Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/24/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Vor Eintritt in unsere Tagesordnung gebe ich Ihnen Folgendes bekannt: Die Fraktion Die Linke hat mitgeteilt, dass im Beirat der Bundesnetzagentur die Kollegin Johanna Voß zukünftig von der Kollegin Eva Bulling-Schröter und die Kollegin Dorothee Menzner vom Kollegen Ralph Lenkert vertreten wird. Sind Sie damit einverstanden? - Es sieht ganz danach aus. Dann können wir so verfahren. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten - Drucksache 17/5168 ({0}) ZP 2 Beratung des Antrags der Bundesregierung Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 ({2}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 ({3}) vom 13. Oktober 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksache 17/5190 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ({5}) ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Konkrete Anforderungen insbesondere des Bundesumweltministeriums für die Sicherheitsüberprüfung deutscher Atomkraftwerke ({6}) ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine beschleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken - Drucksache 17/5179 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Abschalten der acht unsichersten Atomkraftwerke - Drucksache 17/5180 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Energiewende jetzt - Drucksache 17/5182 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnolo- gien - Drucksache 17/5183 - Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 8 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ Finanzierung langfristig sichern - Drucksache 17/5185 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Schutz vor militärischem Fluglärm - Drucksache 17/5206 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({11}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen - Drucksache 17/5204 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12}) Auswärtiger Ausschuss ({13}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14}) ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({15}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Libyen-Krieg sofort beenden - Drucksache 17/5173 ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenter Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21 - Drucksachen 17/5041, 17/5236 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann ZP 12 - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({17}) zu dem Antrag der Bundesregierung Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({18}) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 ({19}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 ({20}) vom 13. Oktober 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksachen 17/5190, 17/5251 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({21}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({22}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5252 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Michael Leutert Sven-Christian Kindler ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen schaffen - Drucksachen 17/4851, 17/5198 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Stier Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Süßmair Undine Kurth ({24}) Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 15, 20, 23, 26 und 33 g werden abgesetzt. Der bisher bei Tagesordnungspunkt 24 zur Beratung vorgesehene Antrag soll ohne Debatte überwiesen werden. Ich möchte Sie noch auf folgende geplante Änderungen des Ablaufs aufmerksam machen: Der Tagesordnungspunkt 28 wird schon heute im Anschluss an die Präsident Dr. Norbert Lammert Beratungen ohne Aussprache aufgerufen. Ebenso soll der Tagesordnungspunkt 30 auf den heutigen Nachmittag vorgezogen und nach dem Tagesordnungspunkt 6 behandelt werden. Dadurch rücken der Tagesordnungspunkt 7 und die übrigen Punkte der Koalitionsfraktionen jeweils einen Platz nach hinten. Die Tagesordnungspunkte 8 und 32 werden getauscht. Der Tagesordnungspunkt 5 verschiebt sich auf morgen und wird nach dem Tagesordnungspunkt 29 beraten. - Das haben Sie alle jetzt sicher sofort neu sortiert. Falls Zweifel oder Unsicherheiten zurückbleiben sollten, stehen Ihnen sowohl die Parlamentarischen Geschäftsführer wie auch das Präsidium für Auskünfte gern zur Verfügung. Ich mache schließlich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzliste aufmerksam: Der am 25. Februar 2011 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Kultur und Medien ({25}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Beate MüllerGemmeke, Volker Beck ({26}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes personenbezogener Daten der Beschäftigten in der Privatwirtschaft und bei öffentlichen Stellen - Drucksache 17/4853 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({27}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Kultur und Medien Darf ich für alle diese vorgesehenen Änderungen Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 24./25. März 2011 in Brüssel Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({28})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir im Rahmen dieser Debatte über das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion beraten, das der heute beginnende Europäische Rat beschließen wird, möchte ich zunächst unseren Blick noch einmal auf die dramatischen Ereignisse in Japan und die Umbrüche im arabischen Raum lenken. Seit einigen Wochen erleben wir in zahlreichen Staaten der arabischen Welt tiefgreifende Umwälzungen. Sie gründen in der Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, nach politischer Selbstbestimmung. Sie werden das Gesicht dieser Region verändern. Damit werden sie auch das Gesicht der Welt verändern. Die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder vor der Universität in Sanaa demonstrieren, fordern Freiheit, sie fordern Demokratie, sie fordern soziale Gerechtigkeit, und sie fordern bessere Lebensbedingungen. Sie wenden sich gegen Willkürherrschaft, Unterdrückung und Korruption. Sie nehmen den Übergang zu einer neuen Ordnung in ihre eigenen Hände. Dafür gebührt ihnen unser aller Respekt. ({0}) Diese Umwälzungen sind eine historische Chance für die Menschen in der arabischen Welt, aber genauso auch für uns als Nachbarn dieser Region. Deshalb hat sich der Europäische Rat am Freitag vor 14 Tagen mit diesem Thema beschäftigt. Die Kommission hat Vorschläge für eine neue Partnerschaft mit dieser Region vorgelegt. Allerdings spüren wir gleichzeitig, wie fragil die Entwicklungen sind und wie ungewiss ihr Ausgang ist. Wir sehen das in Bahrain, in Jemen, in Syrien, in Algerien, und wir sehen das natürlich noch viel gravierender in Libyen. Dort hat Gaddafi seinem eigenen Volk den Krieg erklärt. Die in der vergangenen Woche im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 1973 dient deshalb dem Ziel, diesem Krieg Gaddafis gegen sein eigenes Volk Einhalt zu gebieten. Die Bundesregierung hat sich, wie Sie wissen, bei der Abstimmung über diese Resolution enthalten. Sie hat sich enthalten, weil sie Bedenken hinsichtlich der militärischen Umsetzung der Resolution hat. Deutschland entsendet deshalb auch keine Soldaten der Bundeswehr. Aber auch wenn das so ist, so gilt gleichzeitig: Die Bundesregierung unterstützt die Ziele, die mit dieser Resolution verabschiedet wurden, uneingeschränkt. Sie hat sich für diese Ziele von Anfang an eingesetzt. Deshalb hoffen wir auf einen schnellen und vor allem nachhaltigen Erfolg, um diese Ziele zu erreichen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir treten vor allen Dingen für stärkere wirtschaftliche Sanktionen ein. Ich spreche über dieses Thema, weil ich mich auf dem Rat in Abstimmung mit allen Ministern - insbesondere natürlich mit dem Außenministerium - noch einmal für ein umfassendes Ölembargo und weitreichende Handelseinschränkungen gegenüber Libyen einsetzen werde. Ich hoffe, dass wir an diesem Punkt in der Europäischen Union endlich auch eine gemeinschaftliche Haltung er11252 reichen. Dies sollte möglich sein. Kein Ölexport mehr aus Libyen in ein europäisches Land, meine Damen und Herren. ({2}) Darüber hinaus ist es uns wichtig, humanitäre Hilfe für Flüchtlinge aus Libyen zu leisten. Dazu gehört auch, dass wir den Mitgliedstaaten, die außergewöhnlich stark durch Migrationsströme belastet werden, solidarisch zur Seite stehen. Wir kennen die Entwicklung der Zukunft noch nicht. Ich will aber ganz deutlich sagen: Bürgerkriegsflüchtlinge, wie wir sie eventuell aus Libyen zu erwarten haben, sind Flüchtlinge, die unserer Solidarität bedürfen. Flüchtlinge zum Beispiel aus Tunesien, wo die Freiheit sich schon Bahn gebrochen hat, sind etwas anderes. Ich glaube, wir müssen hier deutlich unterscheiden. ({3}) Meine Damen und Herren, auch weil Deutschland sich militärisch nicht an der Umsetzung der Resolution 1973 beteiligt, werden wir unsere NATO-Verbündeten beim Einsatz von AWACS-Flugzeugen über Afghanistan entlasten. Da ich an der morgigen zweiten und dritten Lesung zum AWACS-Mandat wegen des zeitgleich stattfindenden EU-Rates nicht teilnehmen kann, erlaube ich mir, die Gelegenheit dieser Regierungserklärung zu nutzen, meine Haltung zu diesem Mandat vor diesem Haus deutlich zu machen; denn darauf haben Sie einen Anspruch. Wir werden über den Beschluss der Bundesregierung debattieren und abstimmen, bis zu 300 deutsche Soldaten für NATO-AWACS-Flüge zur Überwachung des afghanischen Luftraums einzusetzen. Der Einsatz ist zeitlich befristet bis zum 31. Januar 2012. Die NATOAWACS-Flugzeuge leisten einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit ziviler und militärischer Flugbewegungen im afghanischen Luftraum. Das AWACS-Mandat dient dem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan sowie dem Schutz der afghanischen Bevölkerung. Es folgt dem Gebot der Bündnissolidarität. Ich darf deshalb bereits heute um Ihre Zustimmung bitten. ({4}) Meine Damen und Herren, mindestens genauso sehr bewegen uns die dramatischen Ereignisse in Japan. Sie sind ein Einschnitt für die ganze Welt, ohne jeden Zweifel. Auch in Deutschland und in Europa konnten wir nach den Ereignissen in Japan nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Über die dazu notwendigen bisherigen Entscheidungen der Bundesregierung haben wir am vergangenen Donnerstag nach meiner Regierungserklärung debattiert. Das ist heute nicht zu wiederholen. Ich weise aber darauf hin, dass die Sicherheit der Kernenergie auch Thema beim Rat der Staats- und Regierungschefs sein wird. Deutschland hat dieses Thema angemeldet; denn die Sicherheit der Kernkraftwerke innerhalb der Europäischen Union geht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union gleichermaßen an. Deshalb gehört dies auf die Agenda unserer Beratungen. Ich werde die von Kommissar Oettinger vorgeschlagene Durchführung von freiwilligen Sicherheitsüberprüfungen, sogenannte Stresstests, für alle europäischen Kernkraftwerke unterstützen. Ich werde darüber hinaus intensiv dafür werben, dass auch unsere Nachbarländer außerhalb der Europäischen Union solche Stresstests durchführen. Frankreich und Deutschland werden zudem gemeinsam eine Initiative der G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerken einbringen. Die zuständigen Minister werden dazu in Kürze zu einer Konferenz zusammenkommen. Das eigentlich zentrale Thema des morgigen Rates werden aber die Beratung und Verabschiedung eines Gesamtpakets zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion sein. Für mich ist dabei ganz wichtig: Der Euro und die Wirtschafts- und Währungsunion sind Kernbereiche der europäischen Einigung. Sie sind unverzichtbar aus wirtschaftlichen wie aus politischen Gründen. Deutschland profitiert vom Euro. Deutschland profitiert vom Euro wie kaum ein anderes Land in der Europäischen Union. Wir profitieren von der Preisstabilität. Wir profitieren davon, dass wir beim Reisen keine lästigen Umtauschgebühren mehr bezahlen müssen. Unsere Wirtschaftsunternehmen, die vielfach stark exportorientiert sind, profitieren von anderen Euro-Ländern, die wichtige Absatzmärkte für deutsche Waren sind. Die nominalen Warenexporte Deutschlands in die EuroZone haben sich zwischen 1999 und 2009 um 48 Prozent erhöht. Durch entfallende Umtauschkosten werden in der Euro-Zone rund 20 bis 25 Milliarden Euro jährlich eingespart. Dieses Geld kann an anderer Stelle investiert werden. Kurz gesagt: Der Euro sorgt für Arbeitsplätze, er sorgt für Wirtschaftswachstum, er sorgt für Steuereinnahmen in Deutschland. Er ist eine stets stabile Währung im Innen- wie im Außenwert, und zwar - das haben wir erlebt - auch in Krisenzeiten. Wir haben eine stabile Gemeinschaftswährung, weil wir eine unabhängige Europäische Zentralbank haben, die strikt dem Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet ist. So steht es in den Verträgen. ({5}) Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel härter uns die internationale Finanz- und Bankenkrise 2008 getroffen hätte, wenn wir nicht die gemeinsame Währung gehabt hätten. ({6}) Meine Damen und Herren, der Euro hat nicht nur einen wirtschaftlichen Wert. Er ist weit mehr als eine verlässliche Währung. Er ist ökonomischer und politischer Ausdruck unserer engen Verflechtung und Verbundenheit in der Europäischen Union. Wir Mitglieder der Wirtschaftsund Währungsunion bilden eine Verantwortungsgemeinschaft. Jeder Einzelne von uns ist zu Eigenverantwortung und Solidarität verpflichtet. An diesen Grundsätzen habe ich, hat die ganze Bundesregierung im letzten Jahr ihr Handeln ausgerichtet, als es um die Krisenbewältigung auch innerhalb von Europa ging. An diesen Grundsätzen orientiere ich mich jetzt und orientiert sich auch das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion, das der Europäische Rat verabschieden wird. Mit diesem Gesamtpaket ziehen wir die Lehren aus der Schuldenkrise. Es ist ganz wichtig, noch einmal Folgendes festzuhalten: Erstens. Alles, was wir jetzt tun, ist Umgang mit den Fehlern, die in der Vergangenheit aufgetreten sind - von der Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts unter Rot-Grün bis hin zu Ergebnissen innerhalb der Banken- und Schuldenkrise. Es ist noch nicht die Umsetzung der Lehren, die wir aus der Krise gezogen haben. Zweitens. Wir bauen uns damit ein Rahmenwerk dafür, dass die in der Vergangenheit aufgetretenen Fehler nicht wieder passieren können. ({7}) Ich verstehe natürlich, dass viele fragen - diese Diskussionen führen wir auch hier im Parlament -: Was ist eure Sicherheit, dass die Fehler, die in der Vergangenheit aufgetreten sind und für die man angeblich auch das richtige Rahmenwerk hatte, in der Zukunft nicht wieder passieren? Deshalb kann ich nur an uns alle appellieren: Das eine ist das, was wir jetzt beschließen. Das andere ist die Bereitschaft, es dann auch wirklich einzuhalten und nicht hier und dort irgendwelche politischen Begründungen dafür zu finden, dass es jetzt gerade die Umstände nicht erlauben. Das muss eine gemeinschaftliche Verpflichtung dieses Hohen Hauses sein, meine Damen und Herren. ({8}) Seit Beginn der Schuldenkrise im Euro-Raum haben wir immer wieder gefordert, dass neben allem notwendigen Krisenmanagement auch über den Tag hinaus gedacht werden muss. Vor allem müssen wir eine neue Stabilitätskultur und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum unserer Bemühungen stellen; denn nur eine höhere Wettbewerbsfähigkeit kann auf Dauer für das Wachstum sorgen, das notwendig ist, um eine Perspektive zum Abbau der Schulden zu schaffen. Das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion verfolgt deshalb drei Ziele: erstens mehr Stabilität und Solidität, zweitens die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und drittens ein ausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität. Damit werden wir - davon bin ich überzeugt - die wirtschaftliche und politische Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion stärken und erhöhen sowie nachhaltig gestalten. Zum ersten Ziel: Wir sorgen für mehr Stabilität und Solidität. Dafür werden strengere Vorgaben eingeführt und deren Einhaltung strikt überwacht. Das bezeichnen wir als die Überarbeitung und Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Wir verschärfen ihn in der Tat. Künftig riskieren Euro-Mitgliedstaaten auch dann schon Sanktionen, wenn sie nicht die notwendigen Schritte in Richtung eines ausgeglichenen Haushalts unternehmen. Damit soll frühzeitig einem übermäßigen Defizit entgegengesteuert werden. Wir haben erreicht, dass Haushaltssünder bei Verletzung der Maastricht-Defizitgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts künftig früher und schneller bestraft werden. Das ist die Stärkung des präventiven Arms des Stabilitätspakts. Außerdem wird ein neues Erfüllungskriterium in Zukunft viel stärker berücksichtigt. Bis jetzt war schon klar, dass es keine Verschuldung von mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geben darf. Dieses Kriterium ist aber nie Gegenstand von Sanktionen gewesen. Künftig müssen diejenigen mit Sanktionen rechnen, die diesen Schuldenstand überschreiten. Davon ist im Übrigen auch Deutschland betroffen; denn unsere Gesamtverschuldung liegt über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Abbau der Schulden muss nach den neuen Regeln um ein Zwanzigstel, also 5 Prozent, des Bruttoinlandsprodukts erfolgen. Dieser Aufgabe müssen auch wir in der Bundesrepublik Deutschland uns stellen. Dass wir diese Regelungen so streng gefasst haben und dass kein einzelner Mitgliedstaat mehr dagegen opponiert, ist ein großer Fortschritt; denn von exorbitanten Schuldenständen einiger Mitgliedstaaten gehen große Gefahren aus, und zwar nicht nur für das Land, sondern, wie wir erlebt haben, für die Stabilität des Euros insgesamt. Des Weiteren - auch das ist neu - arbeiten wir an einem neuen Überwachungsverfahren, mit dem wir die Entstehung schwerwiegender wirtschaftlicher Ungleichgewichte in Europa künftig vermeiden und notfalls gegensteuern können. Die Fragen in diesem Bereich werden sehr stark diskutiert, weil Ungleichgewichte natürlich auf verschiedenen Ursachen beruhen können. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben gegenüber vielen europäischen Ländern Exportüberschüsse. Wenn dies auf erhöhter Wettbewerbsfähigkeit beruht, darf dies natürlich nicht zum Gegenstand von Klagen werden - damit es da zu keiner Fehleinschätzung kommt -, sondern muss begrüßt werden. ({9}) Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Länder, die sehr große Importüberschüsse haben; wir sprechen hier vom asymmetrischen Ansatz. Hier muss aufgepasst werden, ob sich nicht etwas andeutet, was langfristig oder mittelfristig zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts führt. Das heißt: Wir minimieren weitere Risiken, die die Finanzstabilität Europas als Ganzes gefährden könnten. Auch hier gilt: Künftig sind Sanktionen möglich, wenn ein Mitgliedstaat die Empfehlungen missachtet. Wir haben klargestellt, dass Handlungsbedarf vor allem bei den Ländern mit Wettbewerbsschwächen besteht; denn Konvergenz in der Europäischen Union, insbesondere in der Euro-Zone, darf natürlich nicht Annäherung an die Schwächeren sein, sondern muss immer an den Stärkeren unter uns ausgerichtet sein, damit Europa als Ganzes wettbewerbsfähig bleibt. ({10}) Schließlich werden die ordentliche Haushaltsführung durch mehr Solidität und Verlässlichkeit der Statistiken in Zukunft verpflichtend vorgeschrieben, damit die Ergebnisse, die wir haben, wirklich vergleichbar sind. Auch das ist ein wichtiger Faktor. Wenn wir einmal an die griechischen Zahlen, die Eurostat gemeldet wurden, und an die Berichtigung der Zahlen zu den Defiziten denken, so wissen wir, wovon wir sprechen. Es ist ein großer Erfolg, dass jetzt alle Mitgliedstaaten zu größeren Anstrengungen bereit sind. Die Richtlinien sind von der Kommission vorgelegt; sie werden im Europäischen Parlament und im Rat beraten und werden natürlich auch hier im Deutschen Bundestag Gegenstand von Beratungen sein. Zweitens. Wir stärken die Wettbewerbsfähigkeit. Dafür verpflichten wir uns zu Strukturreformen und zur engeren Koordinierung unserer Wirtschaftspolitiken. Für die dauerhafte Stabilisierung des Euros sind die Reformanstrengungen in den einzelnen Euro-Mitgliedstaaten von entscheidender Bedeutung. Alle Euro-Staaten - ich beziehe Deutschland ausdrücklich mit ein - müssen mehr tun, um wettbewerbsfähiger zu werden. Ich möchte an dieser Stelle dem Ratspräsidenten Herman Van Rompuy ausdrücklich danken, dass er gemeinsam mit dem Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso die Verhandlungen über den Pakt für den Euro geführt hat. Es ist gelungen, auch etliche Nicht-Euro-Staaten für unseren Pakt zu gewinnen. Polen und Dänemark haben ihre Unterstützung bereits öffentlich bekannt gegeben; ich halte das für ein gutes Zeichen. Mir war die Öffnung dieses Paktes für alle besonders wichtig; denn das Ziel muss sein, dass möglichst viele Länder der Europäischen Union der gemeinsamen Währung, dem Euro, beitreten. Je mehr Mitgliedstaaten sich dem Pakt anschließen, umso größer sind natürlich die gemeinschaftlichen Impulse für den Binnenmarkt. Bei diesem Pakt geht es ausschließlich um nationale Zuständigkeiten. Deshalb werden die Verpflichtungen im Rahmen dieses Paktes natürlich ausführlich hier im Deutschen Bundestag debattiert. Das Europäische Parlament wird informiert; das ist klar; denn es ist eine Institution der Europäischen Union. Wir arbeiten und koordinieren uns aber in einem Bereich, der nationale Zuständigkeiten umfasst. Das heißt also, der Pakt setzt auf die direkte Verantwortlichkeit der Staats- und Regierungschefs, die sich in Zukunft persönlich zu Strukturreformen verpflichten und für die nationale Umsetzung sorgen müssen. Es versteht sich von selbst, dass dies der Unterstützung des jeweiligen Parlaments, in diesem Fall des Deutschen Bundestags und seiner Mehrheit, bedarf. Das heißt, das wird Gegenstand intensiver Diskussionen unter uns sein. Wir machen damit die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit zur Chefsache. Wir orientieren uns nicht an den Schwächsten, sondern an den Besten, und zwar nicht nur innerhalb Europas. Die ausdrückliche Verpflichtung ist vielmehr, sich auch an unseren strategischen Partnern, das heißt, an den Besten der Welt zu orientieren. Meine Damen und Herren, wir könnten natürlich Stabilität des Euros und Solidarität im Euro-Raum erreichen und gleichzeitig den Abstand zur Weltspitze immer größer werden lassen. Das ist nicht unser Ziel. Wohlstand für die Menschen, Arbeitsplätze für die Menschen in Deutschland werden nur erreichbar sein, wenn wir in Europa an der Spitze der Welt dabei sind; das ist die simple, aber unabdingbare Wahrheit. ({11}) Der Pakt nennt objektive Indikatoren. Die Kommission wird die Überwachung dieses Paktes vornehmen. Wir müssen eines sehen: Deutschland ist beileibe nicht überall und in allen Bereichen schon bei den Besten dabei. Auch wir müssen uns anstrengen. Deshalb haben wir ein Aktionsprogramm dem Parlament vorgelegt, das unter anderem die Ankündigung enthält, dass Deutschland schon früher die vorgegebenen Neuverschuldungsgrenzen erreichen wird. Zudem wird der Bund in diesem und im nächsten Jahr weniger neue Schulden machen, als es die Schuldenregel des Grundgesetzes vorsieht. Wir wollen die regulierten Bereiche der Wirtschaft, zum Beispiel im Busfernlinienverkehr, öffnen. ({12}) - Passen Sie auf. Schauen Sie: Die Wahrheit ist immer konkret. ({13}) - Ich hatte nicht die Absicht, gleich die gesamte deutsche Handwerksordnung abzuschaffen. Wenn Sie das wollen, kann das Herr Steinbrück gleich mitteilen. ({14}) Das wäre etwas weitergehend, aber wir halten das nicht für gegeben. Wir machen das, was wir sagen: Schritt für Schritt. ({15}) Dann schauen Sie sich einmal an, wie das aussieht. ({16}) - Herr Trittin, Sie wissen genau - eigentlich ist es bedauerlich -, wie Wettbewerbsverzerrungen zum Beispiel davon abhängen, ob ein Land seinen Eisenbahnverkehr für den internationalen Wettbewerb öffnet. ({17}) Wir können darüber sehr viel reden: Mal sind es die Eisenbahnen, mal sind es die Busse, dann ist es der gemeinsame europäische Flugraum. Genau um diese Dinge geht es bei der Frage, ob sich Europa seinen Wachstumsfragen widmet oder nicht. Aber, meine Damen und Herren, ich werde lieber auf weitere Beispiele verzichten, weil es große Teile dieses Hauses nicht interessiert. ({18}) Die Koalitionsfraktionen werden dann natürlich gern informiert. ({19}) - Sie können ganz unbeteiligt und erfreut, wie kleinteilig das im Konkreten wird, über diese Dinge hinwegsehen. ({20}) Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich kümmere mich lieber um die wachsende Wettbewerbsfähigkeit Europas, als dass ich dauernd Rettungsprogramme für andere Länder machen muss. Wir setzen darauf, dass Europa insgesamt besser wird. ({21}) Sie können sich dann ja um andere Dinge kümmern. Ich komme nun zum dritten Ziel. Wir sorgen für ein ausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität. Dafür schaffen wir neben der heute bestehenden Fazilität, der EFSF, einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus. Wir haben bereits früh im letzten Jahr gefordert, dass der Mechanismus einer verlässlichen rechtlichen Grundlage bedarf. Nachdem der Bundestag die notwendige Vertragsänderung unterstützt hat, kann ich morgen beim Europäischen Rat dem einstimmigen Beschluss zur vereinfachten Änderung von Art. 136 AEUV zustimmen. Anschließend muss dies natürlich national ratifiziert werden: bei uns mit Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates. Die neue Vertragsbestimmung stellt auf unser Drängen hin klar, dass der Mechanismus nur dann aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euros als Ganzes zu wahren. Es handelt sich also um eine sogenannte Ultima-Ratio-Klausel. Sie schafft die gerade für Deutschland unabdingbare Rechtssicherheit für den neuen Mechanismus und erfüllt damit den Geist der Verträge. Gegen große Widerstände hat Deutschland außerdem durchgesetzt, dass auch die folgenden wichtigen Kriterien bei der Konstruktion des dauerhaften europäischen Stabilitätsmechanismus eingehalten werden: Erstens. Kredite des Mechanismus können nur als letztes Mittel vergeben werden, nachdem die Kommission und der IWF in Verbindung mit der EZB die Schuldentragfähigkeit des Antragstellers untersucht haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Es darf sich nur um Liquiditätsprobleme handeln. Zweitens. Die Vergabe wird durch einstimmigen Beschluss entschieden. Das heißt, jeder Mitgliedstaat hat sein Stimmrecht in jedem einzelnen Fall. Voraussetzung ist immer, dass sich das entsprechende Euro-Mitglied zu harten Eigenanstrengungen im Rahmen der Programmauflagen verpflichtet. ({22}) Meine Damen und Herren, wenn ich in den Februar des vergangenen Jahres zurückblicke - damals haben wir uns viel über die Frage gestritten, wann Griechenland Unterstützung bekommen kann -, sage ich: Wir haben die Prinzipien jetzt richtig vereinbart. Für uns war von Anfang an klar - das hat sich bewährt und ist im Zuge der Beratungen jetzt die gemeinsame Meinung aller -: Solidarität gibt es nur bei entsprechender Eigenanstrengung des einzelnen Landes, weil die Euro-Zone nur dann harmonisch zusammenhalten kann, wenn sich alle Länder auf ein gemeinsames Niveau verständigen. Dazu bedarf es vieler Reformen in den einzelnen Ländern. Das war nicht unumstritten, genauso wenig wie die Frage, ob der IWF daran beteiligt wird, und vieles andere mehr. Heute nimmt das jeder als gegeben hin. Ich sage Ihnen: Es war richtig, dafür gekämpft zu haben, weil diese Prinzipien innerhalb der Euro-Zone allgemein gelten müssen. ({23}) Der Europäische Stabilitätsmechanismus wird mit einer effektiven Darlehenskapazität von 500 Milliarden Euro ausgestattet. Sie wissen, dass wir diese Ausstattung im Rahmen eines AAA-Ratings wollen. Der Europäische Stabilitätsmechanismus bildet damit ein tragfähiges Rettungsnetz für den äußersten Notfall. Er setzt sich zusammen aus Kapital und Garantien. Die Summe des Kapitals wird 80 Milliarden Euro betragen. In den Beratungen werde ich noch einmal darauf drängen, dass der Aufbau dieses Kapitalstocks über fünf Jahre verteilt wird, also in mehreren Zeitschritten abläuft, beginnend ab 2013. ({24}) - Nun brauchen Sie nicht gleich wieder dazwischenzuschreien. Wir halten das so für richtig. Ich bedanke mich bei den Finanzministern dafür, dass sie das, was im Zusammenhang mit diesem Mechanismus zu klären war, weitestgehend geklärt haben, sodass wir im Europäischen Rat nur noch ganz wenige Fragen zu besprechen haben. Das ist sehr gut. ({25}) Die Haftung Deutschlands ist nach oben begrenzt. Die Finanzierung des Mechanismus wird von den teilnehmenden Mitgliedstaaten anteilig gewährleistet, wobei es im Grundsatz bei dem schon bisher verwendeten EZB-Kapitalanteilschlüssel bleibt. Er wird lediglich temporär geringfügig angepasst, um eine überproportionale Belastung einiger Mitgliedstaaten zu verhindern. Ich sage ganz klar: Mit der christlich-liberalen Koalition wird es keine Vergemeinschaftung von Schulden geben. Die wird es nicht geben. ({26}) Aus genau diesem Grund lehnen wir auch die Einführung von Euro-Bonds ab. Denn dies wäre die Vergemeinschaftung von Schulden und der Einstieg in eine gesamtschuldnerische Haftung. ({27}) Wer solche Forderungen stellt, handelt nicht im Interesse der deutschen Steuerzahler. