimme erhebt:
gegen Unterdrückung und für das Recht. Das tut er
manchmal leise, aber auch manchmal laut, wenn es darum geht, Öffentlichkeit zu schaffen. Ich bin mir sicher,
dass er für seine neue Aufgabe die Unterstützung des
ganzen Hauses braucht, verdient hat und auch bekommt.
({3})
Die Menschenrechte haben einen eigenen Platz im Parlament, und sie haben einen eigenen Platz in der Außenpolitik. Im Grunde sind sie die Grundlage der Außenpolitik. Außenpolitik - und nicht nur sie - muss wertebasiert
sein, nämlich auf der Grundlage der Menschenrechte.
Ansonsten verkommt sie zur reinen Machtpolitik ohne
Kompass. Ich finde, dass der Koalitionsvertrag eine gute
Grundlage für die Menschenrechtspolitik der nächsten
vier Jahre liefert.
({4})
Ich kann nur auf einige Punkte eingehen. Herr
Gehrcke, Sie haben durchaus recht mit Ihrer Betrachtung, dass es nicht sein kann, dass die einen für Fragen
der wirtschaftlichen Vernunft und die Sicherung der
Rohstoffversorgung zuständig sind und andere für die
Menschenrechte. Das muss zusammengehen. Das findet
man aber auch im Koalitionsvertrag. Wie das in den
nächsten vier Jahren mit dem Koalitionspartner ausgefüllt wird, wird man sehen. Aber wir haben uns klar dazu
bekannt, dass transnationale Unternehmen ihrer sozialen
und ökologischen Verantwortung ebenso wie ihrer Verantwortung im Bereich der Menschenrechte gerecht werden müssen. Wir haben uns klar dazu bekannt, dass die
UN-Leitprinzipien dazu in Deutschland übernommen
werden. Ich finde, das ist erst einmal eine gute Grundlage für die Arbeit der nächsten vier Jahre.
({5})
Ich finde es gut, dass wir uns in einem Punkt, in dem
hohe Übereinstimmung herrscht, noch einmal klar positioniert haben, nämlich gegen die Todesstrafe, die es in
einigen Ländern der Welt noch gibt. Wir setzen uns für
das Verbot der Folter, aber auch für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ein.
({6})
Wir sind gerade dabei, die Länder, die mit uns gemeinsame Werte teilen, dazu aufzufordern. Ich finde es unerträglich - das sage ich an dieser Stelle deutlich, und das
muss geändert werden -, dass es gerade auch in entwickelten Staaten wie den USA und Japan weiterhin die
Todesstrafe gibt. Die ganze Kraft dieses Parlaments und
Deutschlands muss in den nächsten Jahren für den
Kampf dagegen eingesetzt werden.
({7})
Ich will zumindest erwähnen, dass wir mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte eine hochanerkannte
Institution haben und dass wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben, dass dieses Institut nach den Pariser Prinzipien unabhängig und sicher finanziert werden muss.
Lassen Sie mich noch etwas zu der Institution in
Europa sagen, die für den Schutz der Menschenrechte
steht. Das ist der Europarat. Ich gehöre ihm seit nunmehr
knapp zwei Jahren an. Was ich dort manchmal erlebe,
lässt mich daran zweifeln, ob nicht auch in dieser Institution mittlerweile ökonomische Interessen überhandgenommen haben über den klaren Willen, sich für Menschenrechte einzusetzen. Ich glaube, das wird ein großes
Thema in den nächsten vier Jahren werden. Umso wichtiger wäre es, an dieser Stelle mit einer neuen Generalsekretärin Zeichen zu setzen, nicht nur weil sie aus
Deutschland kommt, sondern weil sie wirklich für eine
engagierte Menschenrechtspolitik steht. Ich glaube, es
ist gut und richtig, dass nicht nur die alte und die neue
Bundesregierung, sondern das ganze Haus hinter der
Kandidatur von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
stehen.
({8})
Zum Schluss. Menschenrechte woanders einzufordern, ist im Zweifel einfach und wohlfeil. Es ist aber
auch wichtig, sie im unmittelbaren Lebensumfeld vorzuleben. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, wie wir
über Menschen reden und dass die Würde von Menschen
gewahrt bleibt. Gerade manche Debatten über Men606
schen, die zu uns kommen, in den letzten Wochen haben
mich durchaus zum Nachdenken gebracht. Ich will hier
kein Scharfmacher sein, sondern bitte lediglich alle Abgeordneten dieses Parlaments, mit gutem Beispiel voranzugehen und darüber nachzudenken, welche Formulierungen zu wählen sind, damit die Würde von Menschen
geschützt werden kann.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege
Dr. Diether Dehm das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Damen und Herren! Gestern starb
der große Pete Seeger. Sein Leben steht für sozialen Kampf
und Versöhnung. Er wurde als Kommunist verfolgt. Dieser
Amerikaner, dessen Familie aus Deutschland einst emigrieren musste, hat, als er Marlene Dietrich sein Lied
Sag mir, wo die Blumen sind gab, mehr vom europäischen Traum des Friedens begriffen als jener Herr, der
hier am Mikrofon herumtriumphierte, in der EU werde
endlich wieder deutsch gesprochen. Dieses „Deutsch“
der sozialen Kälte gellt nicht nur den griechischen Rentnern und den jungen Arbeitslosen in Südeuropa in den
Ohren, sondern auch der alleinerziehenden Hartz-IVEmpfängerin seit der unwürdigen EU-Agenda 2010. Solange es in den EU-Vertragsgrundlagen keine soziale
Fortschrittsklausel gibt und nur die Grundfreiheiten des
Kapitals einklagbar sind, geht der Krieg gegen Sozialstaat und Tariflöhne ungehemmt weiter.
({0})
Den Eliten - das sagte heute Nacht sogar Barack Obama
- geht es so gut wie nie zuvor. Aber die Kaufkraft „unten“ schwindet dahin, und das bringt den nächsten Schub
für eine Krise. Und was machen die Verträge der EU?
Sie zwingen in Art. 42 EUV die Staaten zur Aufrüstung
und verbieten in Art. 63 AEUV, dass Kapitalverkehr
kontrolliert wird. Die Linke möchte Abrüstung und
auch, dass Kapital kontrolliert wird.
({1})
Das Freihandelsabkommen, das Sie unter strengster
Geheimhaltung mit den USA planen, erlaubt zwar der
Deutschen Bank, die strengere amerikanische Bankenaufsicht auszuhebeln, und dem US-Konzern Monsanto,
sich vor einem Schiedsgericht einen Persilschein für
seine Umweltverbrechen abzuholen. Aber die Arbeitenden in Europa und den USA werden dabei noch mehr
zum Spielball der Konzerne und Banken. So machen Sie
aus der Europäischen Union eine antieuropäische Union.
Die Linke sagt: Eine europäische Integration kann nur
sozial gelingen.
({2})
Nach dem Faschismus 1945 wurde kapitalistische
Macht, mit der Hitler hochfinanziert wurde, in vielen
Verfassungen eingegrenzt, in der italienischen und auch
in der deutschen. Nach dem Faschismus in Portugal, der
jetzt vor 40 Jahren überwiegend von Linken niedergekämpft wurde, gab es eine soziale Verfassung, aufgrund
derer jüngst der portugiesische Staatsgerichtshof die drakonischsten Troika-Brutalitäten für unwirksam erklärt
hat. Herr Henkel von der AfD, der früher Frau Merkel
unterstützt hat, will zurück zur D-Mark, und Frau
Merkel hält an der EU fest, so wie sie ist. Aber beide,
Henkel und Merkel, wollen einen EU-Wettlauf darum,
wo das Kapital am wenigsten besteuert wird, wo die
Löhne am meisten sinken, wo die Arbeitslosigkeit am
gefügigsten macht, wo der Sozialstaat am meisten leidet
und wo Demokratie dem Finanzmarkt am besten unterworfen wird.
Wir Linke halten an den fortschrittlichsten, erkämpften Standards in Portugal, Griechenland und auch in unserem Grundgesetz fest; denn nur durch radikal-demokratische Änderungen kann aus der EU ein europäisches
Projekt des inneren und äußeren Friedens werden - im
Geiste des schönen Pete-Seeger-Songs We shall overcome.
({3})
Der Kollege Thomas Strobl hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Tagen hat uns von diesem Rednerpult aus
ein 95-jähriger Mann, der russische Schriftsteller Daniil
Granin, tief berührt. Er hat von der zweieinhalbjährigen
Belagerung Leningrads vor 70 Jahren berichtet, von fast
900 Tagen Verzweiflung, Angst, Tod, Hoffnungslosigkeit und Grauen für Tausende von Familien und Kindern. Das hat uns berührt und bewegt.
Dass wir 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs und 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, nach dem Grauen in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, auf diesem Kontinent den Krieg nicht
mehr fürchten müssen, hat mit einem politischen Konstrukt zu tun, das zu Beginn der zweiten Hälfte jenes
Jahrhunderts erfunden wurde und das uns natürlich heute
und in Zukunft sehr beschäftigt, weil es unvollendet ist,
und das heißt Europa. Wir sollten diesen Gedanken bei
allen Diskussionen um Euro, um Finanzkrise, um Schuldenkrise, um Armutszuwanderung und anderes mehr,
wenn wir also über Europapolitik hier im Deutschen
Bundestag sprechen, nicht vergessen.
({0})
Apropos Krise: Gestern gab mir ein wohlmeinender
Mitbürger, ein Wirtschaftsberater, den Rat, die Regierung könne doch die Finanz- und Schuldenkrise in Europa einfach für beendet erklären. Das wäre doch auch
mit Blick auf den 25. Mai, den Europawahltag, eine gute
Sache. Nun, für die Wahl könnte es, Herr Bundesaußenminister, vielleicht helfen, aber es wäre nicht wahr; denn
die Krise ist keinesfalls überstanden.
Thomas Strobl ({1})
Was wir sehen können, ist: Der Weg, den wir gemeinsam in den letzten Jahren gegangen sind, ist richtig; denn
wir kommen voran. Griechenland hat aller Voraussicht
nach im Jahr 2013 einen primären Haushaltsüberschuss
erwirtschaftet. Fast die Hälfte davon hat Athen aus eigener Kraft geschafft. Irland konnte bereits im vergangenen Jahr den Rettungsschirm verlassen. Irland ist an den
Markt zurückgekehrt und kann sich inzwischen wieder
selbst mit Geld refinanzieren. Spanien ist seit dem 1. Januar nicht mehr auf den Rettungsschirm angewiesen. Im
Übrigen ist die Zahl der Arbeitslosen - das finde ich besonders erfreulich - im Dezember des vergangenen Jahres in Spanien signifikant gesunken. Auch in Portugal
steigt die Anzahl der Beschäftigten.
({2})
In Italien gewinnen die Märkte wieder Vertrauen. Es
geht zumindest aufwärts. Die Richtung stimmt.
({3})
Man sieht also, dass wir mit der Stabilisierung vorankommen. Dabei zahlt es sich vor allem aus, dass wir im
Gegenzug für die Hilfe umfangreiche Sparmaßnahmen
und Reformen in den Ländern mit Problemen verlangt
haben. Die Beseitigung der Ursachen der Krise war uns
immer wichtig und hat sich als richtig herausgestellt,
auch wenn das ein schwieriger Weg ist.
Doch die Ruhe ist eine trügerische. Niemand darf sich
ausruhen, und die Partner dürfen auch nicht müde werden, den Weg der Reformen voranzugehen. Dann sind
wir weiter bereit, sie auf dem Weg der Konsolidierung
zu unterstützen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass dies, jedenfalls inzwischen, eine breite Mehrheit in diesem
Haus so sieht. Solidarität nur bei Solidität; Unterstützung bedarf auch der eigenen Anstrengung. Das sind
zwei Seiten einer Medaille, und das muss auch in Zukunft so bleiben.
({4})
Wenn man allerdings Auflagen vereinbart und Reformen fordert, dann gehört dazu, dass es für die Umsetzung dieser Reformen auch eine wirksame Kontrolle
gibt. Für diese Kontrolle haben wir gemeinsam mit dem
Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission ein Expertengremium geschaffen, das sich Troika nennt. Dieses
Gremium ist in letzter Zeit für das, was es tut, vor allem
von der europäischen Linken stark angegriffen worden.
Manche finden, es sei undemokratisch, was die Troika
tut.
({5})
Ich kann das, ehrlich gesagt, überhaupt nicht verstehen. Denn die Troika unterbreitet nach intensiven Beratungen mit den Reformländern Empfehlungen. Bevor sie
umgesetzt werden, werden diese Empfehlungen immer
in den nationalen Parlamenten beschlossen.
({6})
Ohne die Zustimmung der nationalen Parlamente passiert überhaupt nichts. Das gilt im Übrigen auch für die
Garantieländer. Schließlich beschließen auch wir, der
Deutsche Bundestag, jede Hilfsmaßnahme, jede Auszahlungstranche, jede Bürgschaft. Insofern kann an der demokratischen Legitimation dieser Vorgehensweise nicht
der geringste Zweifel bestehen.
({7})
Der Vorwurf, die Troika sei undemokratisch, ist absurd,
und er ist auch gefährlich; denn er arbeitet den Extremisten und den Gegnern Europas in die Hände. Deswegen
weisen wir ihn ausdrücklich zurück.
({8})
Die Tatsache, dass die Empfehlungen der Troika unbequem sind, ändert daran im Übrigen nichts. Wir werden
auch weiterhin den Mut zur Unbequemlichkeit haben. Es
wäre leichter gewesen, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Europas etwa durch eine Vergemeinschaftung
der Schulden, durch Euro-Bonds, zu verdecken, so wie
dies die politische Linke immer gefordert hat und heute
noch fordert. Aber das ist nicht unser Weg.
Wir haben den Mut, an Europa festzuhalten, weil wir
wissen, dass Europa unsere Zukunft ist. Das heißt im
Übrigen nicht, dass Europa sich um alles Mögliche kümmern muss. Etwa für die Betreuung von Kindern sind bei
uns die Kommunen und Länder zuständig. Die berufliche Bildung, der Meisterbrief und das Elterngeld gehören in die nationale Souveränität. Ich weise auch auf die
Tatsache hin, dass wir in Deutschland einen Exportüberschuss haben; nach den dieser Tage bekannt gewordenen
Zahlen sind wir wieder Exportweltmeister. Das muss die
Europäische Kommission jetzt nicht tiefer beschäftigen.
Man macht Europa nicht dadurch stark, dass man die
Starken schwächer macht. Wir wollen vielmehr, dass die
Schwachen in Europa stark werden.
({9})
Gestern hat ein Vertreter der EU-Kommission hier im
Deutschen Bundestag beklagt, in Deutschland werde zu
viel gespart. Die Kommission wolle sich jetzt der Thematik widmen, warum die Unternehmen in Deutschland
so viel sparten und zu wenig investierten. Also gab es
auch hierzu ein klares Wort: Wir freuen uns über die
hohe Eigenkapitalausstattung unserer Unternehmen. Das
ist im Übrigen nicht zuletzt wegen der EU eine Voraussetzung, um Kredite für Investitionen zu erhalten. Es ist
auch klar: Unsere Familienbetriebe, unsere Mittelständler, unsere Unternehmer wissen besser als die Beamten
in der EU-Kommission, wie sie mit ihrem Geld umgehen, wann und wo sie investieren. Damit muss sich
Brüssel nicht beschäftigen.
({10})
Thomas Strobl ({11})
In anderen Bereichen wollen und brauchen wir mehr
Europa.
({12})
Klimaschutzprobleme sind nicht national lösbar. Auch
im Hinblick auf die Energiepolitik - Leitungstrassen,
Speicherkapazitäten und anderes mehr - brauchen wir
sicher mehr Europa. Da dürfen wir uns auch an unsere
eigene deutsche Nase fassen, weil wir in einem Land leben, in dem der Bund die Kompetenz für die Energiepolitik hat, aber jedenfalls manche der 16 Bundesländer
glauben, ihre eigene Energiewende gestalten zu müssen.
({13})
Ich glaube im Übrigen, dass wir eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Wir brauchen
eines Tages keine nationalen Armeen mehr, nicht in
Deutschland, nicht in Frankreich, nicht in Großbritannien;
({14})
wir brauchen eine gemeinsame europäische „Operative“,
die vermutlich eher eine Polizeieinheit als eine klassische Armee sein wird.
({15})
Das würde uns den gleichen Sicherheitsgewinn bringen
und würde Milliarden an Einsparungen bringen. Es
würde Geld frei, das wir in Europa für andere Dinge gut
verwenden könnten.
({16})
Ich will einmal absehen von den Themen „Euro“,
„Schulden“, „Finanzen“, „Geld“ und mit einem Satz
schließen, den Bundestagspräsident Lammert gesagt hat:
„Europa ist mehr als der Euro.“ - Und das ist auch wahr:
Europa ist vor allem eine Wertegemeinschaft, gegründet
auf dem christlichen Bild vom Menschen. So unterschiedlich Italiener, Spanier, Deutsche, Griechen, Iren,
Franzosen sind ({17})
aus diesem Bild leiten wir den Gedanken der Freiheit
und der Menschenwürde ab. Darauf gründet alles, was
unser Zusammenleben in Europa ausmacht. Aus diesem
Gedanken leiten wir ein politisches System namens
parlamentarische Demokratie ab, ein Wirtschaftssystem
namens soziale Marktwirtschaft, beruhend auf der Freiheit. Daraus leiten wir die Menschenwürde ab, die
Gleichheit von Mann und Frau, das Verbot der Diskriminierung von Behinderten
Kollege Strobl, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie der Kollegin Steinbach die Redezeit wegnehmen.
- ich bin sofort zu Ende -, die Toleranz
({0})
- ich werde sofort zum Ende kommen
Die Präsidentin kämpft für die Rechte aller Abgeordneten.
- gegenüber Andersdenkenden. Diese Werte zu bewahren, darum geht es auch in den nächsten vier Jahren.
Auch daran habe ich gedacht, als vor zwei Tagen der 95jährige russische Schriftsteller Daniil Granin hier am
Rednerpult stand und mich mit seinen Worten so sehr
berührt hat.
({0})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Erika Steinbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutsche Europa- und deutsche Außenpolitik ist immer
auch Menschenrechtspolitik gewesen und wird es auch
in Zukunft sein. Unsere Große Koalition hat sich dem
- das können Sie im Koalitionsvertrag nachlesen - sehr
nachdrücklich verpflichtet.
Wir sehen heute, dass in erschreckend vielen Ländern
der Erde Menschenrechte zunehmend keine Heimstatt
mehr haben. Aber mit Krieg und mit Gewalt lassen sich
diese für Menschen elementaren Grundlagen nicht verbessern und Unrechtssysteme nicht beheben. Wir brauchen engagierte Diplomatie. Ich freue mich, dass wir in
der Großen Koalition in diesen schwierigen Zeiten mit
Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen sehr erfahrenen Diplomaten haben.
({0})
Er hat hervorgehoben, dass wir Diplomatie gerade jetzt
brauchen.
Eines ist aber auch zwingend nötig: Wir müssen als
Parlamentarier, als Bundesregierung Defizite immer und
immer wieder ansprechen und alle Möglichkeiten
nutzen, Menschenrechtsverletzungen geradezu schlaglichtartig zu beleuchten. Das sensibilisiert am Ende, das
prangert die Täter an, macht sie vielleicht auch nachdenklich.
Gute Gelegenheiten, eine große Öffentlichkeit für
Menschenrechtsanliegen zu interessieren - viele Menschen im Lande bewegt es gar nicht, wenn es Defizite
gibt -, sie zu mobilisieren, sind immer auch sportliche
Großereignisse. Ob Fußballweltmeisterschaften oder
Olympische Spiele - da schauen alle Menschen hin. Die
Winterolympiade in Russland macht das sehr deutlich.
Schon im Vorfeld dieser Olympiade werden schlaglichtartig zahlreiche Menschenrechtsdefizite in Russland
immer wieder benannt und einer großen Öffentlichkeit
bekannt gemacht. Zuvor hatten nur Nichtregierungsorganisationen, die interessierten Politiker, die dafür verantwortlichen Fachkollegen Interesse an der Thematik.
Heute geht es über die Bildschirme, und es werden viele
auf Defizite gestoßen, von denen sie keine Ahnung
hatten. Vor dem Hintergrund ist es, wie ich glaube, auch
gut, wenn sportliche Großereignisse immer wieder einmal auch in diesen Ländern stattfinden, seien es die
Olympischen Spiele damals in China oder jetzt in Russland oder demnächst die Fußballweltmeisterschaft in
Katar, weil wir so die Gelegenheit nutzen können,
schlaglichtartig zu beleuchten, was mit den Menschenrechten dort geschieht.
({1})
Ein Kernanliegen unserer Menschenrechtspolitik ist
das elementare Menschenrecht der Religionsfreiheit.
Religion ist ja für Milliarden von Menschen elementarer
Teil der Identität. Mit großer Sorge sehen wir die Entwicklung sowohl in Afrika als auch im Vorderen Orient.
Wir müssen leider erkennen, dass es dort Schlachtfelder
der Religion gibt. Häufig ist Religion ein willkommener
Vorwand für aggressive und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Volksgruppen, und in Regionen, in
denen über lange Zeiträume hinweg die Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit in friedlichem Miteinander oder wenigstens friedlich nebeneinander gelebt
haben, herrscht heute Mord und Totschlag. Im Nahen
und Mittleren Osten sehen wir das aggressive Gegeneinander von Schiiten gegen Sunniten, von Sunniten gegen
Schiiten oder Aleviten. Dazwischen werden die Christen
zerrieben. Muslime in Afrika morden Christen, und
Christen morden Muslime. All das macht deutlich: Da
hat sich etwas entwickelt, was für uns sehr beklemmend
ist. Deutschland und Europa haben das im Dreißigjährigen Krieg erlebt: Katholiken gegen Evangelische, Evangelische gegen Katholiken. Wir wissen, was Religion für
eine zerstörerische Gewalt entfacht hat und entfachen
kann, wenn sie missbraucht wird, um Machtansprüche
zu manifestieren oder Gruppen gegeneinander zu hetzen.
Religiöse Toleranz ist die unverzichtbare Grundlage
für ein friedliches Miteinander von Volksgruppen. Mit
gutem Beispiel - das ist endlich auch einmal ein Lichtblick - geht Tunesien, einst das Ursprungsland des sogenannten Arabischen Frühlings, ein Frühling, der ja
inzwischen für viele Regionen zum Winter der
Menschenrechte geworden ist, voran. Mit der Verabschiedung der neuen tunesischen Verfassung, in der
Religions- und Gewissensfreiheit sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter verankert sind, wurde eine
beachtliche Grundlage für eine gute Zukunft geschaffen.
({2})
Wir können daran mitwirken und sollten alles dafür tun,
damit das, was dort niedergeschrieben ist, jetzt auch eine
Chance hat, Realität zu werden und in das alltägliche Leben eingebracht zu werden.
In Europa selbst sehen wir für das Freiheitsbedürfnis
der Ukrainer - ich sage es einmal so - einen ganz
schmalen Lichtstreif am Horizont. Die Demonstranten
haben erreicht, dass der Regierungschef Asarow mit seinem gesamten Kabinett zurückgetreten ist. Das ukrainische Parlament hat die sogenannten Diktaturgesetze vom
16. Januar wieder aufgehoben. Wir wollen, wir müssen,
wir sollen den Dialog mit den Demonstranten, mit der
Ukraine selbst, aber auch mit Russland führen, um dazu
beizutragen, dass die Ukraine den Kontakt zur Europäischen Union weder aufgibt noch verliert noch unter
Druck gesetzt werden kann, ihn aufzugeben. Es ist aber
noch ein weiter Weg. Der Außenminister hat darauf hingewiesen. Die Gefahren sind noch längst nicht gebannt,
vielmehr ist noch harte Arbeit zu leisten.
Kollegin Steinbach, es tut mir wirklich leid: Auch
wenn die Kollegin Beck jetzt versucht, mit einer
Zwischenfrage Ihre schon überzogene Redezeit zu verlängern - ich habe dabei noch nicht einmal die Zeit abgezogen, die der Kollege Strobl hier überzogen hat -,
bitte ich Sie, jetzt zum Schluss zu kommen.
Ich komme selbstverständlich gerne zum Schluss,
Frau Präsidentin.
Auch in Deutschland haben wir eine große Aufgabe
zu bewältigen. Wir haben nämlich hier im eigenen
Lande dafür zu sorgen, dass Menschenhandel und
Zwangsprostitution erfolgreich unterbunden werden.
Was sich hier abspielt, ist eine Schande für dieses Land.
Wir sind ein Eldorado für Menschenhändler geworden.
Das darf nicht so bleiben. Wir haben in der Großen
Koalition gemeinsam beschlossen, das zu unterbinden.
Danke schön.
({0})
Wir sind damit am Schluss dieses Debattenteils.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung
der integrierten Luftverteidigung der
NATO auf Ersuchen der Türkei und auf
Grundlage des Rechts auf kollektive
Selbstverteidigung ({1}) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012
Drucksachen 18/262, 18/347
Abgeordnete Philipp MißfelderNiels AnnenSevim DağdelenOmid Nouripour
- Bericht des Haushaltsausschusses ({0}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/382
Berichterstattung:Abgeordnete Alois KarlDoris BarnettMichael LeutertDr. Tobias Lindner
Ich mache Sie jetzt schon darauf aufmerksam, dass
wir über die Beschlussempfehlung später namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es vorwegzusagen: Die Verlängerung des PatriotMandats wird den Bürgerkrieg in Syrien weder beenden
noch anfeuern. Es geht in erster Linie um einen Beitrag
im Bündnis und um den Versuch, einen ohnehin entfesselten und enthemmten Krieg nicht weiter zu entgrenzen
- nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir glauben, dass
das Mandat, das die Bundesregierung hier vorgelegt hat,
verantwortbar ist, weil es defensiv ist bzw. weil es - wie
wir es in den 70er-Jahren im Rahmen des Ost-WestKonflikts manchmal diskutiert haben - nicht angriffsfähig ist. Es erteilt sozusagen aus unserer Verantwortung
heraus einen defensiven Auftrag. Es wirkt nicht in den
syrischen Luftraum, es leistet keiner Flugverbotszone
Vorschub, und es enthält eine Zusammenarbeit mit anderen Partnern. Nicht zuletzt: Es wirkt im Bündnis.
Wenn wir - einige Tausende Kilometer entfernt glauben, die Bedrohung sei nicht existenziell für die
Türkei, so möchte ich daran erinnern, dass in diesem
Bürgerkrieg 600 bis 700 Mittelstreckenraketen dem Regime in Syrien zur Verfügung stehen. Dieses Regime hat
die Mittelstreckenraketen auch schon eingesetzt. Da die
Bedrohung in unmittelbarer Umgebung so wahrgenommen wird und da wir in Deutschland um einen Beitrag
zusammen mit den Niederlanden und den USA gebeten
werden, ist das eine akzeptable Maßnahme innerhalb des
Bündnisses, von dem auch Deutschland profitiert hat.
Wir sollten uns weiterhin auch Folgendes deutlich
machen: Diese Patriot-Einheiten verteidigen keine Regierung, keine politischen Handlungen, sondern Flüchtlinge, deren Helfer und letztlich die Menschen, die in
diesem Gebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze
wohnen. Es soll durch Abschreckung geschützt werden.
Zumindest hat dies in den letzten Monaten funktioniert.
Dass sich die Bundeswehr daran beteiligt hat, ist auch
diesem Mandat letztlich geschuldet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein
Zweifel: Die Türkei ist direkt und indirekt in diesen
Konflikt involviert - im Guten wie im Schlechten. Von
dieser Stelle muss gerade der Türkei, den Hilfsorganisationen und insbesondere den Menschen, die in diesem
Gebiet Flüchtlinge aufgenommen haben, gedankt werden für die humanitäre Hilfe für die vielen Tausend
Flüchtlinge, die aus dem Bürgerkriegsgebiet in die Türkei geflohen sind.
({0})
Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dağdelen?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege Mützenich. - Herr Kollege Mützenich, Sie
haben gesagt, dass dieses Mandat ein verantwortbares
Mandat ist und dass es dazu da ist, besonders Flüchtlinge
an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien zu
schützen.
Ich möchte Sie aber auf einen Punkt hinweisen. In
dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung dieses
Einsatzes der Bundeswehr steht im zweiten Absatz unter
„Völkerrechtliche Grundlagen“, dass auf Antrag der
Türkei im Nordatlantikrat am 26. Juni und am 3. Oktober 2012 Konsultationen stattgefunden haben aufgrund
zweier Ereignisse. Aufgrund dieser zwei Konsultationen
hat die NATO beschlossen, dass es diesen Einsatz geben
soll. - Können Sie mir bis hierhin folgen?
({0})
Die Begründungen - ({1})
- Er hat so grimmig geguckt. Deshalb frage ich, ob er
mir überhaupt folgen kann.
Dies steht im Antrag der Bundesregierung, den Sie
höchstwahrscheinlich gelesen haben. Die Begründungen
der Entsendung von Patriots sind aber nicht haltbar. Auf
Antrag der Türkei fanden zwei NATO-Konsultationen
statt. Die erste befasste sich mit dem Abschuss eines türkischen Militärflugzeugs durch die Syrer, die zweite
Konsultation mit dem Granatbeschuss der Syrer RichSevim Dağdelen
tung Türkei. Das steht in dem Antrag der Bundesregierung. Diese Begründungen sind schlicht nicht haltbar,
Herr Kollege, weil sich herausgestellt hat, dass in einem
geheimen NATO-Bericht - diesen Bericht legt die Bundesregierung bisher nicht vor - steht, dass diese türkische Version nicht stimmt. Deshalb frage ich Sie, Herr
Kollege: Wie kommen Sie darauf, den Antrag zu unterstützen, obwohl in dem NATO-Bericht steht, dass die
Konsultationen, auf deren Grundlage dieser Einsatz
heute noch einmal beschlossen werden soll, uns Abgeordneten nicht wahrheitsgemäß vermittelt worden sind?
Wir sind getäuscht worden. Die International Crises
Group und die Stiftung „Wissenschaft und Politik“ haben gesagt, dass die Darstellung der Türkei falsch war.
Warum sagen Sie jetzt, dass dieser Antrag immer noch
auf der gleichen Grundlage im Bundestag bewilligt werden muss? Ich frage Sie, wenn sich der Anlass, der in
diesem Antrag zugrunde liegt, als unwahr erwiesen hat:
Was ist der eigentliche Sinn und Zweck dieses Einsatzes? Teilen Sie dem Bundestag und auch der Öffentlichkeit mit, warum Sie dem AKP-Regime unter dem autoritären Führer Erdoğan mit dem Einsatz von Patriots zur
Seite stehen.
Ein kleinen Moment, Kollege Mützenich. Ich habe
die Uhr inzwischen angehalten.
Das ist gut so.
({0})
Ich bitte nur darum, bei weiteren Debatten und Zwischenfragen nicht den Umstand auszunutzen, dass wir
zwischendurch einen kleinen Technikausfall hatten und
daher die Zeit für eine Bemerkung oder Frage nicht messen konnten, und die Redezeit zu überschreiten. Ich bitte
um die gebotene Kürze, damit wir die Debattenzeit auf
diese Art und Weise nicht verdoppeln. Ich denke, wir
sind alle fähig, den Sachverhalt zu erläutern und eine
Frage zu stellen.
Kollege Mützenich, Sie haben das Wort für die Antwort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich halte es auch für
angemessen; denn wir führen hier eine ernste Debatte
über die Verlängerung von Mandaten, bei denen wir die
Bundeswehr in Regionen schicken, in denen Krisensituationen herrschen.
Deswegen vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie mir
diese langen Zusammenhänge und Fragen zutrauen. Ich
bin Ihren Ausführungen schon gefolgt.
({0})
Der entscheidende Punkt, den ich versucht habe Ihnen
am Anfang deutlich zu machen, war, dass dieses Mandat, als es damals hier in den Deutschen Bundestag eingebracht worden ist, einen allein defensiven Charakter
hatte, dass es keine provokativen Elemente gegenüber
dem syrischen Regime hatte. In diesem Zeitraum mussten wir immer wieder erleben, dass in Syrien Mittelstreckenraketen von der dortigen Armee eingesetzt wurden.
Ich glaube, dass die Bedrohung existenziell zu diesem
Zeitpunkt gewesen ist, wie sie es auch heute ist. Wenn
Sie berücksichtigen, dass es 600 bis 700 Mittelstreckenraketen in Syrien gibt und dort ein entfesselter Krieg
- mit 130 000 Toten - stattfindet, angesichts dessen
9,3 Millionen Menschen in Syrien auf Hilfe angewiesen
sind und es 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge und
2,4 Millionen Flüchtlinge gibt, die unter anderem in die
Türkei gehen, dann erkennen Sie, welche Krisen sich aus
dieser Situation entwickeln können, die sich letztlich
auch auf die Türkei auswirken. Deswegen mache ich es
noch einmal sehr deutlich: Dies ist ein defensiver Auftrag. In dem Mandat der Bundesregierung steht nichts
von der AKP-Regierung, die Sie hier eben benannt haben.
Wenn Sie einen Geheimbericht haben, den Sie uns,
den Kolleginnen und Kollegen, zukommen lassen wollen, haben wir, glaube ich, genügend Gelegenheit, im
Auswärtigen Ausschuss darüber zu reden.
({1})
Ich bin mir nicht sicher, warum wir ihn nicht mit Ihrer
Hilfe bei den Beratungen im Auswärtigen Ausschuss
einsehen konnten. Das wäre hilfreich gewesen.