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Es geht aber nicht nur um die deutschen Steuerzahler. Ich bin dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, sehr dankbar, der am Montag in Brüssel noch einmal bekräftigt hat, dass mit Euro-Bonds die Anreize für eine solide Haushaltspolitik leiden. Genau das darf nicht passieren. Das heißt, dass es nicht nur im Interesse des deutschen Steuerzahlers - was schon wichtig ist -, sondern auch im Interesse Europas ist, dass wir dies nicht machen. ({28}) Es wird also weder regelmäßige noch dauerhafte Transferleistungen geben. Zur dauerhaften Bewältigung der Herausforderung ist vielmehr ein konsequenter Konsolidierungs- und Reformweg unerlässlich. Dafür setzen wir uns ein. Wie schwierig das ist, haben wir am gestrigen Tag erlebt. Die portugiesische Regierung hatte uns auf dem Treffen der Euro-Gruppe ein umfassendes Reformprogramm für die Jahre 2011, 2012 und 2013 vorgelegt. Dieses Programm hat die Zustimmung der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank gefunden. Wir haben dem portugiesischen Premierminister Sócrates dafür - das will ich auch heute noch einmal tun- bei dem Treffen der Euro-Gruppe unsere Hochachtung ausgesprochen. ({29}) - Das ist schon geschehen. Da brauchen Sie sich gar nicht so aufzuregen. Das ist alles schon passiert. Ich hoffe sowieso, dass wir nicht in so eine Lage kommen. ({30}) - Mein Gott, wie kleinkariert sind Sie? Also wirklich, Mannomann! ({31}) Hier geht es um die Frage, ob die Finanzstabilität des Euro als Ganzes erhalten werden kann, und darum, dass ein Premierminister - dabei ist es mir egal, ob er zu einer sozialdemokratischen, einer christdemokratischen oder sonst einer Partei gehört - Verantwortung gezeigt hat. Dafür war ich dankbar. Es ist bedauerlich, dass es nicht gelungen ist, dafür eine parlamentarische Mehrheit zu bekommen. ({32}) Beklagen Sie sich bitte nicht darüber, dass wir uns dann hier noch einmal mit den Folgen dieser Sache auseinandersetzen müssen. Ich sage nur, dass es ein richtiger und mutiger Schritt war und dass es auch zeigt, wie viel politischen Mutes es bedarf, wenn die Dinge in der Vergangenheit nicht richtig gelaufen sind. Wir machen uns - um zum permanenten Stabilitätsmechanismus zurückzukommen - stark - das wird Teil des Mechanismus sein - für die Beteiligung privater Gläubiger. Dies ist ein immer wieder diskutierter Faktor. Ich glaube, es ist absolut richtig, zu sagen: Ab 2013 muss im Falle der nicht gegebenen Solvenz eines Staates die Beteiligung privater Gläubiger verpflichtend sein. Das haben wir gegen viele Widerstände durchgesetzt. ({33}) Ich sage ausdrücklich: Das, was von einer Seite dieses Hauses immer als Isolierung oder Alleinstehen Deutschlands betrachtet wurde, ist notwendig gewesen, damit wir zu einer vernünftigen Ordnung kommen; denn Sie sehen an den Märkten ganz deutlich, dass die Beteiligung privater Gläubiger eine notwendige Voraussetzung ist, um manche Probleme zu bewältigen. Auf jeden Fall haben wir in der Zukunft dieses Instrumentarium zur Verfügung. Das wird ein immanenter Bestandteil dieses neuen Mechanismus sein. Für mich gilt weiterhin der Grundsatz, den ich auch am 15. Dezember in diesem Haus genannt habe: Niemand in Europa wird allein gelassen. Niemand wird fallen gelassen; denn Europa gelingt nur gemeinsam. ({34}) Aber dies bedarf natürlich gemeinsamer Anstrengungen, also eines vernünftigen Verhältnisses von Eigenanstrengung und Solidarität. ({35}) Ich kann Ihnen sagen - so weit sind wir in den Gesprächen mit Irland noch nicht -, dass zum Beispiel Griechenland beim Treffen der Chefs der Euro-Zone am 11. März überzeugend die Fortsetzung der Strukturreformen dargelegt sowie ein 50 Milliarden Euro umfassendes Privatisierungsprogramm angekündigt hat. Dass die übrigen Euro-Mitgliedstaaten bereit sind, solidarisch zu handeln, haben wir mit unserem Beschluss zum derzeitigen provisorischen Euro-Rettungsschirm am 11. März 2011 deutlich gemacht. Im Falle Griechenlands sind wir zu einer bestimmten Zinssenkung bereit. Wir werden auch sicherstellen, dass das im Mai 2010 beschlossene Volumen des Euro-Rettungsschirms von 440 Milliarden Euro im Notfall effektiv zur Verfügung gestellt werden kann. Dies wird allgemein erwartet. Auch hier zeigen wir konkrete Solidarität und Verantwortung. Ich bin überzeugt: Mit dieser Gesamtstrategie zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion wird das Jahr 2011 für den Euro und für die Europäische Union zum Jahr des Vertrauens. ({36}) - Sie möchten also nicht, dass dieses Jahr zum Jahr des Vertrauens wird. Es ist interessant, dies festzuhalten. Wir wollen das. Ich glaube, das ist sehr wichtig und richtig. ({37}) Ich würde an Ihrer Stelle, auch wenn es schwerfällt, in diesen europäischen Angelegenheiten einmal die Kraft aufbringen, ein kleines bisschen über den Tellerrand zu gucken. Dies würde Europa wirklich guttun. ({38}) Sie erheben sich hier über die portugiesische Opposition und sind nicht einmal bei Sachen, bei denen Sie gar nichts zu entscheiden haben, bereit, eine ernsthafte Debatte zu führen. Das ist schon beachtlich, muss ich sagen. ({39}) Es geht um die dauerhafte Stabilität des Euro. Wir machen den Euro und Europa zukunftsfähig. Wir bringen Eigenverantwortung und Solidarität in ein ausgewogenes Verhältnis. Wir füllen somit - das ist das Eigentliche, das jetzt passiert - eine Lücke in der Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion, die in ihrem ganzen Ausmaß erst im letzten Jahr offenbar geworden ist. Damit stärken wir die politische und die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion; denn nur ein stabiles und wettbewerbsstarkes Europa hat Gewicht in der Welt. Die Stärkung der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung ist eine zentrale Aufgabe unserer Zeit. Die Bundesregierung setzt alles daran, diese zentrale Aufgabe so zu lösen, dass die Europäische Union insgesamt und damit alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union eine gute Zukunft haben. Für diesen Weg bitte ich den Deutschen Bundestag um Unterstützung, weil er aus meiner Sicht ein notwendiger Weg ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({40})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion. ({0})

Peer Steinbrück (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie müssen nicht ganz so angefressen reagieren, wenn es zu einem gewissen Rumoren - und nicht nur zu einem Stillhalten - auf einigen Oppositionsbänken kommt, wenn Sie Einlassungen wie „Jahr des Vertrauens“ von sich geben. Ein Teil dieses Parlaments empfindet das als eine Wortblase und darf dies auch zum Ausdruck bringen. ({0}) Das betrifft auch die Begrifflichkeit „Herbst der Entscheidungen“. Nicht alle Parlamentarier müssen stillhalten, wenn Sie solche Begriffe in Ihre Rede einspannen. Die Europäische Union, um nicht zu sagen: ganz Europa, befindet sich unbenommen der dramatischen und erschütternden Ereignisse um uns herum an einem Scheideweg. Ob Deutschland in und mit Europa am Ende dieses Jahrzehnts noch eine führende Wohlstandsregion in der Welt ist, ob Europa und Deutschland noch zu den führenden, einflussreichen, sich dynamisch entwickelnden Regionen gehören und ob Europa seine Zivilisation behalten bzw. behaupten kann, gegebenenfalls sogar zum Vorbild für die Bürger aufstrebender Länder machen kann, all das entscheidet sich maßgeblich bei der Bewältigung der Krise, die uns seit Mitte 2007 in der Klammer hält und inzwischen ganze Nationalstaaten in den Schraubstock genommen hat. Schreitet die europäische Einigung voran, oder zerfällt sie mit der Folge einer Renationalisierung, und zwar nicht nur einer Renationalisierung von Währungen? Auf dieser Flughöhe müssen wir, denke ich, die Debatte führen und nicht in den Niederungen kleinlicher nationaler Egoismen. ({1}) Es geht um die Frage, welche Bedeutung und welchen Einfluss Europa zukünftig in einer sich rasant verändernden Welt hat. Ich will zu Beginn konzedieren, Frau Bundeskanzlerin, dass das heute und morgen im Europäischen Rat zur Abstimmung anstehende Paket keine kleinkarierte oder von oppositionellen Reflexen geprägte Kritik verdient. Dieses Paket ist notwendig. Es ist aber in mancherlei Hinsicht, wie ich glaube, nicht hinreichend - ich komme darauf zurück -, und es wird allerdings sehr spät versendet. Es hat sehr lange gedauert, bis in Teilen Ihrer Regierung, Ihrer Koalition die Einsicht nachvollzogen wurde, dass aus einem Stolpern von Fall zu Fall ein umfassender Ansatz gefunden werden muss. ({2}) Diese Erkenntnis ist offenbar um die Jahreswende gereift; denn in seiner Antwort auf Ihre Regierungserklärung vom 15. Dezember 2010 hat Ihnen Frank-Walter Steinmeier völlig zu Recht vorgehalten, dass die Zeit des Durchmogelns vorbei ist. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf der Wegstrecke seit Ausbruch der Griechenland-Krise erstaunlich viele - zu viele - Volten und Pirouetten gedreht. Ihr Satz eben in der Regierungserklärung: „Wir machen, was wir sagen“ klingt vor dem Hintergrund der Volten, die diese Regierung geschlagen hat, sehr nach Kabarett. ({3}) Diese Volten hätte man sportlich nennen können, wenn sie denn nicht Glaubwürdigkeit gekostet hätten und wenn sie nicht die Märkte maßgeblich irritiert und eine Reihe, wenn nicht sogar viele, europäische Partnerländer verstört hätten. Es hieß zunächst: Es gibt keine Haushaltsmittel für Griechenland. - Ich kann mich erinnern, wie Sie auf der Welle gesurft sind, auf der Sie als eiserne Kanzlerin stilisiert worden sind. Anschließend wurde diese Position der Bundesregierung natürlich geräumt. Dann wurde der laufende Rettungsschirm - die Abkürzung ist EFSF - in einem dramatischen Umfeld im Mai 2010 verabschiedet, aber die Bundesregierung hinterlegte, dass er nicht in Anspruch genommen werden müsse, der Ernstfall stehe nicht bevor. Das war alles andere als ein klares Signal an die Märkte. Dann beruhigten Sie die innenpolitischen Gemüter und auch die innerparteilichen Heißsporne mit der Ansage, dass dieser Rettungsschirm gar nicht in Anspruch genommen werden müsse und bis 2013 zeitlich limitiert sei. Ich habe folgendes Zitat von Ihnen in Erinnerung, das lautet: Ich sage ganz klar, dass es eine Verlängerung des Hilfsfonds nicht geben wird. ({4}) Wenn Sie sagen: „Es ist etwas ganz klar“, dann gehen bei mir inzwischen die Warnblinkanlagen an. ({5}) Dann traten Sie völlig berechtigt für automatisierte Sanktionsmechanismen ein und gaben diese auf einem denkwürdigen Spaziergang entlang der französischen Kanalküste in Deauville auf. So wurde in einer Art Orwell’scher Sprachverdrehung aus einem automatisierten Sanktionsmechanismus ein quasi-automatischer. ({6}) Diese Wortschöpfung täuscht darüber hinweg, dass ein sanktionsbewehrtes Defizitverfahren jetzt nur noch möglich ist, wenn es vorher eine politische Entscheidung gibt. Es läuft ein Automatismus ab, der durch eine qualifizierte Mehrheit allerdings wieder ausgehebelt werden kann. ({7}) Dann traten Sie vehement für eine Gläubigerhaftung ein, wie auch eben in Ihrer Regierungserklärung. Ich zitiere aus einem Zeitungsartikel, in dem es heißt, sie, die Bundeskanzlerin, werde kein Schlaraffenland für Banken erlauben, in dem das Risiko zu 100 Prozent beim Steuerzahler abgegeben wird. Herr Schäuble sagte - ebenfalls bemerkenswert -: Es kann nicht sein, dass Chancen von den Investoren und Krisen von den Steuerzahlern getragen werden. - Hört, hört! Gut gebrüllt! Aber was sind die Fakten? Eine Gläubigerhaftung soll es im Rahmen des permanenten Rettungsschirmes ab 2013 geben - richtig, aber nur im Insolvenzfall, nicht bereits bei Liquiditätsproblemen. Das ist ein eminenter Unterschied. Dass ein solcher Fall der Zahlungsunfähigkeit eintreten kann, bezweifeln die europäischen Finanzminister im Übrigen selber. Sie reden in einem Kommuniqué von dem unerwarteten Fall, dass ein Land zahlungsunfähig wird. Aber wenn der Insolvenzfall quasi ausgeschlossen wird, dann gibt es ergo doch auch keine Gläubigerhaftung. Oder gibt es da eine spezifische christdemokratische Logik? ({8}) Nicht genug der Volten! Sie wollten lange Zeit - wie ich behaupte: aus guten Gründen - keine Wirtschaftsregierung der 17 Euro-Länder haben. Dann sind Sie wie Zieten aus dem Busch mit der Befürwortung einer Wirtschaftsregierung der 17 Euro-Staaten gekommen. Es ist in diesem Parlament inzwischen übrigens eine ganz merkwürdige Konstellation festzustellen: Die Marktwirtschaftler, die das Prinzip hochhalten, dass Haftung und Risiko zusammenfallen und Anleger haften müssen, wenn ein Land seine Schulden nicht mehr bedienen kann, sitzen eher auf den Bänken der Sozialdemokratie und, wie ich vermute, auch der Grünen, ({9}) während Vertreter einer Art des Neosozialismus, der faktisch bedeutet, dass Kreditausfälle zulasten der Steuerzahler sozialisiert werden, eher in dem anderen Spektrum des Hohen Hauses zu finden sind. ({10}) Die beiden Rettungsschirme, der laufende und der permanente, sollten nicht aufgestockt werden ({11}) - Herr Kauder, ich danke Ihnen für die Ermunterung; sie wird mich beflügeln -, ({12}) jedenfalls nicht unter deutscher Beteiligung; so hieß es. Sie haben heute dargestellt, dass es selbstverständlich unter deutscher Beteiligung zu einer Ausweitung unserer Bürgschaftsposition und zu Kapitaleinlagen kommt. All dies wird heute oder morgen beschlossen. Vor dem Hintergrund dieser Volten erinnere ich daran, was Sie eben gesagt haben: Wir, die Regierung, machen, was wir sagen. - Tatsächlich? ({13}) Sie, Frau Merkel, haben sich zusammen mit Vertretern der Koalitionsfraktionen durch Tabuisierungen und Ideologisierungen, bezogen auf Transferunion, Haftungsgemeinschaft, Euro-Anleihen und Fiskalunion, eingemauert. Im Übrigen: Das, was jetzt beschlossen wird, ist eine reine Umetikettierung dessen, was sich eigentPeer Steinbrück lich hinter diesen Begriffen verbirgt. Denn wir haben längst eine Transferunion, ({14}) gar nicht einmal bezogen auf das, was seit den Römischen Verträgen 1957 verabredet worden ist, noch nicht einmal bezogen auf den Kohäsionsfonds und die Strukturfonds. Vielmehr haben wir es mit Blick auf die Krisenbewältigung längst mit einem Transfer von Liquidität und Bonität von solventen europäischen Ländern zu notleidenden Ländern zu tun. Es ist ein Faktum. ({15}) Sie haben sich durch die Tabuisierung und Ideologisierung dieser Begriffe eingemauert: im Hinblick auf Vorschläge, die zu einer adäquaten Problemlösung beitragen könnten, und auch im Hinblick auf andere europäische Partnerländer. Ihre Politik, Frau Merkel, hätte schneller sein müssen, als es die Märkte erwarteten. Sie hätten schneller, als es die Märkte erwarteten, Lösungen finden und umsetzen müssen. Das hätte die Märkte beruhigt. Ihre diversen Volten sind nicht mehr mit der Methode „Versuch, Irrtum und Erkenntnisgewinn“ zu rechtfertigen. Sie haben versäumt, den Märkten ein klares Signal zu geben. Die Märkte wussten angesichts der Rückzieher, der Volten, der Widersprüche dieser Koalitionsregierung nie genau, woran sie mit ihr waren. ({16}) Insofern ist die Krise in der Euro-Zone auch eine Führungs- und Glaubwürdigkeitskrise. ({17}) Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange eine Führungsrolle verweigert und nationale Befindlichkeiten in den Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen gestellt. In dieser Führungskrise ist übrigens die Europäische Zentralbank sozusagen als Ausputzer für eine nicht handlungsfähige Politik in die Situation gedrängt worden, Staatsanleihen aufzukaufen, was wir heute beklagen. ({18}) Erstens. Die deutsche Unentschlossenheit über lange Zeit trug zu einer langen europäischen Entschlusslosigkeit bei und lud damit die Märkte zu Testläufen gegen einzelne Mitgliedstaaten ein. Das Abwarten, das allenfalls begrenzt und mit erheblichen Kollateralschäden den Vorteil hätte bringen können, dass die deutsche Stabilitätskultur vielleicht auf andere Länder hätte übertragen werden können, hat auf der anderen Seite die Kosten dieser Rettungsaktion gesteigert. ({19}) Zum Zweiten haben das Gewicht Deutschlands und die Anerkennung unseres Wirkens für Europa, wenn man so will: unsere politische Bonität als Deutsche, spürbar abgenommen. Jeder, der das Ohr auf der Schiene der europäischen Magistralen hat, weiß, wovon ich rede. Das war vor Ausbruch der Griechenland-Krise in unserer gemeinsamen Regierungszeit anders. ({20}) Zum Dritten haben Sie gegenüber dem Publikum und den Bürgern nicht fest und überzeugend kommuniziert. Sie hätten erklären müssen, dass Deutschland Europa braucht und dass es unserem Land immer nur so gut gehen kann, wie es den anderen Ländern um uns herum gut geht. ({21}) Sie hätten deutlicher und klarer erklären müssen, dass und warum es in einem originären deutschen Interesse liegt, einen Beitrag zur Förderung der Stabilität der Euro-Zone und zur weiteren Integration Europas zu leisten. Es war von vornherein klar, dass dieser Beitrag etwas kosten würde und wir auf kleinliche nationale egoistische Vorteile zu verzichten hätten. ({22}) Es war von vornherein klar, Frau Merkel, dass die Aufstockung der beiden Rettungsschirme auf ihren Nennwert etwas kosten würde, ({23}) und Herr Schäuble hat es von Anfang an gewusst. Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange den Eindruck vermittelt, dass Solidaritätsleistungen für Europa und die Übernahme von Risiken auch auf deutsche Schultern eine Art Gnadenakt sei, der uns in Europa abgerungen werden müsste. Wenn wir für den Aufbau Ost bisher ungefähr 100 Prozent einer Jahreswirtschaftsleistung vor der Wiedervereinigung aufgebracht und transferiert haben, dann ist uns Europa nicht 10 Prozent wert? Das, Frau Bundeskanzlerin, hätten Sie kommunizieren müssen, statt den Sprachverklemmungen und Tabuisierungen zu folgen, die - nicht aktiv von Ihnen betrieben; das konzediere ich gerne - indirekt auch Raum für antieuropäische Ressentiments gegeben haben. ({24}) Das im Europäischen Rat jetzt anstehende Paket ist richtig. Es ist notwendig. Es ist aber nicht hinreichend, weil einige auf die Ursachen der Krise zielende Punkte nicht aufgegriffen werden. Ihr Paket für Wettbewerbsfähigkeit, Frau Merkel, ist ebenfalls prinzipiell richtig, vermittelte aber lange den Eindruck, dass es auch eine innenpolitische und innerparteiliche Funktion hatte, indem das Gelände planiert werden sollte, auf dem der bereits absehbare Rückzug von den unhaltbaren Bedingungen zu den beiden Ret11260 tungsschirmen letztlich ohne Meuterei in den eigenen Reihen gelingen sollte. Solche Manöver kosten Glaubwürdigkeit, eines der wichtigsten politischen Pfunde, auch im Verhältnis zu europäischen Partnern. Dieses Pfund entgleitet Ihnen zusehends: in der Personalie des Herrn zu Guttenberg, weil Sie bürgerliche Tugenden hintangestellt haben; im Falle der Kernenergie, weil Ihr Verständnis von einer Brückentechnologie und von einem Ausstieg mit Augenmaß offensichtlich mit einem Deal über eine Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken bis möglichweise 2050 und einer Kürzung von Haushaltsmitteln für alternative Energieversorgungsstrategien kollidiert; und auch im Fall des UN-Mandats für eine Flugverbotszone über Libyen, weil Sie als Oppositionsführerin seinerzeit die Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer massiv für eine Isolierung im Bündnissystem kritisiert haben, in die Sie sich nun aber selbst durch das deutsche Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat gebracht haben. ({25}) Wenn ich auf eine Detailkritik an dem Paket verzichte, so bedeutet das nicht, dass dies bereits hinreichend ist. Ich möchte dazu fünf oder sechs einzelne Punkte anführen. Erstens. Wer bezahlt die Schulden überschuldeter Staaten, die Gläubiger oder die Steuerzahler? Ich halte eine Gläubigerhaftung bereits im Illiquiditätsfall, nicht erst im Insolvenzfall für dringend erforderlich. ({26}) Zweitens. Was passiert mit Staaten, die unter ihrer Schuldenlast und unter ihrem Kapitaldienst zu ersticken drohen? Das Szenario einer Umschuldung wird eintreten. Dies sage ich Ihnen glasklar voraus, und zwar nicht, weil ich besonders originell bin, sondern weil die überwiegende Anzahl der Experten, die man dazu hören kann, eine solche Umschuldung sogar als Voraussetzung für die Stabilisierung in der Euro-Zone ansieht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Vorschlag des Bundesbankpräsidenten, der zusammen mit Mitarbeitern der Bundesbank gefragt hat, warum es im Fall von Notkrediten aus den Rettungsschirmen nicht automatisch eine Laufzeitverlängerung der Anleihen des in Bedrängnis geratenen Landes um drei Jahre geben sollte. Uns stehen hinsichtlich der Umschuldungsmöglichkeiten verschiedene Instrumente zur Verfügung: Laufzeitverlängerung, Zinserlass bis hin zu einem klassischen Haircut. All dies müsste in meinen Augen vorbereitet werden. Wir sind darin durchaus trainiert, weil wir dies bereits im Pariser Club und im Londoner Club geübt haben. Wir haben weltweit viele Erfahrungen machen können, dass dies gelungen ist. Drittens. Die Heranziehung des Bankensektors zur Mitfinanzierung der Folgekosten der maßgeblich von ihm ausgelösten Finanzkrise ist nicht nur eine finanzielle oder haushalterische Frage. Ich bitte, auch den legitimatorischen Aspekt nicht zu unterschätzen. Die Bürger stellen die Frage: Wer zahlt? Wir als Politiker müssen ihnen sagen: Ihr zahlt im Fall der deutschen Abschirmung, im Fall der Griechenland-Hilfe, im Fall des aktuellen Schirmes und im Fall der Staatsanleihen der EZB. Dadurch kann das Vertrauen in unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erschüttert werden. Deshalb sollte der fehlende Konsens im Kreis der G-20-Staaten, in der EU der 27 Staaten und in der Euro-Zone der 17 Staaten über die Einführung einer Umsatzsteuer auf alle Finanzgeschäfte - vulgo: einer Finanzmarkttransaktionsteuer ({27}) nicht zum Vorwand dafür genommen werden, nichts zu tun, sondern man sollte mit den sechs, sieben oder acht Ländern in Europa anfangen, die dazu erklärtermaßen bereit sind. Dies ist insbesondere auch der französische Staatspräsident. ({28}) Viertens. Die Bankenkrise in Europa ist nicht überwunden. Durch harte Stresstests wird dies belegt werden. Deshalb brauchen wir ein europäisches Bankeninsolvenzrecht, um insbesondere mit Blick auf grenzüberschreitende Bankinstitute zu dem zu kommen, was in Deutschland richtigerweise verabschiedet worden ist, nämlich einem Restrukturierungsgesetz. ({29}) Übrigens, die Vorarbeiten zu diesem Restrukturierungsgesetz sind maßgeblich von der damaligen Justizministerin, meiner Kollegin Frau Zypries, und mir erarbeitet worden - damit es da nicht zu einer Auseinandersetzung um das Copyright kommt. ({30}) Ich sage voraus, dass wir in Europa über ein solches geordnetes Insolvenzrecht oder eine solche Bankenabwicklung hinaus auch eine europäische Fazilität zur Restrukturierung und Rekapitalisierung von Banken brauchen. Das ist ein heißes Thema, wie ich weiß, aber ich sage ganz deutlich: Ohne eine Restrukturierung oder Rekapitalisierung von labilen Banken wird es keine umfassende Lösung in Europa geben. Fünftens. Ein weiterer Punkt ist, dass Europa, insbesondere die Euro-Zone, natürlich von internen Ungleichgewichten geprägt ist. Die Deutschen werden inzwischen als die Chinesen Europas bezeichnet. Unsere Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschüsse spiegeln sich in den entsprechenden Defiziten anderer Länder wider. Weil ein Sabbatical, eine Art Ruhepause für deutsche Exportaktivitäten, nicht infrage kommt, stehen nur zwei Strategien zur Auswahl, nämlich einerseits, die Wettbewerbsfähigkeit von Defizitländern zu stärken, und andererseits, die Inlandsnachfrage in Deutschland ebenfalls zu stärken. ({31}) Bei beiden Strategien läuft es auf sehr handfeste Fragen hinaus. In Europa wird sich die Frage stellen, ob wir die europäischen Mittel, die zur Verfügung stehen, zunehmend für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder einsetzen, ob wir nach wie vor 40 Prozent, 45 Prozent der Mittel in die Förderung des landwirtschaftlichen Sektors stecken oder ob wir dieses Geld nicht viel besser in die Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung und in Bildung investieren, also in all das, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder gefördert werden könnte. ({32}) Hinsichtlich der Hebung der Nachfrage in Deutschland geht es ganz konkret um die Lohn- und Gehaltsentwicklung. Ich füge hinzu: Mit Blick auf die Massenkaufkraft geht es auch um die Frage, ob die Kaufkraft in Deutschland durch die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne nicht deutlich erhöht werden könnte. ({33}) Mit dem Wegfall der ideologischen Systemkonkurrenz 1989/1990 nach der Implosion der Sowjetunion und ihrer Satrapen ist die Geschichte keineswegs zu Ende. Stattdessen haben wir es heute im globalen Maßstab mit einer ökonomisch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz zu tun. Europa muss in dieser Konkurrenz mehr sein als eine Wirtschaftsgemeinschaft und eine Währungsunion, nicht zuletzt deshalb, um die Kluft seiner Bürger gegenüber europäischen Institutionen zu überwinden. Die Bürger sind nicht müde an Europa, aber sie sind müde an der Organisation Europas. Um diese Kluft zu überwinden, muss Europa aus dem Zustand vornehmlich intergouvernementaler Beschlüsse herausgeführt werden. Es bedarf einer Parlamentarisierung europäischer Entscheidungsprozesse mit Blick sowohl auf das Europäische Parlament als auch auf die nationalen Parlamente. ({34}) In diesem Sinn hat die Bundesregierung ihre Informationspflicht auf der Basis des Bundesverfassungsgerichtsurteils mehrfach sträflich verletzt. ({35}) Die Art des Umgangs mit dem Pakt für Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Parlament ist vor diesem Hintergrund inakzeptabel. ({36}) Wir haben es mit einem immer weiter wachsenden Kompetenzzuwachs der Europäischen Kommission und auch des Europäischen Rates zu tun. Es gibt aber keinen Demokratie- und Legitimationszuwachs. Das wird die Europamüdigkeit eher fördern als abbauen. Es geht allerdings um mehr als das. In dieser ökonomisch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz müssen wir eine neue Geschichte über Europa erzählen. Europa ist nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion, sondern es ist über eine Friedens- und Wohlstandsregion hinaus eine Region, in der Rechtssicherheit, Sozialstaatlichkeit, Freizügigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit, aber keine Korruption herrschen. ({37}) Deshalb war übrigens die Reaktion auf die ungarische Mediengesetzgebung in der Debatte in diesem Hause seinerzeit unterirdisch. ({38}) Wenn wir insbesondere einer jüngeren Generation und einer Wahlbevölkerung insgesamt Europa als historisch einmalige Errungenschaft vermitteln wollen, statt Europa nur als bürokratische Konstruktion - das Subsidiaritätsprinzip bei Glühbirnen lässt grüßen - und als einen reinen Männerklub mit Dame erscheinen zu lassen, dann werden wir die Attraktivität dieses Kontinents neu erklären und in eine faszinierende Geschichte fassen müssen. Genau darum geht es heute und morgen im Europäischen Rat bei der Bewältigung der Krise und den anstehenden Beschlüssen. Vielen Dank für das Zuhören. ({39})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Staats- und Regierungschefs in dieser Woche zusammenkommen, dann geht es im Kern um die Stabilität des Euro. Dies ist gleichzeitig eine zentrale Voraussetzung für die Stabilität Europas. In so schwierigen Fragen war Arroganz noch nie ein guter Ratgeber, Herr Steinbrück. ({0}) Dass Sie Ihre eigenen Verantwortlichkeiten ausblenden, ist ebenfalls bemerkenswert. Deutschland ist von seiner Geschichte geprägt. Die Bürgerinnen und Bürger haben eine hohe Sensibilität, wenn es um ihre Währung geht. Deshalb geht es darum, diese Währung zu sichern. Wir brauchen eine harte Währung. Das ist seinerzeit bei der Umstellung auf den Euro versprochen worden. Wir haben damals mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt dafür gesorgt. Dass wir heute in einer so schwierigen Lage sind, Herr Steinbrück, hat auch und vor allem damit zu tun, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa im Jahr 2004 aufgeweicht wurde, und zwar deshalb, weil eine rot-grüne Regierung innenpolitische Probleme hatte, die sie zulasten des Euro und damit auf dem Rücken Europas ausgetragen hat. ({1}) Während Herr Schröder und Herr Fischer, die damals zuständig waren, längst als hochbezahlte Lobbyisten unterwegs sind, dürfen wir heute die Scherben in Europa zusammenkehren. Das ist die Wahrheit, Herr Steinbrück. ({2}) Wir wollen, dass sich die Bürger auf unsere Währung verlassen können. Deshalb ist es unser Ziel, den Euro zu stabilisieren, ihn auf ein solides Fundament zu stellen und einen Krisenmechanismus für den Notfall einzuführen. ({3}) Diesem Ziel sind wir in den letzten zwölf Monaten nähergekommen. Wir müssen aber jeden einzelnen Schritt bis zum Schluss begleiten. Ich sage ganz deutlich: Eine Zustimmung kann es nur zu einem Gesamtpaket geben, weil es das Ziel sein muss, die Ursachen einer Krise zu bekämpfen - dazu gehört auch eine Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts -, und es nicht genügt, die Symptome zu retuschieren. Das ist das Ziel, das wir verfolgen, und dies rechtfertigt eine entsprechend intensive Behandlung auf europäischer Ebene. ({4}) Es besteht ein Unterschied zwischen einer Transferunion, wie Sie es verstehen, Herr Steinbrück, und einer Haftungsunion. Sie wollten von Anfang an bedingungslose Hilfe für Griechenland und werfen uns jetzt vor, dass wir Griechenland nicht schnell genug geholfen hätten. Sie haben schon zu einem Zeitpunkt, als Griechenland noch gar keine Hilfen wollte, davon gesprochen, Griechenland das Geld hinterherzutragen. So werden Sie nie eine Stabilitätskultur erreichen. ({5}) Sie setzen sich für Euro-Bonds ein. Deutschland müsste damit für die Schulden anderer Länder geradestehen. Sie wollen nichts anderes als eine Vollkaskohaftung für Europas Schulden. Eine solche Vollkaskohaftung machen wir nicht mit. ({6}) Es sind nicht diejenigen die besseren Europäer, die glauben, mit Euro-Bonds und einer EU-Steuer eine schnelle Lösung zu haben. Stabilität wird es nur dann geben, wenn jeder einzelne Mitgliedstaat sich darüber im Klaren ist, dass er seiner stabilitätspolitischen Verantwortung gerecht werden muss. Sie, Herr Steinbrück, sagen jetzt, wir hätten zu lange gezögert. Wer hat denn aber dem Rettungsschirm in diesem Hause im letzten Mai, kurz vor den NRW-Wahlen, nicht zugestimmt? Es war