({2})
Es macht keinen Sinn, wenn hier nur etwas von einem
Bericht behauptet wird. Dann besteht letztlich keine
Möglichkeit, ihn in die Beratung dieser Fragen einzubeziehen.
Ich würde gerne noch sagen - wenn Sie, Frau Präsidentin, es erlauben -: Sie sollten sich auch die Frage
stellen, ob es manchmal nicht besser ist, einen Partner
durch eigene Beiträge im Bündnis zu halten und an der
Politik zu beteiligen. Sie unterstellen der AKP-Regierung ja eine Menge.
({3})
Stellen Sie sich nicht die Frage, ob es nicht möglicherweise hilfreich ist, einen Beitrag zu leisten, wenn ein
Bündnispartner Hilfe erbittet, um ihn auf diese Weise
eng an die Politik zu binden, die in den letzten Wochen
und Monaten in Montreux und Genf verfolgt wurde?
Wir versuchen nämlich, die falsche Politik in dieser Region, die auch die AKP-Regierung mit zu verantworten
hat, zu korrigieren.
({4})
Darauf würde ich gerne im Laufe meiner Redezeit, die
mir noch zur Verfügung steht, zu sprechen kommen.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was Sie von
der Linksfraktion immer wieder übersehen, ist, dass solche Mandate in einen politischen Handlungsrahmen eingebettet sind. Wir haben gerade eine Generaldebatte
über die Außen- und Sicherheitspolitik geführt. Der Außenminister hat hier betont, welche aktive Rolle diese
Bundesregierung in den letzten Wochen gerade auch bei
der zivilen und politischen Bearbeitung des Bürgerkrieges in Syrien gespielt hat. Diesen Beitrag, diese diplomatischen Bemühungen - ich hoffe, da spreche ich für
das gesamte Haus - sollte Deutschland weiterhin erbringen.
Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung innerhalb weniger Tage eine frühere Entscheidung korrigiert
hat - ich hätte es mir schon früher gewünscht -: Sie hat
zugesagt, die Restbestände an chemischen Waffen, die
das syrische Regime eingesetzt hat, in Deutschland zu
vernichten. Ich finde, das ist ein exzellenter Beitrag, den
wir mit den Mitteln und Instrumenten, die in Deutschland auch aufgrund des Ost-West-Konflikts und der
Hilfe bei der Zerstörung der libyschen Chemiewaffen
vorgehalten werden, leisten können.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch im Hinblick auf die Haushaltsberatungen betonen, wie wichtig
in Zukunft zum Beispiel das Kapitel zu Abrüstung und
Rüstungskontrolle sein wird. Wir, das Parlament - auch
wir Sozialdemokraten -, werden sehr selbstbewusst darauf achten, dass entsprechende finanzielle Mittel vorgehalten werden, damit immer wieder ad hoc auf bestimmte Situationen reagiert werden kann und wir
unseren Beitrag zu Abrüstung und Rüstungskontrolle
leisten können. Damit besteht letztendlich die Möglichkeit, auf die entsprechenden Länder einzuwirken.
Kollege Mützenich, ich habe gerade wieder die Uhr
angehalten, um Sie zu fragen, ob Sie dem Kollegen van
Aken eine Bemerkung oder Frage gestatten.
({0})
Bitte.
({0})
Herr Mützenich, Sie haben gerade eben gesagt - es
war nur ein kleiner Halbsatz -, dass auch die syrische
Regierung Chemiewaffen eingesetzt hat. Sie wissen,
dass Sie nicht wissen, wer sie eingesetzt hat. Sie wissen,
dass die UNO nicht weiß, wer diese Chemiewaffen eingesetzt hat. Ich frage Sie: Warum behaupten Sie das
hier?
Ich habe die gesamten Unterlagen dazu gelesen. Die
UNO sagt ausdrücklich, sie wisse nicht, wer es war. Ich
habe alle Anschuldigungen von Kerry und den USA gelesen, die nachweisen wollen, dass es das Assad-Regime
war. Ich habe früher bei der UNO in diesem Bereich gearbeitet und sage: All das, was die USA vorlegen, ist
ganz dünn. Ich habe auch die Unterlagen gesehen, die
Russland vorgelegt hat, um nachzuweisen, dass es die
Rebellen waren. Auch all das ist ganz dünn.
Ich möchte nur feststellen: Es gibt niemanden, der objektive Fakten darüber hat, wer diese Chemiewaffen eingesetzt hat. Ich frage Sie: Warum behaupten Sie hier,
ohne Belege zu haben, dass es das Regime war? Ich
möchte hier nur für Objektivität sorgen.
Dann möchte ich in diesem Atemzug noch eine Bemerkung machen: Wenn Sie schon erwähnen, dass es syrische Chemiewaffen gibt, müssten Sie auch dazusagen,
woher das syrische Regime unter Assad die Chemikalien
für die Herstellung von Sarin geliefert bekommen hat.
Sie kommen nämlich aus Deutschland.
({0})
Lieber Kollege van Aken, Sie wissen genauso gut wie
ich, dass der Versuch unternommen worden ist, durch
eine unabhängige Kommission auf der Grundlage eines
Beschlusses des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Überprüfungen durchzuführen. Viele der dadurch gewonnenen Indizien - und das verschweigen Sie in Ihrer
Frage -, deuten auf das syrische Regime hin.
({0})
Das betrifft sowohl die Substanzen als auch die Munition, die von dieser unabhängigen Expertengruppe gefunden worden sind. All das ist ein deutlicher Fingerzeig
auf dieses Regime. Ich glaube, es ist notwendig, das
noch einmal zu betonen.
Ich will Ihnen deutlich sagen: Wie in Ihrem Beitrag
zu diesem Mandat in der ersten Lesung zeigt sich auch
jetzt wieder, wie sehr Sie versuchen, Realitäten auszublenden. Sie haben zum Beispiel davon berichtet, dass
Sie in den kurdischen Gebieten in Syrien unterwegs gewesen sind. Daraus haben Sie in der ersten Lesung die
Schlussfolgerung gezogen, dass die Kurden in Genf und
Montreux eigentlich viel besser vertreten sein müssten.
Dabei haben Sie aber verschwiegen, dass viele Kurden,
auch in der Opposition, in Genf und in Montreux dabei
gewesen sind.
Letztlich fordern Sie ein Mandat für die in Syrien lebenden Kurden ein. Deswegen frage ich Sie: Denken
nicht auch Sie in Kategorien der Ethnisierung in Bezug
auf Konflikte und Konfliktbearbeitung? Ich finde, Sie
sollten sich dieser Realität stellen. Darauf kommt es in
einer seriösen Debatte an.
({1})
Zum Zweiten. Sie haben sehr stolz darüber berichtet,
dass Sie in den kurdischen Gebieten Syriens unterwegs
gewesen sind. Während ich Ihnen zugehört habe, habe
ich mich gefragt: Wie waren Sie denn dort unterwegs?
Hat Sie dort jemand beschützt? Mit Waffen? Ist dieses
Gebiet mit Waffen freigekämpft worden? Von dieser
Realität haben Sie hier nämlich nichts berichtet, weil Sie
immer nur einen kleinen Ausschnitt - vielleicht ist das
sogar provokativ gemeint - in die Debatte des Deutschen
Bundestages einbringen.
Ich finde, es gehört zu einer ehrlichen Debatte - und
ich hoffe, dass das in den nächsten vier Jahren der Fall
sein wird -, nicht ständig Realitäten auszublenden, insbesondere wenn es um internationale Konflikte geht.
Deswegen sage ich: Stellen Sie sich der Aufgabe, Realitäten zu benennen.
Es wäre sehr hilfreich, wenn wir es schaffen könnten,
Sie doch zu überzeugen, mit uns wenigstens über Einsätze auf der Grundlage von Kapitel VI der Charta der
Vereinten Nationen - hier geht es um friedliche Streitbeilegung - zu sprechen, wenn Sie schon nicht darüber
diskutieren wollen, Einsätze der Bundeswehr zu mandatieren. Vielleicht käme dadurch ein bisschen Bewegung
in die Diskussion. So könnten Sie sich den Realitäten annähern.
({2})
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass ich dem
Deutschen Bundestag durch die Zulassung der vielen
Zwischenfragen und letztlich auch durch die Antworten
darauf ein wenig Zeit gestohlen habe, aber ich finde
diese Auseinandersetzung sehr wichtig, und zwar nicht
nur in Bezug auf Mandate, sondern auch in Bezug auf
die Nutzung unserer diplomatischen Möglichkeiten.
Ich habe daran erinnert, wie sehr sich die Bundesregierung eingesetzt hat. Ich finde, dass von diesem Hause
aus auch ein Dankeschön an den Vermittler des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Herrn Brahimi, gehen
sollte,
({3})
der sich unermüdlich für diesen kleinen Erfolg im Bereich der humanitären Hilfe eingesetzt hat. Ich hoffe,
dass die Hilfe die Menschen in Homs oder an anderer
Stelle erreicht.
In der Tat ist es so - Kollege Schmidt hat darauf hingewiesen -, dass wir in Deutschland in den letzten Jahren gerade im Hinblick auf die Aufnahme von syrischen
Flüchtlingen wenig getan haben. 26 000 Flüchtlinge sind
bisher nach Deutschland gekommen. Ich glaube, es gibt
viele, die sich wünschen, dass im Rahmen des Kontingents, das Sie angesprochen haben, noch mehr zu uns
kommen.
Ich bin den syrischen Familien dankbar, die entweder
Bekannte, Freunde oder Verwandte trotz begrenzter
Möglichkeiten bei sich aufgenommen haben. Unsere
Aufgabe ist es nun, die Kommunen dabei zu unterstützen, für gute Bedingungen bei der Aufnahme der Flüchtlinge zu sorgen.
Mit diesem Mandat ist nicht nur der Einsatz der Bundeswehr verbunden, sondern auch diplomatische und humanitäre Aufgaben. Vielleicht können wir uns zumindest auf diesen Teil beziehen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als wir am Montag im Verteidigungsausschuss die Position der Linken zu den zwei Einsätzen im Mittelmeer
und an der türkisch-syrischen Grenze vorgetragen haben,
hat ein Kollege gesagt, unsere Argumente gegen diese
Einsätze seien unerträglich. Ich will Ihnen einmal sagen,
was für meine Fraktion und für mich unerträglich ist:
Erstens. Die Große Koalition hatte überhaupt nicht
vor, die Mandatsverlängerung hier im Parlament ordentlich zu beraten,
({0})
wie es das Parlamentsbeteiligungsgesetz vorschreibt.
Herr Mützenich, Sie fordern eine offene Debatte über
die Auslandseinsätze OAF und OAE; dabei wollten Sie
diese Debatte in einer Regierungserklärung verstecken.
Erst nachdem die Linke eine Geschäftsordnungsdebatte
beantragt hatte, war man bereit, die abschließende Lesung aus der Regierungserklärung herauszulösen und
über die Mandate einzeln zu debattieren.
({1})
Sie glauben - auch das muss man hier einmal sagen -,
dass Sie mit Ihrer großen Mehrheit hier machen können,
was Sie wollen. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen die
Linke nicht durchgehen lassen.
({2})
Zweitens. Ich will noch einmal festhalten, wie es zu
dem Einsatz deutscher Abwehrraketen an der türkischsyrischen Grenze gekommen ist. Der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien stellte nach Angaben der Türkei eine Gefahr für die territoriale Integrität des Landes dar. Vor allem Einschläge fehlgeleiteter Granaten auf dem
türkischen Territorium wurden als Grund genannt, die
NATO um Beistand zu bitten. Die Türkei selbst räumte
ein, dass die Granaten nicht auf ihr Land gerichtet gewesen seien. Es gab also keine konkrete Bedrohungslage.
Hinzu kommt, dass die Patriot-Raketen bei einem möglichen Einsatz von Chemiewaffen oder Granatenbeschuss
völlig wirkungslos sind. Das verdeutlicht, dass Sie unter
falschen Voraussetzungen einen Bundeswehreinsatz kreiert haben. Das ist aus unserer Sicht die falsche Antwort.
({3})
Drittens. Die Türkei ist Teil des Konflikts. Sie unterstützt radikale Aufständische, gewährt islamistischen
Gotteskriegern die Einreise über ihr Territorium und
lässt Waffenlieferungen aus den Golfstaaten die Grenze
passieren. Die Regierung in Ankara boykottiert jegliche
Versuche demokratischer Selbstverwaltung in den kurdischen Provinzen Syriens, indem sie die Grenzen abriegelt und selbst humanitäre Hilfe blockiert. Die Türkei
befördert somit Kriegshandlungen im Nachbarland und
beklagt sich dann über fehlgeleitete Granaten. Das ist
doch absurd.
({4})
Ich bitte Sie: Beenden Sie das Mandat. Ziehen wir die
deutschen Raketen ab.
({5})
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für einen Waffenstillstand und die friedliche Beendigung des
Bürgerkriegs in Syrien einzusetzen. Die Linke fordert
die Bundesregierung auf, sich beim Bündnispartner Türkei dafür einzusetzen, dass die Blockaden an den Grenzen aufgehoben werden, um humanitäre Hilfe und ganz
normalen Handel zu unterstützen.
({6})
Lassen Sie uns die knapp 20 Millionen Euro, die der
Patriot-Einsatz kosten würde, für Medikamente und notwendige Lebensmittel einsetzen. Das wäre humanitäre
Hilfe.
({7})
Raketen machen nicht satt, und sie bringen auch keinen
Frieden. Insofern - das ist unser Vorschlag - sollten wir
jetzt alle unser ganzes diplomatisches Geschick für ein
friedliches und demokratisches Syrien einsetzen.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat für die Unionsfraktion das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich nehme an, der
Kollege Kiesewetter freut sich darüber, dass Sie so zahlreich hier im Plenarsaal vertreten sind.
({0})
Es wäre aber schön, wenn Sie jetzt auch die Voraussetzung dafür schaffen würden, dass alle im Plenarsaal die
Beiträge des Kollegen Kiesewetter und der folgenden
Rednerinnen und Redner verfolgen können. Daher bitte
ich, notwendige Gespräche nach draußen zu verlagern. Bitte.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute mehrfach von einem Teil der Opposition gehört, dass wir Auslandseinsätze der
Bundeswehr beenden sollen. Wir haben mehrfach gehört, dass wir eine andere Sicherheitspolitik anstreben
sollen. Wir sollten das nicht als gebetsmühlenartig abtun, sondern wir sollten uns in unserer großen Mehrheit,
als Große Koalition bewusst sein, dass wir unsere Auslandseinsätze auf einem klaren sicherheitspolitischen
Fundament diskutieren und verabschieden. Wir müssen
uns im Klaren sein, dass wir die Sicherheitspolitik nicht
einer kleinen Gruppe von Fachleuten überlassen dürfen,
sondern als Große Koalition gemeinsam dafür stehen
müssen.
Deshalb bin ich auch sehr froh und dankbar, dass vor
dieser Debatte eine breite sicherheitspolitische Generaldebatte stattgefunden hat. Ich kann hier nur einigen Vorrednern, zum Beispiel Thomas Strobl, zustimmen, die
gesagt haben, dass Sicherheitspolitik in Wirtschaftspolitik, in Sozialpolitik und in Außenpolitik einzubetten ist.
Wenn wir uns jetzt mit dem Mandat Operation Active
Fence, also dem Schutz des Luftraums in der Türkei, beschäftigen, müssen wir uns im Klaren sein, dass wir dies
vor einem Jahr zum ersten Mal verabschiedet haben und
sich die Bedrohungslage nicht verändert hat. Die Türkei
hat aber in der Zwischenzeit 72 zivile Tote zu beklagen
und kümmert sich - sie übernimmt damit Solidarität für
viele Staaten Europas - um 800 000 Flüchtlinge auf dem
eigenen Territorium.
Der Einsatz Active Fence bleibt unverändert notwendig. Warum? Die Türkei verfügt über keine eigenen
Flugabwehrsysteme. Die Türkei hat kein Patriot-System.
Aber - das zeigt die Bündnissolidarität - Deutschland,
die USA und die Niederlande helfen der Türkei mit diesem System aus.
Worum geht es dabei? Es geht nicht darum, im Luftraum Syriens zu wirken, sondern es ist eine defensive
Maßnahme, die der NATO-Rat beschlossen hat und der
wir im Bundestag, glaube ich, einmütig zustimmen können. Es geht dabei darum, den Luftraum der Türkei zu
schützen. Syrien verfügt - Kollege Mützenich hat es
vorhin gesagt - über ballistische Raketen und setzt sie
im eigenen Land ein. Es ist ein Zeichen der Solidarität
Deutschlands, der Niederlande und der Vereinigten Staaten, Seite an Seite mit der Türkei ihren Luftraum zu
schützen.
({0})
Im Übrigen leistet Deutschland einen weiteren Beitrag, den wir hier ansprechen sollten. Der Einsatz wird ja
nicht von der Türkei, sondern aus Deutschland heraus
vom Air Command in Ramstein geführt. Das ist ein
NATO-Kommando auf deutschem Boden. Hier zeigen
wir, dass wir Teil dieser NATO-Operation sind, wir zeigen Bündnissolidarität und leisten auch mit Blick auf die
Kommandostrukturen der reformierten NATO einen
Beitrag.
Lassen Sie mich zum Abschluss auch das Übergeordnete ansprechen. Diese Operation ist in ein größeres Krisen- und Konfliktmanagement eingebettet. Kollege
Mützenich hat das sehr deutlich angesprochen. Wir
Deutschen leisten auch einen Beitrag im Bereich der humanitären Hilfe, der Übergangshilfen, der Krisenbewältigung und des Konfliktmanagements. Die Kosten unseres Einsatzes bei Active Fence betragen rund 20
Millionen Euro im Jahr, während die der humanitären
Hilfe, der Übergangshilfen, im Bereich des Konfliktmanagements und der zivilen Krisenprävention über 400
Millionen Euro jährlich betragen. Wir zeigen damit, dass
wir einen mehrfachen Beitrag leisten und uns mit einer
beispielhaften vernetzten Sicherheitspolitik für die Türkei einbringen. Dadurch werden wir auch unserem Koalitionsvertrag gerecht, in dem wir schreiben, dass wir
zivile und militärische Instrumente abgestimmt und vor
allen Dingen mit parlamentarischer Begleitung zum Einsatz bringen wollen.
Lassen Sie mich abschließend den zurzeit 400 deutschen Soldatinnen und Soldaten, aber auch unseren niederländischen und amerikanischen Bündnispartnern auf
türkischem Boden unsere Solidarität versichern und ihnen für ihren Einsatz danken. Ich werbe um Zustimmung
für das Mandat und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön.
({1})
Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Ich bitte noch einmal die Kolleginnen und Kollegen,
die schon im Saal sind und noch keinen Sitzplatz gefunden haben, sich jetzt bitte zu setzen oder notwendige Gespräche nach draußen zu verlegen. - Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir Grüne werden der Verlängerung des Mandats zur
Aufstellung der Patriot-Systeme in der Türkei aufgrund
der Verpflichtungen im Bündnis, weil die Kriegsgefahr
in der Region im letzten Jahr zumindest nicht gesunken
ist, zustimmen. Wir stimmen auch zu, weil das Mandat
aufgrund des Drucks von uns Grünen im letzten Jahr so
angepasst wurde, dass politische Manipulationen erschwert werden. Ich nenne als Beispiel die ausreichende
Distanz zur türkisch-syrischen Grenze.
Die Entsendung der Patriot-Einheiten darf aber nicht
den Blick auf die Krise in Syrien verstellen. Hier liegen
die Ursachen dafür, dass es notwendig ist, Abwehrsysteme zu stationieren. Hier müssen wir liefern, wenn das
Mandat ein Ende finden soll.
({0})
Am Montag sprach - Herr Strobl, Sie haben ihn erwähnt - Daniil Granin zu uns. Seine Schilderung der
Blockade von Leningrad hat mich sehr berührt. Als er
über das Elend der Kinder sprach, schnürte sich mir der
Hals zu. Ohne dass ich die deutschen Gräueltaten im
Zweiten Weltkrieg irgendwie relativieren wollte, muss
ich sagen, dass mir bei Herrn Granins Erinnerungen Bilder von Kindern und Frauen aus Homs in den Kopf kamen. Auch die syrische Stadt Homs wird seit Monaten,
seit Jahren belagert, beschossen, ausgehungert. Die
Menschen dort stehen ohne medizinische Versorgung da.
Zwei Drittel der Krankenhäuser sowie der Krankenwagen in Syrien sind zerstört. Die syrische Regierung verhindert die Lieferung medizinischer Hilfsgüter in Gebiete, die von den Oppositionellen kontrolliert werden.
Es gibt Bestrebungen, den Verantwortlichen für zehntausendfache Folter, Tod, Aushungern, für Jahrzehnte
der Unterdrückung - Baschar al-Assad - als die bessere
Alternative darzustellen. Das, meine Damen und Herren,
dürfen wir nicht durchgehen lassen. Hier muss Herr
Steinmeier ein klares Signal setzen.
({1})
Ich hätte mir gewünscht, dass es in den Genf-II-Verhandlungen einen Hoffnungsschimmer für Homs gibt;
aber trotz der Zusage des Assad-Regimes hat humanitäre
Hilfe Homs bis heute Nachmittag nicht erreicht. Stattdessen fordert das Regime heute, Frauen und Kinder von
den Männer zu trennen. Das ruft mir unweigerlich Srebrenica ins Gedächtnis: Die Frauen und Kinder haben
ihre Männer und Väter damals nie wieder gesehen. So
weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Das humanitäre
Völkerrecht ist nicht verhandelbar, es gilt für alle, ohne
Wenn und Aber.
({2})
Wir dürfen Assads Hinhaltetaktik nicht weiter dulden.
Seien wir doch ehrlich: Wenn der Zugang nach Homs
nicht bald gelingt, wird die Opposition am Verhandlungstisch nicht sitzen bleiben können, ohne jegliche
Glaubwürdigkeit innerhalb Syriens zu verlieren. Dann
wären die Verhandlungen erst einmal vorbei.
Herr Steinmeier ist in diesem Moment leider nicht da.
Ich möchte ihn fragen: Tun Sie wirklich alles, um den
Druck auf Assad und seinen Partner Putin so zu erhöhen,
dass humanitäre Hilfe Zugang nach Homs bekommt?
Was für Chemiewaffeninspekteure möglich ist, das muss
doch erst recht für humanitäre Helfer möglich sein: Sie
müssen im ganzen Land unbeschränkten Zugang bekommen. Der Schutz der Bevölkerung darf doch nicht bei
der Vernichtung der Chemiewaffen enden.
({3})
Es würde Russland gut anstehen - auch mit Blick auf
den olympischen Frieden von Sotschi -, ein humanitäres Zeichen zu setzen, indem man sich dafür starkmacht
- wenn nicht in Genf, dann in New York, im Sicherheitsrat -, dass humanitäre Hilfe Zugang nach Homs bekommt.
Herr Steinmeier, üben Sie bitte auch Druck aus auf
Saudi-Arabien und Katar - Länder, aus denen Dschiha616
disten finanziert werden -, die auch keine humanitäre
Hilfe zulassen. Da wird wieder einmal klar: Wir brauchen endlich eine echte Contact Group, in der Russen,
Iraner, Saudi-Araber, eben alle an einem Tisch sitzen,
um sich auch zwischen Friedenskonferenzen abzustimmen und zu einigen.
Und, liebe Bundesregierung, wir brauchen eine europäische Stimme; die gibt es in der Syrien-Politik momentan gar nicht. Der Europäische Auswärtige Dienst
mit Herrn Vimont an der Spitze liest die französischen
Kabelberichte, Frau Ashton hört auf Herrn Cameron,
und was machen die Deutschen? Es ist unsere Chance,
hier endlich Kohärenz herbeizuführen und vielleicht einen Beitrag zu leisten.
({4})
Letzte Frage an Herrn Steinmeier und Herrn Müller:
Leisten wir Deutsche wirklich alles - alles -, um die humanitäre Hilfe in Syrien zu stärken? Können wir nicht
noch mehr Gelder senden? Der Treuhandfonds, der mit
Deutschlands Hilfe aufgelegt wurde, ist noch längst
nicht gefüllt; da könnten wir doch zum Beispiel nachlegen.
Sehr geehrte Damen und Herren, aus unserer Geschichte erwächst Verantwortung. Gedenken ohne Handeln reicht nicht. Wir müssen uns besonders engagieren.
In diesem Sinne appelliere ich an den Minister: Tun Sie
mehr, tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende!
Ich danke Ihnen.
({5})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Reinhard Brandl für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eines vorausschicken: Das Leid
der Menschen in Syrien lässt einen manchmal schier verzweifeln. Jeden Tag lesen wir neue Nachrichten über
Tod und Vertreibung - auch heute wieder; Frau Brantner,
Sie haben es angesprochen -, und das, obwohl gleichzeitig in Genf Friedensverhandlungen stattfinden.
Es wird in diesem Konflikt keinen Sieger im militärischen Kampf geben. Vielmehr kann Frieden in Syrien
nur über den Verhandlungsweg erreicht werden. Insoweit ist es zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer,
dass sich in Genf gerade zu der Stunde, in der wir hier
debattieren, die Oppositionsparteien mit den Regierungsparteien zumindest in einem Raum befinden und
indirekt miteinander reden. Ich hoffe, dass die internationalen Anstrengungen, dort eine Lösung herbeizuführen,
in den nächsten Wochen und Monaten fruchten werden.
Deutschland tut, was möglich ist, um das Leid der
Menschen in Syrien zu lindern. Wir sind einer der größten Geber von bilateraler Hilfe. Der Kollege Kiesewetter
hat die 440 Millionen Euro seit 2012 angesprochen. Wir
unterstützen die besonders betroffenen Nachbarländer in
vielerlei Hinsicht, nehmen selber Flüchtlinge auf und
helfen jetzt ganz aktuell, die syrischen Chemiewaffen zu
vernichten.
Wir können als Deutschland nicht alles leisten, aber
die Vernichtung dieser Chemiewaffen ist zum Beispiel
ein Beitrag, den wir leisten können, weil wir dafür die
Technologie und das Know-how haben. Wir stellen uns
dieser Verantwortung und bringen diesen Beitrag ein,
und das ist wichtig und richtig.
({0})
Meine Damen und Herren, das ist internationale Gemeinschaft: Jeder leistet entsprechend seinen Möglichkeiten und seinen Fähigkeiten einen Beitrag zur Lösung
des großen Problems.
Ein solcher Beitrag ist auch der Schutz der Türkei vor
fehlgeleiteten Raketen. Diese Hochtechnologiefähigkeit
der Raketenabwehr haben im Bündnis nur wir, die USA
und die Niederlande. Die Türkei selber hat sie nicht.
({1})
- Da ist der Wunsch einer Zwischenfrage; ich würde sie
zulassen.
({2})
Gut, Kollege Brandl. Jetzt, am Beginn der Legislaturperiode, scheinen sich neue Freundschaften in Bezug auf
Zwischenfragen und Antworten zu bilden.
({0})
- Ja, ich werde genau beobachten, wie sich das hier weiterentwickelt. - Kollegin Dağdelen, Sie haben das Wort
zu einer Zwischenfrage oder Bemerkung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Kollege,
danke, dass Sie es zugelassen haben, Sie kurz zwei
Dinge zu fragen. Denn Sie haben ja gesagt: Dieser Einsatz dient dem Schutz der Türkei.
Erstens. Vor dem Hintergrund, dass ich es sehr bedauere, dass in dieser Debatte bis jetzt kein Wort, kein kritisches Wort über die Unterdrückung in der Türkei gefallen ist, möchte ich Sie fragen: Ist es nicht eher so, dass
die Bundeswehr mit diesem Einsatz das AKP-Regime
und Erdogan schützen soll?
Zweitens: Wie gehen Sie in den Koalitionsfraktionen
damit um, dass laut Umfragen von unabhängigen Instituten in der Türkei - auch aktuellen Umfragen - eine
große Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei gegen
diesen Patriot-Einsatz in der Türkei ist? Es gab massenhafte Demonstrationen und Proteste gegen die Bundeswehr und auch gegen diesen Einsatz. Wie gehen Sie damit eigentlich um?
Wir nehmen die Stimmung in der Türkei sehr zur
Kenntnis, wobei ich Ihnen sagen muss, dass es nicht so
eindeutig ist, wie Sie sagen. Ich habe auch andere Stimmen aus der Türkei gehört. Wir haben erst in der letzten
Woche mit türkischen Vertretern gesprochen, die den
Einsatz der Deutschen sehr begrüßen.
Ich möchte Ihnen eines zur Bedrohungslage in der
Türkei sagen: Auf türkischem Gebiet gab es seit dem
Ausbrechen des Bürgerkriegs 309 Verletzte und 94 tote
Zivilisten. Die Zahl ist vom November; jetzt werden es
sicher schon wieder mehr sein.
Unsere Patriot-Systeme sind seit einem Jahr im Einsatz; wir haben darüber diskutiert. In diesem Jahr haben
diese Systeme über 300 Abschüsse von Kurzstreckenraketen festgestellt. Diese Kurzstreckenraketen haben eine
Reichweite von etwa 700 Kilometern. Wenn die Rakete
startet, wissen Sie nicht, wo sie einschlagen wird. Es
dauert eine gewisse Zeit, bis Sie errechnen können, wo
der Einschlagpunkt ist.
Dass die Menschen in diesem Gebiet Angst haben,
liebe Frau Kollegin, ist doch nachvollziehbar. Sie müssen sich das ganz praktisch vorstellen. Das ist ein
Kriegsfall. Sie wissen nie, wer dahinter steht, wer zum
Beispiel die Koordinaten für die Rakete eingibt, welche
Motive er hat und ob er immer rational handelt. Sie wissen beispielsweise nie, ob die Rakete Giftgas mit sich
führt. Dieses Risiko konnte im letzten Jahr deutlich minimiert werden, auch mit deutscher Hilfe. Aber aus
Deutschland heraus die Bedrohungslage in der Türkei
infrage zu stellen, finde ich schon ziemlich vermessen. Liebe Frau Kollegin, die Frage ist jetzt beantwortet.
({0})
Wir leisten unseren Beitrag im Rahmen der Bündnissolidarität. Die Türkei hat bei der NATO und damit auch
bei uns um diesen Beitrag nachgefragt. Gerade Deutschland hat jahrzehntelang von der Solidarität im Bündnis
dahin gehend profitiert, dass unsere internationalen Partner in unserem Land stationiert waren und im Falle eines
Falles eingegriffen hätten. Davon haben wir profitiert.
Unsere Partner haben unsere Sicherheit garantiert. Jetzt
leisten wir einen Beitrag zur Sicherheit und zur Stabilität
im Bündnis.
Ich finde, wir sollten das tun. Ein solcher Einsatz ist
doch rein defensiv. Ich verstehe, ehrlich gesagt, gar
nicht, was die Linken immer gegen solche Einsätze haben. Wenn Sie grundsätzlich gegen Bundeswehreinsätze
sind, dann sagen Sie das. Sagen Sie doch: Wir lehnen einen solchen Einsatz aus grundsätzlichen Erwägungen
ab. - Aber inhaltlich können Sie diesen Einsatz doch
nicht kritisieren. Er ist rein defensiv. Es geht nicht darum, jemanden mit Raketen anzugreifen, sondern es geht
nur darum: Wenn eine Rakete aus Syrien auf türkisches
Gebiet fliegt, dann soll sie abgeschossen werden, bevor
sie in Kahramanmaras oder in einer anderen Großstadt
einschlägt. Dagegen kann man nichts haben.
Das ist ein wertvoller Beitrag, den wir im Bündnis
leisten.
({1})
Ich denke, wir sollten diesen Beitrag nicht verwehren.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher
Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftvertei-
digung der NATO auf Ersuchen der Türkei.
Mir liegen zwei Erklärungen der Kolleginnen
Dağdelen und Kiziltepe nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung vor. Wir nehmen sie entsprechend unseren Regeln
zu Protokoll.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/347, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/262 anzunehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte jetzt um
Aufmerksamkeit. Mir ist zu Ohren gekommen, dass
noch nicht alle, insbesondere neu dem Haus angehö-
rende Mitglieder des Bundestages, wissen, mit welchen
Materialien sie sich für die unterschiedlichen Abstim-
mungsformen, die wir heute alle üben, jeweils ausstatten
müssen. Deshalb bitte ich darum, mir jetzt sehr genau
zuzuhören.
Sie brauchen für die namentliche Abstimmung die
Stimmkarte Ihrer Wahl, die Sie aus dem Kartenfach in
der Westlobby geholt haben. Ich bitte Sie, zu überprüfen,
ob die Stimmkarte, die Sie schon bei sich haben, tatsäch-
lich Ihren Namen trägt, und gegebenenfalls, sollten Sie
aus Versehen die Stimmkarte Ihres Nachbarn mitgenom-
men haben, den entsprechenden Austausch vor der Ab-
stimmung vorzunehmen.
Ich weise Sie außerdem darauf hin, dass nach dieser
Abstimmung eine weitere Debatte stattfindet, welche wie-
derum in eine namentliche Abstimmung mündet, welche
wiederum mittels Stimmkarte vollzogen wird. Die weite-
ren gedruckten Karten, Wahlausweise, die Sie gegebenen-
falls auch schon aus Ihren Kartenfächern geholt haben,
brauchen wir erst für die darauffolgenden Wahlgänge.
Ich bitte Sie trotzdem, da es offensichtlich schon zu
Verwechslungen gekommen ist, die Zeit der nächsten
Debatte dafür zu nutzen, zu überprüfen, ob die Wahlaus-
weise und die Stimmkarte, die Sie schon haben, entspre-
chend gekennzeichnet sind, also Ihren Namen tragen.
Sollte dies nicht der Fall sein, bitte ich Sie, die Wahlaus-
weise an das rechtmäßig abstimmungsberechtigte Mit-
glied des Bundestages zurückzugeben. Denn einige Kol-
legen haben offensichtlich ihre Wahlausweise nicht
mehr im Fach vorgefunden; die muss also schon jemand
anders herausgenommen haben.
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich hoffe, ich habe mich jetzt deutlich genug ausge-
drückt, welche Aufgaben Sie neben dem Verfolgen der
Debatte und den Abstimmungen in den nächsten Minu-
ten noch zu erfüllen haben.
Wir kommen jetzt zur namentlichen Abstimmung. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-
sehenen Plätze einzunehmen. Ich bitte um ein Zeichen,
ob an jedem Abstimmungsplatz eine Schriftführerin oder
ein Schriftführer der Koalitionsfraktionen und eine
Schriftführerin oder ein Schriftführer der Oppositions-
fraktionen anwesend ist. - Das scheint der Fall zu sein.
Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Hier vorn ist noch ein Wahlausweis übrig; der wird ja,
wie gesagt, später noch gebraucht.
({0})
Ich habe gerade den Hinweis bekommen, dass ich alle
Instrumente, die dem Präsidium zur Verfügung stehen,
nutzen soll. Das scheint mir an dieser Stelle angebracht
zu sein.
({1})
Ich bitte all diejenigen, die der folgenden Debatte
nicht folgen können oder wollen, den Saal zu verlassen,
und alle anderen, Platz zu nehmen. - Ich werde die Debatte nicht eröffnen, bevor wir nicht die notwendige
Ordnung hergestellt haben. Dieser Hinweis gilt sowohl
für die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten als
auch für die Mitglieder der Bundesregierung.
({2})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der SPDFraktion, der Unionsfraktion, der Grünen und auch der
Fraktion Die Linke, den Bemühungen ihrer Parlamentarischen Geschäftsführer und Geschäftsführerinnen, hier
die notwendige Ordnung herzustellen, nun auch Folge
zu leisten.
({3})
- Kollege Ulrich, es ist gut, aber auch Sie können noch
besser werden. Auch Mitglieder der Fraktion Die Linke
stehen noch. - Kollege Ströbele, es macht mich traurig,
dass Sie mich ignorieren.
({4})
- Das gilt natürlich auch für die Kolleginnen von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die da noch stehen.
({5})
1) Ergebnis Seite 620 D
Wenn die Kollegen der SPD und der Union auch noch
die notwendige Ordnung herstellen, können wir fortfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({6}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active Endeavour im gesamten
Mittelmeer
Drucksachen 18/263, 18/348
Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderNiels AnnenWolfgang GehrckeDr. Frithjof Schmidt
- Bericht des Haushaltsausschusses ({7})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/383
Berichterstattung:Abgeordnete Alois KarlDoris BarnettMichael LeutertDr. Tobias Lindner
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niels Annen für die SPD-Fraktion.
({8})
Frau Präsidentin, vielen Dank, dass Sie so wacker für
Aufmerksamkeit gekämpft haben. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten und beschließen heute über
den Antrag der Bundesregierung, die Beteiligung an der
Operation Active Endeavour fortzusetzen. Wie Sie alle
wissen, hat sich meine Fraktion mit diesem Mandat besonders intensiv auseinandergesetzt. Von diesem Rednerpult aus haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten darauf hingewiesen, dass die Begründung des
Einsatzes der Diskussion bedarf. Deswegen will ich daran erinnern: Die Grundlage für die Entsendung von
deutschen Streitkräften im Rahmen dieses Mandates ist
die Ausrufung des Bündnisfalls nach Art. 5 des NATOVertrages.
({0})
Diese Entscheidung war nach dem Angriff des 11. September 2001 auf unsere amerikanischen Verbündeten
richtig. Sie war ein Akt der Solidarität, ein Akt der
Bündnistreue. Im Rahmen dieses Einsatzes haben wir in
den letzten Jahren dazu beigetragen, dass der Terrorismus bekämpft worden ist und dass wir hier in Deutschland sicherer geworden sind.
Aber es ist auch richtig, dass unter der Überschrift
„Krieg gegen den Terrorismus“ vieles falschgelaufen ist.
Überreaktionen und Fehlentwicklungen - darüber sind
sich, glaube ich, viele in diesem Hause einig - haben
dazu geführt, dass die Glaubwürdigkeit des Westens in
vielen Bereichen gelitten hat. Die Stichworte sind uns
hier alle präsent: die Debatte über Folter, die Debatte
über Guantánamo, über illegales Töten etc. Ich bin überzeugt davon: Die terroristische Bedrohung auch im Mittelmeer ist nicht gebannt, und es wäre fahrlässig, diesen
Eindruck zu erwecken. Aber wir brauchen eine neue
Grundlage zur Bekämpfung des Terrorismus und dafür
auch einen neuen politischen Konsens. Wir glauben,
dass der Bezug dieses Mandates auf Art. 5 des Nordatlantikvertrags in den nächsten Jahren ersetzt werden
sollte.
({1})
Wir stimmen heute zu, weil wesentliche Kritikpunkte
aus unseren Vorschlägen, aber auch aus der Diskussion
in diesem Land von der Bundesregierung aufgegriffen
worden sind. Wir stimmen heute einem veränderten
Mandat zu: Die Obergrenze der Zahl der Soldaten ist gesenkt worden, das sogenannte Einmelden von Schiffen
findet künftig nicht mehr statt, und die exekutiven Befugnisse sind begrenzt worden.
Ich will aber deutlich sagen, auch in Richtung der
Bundesregierung: Wir stimmen auch in der Erwartung
zu, dass die Botschaft, die wir ausgesandt haben, aufgegriffen wird, dass die doch relativ kurze Zeit der Mandatierung - elf Monate - dafür genutzt wird, in der NATO
dafür zu sorgen, dass dieser neue politische Konsens Gestalt annimmt, und dass wir gemeinsam mit unseren
Bündnispartnern ein neues Mandat ohne den Bezug auf
Art. 5 erreichen können. Ich bin dem Bundesaußenminister und auch der Verteidigungsministerin sehr
dankbar dafür, dass die ersten Gespräche bereits geführt
worden sind. Ich erwarte, dass das in den nächsten Monaten weiter geschehen wird. Dann werden wir gemeinsam hier darüber beraten und auch Bilanz ziehen können.
Ich möchte noch etwas zu der Frage der Bündnissolidarität sagen, auch mit Verweis auf die vorhergehende
Diskussion. Herr Kollege Gehrcke, ich habe Ihnen wie
immer aufmerksam zugehört.
({2})
- Danke schön. - Mir geht es um einen Punkt: Ich habe
den Eindruck, es gibt in einem Teil der politischen Linken ein Missverständnis, was unsere Beziehung zur
NATO betrifft. Sie glauben, wenn Deutschland sich einseitig aus dem Bündnis verabschiedet - es ist Ihr Vorschlag, die NATO aufzulösen; in diesem konkreten Fall
ist Ihr Vorschlag, wir sollten uns einseitig aus der Operation zurückziehen -, dann würde das Ansehen unseres
Landes in der Welt steigen, und wir würden Respekt genießen. Habe ich Sie richtig verstanden?
({3})
Schauen Sie in die Geschichte, auch die der SPD, zurück. Die Diskussion haben wir in den 50er-Jahren geführt. Damals gab es ganz viele, die dieser Meinung waren. Seit der großen Rede von Herbert Wehner 1960
({4})
gibt es in diesem Land einen Konsens, dem Sie sich verweigern. Wir kommen zu einem genau anderen Ergebnis: Die feste Verankerung unseres Landes in den internationalen Bündnisstrukturen der Europäischen Union
und der NATO hat - davon bin ich fest überzeugt - die
Grundlage für das hohe Ansehen unseres Landes erst gelegt.
({5})
Kollege Annen, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ströbele?
Das tue ich gerne.
Danke, Herr Kollege. - Ihnen ist wahrscheinlich wie
mir bekannt, dass in den letzten Jahren im Mittelmeer
kein einziges Boot durch die Bundesmarineeinheiten,
die dort sind, aufgebracht oder kontrolliert worden ist.
Halten Sie es wirklich für richtig und entspricht es
Ihrer Überzeugung, allein deshalb einen Bundeswehreinsatz im Ausland weiterhin zu praktizieren und
das Bestehen des Bündnisfalls in der NATO weiterhin
anzunehmen und zu unterstützen, weil man mit den Partnern im Augenblick noch nicht geredet hat oder weil
man Bündnistreue beweisen muss, obwohl dieser Einsatz überhaupt keinen Sinn mehr macht, oder weil man
sich einfach nicht traut, aus diesem Einsatz herauszugehen, obwohl man ihn selber für falsch und überflüssig
hält? Das heißt, halten Sie einen bewaffneten Bundeswehreinsatz im Ausland allein aus demonstrativen Gründen für richtig?
({0})
Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen für die Frage.
Ich glaube, dass nun eine gute Gelegenheit ist, noch einmal darauf hinzuweisen - ich hätte das sonst in der Form
vielleicht gar nicht gemacht -, dass es einen Unterschied
gibt, seit die Sozialdemokratische Partei in die Bundesregierung eingetreten ist. Wir haben uns nämlich in der
Opposition und jetzt in der Regierungsverantwortung
mit genau dem Punkt, den Sie ja zu Recht ansprechen,
auseinandergesetzt.
Ich möchte Ihre Frage schon im Hinblick auf den spezifischen Fall beantworten; generell muss jeder Einsatz
detailliert und für jeden Einzelfall begründet werden. Insofern bin ich gar nicht bereit und nicht in der Lage, Ihre
Frage allgemein mit Ja oder Nein zu beantworten.
Wir kommen zu dem Ergebnis: Die Bündnissolidarität muss in unserer Abwägung immer eine Rolle spielen,
auch insofern, als wir uns alle - ich bin mir sicher, die
Bundesregierung tut das auch - die Frage stellen müssen: Was würde eine einseitige Entscheidung, so wie sie
uns die Kollegen der Linkspartei hier vorschlagen, für
unseren politischen Spielraum bedeuten?
Ich habe auch in meiner Rede eben sehr klar die Erwartung geäußert - ich wiederhole das gerne -, dass in
den nächsten elf Monaten etwas passiert. Insofern bin
ich mit diesem Mandat sehr zufrieden, als es in eine
Richtung geht, von der wir immer gefordert haben, dass
sie formuliert wird. Darüber hinaus ist das Ganze sehr
verantwortbar, weil wir nicht dasselbe, sondern ein verändertes Mandat beschließen. Darauf habe ich am Anfang hingewiesen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
am Ende meiner Rede versuchen, an einen vorherigen
Gedanken anzuschließen. Ich hatte, Frau Präsidentin,
eine Zwischenfrage eher von der linken Seite erwartet;
aber das scheint sich nach der vorhergehenden Debatte
insoweit erledigt zu haben.
({1})
Ich weise vorsorglich darauf hin, dass ich eine Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Redezeit durch
Zwischenfragen - auch wenn das durch Koalition und
Opposition verabredet worden ist - nicht zulassen
werde. Das wurde ja vorhin schon probiert.
Das war keine Verabredung. - Ich komme auch gleich
zum Schluss meiner Ausführungen.
Wir haben bereits in der vorherigen Debatte detailliert
über die Einsatzbedingungen und auch über die Lage im
Mittelmeer diskutiert. Klar wurde, dass dort weiter die
Notwendigkeit für diesen Einsatz besteht, dass wir ein
Interesse daran haben müssen, Informationen aus einer
Region zu bekommen, die großen Spannungen unterliegt, in der es politische und auch militärische Spannungen gibt, und dass wir von dieser Region ein aktuelles
Lagebild brauchen. Das steht für mich gar nicht zur Diskussion.
Ich glaube, dass es die Politik dieser Großen Koalition auszeichnet, dass wir diese Debatte mit unseren
Partnern führen,
({0})
und dass es eine Erweiterung unserer politischen Spielräume bedeutet, wenn wir nicht einfach Knall auf Fall
- nur weil sich eine Regierungskonstellation in Deutschland verändert hat - sagen: Da machen wir nicht mehr
mit. - Wir nehmen nämlich zur Kenntnis, Kolleginnen
und Kollegen, dass es innerhalb der NATO Partner gibt,
die vielleicht zu einem anderen Bedrohungsbild und zu
einer anderen politischen Lageeinschätzung kommen als
wir.
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Wir vertrauen
auf die Argumentationskraft und darauf, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung diesen Impuls aus dem Deutschen Bundestag aufgreifen. Deswegen bitte ich um Zustimmung und bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 601. Mit Ja haben 523 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt, mit Nein haben 71 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt, und es gab 7 Enthaltungen. Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 600;
davon
ja: 522
nein: 71
enthalten: 7
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Vizepräsidentin Petra Pau
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({2})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({4})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({8})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({10})
Gabriele Schmidt ({11})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({12})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({13})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({14})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({15})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({16})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Marcus Weinberg ({17})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({18})
Sabine Weiss ({19})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({20})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Vizepräsidentin Petra Pau
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({21})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({22})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({23})
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({24})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Aydan Özoğuz
Mahmut Özdemir ({25})
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({26})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Axel Schäfer ({28})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
({29})
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({30})
Matthias Schmidt ({31})
Carsten Schneider ({32})
Ursula Schulte
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({33})
Volker Beck ({34})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({35})
Christian Kühn ({36})
Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({37})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Valerie Wilms
Nein
SPD
Klaus Barthel
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({38})
Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Swen Schulz ({39})
Waltraud Wolff
({40})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Vizepräsidentin Petra Pau
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({41})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Corinna Rüffer
Enthalten
SPD
Marco Bülow
Dr. Daniela De Ridder
Ewald Schurer
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Dr. Julia Verlinden
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Dr. Alexander Neu für die Fraktion Die Linke.
({42})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Operation Active Endeavour soll erneut
unter Verweis auf Art. 51 der UN-Charta in Verbindung
mit Art. 5 des Nordatlantikvertrags verlängert werden.
Es geht um die kollektive Selbstverteidigung, zumindest
formell. De facto aber geht es um etwas ganz anderes. In
der Begründung Ihres Antrages schreiben Sie schon im
ersten Satz:
Das Mittelmeer gehört zu den wichtigsten interkontinentalen Transportkorridoren weltweit und ist für
den innereuropäischen und transatlantischen Handel von geostrategisch vitaler Bedeutung.
Genau darum geht es. Es geht darum, dass Sie die
Bundeswehr für das deutsche Kapital ins Mittelmeer
schicken, um dort die Interessen zu verteidigen. Das ist
der eigentliche Ansatz Ihrer Politik.
({0})
Die Operation Active Endeavour läuft nun seit 2001,
das heißt seit zwölf Jahren. Seit zwölf Jahren spinnen
Sie an der Legende, es sei eine kollektive Selbstverteidigung. Das ist es nicht. Es sind nämlich gewisse Kriterien
nicht erfüllt. Es gibt also Gründe, die erhebliche Zweifel
an Ihrer Behauptung aufkommen lassen. Dazu gehören
die räumliche und zeitliche Dimension eines Selbstverteidigungsfalls, auch von OAE.
Der Terroranschlag 2001 hat nicht im Mittelmeer
stattgefunden - das sollte Ihnen bekannt sein, sehr geehrte Damen und Herren -; er hat in New York stattgefunden. Die räumliche Verteidigung viele Tausend
Kilometer vom Anschlagsort entfernt ist mehr als fragwürdig. Man stelle sich einfach einmal vor - ich mache
ein Gedankenexperiment -, es gäbe einen Terroranschlag in China, in Peking. Herr Arnold, ich habe das
Argument schon einmal vorgebracht.
({1})
- Die bringe ich gerne mit ein. - Man stelle sich vor,
China würde fortan eine maritime Dauerpräsenz in der
Ostsee, in der Nordsee oder im westlichen Atlantik
schaffen mit dem Argument: Wir müssen uns verteidigen. - Ich wäre gespannt auf das Geschrei der hiesigen
Politik und der Medien. Es wäre ganz gewaltig.
({2})
- Die Marsmännchen fehlen noch, genau; darauf komme
ich gleich zurück.
Auch der zeitliche Aspekt ist mit Blick auf Art. 51 der
UN-Charta in Verbindung mit Art. 5 des Nordatlantikvertrags nicht tragfähig. Sollte hier jemals das Verteidigungsargument gezogen haben, woran die Linke erhebliche Zweifel hat - denken Sie an den Hinweis, den ich
gerade gegeben habe -, so ist der Zeitraum von zwölf
Jahren wirklich nicht mehr vertretbar.
({3})
Das Fazit, welches es zu ziehen gilt, ist: Der Selbstverteidigungsfall war im Mittelmeer nie gegeben. Er ist,
wie man es auch drehen und wenden mag, auch unter
zeitlichem Aspekt nicht gegeben gewesen. Es hat im
Mittelmeer - darauf wurde vom Kollegen Ströbele gerade zu Recht hingewiesen - niemals eine konkrete
Bedrohung Europas und der USA gegeben. Das ist der
eigentliche Punkt. Die präventive Selbstverteidigung gegen eine abstrakte Bedrohung - das ist der Begriff, den
Sie verwenden - ist völkerrechtswidrig und irgendwie
auch lächerlich, wäre sie nicht friedensgefährdend.
({4})
Aber die Lächerlichkeit haben auch Sie irgendwann
erkannt, selbst in den Reihen der CDU/CSU. Nun verstecken Sie sich hinter dem Argument der Bündnisverpflichtung und der Bündniszuverlässigkeit.
Zum Thema Bündnisverpflichtung nur so viel: Sie
greift nicht. Art. 5 des Nordatlantikvertrages ist so formuliert, dass die Beteiligungsform relativ offen ist. Es
reicht auch ein Beileidsschreiben, so wurde mir von meinem Prof an der Uni erzählt. Ich habe es nachgeprüft;
das reicht tatsächlich aus.
Zur Bündniszuverlässigkeit. Das ist nichts anderes als
eine irrationale Nibelungentreue auf Kosten der Solda624
tinnen und Soldaten, ihrer Familien und der Steuerzahler. Sie zahlen dafür, dass Sie den USA gegenüber auch
im Mittelmeer Nibelungentreue demonstrieren.
({5})
Wir, die Linke, fordern deshalb die sofortige Aufhebung des Bündnisfalls und die Beendigung zumindest
der deutschen Beteiligung an der Operation Active
Endeavour. Sollten gewisse NATO-Partner nicht mitziehen, was wohl der Fall sein wird, ist eine einseitige Aufkündigung des Konsenses in unseren Augen zwingend
erforderlich. Die Konsensaufkündigung ist das souveräne Recht eines Landes, insbesondere dann, wenn die
Auflösung des Konsenses im Nordatlantikvertrag noch
nicht einmal fixiert ist. Von daher ist die Rückfalllinie,
dass ein souveräner Staat von einem Abkommen zurücktreten kann.
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Bundesregierung, nutzen Sie die Souveränität, um endlich
eine verantwortungsvolle Außenpolitik einzuleiten!
({6})
Die Gegenargumente, die ich heute gehört habe, vor allem von der SPD, zeigen nur eines: Unsere Forderung
nach Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO
ist richtig. Noch eines müssen wir, glaube ich, feststellen: Schwarmintelligenz, vor allem auch die der NATO,
ist nicht immer intelligent - siehe den kollektiven Selbstmord von Lemmingen.
Danke.
({7})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, das
war die erste Rede des Kollegen Dr. Neu.
({0})
Jetzt rufe ich den nächsten Redner auf. Das ist der
Kollege Peter Beyer. Sie haben das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Operation Active Endeavour ist ein Paradebeispiel für
eine erfolgreiche Zusammenarbeit der NATO-Bündnispartner, und Bündnistreue - das geht insbesondere an die
Adresse des Vorredners von der Linksfraktion - ist für
uns ein wichtiger Faktor. Nach den Anschlägen vom
11. September 2001 rief die NATO erstmals den Bündnisfall nach Art. 5 aus. Einer der daraus resultierenden
Bundeswehreinsätze ist die Operation Active Endeavour. Seither debattiert der Deutsche Bundestag jedes
Jahr über die Verlängerung dieses Mandats. Das machen
wir heute auch in dieser Debatte.
Die Opposition verweist unter anderem auf die - das
haben wir vorhin gehört - umstrittene völkerrechtliche
Grundlage oder auf die veränderte Bedrohungslage im
Mittelmeerraum. Ein Kollege der Fraktion Die Linke
hatte in der Debatte zu dem Antrag der Bundesregierung
am 16. Januar dieses Jahres gesagt - ich zitiere -: „Es
gibt im Mittelmeer keine Bedrohung für Europa.“ Meine
sehr geehrten Damen und Herren, wer das glaubt, ist
blauäugig. Wahr ist, die Bedrohungslage hat sich in den
letzten 13 Jahren verändert. Die Bedrohungslage ist, wie
es in dem Antrag der Bundesregierung heißt, abstrakt.
Die Bedrohung durch maritimen Terrorismus wird inzwischen als gering eingeschätzt. Das liegt nicht zuletzt
an der Operation Active Endeavour, die eine abschreckende und eine präventive Wirkung entfaltet hat. An
dieser Stelle möchte ich ausdrücklich allen Soldatinnen
und Soldaten in der Verwendung bei der Operation
Active Endeavour für ihren Einsatz danken.
({0})
Die Sicherheitslage bleibt jedoch aufgrund der politischen Umwälzungen im gesamten arabischen Raum
durchaus fragil. Piraterie, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, organisierte Kriminalität und daraus
resultierende Sicherheitsrisiken bestehen weiterhin. Mit
einem präventiven und netzwerkbasierten Ansatz und einem Schwerpunkt auf Informationsgewinnung kann und
muss die Operation Active Endeavour auch in Zukunft
einen wichtigen Beitrag zur maritimen Sicherheit im
Mittelmeerraum leisten. Daran hat nicht zuletzt unser
Land ein strategisches Interesse; denn auch die deutsche
Wirtschaft ist auf sichere Seewege angewiesen. Für den
innereuropäischen und den transatlantischen Handel gehört das Mittelmeer zu den wichtigsten Transitrouten.
Der Suezkanal ist die meistbefahrene Seestraße der Welt.
Gerade Deutschland als Exportnation profitiert von einem sicheren Mittelmeer am allermeisten. Daher hat
Deutschland ein großes Interesse an einem lückenlosen
Lagebild vom Mittelmeer, um potenzielle Risiken
schneller zu erkennen. Genau das leisten die Soldatinnen
und Soldaten bei der OAE.
({1})
Im Übrigen wäre ein Ende der deutschen Beteiligung
an der OAE kein gutes Signal an unsere Bündnispartner.
Deutschland ist ein verlässlicher internationaler Partner.
Das müssen wir zeigen, indem wir weiterhin einen verlässlichen Beitrag leisten. Mir ist durchaus bekannt, dass
dies nicht nur auf Zustimmung stößt, wie wir ja auch
heute in der Debatte erfahren konnten. Deutschlands
sicherheitspolitische Zurückhaltung in den letzten Jahren
hat bei unseren Partnern nicht nur für Irritationen gesorgt, sondern zuweilen auch dazu geführt, dass unsere
Verlässlichkeit infrage gestellt wurde. Deutschland muss
weiterhin und - meiner Überzeugung nach - auch verstärkt eine wichtige Rolle in der Welt spielen. Deutschland ist willens, fähig und in der Lage, sich insbesondere
mit unseren Freunden auf der anderen Seite des Atlantiks, den Vereinigten Staaten von Amerika, gemeinsam
globalen Herausforderungen zu stellen.
Die Weiterentwicklung und Anpassung des Mandats
an die Einsatzrealität ist ein richtiger und wichtiger
Schritt. Der deutsche Beitrag wird sich künftig mit einer
maximalen Obergrenze von 500 Soldatinnen und Soldaten auf die Beteiligung an den ständigen maritimen VerPeter Beyer
bänden der NATO und an den Aufklärungs- und Frühwarnflugzeugen der NATO, AWACS, sowie auf den
Austausch von Lagedaten beschränken. Die OAE konzentriert sich inzwischen ohnehin auf die Seeraumüberwachung und den Lagebildaustausch. Damit kommt ihr
eine wichtige und nicht zu unterschätzende Frühwarnfunktion zu.
Deutschland setzt sich kontinuierlich dafür ein, die
Einsatzgrundlagen der Operation auch konzeptionell der
tatsächlichen Einsatzrealität anzupassen. Auf deutsche
Initiative hin hat die NATO im April des vergangenen
Jahres 2013 eine Option eröffnet, OAE perspektivisch in
eine nicht durch Art. 5 gestützte Operation zu überführen. Die aktuelle Verlängerung des Mandats unter den
geänderten Bedingungen stellt damit eine Übergangslösung dar. Sie ist ein wichtiger Schritt in dem Prozess zur
Weiterentwicklung der Operation Active Endeavour.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ich werbe um Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung für das Mandat OAE.
Herzlichen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nächster spricht
der Kollege Tobias Lindner.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in
diesem Hohen Haus über Auslandseinsätze der Bundeswehr sprechen, dann kommt uns an zwei Stellen eine besondere Verantwortung zu. Ich bin daher froh, dass wir
heute überhaupt über dieses Mandat diskutieren.
Die erste Verantwortung, die uns zukommt, ist, sich
im Zweifel für den Parlamentsvorbehalt zu entscheiden.
Noch im Dezember wollte uns der damals geschäftsführende Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière
erklären, dass OAE nicht zustimmungspflichtig sei. Ich
bin daher froh, dass sich die Argumente auch unserer
Fraktion durchgesetzt haben und wir in diesem Hause
über dieses Mandat abstimmen.
({0})
Es wäre nämlich geradezu absurd, ein Mandat nicht für
zustimmungspflichtig zu erachten, das mit Art. 5 des
NATO-Vertrages begründet wird. Art. 5 des NATOVertrags ist ein hohes Gut. Er besagt, dass es die Unterzeichnerstaaten als einen Angriff auf ihr Land betrachten, wenn ein Mitgliedstaat angegriffen wird. Wenn wir
Angriffe auf andere Mitgliedstaaten als Angriffe auf unser Land empfinden, dann kann ich nicht verstehen, wie
man auf die Idee kommen kann, ein Mandat, das mit
Art. 5 des NATO-Vertrags begründet wird, sei nicht zustimmungspflichtig.
Die zweite Verantwortung, die uns zukommt, wenn
wir über Auslandseinsätze reden, ist, uns Folgendes zu
fragen: Ist erstens das Mandat richtig begründet? Liegt
uns zweitens eine für uns nachvollziehbare und glaubwürdige Schilderung der Situation vor? Sind drittens die
Mittel, zu denen wir die Bundeswehr ermächtigen, geeignet, um mit dieser Situation umzugehen? Lieber Niels
Annen, hier muss man sagen: Ja, das Mandat ist
verändert worden. Aus Sicht meiner Fraktion ist dieses
veränderte Mandat, das uns heute vorliegt, aber in sich
widersprüchlich. Damit wir uns richtig verstehen: Wir
reden hier über Art. 5. Ich persönlich fand es richtig,
nach den Anschlägen des 11. September den Bündnisfall
auszurufen. Diese Anschläge waren ein menschenverachtender Akt des Terrorismus. Es war ein Angriff, und
es bestand eine konkrete Bedrohung der Vereinigten
Staaten. Aber genauso wichtig, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist es, dass dies nach zwölf Jahren nicht mehr
als Begründung für eine, wie Sie selber im Antrag
schreiben, abstrakte Bedrohungssituation im Mittelmeer
dient. Allein das ist ein Grund, warum meine Fraktion
diesem Mandat heute nicht zustimmen kann.
({1})
Der andere Punkt ist: Wenn wir uns anschauen, zu
welchen Mitteln bei einer solch abstrakten Bedrohungssituation gegriffen wird - wir haben es hier gehört: Seeraumüberwachung, Fernmeldeaufklärung, Patrouillieren -, dann stellen wir fest, dass es in vielen Teilen
dieses Mandats um Elemente geht, wie sie in routinemäßigen Missionen der NATO vorkommen. Das heißt, die
Bundesregierung hat es nicht nur versäumt, sich dafür
einzusetzen, dass der Bündnisfall endlich beendet wird,
sondern auch nicht dafür gesorgt, das Mandat so weit zurückzuführen, dass es einer Routinemission entspricht.
So ist dieser Antrag ein widersprüchliches Wischiwaschi.
Ich komme zum Ende. Sie legen uns hier ein verändertes, aber nach wie vor mit Art. 5 begründetes Mandat
vor. Wenn Sie es schon nicht geschafft haben, sich innerhalb der NATO dafür einzusetzen, dass der Bündnisfall
beendet ist, dann wäre es Ihre Aufgabe gewesen, sich dafür einzusetzen, dass sich Deutschland an dieser Mission, ähnlich wie in Libyen, nicht beteiligt. Wir erkennen
nach wie vor nicht den Sinn. Deswegen werden wir, wie
in den Vorjahren auch, heute diesem Mandat nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Julia Bartz.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Dr. Neu, es freut mich, dass Sie sich
bei Ihrer ersten Rede zumindest mit einer Unterstellung
zurückgehalten haben. Bei vergangenen Debatten zur
Operation Active Endeavour haben die Linken zum wie626
derholten Male unseren Soldatinnen und Soldaten unterstellt, Sie würden im Mittelmeer Flüchtlinge jagen. Zur
Erinnerung: Kollegin Dağdelen behauptete am 28. November 2013, dass - ich zitiere - „NATO-Schiffe im
Mittelmeer zur Flüchtlingsjagd, zur Hetze gegen Flüchtlinge … eingesetzt werden sollen“. Kollege Liebich wiederholte diesen Vorwurf am 16. Januar 2014 und sprach
von einer Abwehr der Flüchtlinge durch die Hintertür.
Ihre Unterstellungen weise ich entschieden zurück.
({0})
Dass Ihnen Auslandseinsätze der Bundeswehr gegen den
Strich gehen, haben wir ja verstanden. Aber eine Diffamierung unserer Soldatinnen und Soldaten lasse ich in
diesem Hohen Hause nicht zu.
({1})
Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen einen wichtigen Auftrag für unser Land. Sie tun dies in unterschiedlichen Teilen der Erde. Unsere Soldatinnen und Soldaten
schützen am Horn von Afrika Handelsschiffe vor Piraterie. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind es, die im Kosovo für Stabilität sorgen. Sie sind es, die an der Grenze
zu Syrien die Sicherheit der Türkei gewährleisten, und
unsere Soldatinnen und Soldaten sind es, die bei der
Hochwasserkatastrophe im Juni 2013 mit 18 000 Frauen
und Männern an Elbe, Inn, Saale und anderen Flüssen
den Opfern der Hochwasserkatastrophe geholfen haben.
Ihnen gebühren unser Dank und unsere Anerkennung.
({2})
Heute beschließen wir den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Operation Active Endeavour
im Mittelmeer.
({3})
Die Fortsetzung der Operation ist notwendig, weil sich
erstens die instabile Lage im Nahen und Mittleren Osten
sowie in Nordafrika zuspitzt. Die gesamte Region ist ein
Pulverfass, neben dem das Feuer in Syrien brennt. Nordafrika entwickelt sich mehr und mehr zu einer Bastion
für terroristische Zellen. Menschen-, Drogen- und Waffenhandel sind dort an der Tagesordnung. Hier schlummert eine große Gefahr für viele Staaten Afrikas und Europas.
Zweitens. Die Operation Active Endeavour ist wichtig, weil das Mittelmeer eine der bedeutendsten Handelsrouten für Deutschland ist. 220 000 Handelsschiffe, ein
Drittel aller über See verschifften Waren und ein Viertel
aller Öltransporte durchqueren jährlich das Mittelmeer.
Deshalb brauchen wir ein aktuelles Lagebild der Region.
Frau Bartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Omid Nouripour?
Nein, ich möchte meine Rede zu Ende führen.
({0})
Die Aufgabe der Erstellung eines aktuellen Lagebildes der Region können wir nur im Bündnis erfüllen.
Hierbei müssen wir unserer Rolle in der NATO gerecht
werden. Unsere Beteiligung an OAE macht deutlich:
Deutschland ist ein verlässlicher Partner; wir stehen zu
unserer Verantwortung.
Ich fasse zusammen: Die Instabilität im Nahen und
Mittleren Osten sowie in Nordafrika, die Absicherung
einer der wichtigsten Handelsrouten und unsere Bündnissolidarität sprechen für die Fortsetzung der Operation
Active Endeavour. Es liegt im Interesse Deutschlands,
dass die NATO im Mittelmeerraum präsent ist. Wir müssen die Lage auf dem Schirm haben. OAE liefert uns
dieses dichte Lagebild dank fliegender und maritimer
Aufklärung. Durch unsere Präsenz im Mittelmeerraum
hat sich OAE zu einem präventiven Ordnungsfaktor entwickelt. Zudem hat sich OAE zu einer Kooperationsplattform entwickelt, an der auch viele Mittelmeeranrainer mitwirken. Die Ziele der Operation haben sich
zunehmend hin zur Seeraumüberwachung, Aufklärung
und Lagebilderstellung in und über See gewandelt. Der
Antrag der Bundesregierung wird diesen neuen Anforderungen gerecht und bereitet gleichzeitig den Weg für
eine Neukonzipierung und Weiterentwicklung des Mandats.