Ihre Fraktion, die sich verweigert hat. ({7}) Sie sprachen von kleinkarierten nationalen Egoismen. Das finde ich schon bemerkenswert. Es geht an dieser Stelle auch um die Stabilität Deutschlands und um das Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. ({8}) Wenn wir klare Regeln einfordern, dann geht es nicht um kleinkarierte nationale Egoismen, sondern dann ist das eine schlichte Notwendigkeit. Das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands schuldig. ({9}) Die No-bail-out-Klausel ist eine Grundfeste Europas. ({10}) Es soll eben keine Schuldenüberwälzung auf andere Staaten der Euro-Zone zugelassen werden, und es soll keine Euro-Bonds oder gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenrückkaufprogramme geben. Wir wollen eine Stabilitätsgemeinschaft. In der Tat ist Europa eine Schicksalsgemeinschaft. Es ist aber nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft, sondern auch eine Verantwortungsgemeinschaft. Für diese Verantwortungsgemeinschaft setzen wir uns ein. ({11}) Es geht nicht darum, dass wir jetzt neue Geschichten über Europa erzählen. Wir müssen in einer ganz konkreten Situation entscheiden, wie es weitergeht und wie wir sicherstellen, dass solche Situationen in Zukunft möglichst vermieden werden. Jeder Einzelstaat muss seiner stabilitätspolitischen Verantwortung gerecht werden. Deshalb wollen wir die Verschärfung des Stabilitätspakts - das hat die Bundeskanzlerin eben noch einmal ausgeführt -, ein Frühwarnsystem sowie nach Möglichkeit automatisierte Sanktionen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist zu stärken, und zwar auch durch eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Das alles sind integrale Bestandteile eines Pakets, und ein Teil ist ohne den anderen Teil nicht denkbar; das ist ein umfassender Ansatz. Die Bundeskanzlerin hat heute hier gesagt, dass sie den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht aufweichen will und dass es eine gemeinsame Verpflichtung ist, dafür zu sorgen, dass er auch wirklich eingehalten wird. Dabei hat sie die volle Unterstützung dieses Hauses, jedenfalls der Koalitionsfraktionen in diesem Haus. ({12}) Wir haben in den letzten Monaten doch einiges in Europa erreicht, auch was das Umdenken bei anderen anBirgit Homburger geht. Das haben wir deshalb erreicht, weil wir auch im Deutschen Bundestag eine so klare Haltung eingenommen haben, weil wir in Anträgen immer wieder die roten Linien aufgezeigt haben; das war notwendig. Dadurch hatte die Bundeskanzlerin eine starke Verhandlungsposition in Brüssel. Diese Verhandlungsposition hat sie - das will ich festhalten - klug genutzt. ({13}) Es gibt drei Kernpunkte, für die sie ihre starke Verhandlungsposition genutzt hat. Erstens, das Ultima-Ratio-Prinzip für den Einsatz der Stabilisierungsmechanismen. Hilfen werden nur dann gewährt, wenn die EuroZone als Ganzes in Gefahr ist. Ich halte dies nach wie vor für richtig. Wer wie die Opposition leichtfertig Gelder in Europa verteilt, schafft keine Anreize für eine solide Finanzpolitik. Staaten müssen zuerst eigene Anstrengungen unternehmen, um die Verschuldung zu stoppen. Wir sind froh, dass auch in Zukunft der IWF stark vertreten sein wird und mit im Boot sitzt. Das ist ein wichtiger Punkt. ({14}) Zweitens, das Einstimmigkeitsprinzip. Das Einstimmigkeitsprinzip bei allen Maßnahmen des ESM ist eine Lebensversicherung für den deutschen Steuerzahler. ({15}) Niemand kann gegen unser Votum über den Einsatz der Gelder der deutschen Steuerzahler bestimmen. Auch das ist ein Erfolg für Deutschland. ({16}) Drittens. Wir wollen - auch das ist entsprechend verhandelt worden - eine Umschuldung, also ein Insolvenzrecht für Staaten. Es ist wichtig, dass es eine Beteiligung privater Gläubiger an Hilfsmaßnahmen geben wird. Das darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleiben. Vielmehr muss das, was die Staats- und Regierungschefs der Euro-Gruppe bei ihrem letzten Treffen entschieden haben, immer gelten und umgesetzt werden. ({17}) Es gibt also drei glasklare Botschaften von der letzten Sitzung der Staats- und Regierungschefs der EuroGruppe: Ultima-Ratio-Prinzip, Einstimmigkeitsprinzip und Gläubigerbeteiligung. Das sind die Kernpunkte. Diese sind einzuhalten. Für uns ist auch wichtig, dass auf dem bevorstehenden Gipfel klargestellt wird, Frau Bundeskanzlerin, dass das, was die Staats- und Regierungschefs in aller Eindeutigkeit festgehalten haben, gilt und dass das, was teilweise in dem Papier des Ecofin-Rats nicht ganz so deutlich formuliert ist, hinter dem zurücksteht, was die Staats- und Regierungschefs zugesagt haben. Das heißt, diese drei Punkte sind für uns nicht verhandelbar und müssen durchgesetzt werden. ({18}) Wir haben natürlich noch ein Problem mit der Finanzierung des europäischen Stabilitätsmechanismus. Hier geht es um Einlagen oder Bürgschaften. Wir sind uns in der Koalition einig, dass das Ergebnis des Ecofin-Rates nicht das Ergebnis des Gipfels der Staats- und Regierungschefs sein darf. Wer Solidarität will - wir sind bereit, uns solidarisch zu verhalten -, der darf nicht diejenigen überfordern, die Solidarität leisten sollen. Darüber muss noch einmal geredet werden; denn deutsche Bürgschaften haben ein Triple-A. Deshalb ist über die Bareinlagen nachzuverhandeln. Das hat die deutsche Regierung in Europa schon angemeldet. Wir gehen davon aus, dass es hier zu einer Veränderung kommt. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auch an dieser Stelle die volle Rückendeckung der Koalition für die Verhandlungen. ({19}) Sie haben über die schwierige Situation in Portugal gesprochen und haben deutlich gemacht, dass die von den Staats- und Regierungschefs befürworteten Maßnahmen nicht die Zustimmung des Parlaments gefunden haben. Das ist eine schwierige Situation, die in den nächsten Tagen sicherlich eine Rolle spielen wird, auch in Europa. Wenn Portugal nicht sparen will, dann können und dürfen wir nicht mit Geld des Steuerzahlers helfen. Die Hilfe ist nur bei einem klaren Sparkonzept möglich. Der Rettungsschirm ist kein Rettungsnetz und erst recht keine Rettungshängematte. ({20}) In Lissabon wurden die Rechte der nationalen Parlamente gestärkt, und das ist gut so. Das zeigt sich in diesem Verfahren. Wir wollen, dass die Ratifizierung des Vertrages und die Umsetzung der anderen Punkte gleichzeitig erfolgen. Es gibt viele Staaten in Europa, die ein Interesse an einer schnellen Ratifizierung der Vertragsänderung haben. Deutschland hat ein ebenso großes Interesse daran, dass die Mechanismen, die hinter dieser Ratifizierung stehen, verbindlich vereinbart werden. Deshalb darf im weiteren Ablauf die Vertragsänderung nur zusammen mit der Umsetzung und Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes erfolgen. Wir brauchen klare Verhältnisse. Eine Ratifizierung gibt es nur im Rahmen des Gesamtpakets. ({21}) Ich will zum Schluss etwas festhalten, ({22}) was auf europäischer Ebene keine Rolle spielt, aber hier im Hause klar sein muss. Bei der Ratifizierung legen wir größten Wert darauf, dass dieses Parlament nicht nur eingebunden wird, sondern dass unsere Rechte bei der Umsetzung der Maßnahmen gewahrt bleiben. ({23}) Das heißt: Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des Parlaments. Deshalb werden wir in jedem Einzelfall, von dem der Haushalt betroffen ist, dafür sorgen, dass der Deutsche Bundestag seine Zustimmung geben muss. Dieser Parlamentsvorbehalt ist nicht verhandelbar. Das ist eine ganz klare Linie, die diese Koalition vereinbart hat. Wir werden die Rechte des Parlaments durchsetzen. Ich lade die Opposition in diesem Hause ein, daran teilzuhaben. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich muss Ihnen sagen: Ich finde es unverfroren und arrogant, dass Sie eine Regierungserklärung abgeben, ich Ihnen die ganze Zeit zuhöre und Sie, wenn die Opposition erwidert, aufstehen, herumlaufen und nicht zuhören. Das ist nicht anständig; das ist arrogant und falsch, wenn ich das einmal deutlich sagen darf. ({0}) Wir hatten zunächst eine Bankenkrise, dann eine Krise des Euro, und jetzt haben wir eine Staatsschuldenkrise, übrigens auch in unserem Land; denn Bund, Länder und Gemeinden haben im letzten Jahr neue Schulden im Umfang von 300 Milliarden Euro gemacht. Davon sind 232 Milliarden Euro auf die Bankenkrise zurückzuführen. Ich habe eine Frage: Wer bezahlt jetzt diese Schulden? Bei uns sind das ganz eindeutig die Bürgerinnen und Bürger, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und sogar die Hartz-IV-Empfangenden. Es gilt nicht das Verursacherprinzip; sonst würden nämlich die Banken die Schulden bezahlen müssen. Genau das haben Sie immer abgelehnt. ({1}) - Es ist richtig: Das haben wir schon einmal gesagt. Aber geändert haben Sie es nicht, weil Sie die Banken immer schonen; denn es regiert die Bankenlobby, es regieren nicht Sie selbst. Das ist nämlich das Problem, mit dem wir es in Deutschland zu tun haben. ({2}) Dasselbe gilt übrigens für Zahlungen auf europäischer Ebene. Die Privatbanken verdienen glänzend. Ich muss Ihnen, Herr Kauder, zwei Beispiele nennen, damit Sie die in Baden-Württemberg verbreiten. Erstes Beispiel: Die Europäische Zentralbank gibt keine Kredite an Staaten, auch nicht in Ausnahmesituationen, obwohl das jetzt dringend notwendig wäre. Was macht die Europäische Zentralbank? Sie gibt zum Beispiel der Deutschen Bank einen Kredit über 1 Milliarde Euro und verlangt dafür 1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank zur griechischen und zur irischen Regierung und sagt: Wir haben gehört, ihr braucht Geld. - Dann antworten die Regierungen: Das ist schön; wir hätten gerne 1 Milliarde Euro. - Dann erwidert die Deutsche Bank: Wir leihen euch das Geld, wenn ihr uns 13 Prozent - im Falle Griechenlands - oder 10 Prozent - im Falle Irlands - Zinsen zahlt. - Mit einer Überweisung verdient die Deutsche Bank ein Schweinegeld, ohne irgendetwas hergestellt oder irgendeinen Wert geschaffen zu haben. ({3}) Ich nenne Ihnen jetzt das zweite Beispiel. Sie müssen auch das zweite Beispiel verbreiten, Herr Kauder. ({4}) Sie haben zusammen mit der SPD die Hypo Real Estate verstaatlicht. Es ist schon selten, dass die CDU etwas verstaatlichen will und die Linke Kritik dazu äußert. Das lag einfach daran, dass wir gesagt haben: Wenn wir verstaatlichen, dann verstaatlichen wir nach dem schwedischen Modell und übernehmen alle privaten Großbanken. - Sie aber wollten nur die höchstverschuldete Bank übernehmen. Dadurch haben die Bürgerinnen und Bürger von Ihnen die gesamten Schulden der Hypo Real Estate bekommen. Insgesamt sind auch von unseren Bürgerinnen und Bürgern dadurch an die Deutsche Bank jetzt schon 20 Milliarden Euro gezahlt worden. Deshalb kann die riesige Dividenden an ihre Großaktionäre sowie Boni über Boni an alle ihre Ackermänner auszahlen. Das ist die Wahrheit. Genau das ist das Problem. Hier brauchen wir endlich Gerechtigkeit. ({5}) Jetzt komme ich zu Griechenland, Irland, Portugal und Spanien und sage Ihnen: Was Sie dort machen, Frau Bundeskanzlerin, ist eine Politik von Versailles. Ich hatte gehofft, wir hätten aus der Geschichte endlich gelernt. Deutschland hat zu Recht den Ersten Weltkrieg verloren. Aber die Sieger konnten in Versailles nicht aufhören, zu siegen, und haben ganz enge und demütigende Bedingungen für Deutschland festgelegt. Das war nicht der einzige, aber ein Grund dafür, dass dann die NSDAP mit ihrem entsetzlichen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus solchen Erfolg in Deutschland hatte. ({6}) Ich dachte, wir hätten daraus gelernt. Aber was machen wir? Wir machen gegenüber Griechenland, Irland, Portugal und Spanien wieder eine Politik von Versailles. Sie verlangen dort Lohnsenkungen, Rentensenkungen, Senkungen der Sozialleistungen, Rücknahme von Investitionen, und - die Frau Bundeskanzlerin hat es heute stolz gesagt - Griechenland soll öffentliches Eigentum im Wert von 50 Milliarden Euro verkaufen. Sollen die auch noch die Akropolis verkaufen, oder was stellen Sie sich eigentlich vor? Ich finde das indiskutabel. ({7}) Dass der portugiesische Ministerpräsident zurückgetreten ist, liegt doch nur daran, dass die Opposition jetzt mehrheitlich entschieden hat, diesen Kurs von Versailles nicht mitzumachen, und das ist völlig richtig. ({8}) - Ja, ich weiß, dass die Konservativen und die Linken das auch entschieden haben. Wenn die Konservativen in der Opposition sind, haben sie ab und zu auch einmal einen vernünftigen Gedanken; selten, aber immerhin, es kommt vor. ({9}) Das nächste Problem besteht darin, dass Sie hier die Finanzmärkte nicht reguliert haben. Was haben Sie gemacht, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben weder die Spekulation noch Leerverkäufe noch Hedgefonds noch Zweckgesellschaften eingeschränkt. Es gibt auch keine Finanztransaktionsteuer. Herr Steinbrück, ich habe gern gehört, dass Sie für die Finanztransaktionsteuer sind. Sie müssen nur zwei Dinge erklären, erstens, warum Sie sie als Bundesfinanzminister nicht eingeführt haben, und, zweitens, weshalb Sie bei einer namentlichen Abstimmung dagegen gestimmt haben. Wenn Sie das noch erklären, dann sind wir hier einen Schritt weiter. ({10}) Der Internationale Währungsfonds befürchtet jetzt übrigens eine neue und noch schlimmere Krise, und zwar deshalb, weil nichts reguliert worden ist. Wir wollen nicht vergessen: Sie haben einen Fonds für die nächste Krise eingeführt. Da sollen die Banken jedes Jahr 1 Milliarde Euro einzahlen. Da Sie den Banken selber innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben, machen Sie damit eine sehr langfristige Politik. Dann haben wir das Geld von den Banken, wenn ich das Ganze richtig verstehe, schon in 480 Jahren zurück. Aber abgesehen davon: Jede Bundesregierung achtet immer auf den Export und nicht auf die Binnenwirtschaft. Deshalb die Reallohnsenkung, die Rentensenkung, die Sozialleistungssenkung! Sie wollen, dass alle Produkte so billig wie möglich ins Ausland verkauft werden können. Deshalb nehmen wir da auch Platz zwei ein. Ich sage Ihnen: Diese Einseitigkeit muss endlich überwunden werden. Wir brauchen eine Stärkung der Binnenwirtschaft. Deshalb betone ich erneut: Die einzige Mittelstandspartei ist die Linke. ({11}) - Ich wusste, dass Sie sich freuen. Deshalb wiederhole ich es. Ich will Ihnen auch die Gründe nennen, Frau Homburger, damit Sie es verstehen. Passen Sie auf! Wir sind die Einzigen, die Lohnsteigerungen wollen, die Rentensteigerungen wollen und die Steigerungen der Sozialleistungen wollen. Davon lebt der Gastwirt, davon leben die kleinen und mittleren Unternehmen, die in der Binnenwirtschaft agieren. Für die tun Sie gar nichts. Das ist die Wahrheit. ({12}) Wir wollen ein soziales Europa der Völker, und Sie wollen ein Hartz-IV-Europa. ({13}) Der Reallohnabbau in den letzten zehn Jahren betrug in Deutschland 4,5 Prozent, auch unter Mitregierung der SPD. Erklären Sie doch einmal, weshalb keine andere Industriegesellschaft einen Reallohnabbau hatte, nur Deutschland. In Norwegen gab es sogar ein Plus von 25 Prozent. Was Sie auf dieser Strecke angerichtet haben, ist nicht vertretbar. ({14}) Dasselbe gilt für Renten und Sozialleistungen. Sie wollen statt eines sozialen Europas ein Agenda2010-Europa. Da spielt auch gar keine Rolle, ob Union, SPD, FDP oder Grüne handeln; da sind Sie sich ja einig. Was bedeutet ein Agenda-2010-Europa? Das bedeutet: prekäre Beschäftigung, Befristung, Leiharbeit, Aufstockung, das gesamte Paket im Niedriglohnsektor. Das alles ist durch die Agenda 2010 in Deutschland massenhaft eingeführt worden. Lassen Sie mich nur zu drei Dingen etwas sagen. Befristete Beschäftigung bedeutet immer, den Leuten keine Perspektive zu geben - weil sie nicht wissen, ob sie wieder einen Vertrag bekommen. Sie können sich überhaupt nicht darauf einstellen. Das schwächt auch die Gewerkschaften; denn jemand, der einen befristeten Vertrag hat, geht doch nicht zu einer Kundgebung gegen die Leitung seines eigenen Unternehmens, weil er Angst hat, keinen neuen Vertrag zu bekommen. Das ist ja auch Ihr Ziel. Deshalb soll die befristete Beschäftigung ausgebaut werden. ({15}) Leiharbeit ist für mich eine moderne Form der Sklaverei. Wir könnten wenigstens die französische Regelung einführen, wonach ein Leiharbeiter von Anfang an genauso viel Geld plus 10 Prozent bekommt. Dann wird das eine reine Ausnahme. Aber hier arbeiten die Leiharbeiter für einen Zweidrittellohn oder einen halben Lohn. ({16}) Sie wollen die gleiche Bezahlung nach neun Monaten einführen, wenn die Leiharbeiter schon längst wieder entlassen sind. Liebe FDP, das könnt ihr nun wirklich vergessen. Das ist eine Veralberung der Leute. ({17}) Nun zu den Aufstockerinnen und Aufstockern. Aufstockerinnen und Aufstocker verdienen, obwohl sie Vollzeit arbeiten, so wenig, dass sie ergänzend Hartz IV beantragen müssen. Wir betreiben diesbezüglich eine Subventionierung von jährlich 10 Milliarden Euro. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Deutschlands zahlen an die Aufstockerinnen und Aufstocker 10 Milliarden Euro. Die Frau Bundeskanzlerin sagt immer, sie sei stolz darauf, dass der Staat an dieser Stelle eingreift. Ich sage, das ist ein Grund, sich zu schämen. Jemand, der einen Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen Lohn haben, mit dem er in Würde leben kann, und darf nicht zum Sozialamt geschickt werden. ({18}) - Sie müssen das ändern. Dann brauchen Sie sich das nicht mehr zu anzuhören. ({19}) In Deutschland sind 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Das ist mehr als ein Fünftel. Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben. Mit dem Agenda-Europa würde auch die Rente ab 67 eingeführt. Die ganze Zeit reden Sie vier - SPD, Grüne, Union und FDP - davon, der demografische Faktor sei entscheidend, die Leute würden immer älter. Das ist völlig falsch. Entscheidend ist die Produktivität. Ein Bauer konnte früher nur acht Menschen versorgen; heute versorgt er über 80 Menschen. Die Produktivitätssteigerung ist das Entscheidende. ({20}) Deshalb müssen wir an eine Kürzung der Lebensarbeitszeit und auch der Wochenarbeitszeit denken, aber nicht an eine Verlängerung. ({21}) Herr Müntefering hat immer gesagt, man müsse auch berücksichtigen, wie die Älteren beschäftigt sind. Ich sage es Ihnen: Von den 63- bis 64-Jährigen haben 8,4 Prozent der Männer und 3,7 Prozent der Frauen einen Vollzeitjob. Das ist die Realität. Und da sagt auch die SPD diesen Leuten, dass sie zwei Jahre länger arbeiten sollen. Ich finde das indiskutabel. ({22}) Ein Agenda-Europa bedeutet ferner, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmend die Kosten für ihre Gesundheit alleine tragen müssen. Jetzt haben Sie, Union und FDP, doch ernsthaft den Arbeitgeberanteil eingefroren und gesagt: Alle zusätzlichen Kosten müssen die Versicherten, das heißt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, alleine tragen. Das ist extrem unsozial. Wir brauchen ein Europa frei von Atomenergie und eine staatliche Energiepreisregulierung. An dieser Stelle rufen Sie immer, das sei Planwirtschaft. Was Planwirtschaft angeht, haben Sie aber von Tuten und Blasen keine Ahnung. ({23}) - Das stimmt. - Wir hatten Jahrzehnte der staatlichen Energiepreisregulierung in der Bundesrepublik Deutschland, und dort gab es keine Planwirtschaft. Wenn Sie nach dem Markt rufen würden, hätte ich nichts dagegen. Wir haben hier aber nur vier Konzerne - das ist alles -, die sich feudal Deutschland aufgeteilt haben. Entgegen Ihrer Annahme sind sie in der Lage, einmal mittwochs zu telefonieren und zu verabreden, wie sie uns übernächste Woche abzocken. Das muss endlich ein Ende haben. ({24}) Wir brauchen ein Europa des Friedens, frei von Kriegen. Nicht zu fassen ist, dass eine Bundesregierung aus SPD und Grünen und dann aus Union und SPD Waffenexporte an das feudale Saudi-Arabien genehmigt, das nicht nur Menschenrechte - insbesondere von Frauen verletzt, sondern aus dem sämtliche Zahlungen an die Terrororganisation al-Qaida fließen. Von 2005 bis 2009 waren dies 471 Millionen Euro. Damit wurden Panzer und Munitionsfabriken möglich. Jetzt marschiert SaudiArabien in Bahrain ein und schießt mit deutschen Waffen auf friedliche Demonstranten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Die Regierung von Union und SPD hat ferner von 2006 bis 2009 Waffenexporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Euro geliefert. Gestern hat Herr Kauder gesagt, dass das ein Fehler war. Das würde ich auch gern von der SPD hören. Das war ein gravierender Fehler. Man weiß nämlich nie, auf wen Diktatoren schießen. ({0}) Ich sage Ihnen zum Schluss: Der Kriegsbeschluss der UNO ist falsch. Der Außenminister bekommt jetzt mit, wie schwer es in Deutschland ist, nicht an einem Krieg teilzunehmen. Ich füge hinzu: Was SPD und Grüne machen, ist reine Eierei. Sagen Sie doch einmal klipp und klar, ob Sie dafür oder dagegen sind. Sagen Sie nicht nur, die Regierung hätte sich klarer äußern müssen. ({1}) Ich bin froh, einer Fraktion anzugehören, die klar Nein zu Krieg als politischem Mittel sagt, wie übrigens auch Willy Brandt. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Europäische Rat heute und morgen wird eine ganz bedeutende Entscheidung für Europa treffen. Er wird nämlich einen Regelungsmechanismus beschließen, von dem wir einige Teile dann noch in nationales Recht umsetzen müssen. Er wird einen Regelungsmechanismus beschließen, der verhindern soll, dass die Probleme, die jetzt entstanden sind, in Zukunft wieder entstehen. Der entscheidende Punkt ist, dass wir jetzt aus dem lernen, was in der Vergangenheit nicht richtig funktioniert hat. ({0}) Dafür ist natürlich, Herr Steinbrück, um gleich auf einen von Ihnen angesprochenen Punkt zu kommen, in Europa eine Einigung zu erzielen. Hier gibt es nicht das Diktat des einen, der sagt: „So muss es gemacht werden“ und dem alle anderen folgen müssen. Die Bundesregierung hat vielmehr eine führende Rolle dabei gespielt, dass man sich auf das geeinigt hat, was jetzt im Rat vorliegt. Dieses Ergebnis geht ausschließlich auf die kluge Verhandlungsstrategie der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin zurück, auf keinen anderen. Das ist Führung in der Europäischen Union. ({1}) Richtig ist, Herr Steinbrück, dass auch in Zeiten, in denen SPD-Bundeskanzler für Europapolitik Verantwortung hatten, geführt wurde. Mit dem Ergebnis der Führung, die damals ausgeübt wurde, schlagen wir uns aber heute herum. Sie haben den Stabilitätspakt aufgeweicht. Das war ein Ergebnis Ihrer Führung. Damit müssen wir jetzt zurechtkommen. ({2}) Da kann ich nur sagen: Führung ist nicht immer nur gut. Es muss sich auch um richtige Führung handeln. Neben all den Mechanismen, die die Bundeskanzlerin dargestellt hat und auf die die Kollegin Homburger noch einmal eingegangen ist, ist noch etwas anderes entscheidend: Ein zentraler Punkt ist auch der Pakt für Wettbewerbsfähigkeit. Das ist nicht nur deshalb so, weil dieser dazu beitragen soll, dass zentrale Wirtschaftsparameter angeglichen werden, sondern auch, weil dieser Pakt für Wettbewerbsfähigkeit, Frau Bundeskanzlerin - das würde ich mir auch wünschen -, eine dauerhafte ständige Kontrolle der Entwicklungen in den einzelnen Staaten in Europa ermöglicht. Daran hat es doch bisher gefehlt. Es hat in den letzten Jahren doch kaum jemand richtig zur Kenntnis genommen, was in Griechenland abgelaufen ist. Deswegen führt dieser Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit auch dazu, dass genauer und intensiver hingeschaut wird, welche Entwicklungen in Europa ablaufen. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gipfel in Europa, auf dem ein neuer Regelungsmechanismus beschlossen wird, wird auch eine Zeit der intensiven Diskussion über interne Angelegenheiten Europas zu einem zwar nicht endgültigen, aber einem gewissen Abschluss bringen. Dies halte ich für notwendig. Wir brauchen nämlich ein starkes Europa für Wohlstand und Zukunft in Europa selber. Aber angesichts dessen, was auf der ganzen Welt los ist, brauchen wir auch ein starkes Europa als Partner bei den großen Herausforderungen in der Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Hier nenne ich als Beispiel, das durch die Geschehnisse in Japan eine neue Dimension bekommt, die Rohstoffpolitik. Wir müssen uns in Europa mit China über die Rohstoffpolitik auseinandersetzen. Wir müssen uns in Europa mit Fragen der Energiesicherheit auseinandersetzen und uns damit beschäftigen, mit welchen Energieformen wir in die Zukunft gehen. Es ist geradezu absurd, wenn wir in Europa sagen, dass die Sicherheit von Kernkraft vorangetrieben werden muss, wir Ausstiegsszenarien haben - das ist alles in Ordnung - und China uns heute bescheinigt, dass dort so wie bisher weitergemacht wird. Da muss sich Europa um eine Lösung für die ganze Welt bemühen. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Europa muss sich auch darum kümmern, dass Menschenrechte in der Welt nicht nur eine Ausnahme sind und nicht nur Europa ein Hort der Menschenrechte ist, sondern sie in der ganzen Welt geachtet werden. An dieser Stelle muss ich sagen: Ja, es war richtig, dass im Weltsicherheitsrat jetzt eine Entscheidung für Libyen getroffen wurde. Es war aber genauso richtig, dass die Bundesrepublik Deutschland sich aufgrund verschiedener Fragen, die heute noch offen sind, im Sicherheitsrat der Stimme enthalten hat. Sie hat nicht Nein gesagt, sondern nur erklärt: Wir können an diesem Mandat nicht teilnehmen. Aber unsere Solidarität und Unterstützung dort, wo wir sie leisten können, wird morgen mit dem Beschluss zum AWACS-Einsatz dokumentiert. Wir brauchen uns von niemandem vorhalten zu lassen, dass wir im Bündnis kein stabiler Partner seien. ({5}) Im Übrigen rate ich dazu - darum würde ich auch bitten, Frau Bundeskanzlerin -, dass man in Europa darüber spricht und dass wir uns auch ein Bild davon verschaffen, wie die Entwicklung nun in den einzelnen Staaten verläuft. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Wir sorgen jetzt für einen Stopp. - Wir müssen auch dafür Sorge tragen, wie es weitergeht. Ich sehe mit einiger Sorge die Diskussionen um die Verfassungsänderungen in Ägypten. Bis zum heutigen Tag ist nicht sichergestellt, dass auch für koptische Christen in Ägypten Religionsfreiheit gilt. Auch dort müssen wir genauer hinschauen. Wir dürfen nicht einfach schweigen, sondern müssen dafür sorgen, dass dies erreicht werden kann, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Ägypten und Tunesien sind etwas aus dem Blickwinkel verschwunden. Ich habe manchen Umsturz, manche sogenannte Volksbewegung erlebt, beispielsweise im Iran, ohne dass ich behaupten könnte, dass die Verhältnisse für die Menschen vor Ort durch diese Bewegung besser geworden sind, als sie vorher waren. Deswegen kommt es auch darauf an, solche Entwicklungen zu begleiten. Ich würde herzlich darum bitten, dass dies auch ein Thema in Europa bleibt. Herr Steinbrück, natürlich haben Sie mit Ihrer Aussage recht, dass es nicht nur darum geht, in dem Fall, in dem tatsächlich Insolvenz eingetreten ist, zu helfen. Die Euro-Gruppe hat sich im November 2010 mit genau dem von Ihnen angesprochenen Thema befasst und dabei auch ein Ergebnis erzielen können. Wegen der Bedenken der Europäischen Zentralbank hat man gesagt: Im Falle von Problemen, die auf eine Insolvenz hinauslaufen könnten, muss mit den Gläubigern gesprochen werden, dass sie das internationale Regelwerk einhalten. Mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht zu machen. Ich bin aber schon sehr froh, wenn das System der Haftung auch von Privaten eintritt und die Solvenzregelungen, die wir jetzt in dem europäischen Gesamtpaket beschließen, dann auch zum Gesetz gemacht werden können. Im Übrigen sage ich auf die Frage, wer eigentlich für solche Dinge bezahlt, nur Folgendes: Es kommt doch darauf an, zu differenzieren - jetzt in der konkreten aktuellen Situation und für die Zukunft. Herr Steinbrück, Sie haben als Bundesfinanzminister, unterstützt von uns, doch genau diesen Weg beschritten. Sie haben doch die Hypo Real Estate mit Steuergeldern finanziert, um sie zu retten. Sie haben dabei nicht gefragt, wo private Gläubiger sind. Auch Sie haben das gemacht. Die Frage ist doch: Was geschieht in der Zukunft? Herr Steinbrück, ich wäre angesichts der Verantwortung, die Sie für die katastrophale Situation der WestLB tragen, etwas leiser. ({7}) Ich glaube, dass wir mit dem neuen System auf einem guten Weg sind. Im Übrigen haben wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen, dass wir eine Finanztransaktionsteuer, eine Beteiligung privater Märkte, wollen. Sie wissen als Fachmann doch genauso gut wie jeder andere, dass eine Transaktionsteuer auf nationaler Ebene völliger Unsinn ist und auf europäischer Ebene gerade noch machbar ist. ({8}) - Ja, wissen Sie, man kann natürlich etwas wollen, aber es muss dann auch zu einem Ergebnis führen. - Ich habe mit den verantwortlichen Leuten in Singapur gesprochen. Sie haben gesagt: Führen Sie doch eine nationale Transaktionsteuer ein, führen Sie doch eine europäische Transaktionsteuer ein; dann bauen wir hier drei weitere Türme, damit wir noch mehr in Singapur abwickeln können. - Das Ganze treibt die Finanzaktivitäten aus Europa und aus unserem Land heraus. Deswegen sollte man an diesem Rednerpult als Fachmann, der Sie sind, nicht so unverantwortlich daherreden. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bankenabgabe, die diese Koalition durchsetzt, hat zu mancher Diskussion geführt; aber sie ist richtig. Sie sorgt dafür, dass diejenigen, die sich an entsprechenden Risiken beteiligen, die Haftung dafür übernehmen müssen. Herr Gysi, jetzt nur ein Satz zu Ihnen. ({10}) Wissen Sie, ich halte es schon für einen großen Unsinn, das Staatsbankensystem der DDR als Modell für Deutschland zu betrachten. ({11}) Nur darüber haben Sie geredet. Sie haben davon gesprochen, dass die Europäische Zentralbank der Deutschen Bank einen Kredit gibt und dafür 1 Prozent Zinsen verlangt. Dazu kann ich Ihnen sagen: Das war eine Maßnahme in der Krise, weil nur so einigermaßen günstig Kredite an die mittelständische Wirtschaft ausgereicht werden konnten, wodurch Arbeitsplätze erhalten worden sind; das war entscheidend. Aber das haben Sie, Herr Gysi, noch nie kapiert. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße es auch wegen der deutschen Haushaltssituation außerordentlich, dass die Bundeskanzlerin bei den Verhandlungen darauf drängen wird, die Einlage der notwendigen Barmittel über einen längeren Zeitraum zu verteilen, sodass wir es besser mit unseren Haushaltszielen in Einklang bringen können. Ein letzter Hinweis: Ja, wir nehmen die Beurteilung Europas in der Öffentlichkeit sehr bewusst wahr. Insofern liegt in diesen Regelungen, die wir auf den Weg bringen, die große Chance, den Menschen zu erklären, dass es sich hier nicht um rein finanztechnische Maßnahmen handelt, sondern es schlicht und ergreifend darum geht, die Zukunftsfähigkeit Europas zu erhalten. Wir wissen: Deutschland ist unser Vaterland, aber Europa ist unsere Zukunft. Ohne Europa werden wir nie stark genug sein, um in der Welt im Wettbewerb bestehen zu können. Deshalb ist die Maßnahme, die wir auf den Weg bringen, im Interesse Deutschlands, aber auch im Interesse ganz Europas. Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, 68 Prozent bzw. 71 Prozent der Bevölkerung - so eine andere Umfrage - halten Ihr Atommoratorium für ein bloßes Wahlkampfmanöver. ({0}) Das taten sie schon, bevor Herr Brüderle diese Wahrheit auch noch ausdrücklich beim Bundesverband der Deutschen Industrie protokollieren ließ. ({1}) Was heißt das? Die Glaubwürdigkeit der deutschen Bundeskanzlerin ist in einer zentralen Frage beschädigt. Dafür gibt es jenseits dieses Themas einen Grund. Sie machen nicht viel richtig, aber selbst wenn Sie mal etwas richtig machen, machen Sie es ({2}) verkehrt. ({3}) Es ist richtig - ich erläutere das gern für Sie, Frau Homburger -, skeptisch gegenüber einer deutschen Beteiligung an der Militäroperation in Libyen zu sein. Es war falsch, sich deswegen im Sicherheitsrat zu enthalten. ({4}) Es ist richtig, dass wir dort dringend ein Waffenembargo brauchen. Es ist aber falsch, sich anders als selbst die Türkei nicht an der Durchsetzung dieses Waffenembargos zu beteiligen. ({5}) Es ist richtig, dass wir ein konsequentes Ölembargo für Libyen brauchen, aber es ist peinlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich genau dazu der Europäische Rat nicht wird durchringen können. Das kennzeichnet diese Politik. ({6}) Dann stellt sich die Frage, wie handlungsfähig wir sind. ({7}) Mit dem Satz: „Selbst da, wo Sie mal etwas Richtiges machen, machen Sie es verkehrt“, ist Ihre Haltung eigentlich noch freundlich beschrieben. Sie dementieren häufig das, was Sie richtig machen. Sie reden national, geben bei der Bild die „Eiserne Lady“, und am Ende sehen Sie sich gezwungen, europäisch zu handeln. Das führt Sie in die verblüffende Situation, dass Sie hier permanent Niederlagen als Siege verkaufen müssen. Liebe Frau Homburger, wenn Sie sagen, die Opposition sei so scharf auf die Euro-Bonds, ({8}) muss ich Sie darauf hinweisen: Es war der Christdemokrat Jean-Claude Juncker, der den Vorschlag gemacht hat. ({9}) Es ist die Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, Frau Goulard von den französischen Liberalen, die genau dies fordert. ({10}) Also hören Sie auf, das bei anderen abzuladen, meine Damen und Herren. ({11}) Eine der Wahrheiten ist, dass Sie heute Bedenken nachkommen, die wir bei der Einrichtung des Stabilitätsmechanismus in der ursprünglichen Form einer Luxemburger Zweckgesellschaft kritisiert haben. Heute legen Sie zwar kein vergemeinschaftetes Modell vor, aber wenigstens schaffen Sie eine völkerrechtliche Grundlage für diesen Stabilitätsmechanismus. Das ist nicht befriedigend, aber ein Schritt in die richtige Richtung. ({12}) Aber nach wie vor täuschen Sie die deutsche Öffentlichkeit über die Ursachen dieser Finanzkrise. Sie hat drei Ursachen: Auf der einen Seite ist das die überbordende staatliche wie private Verschuldung, auf der anderen Seite sind es Leistungsbilanzungleichgewichte, und es ist die Schwäche europäischer Banken. Das lässt sich eben nicht auf das wahnwitzige Modell Griechenlands mit seiner Staatsverschuldung reduzieren. Sie wissen sehr genau, dass Irland und Spanien nach den Maastricht-Kriterien lange Zeit Musterknaben waren, von denen sich Deutschland zwar hätte eine Scheibe abschneiden können, die aber das Problem massiver privater Überschuldung hatten. ({13}) Wir brauchen den Stabilitätspakt. Er ist notwendig, aber er ist nicht hinreichend. Das dämmert Ihnen; Sie ha11270 ben das an dieser Stelle zugegeben. Es kann eben nicht dauerhaft gut gehen, dass die einen nur exportieren und die anderen nur importieren, meine Damen und Herren. Wenn wir uns aber in dieser schwierigen Situation befinden und wenn eine der Ursachen dafür die Schwäche des europäischen Bankensektors ist, dann gehört es auch dazu, dass Sie als deutsche Bundeskanzlerin den Mut haben, zu sagen, dass zur Rettung von Finanzmärkten - so schwer das allen fällt; ich glaube, das geht allen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause so - auch gehört, Banken retten zu müssen. Nur muss man dann den Mut haben, Frau Bundeskanzlerin, diese bittere Wahrheit auszusprechen. ({14}) Aber Sie vermeiden das, weil Sie wissen, dass Ihnen dann Ihr Koalitionsladen um die Ohren fliegt. Die FDP hat lautstark verkündet, wenn es zu einer Aufstockung des Rettungsfonds käme, dann würde sie die Koalition beenden. Das ist eine interessante Aussage. Der Rettungsfonds ist aufgestockt worden - das ist beschlossen -, und was macht Herr Westerwelle? Er enthält sich wahrscheinlich jeden Kommentars. ({15}) Sie sagen: Der Rettungsfonds, der Europäische Stabilitätsmechanismus, darf in Zukunft sogar Anleihen von Staaten kaufen. Der EFSF darf das schon jetzt. ({16}) Aber es ist eigentlich egal, ob die Europäische Zentralbank, der ESM oder der EFSF das macht. Sie behaupten, es gäbe keine Haftungsgemeinschaft. Natürlich gibt es die. Wenn die Anleihen ausfallen, ist Deutschland mit einem guten Viertel daran beteiligt. Wegen zusätzlicher Risikovorsorge hat die Bundesbank sogar weniger Gewinn überwiesen. Beim ESM sind wir mit 22 Milliarden Euro größter Geldgeber. Die Garantien kommen noch hinzu. ({17}) Wofür sind die Garantien denn gut, liebe Frau Homburger, wenn nicht, um schwächelnden EU-Staaten unter die Arme zu greifen? Das, was hier beschlossen wird, ist nichts anderes als eine Haftungsgemeinschaft. Ich sage Ihnen: Es ist auch gut so, dass das eine Haftungsgemeinschaft ist. ({18}) Sie haben in einem Antrag geschrieben, dass der Deutsche Bundestag erwartet, dass gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme ausgeschlossen werden. Meine Damen und Herren, was ist denn mit den irischen Anleihen im Wert von 77 Milliarden Euro, die bei der EZB liegen? Wenn die ausfallen, sind wir in Deutschland mit dabei. ({19}) Deutschland steht schon lange für die Schulden anderer Länder ein. Hören Sie auf, diese einfache Tatsache gegenüber der Bevölkerung vertuschen zu wollen. ({20}) Das hilft nämlich nicht weiter. Am Ende kommt so etwas immer heraus. ({21}) Zu der Frage einer einfachen Verlängerung haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Regierungserklärung vom 27. Oktober 2010 gesagt - ich zitiere -: Eine einfache Verlängerung [des derzeitigen Rettungsschirms] … wird es mit Deutschland nicht geben. ({22}) Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, bei dem … private Gläubiger beteiligt werden. ({23}) Was ist der Fall? Wir haben eine Überführung. Der ESM ist die Fortschreibung des EFSF. ({24}) Die Gläubigerbeteiligung wird nur unter äußerst engen und restriktiven Bedingungen und keinesfalls automatisch möglich sein. Das ist Ihr Kurs. Ich kann das fortsetzen. Jahrelang waren Sie gegen eine europäische Wirtschaftsregierung. Jetzt machen Sie eine 180-Grad-Wendung. Damit der Deutsche Bundestag das nicht merkt, haben Sie es am Bundestag vorbei gemacht. Das hat Ihnen den zutreffenden Hinweis des Bundestagspräsidenten eingebracht, es mache sich eine gewisse „Wurstigkeit“ im Umgang mit Gesetzen in diesem Hause durch die Bundesregierung breit. ({25}) In der Sache ist der Schwenk in Richtung Wirtschaftsregierung richtig. ({26}) Aber welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Sie wollen bei den anderen etwas ändern, aber nicht bei sich selbst. Leistungsbilanzungleichgewichte haben aber zwei Seiten und nicht nur eine Seite. Über die Frage der Stärkung der Binnennachfrage muss man nicht nur im Zusammenhang mit dem Mindestlohn reden. Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen zu Recht, dass es keine dauerhafte Abkopplung der Lohnentwicklung von der Produktivität geben kann, und sind deswegen gegen die automatischen Lohnindizes in anderen europäischen Staaten. Das gilt aber auch umgekehrt. Es kann auch keine dauerhafte Entkopplung der Lohnentwicklung von der Produktivität in der Form geben, dass die Reallohnquote permanent sinkt, was in Deutschland der Fall ist. Das ist ein Defizit, das wir in Deutschland endlich und schnell beheben müssen. ({27}) Ich komme auf die berühmten Euro-Bonds zurück, die die Europäische Union auflegt, also zu den Kreditgarantien. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit stärken wollen, wenn wir beispielsweise mehr in den Ausbau der Netze oder den Bereich Ausbildung investieren wollen, dann müssen wir nicht nur den Haushalt umbauen. Darauf hat der Kollege Steinbrück zu Recht hingewiesen. Wenn man, wie jetzt vorgeschlagen, auf Projekt-Bonds zurückgreift, was ist das anderes als eine andere Form europäischer Verschuldung? ({28}) Ich sage: Es ist richtig, diesen Weg zu gehen. Hören Sie auf, zu sagen, Sie seien gegen Euro-Bonds. Sie haben dem Kind nur einen anderen Namen gegeben. Das ist die Wahrheit. ({29}) Fahren wir fort. Frau Merkel, Sie haben heute hier gesagt: „Es wird … weder regelmäßige noch dauerhafte Transferleistungen geben.“ Das legt die Frage nahe, ob es unregelmäßige oder gelegentliche Transferleistungen gibt. Ich möchte Ihnen eines in aller Deutlichkeit sagen: Dieses Europa ist, seit es es gibt, eine Transferunion. Kohäsionsfonds, Gemeinsame Agrarpolitik - all dies sind Transfers. ({30}) Diese Transfers sind zum politischen und ökonomischen Vorteil auch und gerade Deutschlands.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deswegen kann man es nicht weiterhin für Führung halten, in Deutschland nationale Reden zu halten und am Ende vom gemeinsamen Europa dazu gezwungen zu werden, vernünftig zu sein. ({0}) Das verschärft die Europafeindlichkeit und die Europamüdigkeit. Führung, liebe Frau Bundeskanzlerin, besteht darin, in Europa die Richtung anzugeben. Doch da herrscht bei Ihnen ein erklecklicher Mangel. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Link das Wort.

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Trittin hat gerade in der Debatte gesagt, dass der EFSF bereits jetzt Anleihen aufkaufen dürfe. Er hat offengelassen, an welchem Markt, aber die Aussage war klar. Ich möchte das ganz eindeutig richtigstellen: Der EFSF darf keine Anleihen aufkaufen. Wir müssen bei diesem wichtigen Thema schon bei der Wahrheit bleiben, Kollege Trittin. ({0}) Er hat des Weiteren dargestellt, dass wir ohnehin schon jetzt eine Transferunion hätten. Richtig: Wir haben Struktur- und Kohäsionsfonds. Auch die FDP steht zu Struktur- und Kohäsionsfonds. Wir können uns jetzt zwar gern über die Bedeutung des Wortes „Transferunion“ unterhalten. Aber die entscheidende Botschaft dieser Debatte ist, dass es durch den ESM keine Haftungsgemeinschaft und auch keine Ausweitung der Transfers gegenüber dem gibt, was bereits jetzt in den Verträgen zur Struktur- und Kohäsionspolitik steht. Das, lieber Kollege Trittin, was wir jetzt bei der Unterstützung für die weniger entwickelten Regionen solidarisch machen, ist etwas völlig anderes als das, was der ESM bezüglich einer Nothilfe in einzelnen Fällen macht. Eine Transferunion werden Sie hier auch mit noch so vielen rhetorischen Tricks nicht herbeireden können, eine Haftungsunion schon gar nicht; denn diese ist durch die Verhandlungslinie der Bundesregierung erfolgreich verhindert worden. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung, bitte, Herr Kollege Trittin.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege, zum Ersten: Ich wiederhole gerne mein Beispiel, das ich gerade genannt habe. Bei der Europäischen Zentralbank liegen 77 Milliarden Euro Staatsanleihen aus Irland. ({0}) Wenn diese 77 Milliarden Euro fällig werden, haften wir dafür. Welchen Grund gibt es, hier öffentlich zu bestreiten, dass es eine Haftungsgemeinschaft gibt? Das ist völlig absurd. ({1}) Jetzt kommen wir zum Zweiten: Dabei geht es um mehr als Technik. ({2}) - Ich habe ein Faktum festgestellt. Ich weiß, dass Ihnen das wehtut. ({3}) - Lieber Kollege Fricke, es gibt diese Staatsschulden. Sie sind von der EZB aufgekauft worden. Wir haften, wenn sie fällig werden. Das ist eine Haftungsgemeinschaft. Um dieses simple Faktum kommen Sie nicht herum. ({4}) Über die FDP muss ich mich zunehmend wundern. Sie hatten einen Außenminister, an den sich viele sozusagen als Benchmark erinnern, nämlich Hans-Dietrich Genscher. Er hat in der Frage der Notwendigkeit eines gemeinsamen Europas, in der Frage der Behebung von Wettbewerbsschwächen und in der Frage, ob man dieses Europa öffnen soll, gerade nach Osteuropa, immer wieder für dieses gemeinsame Europa gestritten. ({5}) Eine der Voraussetzungen dieses gemeinsamen Europas war, dass wir gemeinschaftlich darangegangen sind, auch und gerade die Wettbewerbsfähigkeit von Beitrittsländern, von schwachen Ländern anzuheben. Die gesamte Erweiterungspolitik ist von Anfang an und permanent davon geprägt, dass es Transfers aus wirtschaftlich stärkeren Regionen in schwächere Regionen gibt. ({6}) Das hält, übrigens auch in dem Krisenmechanismus, bis heute an, indem wir Liquidität von starken Ländern in schwächere Länder transferieren. ({7}) Dies geschieht übrigens mit Ihrer Zustimmung. Ich frage Sie: Welchen Grund gibt es, dass Sie diese Errungenschaft Europas, die die Weiterentwicklung Europas so befördert hat - dies war übrigens auch wirtschaftlich zu unserem Nutzen -, permanent in öffentlichen Veranstaltungen denunzieren? Transfer ist kein Grund zur Denunzierung, Transfer ist eine Grundlage dieses gemeinsamen Europas. Wer das in Abrede stellt, versündigt sich am gemeinsamen Gedanken Europas. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Gunther Krichbaum für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Steinbrück. Ich hätte mich gern mit noch mehr Rednern der Opposition auseinandergesetzt. Es hat wahrscheinlich einen tieferen Sinn, dass hier von allen Fraktionen die Fraktionsvorsitzenden gesprochen haben und nur die SPD-Fraktion davon abgesehen hat; aber das ist eine andere Geschichte. ({0}) Zum Inhalt Ihrer Rede: Das, was Sie gemacht haben, bringt uns überhaupt nicht weiter. Es war rückwärtsgewandt und zu großen Teilen besserwisserisch. Genau das brauchen wir in Europa und in den europapolitischen Debatten nicht. ({1}) Ein Zweites. Es bedarf einer bestimmten Chuzpe, um nicht zu sagen: einer bestimmten Dreistigkeit, sich hier hinzustellen und solch eine Rede zu halten, wenn man weiß, dass man selbst - ich denke an das Jahr 2003 - einen aktiven Beitrag zu den heutigen Problemen geleistet hat, nämlich die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Vieles von dem, was wir heute reparieren müssen, ist diesem Umstand geschuldet. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt noch nicht, ({0}) auch wenn es mich freut, dass meine Rede offensichtlich schon zu einem frühen Zeitpunkt dazu führt, dass der Blutdruck der Oppositionsfraktionen steigt. Noch ein Letztes zu Ihrer Rede. Sie werfen der Bundesregierung vor, dass die Märkte schneller reagiert hätten. Ich kann dazu nur sagen: Es gibt in der Politik den Anspruch, dass man nicht alles in vorauseilendem Gehorsam macht. Die Ratingagenturen weltweit, alles in allem drei Stück, haben meiner Ansicht nach schon etwas zu viel zu sagen; aber offensichtlich sehen Sie das anders. Man muss wissen: Wenn Entscheidungen in Europa getroffen werden, dann werden diese anders getroffen als hier bei uns im Bundestag oder in den Parlamenten anderer Mitgliedstaaten. In Europa sind Kompromisse gefragt. Genau diese waren auch in diesem Fall erforderlich. Ich bin der Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin Merkel und vor allem unserem Bundesfinanzminister und seinem gesamten Haus sehr dankbar, dass sich jetzt in dem sogenannten Europäischen Stabilisierungsmechanismus, kurz ESM, die wesentlichen deutschen Positionen wiederfinden. Dazu sage ich nachher noch mehr. ({1}) Ich glaube, es ist gerade in diesen Tagen wichtig - bei so manchem Kommentar, den man liest oder hört, wird das deutlich -, dass wir darauf hinweisen, warum wir das alles überhaupt machen. Es war sicherlich von großem Nutzen, dass wir heute in der Regierungserklärung von Frau Bundeskanzlerin Merkel nochmals gehört haben, was der konkrete Nutzen auch für uns, für die Menschen in Deutschland ist. Sicher ist: Die Maßnahmen sind im Interesse von Europa. Aber sicher ist auch: Sie sind im Interesse Deutschlands. Wir vergessen oft und allzu sehr, warum wir die gemeinsame Währung, warum wir den Euro seinerzeit aus der Taufe gehoben haben. Zwei Drittel aller Exporte der Bundesrepublik Deutschland gehen in Länder der Europäischen Union und sichern damit Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland. Wie sah es denn früher aus? Auf- und Abwertungen und Währungsaufkäufe bestimmten das Bild, mit allen damit verbundenen Belastungen für die deutsche Wirtschaft. In der Vergangenheit war es so, dass sogenannte Fremdwährungsrisiken abgesichert werden mussten, damit die deutsche Wirtschaft mehr Planbarkeit hatte. Diese kosteten Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbetrag. Jahr für Jahr kam es durch den Euro in der deutschen Wirtschaft und im Mittelstand zu größeren Einsparungen, als sie dieses Haus mit jeder Unternehmensteuerreform hätte erzielen können. Es ist wichtig, das alles zu erwähnen und in Erinnerung zu rufen. Hinzu kommt: Der Euro war in seiner Vergangenheit stabiler, als es die D-Mark je war; auch dies gerät allzu häufig in Vergessenheit. Mit anderen Worten: Hätten wir ihn nicht, müssten wir ihn heute geradezu erfinden. Jetzt zurück zu den Maßnahmen. Wir wollen mehr Stabilität, und wir wollen mehr Vertrauen. Ich glaube, dies gelingt auch. Der bevorstehende Europäische Rat wird sich natürlich schwerpunktmäßig mit dem sogenannten ESM auseinandersetzen. Aber dies ist eigentlich erst der dritte Schritt in einer logischen Kette. Der erste Schritt ist die Schärfung und Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, beispielsweise dadurch, dass die Mitgliedstaaten ihre Haushalte in Zukunft auch in Brüssel vorlegen - Stichwort: Europäisches Semester -, nicht weil sich Brüssel zum Oberaufseher machen möchte, sondern weil man dann frühzeitig auf Schieflagen hinweisen kann. Denn viele Probleme, über die wir uns heute beklagen, hätten wir nicht bekommen, hätten wir nur früher gehandelt. Es ist wichtig, dass wir diese Maßnahme jetzt treffen und damit auch zu mehr Stabilität und zu mehr Planbarkeit kommen. Der zweite Schritt ist der Pakt für den Euro, der uns zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen wird. Um eines aufzuzeigen, Herr Kollege Steinbrück: Der Erfolg, den die Bundesrepublik Deutschland hat, ist nicht zeitgleich der Misserfolg der anderen Länder, vor allem der Partnerländer in Europa. So war Ihre Rede an diesem Punkt allerdings zu verstehen. Genau das wäre aber nicht der Fall. ({2}) Die anderen Länder profitieren geradezu davon, dass wir in Deutschland eine wettbewerbsstarke Position haben. Das geht nicht auf Kosten der anderen. ({3}) Es sind keine kommunizierenden Röhren. ({4}) Der dritte Schritt ist der Europäische Stabilisierungsmechanismus. Er ist die Ultima Ratio und greift nur dann, wenn sich ein Land selbst nicht mehr helfen kann. Dann ist es dazu verpflichtet, ehrgeizige, beherzte Reformprogramme vorzulegen. Dann folgt eine Schuldentragfähigkeitsanalyse - auch dies wurde heute Morgen schon angesprochen - von Europäischer Kommission, IWF und EZB. Nur dann, wenn der Euro als Ganzes in Gefahr ist - ich wiederhole: nur dann; hier gibt es kein Oder -, wird unterstützend gehandelt. Ein Letztes - weil es hieß, dass die Beteiligung der privaten Gläubiger nicht ausreichend sei -: Sehr verehrter Herr Kollege Steinbrück, Sie stehen im politischen Leben und wissen, was in Verhandlungen realistisch ist und was nicht. Fakt und Realität ist, dass in diesen Verhandlungen nicht mehr drin war. Trotzdem findet sich die Handschrift Deutschlands auch hier wieder. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich aus einem Papier zitieren. Darin heißt es: Wird bei der Schuldentragfähigkeitsanalyse festgestellt, dass eine Rückführung der öffentlichen Verschuldung mithilfe eines makroökonomischen Anpassungsprogramms auf eine nachhaltige Grundlage nicht realistisch ist, wird das Empfängerland verpflichtet, aktiv in Verhandlungen nach Treu und Glauben mit seinen Gläubigern einzutreten, um diese unmittelbar in die Wiederherstellung der Schuldentragfähigkeit einzubinden. Die Gewährung von Finanzhilfen steht unter dem Vorbehalt, dass der Mitgliedstaat diesbezüglich ein plausibles Sanierungskonzept vorlegt und sich zu einer angemessenen und verhältnismäßigen Beteiligung des Privatsektors verpflichtet. So weit das Zitat. Hier wurde nicht umsonst eine Beteiligung der privaten Gläubiger vorgesehen, gerade auch auf Druck der Bundesrepublik Deutschland. Denn unsere Position, die Position der Bundesregierung, ist, dass wir diejenigen, die an den entsprechenden Papieren verdienen, in die Haftung einbinden wollen. Ein Allerletztes: Ich glaube, dass gerade die Europäische Union hiermit ihre Hausaufgaben gemacht hat. Wenn ich an andere Stellen dieser Welt schaue, beispielsweise in die USA, in denen die Verschuldung 14 Billionen Dollar beträgt, dann fürchte ich, wir werden uns in Zukunft mit anderen Ecken dieser Welt noch näher beschäftigen müssen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Krichbaum, ich möchte auf den Beginn Ihrer Ausführungen zurückkommen. Begonnen haben Sie damit, Sie wollten sozusagen Ihren Blick in die Zukunft richten. Als Nächstes haben Sie gesagt, Sie müssten aber etwas zur Änderung des Stabilitäts- und Wachstumspakts unter Rot-Grün im Jahre 2003/2004 sagen. Nehmen Sie und vielleicht auch das ganze Haus, insbesondere die Kollegin Fraktionsvorsitzende der FDP, die das immer fälschlich behauptet, doch bitte zur Kenntnis: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist in der Tat unter anderem auf Initiative von Deutschland im Jahre 2003/2004 geändert worden. Der so geänderte Stabilitäts- und Wachstumspakt ist durch die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, zusammen mit dem damaligen Bundesfinanzminister, Herrn Steinbrück, im November des Jahres 2005 gegenüber dem Währungskommissar Almunia ausdrücklich bestätigt worden. Diese Bundesregierung hat auch keinerlei Initiativen unternommen, wesentliche Änderungen rückwirkend sozusagen wieder abzuwickeln. Keinerlei Versuch ist unternommen worden. ({0}) Wenn man das Bundesfinanzministerium fragt, warum nicht, dann wird das Bundesfinanzministerium antworten: Ja, weil die allermeisten dieser Maßnahmen sinnvoll sind und waren. Wenn ich das Haus abschließend noch darauf aufmerksam machen darf, dass die so hochgelobte Schuldenbremse, die wir mit breiter Mehrheit dieses Hauses und mit Zustimmung des Bundesrates in die Verfassung geschrieben haben, genau diesem so geänderten Mechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspakts nachgebildet worden ist, dann frage ich Sie: Sind Sie angesichts dessen endlich einmal in der Lage, diese unzutreffenden Behauptungen sein zu lassen, oder wollen Sie in Zukunft auch die Schuldenbremse nicht mehr haben? Sie entspricht genau demselben Mechanismus. Haben Sie das einfach noch nicht verstanden, oder was ist los? ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Herr Kollege.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hendricks, die Bundeskanzlerin hat heute Morgen in ihrer Regierungserklärung genau diesen Blick zurück nicht gemacht. Sie hätte hier sehr wohl anfügen können, warum wir diesen Reparaturbetrieb überhaupt haben aufmachen müssen. Sie hat darauf verzichtet, ({0}) im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Steinbrück. Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer hier diese Baustelle aufmacht, der muss sich dann auch anhören, warum wir diesen Schlamassel heute überhaupt zu beseitigen haben. ({1}) Was war nämlich der Grund? ({2}) - Jetzt hören Sie auch einmal zu. - Der Grund war, dass Deutschland damals zusammen mit Frankreich in einer verhängnisvollen Entente cordiale - um vielleicht einen belegten Begriff zu benutzen ({3}) genau für die Aufweichung des Stabilitätspaktes gesorgt hat, was dann nachher als Sündenfall und Blaupause dafür diente, dass andere, auch kleinere Länder hinterher kamen und genau diese Tarife aufgeweicht wurden, für die sich damals Helmut Kohl und auch Theo Waigel nicht ohne Grund eingesetzt hatten, sodass wir genau diese scharfen Mechanismen bekommen haben. ({4}) Es ist Ihnen unter der damaligen Regierung nichts anderes eingefallen, als genau diese harten Kriterien aufzuweichen. ({5}) Dadurch wurde Vertrauen vergeudet. Da wurde Vertrauen verspielt. Deswegen haben wir heute viel von dem Schlamassel zu beseitigen, den Sie damals angerichtet haben. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/ CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer den Euro stabilisieren will, der muss zum Stabilitäts- und Wachstumspakt und zu einer soliden Stabilitätskultur zurückkehren. Wenn wir die Ereignisse in Portugal betrachten, dann fällt schon auf, dass dieser Staat im Moment Schwierigkeiten hat, die Vorgaben des bestehenden Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten. Also, offenbar ist der Druck von außen manchmal notwendig und auch heilsam. Aber es führt an der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten kein Weg vorbei. Das gilt auch für das zweite Ziel, das wir mit unseren Maßnahmen hier verfolgen, nämlich, die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Wir müssen erreichen, dass sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten der Euro-Zone wieder einander annähert. Dazu ist sicherlich eine Koordination erforderlich. Vor allem braucht man dafür aber eigene Anstrengungen und den Mut zu eigenen Reformen. Der Kern der Vereinbarungen wird der Europäische Stabilisierungsmechanismus sein. Ich bleibe dabei, dass Finanzhilfen nur dann Sinn machen, wenn zugleich ein Regime zur Umstrukturierung von insolventen Banken und Staaten besteht. Wir müssen Umschuldungen ermöglichen. Dabei müssen wir die Beteiligung der Gläubiger durchsetzen. Deshalb bleibe ich dabei, dass der Schuldenankauf auf dem Primärmarkt aus meiner Sicht problematisch zu bewerten ist. Wir dürfen nicht dahin kommen, dass aus nationalen Schulden vergemeinschaftete Schulden werden. Meine Damen und Herren von der SPD, das, was Sie in Ihrem Antrag heute fordern, nämlich dass man eine Gemeinschafts- und Verbundhaftung einrichtet, genau das wollen wir nicht. Das dürfen wir nicht, und deswegen lehnen wir das entschieden ab. ({0}) Finanzhilfen müssen teures Geld bleiben; denn wer Hilfe bekommt, muss einen Anreiz haben, dass er von dieser Hilfe auch wieder wegkommt. Herr Bundesfinanzminister, deswegen bitte ich Sie, dass Sie sich dafür einsetzen, dass die Zinsen für Kredite im Rahmen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus höher als die Zinsen für Kredite des Internationalen Währungsfonds sind. Diese IWF-Kredite sind vorrangig vor den europäischen Krediten, und deswegen müssen die europäischen Kredite teurer sein. Ich halte es für unabdingbar, dass die Kreditvergaben unter den Mitgliedstaaten der Euro-Zone im Einvernehmen beschlossen werden. Ich frage aber schon, wieso bei der Vergabe von Krediten auch Staaten mitstimmen sollen, die zur Finanzierung dieser Kredite nichts mehr beitragen, weil sie sich selbst schon unter dem Rettungsschirm befinden. Ich bitte, darauf zu achten, dass hier kein Hebel entsteht, wodurch ein Mitgliedstaat, der selbst schon Hilfe erhält, eine bessere Vereinbarung und verbesserte Kreditkonditionen durchsetzen kann, weil seine Zustimmung zur Kreditvergabe an einen dritten Staat gefragt ist. Auch hier bitte ich, dass wir uns die Dinge noch einmal genau überlegen. Ich bin schon überrascht darüber, was ich heute aus den Reihen der SPD zur Mitwirkung des Europäischen Parlaments hören musste. Wir vereinbaren eine Hilfe zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-Zone. Deswegen muss die Kontrolle dieser Hilfen in den Händen der Parlamente der Mitgliedstaaten liegen. Wer zahlt, schafft an. ({1}) Ich sehe überhaupt keine Grundlage für das Angebot der Europäischen Kommission, hierzu jetzt eine Verordnung zu erlassen. ({2}) Wer eine Vergemeinschaftung in der Form will, dass das Europäische Parlament beteiligt wird, der muss zur Kenntnis nehmen, dass eine Veränderung im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren überhaupt nicht mehr möglich ist. Sie müssen sich also schon entscheiden, was Sie wollen. Ich habe diesem sogenannten Term Sheet, das uns in dieser Woche vorgelegt worden ist und auf dessen Grundlage die weiteren Verhandlungen jetzt stattfinden sollen, zwei Punkte entnommen, durch die Fragen aufgeworfen werden, und ich bitte, hier nachzusteuern: Hinsichtlich der Instrumente des Europäischen Stabilisierungsmechanismus ist angedacht, dass die Finanzminister ermächtigt werden, die Regeln autonom zu verändern. Die Frage, ob das eine Kompetenzübertragung darstellt, darf man stellen. Ich bitte darum, dass wir keine Bereiche schaffen, die der parlamentarischen Kontrolle entzogen werden. ({3}) Gleiches gilt für die Möglichkeit, eine Übergangsregelung für die Gläubigerbeteiligung bei diesen sogenannten Collective Action Clauses zu schaffen. Eine Übergangsregelung bis Ende 2011 würde bedeuten, dass wir nicht absehen können, was nach der Beschlussfassung über diesen Europäischen Stabilisierungsmechanismus noch folgt. Deswegen glaube ich, dass es notwendig ist, darauf hinzuweisen: Grundlage für alle diese Veränderungen soll ein neuer Art. 136 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sein, der seinerseits aber so unbestimmt ist, dass konkretisiert werden muss, welche Folgen das zeitigen kann. Diese Grundlage kann nur dadurch bestimmbar werden, dass wir völlig unzweideutig regeln, nach welchen Verfahrensweisen Finanzhilfen gewährt werden sollen. Deswegen dürfen wir hier keine Hintertüren offenlassen. ({4}) Ich setze mich dafür ein, dass wir dies auch bei der Umsetzung in nationales Recht beachten, um Lösungen zu finden, die auf dem Boden des Grundgesetzes realisierbar sind. Dazu gehört die Beteiligung des Bundestages. Nach meiner Auffassung muss der Bundestag nicht nur bei der Errichtung dieses Stabilisierungsmechanismus, sondern bei jeder Aktivierung von Finanzhilfen im Einzelfall beteiligt werden, und zwar in Form der vorherigen Zustimmung, ({5}) die konstitutiv für die Gewährung der Hilfe sein soll. Wir sollten es so regeln wie beim Integrationsverantwortungsgesetz: Nur wenn der Bundestag zustimmt, darf auch die Bundesregierung zustimmen. Andernfalls muss sie mit Nein stimmen. Das ist meine Position. ({6}) Wir sollten auch überlegen, ob wir die Ermächtigung für den Europäischen Stabilisierungsmechanismus konditionieren. Die Bundesregierung hat sich gegen Aufkäufe auf dem Sekundärmarkt ausgesprochen. Lassen Sie uns deshalb gesetzlich regeln, welche Instrumente der Finanzhilfe wir zulassen wollen. Wir dürfen nicht am Ende zu einer Vergemeinschaftung von nationalen Schulden kommen. Diesen Rubikon dürfen wir nicht überschreiten. In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierung viel Erfolg bei ihren Verhandlungen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Norbert Barthle für die CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst auf einen weiteren Aspekt eingehen, der mir in der Rede von Herrn Steinbrück aufgefallen ist. Herr Steinbrück hat aufgrund der Tatsache, dass die Verhandlungsergebnisse auf europäischer Ebene nicht immer hundertprozentig mit den Verhandlungspositionen kongruent waren, die Glaubwürdigkeit der Bundeskanzlerin infrage gestellt. Ich halte das für sehr bemerkenswert, Herr Steinbrück, zum einen vor dem Hintergrund, dass Sie, soweit ich mich erinnere, früher ganz gut zusammengearbeitet haben, und zum anderen, weil Sie dadurch einen Anspruch erheben, an dem Sie sich selbst messen lassen müssen. Wenn das der Maßstab für Glaubwürdigkeit ist, dann frage ich Sie, ob bei all Ihren Verhandlungen das Ergebnis genau der Position entsprochen hat, mit der Sie in die Verhandlungen hineingegangen sind. Wenn Sie diesen Anspruch an sich selbst erheben, frage ich Sie, wie es mit Ihrer Glaubwürdigkeit aussieht. ({0}) Jetzt aber zum eigentlichen Thema. Ich will zunächst auf die europäische Idee zurückkommen. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht sagen, dass CDU und CSU die Europaparteien in Deutschland sind. Denn die europäische Idee wurde von Anfang an von uns getragen. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter Konrad Adenauer die Annäherung an Frankreich vollzogen. Diese Annäherung war letztendlich Motor und Grundlage der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Weiterentwicklung. Es war ein weiterer Kanzler der Union, nämlich Helmut Kohl, der die europäische Währung verwirklicht hat. Diese Währung hat der Europäischen Union einen ungeheuren Integrationsschub verliehen. Das zeigen auch der im Anschluss erfolgte Beitritt einiger Staaten und die Beitrittswünsche weiterer Länder, die sich alle von der gemeinsamen Währung positive Wirkungen erwarten. Die Einführung einer gemeinsamen Währung war eine historische Zäsur. Damals gab es viele, die daran gezweifelt haben, ob es möglich ist, eigenständige Nationalstaaten unter einer gemeinsamen Währung zusammenzufassen. Die Väter der Europäischen Währungsunion haben dieses System aber so angelegt, dass es gelingen soll und unumkehrbar ist. Der Blick zurück zeigt uns, dass wir in Deutschland von der Einführung der gemeinsamen Währung am meisten profitiert haben. Denn wo stünden wir heute auch im Hinblick auf die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise, wenn wir keine starke gemeinsame Währung hätten? ({1}) Allein ein Blick auf den Kurs des Schweizer Franken lässt erahnen, was mit der D-Mark passiert wäre, gäbe es diese Währung nicht. Deshalb ist die Stabilität des Euro nicht nur im europäischen Interesse, sondern insbesondere auch im nationalen deutschen Interesse. ({2}) Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es im europäischen Raum in den vergangenen Jahren Tendenzen gab, die zu einer Aufweichung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes geführt haben. Mein Vorredner ist bereits darauf eingegangen. Ich will das nicht wiederholen. Ich will aber auch bemerken, dass wir ein Stück weit Gefangene unseres eigenen Erfolgs sind. Denn die Außenstehenden, die internationalen Finanzmärkte, nehmen den Euro-Raum inzwischen als eine Einheit wahr. Das heißt, wenn ein Mitgliedsland schwächelt, sind auch alle anderen betroffen. Deshalb ist es notwendig, dass wir einen Mechanismus einführen, um gegen einzelne schwächelnde Mitgliedstaaten, von denen eine Ansteckungsgefahr für andere ausgeht, gewappnet zu sein. Bei den Maßnahmen, die wir jetzt ins Auge fassen, geht es um die Verhinderung von Ansteckungen. Wir haben zunächst in einer schnellen Nothilfeaktion den Griechenland-Rettungsschirm und die EFSF aufgebaut, um schnelle Hilfe leisten zu können, ohne dabei die EigenNorbert Barthle verantwortung der betroffenen Partnerländer beiseitezuschieben. Es ist wichtig, auch künftig Hilfe zu leisten aber nur unter streng kontrollierten Auflagen. Es ist ein großer Erfolg der deutschen Verhandlungsführung, wichtige Punkte in diesem Regelwerk durchgesetzt zu haben. Ich danke ganz besonders Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, die klug verhandelt haben, indem immer wieder sehr weitgehende Forderungen eingebracht wurden. Deshalb können wir jetzt davon ausgehen, dass sich viele unserer Grundkonstanten im Verhandlungsergebnis abbilden werden. Auch das ist nicht nur im Interesse Europas, sondern das ist auch im Interesse der deutschen Bürgerinnen und Bürger. Wer dies ausblendet, Herr Kollege Trittin, der zündelt an dem Haus, in dem wir gemeinsam wohnen. Alle, die hier Skepsis verbreiten, handeln aus meiner Sicht unverantwortlich. Das Zusammenstehen der Mitgliedsländer in der Europäischen Währungsunion ist in unserem fundamentalen Interesse. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, hat vor wenigen Tagen gesagt - ich erlaube mir, ihn zu zitieren -: … glaube ich nicht, dass Europa sich auch nur den Versuch einer Alternative zur bestehenden Währungsunion leisten sollte. Das zeigt deutlich, dass wir keine ernsthaften Alternativen haben. Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Punkte des Europäischen Stabilitätsmechanismus zusammenfassen. Erstens. Es geht um die Verschärfung des Stabilitätsund Wachstumspaktes in ganz wesentlichen Punkten. Neben einer besseren Haushaltskontrolle - dem sogenannten Europäischen Semester - wird es härtere und schnellere Strafen für Schuldensünder geben. Das betrifft sowohl die Neuverschuldung als auch die Schuldenstandsquote in Relation zum BIP. Davon sind auch wir betroffen; das wissen wir. Unsere Schuldenstandsquote liegt bei annähernd 80 Prozent des BIP, und diese Regelungen werden uns zwingen, die Verschuldung abzubauen. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen werden. Auch das ist nicht nur im europäischen, sondern auch im nationalen deutschen Interesse. Zweite Kernbotschaft: Es entsteht ein Pakt für den Euro. Dieser Pakt für den Euro ist so ausgestaltet, dass sich die Mitgliedsländer verpflichten, ihre Wirtschaftspolitik besser zu koordinieren, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und gemeinsame Ziele zu vereinbaren, die innerhalb von zwölf Monaten realisiert werden sollen. Damit wird es langfristig gelingen, Krisenszenarien, wie wir sie beispielsweise in Irland erlebt haben, zu vermeiden. Das Ganze wird durch ein ständiges Monitoring - die Europäer nennen das Scoreboard - unterstützt, um Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen und beseitigen zu können. Auch das ist sowohl im europäischen als auch im nationalen deutschen Interesse. Die dritte Kernbotschaft ist die Einrichtung eines Rettungsmechanismus mit einem Kapitalstock, über dessen Ausgestaltung meine Vorredner schon hinlänglich berichtet haben. Ich will an dieser Stelle betonen, dass es noch einige offene Fragen zur Ausgestaltung dieses Kapitalstocks gibt. Insbesondere stellt sich die Frage, wie die Einzahlung der deutschen Bareinlage von 22 Milliarden Euro in den Jahren ab 2013 gestaltet werden soll. Selbstverständlich geht es auch um die Rechte des deutschen Parlaments bei der Ausgestaltung und dem Einsatz des Krisenmechanismus. Auch diesbezüglich werden wir den Gesetzgebungsprozess konstruktiv und kritisch begleiten, denn wir alle sind daran interessiert, die Rechte des deutschen Parlaments zu wahren. ({3}) Deshalb fordere ich Sie alle auf, an der Ausgestaltung des ESM und an der Gesetzgebung konstruktiv teilzunehmen. Der Bundesfinanzminister hat in diesen Tagen ein schönes Zitat verwendet, das ich aufgreifen möchte: „Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Wir haben keine bösen Nachbarn in Europa; wir sind von guten Nachbarn umgeben. Wir sollten alles dafür tun, dass dies so bleibt, dass nicht aus guten Nachbarn böse werden, weil sie insolvent werden. Lassen Sie uns dies also so ausgestalten, dass wir auch künftig in Frieden und umgeben von guten Nachbarn leben können. Danke. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- ßungsanträge. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5187. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthal- tung der Linken abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5188. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5189. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 a bis e sowie die Zusatzpunkte 4 bis 7 auf: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Auf dem Weg zu einem nachhaltigen, effizienten, bezahlbaren und sicheren Energiesystem - Drucksache 17/5181 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Atomzeitalter beenden - Energiewende jetzt - Drucksache 17/5202 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Verlängerung von Restlaufzeiten von Atom- kraftwerken - Auswirkungen auf die Entwick- lung des Wettbewerbs auf dem Strommarkt und auf den Ausbau der erneuerbaren Ener- gien - Drucksachen 17/832, 17/3089 - d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes - Drucksache 17/3182 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) - Drucksache 17/5148 - Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Breil e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil ({5}), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Energieversorgung in kommunaler Hand - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Energienetze in die öffentliche Hand - Kommunalisierung der Energieversorgung erleichtern - Transparenz und demokratische Kontrolle stärken - Drucksachen 17/3649, 17/3671, 17/5148 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Breil ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine beschleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken - Drucksache 17/5179 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Abschalten der acht unsichersten Atomkraftwerke - Drucksache 17/5180 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Energiewende jetzt - Drucksache 17/5182 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnologien - Drucksache 17/5183 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das Wort. ({9})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bedauere sehr, dass die Bundeskanzlerin, die schon in der Debatte zu ihrer Regierungserklärung weitgehend durch Abwesenheit geglänzt hat, auch nun in der Debatte über das wichtige Thema der zukünftigen Energieversorgung nicht anwesend ist. Das verstärkt die Bedenken, dass das, was zurzeit passiert, nämlich die zeitweilige Rücknahme der Laufzeitverlängerung, mehr ist als nur ein Wahlkampftrick. Am 28. Oktober 2010 hat die Bundesregierung die Verlängerung der Laufzeiten der 17 deutschen Atomkraftwerke beschlossen. Das ist noch kein halbes Jahr her, 21 Wochen genau. Nun gibt es ein sogenanntes Moratorium. Die sieben ältesten Kernkraftwerke werden vom Netz genommen. Innerhalb von drei Monaten sollen sie auf ihre Sicherheit überprüft werden. Fachleute sagen, dass das, wenn es seriös gemacht werden soll, mindestens ein Jahr dauert, eher länger. Was nach diesen drei Monaten passiert, weiß kein Mensch. Wenn man aber diejenigen, die in der Koalition Verantwortung tragen, fragt - die Medien tun das jeden Tag -, dann stellt man fest, dass die Antworten ständig unterschiedlich ausfallen. ({0}) Die einen sagen: Nichts wird mehr so sein wie zuvor. Mit Sicherheit werden nicht mehr alle Atomkraftwerke an das Netz gehen. - Herr Brüderle sagt vor dem BDI: Das muss man nicht so ernst nehmen; das ist letztlich dem Wahlkampf und den Landtagswahlen geschuldet. ({1}) Was vor einem halben Jahr gegen die Interessen der Wettbewerber, der großen Vier, gegen den Rat der Wettbewerbsbehörden - Bundeskartellamt und Monopolkommission - und im Eildurchmarsch durch das Parlament, wie selbst der Präsident des Bundestages Norbert Lammert von der Union beklagt hat, und vorbei am Bundesrat durchgesetzt wurde, war wahrlich kein Meisterstück. Das ist der Kernbestandteil des sogenannten Energiekonzepts dieser Bundesregierung. Ich denke, man kann sich darauf verständigen - das Ablegen eines einfachen Geständnisses wäre eigentlich das Beste, was Sie von der Koalition hier machen könnten -, dass dieses sogenannte Energiekonzept gescheitert ist. Sie haben es durchgezogen - ich habe es gesagt -, und jetzt auf einmal, beispielsweise gestern im Wirtschaftsausschuss, heißt es von den Vertretern der Koalition, auch von Staatssekretär Otto vom Bundeswirtschaftsministerium: Lassen Sie uns gemeinsam an einem Konzept arbeiten. Lassen Sie uns einvernehmlich die Energiezukunft gestalten. Lassen Sie uns das miteinander tun. - Ich höre das gerne. Ich nehme das ernst, und ich nehme das auf. Aber ich sage Ihnen: Ich hätte mir gewünscht, dass das schon vor einem halben Jahr Ihr Angebot gewesen wäre. ({2}) Damals haben Sie vorbei am Parlament und vorbei an denen, die schon vor Jahren Verantwortung übernommen haben, lediglich mit den vier Kernkraftbetreibern Ihren Willen durchgesetzt. Trotzdem wollen wir dieses Angebot aufgreifen. Darüber hinaus wollen wir Ihnen ein Angebot machen. Wenn Sie sich die Anträge anschauen, die heute vorliegen - die von der SPD und die anderen -, dann stellen Sie fest, dass in diesen Anträgen im Einzelnen beschrieben wird, wie die Energiezukunft in Deutschland bei einem beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft und bei einem beschleunigten Einstieg in die erneuerbaren Energien aussehen kann. Die erste Voraussetzung ist, dass Sie es wirklich ernst meinen, dass nicht das gilt, was Brüderle sagt. Gelten muss das Wort derjenigen, die sagen, dass das alles ernst gemeint sei. Lassen Sie die sieben Kraftwerke, die jetzt vom Netz gehen, dauerhaft vom Netz. Lassen Sie auch Krümmel als achtes Kraftwerk dauerhaft vom Netz. Übrigens: Wer sagt, damit sei die Energieversorgung gefährdet, der sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der Sektoruntersuchung des Bundeskartellamts deutlich geworden ist, dass über 25 Prozent der deutschen Kraftwerkskapazität aus unterschiedlichen Gründen ständig vom Netz sind. Es sind nicht immer 100 Prozent am Netz. Das hat nicht nur etwas mit Wartungen zu tun, sondern das hat auch etwas damit zu tun, dass Kraftwerke gelegentlich, wie man sagt, „nicht im Geld“ sind. Wir sollten jetzt dafür sorgen, dass diejenigen Kraftwerke, die Atomkraftwerke ersetzen können, tatsächlich ans Netz gehen und am Netz bleiben. Die zweite Voraussetzung ist, dass Sie endlich das kerntechnische Regelwerk rechtsverbindlich einführen und dafür sorgen, dass hohe Sicherheitsstandards in Deutschland Realität werden. Drittens - auch das beinhaltet einer unserer Anträge -: Verzichten Sie auf Hermesbürgschaften, auf die Kreditversicherung von Atomprojekten im Ausland, zum Beispiel in Brasilien. ({3}) Wenn Sie sich dieses Projekt anschauen, dann sehen Sie, dass es in einem erdbebengefährdeten Gebiet realisiert werden soll. Dort gab es schon in der Vergangenheit Vorfälle. Dort sind beispielsweise schon Maschinenhäuser der Kraftwerksgeneration, die zunächst gebaut wurde, abgesackt. Das sollte Warnung genug sein, gerade nach den Ereignissen in Japan. In einem unserer Anträge beschreiben wir im Einzelnen, wie der Systemumbau in Richtung von erneuerbaren Energien gelingen kann, sodass Energie bezahlbar bleibt, sodass sie sauber und sicher ist. Wir beschreiben in einem zweiten Antrag, wer die Träger dieses Umbaus sein können. Das sind nicht die Großen, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern das sind eher mittelständische Unternehmen und in starkem Maße auch die kommunalen Stadtwerke. Schauen Sie sich diese Anträge an, nehmen Sie sie ernst - ich hätte das der Kanzlerin gerne per11280 sönlich gesagt -, und laden Sie die Fraktionen des Deutschen Bundestags zu konkreten Gesprächen ein. Verlagern Sie die Diskussion nicht in Kommissionen. Wir brauchen keine Ethikkommission. Wir haben bewiesen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, ({4}) dass wir mit diesem Thema verantwortungsbewusst umgehen. Das muss uns nicht von außen gesagt werden. Im Übrigen gibt es Stimmen von außen schon lange. Wir haben sie schon lange ernst genommen. Also: Ein Herr Töpfer, den wir sehr schätzen, wird in der geplanten Kommission im Grunde genommen verheizt. Wir hätten ihn gerne in unsere Diskussionen einbezogen. Vielleicht kann man das noch tun. Das wird keine Harmonieveranstaltung. Wir werden miteinander ringen müssen, zum Beispiel um die Frage, wie wir es mit dem Ersatz oder der Modernisierung von Kohle- und Gaskraftwerken halten. Das ist nicht einfach. Wenn Sie Herrn Töpfer dann als Mediator einsetzen wollen, gerne - herzlich willkommen! -, aber bitte nicht in einer Kommission, angesiedelt

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- außerhalb des Parlaments. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir alle stehen nach wie vor unter dem Eindruck der Ereignisse, die in Japan stattfinden. ({0}) Diese Ereignisse haben deutlich gemacht, welche Folgen ein Erdbeben und ein Tsunami auch in einer Hightechnation wie Japan haben können und wie verwundbar wir alle sind. ({1}) Die Toten und das Leid der Menschen berühren uns alle nach wie vor. Deshalb müssen wir alles tun, um den Japanern zu helfen. Unsere Gedanken, unser Mitgefühl sind bei ihnen. Was wir tun können, um ihnen in dieser schwierigen Situation beizustehen, versuchen wir, zu tun. Für mich ist durchaus beeindruckend, wie ruhig und besonnen die Japaner in dieser schwierigen Situation, die für sie mit Sicherheit die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg darstellt, umgehen. Da macht mich, das will ich eingangs sagen, schon etwas betroffen - um nicht zu sagen, dass man sich fast etwas schämt -, was sich hier in Deutschland abspielt. Zum Teil findet wirklich eine unerträgliche Selbstbespiegelung in den Medien und in den Diskussionen statt. ({2}) Man hat manchmal fast den Eindruck, dass das Leid, die Toten, die Verletzten und die Ereignisse dort insgesamt zur Randnotiz werden, wenn wir uns mit unseren innenpolitischen Spielereien hier selbst zu bespiegeln versuchen. ({3}) Japan wird mit Sicherheit auch für uns eine Zäsur bedeuten. Deshalb ist es richtig, innezuhalten, nachzudenken und nicht einfach zu sagen: Weiter so! Das sagen wir nicht; ich glaube, das sagt niemand; ({4}) sonst wären wir schlecht beraten. Deshalb machen wir ein Moratorium. „Moratorium“ heißt aber nicht, dass schon am Anfang klar ist, was am Ende herauskommt, ({5}) sondern „Moratorium“ heißt, nachzudenken über das, was wir bisher getan haben, ({6}) zu prüfen, wie wir im Bereich der Kernkraft maximale Sicherheit - eine 100-prozentige Sicherheit hat es nie gegeben und wird es auch nie geben ({7}) erreichen können. Es gilt, das zu bewerten und erst dann zu entscheiden. Es gilt, sich klarzumachen, was wir tun wollen. Das heißt, Aktionismus, Schnellschüsse helfen uns hier nicht weiter. Bei all der Betroffenheit und all den Diskussionen, die wir hier haben, sage ich aber auch: Eine sachliche Erörterung der Themen ist notwendig. Deshalb greife ich gern das auf, was der Kollege Hempelmann hier angesprochen hat. Bei einer sachlichen Erörterung zeigt sich: Die Herausforderungen, die Fragen, die Probleme, die wir im Energiebereich haben, sind heute nicht viel anders, als sie vor sechs oder vor zwölf Monaten waren. Auch in drei Monaten werden die Herausforderungen dieselben sein. Wir sind uns alle einig, dass wir einen beschleunigten Übergang zu den erneuerbaren Energien wollen. ({8}) Genau deshalb haben wir das Energiekonzept verabschiedet. ({9}) Nicht eine Streckung, sondern eine Beschleunigung des Übergangs zu den erneuerbaren Energien war und ist das Ziel unseres Energiekonzepts. ({10}) Man muss einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen, etwa bei den Klimazielen. Wir haben das Ziel, nach dem Kioto-Protokoll bis 2012 in Deutschland 21 Prozent des CO2-Ausstoßes einzusparen. Das haben wir erreicht, das haben wir im Moment sogar übererfüllt. Wir wollen in Deutschland bis 2020 40 Prozent des CO2-Ausstoßes einsparen. Fakt ist aber, dass die Kernenergie in Deutschland im letzten Jahr rund 150 Millionen Tonnen an CO2-Ausstoß eingespart hat, sprich: Diese Menge wurde nicht emittiert. Wir emittieren im Moment ungefähr 800 Millionen Tonnen CO2. Das heißt, wir reden immerhin über rund 20 Prozent. Unsere Klimaziele wären bei allen Anstrengungen, die wir bisher unternommen haben, ohne die Kernenergie nicht erreichbar. ({11}) Das kann einem jetzt gefallen oder nicht; aber Adam Riese lässt sich nicht umgehen. Das sind die Fakten, mit denen wir es zu tun haben. Welche Folgen hätte ein noch schnellerer Ausstieg aus der Kernenergie? Wir haben das Ziel, bis zum Jahr 2020 den Anteil der Erneuerbaren an der Stromversorgung von heute 17 Prozent auf mehr als 35 Prozent zu verdoppeln. Vielleicht schaffen wir sogar ein paar Prozent mehr. Was machen wir aber mit dem Rest? Bei aller Energieeffizienz und bei allen Fortschritten, die wir erreichen wollen, um eine Verdoppelung des Anteils der erneuerbaren Energien von 1990 bis 2020 zu erreichen, wird es sicher nicht gelingen, die Ziele, die wir uns bisher gesetzt haben, mit einem Ausstieg aus der Kernenergie und einem gleichzeitigen Ausstieg bzw. mit einer gleichzeitigen Nichtinvestition, beispielsweise im Kohlebereich, zu erreichen. Kohle ist der größte CO2-Emittent. Die heimische Braunkohle trägt heute zu 25 Prozent zur Stromversorgung in Deutschland bei. Die Steinkohle trägt heute ebenfalls zu fast 25 Prozent zur Stromversorgung bei. Das heißt, fast 50 Prozent des deutschen Stromverbrauchs werden heute durch Kohle erbracht. Deshalb bleibt auch bei noch so großen Anstrengungen eine Lücke von rund 60 Prozent des Energiebedarfs, die wir im Jahr 2020 mit anderen Energieformen schließen müssen. Ich frage Sie: Wie sollen wir das machen? Einen Einstieg in die CCS-Technologie, um den CO2-Ausstoß durch Kohlekraftwerke zu verhindern, wollen viele nicht. Den Ausstieg aus der Kernenergie wollen wir alle. Wir wollen ihn jetzt sogar noch beschleunigen. Es gibt also allerhand Fragen, die wir zu beantworten haben. Zur Versorgungssicherheit. Über 70 Prozent der Stromversorgung werden heute durch die heimische Produktion gedeckt. Erneuerbare und Braunkohle habe ich angesprochen. Es gibt außerdem in geringem Umfang heimische Gasproduktion sowie Kernenergie. Bei einem Ausstieg aus Kernenergie und Kohle wird diese Versorgungssicherheit so nicht mehr gewährleistet sein. Im Übrigen sind wir nicht allein auf dieser Welt. Wenn wir Deutschen vorpreschen, werden uns die Franzosen, die Schweizer, die Tschechen, die Schweden, die Finnen, die Belgier und die Holländer nicht automatisch folgen. Bei der Beratung des vorherigen Tagesordnungspunktes haben wir die europäische Währung und die damit verbundenen Notwendigkeiten behandelt. Diese sind bei der Energieversorgung mindestens in dem Maße eine europäische Herausforderung, wie dies im Bereich der Währung der Fall ist. Unsere Bürger sind bereit - zumindest im Lichte der aktuellen Ereignisse -, bei einem schnelleren Umbau mehr für die Energieversorgung zu bezahlen. Dass das mehr kostet, wird sicherlich niemand bestreiten; schließlich müsste der Netzausbau, der den Notwendigkeiten sowieso hinterherhinkt, noch schneller vonstatten gehen. Nicht nur Planungsverfahren müssten beschleunigt werden, sondern es müssten auch hohe zweistellige Milliardenbeträge investiert werden. Das Problem der Speicherung, das technologisch noch nicht abschließend gelöst ist, ist ebenfalls mit hohen Kosten und vielem anderen verbunden. Wir wollen uns diesen Herausforderungen stellen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen - das will ich abschließend ins Zentrum der Überlegungen rücken -, dass es vor allem um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland geht. In der Wirtschafts- und Finanzkrise haben wir gesehen, wie wichtig der Industriestandort Deutschland ist. Heute spielen der Produktions-, der Forschungs- und der Industriestandort eine herausragende Rolle. Wir müssen die Wertschöpfungstiefe erhalten. Deshalb brauchen wir wettbewerbsfähige Strompreise und nicht nur wettbewerbsfähige Energiepreise. Wenn es Ausschläge beim Öl- und beim Gaspreis mit internationalen Auswirkungen gibt - Nordafrika, Mittlerer Osten -, trifft das alle in gleichem Maße. Es trifft uns vielleicht sogar etwas weniger als andere auf der Welt, weil wir beim Thema Energieeffizienz größere Fortschritte gemacht haben. Außerdem zählen wir zu den drei Nationen in der Welt, denen es am besten gelungen ist, das Energiewachstum vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Wir gehören schon heute zu denjenigen, die den höchsten Strompreis in Europa haben. Der Strompreis ist heute neben den Arbeitskosten und der Höhe der Steuern einer der entscheidenden Wettbewerbsfaktoren. Wettbewerb ist hier kein Selbstzweck, sondern entscheidet über die Schaffung und die Erhaltung von Arbeitsplätzen. Unser zentrales Bemühen muss sein, die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland durch verträgliche, wettbewerbsfähige Strompreise zu erhalten. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darum sollten wir uns gemeinsam bemühen. Das sollten wir bei der Fortschreibung des verabschiedeten Energieprogramms und bei weiteren Maßnahmen nicht vergessen. Ohne die Erhaltung des Industriestandortes werden wir Deutschland nämlich nicht so weiterentwickeln können, wie wir alle hier es wollen. Das sollten wir bedenken.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sind gut beraten, darauf zu achten, Herr Trittin, dass der Kernschmelze, die in Japan droht, nicht die Hirnschmelze in Deutschland folgt. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, Herr Trittin, ich weiß, dass Sie mich gerne hören; deshalb rede ich zum zweiten Mal. Aber ich verspreche Ihnen, heute und morgen nicht wieder zu reden, zumindest nicht hier. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst zur Katastrophe von Fukushima. Wie schlimm das ist, wissen wir alle. Der Super-GAU ist noch nicht abgewendet. Ich habe in einer Stellungnahme von Pflugbeil gelesen, dass der Unfall jetzt schon den Grad von Tschernobyl erreicht hat. Das Ganze ist also eine beispiellose Katastrophe. Was hat die Regierung gemacht? Sie hat ein Moratorium von drei Monaten beschlossen. Sie hat die Laufzeitverlängerung ausgesetzt, will prüfen und sagt, danach werde man weitersehen. Nun lese ich heute in der Süddeutschen Zeitung, Herr Brüderle, Folgendes ({1}) - es tut mir leid; das muss ich Ihnen vorlesen; das ist doch wirklich ein starkes Stück -: ({2}) Was es denn mit den Meldungen von dem Moratorium auf sich habe, will BDI-Präsident Hans-Peter Keitel wissen. - Sie, Herr Brüderle, saßen da ja mit lauter Industriebossen zusammen. Ausweislich des Protokolls der Sitzung gibt Brüderle darauf eine folgenschwere Antwort: „Der Minister bestätigte dies“, - also das Moratorium steht darin, „und wies erläuternd darauf hin, dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien.“ ({3}) Im Übrigen sei er, Brüderle, ein Befürworter der Kernenergie, auch mit Rücksicht auf Branchen, die besonders viel Energie verbrauchen. „Es könne daher keinen Weg geben, der sie in ihrer Existenz gefährde“, befindet Brüderle laut Protokoll. ({4}) Wissen Sie, Herr Brüderle: Wenn man sich mit so reichen Knöppen einlässt, dann sollte man bedenken - das haben Sie wohl vergessen -, dass das deutsche Knöppe sind und deshalb ein Protokoll geführt wurde. ({5}) Herr Brüderle, ich rate Ihnen, das nicht zu bestreiten. Ich will aber auf etwas anderes hinweisen: Auch die Kanzlerin spricht immer von Restrisiko. Restrisiko bedeutet, dass wir, wenn wir je so etwas erleben wie das, was jetzt in Japan geschehen ist, in diesem Land wahrscheinlich gar nicht mehr leben könnten. Niemand hat das Recht, auch nur bei kleinstem Restrisiko die Bevölkerung dieses Landes einer solchen Gefahr auszusetzen. Sie nicht und auch nicht die Bundeskanzlerin. Niemand. ({6}) Wenn Sie, Herr Brüderle, nun wegen der Landtagswahlen die Laufzeitverlängerung aussetzen, aber danach Ihre Politik im Kern weiterverfolgen wollen, kann ich Ihnen nur sagen, dass das ein verantwortungsloses Spiel mit den Bürgerinnen und Bürgern ist. ({7}) Jetzt komme ich auf den Ursprungsfehler. Wir müssen uns in unserer Gesellschaft über ein paar Fragen verständigen. Zunächst einmal: Mit wem muss eigentlich eine Einigung erzielt werden, wenn eine bestimmte Politik durchgesetzt werden soll? Ich habe das schon einmal gesagt und wiederhole es: SPD und Grüne haben mit dem Ausstieg begonnen - das ist ein Verdienst -; aber die Bedingungen hierfür haben sie mit der Atomlobby ausgehandelt. Warum hatten Sie nicht die Kraft, ihr einmal zu sagen, dass der Bundestag der Gesetzgeber ist und nicht die Atomlobby? Aber weil Sie alles nur mit ihr ausgehandelt haben, war der Kompromiss so unzureichend. ({8}) Ich habe damals gefragt, wie Sie eigentlich darauf kommen, zu glauben, dass Sie in 30 Jahren noch regieren, um das Ganze zu kontrollieren. Da haben Sie mir gesagt: Auch eine nachfolgende Regierung kann von diesem Beschluss nicht abweichen. Aber sie konnte abweichen, wie Frau Merkel ja nun bewiesen hat. ({9}) Union und FDP begingen den schweren Fehler, diesen Kompromiss, so unzulänglich er war, nun auch noch aufzukündigen. Damit haben Sie eine völlig überflüssige gesellschaftspolitische Auseinandersetzung provoziert. Worum ging es? Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: Es ging darum, dass die vier Atomkonzerne einen zusätzlichen Profit in Höhe von 120 Milliarden Euro erzielen wollten. Das haben Sie ihnen zugebilligt. Jetzt kommt der Höhepunkt. Dann sagt Frau Merkel zu den Bossen, sie wolle aber auch für den Bund etwas haben, und zwar 2,3 Milliarden Euro. Darauf erwidert die Atomlobby, das sei zu viel. Letztendlich einigen sie sich auf 1,5 Milliarden Euro. ({10}) Der Punkt ist doch, dass Sie den Bundestag ausschalten. ({11}) Herr Kauder, stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten einen selbstständigen Gedanken gegenüber der Bundeskanzlerin ({12}) und sagten, Sie wollten mehr als 1,5 Milliarden Euro haben. Dann würde Ihnen die Bundeskanzlerin sagen, dass das gar nicht geht, weil sie ja etwas anderes vereinbart hat. Der Bundestag wird von Ihnen zu einem Abnickorgan gemacht. So etwas geht nicht. Das gefährdet auch die Demokratie. ({13}) Herr Kauder, bei der Bankenlobby ist es dasselbe gewesen. Die Bankenlobby hat doch entschieden, wie wir die Krise angeblich lösen. Es entscheidet nicht Frau Merkel, was Herr Ackermann macht, sondern Herr Ackermann entscheidet, was Frau Merkel macht. Selbst wenn sie ihm ein Essen ausgibt, entscheidet nicht etwa sie, sondern er, welche 18 weiteren Personen eingeladen werden. Das ist eine Verkehrung der demokratischen Verhältnisse in diesem Land. ({14}) Übrigens war es bei der Gesundheitsreform mit der Pharmaindustrie und den privaten Krankenversicherungen nicht anders. Die haben ebenfalls entschieden, was hier passiert. ({15}) Bei Hartz IV war es genauso. Sie haben an den illegalen Kungelrunden doch teilgenommen. ({16}) Herr Beck, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, hat dort etwas Verfassungswidriges vereinbart, immer unter Ausschluss der Linken. Es stört Sie, wenn wir von Ihren Nebendeals erfahren. All das gefährdet die Demokratie. Das müssen Sie sich überlegen. ({17}) Ich will Ihnen auch sagen, warum die Demokratie gefährdet wird: weil nichtzuständige Einrichtungen die Entscheidungen treffen. Die Kungelrunde von Herrn Beck ist nicht zuständig. Angerufen war der Vermittlungsausschuss. Er hatte noch gar nicht getagt. Ich möchte gerne, dass der Bundestag, der Bundesrat und der Vermittlungsausschuss wieder die Entscheidungsgremien werden. Entscheidungen dürfen nicht in den illegalen Kungelrunden getroffen werden, an denen Sie sich beteiligen. ({18}) Wir sind uns einig - zumindest in der Opposition -, dass die acht ältesten und pannenreifen AKW sofort und für immer vom Netz genommen werden müssen. ({19}) Die Streitfrage ist: Was wird mit den weiteren neun AKW? Ich sage Ihnen: Was Sie hier bieten, ist willkürlich. Die SPD schreibt, bis 2020 sollten sie abgeschaltet werden. Ursprünglich war von einer Laufzeit bis 2023 die Rede. Jetzt sagen Sie: bis 2020. ({20}) Die Grünen sagen: bis 2017. Ich halte das alles für willkürlich. Wir schlagen etwas ganz anderes vor: dass wir uns mit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit Umweltverbänden und mit kommunalen Energieerzeugern beraten und dass die Abschaltung unverzüglich, ohne schuldhaftes Verzögern, das heißt so schnell wie möglich, erfolgt, ({21}) und zwar auf der Grundlage der Berechnungen von Fachleuten und nicht basierend auf den willkürlichen Gedanken, die Sie hier in den Raum bringen. ({22}) Zu Baden-Württemberg kann ich Ihnen auch noch etwas sagen. Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1 müssen dauerhaft abgeschaltet bleiben. Auch Philippsburg 2 und Neckarwestheim 2 werden unverzüglich und unumkehrbar abgeschaltet und können nicht am Netz bleiben. Da die EnBW mehrheitlich dem Land gehört, ist es gar kein Problem, das umzusetzen, egal welche Regierung in Baden-Württemberg gebildet wird. ({23}) - Ja, warten wir das ab. ({24}) Das ist aber nur das eine, was wir fordern. Wir fordern darüber hinaus, den Verzicht auf Atomenergie und Atomwaffen in das Grundgesetz aufzunehmen. Das ist dringend erforderlich. Es gibt das schöne Beispiel Österreich. Dort steht das in der Verfassung. Folgt man diesem Beispiel, gibt es auch keine Debatte mehr. ({25}) - Herr Kauder, haben Sie doch einmal den Mut und tragen Sie zur Zweidrittelmehrheit bei. Dann nehmen wir das ins Grundgesetz auf. Danach wird sich im Bundestag nie wieder eine Zweidrittelmehrheit finden, die es ändert. Dann wären wir endlich endgültig ausgestiegen. Genau das brauchen wir. ({26}) Übrigens liegen in Rheinland-Pfalz noch 20 Atombomben der USA. Die müssten abgezogen werden. Der Kalte Krieg ist seit über 20 Jahren vorbei. Wir brauchen keine Atomwaffen in Deutschland. ({27}) Des Weiteren brauchen wir ein Exportverbot für die Technik, die für die energetische und militärische Nutzung der Atomkraft eingesetzt wird. Es geht wirklich nicht an, dass wir weiterhin damit Profit machen und daran verdienen, dass wir diese Technik weltweit verkaufen. Mit dem, was Sie hier zu den Hermesbürgschaften gesagt haben, haben Sie recht: Die Bundesregierung kann den Bau von Atomkraftwerken nicht auch noch finanziell begleiten. Hier muss ein Umdenken stattfinden. ({28}) Wir brauchen ein Sofortprogramm hinsichtlich der erneuerbaren Energien, gerade in Bayern und in BadenWürttemberg, wo der Anteil der Atomenergie so groß ist. Dort muss jetzt wirklich einmal etwas passieren. Im Übrigen führt die Verlängerung der Laufzeiten bei der Atomenergie zu verstopften Netzen. Dadurch wird die Entwicklung der erneuerbaren Energien gebremst. Ich sage das, weil Sie immer so tun, als ob dabei das Gegenteil herauskommen würde. Auch hier müssen wir also umdenken. Ich füge hinzu, dass wir Stromnetze in öffentlicher Hand brauchen. Ich weiß, dass Sie sich darüber immer aufregen; Sie wollen alles privatisieren. Wenn die Stromnetze nicht in öffentlicher Hand sind, dann ist die Politik auch nicht zuständig. Wenn die Politik nicht zuständig ist, dann ist auch die Demokratie nicht zuständig. Wenn alles privatisiert ist, dann ist es eben bei bestimmten Fragen egal, ob man FDP oder Linke wählt, weil das Parlament gar nicht mehr darüber zu entscheiden hat. ({29}) Wir brauchen auch bei der Energieversorgung eine Dezentralisierung und Kommunalisierung, ({30}) weil kleinere Einheiten einfach übersichtlicher sind. Sie möchten, dass ein Bürgermeister nichts mehr zu entscheiden hat. ({31}) - Ja, natürlich! Wenn Sie alles privatisiert haben, hat der Bürgermeister nichts mehr zu entscheiden, weder hinsichtlich der Energiepreise noch hinsichtlich der Wasserpreise oder der Mieten. Ich möchte, dass die Politik für die öffentliche Daseinsvorsorge zuständig bleibt, damit die Wahl zwischen uns beiden für die Leute Sinn macht. ({32}) Das ist die Frage, die dahintersteckt. ({33}) - Herr Kauder, quatschen Sie doch nicht immer von der DDR. Sie wissen doch gar nicht, wie es dort war. ({34}) - Ja, ich weiß es; ich habe dort gelebt. ({35}) Aber ich gebe Ihnen nicht auch noch ein Essen aus, um Ihnen den Osten zu erklären; das geht mir zu weit. Herr Kauder, wir brauchen noch etwas - ich sage das auch der FDP, die das grundsätzlich ablehnt -: Wir brauchen natürlich einen Preisstopp und eine staatliche Preisregulierung. Das gab es in der Bundesrepublik jahrzehntelang. Was war denn daran so schlimm? Seitdem die Energieversorgung privatisiert ist, gehen die Preise nach oben. Die Konzerne telefonieren miteinander und besprechen das. Es gibt doch in diesem Bereich überhaupt keinen Markt. Wir haben vier Konzerne, die sich die Bundesrepublik Deutschland feudal aufgeteilt haben. Also brauchen wir auch hier einen anderen Weg. Wieder geht es um die Frage der Zuständigkeit der Politik und der Demokratie. Sie begreifen eine einfache Tatsache nicht: Der Bundestag wird demokratisch gewählt; die Atomlobby wird nicht gewählt, die Chefs der Pharmaindustrie werden nicht gewählt, die Chefs der Banken werden auch nicht gewählt. ({36}) Es macht einen Unterschied, dass die Bevölkerung den Bundestag wählen darf, aber nicht den Vorstand der Deutschen Bank. Insofern ist es eine Katastrophe, dass der Vorstand der Deutschen Bank mehr zu sagen hat als die Bundesregierung. Genau das müssen wir überwinden. ({37}) Schließlich sage ich Ihnen: Am Samstag werden große Demonstrationen stattfinden. Ich bitte Sie - auch Sie, Herr Brüderle -, sie ernst zu nehmen. Die Bürgerinnen und Bürger werden dort ganz entschieden rufen: „Atomkraft? Nein, danke!“ Nehmen Sie sie ernst! Veralbern Sie sie nicht mit einem Moratorium, das überhaupt nicht ernst gemeint war. ({38})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesminister Rainer Brüderle. ({0})

Rainer Brüderle (Minister:in)

Politiker ID: 11003059

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, Sie kritisieren, dass ein Zusammenhang zwischen unserer Politik und dem Wahlkampf besteht. Sie haben nur über Atomkraftwerke in Baden-Württemberg gesprochen; das nur nebenbei gesagt. ({0}) Sie haben aus einem Protokoll zitiert, zu dem der BDI inzwischen erklärt hat, dass meine Ausführungen falsch wiedergegeben worden sind. ({1}) Was ich kenne, ist meine Haltung und die Haltung der Bundesregierung: Wir wollen in das Zeitalter der erneuerbaren Energien einsteigen. Wir machen verantwortungsvolle Politik und halten Kurs. Es ist absurd, uns Wahlkampfmanöver vorzuwerfen. ({2}) Einige von Ihnen stellen sich hin und fordern hier den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Das ist verantwortungslos. Sie wissen ganz genau, dass das unsere Netze überhaupt nicht aushalten können. Das, was Sie fordern, ist überhaupt nicht machbar. ({3}) Herr Trittin und Herr Gabriel, Sie haben sieben Jahre Zeit gehabt, die Kernkraftwerke sofort abzuschalten; Sie haben es nicht getan. Sie sollten etwas mehr die Seriosität, Ruhe und Besonnenheit übernehmen, die die Japaner im Umgang mit der Atomkatastrophe und den beiden Naturkatastrophen gezeigt haben. ({4}) Japan geht mit diesem Schicksalsschlag gelassen und besonnen um. Teile der Opposition meinen, in Deutschland Hysterie verbreiten zu müssen. ({5}) Das ist der Lage in Japan völlig unangemessen, und das ist der Lage in Deutschland völlig unangemessen. ({6}) Da wird versucht, aus jeder angeblichen Neuigkeit eine Sensation zu kreieren. Wir sollten uns auch in der politischen Debatte mit etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit des Themas annehmen. Ja, was in Japan passiert ist, war ein Einschnitt: ({7}) für Europa, für Deutschland und für die Welt. ({8}) Wir überprüfen bei allen Kernkraftwerken in Deutschland die Sicherheit erneut umfassend. Die sieben ältesten Kernkraftwerke in Deutschland werden zunächst abgeschaltet. ({9}) Die Prüfung ist hart, fair und ergebnisoffen. Eine Vorfestlegung gibt es nicht. Aber eines ist klar: Sicherheit geht vor. Eine ähnliche Überprüfung führen die Vereinigten Staaten, China und Russland durch. ({10}) Sie können doch nicht behaupten, dass die Landtagswahlen im Süden der Republik das Verhalten dieser Länder, die genauso vorgehen, beeinflussen würden. ({11}) Die Zeit während des Moratoriums wird genutzt, damit die neue Lage nach den japanischen Vorfällen seriös überprüft werden kann. Zentral für den Umstieg in das Zeitalter der regenerativen Energien, den wir wollen, ist der Netzausbau. Wir müssen die Netze schneller ausbauen. Schon heute fehlen in Deutschland 3 600 Kilometer Stromleitungen Tendenz steigend. ({12}) - Wir stellen ein Konzept für den Netzausbau auf, um diesen zu beschleunigen. ({13}) Ich habe eine Netzplattform geschaffen, auf der wir auch mit NGOs einen Dialog führen, damit wir schneller zu einer Akzeptanz kommen. ({14}) Aber Teile der Opposition sind gegen alles: gegen Kernkraft, gegen Kohlekraftwerke und gegen Leitungen. ({15}) Das ist unverantwortliche Politik. ({16}) Eine Deindustrialisierung, die gegen Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland gerichtet ist, können Sie mit Schwarz-Gelb nicht machen. Deshalb sollten Sie mit Besonnenheit und Vernunft an diese Themen herangehen. ({17}) Wir bringen Schwung in den Netzausbau. Ich stelle mir vor, dass wir als Resultat dieser nationalen Aufgabe ein Konzept auf den Weg bringen, um diesen Ausbau erheblich zu beschleunigen. Ich lade Sie ein, mitzumachen. Sie können nicht hier im Bundestag Ja zum Netzausbau sagen, aber vor Ort bei den Blockierern dabei sein. Wenn konkrete Maßnahmen bei Pumpspeicherkraftwerken und Netzen anstehen, machen Sie genau das Gegenteil dessen, was Sie fordern. ({18}) Rot-rot-grüne Energiepolitik ist eine Nullnummer. Sie blockieren beim Umbau des Kraftwerkparks. ({19}) Sie sollten konsequent mithelfen, dass wir schneller in das Zeitalter der regenerativen Energien kommen. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Brüderle, da kommen Sie nicht mehr heraus. ({0}) Sie haben beim BDI in Anwesenheit von RWE und Eon die Wahrheit zu Protokoll gegeben. Das jetzt als Fehler im Protokoll ausgeben zu wollen, macht Sie noch wesentlich unglaubwürdiger, als Sie es vorher schon waren. ({1}) Ihr angebliches Atommoratorium ist reine Wahlkampftaktik. Das haben Sie beim BDI klar zugegeben. Dabei brauchen wir heute doch keine Wahlkampftaktik, um auf diese Herausforderungen des Atomunfalls in Japan zu reagieren. Er ist es, der zur Deindustrialisierung Japans beiträgt. Es sind nicht die erneuerbaren Energien, sondern es ist die Atomenergie, die eine Deindustrialisierung befördert. Das können Sie in Japan genau sehen. ({2}) Nach dieser nuklearen Katastrophe in Japan sind zwei entscheidende Handlungen zwingend erforderlich: Zum einen müssen wir jetzt dem japanischen Volk in seiner großen Not nach Erdbeben, Tsunami und Atomunfall alle Hilfen geben, die uns möglich sind. Dabei sehe ich auch große Defizite dieser Regierung. ({3}) Zum anderen braucht unser Planet endlich einen völlig neuen Entwurf für die Energieversorgung dieser Erde: ohne Atomenergie und wegen des Klimaschutzes auch ohne fossile Energien. ({4}) Diesen neuen Entwurf für die Energieversorgung dieser Welt gibt es bereits. Die renommierten kalifornischen Universitäten Stanford und Davis, die mit ihren Ausgründungen im Silicon Valley die dritte industrielle Revolution der Welt ermöglicht haben, haben jetzt einen Plan für die vierte industrielle Revolution der Welt geschaffen. Sie sagen: Der gesamte Weltenergiebedarf kann danach bis 2030 zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien gedeckt werden. Das ist technologisch möglich, industriell machbar und hat ökonomisch große Vorteile. ({5}) Doch statt nun auf die Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien zu setzen, was Frau Merkel und Sie, Herr Brüderle, in der letzten Woche noch vollmundig erklärten, wurde in dieser Woche die Verkündung von neuen Maßnahmen abgesagt. Offensichtlich haben sich die Hardliner durchgesetzt. Offensichtlich haben Sie, Herr Brüderle, Herr Kauder und Herr Fuchs, die Verabschiedung eines Beschleunigungskonzeptes in Sachen erneuerbare Energien verhindert. Es ist wie immer bei Ihrem Regierungshandeln: Eine leere Versprechung reiht sich an die andere. Statt Milliarden in den Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien zu stecken, wurden die Mittel für erneuerbare Energien im Haushalt 2011 gekürzt, und die Mittel für die Effizienzsteigerung wurden gleich mit gekürzt. Das widerspricht Ihren Worten doch völlig. ({6}) Immer noch halten die Kanzlerin und Sie am uralten kerntechnischen Regelwerk fest, ebenso am Atommanager Hennenhöfer als Leiter der Atomaufsicht. Alles spricht dafür, dass Sie nach der Wahl am kommenden Sonntag wieder einen Pro-Atom-Kurs fahren werden. Frau Merkel will sich heute auf dem EU-Gipfel für einen Stresstest der europäischen Atomkraftwerke einsetzen. Da muss sie Herrn Oettinger aber sagen, dass das nicht nach dem alten Euratom-Regelwerk geschehen kann. Dieses Regelwerk ist zur Analyse der Gefahren von Atomkraftwerken, die in Japan aufgetreten sind, untauglich. Wir brauchen eine Veränderung der EuratomRegeln. Am besten wäre eine Abschaffung der Unterstützungsmodalitäten. Stattdessen brauchen wir einen neuen EU-Vertrag für erneuerbare Energien, Eurenew. Das wäre die richtige Antwort. Das müsste Frau Merkel jetzt in Brüssel auf den Weg bringen. ({7}) Wir Grünen haben längst gezeigt, wie eine Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien gelingen kann. Das ist nachzulesen im Energiekonzept der Grünen und in den Vorlagen, die wir heute einbringen. Wir machen konkrete Vorschläge, wie dieses Land spätestens zum Ende der nächsten Wahlperiode vollständig aus der Atomenergie aussteigen kann. Mit dem unter Rot-Grün geschaffenen erfolgreichen Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir bewiesen, dass wir eine solche Politik gegen alle Widerstände aus den Reihen von Union, FDP und Atomwirtschaft machtpolitisch durchsetzen können. Wir müssen den Ausbau der Windkraft, der Solarenergie, der Wasserkraft, der Bioenergie und der Erdwärme beschleunigen. Wir müssen den Kommunen mehr Energiehoheit geben. Wir müssen die Energieeinsparpotenziale heben und Bürgerakzeptanz für den notwendigen Netz- und Speicherausbau schaffen. Herr Brüderle, die Hauptengstellen liegen übrigens im 110-kV-Netz. Dort finden die Abschaltungen statt. Für den Ausbau dieses Netzes kann man Erdkabel nutzen. Doch die Deutsche Energie-Agentur und Sie, Herr Brüderle, sprechen fast nur vom Ausbau der großen 380-kV-Leitungen. Neue Kohlekraftwerke sind - das ist eine Mahnung an die andere Seite des Hauses, an SPD und Linke - für die Umsetzung unseres Energiekonzepts nicht notwendig. Wir müssen auch an den Klimaschutz denken. ({8}) Herr Brüderle, Sie wollen nur die großen Leitungen bauen, um den Windstrom von Nord nach Süd zu bringen. Fordern Sie lieber endlich Herrn Mappus in BadenWürttemberg und Herrn Seehofer in Bayern auf, die Genehmigungsblockaden in Sachen Windenergie abzuschaffen. ({9}) Windstrom kann man mit neuen Windrädern auch in die südlichen Bundesländer bringen. Sie haben in der Vergangenheit bewiesen, dass Sie den Blick nicht nach vorne richten. Ich will Ihnen Albert Einstein in Erinnerung rufen, der gesagt hat, dass man mit den Denkweisen, die ein Problem verursacht haben, das Problem nicht lösen kann. Das werden die Wählerinnen und Wähler am kommenden Sonntag erkennen. Sie sind mit Sicherheit in der Lage, die Konsequenzen zu ziehen. Die Konsequenz ist: Die Atomparteien müssen abgewählt werden. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Fuchs für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Herr Gysi, von Ihnen etwas über Demokratie zu lernen, fällt mir wahrlich schwer. Solange Sie nicht in der Lage sind, überhaupt anzuerkennen, was Ihre Vorgängerpartei, die SED, in der DDR-Zeit angestellt hat - ich nenne den Mauerbau; die Mauertoten leugnen Sie nach wie vor, was unsäglich ist -, brauchen wir in Sachen Demokratie keine Belehrung von Ihnen. ({0}) Des Weiteren darf ich Ihnen sagen: Es wäre interessant, wenn Sie sich einmal mit Österreichern unterhalten würden. Wir haben das vor kurzem getan. Wir haben uns mit dem österreichischen Wirtschaftsminister unterhalten und uns mit ihm auch über die Energieversorgung in Österreich auseinandergesetzt. Was macht man dort? Die Österreicher haben - da gebe ich Ihnen völlig recht jede Menge Pumpspeicherkraftwerke; das ist auch gut so. Wir wären schon froh, wenn die Grünen in Deutschland Pumpspeicherkraftwerke nicht verhindern würden. Was aber machen die Österreicher nächtens? Sie kaufen nächtens billigen Kernkraftstrom aus Temelin ein, pumpen damit das Wasser wieder nach oben und verkaufen ihn tagsüber als Ökostrom nach Bayern. Das ist ein Recycling, das mir nicht gefällt und das ich hier und auch woanders nicht haben möchte. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. So funktioniert das nicht. Lassen Sie mich nun zu Japan kommen. Ich bin in meinem beruflichen Leben sehr häufig in Japan gewesen. Ich kann nur sagen: Mir tut das, was dort passiert ist, alles unglaublich leid, und ich empfinde ein tiefes Mitgefühl für die Menschen dort. Mich stört aber in vielerlei Hinsicht, wie wir mit der Situation in Japan umgehen. ({1}) 400 000 Menschen sind obdachlos. Wahrscheinlich sind mehr als 20 000 Tote zu beklagen. Niemand weiß genau, wie viele es tatsächlich sind. Und wir diskutieren hier über Probleme, die die Japaner momentan überhaupt nicht wahrnehmen. Wenn Sie sich anschauen, welche Diskussionen in Japan geführt werden, dann stellen Sie fest, dass es dabei um ganz andere Probleme geht. Dort geht es eben um 400 000 Menschen, die keine Häuser mehr haben und die verzweifelt nach ein paar Habseligkeiten suchen. ({2}) Ich sage Ihnen noch etwas: Als ich kurz nach dem verheerenden Tsunami die Worte Ihres Vorsitzenden Gabriel gehört habe, habe ich gedacht: Hut ab! Das ist staatstragend und vernünftig. Das ist genau das, was man in dieser Situation sagen kann und machen muss. Aber was anschließend passiert ist, nämlich dass es nur vier Stunden gedauert hat, bis Sie angefangen haben, eine Diskussion zu beginnen, die überhaupt nichts mit diesem Unfall zu tun hat, ist schäbig. ({3}) Das ist alles andere als der Situation angemessen. Die Sache für Wahlkampfzwecke auszunutzen, ist zynisch und für mich auch abstoßend. ({4}) Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Wir haben gesagt: Wir müssen ein Moratorium machen. Wir setzen die sieben ältesten Kernkraftwerke in Stillstand, um sie besser überprüfen zu können. ({0}) Wir wollen in dieser Phase des Moratoriums aus dem, was in Japan passiert ist, lernen und zuallererst einmal feststellen, ob wir daraus Konsequenzen für unsere Kraftwerke ziehen müssen. Das ist wichtig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kotting-Uhl?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch nicht. - Wir müssen als Allererstes die Frage stellen: Was sind die technischen Konsequenzen, die wir für unsere Kernkraftwerke ziehen müssen? ({0}) Ein Tsunami - das wird wahrscheinlich selbst die Grünen-Fraktion zugeben, wobei Sie im Verdrängen großartig sind - ist in Deutschland relativ unwahrscheinlich. ({1}) Dennoch haben wir mit Sicherheit Lehren daraus zu ziehen. ({2}) Das werden wir mit der IAEO machen. Wir werden dies dann konsequent in unseren Kernkraftwerken umsetzen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Menzner?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch nicht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Also generell keine Zwischenfragen? - Gut. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gerecht sein und niemandem eine Zwischenfrage gestatten. Die Strompreise - das hat der Kollege Pfeiffer gerade völlig zu Recht gesagt - sollten wir allerdings im Blick behalten. Was ist denn von Anfang an passiert? Die Preise sind schon gestiegen. ({0}) Wenn Sie sich den Spotmarkt in Leipzig für das zweite Quartal dieses Jahres anschauen, dann werden Sie feststellen, dass der Preis für Großhandelsstrom um ungefähr 10 Prozent gestiegen ist. ({1}) Schon in dieser Woche - diese Zahl ist interessant mussten pro Tag circa 800 bis 1 000 Megawatt Strom importiert werden. Ich frage Sie: Von wo wird dieser Strom importiert? Der Strom ist überwiegend aus Osteuropa gekommen, und zwar im Wesentlichen von Kernkraftwerken. ({2}) Wenn der Strom nicht aus Osteuropa war, dann kam er zumindest von Kohlekraftwerken. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wenn wir den Strom nicht zur Verfügung stellen, dann kommt er von irgendwo anders her. Es ist völlig richtig, was Herr Fell eben gesagt hat: Der Strom kommt aus der Steckdose. ({3}) Aber er muss vorher auch dort hineingegeben werden. Das ist das große Problem. Sie müssen sich über eines im Klaren sein: Nur mit Wind, nur mit Solar werden wir dieses Problem nicht lösen können. ({4}) Mit einem weiteren Punkt muss aufgeräumt werden, nämlich damit, dass es die rot-grüne Koalition war, die die erneuerbaren Energien so weit vorangebracht haben. ({5}) Ich habe einmal die Zahlen herausgesucht. Als Sie 1998 an die Regierung kamen, betrug der Anteil der erneuerbaren Energien 4,7 Prozent. ({6}) Als Sie zu Recht abgewählt wurden, lag dieser Anteil bei 10,2 Prozent. Es gab in sieben Jahren also eine Steigerung um 5,5 Prozentpunkte. Heute haben wir einen Anteil von 17 Prozent. ({7}) Seit die Bundeskanzlerin Merkel an der Regierung ist, haben wir eine Steigerung um 6,8 Prozentpunkte in fünf Jahren. ({8}) Es ist schon fast beschämend, Herr Fell, wenn Sie behaupten, es würde nicht in erneuerbare Energien investiert. Im letzten Jahr sind rund 11,3 Milliarden Euro in erneuerbare Energien investiert worden. ({9}) Es hat noch nie eine so intensive Phase von Investitionen in erneuerbare Energien gegeben wie jetzt. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({10}) Last, but not least muss auch etwas über CO2 gesagt werden. Wir alle hier kämpfen dafür, dass der Klimaschutz Wirklichkeit wird. Das ist schwierig genug, weil nicht alle Länder so intensiv Klimaschutz betreiben wie wir. Sie wissen aber auch, dass die acht Kernkraftwerke, die jetzt nicht am Netz sind, uns circa 30 Prozent Kohlendioxidausstoß ersparen. Das sind 48 Millionen Tonnen. ({11}) Diese 48 Millionen Tonnen können wir auf kurze Frist nur kompensieren, wenn es uns gelingt, aus Nachbarländern Strom zu importieren, und zwar dann Strom aus Kernkraftwerken; denn ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien bekommen wir aus den Nachbarländern nicht. ({12}) Ansonsten werden wir die Klimabilanz Deutschlands verschlechtern. Denn alle fossilen Kraftwerke, egal ob Kohle-, Braunkohle- oder Gaskraftwerke, stoßen CO2 aus. Da können Sie sich nicht herausreden. ({13}) Auch das wird ein Problem werden. ({14}) Das sehen wir ja schon beim Emissionshandel. Die Preise für Zertifikate sind ebenfalls schon kräftig gestiegen, und zwar von 15 Euro auf 16,50 Euro. Das können Sie am Spotmarkt beobachten. Sie sollten sich das ansehen. ({15}) Für uns geht es um eines: Wir wollen verantwortungsvoll Energiepolitik betreiben, und zwar so, dass erstens die Energieerzeugung sicher ist - darüber lassen wir nicht mit uns reden -, dass zweitens die Energie zuverlässig vorhanden ist ({16}) und dass sie drittens auch noch kostengünstig ist, sodass die Verbraucherinnen und Verbraucher sie bezahlen können und die Unternehmen nicht aus Deutschland abwandern müssen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu Kurzinterventionen erteile ich der Kollegin Kotting-Uhl und danach der Kollegin Menzner.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Präsident. - Herr Fuchs, Ihre Rede gibt eigentlich Anlass, jetzt eine zehnminütige Kurzintervention zu machen, ({0}) aber das würde der Gesamtdebatte wahrscheinlich nicht weiterhelfen. Ich möchte Sie vielmehr auf einen Punkt ansprechen, den Sie genannt haben. Sie haben die Vergleichbarkeit zwischen dem, was in Fukushima passiert ist, und dem, was hier passieren könnte, in Abrede gestellt und das damit begründet, dass hier keine Tsunamis zu erwarten seien. ({1}) Ich möchte Ihnen dazu einige Fragen stellen. Erste Frage: Stellen Sie Japans Sicherheitsphilosophie, die unserer ähnlich ist - es geht um ein hochindustrialisiertes Land, um ein Hochtechnologieland -, in Abrede? Meines Wissens hat Japan eine ähnliche Sicherheitsphilosophie. Sprechen Sie das Japan ab? Die zweite Frage: Stellen Sie in Abrede, dass auch bei uns Kühlsysteme ausfallen können? Wenn Sie dies in Abrede stellen und wenn Sie sagen, es gebe keine Vergleichbarkeit, dann muss ich noch einmal auf das hinweisen - es ist relevant -, was Herr Brüderle sagte. Ich möchte dies noch einmal zitieren, weil es sehr deutlich ist: … dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien. Das passt auch zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten, zu Herrn Mappus - ich bin BadenWürttembergerin -, der die Entscheidungen, die gefällt wurden, in den Kontext eines emotionalen Ausnahmezustandes der Bürgerinnen und Bürger stellte. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie als Drittes: Wem stellen Sie als Wirtschaftspolitiker - ich glaube, Sie haben eine ähnliche Denke wie der Wirtschaftsminister; auch Ihre Argumentation war ähnlich - die Rationalität in Abrede: der Bundeskanzlerin oder den Bürgerinnen und Bürgern? Ich bitte Sie, diese drei Fragen zu beantworten. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Menzner, bitte.