({1})
Unser gemeinsames Ziel ist es, OAE in eine nicht auf
Art. 5 des NATO-Vertrags gestützte Operation zu überführen. Wir unterstützen deshalb seitens der CDU/CSUFraktion den Antrag der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt erhält der Kollege Liebich das Wort zu einer Kurzintervention.
Sehr geehrte Kollegin Bartz, Sie hatten mich direkt
angesprochen. Sie haben zitiert, was ich in meiner letzten Rede gesagt habe, und dann geäußert, Sie würden
dies nicht zulassen. Sie haben hier im Deutschen Bundestag zwar eine 80-Prozent-Mehrheit, aber das Recht,
unsere Meinung zu vertreten, auch wenn das nicht Ihre
Meinung ist, werden wir uns nicht nehmen lassen.
({0})
Ich möchte ein Zweites hinzufügen. Sie haben eben
das Argument vorgebracht, dass es im Mittelmeer wichtige Handelsrouten gibt und diese geschützt werden
müssen. Das ist nun ausdrücklich nicht Bestandteil des
Mandats, über das wir hier reden, und zwar aus gutem
Grund; denn unsere Bundeswehr hat nicht die Aufgabe
- das ist Gott sei Dank auch im Grundgesetz nicht vorStefan Liebich
gesehen -, Handelsrouten für den privaten Schiffsverkehr freizuhalten.
({1})
Frau Kollegin Bartz erhält das Wort zur Erwiderung.
Herr Kollege Liebich, natürlich kann ich weder Ihnen
noch jemand anderem das Wort verbieten. Aber gestehen
Sie mir bitte zu, dass ich Ihnen deutlich widerspreche.
({0})
Wie gesagt: Ein Ziel der Operation Active Endeavour ist
die Entwicklung eines präventiven Ordnungsfaktors, ist
die Stabilisierung der Region, und das wird damit erfüllt.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active
Endeavour im gesamten Mittelmeer.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/348, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/263 anzunehmen. Wir stim-
men über die Beschlussempfehlung namentlich ab.
Ich mache darauf aufmerksam, dass im Anschluss an
diese Abstimmung vier Wahlen mit Stimmkarte und
Wahlausweis stattfinden werden. Ich bitte die Kollegin-
nen und Kollegen, sich die Unterlagen für diese Wahlen
zu holen, falls dies noch nicht geschehen ist.
Zunächst möchte ich jedoch die Schriftführerinnen
und Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Ich er-
öffne hiermit die zweite namentliche Abstimmung.
Ist ein Mitglied dieses Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich bitte Sie, Ihre Plätze wieder einzunehmen. - Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich habe diese große Glocke
noch nicht zum Einsatz gebracht. Wenn es notwendig ist,
mache ich das gleich. Das soll aber ohrenbetäubend laut
sein. Deshalb bitte ich Sie, einfach Ihre Plätze einzuneh-
men, damit wir mit den Beratungen fortfahren können.
Das gilt für die Kollegen, die hier vorne stehen und mit-
einander sprechen, und auch für diejenigen, die im Hin-
tergrund stehen und miteinander sprechen. - Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, noch einmal die Bitte an Sie:
Nehmen Sie die Plätze ein. Die Gespräche können Sie
anschließend fortsetzen.
1) Ergebnis Seite 628 C
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:
a) - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Einsetzung des Vertrauensgremiums ge-
mäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushalts-
ordnung
Drucksache 18/358
- Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremi-
ums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundes-
haushaltsordnung
Drucksache 18/359
b) - Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Gremiums gemäß § 3 des
Bundesschuldenwesengesetzes
Drucksache 18/360
- Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
§ 3 des Bundesschuldenwesengesetzes
Drucksache 18/361
c) Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses für
die vom Deutschen Bundestag zu berufenden
Richter des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 6 Absatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
Drucksachen 18/362, 18/363, 18/364, 18/365
({0})
d) Wahl der Mitglieder des Ausschusses für die
Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe
des Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes ({1})
Drucksachen 18/366, 18/367, 18/368, 18/369
Zunächst bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für Hinweise, die für alle vier Wahlen gelten. Ich werde diese
Hinweise nicht jedes Mal wiederholen. Deshalb bitte ich
Sie jetzt um Aufmerksamkeit.
Sie benötigen Ihre Wahlausweise in den Farben Gelb,
Weiß, Grün und Grau, die Sie, soweit noch nicht geschehen, bitte Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Ich gehe aber davon aus, dass Sie Ihre Wahlausweise inzwischen haben. Bitte achten Sie darauf, dass
Ihre Wahlausweise auch tatsächlich Ihren Namen tragen.
Dieser Hinweis ist nicht überflüssig. Es geschieht leider
immer wieder, dass mancher in das falsche Fach greift.
Also bitte überprüfen Sie das. Der Nachweis für die Teilnahme an den Wahlen kann nämlich nur durch Abgabe
des Wahlausweises, der Ihren Namen trägt, erbracht
werden. Den Wahlausweis übergeben Sie bitte einem der
Schriftführer an den Wahlurnen, bevor Sie bei dem jeweiligen Wahlgang Ihre Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen.
Die Wahlen finden offen statt. Die Stimmkarten können also an Ihrem Platz angekreuzt werden. Die Wahlen
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
werden einzeln aufgerufen. Die gelbe Stimmkarte für die
erste Wahl, die Wahl zum Vertrauensgremium, ist bereits
verteilt worden. Die Stimmkarten für die drei folgenden
Wahlen werden später unmittelbar vor jeder Wahl im
Saal ausgehändigt. Kreuzen Sie Ihre Stimmkarte bitte
erst an, wenn ich die jeweilige Wahl eröffnet habe.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 a, zur Wahl
des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung. Bevor wir die Mitglieder wählen,
rufe ich den gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/358 zur Einsetzung des Gremiums und
zur Festlegung der Anzahl der Mitglieder auf. Wer
stimmt für diesen interfraktionellen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag einstimmig angenommen worden. Damit ist das
Vertrauensgremium eingesetzt und die Mitgliederzahl
auf neun festgelegt.
Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremiums kommen, gebe ich noch weitere Hinweise. Diese
gelten auch für die im Anschluss folgende Wahl zum
Gremium nach dem Bundesschuldenwesengesetz. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder
des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindestens 316 Stimmen erhält. Auf den beiden Stimmkarten
sind die Namen der vorgeschlagenen Kandidaten aufgeführt. Sie können zu jedem Kandidatenvorschlag „Ja“,
„Nein“ oder „Enthalte mich“ ankreuzen. Wenn Sie bei
einem Namen mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuz
machen oder andere Namen als die der vorgeschlagenen
Kandidaten oder Zusätze eintragen, ist diese Stimme ungültig.
Für die nun folgende Wahl brauchen Sie die gelbe
Stimmkarte und den gelben Wahlausweis, und Sie haben
neun Stimmen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich kann die Wahl nicht eröffnen, solange die Urnen
noch nicht besetzt sind. - Ich frage jetzt noch einmal:
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Dann ist damit die Wahl eröffnet.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich damit den Wahlgang und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bevor ich den nächsten Wahlgang aufrufe, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der NATO-geführten Operation Active Endeavour
mitteilen: Abgegeben wurden 602 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 467, mit Nein haben gestimmt 129, und
6 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 602;
davon
ja: 467
nein: 129
enthalten: 6
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({4})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({5})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({7})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({8})
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({10})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({11})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({12})
Gabriele Schmidt ({13})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({14})
Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder
({15})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Stritzl
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({18})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Marcus Weinberg ({19})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({22})
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({23})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({24})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({25})
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Gabriele Katzmarek
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({26})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Mahmut Özdemir ({27})
Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({28})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({29})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({30})
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
({31})
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({32})
Matthias Schmidt ({33})
Carsten Schneider ({34})
Ursula Schulte
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
SPD
Klaus Barthel
Marco Bülow
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz ({35})
Ralf Kapschack
Gerold Reichenbach
Swen Schulz ({36})
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
({37})
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. André Hahn
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann
({38})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck ({39})
Volker Beck ({40})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({41})
Christian Kühn ({42})
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({43})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
SPD
Willi Brase
Dr. Daniela De Ridder
Gabriele Hiller-Ohm
René Röspel
Ewald Schurer
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
Ich komme damit zum nächsten Tagesordnungspunkt,
dem Tagesordnungspunkt 4 b: Einsetzung eines Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes,
also des Bundesfinanzierungsgremiums.
Wir kommen auch hier zunächst zum gemeinsamen
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen auf Einsetzung dieses Gremiums und Festlegung der Anzahl der Mitglieder,
Drucksache 18/360. Wer stimmt für diesen interfraktionellen Antrag zur Einsetzung des Bundesfinanzierungsgremiums? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen. Damit
ist das Gremium gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes eingesetzt und die Zahl der Mitglieder auf zehn
festgelegt.
Für die Wahl der Mitglieder benötigen Sie nun die
weiße Stimmkarte und Ihren weißen Wahlausweis. Die
weißen Stimmkarten werden jetzt im Sitzungssaal verteilt. Sie haben zehn Stimmen und können wiederum zu
jedem Kandidatenvorschlag „Ja“, „Nein“ oder „Enthalte
mich“ ankreuzen. Für diese Stimmkarten gilt das Gleiche, was ich vorhin ausgeführt habe; deswegen verzichte
ich auf die Wiederholung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist auch der Fall, soweit ich das sehe.
Damit eröffne ich die zweite Wahl, Farbe Weiß, Bundesfinanzierungsgremium.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde Ihnen für
den nächsten Wahlgang genau sagen, wo diejenigen stehen, die die Stimmzettel verteilen, damit das nicht noch
einmal so chaotisch wird wie jetzt.
Ich warte jetzt so lange, bis alle einen Stimmzettel haben, und bitte noch einmal diejenigen, die die Stimmzettel verteilen, ihren Arm hochzuheben, damit die Kolleginnen und Kollegen das wirklich sehen können. - Ich
bitte Sie, die graue und die grüne Stimmkarte noch nicht
auszufüllen. Bei der grauen Stimmkarte haben Sie zum
Beispiel nur eine Stimme. Ich bitte Sie also noch um einen Moment Geduld.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das die weiße
Stimmkarte und den weißen Wahlausweis noch nicht abgegeben hat? Sie müssten sich dann sofort melden, da
ich ansonsten den Wahlgang schließe. - Ich schließe
hiermit den Wahlgang.
Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 4 c.
Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen 18/362 bis
18/365 ({44}) Listen mit Wahlvorschlägen der einzelnen
Fraktionen vor.
Für diese Wahl benötigen Sie die grüne Stimmkarte
und Ihren grünen Wahlausweis.
Die grünen Stimmkarten werden jetzt im Saal verteilt.
Ich möchte Sie gleich darauf aufmerksam machen,
dass Sie auf dieser Stimmkarte nur einen Vorschlag ankreuzen dürfen. Demzufolge sind Stimmkarten ungültig,
die mehr als ein Kreuz tragen oder Zusätze enthalten.
Wer sich der Stimme enthalten will, macht bitte keinen
Eintrag.
Jetzt ein Hinweis, wo Sie die Karten erhalten: Sie erhalten die Karten vorne rechts und links an den beiden
Säulen, direkt vorne an den Wahlurnen und hinten bei
den beiden Säulen. Das müsste jetzt klappen.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre
Plätze bereits eingenommen. Ich eröffne den Wahlgang.
Gibt es einen Kollegen, der noch keine Stimmkarte
abgegeben hat? Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich damit den
Wahlgang.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 d: Wahl der
Mitglieder des Richterwahlausschusses. Dazu liegen Ihnen auf den Drucksache 18/366 bis 18/368 Listen mit
Wahlvorschlägen der einzelnen Fraktionen vor.
Sie benötigen nun die graue Stimmkarte und Ihren
grauen Wahlausweis. Die grauen Stimmkarten werden
ebenfalls im Saal verteilt.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre
Plätze an den Urnen eingenommen. Ich eröffne den
Wahlgang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich
den Wahlgang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit haben wir
diese Übung absolviert. Ich bitte um Entschuldigung,
aber wir werden uns im Präsidium für das nächste Mal
ein anderes Verfahren überlegen müssen.
({45})
Ich hoffe, dass es jetzt trotzdem noch einigermaßen ge-
klappt hat. Aber ich denke, dass wir die Übung in dieser
Form nicht wiederholen sollten.
Die Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Wir fahren mit Tagesordnungspunkt 1 fort:
Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin({46})
Wir kommen zum Themenbereich Verteidigung. Für
die Aussprache sind 60 Minuten vereinbart worden.
Das Wort hat zunächst die Bundesministerin Ursula
von der Leyen. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
({47})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erlauben Sie mir, zunächst einmal auf der Tribüne Fall-
schirmjäger des Bataillons 263 aus Zweibrücken ganz
herzlich zu begrüßen. Ich freue mich, dass Sie heute die-
ser Debatte beiwohnen können.
1) Ergebnisse Seiten 659 C, D, 660 A
({0})
Das Jahr 2014 ist ein wichtiges Jahr für die deutsche
Sicherheitspolitik, für Europa und die Nordatlantische
Allianz, und zwar aus vielerlei Gründen. Ich möchte zu
einigen Stellung nehmen.
Zunächst einmal: In welchem Rahmen bewegen wir
uns? Die NATO erreicht die Mitte der Dekade, die durch
ihr strategisches Konzept von Lissabon 2010 bestimmt
ist. Wir werden auf dem NATO-Gipfel im September
entscheiden, wie die zweite Hälfte unter sich verändernden Bedingungen gestaltet werden soll; das wird ein
spannender Prozess werden. Zugleich haben wir erlebt,
dass der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs im Dezember 2013 zum ersten Mal seit Jahren die
Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik - ich betone: Gemeinsamen - auf den Weg
gebracht hat. Sie hat sich ein sehr anspruchsvolles Programm für die Verbesserung der zivilen und militärischen Fähigkeiten der Europäer gegeben.
Das alles spielt sich vor dem Hintergrund ab, dass in
Afghanistan die Allianz und ihre Partner den größten,
den längsten und den anspruchsvollsten Kampfeinsatz in
der Geschichte der NATO beenden. Bei aller Pein, die
das mit sich gebracht hat, hat uns Afghanistan viel gelehrt. Der Kampfeinsatz war anfangs notwendig zur
Bekämpfung des Terrorismus. Aber gerade als Verteidigungsministerin kann ich nur immer wieder betonen,
wie wichtig der vernetzte Ansatz ist, bei dem militärische Sicherheit, entwicklungspolitische Hilfe, diplomatische Verhandlung und wirtschaftlicher Aufbau Hand in
Hand gehen.
({1})
Wir wollen, dass dieses Land für seine Sicherheit und
Stabilität bald selber sorgen kann. Dazu setzen wir bereits jetzt alle Kraft für die Ausbildung einer afghanischen Armee und Polizei ein. Wir haben den Flughafen
in Masar-i-Scharif den Afghanen übergeben. Wir haben
im vergangenen Sommer ein Generalkonsulat in Masar-iScharif eröffnet. Das ist ein starkes Zeichen dafür, wie
wichtig uns Afghanistan ist. Aber wir müssen auch willkommen sein. Die kommenden Monate sind entscheidend, ob es gelingt, dass Karzai oder ein Nachfolger das
bilaterale Sicherheitsabkommen mit den USA unterschreibt. Das ist Grundbedingung dafür, dass wir die für
uns so wichtige Folgemission der Ausbildung und der
Unterstützung auf den Weg bringen können. Heute Nacht
hat Obama in seiner State of the Union noch einmal bekräftigt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika auf
diesem Sicherheitsabkommen zu Recht bestehen, aber
dass sie dann bereit sind, diese Resolute Support Mission zu unterstützen.
Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht
hätte, dass in Afghanistan die Vorarbeit für diese Mission früher begonnen hätte, dass die Folgemission also
jetzt schon gesichert wäre. Die Zeit drängt, und umso
wichtiger ist es, dass wir in der verbleibenden Zeit alles
daransetzen, dass Schutz, Training und Ausbildung, also
RSM, möglich werden.
Afghanistan hat aber auch zum allerersten Mal gezeigt, wie sehr die Europäer in der NATO darauf angewiesen sind, sich untereinander abzustimmen. Im Norden tragen wir die Hauptverantwortung; wir sind die
Rahmennation für 16 weitere Nationen. Im Ergebnis
zeigt sich ein geschlossener, kohärenter Einsatz, breit
angelegt und durchhaltefähig. Wir haben im Einsatz gelernt: Keiner kann mehr alles allein vorhalten. Nur gemeinsam können wir Verantwortung in Europa übernehmen.
Hinzu kommt, dass die globale Finanzkrise, insbesondere die Euro-Krise, tiefe Spuren hinterlassen hat. Die
neue europäische Wirtschafts- und Währungsunion
nimmt feste Formen an; aber alle hier im Raum wissen,
dass unsere nationalen Budgets unter einem enormen
Konsolidierungsdruck stehen. Das ist so. In der Folge
werden Verteidigungsbudgets gekürzt, ob es gefällt oder
nicht. Wir müssen aber vermeiden, dass unabgestimmt
in vielen Mitgliedstaaten gekürzt wird, was zur Folge
haben kann, dass viele Lücken gerissen werden und wir
den Verlust von gemeinsamen Fähigkeiten noch erhöhen. Ich bin der Überzeugung, dass wir trotz der schwierigen Lage als Europäer intelligenter zusammenarbeiten
können, und das sollten wir auch tun.
({2})
Wir brauchen mehr Kooperation, wir brauchen mehr
Transparenz, wir brauchen mehr Abstimmung, und das
heißt mehr Vertrauen. Das sind die Gebote der Stunde.
Sie kennen die Schlagworte: Smart Defense und Pooling
and Sharing. Wir müssen auch nach dem ISAF-Einsatz
das hohe Niveau der Zusammenarbeit, das, was wir im
Norden gelernt haben - ich habe es eben geschildert -,
unter anderem durch anspruchsvolle Übungsprogramme
in den nächsten Jahren wahren. Da ist die Connected
Forces Initiative der NATO ein richtiger und wichtiger
Schritt in die Zukunft. Dieses Signal sollten wir verstärken.
Deutschland übernimmt Verantwortung im Bündnis.
Das brauche ich hier eigentlich nicht zu wiederholen.
Alle wissen, dass wir der zweitgrößte Beitragszahler
sind und dass wir bei den beiden größten NATO-Missionen in Afghanistan und im Kosovo einer der zentralen
Truppensteller sind. Nun werden wir zusehends mit einer Vielzahl von Krisenherden in Afrika konfrontiert.
Diese haben sehr schnell auch Auswirkungen auf
Europa. Keiner von uns hat die Bilder von Lampedusa
vergessen. Wir sind daher auch hier zum Handeln verpflichtet. Das beginnt mit der Bekämpfung der Piraterie
am Horn von Afrika und geht bis hin zu Einsätzen in
Mali und Zentralafrika. Wir wollen den in 2013 begonnenen Einsatz in Mali zusammen mit unseren europäischen, aber auch mit unseren afrikanischen Partnern zu
einem Erfolg bringen. Wir überprüfen daher die Ergänzung, aber auch die Aufstockung der Zahl unserer Soldatinnen und Soldaten, die in Mali schon im Einsatz sind,
und wir prüfen eine Unterstützung der kommenden EUMission in der Zentralafrikanischen Republik. Wir haBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
ben diese EU-Mission als Europäer gemeinsam auf den
Weg gebracht. Also müssen wir uns jetzt, wenn wir diese
Mission ausplanen, auch entsprechend verhalten.
Mir sind zwei Dinge wichtig. Erstens. Es bleibt bei
unserem Grundsatz: Kein Kampfeinsatz in Zentralafrika.
Aber wir haben Fähigkeiten - das geht unter den Begriffen Pooling and Sharing und Smart Defense ganz konsistent voran - zum Beispiel im Verwundetentransport,
MedEvac, die andere so nicht haben. Wenn diese Fähigkeiten nötig sind, dann sollten wir sie auch stellen. Wir
sollten diese Diskussion führen; denn ich finde: Wenn
man innerhalb des Bündnisses gemeinsam etwas auf den
Weg bringt, dann muss man auch bereit sein, gemeinsam
die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das heißt, ein
differenziertes Vorgehen ist uns wichtig, und dieses Vorgehen muss selbstverständlich auf dem Boden eines
Mandats stattfinden.
Der zweite Punkt, der mir wichtig ist. Dauerhafte Stabilität kann nur durch den Wiederaufbau staatlicher
Strukturen erzeugt werden, siehe Afghanistan. Wir haben gelernt, dass es auch eine Frage der Zeit ist, wann
man mit Folgemissionen auftritt. Dabei geht es um vernetzte Sicherheit. Deshalb: Der Wiederaufbau staatlicher
Strukturen kann nicht und darf nicht nur die Aufgabe des
Militärs sein. Gerade als Verteidigungsministerin kann
ich immer wieder nur betonen, wie wichtig es ist, die militärische Sicherheit, die entwicklungspolitische Hilfe
und den Wiederaufbau Seit’ an Seit’ zu haben. Denn ich
bin der festen Überzeugung: Streitkräfte und damit die
Bundeswehr sind gelegentlich nötig, um die Lage zu klären; gar keine Frage. Wir sehen mit Stolz und Dankbarkeit auch auf unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, die das für uns immer wieder im Bündnis leisten.
({3})
Aber wir wissen eben auch: Wir sind Teil des Gesamtinstrumentariums der vernetzten Sicherheit, und wir
können und dürfen nicht das einzige Instrument sein. Ich
bin deshalb der festen Überzeugung, dass es richtig ist,
sich jetzt an eine Afrika-Strategie zu machen, diese gemeinsam mit den Ressorts - dem Außenministerium,
dem Entwicklungshilfeministerium - und den Fraktionen auf den Weg zu bringen. Ich habe mich über die verschiedenen Signale gefreut. Ja, Afrika ist unser Nachbar.
In Afrika ist uns vieles nicht von vornherein selbstverständlich und nah. Aber wir als Europäer haben eine
enge Verbindung zum Nachbarkontinent. Wir als Europäer wissen viel über Afrika. Wenn wir dieses Wissen
und unsere Fähigkeiten bündeln, dann ist das der richtige
Weg zur Erreichung von Frieden und zum Aufbau demokratischer und stabiler Strukturen in Afrika.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist ein
zentrales sicherheitspolitisches Instrument mit dem
Mandat des Deutschen Bundestages. Lassen Sie mich
noch den Blick nach innen werfen. Wir haben in der letzten Sitzungswoche eine ausgeprägte Diskussion über die
Attraktivität der Bundeswehr im Rahmen der Debatte
über den Bericht des Wehrbeauftragten geführt. Deshalb
verwende ich heute weniger Zeit darauf. Ich fand es sehr
schön, wie die Kanzlerin heute Morgen sagte: Wir machen Politik für die Menschen. - Das wollen wir durchdeklinieren bis tief in die Bundeswehr und ihren Alltag
hinein, liebe Freundinnen und Freunde.
({4})
Das zentrale Ziel der Neuausrichtung ist die dauerhafte Einsatzfähigkeit. Ja, das stimmt. Aber Attraktivität,
Modernität, Verankerung in der Gesellschaft sind auch
zentrale Faktoren der dauerhaften Einsatzfähigkeit. Sie
sind kein Widerspruch, sondern ergänzen sich. Ich bin
der festen Überzeugung: Eine familienfreundliche Bundeswehr wird nicht schwächer, sie wird stärker.
({5})
Die Diskussion über das Wie wird noch lange andauern. Vieles ist gut; aber viel ist auch noch zu tun. Mir ist
wichtig: Das ist keine Frage, die „nur“ die Frauen in der
Bundeswehr angeht, sondern eine Frage, die vor allem
auch den Soldaten betrifft, der Vater ist und für sein
Kind als Vater unverzichtbar ist. Das bedeutet, dass er
gemeinsame Zeit mit seiner Familie braucht, und die
wollen wir ermöglichen. Wir wollen nicht aasen mit seiner Zeit, sondern wir wollen durch Flexibilität diese Zeit
ermöglichen.
Wir haben in der letzten Sitzungswoche eine breite
Diskussion über das Thema „Frauen in der Bundeswehr“
geführt. Auch dazu sage ich: Mehr Frauen in der Bundeswehr machen die Bundeswehr ganz sicher nicht
schwächer, sondern sehr viel stärker.
({6})
Der Frauenanteil in der Bundeswehr liegt bei 10 Prozent; das wissen wir alle. Diese Frauen in der Truppe
sind selbstbewusste Frauen. Ich weiß aus der eigenen
Lebenserfahrung, dass nicht jeder damit umgehen kann,
aber die allermeisten können das - und die wollen wir
stärken. Deshalb müssen wir die Karrierepfade für
Frauen gangbarer machen. Wir müssen sie sichtbarer
machen, und wir müssen sichtbarer machen, wie sehr die
Bundeswehr von der wachsenden Zahl der Frauen in der
Truppe profitiert.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat sich
bewährt. Sie hat sich bewährt als eine Armee für den
Frieden im multinationalen Raum und als eine Armee
der Demokratie. Wir wollen sicherstellen, dass das so
bleibt.
Vielen Dank.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nächster spricht
Dr. Alexander Neu.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Die beste familienfreundliche Bundeswehr ist
eine Bundeswehr, die zu Hause bleibt, die das Territorium Deutschlands verteidigt, und keine Interventionsarmee.
({0})
Ich habe mich heute auf das Thema Verteidigung eingestellt. Ich habe aber zum Thema Verteidigung nicht
sehr viel gehört, Frau von der Leyen.
({1})
Was ich gehört habe, ist „Afrika“, was ich gehört habe,
ist „Menschenrechte“ etc., aber von Verteidigung nichts.
Ich möchte gern einmal charakterisieren, was Verteidigung ist.
Die Verteidigung ist laut Grundgesetz eine Territorialverteidigung. Ich kann das gern auch zitieren; Art. 87 a
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 115 a Abs. 1. Dort heißt
es:
Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff
unmittelbar droht ({2}), trifft der
Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates.
Ein zentraler Begriff ist „Bundesgebiet“; das heißt,
ein räumlich bestimmter Verteidigungsbegriff. Ein weiterer zentraler Begriff ist „Waffengewalt“; das heißt die
konkrete Anwendung von Waffengewalt gegen Deutschland, keine Spekulation und vor allem keine abstrakten
Bedrohungsgefühle. Das Dritte ist der Präemptionsfall
- ein Angriff droht unmittelbar -; das heißt Akzeptanz
des Präemptionsfalls, was wiederum heißt: zeitliche
Unmittelbarkeit, Angriff im Kommen. Mit anderen Worten: Das eigene Staatsgebiet ist gegenwärtig Ziel eines
Angriffs. Ein Beispiel: Die funkelektronische und satellitengestützte Aufklärung macht klar, dass auf Deutschland Waffensysteme gerichtet sind und agieren. Die Völkerrechtsliteratur, sehr geehrte Damen und Herren,
kommt mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass der Präemptionsschlag legitim ist.
Die Grundgesetzformulierung ist sehr gut, und die
Linke teilt genau diese, nämlich den verteidigungspolitischen Begriff als einen territorial gebundenen Begriff.
({3})
Allerdings erleben wir von den Bundesregierungen
wechselnder Couleur und von unseren NATO-Verbündeten seit Anfang der 90er-Jahre, dass sie sich regelmäßig
in Völkerrechtsbrüchen üben. Nicht nur Präemption,
sondern auch Prävention, sogenannte offensive Selbstverteidigung, soll legalisiert werden.
({4})
- Ja! - So heißt es zum Beispiel im Entwurf des Weißbuchs aus dem Jahr 2006 - nächstes Zitat -:
Die gewandelten Sicherheitsherausforderungen erfordern ein neues, gemeinsames Verständnis des
Systems der Charta der Vereinten Nationen … das
Recht auf Selbstverteidigung [muss] präzisiert und
präventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesicherten Grundlagen geregelt werden.
Also, Prävention wird eingefordert.
Stichworte wie „Proliferation von Massenvernichtungswaffen“, „internationaler Terrorismus“, „Problemstaaten“ - schon der Begriff „Problemstaaten“ irritiert
mich sehr -, „Cyberwar“ etc. suggerieren nichts anderes
als asymmetrische Risiken, die eine, wie es so schön
heißt, Neuinterpretation des Völkerrechts oder eine Weiterentwicklung des Völkerrechts erforderlich machen.
Nun ist es aber so, dass eine Weiterentwicklung oder
eine Neuinterpretation des Völkerrechts einige Haken
hat:
Erstens. Die Staaten des globalen Südens finden das
überhaupt nicht toll. Dort wird keine Bereitschaft zu erkennen sein, Präventivkriege als Selbstverteidigungskriege in irgendeiner Weise völkerrechtlich oder vertragsrechtlich gewohnheitsmäßig zu etablieren.
Zweitens. Eine völkerrechtliche Etablierung von Präventivkriegen als Selbstverteidigungsfall ist nichts anderes als ein Ermächtigungsgesetz, und ich glaube, das
wollen wir nun wirklich nicht haben.
({5})
- Nein, ich hatte einen sehr guten Lehrer - im Gegensatz
zu Ihnen; aber darüber können wir gerne streiten. - Das
heißt, mit der Etablierung des Selbstverteidigungskrieges als Präventivkrieg schaden Sie nachhaltig dem
Friedensvölkerrecht. Sie erledigen es quasi.
({6})
Lieber Kollege, ich darf Sie darauf hinweisen, dass
wir den Begriff „Ermächtigungsgesetz“, der einen klaren
Bezug und eine klare Bedeutung aus der Zeit des Nationalsozialismus hat, in der Debatte heute nicht verwenden
sollten und auch solche Vergleiche nicht anstellen sollten.
({0})
Ich werde diese Belehrung für den heutigen Tag akzeptieren, Frau Präsidentin.
({0})
Ich hoffe, dass die Sekunden, die mir dadurch gerade
verloren gegangen sind, wieder gutgeschrieben werden.
({1})
Ich darf fortsetzen. - Bei einem entterritorialisierten
Verteidigungsbegriff, der Aspekte - ({2})
- Ich bitte um Ruhe; ich lasse Sie auch ausreden.
({3})
- Sie reden so viel Unsinn jeden Tag. Das fällt gar nicht
mehr weiter auf.
Wir sind bei dem entterritorialisierten Verteidigungsbegriff, in dessen Rahmen Werte- und Interessenverteidigung - die Kanzlerin hat heute selber die Begriffe „Interessenverteidigung“ und „Werteverteidigung“ in den
Mund genommen - akzentuiert werden. Wenn dieses auf
dem Territorium von Drittstaaten gegen deren Willen
praktiziert wird, handelt es sich um eine blanke Aggression und nicht um eine Selbstverteidigung.
({4})
- Hören Sie zu, dann lernen Sie noch etwas. - Der Verteidigungsbegriff, der seiner spezifischen zeitlichen und
räumlichen - ({5})
- Können Sie das bitte unterbinden? Das ist unerträglich.
({6})
Herr Kollege, es gehört erstens zu den parlamentarischen Gepflogenheiten, dass auch Zwischenrufe erlaubt
sind.
({0})
Zweitens, Herr Kollege, greife ich dann ein, wenn ich
es für angemessen halte.
({1})
Da habe ich wieder etwas gelernt. - Wenn Frau
Ministerin von der Leyen damit argumentiert, Deutschland müsse seiner gewachsenen Verantwortung mehr gerecht werden, kann ich dazu nur sagen: Sie hat recht, es
muss nur nicht militärisch sein.
({0})
Es gibt eine Menge Möglichkeiten, wie man es auch
zivil handhaben kann. Jährlich verhungern weltweit
zwischen 20 und 40 Millionen Menschen. Kommen Sie
Ihrer Verantwortung nach und tragen Sie zu einer fairen
Weltwirtschaft bei,
({1})
statt mit Krieg und militärischer Drohpräsenz deutsche
Exportchancen zu erkämpfen!
Westerwelles Kultur der militärischen Zurückhaltung,
sehr geehrte Damen und Herren, war richtig. Die Linke
teilt genau diesen Ansatz.
({2})
- Ja, wer hätte gedacht, dass die Linke einmal einem Au-
ßenminister Westerwelle nachtrauern würde. Das ist nun
leider der Fall.
Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Mitteleu-
ropas und damit Deutschlands mit konventionellen
militärischen Mitteln besteht heute nicht mehr. Das
wird … auf absehbare Zeit auch so bleiben.
So der Generalinspekteur Wieker in seinem Bericht zum
Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010.
Frau Ministerin von der Leyen, ziehen Sie aus dieser
Feststellung von Wieker und meinen Ausführungen ent-
sprechende Konsequenzen, nämlich a) die massive
personelle Reduktion der Bundeswehr und b) die Restrukturierung der Bundeswehr zu einer reinen Verteidigungsarmee.
({3})
Herr Neu, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Natürlich.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Neu, ich habe nur eine ganz kurze Frage. Ich bin
auch neu hier, aber nicht mit Namen. Soll das jetzt wirklich so weitergehen, diese Unart, diese Ungezogenheit?
Sie sagen, Frau Bellmann würde nur Unsinn reden,
({0})
und anderen werfen Sie es auch vor.
({1})
Das ist, glaube ich, in so einem Haus doch nicht notwendig. Das ist auch nicht gut für den Namen unseres Hauses, weil sich der eine oder andere das auch unter
menschlichen Gesichtspunkten anschaut. Ich würde
schon bitten, auch als neuer Kollege da vielleicht doch
ein bisschen Ehre an den Tag zu legen und so etwas einfach zu unterlassen.
Meine Frage wäre jetzt: Wollen Sie das so weiterführen, oder wollen Sie sich da vielleicht etwas zurücknehmen?
Danke schön.
Das war eine verkappte Frage. Das war ein Verhaltenshinweis. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich
werde gleich zum Ende kommen.
Herr Kollege Weiler, Sie müssten während der Antwort stehen bleiben. Das ist aber entschuldigt bei einem
neuen Abgeordneten, keine Frage.
Sie, Herr Weiler, sind halt neu im Hause, ich auch. Ja, die Antwort habe ich gegeben. Es war keine wirkliche Frage, sondern eine verkappte Frage.
Ich würde gerne fortfahren und werde versuchen,
mich zu disziplinieren.
({0})
- Ich kann fortfahren? - Wenn nun die Bundesregierung
der Auffassung ist, dass sie etwas verteidigen und schützen möchte, dann soll sie es tun. Sie möge endlich ihrer
originären staatlichen Aufgabe nachkommen, nämlich
die Menschen in diesem Lande vor Cyberwar zu schützen. Cyberspionage, Cybersabotage ist Cyberwar.
80 Millionen Menschen in diesem Land sind potenzielle
und reale Opfer von Cyberangriffen auf deutschem
Territorium. Es gibt also massive und permanente Angriffe auf die Souveränität unseres Landes und auf die
Bürgerrechte durch einen Drittstaat bzw. sogar durch
mehrere Drittstaaten.
Frau Bundeskanzlerin - sie ist zwar jetzt nicht mehr
hier, aber dennoch richte ich diese Worte an sie -, Sie haben einen Eid auf das Grundgesetz abgelegt. Sie sind
dem Grundgesetz und den Menschen dieses Landes gegenüber verpflichtet, nicht gegenüber Washington. Tun
Sie etwas! Kommen Sie Ihrer Pflicht nach, zum Wohle
dieses Landes und seiner Menschen! Handeln Sie endlich!
Danke.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Arnold
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich wollte ich mich mit den Linken nicht auseinandersetzen. Aber Ihre Ausführungen waren so
schlimm, dass ich richtig Sehnsucht nach Ihrem Vorgänger Paul Schäfer habe.
({0})
Mit dem konnte man streiten, was man mit Ihnen nicht
mehr tun kann, Herr Kollege Neu.
Sie haben mich vorhin auf unseren Disput im Verteidigungsausschuss angesprochen. Sie haben dort die
abstrakte terroristische Bedrohung mit Marsmännchen
verglichen. Herr Kollege, Ihre Rede war außerirdisch.
Insofern trifft Ihr Vergleich zu.
({1})
Herr Kollege, wer negiert, dass die Vereinten Nationen deutsche Einsätze mandatieren,
({2})
wer negiert, dass das Bundesverfassungsgericht Verfassungsrecht gesprochen hat, und wer Thesen wie „völkerrechtswidrig“ oder gar „Ermächtigungsgesetz“ in den
Raum stellt,
({3})
der kann nicht mehr ernst genommen werden; es tut mir
leid. Darüber können wir nicht streiten, weil es einfach
nicht stimmt.
({4})
Die Ministerin hat heute nach ihrem Impuls in der
letzten Woche zur besseren Vereinbarkeit von Familie
und Beruf längere Linien gezogen. Wir begrüßen dies
außerordentlich. Wir sind nämlich der Auffassung, dass
die Große Koalition eine Chance sein kann, hier eine
entsprechende Debatte anzustoßen, die in Deutschland
heikel und angesichts der deutschen Geschichte sowie
der vorhandenen Distanz vieler Menschen in Deutschland zu militärischen Themen vielleicht eine sensible
Angelegenheit ist. Gründe für die vorhandene Distanz
- ich sage ausdrücklich, dass mir diese Distanz lieber ist,
als wenn es andersherum wäre - sind ein Stück weit
durch Debatten zu klären.
Es ist ein vernünftiger Aufschlag, in Deutschland in
den nächsten vier Jahren in der Großen Koalition Klarheit darüber zu schaffen, welche Verantwortung und
welche Rolle Deutschland in der internationalen Politik
spielen soll. Mein Eindruck ist: Die deutschen Bürgerinnen und Bürger sind längst bereit, über die strategische
Ausrichtung, über die Grundlagen der Sicherheitspolitik
und über die Legitimation von Einsätzen der Streitkräfte
vernünftig zu reflektieren.
Herr Kollege, ich habe so lange gewartet, bis Sie eine
kleine Pause machen. Nun möchte ich Sie fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel zulassen.
Gerne.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Lieber Kollege
Arnold, Sie sagten, die UN mandatiere die deutschen
Einsätze. Meine Frage ist: Wer hat denn die Patriot-Stationierung mandatiert? Wer hat Operation Enduring
Freedom mandatiert? Wer hat Operation Active Endeavour mandatiert? Hier finden doch Selbstmandatierungen eines Militärbündnisses statt. Hier findet Selbstermächtigung in Bezug darauf statt, wann eine Gefahr
besteht. Hier wird im Grunde neues Recht geschaffen.
({0})
Vielleicht sind Sie ja vergesslich. Deswegen möchte
ich Sie daran erinnern: Die Vereinten Nationen haben
nach den Anschlägen von 9/11 die Staatengemeinschaft
aufgefordert, alles, was möglich ist, zu tun, um gegen
diese Bedrohung vorzugehen. Die Bedrohung kam in
diesem Fall aus Afghanistan.
Ihr Kollege hat vorhin davon gesprochen, dass es zerfallende Staaten gibt, was er offensichtlich nicht so
schlimm findet. Als ob uns dies nichts anginge! In zerfallenden Staaten schlachten sich Ethnien oder Angehörige verschiedener Religionsgemeinschaften gegenseitig
ab. Mit Verlaub: Dies müsste Politiker der Linken doch
aus ethischen Gründen etwas angehen. Zerfallende
Staaten, die Rückzugsräume für Terroristen bieten, auf
deren Agenda steht, gegen unser Leben und gegen
unsere Länder vorzugehen, müssen uns alle miteinander
etwas angehen.
({0})
Zu Ihrem letzten Beispiel, Einsatz in der Türkei, will
ich sagen: Es ist Alltag im Bündnis, dass man Landesverteidigung bündnisweit sieht. Wir verteidigen unser
Land nicht mehr, indem wir warten, bis die Risiken bei
uns angekommen sind, sondern wir verteidigen das
Bündnis insgesamt. Dies ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ganz eindeutig geklärt.
Was wir in der Türkei machen, ist NATO-Routine.
({1})
Wir haben mit AWACS einen ständigen Aufklärungsverband der NATO in der Türkei. Eigentlich ist es kein
großer Aufreger, wenn defensive Systeme bereitgehalten
werden. Wir mandatieren diesen Einsatz deshalb, weil
an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien ein
bewaffneter Konflikt stattfindet, bei dem die Gefahr besteht, dass türkische Bürgerinnen und Bürger in ihrer
Gesundheit geschädigt werden und dass sie vielleicht sogar - das ist bereits geschehen - ums Leben kommen.
Deshalb gibt es ein Mandat. Aber es ist alles völkerrechtlich in Ordnung.
Hören Sie deshalb auf, den Unsinn zu verbreiten, wir
würden völkerrechtswidrige Einsätze beschließen!
({2})
Wir als Abgeordnete würden uns strafbar machen, wenn
wir dies täten. Jeder deutsche Soldat - auf der Zuschauertribüne sitzen einige Soldaten - dürfte nicht nur,
sondern er müsste den Befehl verweigern, wenn er sich
in einem völkerrechtswidrigen Einsatz befinden würde.
Hören Sie mit diesem Quatsch einfach auf!
({3})
Ich war bei dem Thema: Wie können wir die gesellschaftliche Debatte in Deutschland voranbringen? Ich
bin mir darüber klar, dass das auch Sache des Parlaments
ist. Ich bin froh über Beiträge aus der Gesellschaft. Ich
stimme zwar nicht überein mit dem, was die EKD veröffentlicht hat; aber es ist ein guter Auftakt, um mit den
Kirchen über die deutsche Verantwortung und Rolle in
der Welt zu sprechen. Wir nehmen dieses Angebot sehr
gerne an. Die Lehre aus Afghanistan hat die Ministerin
auch beschrieben, nämlich dass es nur ressortübergreifende Ansätze gibt.
Noch einmal an die Linken: Niemand behauptet, dass
die Probleme der Welt militärisch zu lösen sind. Wir alle
wissen längst, dass das Militär zunächst einmal das
Schlimmste verhindern kann, ein Zeitfenster für zivile
Leistungen offenhalten kann. Wir wissen schon lange,
dass ziviler Aufbau, diplomatische Bemühungen und
militärische Interventionen dort, wo sie notwendig sind,
zusammen gedacht, zusammen geplant und zusammen
organisiert werden müssen. Deshalb ist es natürlich richtig, wenn wir diesen vernetzten Ansatz in dieser Großen
Koalition noch deutlicher zum Tragen bringen. Ich wünsche mir, dass wir, statt Verteidigungspolitische Richtlinien zu veröffentlichen, wieder zu einer alten Tradition
in der Bundesregierung zurückkommen, nämlich zwischen den Ressorts abgestimmte sicherheitspolitische
Richtlinien zu formulieren.
Der Außenminister hat uns heute gesagt: Die Herausforderungen ändern sich schneller. Zur Zeit des Kalten
Krieges war die Situation viele Jahre statisch. In den
letzten vier Jahren sind die Krisen näher an Europa herangekommen - das merken wir bei unseren heutigen
Debatten -, gerade auf dem afrikanischen Kontinent.
Das ist überhaupt keine Frage. Es ist gut und richtig,
wenn eine vernetzte Strategie entwickelt wird und mit
den Europäern darüber geredet wird, dass es nicht effektiv sein kann, wenn jedes Land in vielen afrikanischen
Ländern kleine Beiträge leistet. Nein, wir müssen uns
fragen: Wer kann was und wo am besten? Da kommt den
französischen Partnern in den französischsprachigen
Ländern natürlich eine besondere Verantwortung zu. Es
ist klug und richtig, wenn die Deutschen Schwerpunkte
bilden, weil es logistisch viel einfacher ist.
Die ganze Debatte zeigt allerdings auch: Wir müssen
über die Bundeswehrreform noch intensiver reden, Frau
Ministerin; denn diese Reform hat diese Szenarien nicht
ausreichend im Blick. Sie ist eine Reform mit Fokus auf
die Lehren aus Afghanistan und dem Kosovo.
Wir sehen im Augenblick auf jeden Fall Folgendes:
Wir stellen uns eher auf viele kleinere, parallel laufende
Einsätze ein. Dazu gibt die Reform im Bereich der Logistik, der Aufklärung und der Unterstützung des Transports nicht die ausreichenden Antworten. Ich bin der
Auffassung: Die Umsetzung, die Implementierung der
Reform ist Sache der Exekutive; das ist ganz klar. Aber:
Das deutsche Parlament entscheidet über die Einsätze.
({4})
Das setzt voraus, dass alle Abgeordneten Verständnis für
die Grenzen der Möglichkeiten haben, die die Bundeswehr anbietet, für das, was die Bundeswehr leisten kann.
Wir alle sollten ein Grundverständnis von der Funktionalität der Truppe haben. Jeder Abgeordnete, der über
Einsätze entscheidet, hat zusammen mit der Regierung
eine Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler und der
Öffentlichkeit. Deshalb ist es wichtig, über die Reform
in den nächsten Wochen intensiv zu diskutieren.
({5})
Herr Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Movassat?
Gerne.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Arnold, Sie
haben vorhin gesagt, Deutschland sei nicht an völkerrechtswidrigen Einsätzen beteiligt gewesen. Ich nenne
Ihnen einen ganz konkreten Fall, der im Juni 2005 vor
dem Bundesverwaltungsgericht entschieden worden ist.
Hierbei ging es um den Irak-Einsatz, an dem Deutschland zwar nicht direkt militärisch beteiligt war, bei dem
es aber Überflugrechte gewährt hat, AWACS zur Verfügung gestellt hat. Es ging um die Gehorsamsverweigerung eines Soldaten. Er sollte an der Erarbeitung eines
Computerprogramms mitwirken und hatte die Befürchtung, dass dieses Programm im Zusammenhang mit dem
Irak-Einsatz verwendet wird. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass der Irak-Krieg völkerrechtswidrig ist und dass durch einen solchen Einsatz des Soldaten
Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Einsatz geleistet
wird. Mithin hat sich Deutschland durchaus schon einmal an völkerrechtswidrigen Einsätzen beteiligt. Oder
bestreiten Sie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes?
({0})
Ich habe das Urteil noch in Erinnerung, Herr Kollege.
Das Bundesverwaltungsgericht hat nicht gesagt, dass
dieser Einsatz völkerrechtswidrig ist. Es konnte diese
Frage nicht wirklich klären.
({0})
Es hat aber das Recht des Soldaten gestärkt.
Herr Kollege, für mich ist aber etwas anderes entscheidend: Ich bin stolz darauf, wie die Sozialdemokratie und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in
dieser Situation zurechtgekommen sind, wie sie dem
Druck von vielen Partnern standgehalten haben, sich an
diesem Krieg zu beteiligen. Das war eine Sternstunde
dieser Regierung und des Parlamentes, und das lassen
wir uns ganz eindeutig von niemandem schlechtreden.
({1})
Ich möchte zur Reform zurückkommen. Bisher war es
der Ansatz der Politik, möglichst viele Optionen anzubieten. Ich glaube, dieser Ansatz wird in Zukunft nicht
tragen. Wir müssen verstärkt die Frage stellen: Welche
Fähigkeiten passen am besten zum politischen Auftrag,
den wir der Bundeswehr in Zukunft geben werden?
Dazu müssen wir diesen Auftrag sorgfältig diskutieren
und formulieren. Das heißt, wir müssen die Bundeswehrreform nicht primär am aktuellen Einsatz orientieren, sondern eher am zukünftigen Auftrag. Die Ziele
bleiben die gleichen: Durchhaltefähigkeit, Flexibilität,
Mobilität. Aber der Wehrbeauftragte sagt uns zu Recht:
Diese Ziele werden durch die Reform zumindest in vielen Bereichen eher nicht erreicht. Er hat Anlass zur
Sorge, dass -
Herr Kollege Arnold, es wird noch einmal um eine
Zwischenfrage gebeten.
Immer gerne.
Frau Kollegin Vogler.
Danke, Frau Präsidentin, und danke, Herr Kollege
Arnold, dass Sie erneut eine Zwischenbemerkung zulassen.
Herr Kollege, ich kann das, was Sie gerade gesagt
haben, nicht so stehen lassen. Ich finde, was Sie hier betreiben, ist schon in einem gewissen Maße Selbstbeweihräucherung. Würden Sie mir zugestehen, dass Bundeskanzler Schröder und die Bundesregierung nicht nur
dem Druck seitens der Verbündeten ausgesetzt waren,
die Bundeswehr in den Irak-Krieg zu schicken, sondern
andererseits auch einem erheblichen Druck aus der Bevölkerung ausgesetzt waren, dies zu unterlassen?
Ich habe selber die große Demonstration hier in Berlin mit veranstaltet, an der eine halbe Million Menschen
teilgenommen haben. An diesem Tag waren mindestens
13 Millionen Menschen auf der ganzen Welt unterwegs
und haben in den Hauptstädten gegen den Irak-Krieg demonstriert. Da gab es eine riesige Bewegung, es war eine
weltweite Stimmung. Viele waren gemeinsam unterwegs:
({0})
Grüne, Sozialdemokraten, Linke, Friedenskämpfer,
Leute aus Kirchen und Gewerkschaften.
({1})
Ganz viele Menschen waren da unterwegs und haben ihr
Anliegen auf die Straße getragen. Würden Sie mir zustimmen, dass das dazu beigetragen hat, dem Druck
standhalten zu können, von dem Sie berichtet haben?
Unsere Partei ist jetzt 150 Jahre alt, und wir brauchen
keine Belehrungen.
({0})
Wir schauen seit 150 Jahren in den Rückspiegel, auf die
Bevölkerung. Wir sind aber auch, wenn es notwendig ist,
150 Jahre lang standhaft und setzen Dinge gegen den
Mainstream durch; wir diskutieren darüber, und dann
wird der Wähler entscheiden. Sie sind für uns also kein
Ratgeber. Wir wissen selbst, was wir tun.
Ich glaube, Sie müssen eines einfach mal reflektieren:
Sollen in Deutschland irgendwann in Zukunft andere
politische Mehrheiten zum Tragen kommen,
({1})
muss eine Grundvoraussetzung erfüllt werden: Die Linken müssen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ihr Godesberg machen.
({2})
Anders wird es überhaupt nicht gehen. Sie entfernen sich
aber immer weiter.
Kurt Schumacher hat in den 50er-Jahren gesagt:
Nichts ist lehrreicher als die Wirklichkeit. - Das ist eines
meiner Lieblingszitate. Aber, Kolleginnen und Kollegen
von den Linken, Sie nähern sich dieser Wirklichkeit mit
den heutigen Reden nicht an, sondern entfernen sich immer weiter von der Betrachtung der realen Welt mit ihren Risiken und Gefahren und den Sorgen der Menschen. Sie müssen da mal mit sich ins Gericht gehen.
Ich würde gern noch ein wenig über die Reform reden; es ist ein bisschen schwierig, wenn man immer unterbrochen wird. Der Wehrbeauftragte hat gesagt, dass
der Gang der Reform nicht Anlass zu der Hoffnung gibt,
dass all das, was vorgesehen ist, gelingt. Um es noch
einmal klar zu sagen: Im Koalitionsvertrag steht, dass
vieles an dieser Reform richtig ist und es im Grundsatz
dabei bleiben soll. Aber die Ministerin selbst hat einen
Punkt angesprochen: Diese Reform wurde de facto ohne
Abstimmung mit unseren EU- und NATO-Partnern beschlossen. Dies muss man heilen, wenn man die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa voranbringen will. Wenn man sie voranbringen will,
brauchen wir neben der Debatte in Deutschland über unsere Verantwortung auch eine strategische Klärung zwischen Deutschland und Frankreich: Wie betrachten diese
beiden Länder die Welt, und was sind sie bereit zu tun?
Ich meine, mit dieser Koalition, auch durch die Arbeit
des Außenministers, stehen die Chancen gut, dass wir in
all diesen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik wieder enger mit unseren französischen Freunden zusammenkommen. Dies ist die Grundvoraussetzung für eine
vertiefte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in
Europa. Wenn Deutschland und Frankreich hier nicht im
Konsens vorangehen, dann wird es in diesem Bereich
nicht vorangehen.
({3})
Deshalb meine herzliche Bitte, Frau Ministerin: Lassen Sie die Bundeswehrreform im Sinne von Fehlerkultur auf den Prüfstand stellen. Haben Sie die Kraft, neue
Erkenntnisse - wenn es sein muss, auch bei der Frage,
welcher Standort der geeignetste ist - in Ihre Überlegungen mit einzubeziehen, um neue Berechnungen anzustellen, und korrigieren Sie die Fehler. Ich glaube, die Soldaten warten darauf, weil sie bisher eher den Eindruck
hatten: Dort, wo die Reform nicht gut funktioniert, wird
von ihnen erwartet, dass sie trotzdem mit den Problemen
umgehen.
Man kann dies so machen, aber klar ist dann auch:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht zu gewährleisten. In den Schlüsselfunktionen gibt es zu wenig
Personal für die Bewältigung der zukünftigen Aufgaben.
Wenn man für die bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf sorgen will, dann muss man im Rahmen der Reform an den entsprechenden Stellen ansetzen und den
Personalkörper möglicherweise neu justieren.
Ich plädiere auch für Ehrlichkeit gegenüber den Soldaten in dieser Debatte. Ja, die Reform ist in ihren Eckpunkten und im Umfang grundsätzlich richtig. Ich nenne
als Beispiel die Abschaffung der Wehrpflicht. Sie ist
zwar falsch und schlecht gemacht worden; im Grundsatz
war die Wehrpflicht aber nicht mehr haltbar.
Es geht nicht um die größte Reform aller Zeiten, wie
das manchmal kommuniziert wurde. Dass diejenigen,
die die Reform kritisiert haben, sie einfach nicht verstanden haben, das war keine gute Botschaft der Führung.
Vielmehr geht es doch darum, das Verständnis dafür zu
wecken, dass keine Reform in Stein gemeißelt sein wird.
Der alte Generalinspekteur Schneiderhan war eigentlich auf dem richtigen Pfad, als er gesagt hat: Wir befinden uns in einer Transformation der Streitkräfte und
nicht in einer Reform. - Die Welt ändert sich, jedes Unternehmen ändert sich im Laufe der Zeit. Dann muss
man nachsteuern und neue Erkenntnisse umsetzen. Genauso wird es bei der Bundeswehr sein, sonst werden
wir in drei bis vier Jahren in wichtigen Schlüsselbereichen feststellen, dass das Konzept nicht mehr funktioniert. Ich denke zum Beispiel an den Bereich der Hubschrauber, wo wir viel zu wenig Personal haben und
auch zu wenig Nachwuchs ausbilden. Das gilt auch für
viele andere Bereiche.
Wir müssen jetzt umsteuern, sonst können wir uns
schon heute ausrechnen, welche Probleme in ein paar
Jahren auf uns zukommen werden; denn Fachärzte, Hubschrauberpiloten und technisches Personal werden nicht
über Nacht gebacken. Deswegen muss jetzt schnell eine
entsprechende Regelung her.
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Die Große
Koalition ist in diesem Sinn für die Bundeswehr auch
eine Chance; denn das, was im Koalitionsvertrag steht,
ist gut für die Bundeswehr. Von wichtigen Vertretern der
Streitkräfte ist mir heute Mittag berichtet worden, dass
die Soldaten zum ersten Mal mit großem Interesse einen
Koalitionsvertrag gelesen haben und dass unsere Vorhaben Zustimmung bei der Truppe finden.
Damit hängt natürlich auch zusammen, was der BundeswehrVerband und auch der Wehrbeauftragte festgestellt haben: Das Problem im Augenblick ist, dass die
Soldaten ein Stück weit das Vertrauen in die Führung
verloren haben. Damit ist auch ein Stück weit Vertrauen
in die Politik verloren gegangen. Der Soldat unterscheidet nicht so sehr zwischen Regierung und Parlament. Bei
solchen Diskussionen sind wir alle angesprochen, und
deshalb müssen wir uns alle kümmern, und wir mischen
uns auch ein, ob Regierung, ob Opposition. Dieses Vertrauen wiederherzustellen, ist der Schlüssel für das
Funktionieren der Streitkräfte.
Frau Ministerin, Sie sind mit großem Vertrauensvorschuss gestartet; das ist gut. Es ist schön, wenn man mit
Optimismus an die Dinge herangeht, aber damit hängt
natürlich auch eine unglaubliche Verantwortung zusammen. Wir alle miteinander, Regierung und Parlament,
dürfen in dieser Situation die Erwartungen der Soldaten
in den nächsten zwei Jahren nicht enttäuschen, sondern
wir müssen und werden den Koalitionsvertrag erfolgreich umsetzen.
Herzlichen Dank.
({4})
Jetzt hat die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
„Deutschlands Zukunft gestalten“ - diesen Titel und diesen Anspruch haben Union und SPD ihrem Koalitionsvertrag gegeben. Im außen- und sicherheitspolitischen
Teil reihen sie dabei häufig Allgemeinplätze aneinander,
aber eine klare Richtung ist nicht wirklich erkennbar.
Die Diskussion darüber hat Kollege Arnold gerade eingefordert, und das begrüßen wir als Grüne sehr.
({0})
Aus Oppositionssicht muss man Ihnen wirklich zugestehen, dass nicht alles schlecht ist, worauf Sie sich einigen konnten. Sie haben zum Beispiel endlich erkannt,
dass es bei der Bundeswehrreform Nachbesserungen geben muss.
Zwar sind Herr Außenminister Steinmeier und Sie,
Frau Ministerin von der Leyen, noch nicht sehr lange in
Ihren Ämtern, dafür waren Sie medial aber umso präsenter. Leider erfahren wir dadurch noch nicht wirklich etwas über die neuen Linien und Ziele der schwarz-roten
Außen- und Sicherheitspolitik. Im Gegenteil: Sie verheddern sich in Widersprüchen. Wo es im Ganzen hingehen soll, bleibt weiterhin völlig offen. Besonders deutlich wird dies in der aktuellen Debatte über eine
mögliche deutsche Unterstützung der geplanten europäischen Mission in der Zentralafrikanischen Republik und
bei der Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Mali.
Die Ministerin von der Leyen prescht plötzlich vor und
kündigt an, es sei vorbei mit der Kultur der militärischen
Zurückhaltung in Deutschland.
({1})
Daraufhin rudert der Außenminister zurück, und es hagelt Kritik aus der SPD-Bundestagsfraktion. Ich finde,
eine besonnene und abgestimmte Außen- und Sicherheitspolitik sieht anders aus.
({2})
An dieser Stelle rächt sich auch der größte Geburtsfehler der Bundeswehrreform, nämlich das Versäumnis,
zu Beginn mit der Öffentlichkeit und im Parlament eine
fundierte Debatte über zukünftige Sicherheitsbedrohungen und die Frage, welche Aufgaben man daraus für die
Bundeswehr ableitet, zu führen.
Frau Ministerin von der Leyen, in einem Interview im
aktuellen Spiegel geben Sie zu verstehen, Deutschland
müsse sich jetzt ganz schnell stärker militärisch in
Afrika engagieren. Manchmal hat man den Eindruck,
dass Sie über diesen riesigen Kontinent reden, als würde
es sich dabei um ein einziges Land handeln. Ich war verwundert, dass Sie die Gewalteskalation im Südsudan, wo
mittlerweile schätzungsweise 10 000 Menschen gestorben sind, in diesem Interview nicht erwähnt haben, und
das, obwohl die deutsche Bundeswehr an einer Mission
der Vereinten Nationen im Südsudan beteiligt ist.
Meine Damen und Herren, jeder der 54 afrikanischen
Staaten hat eine lange Geschichte, komplexe gesellschaftliche Strukturen und eine ganz eigene politische
Dynamik. Nicht überall herrschen Krieg und Elend. Die
Konflikte sind vielschichtig, in ihren Ursachen genauso
wie hinsichtlich ihrer Akteure. Natürlich dürfen wir in
Europa nicht nur zuschauen, wenn in Afrika Gewalt auszubrechen droht, wenn Krisen sich verschärfen oder die
Zivilbevölkerung leidet. Hier sind aber in erster Linie
der frühzeitige Einsatz ziviler, entwicklungspolitischer
und diplomatischer Mittel gefragt und auch gut durchdachte Strategien, die sich spezifisch mit den einzelnen
Konflikten und ihren Ursachen auseinandersetzen.
Frau Ministerin, Sie verweisen zur Rechtfertigung des
geplanten Afrika-Engagements auch noch auf die
schrecklichen Bilder von Lampedusa. Ich finde, die Antwort auf diese Flüchtlingskatastrophe ist nicht, mehr Militär nach Afrika zu entsenden. Diesbezüglich und nicht
hinsichtlich der militärischen Zurückhaltung wäre ein
Kurswechsel dringend angesagt;
({3})
denn statt Abschottung brauchen wir endlich eine solidarische und europäische Flüchtlingspolitik.
Der Einsatz der Bundeswehr erfordert in jedem Einzelfall eine Einbettung in eine politische Gesamtstrategie, die die Konfliktursachen berücksichtigt, eine sorgfältige Prüfung der Risiken und Gefahren und eine klare
Definition der Ziele. Sagen Sie uns doch endlich einmal
konkret, welche Antworten und Beiträge Sie sich für die
Missionen in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik vorstellen.
({4})
Dann werden wir Grüne - wie immer - die vorgelegten
Mandate genau und kritisch prüfen. Doch einer Politik,
die planlos die Ausweitung von Militäreinsätzen fordert,
werden wir entschieden entgegentreten.
({5})
Meine Damen und Herren, zu einer verantwortungsvollen Außen- und Sicherheitspolitik gehört ganz besonders, dass man Konflikte nicht dadurch verschärft, dass
man deutsche Waffen in alle Welt exportiert. Gerade die
Verbreitung von Kleinwaffen sorgt in Afrikas Konflikten
für noch blutigere Gewalt und noch mehr Gräueltaten.
Es muss endlich Schluss sein mit Rüstungsexporten in
Staaten, die in Krisenregionen liegen oder wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden.
({6})
In der Vergangenheit hat die SPD den Merkel-Kurs
bei Rüstungsexporten und auch das zynische Motto dahinter - Ertüchtigung statt Einmischung - massiv kritisiert. Heute erst beklagte sich Sigmar Gabriel, dass man
sich in den Koalitionsverhandlungen nicht habe durchsetzen können. Wenn nun alles so weiterlaufen soll wie
bisher, dann ist das, wie ich finde, nicht nur unverantwortlich, sondern eine brandgefährliche Strategie. Auch
hier wäre ein Kurswechsel geboten, und zwar ein radikaler.
({7})
Frau Ministerin, vielleicht wäre es nicht schlecht, in
den nächsten Wochen ein paar Interviewüberschriften
weniger zu produzieren und noch einmal über die Ideen,
die Ziele, die konkreten Konzepte und eine stimmige
Strategie nachzudenken und zu diskutieren, um dem
selbst gesetzten Anspruch, „Zukunft zu gestalten“, gerecht werden zu können und um für eine Politik für mehr
Frieden und mehr Sicherheit einzutreten.
Vielen Dank.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Henning Otte
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die heutige Regierungserklärung unserer
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat einmal mehr deutlich gemacht: Deutschland steht gut da. Wir beschließen
die Dinge, die notwendig sind, damit unser Land auch
weiterhin eine so gute Perspektive hat. Wir sind als Land
bereit, auch zukünftig Verantwortung für eine friedliche
Weltgemeinschaft zu übernehmen, und wenn es sein
muss, auch noch stärker.
Eingebunden in die Vereinten Nationen, eingebunden
in das Bündnis der NATO, eingebunden in einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa steht Deutschland als verlässlicher Partner zu seinen Verpflichtungen, zu seiner Verantwortung und zu
seinen Interessen und Werten. Dabei darf von uns erwartet werden, dass wir diese Verlässlichkeit und Verantwortung mit einer klaren sicherheitsstrategischen Ausrichtung untermauern und lenken.
Diesen Anspruch haben wir für die Regierung und die
Arbeit der sie tragenden Koalitionsfraktionen in unserem
Koalitionsvertrag mit dem Titel - Frau Brugger hat es
richtig zitiert - „Deutschlands Zukunft gestalten“ auch
für den Bereich der Außen-, der Sicherheits-, der Verteidigungs- und der Entwicklungspolitik geltend gemacht.
Das heißt, Deutschland stellt sich seiner internationalen
Verantwortung. Wir wollen die globale Ordnung aktiv
mitgestalten. Dabei lassen wir uns von den Interessen
und Werten unseres Landes leiten.
Deutschland setzt sich weltweit für Frieden, für Freiheit, für Sicherheit, für eine gerechte Weltordnung, für
die Durchsetzung der Menschenrechte und die Geltung
des Völkerrechts sowie für nachhaltige Entwicklung und
Armutsbekämpfung ein. Wir stehen bereit, wenn von unserem Land Beiträge zur Lösung von Krisen und Konflikten erwartet werden. Dabei stehen für uns die Mittel
der Diplomatie, der friedlichen Konfliktregulierung und
der Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund. Das
ist die Richtschnur unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Es ist an der Zeit, damit zu beginnen, dies umzusetzen.
({0})
Ich danke unserer Bundesministerin für Verteidigung,
Frau Dr. Ursula von der Leyen, für ihre klaren Aussagen
zur sicherheitspolitischen Ausrichtung unserer Streitkräfte und für ihre klaren Aussagen zu unserer Verantwortungskultur in einer friedlichen Weltgemeinschaft.
Frau Ministerin, Sie haben umfassend und vertieft dargestellt, dass unser Land Verantwortung annimmt und
dass dies zu Recht auch selbstbewusst geschieht, indem
wir uns in den Dienst der Gemeinschaft für Sicherheit,
für Frieden und für Freiheit stellen. Für diesen klaren
Kurs danke ich Ihnen.
({1})
Es ist eben kein Signal der Verlässlichkeit und Verantwortung, wenn man beispielsweise Frankreich das Gefühl gibt, man stehe auch militärisch an der Seite dieses
Partners, und man in Deutschland in der Bevölkerung
den Glauben entstehen lässt, man könne sich bei militärischen Fragen auch vornehm zurückhalten. Durch die
Rede unserer Verteidigungsministerin ist deutlich herausgestellt worden, dass es legitim und auch im Interesse unseres Landes ist, zu einer Befriedung in Afrika
einen Beitrag zu leisten; denn dies dient auch dem
Schutz unseres eigenen Landes.
Eine der Lehren aus dem langjährigen Einsatz in Afghanistan sollte sein, dass wir als Politik den Bürgern
zum frühestmöglichen Zeitpunkt klar verdeutlichen, warum wir Streitkräfte einsetzen und welchen Zweck sie
erreichen sollen. Zusammengefasst gesagt: Es muss Erklärungen zum Way in und zum Way out geben.
Zur Wahrheit gehört auch, dass Militär allein natürlich keinen Konflikt lösen kann. Meines Erachtens muss
noch stärker herausgestellt werden, dass Diplomatie und
Entwicklungshilfe selbstverständlich zuerst gefragt sind
und erst dann, wenn diese Mittel befristet nicht zur Wirkung gelangen, Streitkräfte eingesetzt werden, um Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung zu schaffen. Wenn dann die Bundeswehr gerufen wird, muss sie
sich auf eine breite gesellschaftliche und parlamentarische Unterstützung verlassen können.