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Fuchs, ich möchte mich auf ganz wenige Aspekte Ihrer Rede beschränken. ({0}) Sie haben versucht, zu suggerieren, dass das, was immer als vernachlässigbares Restrisiko bezeichnet wurde, für Deutschland nicht gelten würde. Aber Sie haben mit keinem Satz darauf Bezug genommen, dass dieses vermeintlich so kleine Restrisiko in Japan, in einem Land, das sehr hohe Sicherheitsstandards hat - es handelt sich um eine Sicherheitsphilosophie, die immer als Vorbild dargestellt wurde -, Realität geworden ist. Im Gegensatz zu allen bisherigen Katastrophen können die Folgen dieser Katastrophe auch durch den Einsatz von noch so viel Geld und Personal nicht in einem überschaubaren Zeitraum bewältigt werden. Man kann alles Geld der Welt investieren und alle Technik der Welt einsetzen, die Folgen werden Generationen von Japanerinnen und Japanern zu tragen haben. Dr. Pflugbeil hat in einer Stellungnahme sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Umfang der Freisetzung von Radioaktivität und die Strahlenwerte in Japan in weiten Teilen schon heute dem entsprechen, was wir in Tschernobyl erleben mussten. An dem Diskussionspapier der Reaktor-Sicherheitskommission wird deutlich, dass selbst die Reaktor-Sicherheitskommission auch in deutschen Kraftwerken erheblichen Nachrüstbedarf sieht. Von daher kann es nicht, wie Sie suggeriert haben, nach drei Monaten so weitergehen wie vorher. Abschließend möchte ich deutlich machen, dass wir nach meiner Überzeugung zu einer schnellen Entscheidung kommen müssen. ({1}) Diesen Hinweis habe ich bei Ihnen vermisst. Block 1 des Kraftwerks Fukushima 1 sollte diesen Monat vom Netz gehen. Jeder Tag und jeder Monat kann entscheidend sein. Nicht zuletzt möchte ich Sie und die Öffentlichkeit darauf hinweisen - Sie als Wirtschaftspolitiker müssten das eigentlich wissen -: ({2}) Die Risiken, die mit Atomkraftwerken verbunden sind, sind nicht versicherbar, sprich: Jeder Häuslebesitzer, jede Bürgerin und jeder Bürger trägt dieses Risiko selbst, und sie können sich dagegen nirgendwo versichern. Das macht deutlich, wie dieses Risiko und dieses Wagnis eingeschätzt werden. Ich danke. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Zuallererst möchte ich ganz kurz das Thema Tsunami ansprechen, Frau Kollegin. Was in Japan geschehen ist, konnte man sich auch dort bisher nicht vorstellen. Nebenbei: Es hat in der Historie Japans nie ein Erdbeben dieser Größenordnung gegeben. ({0}) Dies war also das allergrößte Erdbeben, das es dort jemals gegeben hat. Die Kernkraftwerke haben dieses Erdbeben übrigens völlig unbeschädigt überstanden. Zerstört wurden sie bzw. die Kühlzuflüsse ({1}) durch den anschließenden Megatsunami, der in dieser Größenordnung nicht antizipiert wurde. ({2}) Man kann darüber nachdenken, ob es richtig oder falsch war, nicht von der Möglichkeit eines solchen Tsunamis auszugehen. Bis dato war er nicht denkbar. Manche Orte - dieses Drama konnten Sie alle beobachten wurden von dem Tsunami zu fast 90 Prozent zerstört. Kein Mensch, auch niemand in den kleineren Orten an der Küste in der Nähe von Sendai, hat damit gerechnet. ({3}) Ein solches Ereignis haben die Japaner bei der Beurteilung dieser Problematik - das gestehe ich zu - nicht bedacht. Das ist auch der Grund, warum wir gesagt haben - dazu stehe ich -: Es ist notwendig, dass wir Eventualitäten, die sich aus den Ereignissen in Japan ergeben, überprüfen. ({4}) Es ist auch logisch und notwendig, dass man die Kernkraftwerke, die am ältesten sind, in Stillstand versetzt, um parallel dazu diese Überprüfung durchzuführen. Nur, wir wissen nicht schon vorher, was anschließend herauskommt. ({5}) Sie wissen ja schon, was bei der Überprüfung herauskommt, bevor Sie überhaupt angefangen haben, nachzudenken. ({6}) Das ist in meinen Augen nicht in Ordnung. ({7}) - Wenn Sie mich genauso ausreden lassen würden, wie ich die beiden Kolleginnen habe ausreden lassen, dann wäre das höflich; aber das kann ich von Ihnen nicht erwarten. Ich gehe einmal davon aus, dass wir in dieser Phase in jedem Einzelfall ernsthafteste Prüfungen durchführen werden. Das ist auch notwendig. Kühlsysteme. Es kann durchaus sein, dass wir aufgrund der Erfahrungen, die wir in Japan gewonnen haben, zu dem Ergebnis kommen, dass die Kühlsysteme nicht ausreichend redundant aufgebaut sind. Das ist eine relevante Prüfung, die wir jetzt machen müssen. Dazu stehe ich. Dies gilt jedoch nicht nur für die alten acht, sondern auch für die neuen neun Kernkraftwerke. Sie gehören genauso überprüft. Sie behaupten, das Restrisiko werde nicht berücksichtigt. Wir tun das doch gerade. ({8}) Wir sind doch gerade dabei, uns mit diesem Restrisiko sehr intensiv zu beschäftigen; denn wir versuchen, die Prüfungen durchzuführen. Wer macht es denn? Diese Bundesregierung hat sofort reagiert. Die Kanzlerin hat zwei Tage nach dem Vorfall gesagt, wir müssen das Restrisiko überprüfen, müssen überprüfen, ob wir alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben und ob es Erfahrungen oder Lehren gibt, die wir aus Japan mitnehmen müssen. - Das tun wir jetzt. Ich halte das für richtig. Das Verhalten der Bundesregierung ist klug. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich für die SPD-Fraktion. ({0})

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Fuchs, zu Ihrer Rede möchte ich jenseits der Frage, wie man das Restrisiko genau bewertet, noch eines anmerken: Angesichts der halsbrecherischen Wende, die Ihre Regierung hingelegt hat, und angesichts der Vorgänge in Japan, die uns alle betroffen machen, finde ich es unverschämt, dass jemand, der sein ganzes politisches Leben dem Lobbyismus für Atomkraft gewidmet hat, von hier vorne moralische Beurteilungen gegenüber anderen ausspricht, was das Thema Wahlkampf angeht. ({0}) Ich möchte zu Ihnen sprechen, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion, um um Zustimmung für unsere Gesetzentwürfe zu werben; denn es ist für Sie die Möglichkeit, Ihren eigenen Widersprüchen zu entrinnen. Sie ertrinken nämlich in Ihren Widersprüchen. Herr Brüderle, Sie können es zwar auf einen Protokollfehler schieben, aber ein Wirtschaftsminister mit einer minimalen Restachtung hätte die Gelegenheit ergriffen, hier klarzustellen, was er denn dort tatsächlich gesagt hat. ({1}) Was haben Sie denn tatsächlich gesagt, wenn es ein Protokollfehler war? Wer soll Ihnen denn Ihre neue Nachdenklichkeit überhaupt abnehmen, wenn Sie, statt die Chance zu ergreifen, hier klarzustellen, was Sie tatsächlich gesagt haben, nur sagen, es war ein Protokollfehler, obwohl wir wissen, dass das, was dort steht, genau Ihrem Sprachgebrauch der letzten Wochen entspricht?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchs? ({0})

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fuchs, angesichts Ihres Mutes verweise ich Sie auf die Kurzintervention, die Sie nachher tätigen können. ({0}) Ein anderer Widerspruch ist folgender: Die gleiche Truppe von Ministerpräsidenten, die bei der Laufzeitenverlängerung unabhängig davon, ob die Zustimmung des Bundesrates eingeholt werden muss oder nicht, auf ihrer eigenen Unzuständigkeit bestanden hat, sitzt jetzt mit der Kanzlerin bei Atomgipfeln zusammen und verkündet öffentlich, dass sie von der Laufzeitenverlängerung jetzt wieder herunter will. ({1}) Sie hoffen doch inständig darauf, dass unsere Klage in Karlsruhe Erfolg hat, weil es der einzige Weg ist, auf dem Sie die Nichtigkeit Ihres Beschlusses hergestellt bekommen und nicht den Schadenersatzforderungen der Atomkonzerne ausgeliefert sein werden. ({2}) Deswegen sage ich Ihnen auch: Die erste Amtshandlung einer SPD-geführten Landesregierung in BadenWürttemberg wird es sein, sich dieser Klage gegen die Laufzeitenverlängerung beim Bundesverfassungsgericht anzuschließen. ({3}) Der dritte Widerspruch, der Ihr ganzes Manöver als durchsichtig und wahltaktisch entlarvt, betrifft die handwerkliche Umsetzung. Am Dienstag letzter Woche, 15. März 2011, verkündete der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg im Landtag - ich zitiere wörtlich -: Kernkraftwerke, die nicht den erforderlichen Sicherheitsanforderungen genügen, werden abgeschaltet - nicht in sieben Jahren, nicht in 15 Jahren, nicht in 20 Jahren, sondern sofort. An einer späteren Stelle in seiner Rede heißt es: Neckarwestheim I wird abgeschaltet - dauerhaft und stillgelegt. ({4}) Am Tag darauf verkündet sein oberster Angestellter in Sachen Atomstrom - das ist übrigens nicht die für die Atomaufsicht zuständige Frau Gönner, sondern das ist der Vorstandsvorsitzende der jetzt landeseigenen EnBW, Herr Villis - in seiner Pressemitteilung vom 16. März um 21.30 Uhr: Der Block 1 des Kernkraftwerks Neckarwestheim … und der Block 1 des Kernkraftwerks Philippsburg … werden seit heute Abend ({5}) abgefahren und in der Nacht vom Netz genommen. Zuvor hatte der Betreiber, die EnBW …, entsprechende Anordnungen des Ministeriums … erhalten. Diese Anordnungen sehen die vorübergehende Einstellung des Betriebs der Anlagen für drei Monate vor. Die Anordnungen wurden mit Verweis auf die aktuellen Vorkommnisse in japanischen Kernkraftwerken ausgesprochen. Die EnBW hatte bereits am Dienstag … erklärt, GKN I vorübergehend freiwillig abfahren zu wollen. Am gleichen Tag hatte das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr Baden-Württemberg mitgeteilt, dass eine Sonderprüfung seiner Aufsichtsbeamten an den Standorten in Philippsburg und Neckarwestheim keine sicherheitstechnischen Defizite ergeben habe. Der Betriebszustand der Anlagen ist nach dem Abfahren vergleichbar mit dem während einer Revision. Das sagt die EnBW Baden-Württemberg AG. Ihr Moratorium bietet so viel Rechtssicherheit wie das Ruhenlassen eines Doktortitels. ({6}) Sie wollten in Baden-Württemberg mit Atomkraft Kasse machen. Deswegen haben Sie die EnBW gekauft. Jetzt tritt das Gegenteil ein: Sie wird zu einem Sanierungsfall. Sie hatten und haben keinen Plan B dafür, wie Sie den Energiewechsel dauerhaft erreichen wollen und werden. Wir haben ein Konzept dafür vorgelegt, wie wir bis 2020 aus der Atomkraft aussteigen können. Wir haben heute Gesetzentwürfe dafür vorgelegt, wie wir den Energiewechsel schaffen werden. Deswegen werden wir in Baden-Württemberg nach der Wahl das Handwerk, den Mittelstand und die Industrie an den Tisch bitten und mit einer SPD-geführten Landesregierung ein sicheres Konzept für den Energiewechsel in Baden-Württemberg auf den Weg bringen. ({7}) - Herr von Stetten, an Ihrer Stelle würde ich mir lieber Gedanken darüber machen, mit welchem Restpöstle Sie Herrn Mappus versorgen, wenn er ab Montag auf Arbeitsplatzsuche ist, anstatt hier Zwischenrufe zu machen. ({8}) Damit der Energiewechsel tatsächlich sicher vorankommt und hier nicht zurückgerudert werden kann, werden wir in Baden-Württemberg gemeinsam mit der Industrie, dem Handwerk und dem Mittelstand einen Energiewechsel mit Konzept vereinbaren. Dafür brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen, den wir mit unseren Anträgen bieten. Stimmen Sie ihnen zu, damit der Wechsel tatsächlich stattfinden kann und hier nicht nur weiter heiße Luft abgesondert wird. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Michael Fuchs. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Friedrich, erstens empfinde ich es als eine Unverschämtheit, dass Sie mir vorwerfen, ich sei mein ganzes Leben lang ein Kernkraftlobbyist gewesen. ({0}) Ich habe ein Unternehmen aufgebaut und 23 Jahre lang geleitet und viele Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen. Ich weiß nicht, ob Sie das nachweisen können. Zweitens. Ich habe festgestellt, dass Sie bei EUROSOLAR aktiv sind. Das ist wohl kein Lobbyistenverein? Das ist der größte Lobbyistenverein für die unwirtschaftlichste erneuerbare Energie, die wir in Deutschland haben. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Friedrich, bitte.

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fuchs, ich habe nicht behauptet, dass Sie bei allen Ihren Wortmeldungen und Zitaten in den letzten Jahren und auch bei Ihrer Rede hier eben als bezahlter Lobbyist tätig waren. ({0}) Ich habe aber völlig zu Recht behauptet: Durch all Ihre Einlassungen und Ihr permanentes Störfeuer gegen erneuerbare Energien in der Großen Koalition und jetzt wieder wird eindeutig belegt, dass Sie politisch nur im Interesse der Atomindustrie und für niemanden sonst arbeiten. ({1}) Mit dem, was Sie hier erzählen, machen Sie die Glaubwürdigkeit Ihrer eigenen politischen Wende zunichte. Ich bin übrigens nicht nur Mitglied bei EUROSOLAR, sondern ich besitze sogar Aktien des Bürgerunternehmens solarcomplex AG - für 2 000 Euro. ({2}) - Kollegin Homburger auch. - Wir setzen uns also für die richtige Sache ein und sorgen dafür, dass die Energiewende vor Ort vorankommt und dass sich die Betreiber der Anlagen zur Erzeugung von erneuerbaren Energien gegen die Atomkonzerne in der Fläche durchsetzen können. Ich sage Ihnen: Für diese Sache kämpfe ich sehr gerne. Gerade im Andenken an den verstorbenen Hermann Scheer - es ist noch nicht so lange her; ich weiß, dass Sie auch ihn in diesem Plenum hier immer als Lobbyisten beschimpft haben ({3}) sage ich Ihnen: Ohne Hermann Scheer und ohne den Mut der Parlamentarier von Rot-Grün wären wir bei den Erneuerbaren bis heute dort stehen geblieben, wo Sie noch immer hinwollen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es allmählich für nahezu unerträglich, wie diese Debatte mit persönlichen, diffamierenden Vorwürfen geführt wird. ({0}) Das ist dem Ernst der Situation nicht angemessen. Die Bundesregierung hat auf das entsetzliche Unglück in Japan schnell und angemessen reagiert. Die sie tragenden Parteien haben das unterstützt, indem sie das Moratorium in Gang gesetzt haben. ({1}) - Das haben alle getan, die der Mehrheit angehören. Wir haben das Moratorium einstimmig ausgesprochen. Daran gibt es nichts zu diskutieren. ({2}) Was bedeutet denn ein Moratorium? Das heißt nichts anderes, als dass man die Zeit nutzt, um die Maßstäbe zu überprüfen, nach denen wir bisher gehandelt haben. Es ist genau richtig, das jetzt zu tun. Der bekannte englische Ökonom John Maynard Keynes hat einmal gesagt: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung“. Genau darum geht es jetzt. Wir müssen überprüfen, ob sich bei den Kernkraftwerken in Deutschland die Fakten geändert haben. ({3}) Wenn das der Fall sein sollte, dann muss entsprechend gehandelt werden. Das warten wir in Ruhe ab. Nach einem Vierteljahr werden die Ergebnisse vorgelegt. Dann können wir darüber reden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Koczy?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte schön.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Herr Dr. Solms, Sie haben das Wort Moratorium gebraucht. Ich frage Sie, warum dieses Moratorium sozusagen nur bis zum nationalen Tellerrand reicht. Angesichts der Tatsache, dass wir mit deutschem Geld eine Hermesbürgschaft für ein Atomkraftwerk in Brasilien mit veralteter Technologie aus den 70er-Jahren gewähren, von dem bekannt ist, dass es auf labilem Untergrund steht und dass eine unabhängige Kontrolle nicht gewährt ist, in dem Wissen, dass Brasilien das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, frage ich Sie: Warum stehen Sie weiterhin dazu, die Hermesbürgschaft für Angra 3 nicht zurückzuziehen in Anbetracht dessen, dass sich die Lage auch national verändert hat? Warum sind Sie nicht bereit, das Moratorium auch international durchzusetzen und die Grundsatzzusage für die Hermesbürgschaft für Angra 3 zurückzuziehen? ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte in den vier Minuten meiner Redezeit die Debatte nicht auf andere Themen lenken. Auch diese Fragen müssen geprüft werden. ({0}) Jetzt geht es in Deutschland um die Sicherheitskriterien für die deutschen Kernkraftwerke. Diese werden überprüft, und danach wird gehandelt. ({1}) Im Übrigen dreht sich der ganze Streit nur um die Frage, wie wir aus der Kernenergie herauskommen. ({2}) Denn alle Parteien fordern übereinstimmend, dass die Kernkraftwerke auf Dauer abgeschaltet werden. Wir alle definieren die Kernenergie als Brückentechnologie. Ich will versuchen, die Emotionen ein bisschen zu dämpfen. Der Streit dreht sich doch nur darum, wie schnell und unter welchen Voraussetzungen dies geschehen kann und durch welche Energieformen die Kernenergie ersetzt werden kann. Nur darum geht der Streit. Es geht nicht um die Frage „Kernenergie - Ja oder Nein?“. Diese Entscheidung ist vor 30 oder 40 Jahren gefallen. Die können Sie heute nicht mehr revidieren.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich würde jetzt gerne im Zusammenhang sprechen. Ich habe nur noch anderthalb Minuten Redezeit. Jetzt geht es darum, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Neben der Sicherheit - es ist klar, dass sie Vorrang hat - geht es um Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Klimaschutz. Darüber sollten wir uns einig sein. Alle drei Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein. Wir können nicht die Kernkraftwerke abschalten und sie durch den Import von Kernenergie ersetzen. Das ist ausgeschlossen. Darüber sollten wir uns einig sein. ({0}) Wir können auf Dauer die Kernenergie nicht durch neue Kohlekraftwerke ersetzen. Das geht aus Klimaschutzgründen nicht. Auch dazu müssen Sie sich bekennen. ({1}) Wenn wir also in das Zeitalter regenerativer Energien eintreten wollen, dann müssen wir die regenerativen Energien so schnell wie möglich marktfähig machen. ({2}) Dazu gehört selbstverständlich auch der Ausbau der Hochspannungsnetze, Herr Fell, die Sie ein bisschen diffamiert haben, indem Sie sagten, das müsse durch die Verlegung von Erdkabeln erfolgen. Das wird nicht möglich sein. Jetzt geht es darum, wie wir den Prozess beschleunigen können. Wir stehen nicht im Gegensatz zu Ihnen, wenn wir die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängern; ({3}) vielmehr geht es uns darum, den Weg zur verstärkten Nutzung regenerativer Energien so verantwortungsvoll, vorsorgend und schnell wie möglich einzuschlagen. Der Herr Kollege Brüderle hat mit den Eckpunkten eines Netzausbaubeschleunigungsgesetzes einen sehr guten Vorschlag gemacht. Es lohnt sich, gemeinsam darüber zu reden. Diesbezüglich können wir nämlich Handlungsbereitschaft zeigen. Wir haben doch schon oft erlebt, dass große Infrastrukturinvestitionen in Deutschland eine Planungs- und Genehmigungszeit von zehn bis 20 Jahren in Anspruch nehmen. ({4}) Wenn daran nichts geändert wird, werden wir noch auf lange Zeit Kernenergie brauchen. ({5}) Da brauchen wir eine Handlungsinitiative, und auf diese sollten wir uns konzentrieren, statt diesen Grundsatzstreit auf Dauer weiterzuführen. Im Übrigen, Herr Fell, möchte ich in Erinnerung rufen, dass die erste Initiative zur Einspeiseförderung 1990 von Wirtschaftsminister Helmut Haussmann kam, ({6}) und zwar mit dem Stromeinspeisungsgesetz, das zum 1. Januar 1991 in Kraft getreten ist. ({7}) Das haben Sie mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz fortgesetzt - keine Frage. Aber das Gesetz von Helmut Haussmann war die Initialzündung, und darauf haben wir das Copyright. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Frank Schwabe.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Solms, ich gestehe Ihnen durchaus zu, dass Angra 3 ein sehr komplexes Thema ist. Ich würde von der Bundesregierung gerne einmal wissen, was es demnächst sonst noch an Bürgschaften für den Bau von Kernkraftwerken in anderen Ländern der Welt geben soll. Sie haben gerade deutlich gemacht, dass Sie auch aus der Nutzung der Atomenergie heraus wollen. Ich nehme an, Sie sind ebenso wie die Koalition - zumindest gibt sie das vor - gegen den Neubau von Atomkraftwerken. Ich frage Sie: Ist es vor diesem Hintergrund vernünftig und konsequent, in Deutschland aus der Nutzung der Kernenergie heraus zu wollen und den Neubau von Kernkraftwerken auszuschließen, gleichzeitig aber den Neubau von Atomkraftwerken in gefährdeten Gebieten in anderen Ländern durch Exportbürgschaften zu unterstützen? ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Solms, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich müssen diese Maßnahmen nach den gleichen Sicherheitskriterien, wie sie für Anlagen hier in Deutschland gelten, überprüft werden. Das alles steht unter dem gleichen Vorbehalt. Andererseits dürfen wir uns aber auch nicht als Vormund anderer Länder aufspielen. Diese haben natürlich immer ihre nationale Entscheidungshoheit, die wir nicht infrage stellen dürfen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden momentan über die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin, über die Glaubwürdigkeit der Energiepolitik der Koalition und über Ihre eigene Glaubwürdigkeit, Herr Brüderle. Sie haben gesagt, das Zitat, das heute in der Presse steht, sei nicht von Ihnen. Gleichzeitig wollen Sie uns nicht mitteilen, was Sie gesagt haben. Das, Herr Brüderle, ist nicht glaubwürdig. Wir wissen alle, dass Sie ein Freund der Atomwirtschaft sind und die Wirtschaft beruhigen wollen. ({0}) Alle anderen haben Sie offenbar richtig verstanden. Die Protokollanten haben es richtig verstanden und die Wirtschaft auch. Wenn etwa Herr Villis von EnBW sagt, nach drei Monaten werde ein neues Spiel gespielt, dann hat er Ihre Aussage absolut richtig verstanden. Stehen Sie endlich zu dem, was Sie wirklich meinen, und versuchen Sie nicht, die Leute mit unglaubwürdigen Ausreden zu vergackeiern. ({1}) Herr Fuchs, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir würden Angst und Panik verbreiten. ({2}) Und was machen Sie? - Das einzige Argument, das Sie noch haben, ist der Preis. ({3}) Sie präsentieren hier falsche Zahlen und behaupten, der Preis sei gestiegen. Weil ich wusste, dass Sie das sagen würde, habe ich eine Liste der Spotmarktpreise der vergangenen Monate mitgebracht. ({4}) Anfang März, also lange vor der furchtbaren Katastrophe in Fukushima, waren die Preise auf dem Spotmarkt höher als jetzt. Hören Sie endlich auf, den Menschen Angst zu machen. Sie schüren Panik mit Preisargumenten, die nicht stimmen. ({5}) Warum sind Sie in der Defensive? Noch vor einem halben Jahr hat Angela Merkel von einer Revolution in der Energieversorgung gesprochen und behauptet, das Energiekonzept sei wirklich ein Jahrhundertwerk und umfasse viel mehr als die Laufzeitenverlängerung. - Wir erinnern uns! Solche Worte gehen nicht verloren. Sie haben gesagt, es gehe Ihnen mit Ihrem Energiekonzept nicht nur um die Laufzeitenverlängerung. In dieser Woche habe ich gefragt, was aus allen anderen 60 Maßnahmen, die Sie sofort umsetzen wollten, geworden ist. Die Antwort darauf ist verheerend. Ressortabstimmung? Im Sommer wird es irgendwelche parlamentarischen Verfahren geben. Sie haben nichts Konkretes gemacht, außer der Laufzeitenverlängerung. Das ist Ihr Energiekonzept. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skudelny?

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Höhn, ist Ihnen die Studie des Öko-Instituts im Auftrag des WWF bekannt, wonach die Stromgestehungskosten nach dem jetzigen Moratorium um 10 Cent pro Kilowattstunde steigen sollen? Diese Studie wurde im Hinblick auf einen schnelleren Ausstieg aus der Kernenergie durchgeführt. Das Öko-Institut ist nicht verdächtig, ein Lobbyverein zu sein.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe mir diese Studie sehr genau angeschaut. Wir hatten gerade ein Gespräch mit Felix Matthes darüber. ({0}) - Stehen bleiben! Sonst wird die Zeit für die Beantwortung Ihrer Frage nicht auf meine Redezeit angerechnet. Wie gesagt, wir haben uns die Studie genau angeschaut. Felix Matthes geht weiter. Er sagt: Wenn man sehr schnell aussteigt, noch in diesem Jahr zehn Atomkraftwerke vom Netz nimmt und dann in den nächsten Jahren die anderen, dann würde der Preis um 10 Prozent steigen. - Ich sage Ihnen: Die großen Energiekonzerne haben - weil sie das Monopol innehaben - gerade nach der Laufzeitenverlängerung die Preise nur in einem Jahr um 7,5 Prozent erhöht - Sie dagegen haben behauptet, dass die Preise sinken werden -, obwohl die Kosten gesunken sind. Das ist Ihre Politik: Laufzeitenverlängerung und höhere Preise! Das ist das Ergebnis der Politik von Schwarz-Gelb. ({1}) - Genau. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Nun zur Sicherheit. Sie behaupten, dass es nur Ihnen um Sicherheit geht. Herr Brüderle hat gerade gesagt: Sicherheit geht vor. - Angela Merkel hat gesagt: Sicherheit steht über allem; im Zweifel für Sicherheit, darauf können sich die Menschen verlassen. Ich will deutlich machen, was Angela Merkel selbst, als sie von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin war, in punkto Sicherheit gemacht hat. Wer war damals für die Sicherheit der Atomkraftwerke zuständig? Das war der Abteilungsleiter Hennenhöfer. Was hat Herr Hennenhöfer in der Zeit, als Angela Merkel Umweltministerin war, gemacht? Ich stelle nur einen Punkt von den vielen Verwerfungen, für die er verantwortlich ist, und der Lobbyarbeit, die er für die Atomkraft geleistet hat, heraus. Er hat damals gegen den massiven Widerstand der grünen Umweltministerin in Sachsen-Anhalt die Verstürzung von Atommüllfässern in Morsleben umgesetzt. Alle erinnern sich sicherlich noch an die Bilder, wie der Bagger die Atommüllfässer einfach hinunterkippt. Alles ohne jegliche Sorgfalt! Das hat Herr Hennenhöfer durchgesetzt. Die Lagerung von Atommüll der Kraftwerksbetreiber in Morsleben war nicht rechtens. Die Sicherheit von Herrn Hennenhöfer und dieser Kanzlerin ist nichts anderes als Unsicherheit. Nun muss der Staat für Morsleben über 2 Milliarden Euro aufbringen, um die Unsicherheit von Herrn Hennenhöfer zu revidieren. Das ist die Sicherheit dieser Kanzlerin! ({0}) Den grün sprechenden Röttgen sehe ich überhaupt nicht. Er taucht in der Debatte nicht auf. Grün sprechen, schwarz-gelb handeln! Er hat den Atomsicherheitsexperten Renneberg abgesetzt und Herrn Hennenhöfer wieder eingestellt. Das ist Ihre Politik. Am Ende soll dann die Reaktor-Sicherheitskommission die Standards festlegen. ({1}) - Herr Pfeiffer, wer ist denn in der Reaktor-Sicherheitskommission und in den Arbeitsgruppen vertreten? Dort finden wir die Vertreter von Areva, EnBW, Eon und anderen Kraftwerksbetreiber. Die Betreiber sollen über die Sicherheit ihrer eigenen Kraftwerke bestimmen. So sieht das Sicherheitskonzept dieser schwarz-gelben Regierung aus. Das machen wir nicht mit; denn das ist keine Sicherheit für die Bevölkerung. ({2}) Am Ende will ich noch etwas zu dem Vorwurf sagen, Grüne seien immer gegen den Netzausbau. ({3}) Das ist der letzte Vorwurf, der Ihnen noch geblieben ist. Schauen wir uns einmal die Daten der Bundesnetzagentur an! Ich verweise auf den Monitoringbericht 2010. Es gibt 24 Projekte im vordringlichen Bedarf, wir haben zehn Projekte, bei denen es Probleme gibt, und wir haben drei Projekte, gegen die es Bürgerproteste gibt. Proteste gegen die Konzepte dieser drei Projekte, gegen die es Bürgerproteste gibt, kommen nicht nur von den Grünen, sondern auch von allen anderen Parteien. Deshalb sage ich: Lasst uns doch gemeinsam überlegen, wer wirklich den Netzausbau verhindert. Das sind nämlich die Betreiber, die nicht wollen, dass die erneuerbaren Energien stärker ins Netz einspeisen. Das ist der Punkt. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich komme zum Ende. - Deshalb schlagen wir Grüne einen Fahrplan vor: Wir wollen in der nächsten Legislaturperiode raus aus der Nutzung der Atomkraft. Wir wollen den Ausstieg endgültig machen, wir wollen Ihnen von CDU und FDP jede Möglichkeit nehmen, den Ausstieg wieder zurückzunehmen. Wir wollen das mit Energieeffizienz und mit den erneuerbaren Energien erreichen. Wir haben einen Antrag vorgelegt - der ist hier mehrfach erwähnt worden -, der die Hermesbürgschaften für Angra 3 in Brasilien betrifft. Heute können Sie durch Ihr Stimmverhalten deutlich machen: Es gibt keine Milliarden mehr aus Deutschland für den Bau eines Atomkraftwerks in einem Erdbebengebiet. - Das stellen wir zur Abstimmung. Ich hoffe, Sie stimmen dem zu. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wie die Debatte jetzt geführt wird, hat im Prinzip mit der Überschrift relativ wenig zu tun. Es geht um die zukünftige Energieversorgung in Deutschland. ({0}) Vor dem Hintergrund der Wahl am kommenden Sonntag in Baden-Württemberg möchte man keine Chance ungenutzt lassen, um den amtierenden Ministerpräsidenten in Misskredit zu bringen. ({1}) Deswegen sprach auch der Generalsekretär der SPD von Baden-Württemberg hier, wenn auch relativ fachunkundig. Aber das spielt keine Rolle. ({2}) Es geht um die Frage: Wie erfüllen wir die klassischen Vorgaben des Energiekonzepts der Bundesregierung so, dass sie mit den ökonomischen Belangen unseres Landes, also mit unseren ureigensten Interessen, in Einklang gebracht werden können? Heute früh gab es schon eine Veranstaltung mit Stephan Kohler von der dena. Er hat uns dringend nahegelegt, dass wir uns dem Effizienzkriterium, das auch im Energiekonzept der Bundesregierung eine ganz zentrale Rolle spielt, verstärkt zuwenden. ({3}) Das ist eine Anregung, die wir wirklich ernst nehmen sollen. Wir sollen natürlich auch die Frage der Potenziale der erneuerbaren Energien intelligent diskutieren. Es nutzt nämlich nichts, wenn man blindlings die Windenergie ausbaut, aber nicht dafür sorgt, dass das Produkt Strom von dort weggeleitet wird. Die Schau, die Sie hier abziehen, soll nur überdecken, dass Sie einen falschen Schritt in das Zeitalter der erneuerbaren Energien gemacht haben. Sie haben nämlich nichts dafür getan, dass die Netze in Deutschland so ausgebaut werden, dass der Strom möglichst rasch zu den Verbrauchern gelangt. ({4}) Wir stehen - damit wende ich mich dem Energiekonzept der Bundesregierung zu - auch vor der technologischen Herausforderung, wie wir die notwendige Energiespeicherkapazität schaffen, um die erneuerbaren Energien auch dann verfügbar zu haben, wenn wir den Strom tatsächlich brauchen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage einer Grünenkollegin, die ich, weil sie so weit weg sitzt, nicht erkenne?