({2})
Auch dies ist eine Lehre aus dem Einsatz in Afghanistan: Unsere Staatsbürger, auch die in Uniform, haben einen Anspruch darauf, zu erfahren, welche Beweggründe
uns Politiker leiten und wie die Lage dort ist, wohin unsere Soldaten geschickt werden sollen.
Meine Damen und Herren, gerade in Bezug auf
Afrika, welches geografisch wie kulturell noch näher an
Europa liegt als vielleicht Afghanistan, haben wir als
Europa und Deutschland Interessen. Wir können nicht
einerseits bedauern, dass die Menschen nach Europa
flüchten, und andererseits nichts an den Ursachen ändern
wollen. Wer das eine verhindern will, muss bereit sein,
das andere zu machen: den Menschen dort zu helfen, wo
sie ursprünglich angesiedelt sind. Ist dort ein auskömmliches Leben möglich, wird es zu keinen Massenfluchten
kommen; denn der Mensch hängt grundsätzlich am Land
seiner Mütter und Väter.
Hier wird deutlich: Durch ein militärisches Vorgehen
allein kann man nicht dauerhaft wirksam Sicherheit und
Ordnung sowie Perspektivhaftigkeit eines Landes herstellen. Vielmehr muss der vernetzte sicherheitspolitische Ansatz als Ganzes herangezogen werden - so wie
es im letzten Weißbuch dargestellt wurde, so wie es auch
in den Verteidigungspolitischen Richtlinien herausgestellt wurde und so wie es auch unsere Verteidigungsministerin heute gesagt hat.
Klar ist: Deutschland kann das nicht allein leisten und
will das auch nicht. Die globalen Herausforderungen
sind nur in internationaler Zusammenarbeit und durch einen koordinierten Einsatz aller Instrumente der Außen-,
der Sicherheits-, der Verteidigungs- und der Entwicklungspolitik zu bewältigen. Die Koordinierung dieser
Instrumente muss auf europäischer Ebene noch stärker
vorangetrieben werden. Die gemeinsame Linie des
Europäischen Rates zur Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik war ein guter Anfang hierzu. Dieser
vernetzte sicherheitspolitische Ansatz muss weiter unterfüttert werden.
Für mich als Verteidigungspolitiker der Union steht
fest, dass die Bundeswehr in jeder sicherheitspolitischen
Frage die Befähigung für eine Antwort haben muss. Sie
muss in der Lage sein, der Politik die notwendigen
Handlungsoptionen in der gesamten Bandbreite bereitzustellen. Das kann Air MedEvac sein, das können Lufttransporte sein, das muss aber auch Kampftruppe sein
können.
Damit die Bundeswehr dies alles leisten kann, fußt
die Neuausrichtung der Streitkräfte auf dem Konzept
„Breite vor Tiefe“ und kann mit der Ausrichtung
Deutschlands als Rahmennation weiterentwickelt werden.
Die Idee einer gemeinsamen europäischen Armee ist
dabei gut und das Ziel alle Mühe wert; bis dahin ist es jedoch noch ein langer Weg. Neben organisatorischen
Hindernissen gibt es ordnungspolitische und verfassungsrechtliche Hindernisse, die aus dem Weg geräumt
werden müssen. Hierzu müssten wir beispielsweise die
Parlamentsbeteiligung anpassen, ohne aber den Parlamentsvorbehalt anzutasten.
({3})
Denn es ist eine Errungenschaft unserer Demokratie in
Deutschland, dass für eine Entsendung der Bundeswehr
in Einsätze ein Parlamentsvorbehalt gilt. Die Bundeswehr ist damit eine Parlamentsarmee. Dies ist eine
Stärke unseres Landes, um die uns andere Länder beneiden.
({4})
Niemand von uns entsendet Soldaten leichtfertig oder
gar leichtherzig in den Einsatz. Der Soldatenberuf ist
kein Beruf wie jeder andere: Soldaten müssen unter Einsatz von Leib und Leben kämpfen können. Die Soldaten
unserer Bundeswehr leisten eine hervorragende Arbeit
im In- und Ausland. Sie sind hervorragend ausgebildet.
Sie genießen den Respekt und die Anerkennung unserer
Bündnispartner, an deren Seite sie ihren Dienst leisten.
Sie verdienen die Anerkennung dieses ganzen Hauses.
({5})
Ich fasse zusammen: Verantwortung zu übernehmen
heißt, Verantwortung zu übernehmen. Deutschland hat
einen sicherheitspolitischen Gestaltungsanspruch - in einem vernetzten Ansatz. Wir haben zur Umsetzung dieser
Ziele eine Bundeswehr als Streitkraft, die im Rahmen
der Neuausrichtung zu einer Einsatzarmee weiterentwickelt wird. Deutschland ist eingebunden in Europa und
bereit, als berechenbarer und verlässlicher Partner einer
friedlichen Weltgemeinschaft mehr Verantwortung zu
übernehmen - für Sicherheit, für Stabilität, für Frieden
und für Freiheit.
Herzlichen Dank.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Tobias Lindner
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Frau von der Leyen, Sie sind ja die Ministerin - ich glaube, das kann man mit Fug und Recht sagen -, die in den wenigen Tagen, seitdem es diese Große
Koalition gibt, mit den meisten Schlagzeilen - Herr
Arnold sprach von Impulsen und großen Linien - in der
Öffentlichkeit wahrgenommen worden ist.
Sie sprachen davon, dass von verstärkten Auslandseinsätzen der Bundeswehr auszugehen ist. Sie sprachen
davon, dass die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr das beste Material verdient haben. Sie sprachen davon, dass man die Vereinbarkeit von Familie und Dienst
verbessern und die Bundeswehr sogar zu einem der attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland, wenn ich das
richtig im Kopf habe, machen muss.
({0})
Sie werden sich in Ihrer Amtszeit natürlich schon
bald, nämlich dann, wenn Ihre ersten 100 Tage im Amt
abgelaufen sind, daran messen lassen müssen, welche
konkreten Maßnahmen daraus folgen. Ich will das nur an
einem Beispiel, und zwar an der Vereinbarkeit von Familie und Dienst, deutlich machen.
Im Handbuch zur Vereinbarkeit von Familie und
Dienst in den Streitkräften sind 82 Maßnahmen beschrieben. Sie werden sagen müssen, Frau Ministerin,
was Sie denn mehr tun wollen, als diese 82 Maßnahmen
zu ergreifen, und an welchen Stellen, an denen diese
Maßnahmen noch nicht gegriffen haben, Sie wie nachsteuern wollen, damit sich die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst tatsächlich erhöht.
Liebe Frau von der Leyen, Sie werden natürlich auch
sagen müssen, wie das alles finanziert werden soll; denn
wir glauben Ihnen nicht, dass das ohne zusätzliche Kosten geht. Zumindest wird man im Einzelplan des Bundesministeriums der Verteidigung aufzeigen müssen, wo
das Geld hierfür herkommen soll.
({1})
Liebe Frau Ministerin, ich würde mir schon wünschen,
dass Sie auch dazu ein paar Worte verlieren.
Karl-Theodor zu Guttenberg hat Thomas de Maizière
das Haus mitten in einer Bundeswehrreform übergeben,
die - ich zitiere Herrn zu Guttenberg - in vier Jahren ein
Konsolidierungspotenzial von 8,3 Milliarden Euro erwirtschaften sollte. Wir reden über den zweitgrößten
Etat im Bundeshaushalt. Wir geben momentan mehr
Geld für Verteidigung als für Zinszahlungen für die
Schulden des Bundes aus.
Thomas de Maizière hat Ihnen ein Haus übergeben,
das nicht nur Lehren aus dem Drohnendesaster des letzten Sommers ziehen sollte, sondern das auch noch ganz
andere Baustellen hat, wie zum Beispiel den fragwürdigen Deal über einen Marinehubschrauber, bei dem man
schon fragen muss, ob die Marine dieses Modell überhaupt will - von Verzögerungen und Kostensteigerungen
beim A400M ganz zu schweigen.
Liebe Frau von der Leyen, hier werden Sie gefordert
sein, nicht nur, um die Fehler an den konkreten Projekten zu beheben, sondern auch, um an das große Thema
Beschaffungsprozess heranzugehen, wo wirklich Stellschrauben verändert werden müssen. Aber auch der Informationsfluss in Richtung des Parlaments und der
Fachausschüsse - ich will hier nur an den Koalitionsvertrag erinnern - muss dringend verbessert werden; denn
wir können es uns in Zeiten knapper werdender Gelder
- das haben Sie ja selbst gesagt - gar nicht erlauben,
dass noch mehr Steuergelder in fragwürdige Projekte bei
der Bundeswehr investiert werden, wenn wir wirklich
die beste Ausstattung für unsere Soldatinnen und Soldaten wollen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Als Nächster gebe ich Frau Kollegin Gabi Weber von
der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
sende zunächst dem Luftwaffengeschwader 33 in Rheinland-Pfalz, meinem Heimatland, herzliche Grüße und
spreche sowohl den Kameraden, die bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wurden, als auch den beiden verunglückten Tornadopiloten meine Genesungswünsche
aus. Ich gehe davon aus, das tue ich auch in Ihrem Namen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich ergänze die heute hier
schon gesetzten Impulse um einige wenige, für uns jedoch wesentliche Schwerpunkte:
Durch die Bundeswehrreform haben wir Strukturen in
den Dienststellen geschaffen, die dazu führen, dass wir
- mit wenigen Ausnahmen - keine rein militärischen
und keine rein zivilen Dienststellen mehr haben. Die
Leitung dieser Stellen wechselt mittlerweile häufig zwischen Soldaten und Zivilangestellten. Dennoch gelten
für die beiden Gruppen unterschiedliche Beteiligungsrechte beim sogenannten Grundbetrieb in Deutschland.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, diese Ungleichheit zu beenden und für den Grundbetrieb die Regelungen anzupassen. Es muss für beide Gruppen - militärische und zivile Beschäftigte der Bundeswehr - die
gleichen Beteiligungsrechte geben.
({1})
Für diskussionswürdig halten wir die Auslagerung
des Travel Managements. Dieses Vorhaben resultiert aus
der Planung, die Zahl der Zivilbeschäftigten auf 55 000
zu reduzieren. Wir sind uns sicher, dass diese Zahl von
55 000 einer Überprüfung mit Blick auf die Dienstposten, die für den Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Bundeswehr notwendig sind, nicht standhält.
Außerdem müssen wir schon jetzt erkennen, dass die
Auslagerung der Personalabrechnung, die bedauerlicherweise bereits umgesetzt ist, große Probleme schafft. Insbesondere die Übertragung der Beihilfeabrechnung an
das Bundesministerium der Finanzen hat dazu geführt,
dass sich Beihilfebearbeitungszeiten um ein Vielfaches
verlängern und manche Beschäftigte bis zu zwölf Monate auf ihr Geld warten müssen. Ich kann mir gut vorstellen, in welch missliche Lage unsere Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter dadurch gebracht wurden. Soldaten
mussten die Krankheitskosten ihrer Angehörigen, die
zum Beispiel durch OPs schnell in die Zehntausende gehen können, vorstrecken. Zahlungsziel jedoch - da sind
Ärzte und Kliniken knallhart - ist vier Wochen. Mittlerweile ist man dazu übergegangen, Abschlagszahlungen
vorzunehmen, die diesen Missstand jedoch lediglich kaschieren. Das darf so einfach nicht sein.
({2})
Solche Umstände, Frau Ministerin, schaden dem Ansehen der Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber massiv.
In der freien Wirtschaft wäre das so nicht möglich.
Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
uns beim Travel Management aus den Problemen bei der
Verlagerung der Beihilfeabrechnung lernen. Wir müssen
uns damit im Ausschuss noch einmal ernsthaft beschäftigen.
Wir halten es schlicht für nicht machbar, die Reiseplanung weiter bei der Bundeswehr zu belassen, aber wie
bei dem anderen Fall die Abrechnung beim Bundesfinanzministerium anzusiedeln. In der Praxis würde das
bedeuten, dass Planungen vier bis sechs Wochen vor
Reisebeginn abgeschlossen und der Abrechnungsstelle
zur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Das entbehrt jeder Lebenserfahrung. Außerdem fehlt nicht nur
mir jede Fantasie, wie dann kurzfristig Aktion und Reaktion auf nicht beeinflussbare Geschehnisse möglich
sein sollen. Für mich gehört dieser Aspekt auch zu der
von der Ministerin zu Recht angesprochenen Fürsorge
und Betreuung unserer Beschäftigten.
Wir sollten die Bundesregierung dabei unterstützen,
wenn sie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, GSVP, in dieser Wahlperiode zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit macht. Die Wirtschaftskrise hat die Bemühungen zur GSVP in den EU-Staaten
ins Stocken gebracht. Wir haben im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, dass wir einen immer engeren Bund der
europäischen Streitkräfte anstreben, und haben das sehr
ambitionierte Ziel einer parlamentarisch kontrollierten
europäischen Armee formuliert. Liebe Frau Ministerin,
wir freuen uns, dass Sie diese Absicht nochmals ausdrücklich bestätigt haben. - Ich bin etwas aufgeregt, das
ist meine erste Rede.
({3})
Europa ist eine wertegebundene und von gemeinsamer
Verantwortung getragene Friedensmacht. Europa schafft
Stabilität, die über seine Grenzen hinaus ausstrahlt. Umgekehrt wirken sich jedoch Konflikte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auch auf die Sicherheit und Stabilität
Europas aus. Das beste und auch schlimmste Beispiel erleben wir gerade in Osteuropa. Die Ukraine mit ihren
derzeit völlig chaotischen Zuständen ist gerade einmal
so weit von der deutschen Grenze entfernt wie Hamburg
von München. Daher müssen wir wirksame Antworten
auf diese Herausforderungen geben.
Eine europäische Verständigung bei der strategischen
Ausrichtung der EU halten wir daher für dringend erforderlich. Aber es ist kein Geheimnis, dass sich die EU
derzeit sehr schwertut, bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemeinsam vorzugehen. Der europäischen
Sicherheitsstrategie von 2003 fehlt die institutionelle
Umsetzung, aber auch die Bereitschaft einiger Mitgliedstaaten, entsprechende Fähigkeiten vorzuhalten.
Mittlerweile erleben wir bilaterale Vereinbarungen
Frankreichs und Großbritanniens, aber auch die Überlegungen der skandinavischen Staaten zur Bildung einer
nordischen Allianz. Dies sind in unseren Augen die Folgen dieser ins Stocken geratenen gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik. Wir sollten daher mit unseren
Freunden aus Frankreich und Polen die Initiative ergreifen und auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle einnehmen
und gemeinsam das Projekt einer europäischen Integration von Sicherheit und Verteidigung voranbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns dabei keine Denkverbote auferlegen. Die Wirtschaftskrise
in vielen Staaten Europas können wir auch als Chance
verstehen, um neue Impulse zu setzen, und, wie Frau
Ministerin es bereits angesprochen hat, durch Pooling,
Sharing und die Spezialisierung auf bestimmte militärische Fähigkeiten deutliche Synergieeffekte zu erzielen.
Daher ist die Neufassung der von mir angesprochenen
Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 als verbindliche
staatliche Ausrichtung voranzutreiben. Das funktioniert
aber nur - auch das ist schon angesprochen worden -,
wenn vorher vernünftige Analysen vorliegen, in denen
die vorhandenen Schwachstellen beschrieben werden.
Für mich selbstverständlich ist bei all diesen von mir
aufgezählten Punkten, dass die Einhaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte auch bei Teilnahme europäischer Kontingente an von den Vereinten Nationen
mandatierten Einsätzen gewährleistet sein muss.
Eigentlich wollte ich noch einige diskussionswürdige
Aspekte zur Evaluierung der Bundeswehrreform anfügen. In Anbetracht meiner schon abgelaufenen Redezeit
muss ich das allerdings auf eine spätere Rede verschieben.
In diesem Sinne: Es gibt für uns viel zu tun. Wir haben arbeitsreiche Jahre vor uns. Ich freue mich auf die
Zusammenarbeit mit Ihnen in diesem Haus und danke
für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde. Sie haben es mir leichtgemacht, meine erste Rede zu halten,
vor der ich zugegebenermaßen riesigen Respekt hatte.
Herzlichen Dank.
({4})
Liebe Frau Kollegin Weber, das Präsidium gratuliert
Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten
Rede. Sie war engagiert, und Sie haben die Zeit leicht
überzogen. Das haben wir aber als Gabe an Ihre erste
Rede akzeptiert.
Was die späte Stunde angeht, werden Sie im Laufe
der Zeit erleben: Es gibt auch noch spätere Stunden in
diesem Hause.
({0})
Wir haben auch schon erlebt, dass wir Mitternacht hinter
uns gelassen haben. Jetzt ist es 19.10 Uhr. Ich finde, das
geht gerade noch.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das
Wort Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Charakter unserer Armee, der Bundeswehr, hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Während wir früher noch darüber gesprochen haben, dass wir kämpfen können müssen, um nicht
kämpfen zu müssen, sprechen wir heute von einer Armee im Einsatz. Die Aufgaben und Anforderungen haben sich entsprechend geändert. Gleichzeitig hat sich die
Verfügbarkeit von Ressourcen mit Blick auf die Demografie und die begrenzten Haushaltsmittel deutlich verringert.
Wir sind diesen Veränderungen nachgekommen. Wir
haben gerade auch für die Truppen im Einsatz in den
letzten Jahren bei den Themen Ausbildung und Ausrüstung massiv zugelegt und Verbesserungen erzielt, und
wir haben eine Bundeswehrreform auf den Weg gebracht, um dieser Neuausrichtung auch organisatorisch
gerecht zu werden.
Ich finde es gut - das ist ein guter Start für diese Koalition -, dass wir in unserem Koalitionsvertrag vereinbart haben, dass wir die Neuausrichtung konsequent
fortsetzen und zum Erfolg führen wollen. Das heißt, die
Reform wird vollständig umgesetzt. Es heißt auch, dass
es keine Reform der Reform gibt. Das ist wichtig; denn
unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen genauso Planungssicherheit wie auch das zivile Personal.
Nichtsdestotrotz, auch wenn wir bei der Grundausrichtung bleiben, wird es natürlich auch Gelegenheit geben, zu optimieren. Das müssen wir auch. Wo es beispielsweise Handlungsbedarf gibt, zeigt der Bericht des
Wehrbeauftragten. Er hat einige Themen angeführt, die
auch unsere Ministerin schon aufgegriffen hat, beispielsweise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier gibt
es einiges zu tun, auch wenn der Beruf des Soldaten kein
Beruf wie jeder andere und nicht mit zivilen Berufen
vergleichbar ist.
Kolleginnen und Kollegen, die Welt ändert sich. Die
globalen Machtverhältnisse ändern sich massiv. Das hat
Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Ich glaube,
es ist kein Geheimnis - viele Kolleginnen und Kollegen
und auch Sie, Frau Ministerin, haben es heute gesagt -:
Wir müssen in Europa - und Deutschland mit vorneweg mehr Verantwortung übernehmen. Auch wenn unsere
subjektive Wahrnehmung, umringt von Freunden, manchmal eine andere ist, so ist es doch so, dass Deutschland
weiterhin bedroht ist und dass vor allem auch unsere
Hilfe gefordert wird.
Herr Kollege.
Bitte?
Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Lassen Sie sie zu?
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Hahn, vielen Dank, dass Sie mir die Gelegenheit geben, eine Frage zu einem Punkt zu stellen,
der noch gar nicht zur Sprache gekommen ist. Sie haben
gerade von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und
der Attraktivität der Bundeswehr gesprochen. Ein Punkt
ist heute Abend noch gar nicht zur Sprache gekommen,
nämlich die Studie „Truppenbild mit Dame“, die wir
kürzlich zur Kenntnis nehmen konnten und die mich,
ehrlich gesagt, einigermaßen überrascht hat. Zehn Jahre
nach Öffnung der Bundeswehr für Frauen ist die Situation im Laufe der Jahre nicht etwa besser geworden.
Vielmehr ist in dieser Studie zu lesen, dass die Akzeptanz von Frauen deutlich abgenommen hat. Außerdem
hat diese Studie aufgezeigt, dass sexuelle Belästigung
durchaus ein gravierendes Problem darstellt und dass es
fraglich ist, ob die Strukturen geeignet sind, diesem Problem effektiv zu begegnen.
Ich möchte Sie Folgendes fragen, Herr Kollege: Welche konkreten Maßnahmen könnte man ergreifen, um
die Akzeptanz von Frauen in der Bundeswehr zu erhöhen, und wie könnte man sexueller Belästigung begegnen?
Vielen Dank.
Frau Kollegin, ich darf Sie da ein bisschen korrigieren. Gerade unsere Ministerin, Frau von der Leyen, hat
in ihren Ausführungen zu diesem Thema gesprochen
und darauf hingewiesen, dass hier noch viel getan werden muss. Da gibt es nichts zu diskutieren. Es ist nicht
erfreulich. Sexuelle Belästigung ist, egal ob im militärischen oder zivilen Bereich, nicht hinnehmbar. Hier müssen Maßnahmen ergriffen werden. Offen gesagt, bin ich
kein Fachmann für diesen Bereich. Daher kann ich Ihnen
nicht die nächsten Handlungsmaßnahmen nennen. Aber
eines ist ganz klar - das macht auch die Tatsache deutlich, dass diese Studie jetzt veröffentlicht wurde -: Wir
alle und insbesondere Frau von der Leyen nehmen dieses
Thema sehr ernst. Wir müssen darauf entsprechend reagieren.
Ich habe vorhin von den Bedrohungen gesprochen,
denen Deutschland gegenübersteht. Es gibt nicht nur Bedrohungen aus dem terroristischen Bereich, sondern
auch Bedrohungen durch technologischen Fortschritt. So
hat sich beispielsweise die Reichweite von Trägersystemen deutlich erhöht. Zudem macht sich Instabilität in
Konfliktregionen breit. Das alles betrifft uns direkt, und
darauf müssen wir auch reagieren können. Deshalb brauchen wir zunehmend Absprachen mit den europäischen
Partnern; das wurde schon von einigen Kolleginnen und
Kollegen gesagt. Es ist daher richtig, dass wir im Koalitionsvertrag eine Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU festgeschrieben
haben. Aber so etwas lässt sich nicht von heute auf morgen erzwingen. Wir brauchen aus meiner Sicht konkrete
Projekte, damit so etwas in Europa natürlich wachsen
kann. Ich nenne ein paar Stichworte: Wir müssen die europäischen Transportkapazitäten weiter ausbauen. Wir
brauchen eine gemeinsame Luftraumüberwachung. Als
weiteres Stichwort nenne ich die europäische Raketenabwehr. Wir müssen uns zudem darüber einig sein, welche technologischen Fähigkeiten wir in Europa unabhängig von Dritten haben wollen. Natürlich brauchen solche
Projekte Zeit.
Gleichzeitig werden wir mit aktuellen Ereignissen
konfrontiert, die eventuell unser gemeinsames Handeln
erfordern, wie die aktuelle Situation in Afrika. Natürlich
wollen wir unserem Bündnispartner zur Seite stehen.
Natürlich wollen wir den betroffenen Menschen, die in
Not sind, helfen. Aber wir dürfen auch nichts überstürzen. Für zukünftige Mandate - das lehrt uns die Erfahrung
aus den aktuellen bzw. den vergangenen Einsätzen - brauchen wir nicht nur militärische Konzepte, sondern auch
Konzepte, die die zivile Hilfe und die Einbeziehung regionaler Akteure beinhalten. Ich bin froh, dass Sie, liebe
Frau Ministerin, das heute noch einmal betont haben. Zu
einem Konzept gehören aber auch Antworten auf folgende Fragen: Wie ist die Lage vor Ort? Welche Ziele
wollen wir warum und mit welchen Mitteln verfolgen?
Wie stellt sich der zeitliche Umfang eines möglichen Engagements dar? Wie sieht eine Exitstrategie aus? Und
welchen Gefahren setzen wir unsere Streitkräfte aus?
Auf die Beratungen dieser Fragen in den nächsten Sitzungswochen freue ich mich.
Ich möchte mein Augenmerk noch auf das Ansehen
unserer Soldatinnen und Soldaten richten. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten in den Einsätzen und daheim
hervorragende Arbeit. Sie genießen hohes Ansehen in
den Einsatzgebieten und bei unseren Verbündeten. Ich
wünsche mir aber manchmal im Inland, in Deutschland,
noch mehr Wertschätzung und Respekt für die Arbeit der
Bundeswehrangehörigen.
({0})
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Reden der
Fraktion Die Linke zu sprechen kommen. Herr Neu, ich
muss ganz ehrlich sagen: Sie haben heute einmal mehr
deutlich gemacht, dass Sie mit Ihren Dogmen im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht regierungsfähig sind. Das macht mich jetzt nicht unbedingt traurig. Auch das sage ich Ihnen ganz ehrlich.
Wir brauchen die Bundeswehr für unsere Sicherheit
und zum Schutz unserer Interessen. Wir werden daher
die Arbeit der Bundeswehr auch in der kommenden Legislatur unterstützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Weitere Wortmeldungen zum Thema Verteidigung
liegen nicht vor.
Ich rufe damit den Bereich Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf.
Das Wort hat Bundesminister Dr. Gerd Müller.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Welt steht vor gewaltigen Herausforderungen.
Über 4 Millionen Jahre hat es gedauert, bis die Menschheit im 19. Jahrhundert die Schwelle der ersten Milliarde
durchbrach. Heute wächst die Weltbevölkerung täglich
um 230 000 Menschen - das sind 80 Millionen Menschen im Jahr, einmal die Einwohnerzahl von Deutschland - auf 9 Milliarden Menschen im Jahr 2050. Die
Bevölkerung in Afrika wird sich in diesem Zeitraum verdoppeln. Ein Staat wie Nigeria, der noch überhaupt nicht
in unserem Blickfeld ist, wird dann 500 Millionen Einwohner haben.
Seit meiner Geburt 1955 hat sich die Weltbevölkerung verdoppelt. Wir haben in diesem Zeitraum aber
auch eine Verdreifachung des Wasserverbrauchs, eine
Vervierfachung des CO2-Ausstoßes und eine Versiebenfachung der Produktion der Weltwirtschaft zu verzeichnen. Würden alle Menschen heute auf der Erde auf dem
Konsumniveau von uns Deutschen und Europäern leben,
dann brauchten wir drei Planeten; denn die Menschen
hinterlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck.
So stellt sich für uns natürlich auch die Frage nach den
Grenzen dieses Wachstums. Unter diesem Gesichtspunkt
globaler Herausforderungen ist die Entwicklungspolitik,
der Sie, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, sich seit vielen Jahren - die allermeisten
in diesem Raum mit so viel Idealismus - widmen, nicht
Nischenpolitik, weil der Tagesordnungspunkt heute um
halb acht aufgerufen wird, sondern sie steht im Zentrum
der Politik; sie ist Zukunftspolitik, Friedenspolitik, sie ist
Innenpolitik.
({0})
Auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben, haben
diese Entwicklungen gewaltige Rückwirkungen auch auf
uns in Deutschland. Wir stehen für eine werteorientierte
Entwicklungspolitik, und das aus ethisch-moralischer
Verpflichtung, aus globaler Verantwortung heraus, aber
auch aus nationalem Interesse. Uns allen ist klar: Die
Menschheit überlebt nur dann in Würde, wenn wir die
Schöpfung erhalten und uns an global geltenden Grundwerten orientieren, eine humane und gerechte Weltordnung schaffen, die Lebensperspektive für alle schafft.
An dieser Stelle sind wir uns einig, dass wir nicht business as usual, einfach so weitermachen können; wir
brauchen vielmehr einen Paradigmenwechsel, im Denken und im Handeln, national, europäisch und international.
Es ist ganz klar: Niemand in der Welt - schon aus humanitären Gründen - darf zurückgelassen werden. Ein
Ende der Armut und des Hungers, von Krankheit und
Seuchen ist möglich. Dennoch lassen wir es zu, dass nahezu 1 Milliarde Menschen unterernährt ist, hungert und
täglich 20 000 bis 30 000 Kinder sterben, während wir,
1 Milliarde Menschen auf der Sonnenseite des Lebens,
mit Übergewicht und Fettleibigkeit kämpfen. Das ist
nicht hinnehmbar. Hier müssen wir handeln.
({1})
Dazu brauchen wir ein neues Denken, ein neues Handeln von Staat und Gesellschaft, aber auch von jedem
Einzelnen. Nachhaltigkeit muss das Prinzip allen Tuns
und aller Entwicklung sein. Deshalb müssen wir die
Globalisierung so gestalten, dass sie den Menschen dient
und nicht ausschließlich den Märkten und der Wirtschaft.
({2})
Nicht der freie Markt ohne jegliche Kontrolle ist unser Leitbild, sondern eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Der Markt braucht Grenzen. Wir haben eine Vorlage für ein wirtschaftlich verträgliches System. Im
ökologischen Sinne müssen wir unser Konsumverhalten
verändern, den Wachstumsbegriff qualitativ neu definieren. Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität“ des Bundestages hat dazu vor einem
Jahr eine hervorragende Vorlage geliefert, die wir nur
aufzugreifen haben.
Wir müssen die Ressourcen effizienter nutzen, etwa
mit dem Faktor fünf oder mit dem Faktor zehn. Wir müssen also mit weniger Einsatz mehr produzieren. Das ist
möglich, und das zeigt auch auf, dass die Probleme lösbar sind. Ökologische und soziale Standards müssen
Eingang in die Finanz- und in die Wirtschaftswelt finden, in internationale Handelsabkommen und in globale
Handelsströme. Ich denke an Doha. Hier müssen wir
Deutsche, hier müssen wir Europäer ein Stück weit
Maßstäbe setzen und Vorreiter sein.
({3})
Wenn man es will, kann man mit anderen zusammen
auch etwas bewegen. Wir können einiges bewegen. Wir
haben in meiner Zeit als Parlamentarischer Staatssekretär im Agrarministerium beispielsweise das Thema „Begrenzung und Verbot der Lebensmittelspekulationen“ in
den G-20-Gipfel eingebracht. Ein Anfang ist gemacht.
Wir müssen auch bei anderen Themen vorangehen. Ich
habe mich heute mit der niederländischen Ministerin für
Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit über
die Situation der Textilwirtschaft, beispielsweise in Bangladesch, unterhalten. Es ist absolut nicht hinnehmbar,
dass dort Näherinnen für 5 Cent in der Stunde 90 Stunden die Woche Jeans nähen, damit wir für 9,90 Euro eine
Jeans kaufen können.
({4})
An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass jeder von
uns aufgefordert ist, zu handeln. Auch der Konsument,
der Verbraucher, kann durch nachhaltiges Handeln Zeichen setzen. Wir müssen als reiche Industrienationen dabei wesentlich stärker unserer Verantwortung gerecht
werden. Europa, die USA und Japan, 20 Prozent der
Weltbevölkerung, beanspruchen 80 Prozent des Reichtums und hinterlassen zwei Drittel der Umwelt- und Klimaschäden. Hier sind ein Umdenken und ein Umsteuern
angesagt.
({5})
Ich werde zusammen mit Ihnen, den engagierten Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die auch in der
Vergangenheit immer wieder auf diese Themen aufmerksam gemacht haben, jetzt unter Beteiligung aller in
der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit Interessierten einen Diskussionsprozess einleiten. Wir wollen
in diesem Jahr eine nationale Zukunftscharta nach dem
Motto „Eine Welt - unsere Verantwortung“ entwickeln,
die am Ende des Jahres in einen großen Eine-Welt-Kongress münden soll.
({6})
Wir bereiten damit ein neues globales Zielsystem für
nachhaltige Entwicklung nach 2015, den Post-2015-Prozess - die Neudefinition der Millenniumsziele -, vor.
Deutschland kann und muss hier eine starke inhaltliche
Vorgabe machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen des
Ausschusses, die Sie kämpfen, die Sie die letzten Jahre
auch um politische Reputation gekämpft haben, es zeigt,
dass wir weit vorangekommen sind. Unser Ministerium
bekommt morgen Besuch von Ban Ki-moon. Mit ihm
starten wir diesen Prozess und leiten wir die Diskussion
dieses globalen Zielsystems ein. Das BMZ ist auch und
gerade das Ministerium für globale Entwicklungen.
({7})
Die Koalition verstärkt die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit.
({8})
Natürlich hätten wir uns gewünscht, Herr Raabe, dass es
mehr als 2 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre
wären. Aber: Die Notwendigkeit dieser Mittel ist bei den
Spitzen der Fraktionen angekommen. Ich bedanke mich
bei der Kanzlerin, beim Vizekanzler, bei Herrn Gabriel.
Wir haben einen großen Konsens. Es ist eine große
Chance, dass wir diese Themen, diese Herausforderungen nicht im kleinen innerparteilichen Streit diskutieren
müssen, sondern dass wir uns im Großen und Ganzen einig sind, dass wir etwas bewegen und nach vorne kommen wollen. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen.
({9})
Als neuer Bundesminister mache ich mich mit großer
Freude an die Arbeit. Ich fühle und finde viel Idealismus
und Unterstützung bei Ihnen. Das gibt mir auch die
Kraft, neue konkrete Akzente und Ansatzpunkte zu finden. Neue Schwerpunkte werden wir in den nächsten
Monaten im Ausschuss miteinander entwickeln. Mit
meinen beiden Staatssekretären Joachim Fuchtel und
Christian Schmidt haben wir eine Verstärkung bekommen. Sie sind gewichtige politische Akteure an meiner
Seite, profilierte Außenpolitiker und Entwicklungspolitiker.
({10})
Thema Nummer eins, meine Damen und Herren, ist
die Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist kein Nischenthema, wie ich gesagt habe, und deshalb müssen
wir Wirtschaft, Gesellschaft, Kirchen, Medien und Politik mitnehmen.
Die größte Ungerechtigkeit sind die absolute Armut
und der Hunger. Deshalb werden wir unsere Anstrengungen hier weiter verstärken und besonders in Afrika
investieren - die Frau Verteidigungsministerin ist weg -;
wir werden unsere Anstrengungen mit einer Sonderinitiative für eine Welt ohne Hunger verstärken und in
Mali, in Zentralafrika einen Schwerpunkt setzen. Ich beabsichtige, mit jährlich 1 Milliarde Euro gezielt die ländliche Entwicklung voranzubringen. Wir streben den Aufbau von zehn grünen Wertschöpfungszentren in Afrika
an. Unser Leitbild sind nicht Agrofabriken, sondern leistungsfähige bäuerliche Betriebe, die die lokale Ernährung sichern und die Wertschöpfung im Lande belassen.
Wir sind davon überzeugt: Afrika kann sich selbst ernähren.
({11})
Wir haben das Wissen, das Können. Wir müssen in
Partnerschaft diesen Transfer leisten; dann ist Afrika selber imstande, sich zu ernähren. Viele Länder Afrikas
können mit diesem Know-how, mit unserer Hilfe die
Produktivität verdoppeln, verdreifachen. Wir haben solche Erfahrungen in Äthiopien und in vielen anderen
Staaten bereits gemacht. Also machen wir uns auf, diesen Schwerpunkt zu setzen.
Dazu gehört Bildung. Bildung ist für uns der Schlüssel für eine bessere Zukunft. Bildung ist die Grundlage
jeglicher Veränderung. Deshalb werden wir hier einen
weiteren Schwerpunkt setzen und gezielt Haushaltsmittel zur Stärkung der Grundbildung und zum Aufbau beruflicher Ausbildungszentren, aber auch für die tertiäre
Bildung einsetzen. Wir werden diese Haushaltsmittel auf
mindestens 400 Millionen Euro jährlich erhöhen und
dazu auch eine Afrika-Initiative starten. Ich habe mich
gestern mit der Präsidentin des DAAD getroffen. Wir
haben vereinbart, den jetzt schon erfolgreichen Austausch von Studenten und Professoren zwischen
Deutschland und Afrika zu verdoppeln. 1 000 neue Austauschplätze für afrikanische Studenten in Deutschland
sind das Ziel.
Afrika bleibt unser regionaler Schwerpunkt. Ich sage:
Trotz aller Probleme ist Afrika der Chancenkontinent.
Deshalb arbeiten wir an einem neuen entwicklungspolitischen Afrika-Konzept. Ich lade insbesondere die deutsche Wirtschaft ein, in Partnerschaft mit uns die Chancen zu nutzen.
Ein schwieriges, aber drängendes Thema ist das
Flüchtlingsthema. Wir brauchen ein europäisch abgestimmtes Flüchtlingskonzept. Meine Damen und Herren,
Lampedusa wird es hundertmal geben, wird es tausendmal geben. Es genügt nicht, dass wir im Mittelmeerraum
die Zäune und die Polizeipräsenz verstärken; wir müssen
Lebensperspektiven für die Menschen vor Ort schaffen.
({12})
Wir müssen eine Antwort geben. Frau Roth war gerade
unterwegs in Jordanien und im Libanon, wo 3 bis 4 Millionen syrische Flüchtlinge in Flüchtlingslagern, in Notunterkünften leben und humanitäre Hilfe, das tägliche
Essen erhalten. Aber wir brauchen eine Antwort auf die
Frage der Reintegration, wo es darum geht, diese Menschen wieder in ihre Heimat zurückzuführen. Ich sage
auch mit Blick auf die Diskussion in Deutschland: Die
syrischen Flüchtlinge, aber auch die Flüchtlinge an anderen Orten in der Welt wollen nicht hierherkommen; sie
wollen Heimat und Zukunft, Frieden und Stabilität zu
Hause, und dazu müssen und werden wir beitragen.
({13})
Dies gilt auch für Afghanistan. Ich kann das Thema
heute nicht weiter vertiefen. Es geht auch dort um die
Frage einer echten Entwicklungsperspektive. Der Abzug
der ISAF-Soldaten, Herr Staatssekretär, ist nur die eine
Seite. Wenn wir nach zwölf Jahren herausgehen, brauchen wir zur Stabilisierung Investitionen und eine Stärkung der zivilen Infrastruktur, wenn wir nicht innerhalb
von fünf Jahren erleben wollen, dass der militärische
Einsatz der ISAF-Truppen erfolglos war, weil das Land
im Chaos versinkt. Das wollen wir nicht, deshalb müssen wir die zivilen Strukturen stärken.
Der Klimaschutz bleibt Eckpfeiler der Entwicklungspolitik; das ist ganz natürlich. Die Aufgabe, vor der wir
stehen, ist, ein rechtsverbindliches Klimarahmenabkommen im Jahr 2015 abzuschließen. Dieser eine Satz beinhaltet eine große Ankündigung. Es ist nämlich eine
riesige Aufgabe, zu einem rechtsverbindlichen Klimarahmenabkommen im Jahr 2015 zu kommen.
Meine Damen und Herren, unser Einsatz gilt der Förderung von Demokratie, Menschenrechten, Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung. Wirksame Entwicklungszusammenarbeit hat
dies natürlich auch zum Ziel und zur Grundlage. Deswegen werden wir uns verstärkt auf Aufbauleistungen insbesondere im Mittelmeerraum konzentrieren und dabei
die so wertvolle Arbeit unserer politischen Stiftungen
fördern.
({14})
Vieles ist zu tun, und viele sind unterwegs. Zum
Schluss möchte ich unseren vielen Tausend Entwicklungshelfern und -experten in der Welt - Soldaten leisten
ihren wertvollen, herausragenden Dienst, aber auch Tausende von Entwicklungshelfer - für ihren unermüdlichen und auch gefährlichen Dienst danken. Sie verdienen, dass ihnen unsere ganz besondere Wertschätzung
gilt.
({15})
Unsere Entwicklungshelfer sind Botschafter Deutschlands im besten Sinne: Botschafter für den Frieden in der
Welt. Sie stehen für unsere Kultur, für Gerechtigkeit,
Frieden, Demokratie und Zukunft. Wir im Deutschen
Bundestag stehen fraktionsübergreifend hinter ihnen.
Wir alle kämpfen für eine gerechte Welt, für eine bessere
Zukunft und den Erhalt unserer Schöpfung. Mit ihnen
zusammen gehen wir an die Arbeit.
Herzlichen Dank.
({16})
Als nächste Rednerin hat das Wort Kollegin Heike
Hänsel, Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Müller,
Sie schlagen neue Töne in der Entwicklungspolitik an,
auch im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger. Ich muss sagen:
Dies begrüßen wir ausdrücklich hier in der entwicklungspolitischen Debatte.
({0})
Es gibt - das haben wir auch schon heute Morgen im
Ausschuss gesagt - zahlreiche Ideen von Ihnen, von denen auch wir einige unterstützen. Die Frage der Wertschöpfung in den Ländern des Südens ist eine der entscheidenden Fragen für Entwicklung. Ebenso stimmt es,
dass es um Veränderungen hier im Norden gehen muss.
All das sind Ansätze, die wir unterstützen. Da werden
wir Ihre Vorstellungen sicherlich kritisch-konstruktiv begleiten.
({1})
Ich bin aber nicht erst jetzt zu dieser Debatte gekommen, sondern sitze hier seit heute Morgen und habe eine
Regierungserklärung nach der anderen gehört. Da gab es
auch andere Töne. Wenn ich mir Kanzlerin Merkel in Erinnerung rufe,
({2})
so war für mich ihre Hauptbotschaft: Wir sind besser aus
der Krise herausgekommen als andere, wir wollen im
harten Wettbewerb bestehen, wir wollen an die Spitze,
wir wollen als starkes Europa unseren Platz an der Spitze
der globalen Entwicklung halten, usw.
({3})
Hier ging es nur um Konkurrenz. Hier ging es nur um
ein System von wirtschaftlicher Konkurrenz, um knallharten Wettbewerb der Volkswirtschaften weltweit, im
Grunde um den Kampf um Ressourcen, den Schutz von
Handelswegen, um billige Arbeitskräfte und neue Absatzmärkte. Hier ging es nicht um Kooperation, sondern
hier ging es um knallharten Wettbewerb. Und das lehnen
wir ab.
({4})
Diese Form des weltweiten Wirtschaftens, diese neoliberale Globalisierung - genau so soll es demnach ja jetzt
weitergehen -, steht gegen die Vorstellungen und Ziele
und Ideen, die Minister Müller gerade formuliert hat.
({5})
Wir brauchen uns nur die aktuellen Zahlen anzuschauen. Oxfam hat letzte Woche neu ausgerechnet, dass
die 85 reichsten Menschen auf der Erde über genauso
viel Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das ist eine enorme Konzentration von
Reichtum. Diese Form des Reichtums dürfen wir nicht
akzeptieren.
({6})
Es ist eine wirtschaftliche Machtkonzentration, die die
demokratischen Fundamente weltweit massiv bedroht.
Genau deswegen wollen wir weg von dieser Profitmaximierung hin zu einem solidarischen Wirtschaftssystem. Dann wäre auch eine Wertschöpfung in den Ländern des Südens möglich.
({7})
Ich habe in der vorherigen Debatte ganz andere Töne
von der Verteidigungsministerin von der Leyen - wenn
man sie denn so nennen kann - gehört. Ich finde es ganz
interessant, dass sie eine Afrika-Strategie entwickeln
will, bei der Afrika in den Fokus für immer neue Militäreinsätze kommen soll. Im Grunde wäre es viel besser,
die wirtschaftliche Entwicklung zu befördern, anstatt
noch mehr Militäreinsätze durchzuführen.
100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs sollten
wir die Mahnung verstanden haben. Es war deutsche
Großmachtpolitik, die Millionen von Menschen ins
Elend und ins Verderben gestürzt hat. Genau deswegen
brauchen wir andere Schlussfolgerungen als die, die ich
vorhin in der verteidigungspolitischen Debatte gehört
habe.
({8})
Ich kann heute nicht alle Punkte thematisieren. Wir
werden darüber noch diskutieren.
Herr Müller, für uns gibt es noch weitere Bereiche, in
denen wir hoffen, dass Sie auch dort neue Akzente setzen. Zum einen geht es - Sie sind Mitglied des Bundessicherheitsrates - um die Frage der Rüstungsexporte.
Wir fordern Sie auf: Stimmen Sie gegen Rüstungsexporte in die Länder des Südens! Aus Krisen werden
Kriege. Wir erleben es in Syrien. Kriege verhindern Armutsbekämpfung und tragen zum Entstehen neuer Armut bei.
({9})
Zum anderen geht es darum, dass die Entwicklungszusammenarbeit ständig im Zusammenhang mit Militärstrategien erwähnt wird. Entwicklungspolitik soll Militäreinsätze flankieren, so sagte Frau von der Leyen. Dies ist
eine katastrophale Entwicklung. Wir und auch Entwicklungsorganisationen warnen seit Jahren davor. Die zivilmilitärische Zusammenarbeit und eine vernetzte Sicherheit tragen nicht zur wirtschaftlichen Entwicklung und
zur Armutsbekämpfung bei. Die Entwicklungszusammenarbeit wird dadurch militarisiert und nur an sicherheitspolitischen Interessen ausgerichtet. Diese Instrumentalisierung dürfen wir alle nicht zulassen. Wir
brauchen die Stärkung des Zivilen. Das muss unser Anspruch sein.
Danke.
({10})
Als Nächster erteile ich der Kollegin Frau Dr. Bärbel
Kofler, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn meiner Rede, Herr Minister, möchte ich
Danke dafür sagen, dass Sie den Versuch unternommen
haben - ich glaube, da haben Sie die Unterstützung aller
Entwicklungspolitiker im Hause -, Entwicklungszusammenarbeit ins Zentrum der Politik zu stellen. Das ist der
folgerichtige und vernünftige Handlungsansatz, der sich
aus den vielen Katastrophen und Krisen dieser Welt ergibt.
({0})
Wir als Entwicklungspolitiker sind momentan gefordert. Wir befinden uns in einem Umdenkungsprozess.
Wie geht es weiter? Wie können wir Armut weltweit
nachhaltig und dauerhaft bekämpfen? Die Millenniumsziele werden weiterentwickelt. Wir sind gut beraten, in
dieser Debatte genau hinzuschauen: Wo haben wir in
den letzten Jahren Erfolge erzielt? Wo sind Handlungsfelder, in denen wir als Entwicklungspolitiker noch tätig
werden müssen? Wir müssen auf alle Fälle auf uns selbst
schauen, also auf unsere Gesetzgebung und auf unser
Wirtschaften, das sehr oft entwicklungspolitischen Bestrebungen entgegenläuft.
Herr Minister, Sie haben Arbeitsbedingungen und
Produktionsbedingungen angesprochen. Ich möchte Folgendes deutlich herausstellen. Die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation in Genf, spricht von 900 Millionen Menschen weltweit, die zwar erwerbstätig sind,
aber weniger als 2 Dollar am Tag zur Verfügung haben,
um sich und ihre Familie zu ernähren. Weniger als
2 Dollar trotz Erwerbstätigkeit! Wenn wir es zulassen,
dass sich Menschen, die hart arbeiten und die zum Teil
- leider - zwölf Stunden arbeiten müssen, mit ihrer Arbeit nicht aus extremster Armut befreien können, dann
ist das ein bodenloser Skandal, der eigentlich nicht hingenommen werden kann.
({1})
Wir werden Armut auch nicht nachhaltig bekämpfen,
wenn wir nicht menschenwürdiges Arbeiten ins Zentrum
der Entwicklung setzen. 60 Prozent der Menschen in den
ärmsten Entwicklungsländern sind unter 25 Jahre alt.
Diese jungen Menschen brauchen Perspektiven, brauchen Arbeitsplätze mit menschenwürdigen Rahmenbedingungen, von denen sie sich vernünftig ernähren
können.
Das Beispiel Bangladesch ist angesprochen worden.
Ich war selbst in Bangladesch und habe mit Näherinnen
gesprochen. Damals arbeiteten sie für einen Mindestlohn
von 20 Euro im Monat. Dass man sich so nie aus der
Armut befreien kann, ist völlig klar. Die Streiks in Kambodscha beweisen zu Recht, dass die Menschen auch in
diesen Ländern beginnen, etwas an ihren Verhältnissen
ändern zu wollen. Auch dies ist ein Prozess, den wir
unterstützen und begleiten müssen. Deshalb freut es
mich, und ich halte es für ganz wichtig, dass die
Friedrich-Ebert-Stiftung in Bangladesch ein Büro eröffnet hat. Der Schwerpunkt der Arbeit dieses Büros liegt
darauf, zivilgesellschaftliche Akteure, Gewerkschaften,
Wissenschaftler und Medien zusammenzubringen, um
den Menschen zu helfen, ihre Arbeitnehmerrechte
durchsetzen zu können. Ich halte dies für einen zentralen
Punkt der Entwicklungszusammenarbeit.
Wenn wir auch bei uns Veränderungen vornehmen
wollen und müssen, dann müssen wir zu verbindlichen
Regeln kommen, wenn es um die Verpflichtung geht,
Sozialstandards und ökologische Standards einzuhalten;
auch für unsere Unternehmen, die weltweit tätig sind.
Das sind Regelungen, von denen ich glaube, dass wir sie
bei uns treffen können und müssen. Das hat etwas mit
Wertschöpfungsketten und Lieferketten, mit verbindlichen und transparenten Regeln zu tun. Nur so kann ein
Verbraucher nachvollziehen, wie das Produkt entstanden
ist. Ansonsten ist die viel zitierte Macht des Verbrauchers nur auf dem Papier vorhanden. Ich glaube, dafür
müssen wir gemeinsam kämpfen.
({2})
Ebenso wichtig ist der gesamte Bereich der sozialen
Sicherung. Vor einem Jahr hatten wir eine Anhörung
zum Thema Weiterentwicklung der Millenniumsziele,
also der SDGs, wie es immer so schön heißt. Es wurde
eines ganz klar: Krankheiten zum Beispiel kann man
weltweit nur wirksam bekämpfen, wenn der Ansatz in
ein ordentliches Gesundheitssystem eingebettet ist, sonst
sind es punktuelle Hilfen, die den Menschen momentan
helfen. Aber sie haben keine dauerhaften Wirkungen für
die Menschen und weisen keinen Ausweg aus der
Armut. Eines ist auch klar: Es muss um solidarische Versicherungssysteme gehen; denn es ist niemandem geholfen, wenn die ärmsten der Armen wieder keinen Zugang
zu sozialer Sicherung, zur Krankenversicherung oder zur
Absicherung finden, weil auf irgendeine Art und Weise,
privatwirtschaftlich organisiert, doch das Geld entscheidet. Wir brauchen ein System, an dem alle partizipieren.
Wir müssen soziale Sicherung auch deshalb machen
- das haben auch Beispiele der letzten Wochen, Monate
und Jahre bewiesen -, weil es eine gute Versicherung ist,
damit Menschen nicht in extreme Armut zurückfallen.
Mexiko und Brasilien sind Beispiele dafür, wo es gelungen ist, Menschen trotz Finanzkrise nicht in extreme
Armut zurückfallen zu lassen, weil es einen Aufbau von
sozialen Sicherungssystemen gibt. Ich glaube, diese
Wege müssen wir weiter ausbauen.
({3})
Zum Thema Klimaschutz ist viel Richtiges gesagt
worden. Ich unterstreiche noch einmal: Wir haben eine
Verantwortung als Industrieländer. Auch Schwellenländer haben eine wachsende Verantwortung. Aber wir haben eine historische Verantwortung dafür, dass der von
uns verursachte Klimawandel katastrophale Folgen für
die ärmsten der Armen und für die Entwicklungsländer
hat. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen, müssen wir uns auch finanziell stellen. Der Aufwuchspfad
für die Langfristfinanzierung im Klimabereich beschäftigt uns. Auch in diesem Bereich brauchen wir nicht nur
Rahmenbedingungen, sondern auch finanzielle Mittel.
Wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, dass
mittlerweile immer noch eineinhalb Milliarden Menschen auf dieser Erde keinen Zugang zu elektrischer
Energie haben. Das ist ein unglaubliches Entwicklungshemmnis, aber auch eine riesige Herausforderung; denn
die Fehler, die wir bei der Industrialisierung und dem
Aufbau von Energiesystemen gemacht haben, können
wir aufgrund der begrenzten Ressourcen des Planeten so
nicht wiederholen. Wir müssen weg von einer Energiepolitik, die sich an fossilen Energien oder in manchen
Bereichen an der Atomenergie ausrichtet. Wir müssen
den Entwicklungsländern ein nachholendes Entwickeln
ermöglichen, ohne dass sie hinsichtlich der Umweltverschmutzung dieselben Fehler machen, die wir schon gemacht haben.
({4})
Frau Kollegin, es wäre nett, wenn Sie ein bisschen auf
Ihre Zeit achteten, die Sie schon liebevoll überzogen haben.
({0})
Die Gedanken sind sehr interessant, aber es gibt weitere
Kollegen, die sprechen wollen. Deswegen wäre es
schön, wenn Sie zum Schluss kämen.
Ich möchte selbstverständlich meinen Kollegen nicht
die Zeit nehmen, ihre Gedanken, die ich auch für sehr
wichtig erachte, darlegen zu können. Ich möchte nur einige Sätze zum Schluss sagen.
Wir brauchen auf der einen Seite Rahmenbedingungen; wir müssen gesetzgeberisch handeln. Wir brauchen
auf der anderen Seite aber auch einen Aufwuchs bei den
finanziellen Mitteln. Herr Minister, Sie haben einige
Projekte genannt, ich habe einige Projekte genannt. Sie
können sicher sein: In Ihrem Kampf um mehr Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit werden Sie alle hier versammelten Politiker auf Ihrer Seite haben.
Danke.
({0})
Ich erteile nun dem Kollegen Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
fange mit einem Zitat an:
Hier sitzt Müller, nicht Niebel. Ich habe den Unterschied deutlich gemacht.
Gut so! Die Kappen sind entsorgt.
Noch viel besser sind natürlich einige der Aussagen,
die Sie auch heute getroffen haben: Ihre Aussagen zum
Thema Wachstum, zur globalen Wohlstandsverteilung,
zum ökologischen Fußabdruck. Sie sprechen von einem
Paradigmenwechsel und sogar davon, dass Sie Regeln
für Konzerne international festschreiben wollen. Ja,
wenn das nicht schon der Weg ins entwicklungspolitische Paradies ist, dann weiß ich es nicht!
Allerdings muss Ihnen klar sein, Herr Müller, dass
wir Sie nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Taten
messen werden.
({0})
Leider nähren Sie auch ein paar Zweifel. Erst am 6. Dezember haben Sie den Wachstumskurs bei den deutschen
Agrarexporten gefeiert. Sie schrieben auch: „Eine dynamisch wachsende Weltbevölkerung“ eröffnet „für deutsche Qualitätsprodukte der Agrar- und Ernährungswirtschaft eine Vielzahl von neuen Exportmöglichkeiten“.
Herr Müller, Sie sind heute Entwicklungsminister und
nicht mehr Vertreter des Bauernverbandes. Sie müssen
sich von Ihrem Dasein als Exportförderer tatsächlich
verabschieden. Denn links und rechts gleichzeitig abbiegen - das kann nur Seehofer.
({1})
Auf die Frage, wie denn die Regierung die Auswirkungen europäischer Agrarsubventionen einschätze,
antwortete Ihr Ministerium - ich sage nicht „Sie“ -: Die
gewährten Agrarsubventionen haben keinen marktverzerrenden Einfluss. - Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Es geht nicht um Exportsubventionen, sondern um
Agrarsubventionen. Ich habe den Eindruck, dass die Beamten Ihres Ministeriums die Fragen noch in einer
Weise beantworten, wie sie es in den letzten vier, fünf,
sechs, sieben Jahren gewohnt waren.
({2})
Da müssen Sie also noch hart arbeiten, bis tatsächlich
vernünftige Antworten herauskommen.
({3})
Sie sprechen davon, dass die Wertschöpfung in den
Ländern bleiben soll. Das ist brillant. Gleichzeitig wollen Sie aber die German Food Partnership fortsetzen, mit
Großkonzernen wie Bayer, BASF, Syngenta und Metro
sowie weiteren Unternehmen. All das sind Organisationen, die die Wertschöpfung nicht in Afrika belassen
wollen. Die Kapitalbedingungen geben ihnen dazu überhaupt keine Möglichkeit. Sie wollen die Wertschöpfung
hierherholen.
Es ist auch bedenklich, dass Ihr Staatssekretär
Schmidt, den ich persönlich sehr schätze, in der Verteidigungs- und Entwicklungspolitik fast das Gleiche sieht.
Daran müssen wir noch arbeiten. Das sind zwei grundsätzlich verschiedene Bereiche.
({4})
Sie wollen dem 0,7-Prozent-Ziel treu bleiben, Herr
Minister. Auch die Kanzlerin hat das, wohl um den
Niebel regelmäßig zu ärgern, vier Jahre lang immer wieder betont. Die Politik war dann eine andere. Heute müssen wir feststellen: Herausgekommen sind jährlich
200 Millionen Euro mehr für den Entwicklungsetat. Damit kann man den Berliner Flughafen ungefähr zwei
Monate lang am Leben erhalten;
({5})
danach müsste man ihn schließen. Kollege Sascha Raabe
hat deshalb auch die Konsequenzen gezogen. Herr
Raabe, Respekt! Herr Minister, wenn Sie es ernst meinen mit Ihren Aussagen, dann müssen Sie sich mit
Sigmar Gabriel zusammensetzen; denn es muss Schluss
sein mit Handelsverträgen, die die Gewerkschaftsrechte
unterminieren und eine wirkliche Klimapolitik in den
Partnerländern unmöglich machen, die die Ernährungssouveränität der Länder untergraben, die den Investitionsschutz über Menschenrechte, über soziale und ökologische Gerechtigkeit stellen. Die ärmsten Länder
brauchen gute, günstige Medikamente und keine Ausdehnung des Patentschutzes. Die Länder brauchen in der
Regel keine deutsche Milch und vor allen Dingen auch
keine deutschen Hähnchenteile, sondern Ernährungssouveränität. - Aber Sie haben ja gesagt, Sie wollen den
Ansatz vorantreiben.
Herr Minister, in einem Interview haben Sie in der
vergangenen Woche gesagt, Ihre Vision sei eine
weltweite ökologisch-soziale Marktwirtschaft, in
der die Nachhaltigkeit dem Wachstum übergeordnet
ist.
Wir sind hier zu 100 Prozent an Ihrer Seite. Wir werden
Sie aber an Ihren Taten messen. Helmut Kohl hat immer
gesagt: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“. Ich
befürchte nur - aber da werden wir uns dann schützend
vor Sie stellen -, dass Sie sehr viele Steine in den Weg
gelegt bekommen, und zwar nicht von der Opposition,
ich denke hier mehr an Ihre eigene Fraktion.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile als Nächster das Wort Frau Kollegin
Sibylle Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“
Dieser Satz stammt von Kurt Schumacher - er ist einer
der Lieblingssätze meines Fraktionsvorsitzenden Volker
Kauder -, und ich gebe ihm recht. Die Realität hat sich,
auch in der Entwicklungspolitik, in den letzten Jahren
massiv gewandelt. Neue Akteure und andere Aufgaben
haben dazu geführt, dass wir nicht mehr so stark in den
Kategorien „Geberländer - Nehmerländer“ denken. Wir
wissen, dass viele Probleme nicht ausschließlich auf nationaler Ebene zu lösen sind, und auch, dass sie nicht an
Landesgrenzen Halt machen. Dazu zählt zweifelsohne
die Klimapolitik. Deshalb wollen wir von der CDU/
CSU-Fraktion dieses Thema zu unserem Hauptthema
machen; denn hier wird deutlich, dass wir Veränderungen zum Positiven nur gemeinsam erreichen können.
Bisher waren die zentralen Fragen: Wie können wir
CO2-basiertes Wirtschaftswachstum reduzieren? Wie
können wir dabei gleichzeitig andere Länder wie China,
USA, Indien usw. verbindlich in die klimapolitischen
Ziele einbinden? Wie können wir dazu noch einen zu
großen Anstieg der Erderwärmung verhindern? Ist das
die Quadratur des Kreises? Ich weiß es nicht.
Für diese Fragen bietet sich zum Beispiel der G-8Gipfel 2015 auf Schloss Elmau als geeignete Diskussionsplattform an. Dort könnte man sich auf gemeinsame
Positionen in der Klimapolitik einigen. Wichtige Vorarbeit
wurde übrigens bereits geleistet, nämlich 2009 auf der
Klimakonferenz in Kopenhagen. Die dort eingegangenen
finanziellen Zusagen an die Entwicklungsländer, ab 2020
100 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen,
und zwar von öffentlichen und privaten Gebern, sind definitiv keine Peanuts. Daher hoffe ich auf eine gewisse
Dynamik in der Klimadebatte, auch was die Finanzierung betrifft; denn wir wollen hier weiterkommen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zwei
Punkte ansprechen. Erstens. Welche Auswirkungen hat
der Klimawandel zum Beispiel auf Entwicklungsländer,
direkt wie indirekt? Versandung, extreme Wetterphänomene, der Anstieg des Meeresspiegels, Ernteausfall,
Hunger, Abholzung von Wäldern, Verstädterung - es
gibt noch einiges mehr. Die Kosten für die Anpassung an
veränderte Lebensumstände können viele Entwicklungsländer alleine nicht schultern. Daher müssen wir uns
schon heute Gedanken machen, wie wir diese Länder dabei langfristig und nachhaltig unterstützen können. Versäumen wir das heute, wären die Folgen teuer, sowohl
für die betroffenen Länder als auch für uns.
Zweitens. Wie binden wir die Entwicklungsländer in
eine aktive Klimapolitik ein? Die zunehmende wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern bedingt auch
die Steigerung des Bedarfes an Energie, an Lebensmitteln oder anderen Gütern mit der Folge des vermehrten
CO2-Ausstoßes. Was bringt es denn, wenn wir in
Deutschland auf erneuerbare Energien setzen und
gleichzeitig in den Entwicklungsländern aus Kostengründen unzählige neue, effizienzschwache Kohlekraftwerke gebaut werden? In weiten Teilen Afrikas würde
sich doch zum Beispiel die Solarenergie als sinnvolle
Alternative anbieten. Doch die Investitionskosten und
das notwendige Know-how für die Installation und die
Wartung dieser Anlagen sind gewaltig. Deshalb ist die
Zusage von Kopenhagen übrigens auch so wichtig; denn
durch diesen Hebel können wir unsere Partner unterstützen - zum beiderseitigen Nutzen. Das ist sozusagen eine
Win-win-Situation mit unglaublichem Potenzial.
Gestatten Sie mir einige Gedanken zu ODA. Lassen
Sie uns auch einmal überlegen, ob wir unser Verständnis
vom Einsatz der öffentlichen Entwicklungsgelder in Teilen hinterfragen müssen. Viele Entwicklungsländer haben seit dem Ende des Kalten Krieges eine langanhaltende wirtschaftliche Entwicklung eingeschlagen. Sie
generieren signifikante eigene Einnahmen, sei es aus
Rohstoffhandel, aus eigenen Steuern, aus Steuern auf
ausländische Direktinvestitionen oder sei es durch Rücküberweisungen von Migranten. Im Jahr 2010 beispielsweise erreichte die ODA weltweit eine Höhe von
127 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die Gesamtsumme von Rücküberweisungen von Migranten in die
Entwicklungsländer, also in ihre Heimatländer, betrug
allein 326 Milliarden Dollar. Das ist ein Vielfaches der
Entwicklungsgelder.
Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Tatsache ist meines Erachtens, dass diese Einnahmen mittlerweile eine
weitaus größere Rolle für die Finanzierung der Entwicklung spielen als öffentliche Entwicklungsgelder. Das
festzustellen, gehört für mich zum Betrachten der Realitäten. Das ist im Übrigen ein großer Erfolg der Entwicklungsländer selbst.
Was bedeutet das für unser Verständnis von Entwicklungspolitik? Es gibt zwar immer noch Länder, in denen
es um die Sicherung der Grundbedürfnisse geht - wir
werden natürlich weiterhin unseren Beitrag leisten,
wahrscheinlich sogar noch stärker als bisher -, aber viele
Entwicklungsländer sind mittlerweile selbst zu vielem in
der Lage: zum Aufbau eines Basisgesundheitssystems,
zur Sicherung des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Bildung oder einfach zum Aufbau stabiler staatlicher Strukturen. Das ist ein Erfolg, und das ist teilweise ein gemeinsamer Erfolg. Dabei hat sich gezeigt, dass der
Entwicklungsprozess immer dann erfolgreich ist, wenn
er aus den Ländern selbst kommt und zumindest zu einem gewissen Teil von ihnen selbst finanziert ist. Daher
können und müssen wir in diesen Ländern anders arbeiten und eine andere Zusammenarbeit mit diesen Ländern
betreiben.
Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. Wenn Sie mir
noch einen Gedanken gestatten würden.
Die Frage in diesem Zusammenhang lautet schlicht:
Wie machen wir das? Diskutieren wir doch einmal über
Ergebnisorientierung bei der Finanzierung. Und was bedeutet es, dass der Entwicklungsprozess in erster Linie
in der Verantwortung der Partnerländer liegt? Denn unsere Partnerländer ernst zu nehmen, heißt, sich nicht nur
auf gemeinsame Ziele zu einigen. Es bedeutet vielmehr,
dass sie darüber entscheiden, wie sie die Ziele erreichen
wollen, und sie sich sukzessive selbst mehr in die Pflicht
nehmen, beispielsweise über eine steigende finanzielle
Eigenbeteiligung. So könnten am Ende des Prozesses
sich selbst tragende und funktionierende Programme
entstehen. Ich glaube, das wäre ein großer Erfolg, ein gemeinsamer Erfolg.
Vielen Dank.
({0})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Niema
Movassat, Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde
es gut, Herr Müller, dass Sie sich letzte Woche im Interview mit der Zeit von Ihrem Vorgänger, Herrn Niebel,
distanziert haben. Nicht nur durch das Interview, sondern auch durch das, was Sie hier heute in politischer
Hinsicht gesagt haben, haben Sie sich von ihm distanziert. Das lässt hoffen, dass Sie vielleicht andere Wege in
der Entwicklungspolitik einschlagen werden. Die letzten
vier Jahre waren schlechte Jahre, weil vor allem deutsche Interessen im Vordergrund standen, die Interessen
der deutschen Unternehmen, aber nicht die Menschen in
armen Ländern. Wir brauchen endlich einen Kurswechsel.
({0})
Sie haben heute auf die Perversion hingewiesen, dass
1 Milliarde Menschen hungern, während 1 Milliarde
Menschen gegen Übergewicht kämpfen. Sie haben zudem richtigerweise die Frage aufgeworfen, ob es gerecht
ist, dass 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent des globalen Reichtums für sich beanspruchen. Um die Frage
zu beantworten: Ja, es ist ungerecht, es ist unhaltbar, und
es muss sich etwas ändern.
({1})
Die Wahrheit ist doch: Die Industrieländer leben auf
Kosten der Länder des Südens. Das ist das entscheidende Problem. Wenn Sie dieser Argumentation tatsächlich folgen, Herr Müller, könnten Sie wirklich ein Entwicklungsminister werden, der den Namen wieder
verdient.
({2})
Laut Oxfam besitzen 85 Menschen auf dieser Welt so
viel Vermögen wie die Hälfte der Menschheit. 85 Individuen haben so viel wie 3,5 Milliarden Menschen. Das ist
doch nur noch obszön. Wir brauchen endlich globale
Umverteilung von oben nach unten. Wir müssen den
globalen Wohlstand gerecht verteilen.
({3})
Sie von der CDU/CSU als christsoziale Parteien sollten in dieser Frage ruhig verstärkt auf den Papst hören.
({4})
Er hat kürzlich geschrieben: Solange die strukturellen
Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte nicht in
Angriff genommen werden, werden sich die Probleme
der Welt nicht lösen lassen. - Ich weiß ja, dass Sie der
Linken nicht glauben, aber glauben Sie doch wenigstens
dem Papst.
({5})
Herr Müller, Sie haben gesagt, dass Sie den Kampf
gegen den Hunger als drängendste politische Aufgabe
sehen. Wir als Linke sehen das auch so. Allerdings hatten Sie als Staatssekretär im Agrarministerium den Ruf
eines Agrarexportbeauftragten der deutschen Lebensmittelindustrie. Das darf so nicht bleiben. Ich sage Ihnen:
Solange die europäische Agrarpolitik auf massive Überschussproduktion setzt, solange deutsche Kühe mit Futtermitteln aus armen Ländern gefüttert werden und
solange Freihandelsabkommen Entwicklungsländer
schutzlos gegenüber dem Import hochsubventionierter
europäischer Nahrungsmittel machen, so lange tragen
Deutschland und die EU eine Mitschuld am Hunger auf
der Welt.
({6})
Ich weiß ja, dass Sie stets betonen, dass Exportsubventionen nicht mehr existieren. Aber Quersubventionierungen gibt es dennoch. So wurden 2012 insgesamt
42 Millionen Tonnen Geflügelreste auf die afrikanischen
Märkte geschafft. Das ist im Vergleich zu 2011 eine Verdoppelung gewesen. Dadurch werden die lokalen
Märkte zerstört. Wir brauchen endlich eine Kehrtwende
in der globalen Agrarpolitik.
({7})
Letzte Woche haben Sie etwas gesagt, das mich ein
bisschen an Herrn Niebel erinnert hat. Sie haben gesagt,
dass, wenn wir zum Beispiel in die äthiopische Landwirtschaft investieren, ein Vielfaches zu uns zurückfließt. Ein für alle Mal: Es soll kein Vielfaches zu uns
zurückfließen. Wenn etwas zurückfließt, nutzt das vielleicht der deutschen Privatwirtschaft, aber nicht den
Menschen vor Ort. Der Mehrwert muss in den Partnerländern bleiben.
({8})
Zum Abschluss etwas zum Koalitionsvertrag. Sie haben faktisch das Ziel aufgegeben, in nächster Zeit
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Dabei
hatte die SPD dies ihren Wählerinnen und Wählern versprochen. Aber am Schluss der Koalitionsverhandlungen
hat Ihre Führungsriege dieses Versprechen beerdigt. Ihr
entwicklungspolitischer Sprecher Sascha Raabe hat deswegen sogar nach acht Jahren hingeworfen. Was Sie als
SPD abgeliefert haben, ist leider eine entwicklungspolitische Bankrotterklärung.
Für Sie, Herr Minister, wird es dadurch nicht einfacher. Wir als Linke werden in der neuen Wahlperiode an
deutsche Versprechen erinnern und für eine solidarische
Entwicklungspolitik streiten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als Nächstem erteile ich das Wort Kollegen Stefan
Rebmann, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebes neues Schriftführerteam!
({0})
- Ja, der Gewerkschafter spricht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr
Minister, ich finde, dass Sie heute Morgen im Ausschuss
und auch jetzt hier im Plenarsaal eine sehr gute Vorstellung gegeben haben. Ich teile die Meinung des Kollegen
Kekeritz: Sie werden nicht nur an Ihren Worten gemessen, sondern auch an Ihren Taten. Auch wir in der Großen Koalition werden an dem gemessen, was wir tatsächlich umsetzen.
Ich muss Ihnen auch sagen: Ich stimme Ihnen bei dem
zu, was Sie heute Morgen im Ausschuss zum Image der
Entwicklungspolitik gesagt haben, dass die Entwicklungspolitiker in der Welt umherreisen und das Geld verteilen. Ich finde, Entwicklungspolitik ist mehr, als Almosen zu verteilen, Kleidung und Nahrung an Bedürftige in
der Welt zu verteilen. Entwicklungspolitik ist mehr, als
hier und da eine Schule zu bauen. Und Entwicklungspolitik ist vor allem mehr, als zum Beispiel mit der berühmten Gießkanne durch Afrika zu gehen und Geld,
Nahrung und Wasser zu verteilen - und hinterher vielleicht sogar noch zu erklären: Wir haben unseren Beitrag
geleistet; nun schaut mal, wie ihr damit klarkommt und
was ihr daraus macht! - Nein, Entwicklungspolitik ist
viel mehr als das. Wir verstehen Entwicklungspolitik
auch als globale Strukturpolitik, als eine Politik, mit der
wir die Globalisierung nachhaltig und gerecht für alle
Menschen gestalten wollen.
({2})
Damit hat Entwicklungspolitik für uns auch einen vorausschauenden und präventiven Charakter. Denn eine
gute, abgestimmte und vor allen Dingen wirksame Entwicklungspolitik ist genau betrachtet - davon war heute
schon mehrfach die Rede - auch Friedenspolitik.
({3})
Willy Brandt hat einmal sinngemäß gesagt: Frieden ist
nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. - Wenn wir
uns die Frage stellen: „Was ist denn notwendig für ein
friedliches Miteinander in der Welt? Was sind denn die
Grundbedingungen für Frieden, für menschliche Sicherheit, für soziale Sicherheit, für Gesundheit, für gute Lebens- und Arbeitsbedingungen?“, dann sind wir nicht
nur mitten in der Entwicklungspolitik, sondern eine Antwort darauf lautet tatsächlich: umgesetzte Entwicklungspolitik. Zu den Voraussetzungen für Frieden gehören
auch faire Lebensbedingungen für die Menschen überall
in der Welt. Das bedeutet: Zugang zu Nahrung und zu
Wasser und zu Energie, Zugang zu Gesundheits- und sozialen Sicherungssystemen, das Recht auf Bildung für
alle und damit die Chance auf einen Arbeitsplatz, auf
eine eigene Zukunftsgestaltung. Das bedeutet auch: fairere Arbeitsbedingungen und bessere Entlohnung. Das
bedeutet: Beteiligungsrechte, demokratische Strukturen,
nicht korrupte Justizsysteme und vieles mehr.
Frieden braucht menschliche Sicherheit. Jeder Einzelne braucht die Chance, sich eine eigenständige Zukunft aufzubauen. All das ist Friedenspolitik und Entwicklungspolitik zugleich. Dazu können, wollen und
müssen wir unseren Beitrag leisten, Kolleginnen und
Kollegen.
({4})
Wir leisten unseren Beitrag dazu mit einer Politik, die
sich ressortübergreifend dem Ziel einer besseren, friedlicheren, sozial gerechteren und chancenreicheren Welt
für alle Menschen verpflichtet fühlt.
Um das zu erreichen, brauchen wir nicht nur die Unterstützung anderer Staaten und eine abgestimmte europäische Entwicklungspolitik, sondern sind besonders auf
die engagierte und wertvolle Arbeit der vielen zivilen
Akteure angewiesen: der Gewerkschaften, der Kirchen,
der politischen und privaten Stiftungen und der zahlreichen anderen Nichtregierungsorganisationen, die eine
hervorragende Arbeit leisten.
Das Gleiche gilt in besonderem Maße für die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung, die wir stärker unterstützen und ausbauen wollen: Wir wollen die
deutschen Institutionen für Friedensförderung und Friedensforschung - wie das Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, zif, das Forum Ziviler Friedensdienst, forumZFD, die Bundesakademie für
Sicherheitspolitik und die Deutsche Stiftung Friedensforschung - künftig noch stärker in die Politikberatung
einbeziehen, weil sie einen wichtigen - wie ich meine
und wie es uns zahlreiche Wissenschaftler bestätigen:
unverzichtbaren - Beitrag leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Friedensförderung, der Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen
und sozialen Sicherungssystemen sowie die Schaffung
von zivilen, gewaltfreien Konfliktlösungsmechanismen
bitter nötig sind, steht außer Zweifel. Wenn wir uns die
Ursachen für Wanderungsbewegungen, für Flucht und
Vertreibung anschauen - die wir ja auch gegenwärtig erleben und die zum Teil recht unseriös und unschön diskutiert werden -, dann erkennen wir: Wir dürfen nicht
nur die Symptome behandeln, sondern müssen vor allem
die Ursachen bekämpfen.
Ich bin der festen Überzeugung: Jeder Euro, den wir
zielgerichtet und effektiv in unsere Entwicklungspolitik
investieren, um so zu versuchen - nicht nur, aber auch -,
die Ursachen für Flucht und Vertreibung nicht erst am
Verhandlungstisch zu verändern und zu beseitigen, lohnt
sich. Jeden Euro, den wir - noch einmal - zielgerichtet
in die Entwicklungspolitik investieren, um die Grundlagen für eine menschliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und friedliche Entwicklung zu schaffen, um
also den Menschen eine faire Chance auf eine eigenständige Zukunft zu ermöglichen und ihren Kindern und Fa656
milien eine Perspektive zu geben, werden wir doppelt
und dreifach zurückbekommen.
Entwicklungspolitik ist also nicht das Verteilen von
Almosen, sondern Entwicklungspolitik ist ethisch, moralisch und ökonomisch vernünftig und notwendig. Deshalb muss die Entwicklungspolitik künftig viel mehr im
Zentrum unseres politischen Handelns und auch in der
öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.
Herzlichen Dank.
({5})
Als Nächste hat unsere Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
C’est le ton qui fait la musique. Das stimmt! Die Musik
und der Sound von Gerd Müller waren heute tatsächlich
anders als das, was wir in den letzten vier Jahren gehört
haben, und das ist wirklich gut. Ich komme ja von der
Musik und kenne mich dort ein bisschen aus. Sie müssen
diesem Sound jetzt natürlich auch gerecht werden und
entsprechend liefern; denn die Entwicklungspolitik braucht
tatsächlich einen neuen, einen einbindenden Politikstil anders als in den letzten vier Jahren.
Wir stehen in der Tat vor riesig großen Herausforderungen: Hunger, Kriege, Klimawandel, Naturkatastrophen, Armut und Ungerechtigkeiten, gegen die wir angehen müssen. Aber eine ganz zentrale Herausforderung
liegt bei uns selbst. Wir müssen uns selbst, unsere Lebensweise, unsere Politik und unser Wirtschaften hinterfragen: ob sie dem Ganzen dienen oder doch nur egoistischen Partikularinteressen und ob sie mehr sind als der
schöne Sonntagssprech.
({0})
Die Aufgabe der Entwicklungspolitik ist ganzheitlich,
mit dem Ziel, den Weg zu globaler Gerechtigkeit einzuschlagen. Humanitäre Hilfe und Entwicklungskooperation - mein Vorredner hat es auch gesagt - sind menschliche Pflicht. Sie sind aber immer auch Ausdruck
politischer Rationalität; denn es hilft dem Frieden und
der Entwicklung in der ganzen Welt, wenn wir Krisen
und menschliche Not vor Ort bekämpfen und nicht zu
Flächenbränden werden lassen.
Es droht ein gigantischer Flächenbrand; Gerd Müller
hat es gesagt. Ich war acht Tage im Libanon, in Jordanien, im Irak und in Kurdistan-Irak und habe einen Eindruck von der humanitären Katastrophe dort bekommen,
die droht, eine politische Katastrophe für die gesamte
Region zu werden und die ganze Region in einen Kollaps zu führen. Deswegen nehme ich Sie, Gerd Müller,
und Herrn Fuchtel beim Wort, dass in Deutschland, aber
eben auch auf europäischer Ebene wirklich alle Anstrengungen unternommen werden, um diesen Flächenbrand
zu verhindern; denn es gibt noch viel zu tun.
Wir erleben derzeit eine unerträgliche Ungleichheit
durch Ungleichzeitigkeit:
Auf der einen Seite gibt es Wohlstand in Europa und
in den USA, der immer neue Höhepunkte erreicht, und
auf der anderen Seite erleben wir Hungerkatastrophen
und humanitäre Katastrophen in der Sahelzone, auf den
Philippinen und im Kongo. Auch dort eskaliert die Situation.
Ungleichheit durch Ungleichzeitigkeit erleben wir
auch dadurch, dass die Demokratie in vielen Staaten
Westafrikas, zum Beispiel in Liberia oder in der Elfenbeinküste, außerordentliche Fortschritte macht, während
die Bürgerrechte in manchen Staaten Osteuropas brutal
abgebaut und systematisch mit Füßen getreten werden;
oder dass sich bei uns endlich ein Fußballnationalspieler
outet und offen zu seiner sexuellen Identität bekennt,
während auf der anderen Seite ein katastrophaler homophober Rollback in Staaten wie Uganda, Nigeria und
auch Russland Realität ist.
Neben den großen Krisen hat ganz sicher auch der
Klimawandel eine ganz besondere Bedeutung; er ist eine
große Bedrohung. Ich danke Gerd Müller dafür, dass er
ihn benannt und auch heute Morgen im Ausschuss in das
Zentrum gestellt hat, aber Klimaschutz fängt natürlich
zu Hause und mit der Energiewende bei uns an, und ich
glaube, hier gibt es auch für Sie als Minister ganz schön
viel zu tun.
({1})
Es braucht eine deutsche Entwicklungspolitik, die
sich nicht selbst marginalisiert, sondern die die Herausforderungen annimmt und eben nicht nur aus einem nationalen Interesse heraus agiert; auch das hat ein Vorredner gesagt. Es kann ja nicht darum gehen, dass man
deutsche Entwicklungshelfer quasi als Makler für eine
Marktöffnung oder als Rohstofflieferanten einsetzt.
Das Entwicklungsministerium ist heute ein Kooperationsministerium, das gemeinsam mit den Partnern auf
Augenhöhe die sozial-ökologische Transformation nach
vorne bringt, in der Welt organisiert und das auch in
Deutschland und vor allem im eigenen Kabinett für Kohärenz sorgt. Da wünsche ich Ihnen viel Durchsetzungskraft gegenüber Ihren Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wir sind aufgefordert, im Ausschuss mit unserer Vorsitzenden Daggi Wöhrl gut zusammenzuarbeiten, uns
aber auch über diese Ausschussgrenze hinweg in die anderen Bereiche einzumischen: in die Landwirtschaftspolitik, in die Rüstungspolitik, in die Handelspolitik, in
die Menschenrechtspolitik. So verstehe ich zukunftsfähige Entwicklungspolitik. Natürlich sind wir alle zusammen auch aufgefordert, Cheflobbyistinnen und -lobbyisten zu sein, um mit der Zivilgesellschaft dafür zu sorgen,
Claudia Roth ({3})
dass das Bewusstsein für globale Verantwortung wächst
und gestärkt wird.
Die letzten Jahre haben, glaube ich, sehr viele Gräben
in der Entwicklungspolitik aufgerissen. Wir sind dabei
- darauf können Sie sich verlassen -, wenn der richtige
Weg eingeschlagen wird. Wir helfen dabei, dass Brücken
gebaut werden, Brücken zur Veränderung der globalen
Strukturen, die zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit
führen.
Wir nehmen Ihre Einladung sehr ernst, uns bei den
Vorbereitungen zum G-8-Gipfel einzubringen, nicht nur,
weil er in Bayern stattfindet, sondern weil es um die Millenniumsziele geht, weil es um den Klimaschutz geht
und weil er in Bayern stattfindet.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Als Nächste hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Claudia, ich freue mich auf die zukünftige Zusammenarbeit im Ausschuss. Ich heiße dich
als Neuling bei uns im Ausschuss herzlich willkommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 100 Jahren hat
Deutschland Russland den Krieg erklärt. Eine Generation später hat Deutschland Polen überfallen; es ist der
Zweite Weltkrieg entfacht worden. Auf diesen Ruinen
unseres politisch-moralischen Versagens haben wir
Europa gebaut. Ich glaube, Europa kann als Entwicklungsmodell für eine globale Strukturpolitik dienen,
({0})
und zwar im Hinblick auf Wertekonsens, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, sozial-ökologische Marktwirtschaft.
Es ist mehr als protokollarische Höflichkeit, wenn
hohe Vertreter von internationalen Organisationen, die
uns immer wieder im Ausschuss besuchen, an uns öfter
die Bitte herantragen, dass Deutschland international bei
ordnungspolitischen Debatten eine Leadership-Funktion
übernehmen solle, zum Beispiel bei Global Governance.
Jetzt will ich nicht, dass wir uns anmaßen, eine Leadership-Funktion zu übernehmen, aber vielleicht könnte es
eine „small Leadership“-Funktion sein: nicht oberlehrerhaft, nicht selbstgefällig, nicht populistisch, sondern ergebnisorientiert und nachhaltig.
Unser Frieden und unser Wohlstand sind nicht nur
modellhaft, sondern sie verpflichten uns auch. Sie verpflichten uns zu mehr internationaler Verantwortung.
Und sie verpflichten uns, international ein verlässlicher
Partner zu sein.
Eine der besonders tragenden Säulen dafür ist die
Entwicklungspolitik; denn bei aller Notwendigkeit militärischer Interventionen: Nur eine nachhaltige Entwicklungspolitik kann der Garant für Wohlstand und Frieden
in dieser Welt sein. Hier brauchen wir einen einheitlichen Ansatz. Wir brauchen internationale Zusammenarbeit aus einem Guss. Hier haben wir eine moralische
Bringschuld - das ist angesprochen worden - zur Wahrung der Menschenrechte, zur Lösung von Konflikten
und zur Gestaltung einer gerechten und globalen Werteordnung.
Ich spreche es hier an: Mich hat es befremdet, wie abschätzig in der Presse im Zuge der Ressortverteilung
über Entwicklungspolitik gesprochen worden ist, so
nach dem Motto: Wer will denn das überhaupt werden?
Wer ist denn auf diesem Gebiet überhaupt tätig? Es sind
aber dieselben, die von uns internationale Verantwortung
einfordern. Das ist nicht in Ordnung, auch mit Blick auf
die Außenwirkung nicht. Es ist nicht in Ordnung mit
Blick auf die vielen Tausend Menschen, die sich in diesem Bereich ehrenamtlich engagieren, den vielen Jugendlichen, die freiwillig Entwicklungsdienste leisten,
und den vielen Entwicklungshelfern, die weltweit aktiv
sind, um den Ärmsten der Armen in schwierigsten Situationen zu helfen. Das verdient mehr Respekt und Anerkennung. Das erwarte ich auch von den Medien.
({1})
In den Koalitionsverhandlungen haben wir bewusst
Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Entwicklungspolitik als Ganzes verhandelt. Das ist auch gut so. Denn wir
können Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Teilhabe nur
dann erreichen, wenn wir einen abgestimmten Politikansatz haben. Es geht nicht, dass jeder für sich alleine
agiert; wir brauchen die Politikkohärenz und ein abgestimmtes Verhalten. Wir wollen auch in der Außen- und
Sicherheitspolitik eine mehr proaktive Rolle im internationalen Konfliktmanagement übernehmen.
Auch Europa - das ist bereits zu Recht angesprochen
worden - muss bei der Krisenreaktion und Krisenprävention vorangehen. Europa muss darin gestärkt werden,
zukünftig als eine Einheit zu handeln. Wir müssen uns
bemühen, die Kräfte vor Ort, ob die Afrikanische Union
oder die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten, in ihrer Eigenverantwortung zu unterstützen, damit
sie langfristig ihre Regionen selbst stabilisieren können.
Wir brauchen einen fairen und verlässlichen Welthandel. Wir müssen darauf achten, dass die Entwicklungsländer auf dem Entwicklungspfad voranschreiten können,
damit sie die Möglichkeit bekommen, auch internationale soziale Standards einzuhalten, und zum Wohle ihrer
Bevölkerung Welthandel treiben können. Wir wünschen
uns Handelspartner auf Augenhöhe. Ich sehe die Entwicklungspolitik auch als vorausschauende Friedenspolitik, nicht zuletzt auch im eigenen Interesse. Wir
wollen nicht, dass zukünftig alle diese Themen und Probleme Teil unserer Innenpolitik sind. Deshalb wollen
wir, dass die Friedenspolitik vorausschauend ist und dass
wir hier präventiv tätig werden.
Es ist unsere Zukunftspolitik, und es ist unsere Aufgabe, in die anderen Politikgremien bzw. in die anderen
Ministerien hineinzutragen, dass auch wir in der globalen Welt die Zukunft für die Generation unserer Kinder
und für viele Menschen auf dieser Welt mit zu gestalten
haben.
Eines muss klar sein - ich glaube, es ist uns auch allen
klar, dass es leider so ist -: Die meisten unserer Einsätze
sind eher Feuerwehreinsätze. Es sind Feuerwehreinsätze,
für die leider gilt, dass zeitlich befristete Krisenprogramme und mandatierte Militärinterventionen nur eine
Unterbrechung oder im günstigsten Fall die Beilegung
einer Krise oder eines Konflikts erzwingen. Das gilt für
die Not- und Übergangshilfe. Sie ist ohne Frage überlebensnotwendig. Aber meistens schaffen wir es nur, die
Menschen durchzubringen, bis die nächste Krise kommt.
Leider schaffen es die ärmsten Länder nicht, sich von
selbst zu regenerieren. Sie sorgen nicht vor. Jeder zweite
Bürgerkrieg in Afrika ist ein Rückfall. Das muss uns zu
denken geben, auch dahin gehend, dass wir es so, wie
wir bisher gehandelt haben, nicht schaffen, Krisen in der
Zukunft zu verhindern. Das heißt, wir müssen versuchen, die Menschen vor Ort zu befähigen, wie eine Art
Stehaufmännchen mit Krisen und Konflikten fertig zu
werden. Fachleute sprechen dabei von Resilienz.
Ich bin dankbar, dass die Welthungerhilfe das Konzept der Resilienz in der Entwicklungszusammenarbeit
im jüngsten Welthungerindex zum Schwerpunkt gemacht hat. Die Europäische Union hat dies erstmals mit
SHARE in Äthiopien gemacht.
Ich bin dankbar, dass der Minister angekündigt hat,
zukünftig zehn grüne Zentren aufzubauen. Es geht darum, dass die betroffenen Menschen selbst vorsorgen
können. Selbsthilfekräfte müssen geweckt und gestärkt
werden. Nur so kann die Entwicklungsspirale aufwärts
verlaufen.
Eines wissen wir mit Sicherheit: Wirtschaftswachstum und Wohlstandsteilhabe reduzieren nachweislich
das Risiko, erneut in eine Konfliktfalle zu geraten. Dabei
helfen viele mit. Es gibt in den Entwicklungsländern
starke Frauen, die in der Prävention und auch in der Mediation zur Lösung von Konflikten sehr aktiv sind. Viele
haben wir auf unseren Delegationsreisen und bei der zivilen Friedensarbeit kennengelernt. Ich wünsche der
neuen Präsidentin Catherine Samba-Panza Mut und
Kraft, in der Zentralafrikanischen Republik einen friedlichen Übergang zu Neuwahlen zu schaffen.
Das alles ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir haben
uns im Koalitionsvertrag zum 0,7-Prozent-Ziel bekannt.
Die Bundeskanzlerin hat 2 Milliarden Euro zusätzlich in
die Waagschale geworfen. Wir sind der drittgrößte Geber der Welt. Wir reden also nicht nur von internationaler Verantwortung, sondern nehmen sie auch wahr. Aber
ich warne davor, auf diese magische Zahl wie das Kaninchen auf die Schlange zu schauen. Wir müssen auch alternative Problemlösungen im Blick haben. Dazu gehören die Kooperation mit der Wirtschaft und zukünftig die
Kooperation mit Schwellenländern, die in diesem Bereich erst in ihre Rolle hineinwachsen müssen.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Wir haben eine gute
Roadmap für die nächsten vier Jahre. Wir stehen vor
großen Herausforderungen und haben viel Verantwortung. Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden.
Eigentlich liegt es nur an uns. Ich sage daher einfach:
Let’s do it.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich möchte Sie kurz darauf hinweisen, dass nach dem
letzten Debattenbeitrag die Wahlergebnisse von heute
Nachmittag bekannt gegeben werden.
Unser letzter Debattenbeitrag ist zugleich der erste
Debattenbeitrag der Kollegin Gabriela Heinrich von der
SPD-Fraktion. Bitte, Sie haben das Wort, Frau Heinrich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr
Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
heute schon darüber gesprochen, wie wichtig es ist, die
ländliche Entwicklung zu fördern. Der Herr Minister hat
mehrfach auf diesen Schwerpunkt bei der Bekämpfung
von Hunger und Armut hingewiesen. Ich denke, wir dürfen aber auch die Stadtentwicklung nicht aus den Augen
verlieren. Hunger und Armut auf dem Land, die Landflucht und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der
Städte - das alles gehört zusammen.
Heute lebt weltweit bereits jeder zweite Mensch in
der Stadt. Im Jahr 2050 werden es zwei Drittel sein.
Stadt bedeutet in vielen Entwicklungsländern jedoch
keineswegs eine vernünftige Infrastruktur oder gar bessere Lebensbedingungen, sondern schlichtweg Slums.
Gerade in Afrika südlich der Sahara kann man Urbanisierung häufig nur synonym für Slumbildung verwenden. Deshalb müssen die wachsenden Städte weiterhin
ein wichtiger Bereich unserer Entwicklungspolitik sein.
({0})
Ich als neues Mitglied des Bundestages will Sie nicht
belehren - Sie sind sehr viel besser mit dem Thema vertraut als ich -, aber ich glaube, es ist wichtig, sich noch
einmal kurz vor Augen zu führen, was es bedeutet, in einem Slum zu leben. Die Zahlen aus Slums wie Kibera
als Teil Nairobis oder Dharavi in Mumbai schwanken
und sind stets mit Vorsicht zu genießen. Man geht von
Hunderttausenden Menschen auf wenigen Quadratkilometern aus. In einer Hütte leben häufig bis zu zehn Menschen auf 10 Quadratmetern, ohne Fenster und ohne Toilette. Gerade für Frauen ist dieser Mangel an Toiletten
verheerend. Das ist eine schwere Beeinträchtigung ihrer
Würde, Gesundheit, Sicherheit und Privatsphäre.
({1})
Weit weniger als die Hälfte dieser Hütten hat Elektrizität, und die Stromleitungen werden oft unter abenteuerlichen Bedingungen angezapft. Sauberes Trinkwasser ist
rar, was dazu führt, dass Mütter damit leben müssen,
dass mindestens eines ihrer Kinder an Durchfallerkrankungen stirbt. Sauberes Wasser und Sanitärversorgung
sind Menschenrechte, und dafür müssen wir uns einsetzen. Ich bin froh, dass ich mit Ihnen im AwZ zusammenarbeiten darf, um hier Abhilfe zu schaffen.
({2})
Das Problem wächst. Allein in Afrika werden im Jahr
2050 rund 900 Millionen Menschen mehr in Städten
wohnen als heute. Die Metropolen in Entwicklungsländern wachsen nicht nur durch Landflucht, sondern zunehmend durch natürliches Bevölkerungswachstum. Im
Jahr 2020 wird es weltweit 27 Megastädte mit mehr als
10 Millionen Einwohnern geben. Von denen werden
23 in Entwicklungsländern liegen.
Es ist unsere Aufgabe, die Städte in Entwicklungsländern beim Wachstum zu begleiten und eine sinnvolle
Planung zu unterstützen, nicht nur für die Mega-, sondern auch für die Mittelstädte. Die Deutsche Stiftung
Weltbevölkerung weist völlig zu Recht darauf hin: Gezielte Investitionen in Infrastruktur, Gesundheitseinrichtungen und Schulen werden gebraucht. Es geht angesichts des Energiebedarfs von wachsenden Metropolen
- darauf wurde bereits hingewiesen - nicht zuletzt um
eine nachhaltige Energieversorgung.
Die Stadtentwicklung bietet eine große Chance zur
Senkung der Kindersterblichkeit, zur Verbesserung der
Müttergesundheit, zu Aufklärung und Familienplanung
und zur besseren Bekämpfung von HIV. Wir werden dafür werben, dass in den nächsten vier Jahren noch mehr
deutsche Kommunen mit Städten in Entwicklungs- und
Schwellenländern Partnerschaften eingehen, um zum
Beispiel beim Aufbau von Infrastruktur zu beraten. Idealerweise profitieren beide Städte bei einer kommunalen
Partnerschaft vom gegenseitigen Austausch.
Nicht nur bei der Stadtentwicklung, sondern für unsere Entwicklungspolitik insgesamt gilt: Wir müssen die
Rechte von Frauen im Blick haben und Menschen mit
Behinderung einbeziehen. Das haben wir so auch im Koalitionsvertrag festschreiben können. Beides muss aus
Sicht der SPD-Bundestagsfraktion selbstverständlicher
Bestandteil eines Zielkatalogs für die künftigen globalen
Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele werden.
({3})
Gestatten Sie mir abschließend noch ein paar Worte
zu den Akteuren der Entwicklungspolitik. In den nächsten vier Jahren möchten wir die NGOs, Gewerkschaften,
Kirchen und Stiftungen wieder stärker in die politische
Entscheidungsfindung einbinden und Partizipation ermöglichen. Wir werden einen Dialog auf Augenhöhe mit
den zivilgesellschaftlichen Akteuren führen und uns mit
diesen abstimmen; auch der Herr Minister hat darauf bereits hingewiesen. Denn Entwicklungspolitik kann nur
ihre volle Stärke entfalten, wenn alle an einem Strang
ziehen und ihre Kräfte bündeln. Dafür werden wir uns
einsetzen, und wir laden alle ein, mitzumachen. Ich bin
sehr gerne dabei.
Vielen Dank.
({4})
Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin Heinrich, zu
Ihrer ersten Rede hier und heute in dieser wichtigen Debatte.
({0})
Ich komme nun zur Verlesung der Ergebnisse der
Wahlen, die wir heute Nachmittag vorgenommen ha-
ben.1)
Bei der ersten Wahl ging es um die Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der
Bundeshaushaltsordnung. Die Mitgliederzahl des Deutschen Bundestages beträgt 631. Abgegebene Stimmkarten 600, ungültige Stimmkarten keine. Zur Wahl sind
mindestens 316 Stimmen erforderlich. Gewählt wurden
die Kollegen Norbert Barthle, Dr. Reinhard Brandl,
Bartholomäus Kalb, Rüdiger Kruse, Bettina Hagedorn,
Johannes Kahrs, Carsten Schneider, Dr. Dietmar Bartsch
und Anja Hajduk. Damit sind diese 9 Abgeordneten
- das waren auch die 9 Kandidaten für das Amt - mit der
mindestens erforderlichen Mehrheit gewählt. Die Einzelheiten entnehmen Sie bitte dem gedruckten Protokoll
der 11. Sitzung.
Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses für die vom
Deutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes
über das Bundesverfassungsgericht: abgegebene Stimmen 598, gültige Stimmen 590, ungültige Stimmen 8.
Von den gültigen Stimmen entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU 294 Stimmen, auf
die Wahlvorschläge der Fraktion der SPD 179 Stimmen,
auf die Wahlvorschläge der Fraktion Die Linke 59 Stimmen, auf die Wahlvorschläge der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen 58 Stimmen. Nach dem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt entfallen deshalb auf den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU 6 Mitglieder, der
Fraktion der SPD 4 Mitglieder, der Fraktion Die Linke
1 Mitglied und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auch 1 Mitglied. Die Namen der gewählten Mitglieder
entnehmen Sie bitte den Drucksachen 18/362 bis 18/365
({1}).
Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses gemäß
§ 5 des Richterwahlgesetzes: abgegebene Stimmen 595,
Enthaltungen 2, ungültige Stimmen 3. Von den gültigen
Stimmen entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktion
der CDU/CSU 292 Stimmen, der Fraktion der SPD
1) siehe Anlagen 11. Sitzung
Vizepräsident Peter Hintze
181 Stimmen, der Fraktion Die Linke 58 Stimmen, der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 59 Stimmen. Nach
dem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt entfallen auf
den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU 9 Mitglieder, der Fraktion der SPD 5 Mitglieder, der Fraktion
Die Linke 1 Mitglied, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 1 Mitglied. Die Namen der gewählten Mitglieder
und Stellvertreter entnehmen Sie bitte den Drucksachen
18/366 bis 18/369.
Gerade kommt das Ergebnis der Wahl der Mitglieder
des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes, also des Bundesfinanzierungsgremiums. Auch hier
waren zur Wahl mindestens 316 Stimmen erforderlich.
Abgegebene Stimmkarten 597, ungültige Stimmkarten
keine. Alle Kandidaten haben die erforderliche Mehrheit
erreicht. Gewählt wurden die Abgeordneten Norbert
Brackmann, Cajus Caesar, Klaus-Dieter Gröhler, Christian
Hirte, Bartholomäus Kalb, Ulrike Gottschalck, Thomas
Jurk, Johannes Kahrs, Dr. Gesine Lötzsch und SvenChristian Kindler. Die Einzelheiten können Sie auch hier
dem Protokoll der 11. Sitzung entnehmen.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 30. Januar 2014,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.