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist Frau Nestle.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Richtig, wunderbar.

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Vergnügen, Frau Nestle. ({0}) - Der hat Sie nur in Umrissen gesehen.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Obermeier. - Sie sprachen gerade davon, dass wir Grünen noch nie etwas für den Ausbau der Stromnetze getan hätten. Abgesehen von der Tatsache, dass wir als einzige Fraktion ein umfassendes Konzept für den Ausbau der Stromnetze vorgelegt haben, frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass es im Moment zu über 90 Prozent an den Verteilnetzen liegt, wenn erneuerbare Energien nicht abtransportiert werden können, dass wir seit vielen Jahren dafür kämpfen, diese Verteilnetze schnell, bürgerfreundlich und unterirdisch zu bauen, und zwar zu fast keinen Mehrkosten, und dass insbesondere die Union seit Jahren dagegen kämpft, diese bürgerfreundliche Lösung umzusetzen, mit der wir schon längst die Netze hätten, die wir brauchen, und dann fast nichts mehr abgeregelt würde? ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Nestle, vielleicht sollten wir uns im Wirtschaftsausschuss einmal darüber unterhalten, wo denn die Widerstände gegen eine unterirdische Verlegung von 110-kV-Leitungen tatsächlich liegen. Aus meinem Wahlkreis ist mir kein einziger Fall bekannt, bei dem die unFranz Obermeier terirdische Verlegung einer 110-kV-Leitung gescheitert wäre. Aber Tatsache ist, Frau Nestle, dass wir in Deutschland bei den Höchstspannungsübertragungsnetzen seit Jahren die allergrößten Probleme haben. Ich erinnere Sie an den Fall in Schleswig-Holstein, in dem über zehn Jahre Prozesse hinsichtlich der Genehmigung und des Baus einer Höchstspannungsübertragungsleitung geführt wurden und nach zehn Jahren der Antragsteller aufgegeben hat. Das sind unsere Probleme. In all den Jahren, in denen wir die Problematik schon kennen - die dena hat zweifelsfrei festgestellt, dass wir 3 600 Kilometer neue Höchstspannungsübertragungsleitungen brauchen -, sind in Deutschland ganze 19 Kilometer verlegt worden. Das sind unsere Probleme. Was die 110-kV-Leitungen betrifft, sollten Sie mir einmal sagen, wo denn Schwierigkeiten bestehen. Konkret gefragt: Wo gibt es Anträge, die nicht genehmigt wurden? Dann gehen wir der Geschichte gern nach. Ich war bei der Frage: Wie schaffen wir den Übergang unter Beachtung des Kriteriums der Versorgungssicherheit? Kolleginnen und Kollegen, da müssen wir schon zusammenstehen. Wenn es um Genehmigungen geht - sei es für 110-kV-Leitungen, sei es für Höchstspannungsleitungen -, verlange ich von den Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses, dass sie die Anträge dann auch vor Ort begleiten mit dem Ziel, dass die Leitungen möglichst umweltverträglich geplant und gebaut werden, sodass wir nicht den Vorwurf bekommen, dass wir im fernen Berlin die Gesetze machen, vor Ort aber mit den Demonstranten gegen die Leitungen auf die Straße gehen. ({0}) Das geht nicht, Kolleginnen und Kollegen. Sie wissen ganz genau, warum ich das eindeutig in eine Richtung sage. ({1}) Jetzt will ich noch ein Wort zu den scharfen Auseinandersetzungen über die Kernenergie und über die Laufzeitverlängerung im Energiekonzept der Bundesregierung sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, bitte tun Sie nicht so, als wären die Verhältnisse, die in Japan zu der extremen Situation geführt haben, eins zu eins auf Mitteleuropa und auf Deutschland übertragbar! ({2}) Dem ist nicht so, ({3}) es sei denn, Sie würden erklären, dass Sie bei uns mit einem Tsunami und einer Welle von 13 Meter Höhe rechnen. Nach meinem Sicherheitsbedürfnis und meiner Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit gehe ich nicht davon aus, dass die Kernkraftwerke in Deutschland von einem Tsunami bedroht sind. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Obermeier, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Menzner?

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Frau Kollegin Menzner? Bitte schön.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Obermeier, Sie betonten eben, dass aus Ihrer Sicht die Verhältnisse von Japan nicht eins zu eins auf Deutschland zu übertragen sind. Das mag ja richtig sein, aber die Japaner sehen sich mit einer Situation konfrontiert, mit der sie nicht gerechnet haben. Stellen Sie in Abrede, dass auch in Deutschland uns heute vielleicht noch sehr unwahrscheinlich anmutende Ereignisse eintreten könnten, die eine ähnliche Situation provozieren könnten? Ich denke zum Beispiel an einen Flugzeugabsturz - verschiedene AKW sind in Einfluggebieten -, einen länger andauernden Stromausfall - das ist sicher auch nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus möglich -, der dann möglicherweise Auslöser für ähnliche Probleme ist. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Menzner, genau mit diesen Themen möchte ich mich in den restlichen drei Minuten befassen. ({0}) - Bitte, Sie dürfen sich setzen. Eine Eins-zu-eins-Übertragung der Verhältnisse von Japan auf Deutschland ist mit Sicherheit nicht zulässig. Dennoch sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht, das kerntechnische Regelwerk unter dem Eindruck dessen, was in Japan passiert ist, zu überdenken, zu ergänzen und die Dinge einzuarbeiten, die wir aus der Erfahrung von Japan heraus noch nicht eingearbeitet haben. Dabei rede ich ganz konkret von folgenden Fragen: Wie sind unsere Kernkraftwerke gegen Erdbeben gesichert? Wie sieht es mit der Notstromversorgung aus? Noch konkreter: Wie ist die Notwasserversorgung in dem speziellen Fall in unseren Kernkraftwerken berechnet? Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen heute nicht sagen, welches Ergebnis diese Untersuchung zeitigen wird. Man wird sich auch über die Frage unterhalten müssen, mit welchen Erdbebenwerten auf der Richterskala wir in Kontinentaleuropa und mit welchem entsprechenden Sicherheitszuschlag wir zu rechnen haben. Diese Fragen werden wir in den nächsten drei Monaten ganz explizit und in aller Ruhe und Sachlichkeit erörtern. Dann wird es ein Ergebnis geben, und dann wird entschieden, welche kerntechnischen Anlagen den Sicherheitsanforderungen entsprechen und welche nicht. Deswegen ist das Philosophieren über die Frage, was ein dreimonatiges Moratorium bedeutet, für meine Begriffe völlig fehl am Platz. Es ist klug, in diesem Zusammenhang nicht panikhaft und hysterisch zu agieren, sondern die Dinge sachlich und richtig zu analysieren und dann vernünftig zu entscheiden. ({1}) Frau Höhn, mit den Worten „panikhaft“ und „hysterisch“ habe ich auch Sie gemeint. Das ist mir eingefallen, als Sie gesprochen haben. Ich will Ihnen sagen: Wenn man in drei Monaten nicht fertig wird, lässt sich das Moratorium ohne Weiteres verlängern. Es könnte ja sein, dass wir aus irgendwelchen Gründen in drei Monaten die notwendigen Erkenntnisse aus Japan nicht präsent haben. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir im Detail relativ wenig wissen über die Ursachen dafür, was gerade in Japan passiert ist. Es müsste uns aber schon interessieren, was konkret die Ursache war. Vor allem müsste uns der sicherheitstechnische Unterschied zwischen den jetzt kaputten Anlagen in Japan und unseren Anlagen interessieren. Das möchte ich auch in Form einer Synopse dargestellt haben. Das Moratorium lässt sich also verlängern. Frau Höhn, wollen Sie ernsthaft bestreiten, dass das, was jetzt schon läuft und auf uns zukommt, eine Preissteigerung für den Stromverbraucher zur Folge hat? Wollen Sie das bestreiten? Nein. Das dürfen Sie nicht bestreiten. Eines ist doch klar: Wenn das Angebot verknappt wird, dann steigt der Preis für die Nachfrager. Das ist eine Regel, die auch Sie kennen sollten. ({2}) Wir legen den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Kernkraftwerke, weil wir die Ängste unserer Bürgerschaft ernst nehmen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Kelber für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Plauderrunden deutscher Wirtschaftsverbände werden immer mehr zum deutschen WikiLeaks der Energiepolitik. Im Spätherbst plauderte dort ein RWE-Vorstand aus, dass es einen Geheimvertrag zwischen der Bundesregierung und den Atomkonzernen gibt, der erst mit deutlicher Verspätung der Öffentlichkeit präsentiert wurde. ({0}) Jetzt lernen wir, was es, wie der Bundeswirtschaftsminister am 14. März dort ehrlich sagte, mit dem sogenannten Moratorium auf sich hat. Natürlich ist das Protokoll nicht fehlerhaft. Ich glaube, die Mehrheit der Bevölkerung ist der festen Überzeugung, dass dieses Protokoll der Wahrheit entspricht. So schön es ist, dass die Wahrheit immer ans Licht kommt, Herr Pfeiffer, so groß ist das Misstrauen, das durch solche Meldungen, durch solches Verhalten in der Bevölkerung gegenüber der Politik entsteht. Der Deutsche Bundestag könnte aber heute wieder Vertrauen zurückgewinnen und der klaren Mehrheitsposition der deutschen Bevölkerung, die ja zu drei Vierteln will, dass die Atomkraftwerke zügig abgeschaltet werden, zum Durchbruch verhelfen. Um das zu ermöglichen, legen wir heute den Entwurf eines Abschaltgesetzes zur Abstimmung vor. Um das zu ermöglichen, legen wir ein Programm für eine Energiewende vor. Darüber können Sie heute abstimmen, ganz konkret und ohne jegliche Ausflüchte. ({1}) In dem Abschaltgesetz geht es um die Rücknahme der Laufzeitverlängerung und die sofortige und dauerhafte Abschaltung der ältesten sieben Atommeiler und des Pannenreaktors in Krümmel. Zur Ehrlichkeit gehört auch dazu, zu sagen, was bei der Anhörung zur Laufzeitverlängerung zur Sprache kam. Ich schaue gerade Herrn Kauch, den Sprecher der FDP, der ja nach mir redet, und Frau Dött von der CDU/CSU an, die ja beide dabei waren. Bei dieser Anhörung war klar, dass Sie ohne jegliche Sicherheitsüberprüfung die Laufzeitverlängerung von acht Jahren für die ältesten Atomkraftwerke durchsetzen werden. In dieser Anhörung, die Sie ja zeitlich begrenzt haben, indem Sie die Debatte mit geschäftsordnungswidrigen Tricks beendet haben, war auch klar, dass die Notstromversorgung in Forsmark und in Krümmel nicht durch einen Tsunami, sondern durch andere Vorkommnisse außer Kraft gesetzt wurde. Dort war klar, dass laut einem von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit vorgelegten Gutachten verschiedene deutsche Atomkraftwerke nicht mehr auf die modernsten Sicherheitsstandards hochzurüsten sind. In der Sachverständigenanhörung war auch klar, dass bei vielen Kraftwerken eine Redundanz der Notstromversorgung nicht gegeben ist, kein Schutz vor terroristischen Angriffen besteht, Notfallwarten fehlen und bei allen älteren Reaktoren die Abklingbecken, die jetzt in Japan ein großes Problem darstellen, außerhalb des Sicherheitsbereichs dieser Kraftwerke liegen. Zwischen Bundesminister Röttgen, der am Anfang nicht da war, dann eine kurze Stippvisite unternommen hat, wieder gegangen ist und jetzt wieder hereingekommen ist, um seine Sachen zu packen, ({2}) und der Sicherheit in Atommeilern verhält es sich ja wie bei Und täglich grüßt das Murmeltier. Jetzt hat er an die Presse ein Papier gegeben, in dem den Betreibern von Atomkraftwerken stahlharte Auflagen gemacht werden. Im Spätherbst gab es schon einmal ein Papier, das die Kosten für Nachrüstungen der bestehenden Atomkraftwerke auf 50 Milliarden Euro beziffert hat. Was ist herausgekommen? 500 Millionen Euro zahlt die Industrie pro Reaktor, für den Rest sollen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Notfall aufkommen. Herausgekommen ist auch, dass es keine Liste mit den erforderlichen Nachrüstungen gibt und dass teilweise bis zu zehn Jahre, also über die Restlaufzeit hinaus, notwendige Nachrüstungen aufgeschoben werden können. Herausgekommen ist auch eine Verwässerung der Vorschriften im Atomgesetz, die Wegnahme des Klagerechts für Anwohner und der Stopp des aktualisierten über Tausend Seiten umfassenden Sicherheitskonzepts, des sogenannten kerntechnischen Regelwerks, indem es vom Minister und dem Atomlobbyisten, der vom Minister als oberster Atomaufseher eingestellt wurde, außer Kraft gesetzt wurde. Einen solchen Unterschied zwischen Reden und Handeln nennt man, mit Verlaub, Frau Präsidentin, politische Hochstapelei. ({3}) In einem zweiten Antrag haben wir in 40 Punkten aufgelistet, was jetzt getan werden muss, um die Energiewende wieder einzuleiten. Es geht um Netzausbau, um Energiesparen, um die Ermöglichung von Investitionen durch Stadtwerke bis hin zur Gebäudedämmung. Wir erinnern uns: Sie haben in den letzten 16 Monaten nicht nur die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert, Sie haben auch die Markteinführung von Minikraftwerken gestoppt, Fernwärme höher besteuert, das Marktanreizprogramm für Erneuerbare zusammengestrichen, die Mittel für das Gebäudedämmungsprogramm, das Sie, Herr Obermeier, gerade als eine wichtige Maßnahme bezeichnet haben, auf die Sie sich konzentrieren wollen, um 60 Prozent gekürzt und waren auch völlig untätig beim Netzausbau. So sieht die Realität der letzten 16 Monate aus. ({4}) Deutschland braucht keine Regierung, die Geheimverträge in Kungelrunden abschließt, Moratorien ausruft und Kommissionen einberuft, nur um über Landtagswahlen hinwegzukommen. Deutschland braucht keine Regierung, die erneuerbare Energien und Energieeffizienz blockiert. Deutschland braucht ein selbstbewusstes Parlament, das seine Aufgabe wahrnimmt. Das heißt: Zustimmung zum Abschaltgesetz und Rückkehr zur Energiewende. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Kauch hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mich gar nicht mit den Halbwahrheiten und Unwahrheiten beschäftigen, die Herr Kelber hier verbreitet hat, weil ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger es inzwischen leid sind, dass die Abgeordneten sich in den Debatten der letzten zwei Wochen hier nur wechselseitig vorwerfen, was sie denn versäumt, gemacht oder vermeintlich nicht gemacht haben. Wir sollten uns jetzt darum kümmern, wie wir mit der Situation umgehen, vor der wir stehen. Klar ist für diese Koalition: Wir wollen den Weg in das Zeitalter der Erneuerbaren gehen. Die Kernkraft war und ist nur Brückentechnologie. Diese Debatte können wir aber nicht führen, ohne einen Blick auf den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit zu richten. Es kann nicht sein, dass wir diese Debatte führen, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, welche Auswirkungen die Anträge, die die Opposition hier vorlegt, für den Klimaschutz haben. Im letzten Jahr haben Sie gesagt, Klimaschutz habe Priorität. Jetzt ist Klimaschutz für Sie völlig egal. Das ist nicht redlich, meine Damen und Herren. ({0}) Das Hochfahren der Kohle- und Gaskraftwerke verschärft die Problematik, unsere Klimaschutzziele zu erreichen. Dennoch gilt: Fukushima hat die Lage geändert. Sicherheit muss neu gedacht werden. Gleiche Risiken müssen anders bewertet werden als zuvor. Deswegen ist es die gemeinsame Aufgabe aller, die nicht den Bürgerinnen und Bürger vorspielen, man könne morgen die Kraftwerke abschalten, die Sicherheitsreserven unserer Kraftwerke zu erhöhen, schärfere Sicherheitsanforderungen nach dem Moratorium zu ver11302 abschieden und deutlich zu machen, dass die Kraftwerke, die nicht nachgerüstet werden können oder bei denen das wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, abgeschaltet werden. Dies prüfen wir während des Moratoriums. Das ist glaubwürdige Politik, meine Damen und Herren. ({1}) Wenn wir davon ausgehen, dass ein Teil dieser Reaktoren - ob es nun diese sind oder andere, die momentan weiterlaufen - nicht den Sicherheitsanforderungen, die wir neu definieren werden, entspricht, dann müssen wir uns heute darauf vorbereiten, wie wir schneller in das Zeitalter der erneuerbaren Energien kommen und wie wir gegebenenfalls ein befristetes Hochfahren von fossilen Kraftwerken an anderer Stelle ausgleichen können. ({2}) Ganz klar ist, dass wir bei den erneuerbaren Energien nicht allein ein Mengenproblem haben. Selbst wenn wir so große Anreize setzten, dass die Kapazitäten von erneuerbaren Energien hochgefahren würden, kämen sie momentan bei diesem Netz nicht zum Verbraucher und wären in diesem Netz nicht stabil anbindbar. Deshalb müssen wir den Engpass für die erneuerbaren Energien beseitigen, indem wir Netze ausbauen und Speicher fördern. Das ist das Gebot der Stunde. ({3}) Meine Damen und Herren, beim Netzausbau geht es auch um die Planungszeiten. Es kann doch nicht sein, dass es bei Stromtrassen teilweise Genehmigungszeiten von acht Jahren gibt. Ich will gar nicht darüber diskutieren, wie viel davon auf Protest zurückgeht, wie viel auf zu wenige Beamte in den Ländern und wie viel auf den rechtlichen Rahmen, den der Bund ändern kann. Eines ist aber klar: Genehmigungszeiten von acht Jahren gehen nicht. An dieser Stelle müssen Bund und Länder zusammenarbeiten. Genau diese Frage werden wir im nächsten Monat mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer besprechen müssen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Achten Sie bitte auf die Zeit, Kollege Kauch.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren, Folgendes ist ebenfalls klar - ich sage das auch sehr deutlich in Richtung der Bundesregierung; auch der Bundesfinanzminister muss erkennen, dass wir eine veränderte Lage haben -: Wenn wir mehr Gas im Stromsektor brauchen, müssen wir bei der Gebäudesanierung vorankommen, damit weniger Gas für Heizzwecke verbraucht wird. ({0}) Das bedeutet, dass wir das Gebäudesanierungsprogramm in einem größeren Umfang finanzieren müssen, als es bisher vorgesehen ist. Auch für den Bundeshaushalt ist das Moratorium nicht ohne Auswirkungen, meine Damen und Herren. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Heil das Wort. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle und Herr Kauch, die Glaubwürdigkeit ist nur theoretisch sehr einfach wiederherzustellen, wenn man sie einmal verloren hat. Es geht um das alte Motto: Man muss sagen, was man tut, und tun, was man sagt. Wenn man Glaubwürdigkeit verspielt hat - das haben Sie -, ist das zu beachten, was Ihnen die frühere Bischöfin Margot Käßmann geraten hat. Sie hat in Bezug auf Ihren Zickzackkurs in der Atompolitik gesagt, es würde ihr persönlich - ich glaube, auch vielen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land - Respekt abnötigen und zu mehr Glaubwürdigkeit führen, wenn Sie wenigstens einmal den Mut hätten, zu sagen, dass Sie im Herbst letzten Jahres falsche Entscheidungen getroffen haben, die jetzt zu korrigieren sind. Diesen Mut haben Sie nicht. Sie eiern herum. ({0}) - Können Sie das bitte wiederholen? ({1}) - „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, hat einmal ein deutscher Politiker gesagt. Herr Brüderle, meine Damen und Herren von der Koalition, ich sage in aller Deutlichkeit, dass das, was die Süddeutsche Zeitung heute berichtet hat, der Wahrheit entspricht: Sie, Herr Brüderle, haben an dem Tag, an dem Frau Merkel das Moratorium verkündet hat, das Ganze in internen Runden gegenüber der deutschen Wirtschaft als irrationales Wahlkampfmanöver bezeichnet. Sie können hier nicht so tun, als sei das ein Protokollfehler; das glaubt Ihnen kein Mensch. Die Debatte heute hat gezeigt - im Unterschied zu den Demutsschauspielereien der letzten Woche, die Sie an den Tag gelegt haben -, dass Sie schon jetzt versuchen - die Rede von Herrn Obermeier war ein Beleg dafür -, die Ereignisse in Japan zu relativieren. Sie beachten nicht, dass es nicht nur die Vorfälle in Japan gab, sondern auch die Vorfälle in Tschernobyl, 1979 auf Three Mile Island bei Harrisburg, später in Forsmark 2007. Die Vorfälle ereigneten sich also auch in hochindustrialisierten Hightechländern wie Schweden. Hubertus Heil ({2}) Meine Damen und Herren, Tatsache ist: Sie schaffen es nicht, den Menschen in Deutschland ein X für ein U vorzumachen. Sie können noch so sehr versuchen, sich herauszureden: Sie waren es, die die Restlaufzeiten auch alter, unsicherer Schrottreaktoren um acht Jahre verlängern wollten. Sie sollten einmal die Traute haben, hier im Deutschen Bundestag zu bekennen: Ja, wir haben uns geirrt. Dann kann man hier weiterreden. ({3}) Ich will eines zur Legendenbildung bei der CDU/ CSU sagen. Sie haben im Herbst letzten Jahres das außer Kraft gesetzt, was die Bundesminister Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel auf den Weg gebracht haben: die Überarbeitung des kerntechnischen Regelwerks. Unser Ziel war es, nicht nur den geordneten Ausstieg zu organisieren, sondern auch die Sicherheitsanforderungen für die noch im Netz befindlichen Reaktoren auf den Stand von Wissenschaft und Technik der Jetztzeit zu bringen und sie nicht auf dem Stand der 60er- und frühen 70er-Jahre zu belassen. ({4}) Es waren Bundesminister Röttgen und sein Abteilungsleiter, die dafür gesorgt haben, dass dieser Weg ausgesetzt wurde. Sie könnten das kerntechnische Regelwerk sofort wieder in Kraft setzen, wenn Sie denn wollten. ({5}) Herr Brüderle, ich will mich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen Ihrer komplett gescheiterten Energiepolitik beschäftigen. Für uns alle müsste eigentlich das Ziel sein, eine sichere, saubere, tragfähige und bezahlbare Energieversorgung für unser Land, für den Industriestandort Deutschland, zu sichern. Das, was Sie im Herbst mit der Laufzeitverlängerung, der Verlängerung der Restlaufzeiten alter, abgeschriebener Atommeiler, gemacht haben, hat nicht erst nach der Katastrophe in Japan zu Folgendem geführt: zu Investitionsstillstand und Attentismus. Es ist Tatsache, dass Sie den Großkonflikt wieder aufgerissen haben, der die Republik 30 oder 40 Jahre lang gespalten hat und den Rot-Grün befriedet hat. Das hat dazu geführt, dass keiner mehr so richtig wusste, wo es langgeht. Die EVU, denen zuliebe Sie das gemacht haben, wussten zwar, dass ihr Oligopol verfestigt wird, haben aber kurzfristig den Fehler gemacht, die Dollarzeichen in den Augen wichtiger zu nehmen als die langfristige Entwicklung. Aber auch diese Unternehmen mussten damit rechnen, dass es Klagen vonseiten des Bundesrates und der Fraktionen dieses Hauses geben würde, mit dem Ergebnis, dass keiner genau weiß, was läuft. Keiner weiß, wie 2013 die Bundestagswahlen ausgehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Heil, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Otto?

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich meinen Gedanken noch beenden darf, sehr wohl, Herr Otto.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das wird Ihnen nicht gelingen. Herr Otto wird gleich Ihre Redezeit verlängern, die demnächst abläuft.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann dringend Herr Otto, bitte schön. ({0})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich verlängere gern Ihre Redezeit, Herr Kollege Heil. Helfen Sie mir bei Ihrer Argumentation, die lautet, die Ereignisse in Japan hätten erwiesen, dass das Energiekonzept dieser Bundesregierung falsch sei und dass wir allein Fehler gemacht hätten. Das ist das Mantra Ihrer Rede. Erklären Sie mir bitte Folgendes: Wenn wir die Laufzeitverlängerung nicht beschlossen hätten, wären dann die sieben Meiler, die wir jetzt abgeschaltet haben, im Rahmen des Konzepts, das Sie vorher verabschiedet hatten, vom Netz, ja oder nein? Erklären Sie mir bitte vor diesem Hintergrund: Was hat die Katastrophe in Japan, die wir sehr ernst nehmen, mit der Laufzeitverlängerung, die wir im Herbst beschlossen haben, zu tun? Entweder erkennen wir, dass alle Kernkraftwerke unsicher sind. Dann müssen sie unabhängig vom Zeitpunkt, zu dem sie errichtet worden sind, vom Netz genommen werden. Wenn aber die Meiler sicher sind und die Sicherheitsüberprüfung tatsächlich keine neuen Erkenntnisse liefert, frage ich Sie: Wo ist der Zusammenhang zwischen Japan und der Verlängerung der Laufzeiten? ({0}) - Das ist eine konkrete Frage, die auch beantwortet wird. Damit kein Missverständnis aufkommt, Herr Kollege Heil, sage ich: Japan gibt uns Anlass zum Nachdenken. ({1}) Aber das hat doch nichts mit der Laufzeitverlängerung zu tun, verdammt noch einmal. ({2}) Wenn unsere Kernkraftwerke aufgrund neuer Erkenntnisse unsicher sind, sind sie abzuschalten. Das hat nichts mit der Frage des Energiekonzeptes zu tun. ({3}) Diese Logik erschließt sich mir nicht. Vielleicht können Sie mir dabei etwas nachhelfen.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geschätzter Kollege Otto, ich bedanke mich ganz herzlich für diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheit gibt, Aufklärung in Ihren Reihen zu leisten und mit einigen Mythen aufzuräumen, die bewusst verbreitet werden. Erstens. Die Laufzeitverlängerung ist natürlich eine Risikoverlängerung erster Güte; das ist gar keine Frage. Sie haben die Laufzeiten der alten Reaktoren, die Sie in Ihrem Moratorium nun für drei Monate vom Netz nehmen wollen, um sage und schreibe acht Jahre pro Reaktor verlängert. Sie haben also Druckwasserreaktoren der alten Baulinien aus den 70er-Jahren verlängert. Gleichzeitig hat Ihr Bundesumweltminister, der eigentlich auch für Reaktorsicherheit zuständig ist, ({0}) auf Druck der Atomlobbyisten im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung das kerntechnische Regelwerk, das die Standards für die Sicherheit von Atomkraftwerken und für ihren Betrieb festlegt, abgelehnt und damit die Regelung der Betriebsgenehmigung vom Tisch gewischt. Sie haben nichts für die Sicherheit getan, sondern das waren Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel. Sie haben sie mit diesem Atomkonsens vom Tisch gewischt. Deshalb müssen Sie sich Folgendes zurechnen lassen: Wir hätten die sieben Altmeiler und das Kraftwerk Krümmel vom Netz genommen. Heute sehen Sie, dass das richtig und notwendig ist. Herr Staatssekretär, Sie müssen die Frage beantworten, ob Sie das eigentlich dauerhaft oder nur für drei Monate machen wollen. Das könnten Sie der deutschen Öffentlichkeit sagen. ({1}) Herr Otto, Sie müssen zweitens zur Kenntnis nehmen: Wir haben mit dem Energiekonsens den geordneten Ausstieg aus der Atomkraft organisiert, und wir haben die Regeln für den Betrieb von Kernkraftwerken verschärft. Sie haben die Regeln vom Tisch genommen, die schon für Probebetrieb, Aufsicht und Genehmigung galten. Sie haben gleichzeitig - Sie müssen begründen, warum Sie das getan haben - die Restlaufzeiten für alte, abgeschriebene Atommeiler verlängert. Sie können sich dabei noch so sehr herausreden, aber die deutsche Öffentlichkeit wird Ihnen diesen Eiertanz nicht abnehmen. Deshalb biete ich Ihnen Folgendes an - wir kennen uns aus anderer Zusammenarbeit, Herr Otto, und schätzen uns durchaus -: Für dieses Land ist ein Energiekonsens notwendig, der über mehrere Legislaturperioden und Regierungswechsel halten sollte. Das bieten wir Ihnen mit den heutigen Anträgen unter zwei Prämissen an. Erstens. Wir müssen zum geordneten Ausstieg aus der Atomkraft auf klarer Rechtsgrundlage und nicht mit windiger §-19-Begründung ({2}) zurückfinden. Deshalb: zurück zum rot-grünen Atomkonsens! Mit Blick auf den Atomkonsens müssen wir sagen, wo wir hinwollen, nicht nur, wo wir herausmüssen. Dabei geht es um Energieeffizienz, Energiesparen, moderne Energieproduktion und erneuerbare Energien. Herr Otto, die Vertreter Ihrer Fraktion und Sie als Staatssekretär versuchen immer, die Grünen und andere so ein bisschen in die Ecke zu stellen - Herr Brüderle hat das auch mit der SPD versucht, ohne dass er dafür einen Nachweis erbringen konnte -, indem Sie sagen, sie seien gegen Pumpspeicherkraftwerke und Netzausbau. Herr Brüderle, ich empfehle Ihnen: Reden Sie einmal mit dem Landtagskandidaten der FDP aus dem Hotzenwald in Baden-Württemberg, der auch gegen dieses Pumpspeicherkraftwerk ist. Reden Sie mit CDU- und FDP-Kommunalpolitikern, die gegen den Netzausbau sind. So billig will ich es mir gar nicht machen. Aber ich verstehe eines nicht: Warum können Sie nicht begreifen, dass die Akzeptanz des Projektes, das wir gemeinsam wollen - es geht um den Ausbau von Hochspannungsleitungen und Verteilernetzen -, steigen würde, wenn die Menschen die Sicherheit hätten, dass das zum geordneten Ausstieg aus der Atomkraft führt? Dann hätten auch die Befürworter des Ausbaus bessere Argumente. Dass Sie diesen Zusammenhang nicht erkennen, halte ich für kurzsichtig. ({3}) Herr Otto, ich gebe Ihnen noch ein Argument mit auf den Weg - Sie sind wie ich Wirtschaftspolitiker; in einzelnen Bereichen sind wir unterschiedlicher Auffassung -: Wie Sie diese Planungsunsicherheit hinsichtlich der notwendigen Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik und erneuerbare Energien herbeiführen konnten, das werden Sie sich anrechnen lassen müssen. Ich sage es noch einmal: Kehren Sie zurück auf den Weg der Vernunft! Nichts Halbgares und keine Volten schlagen vor Landtagswahlen! Wir brauchen mehr Glaubwürdigkeit und einen geordneten Ausstieg aus der Atomkraft. Wir brauchen ein neues Energiekonzept, das Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik und erneuerbare Energien vorsieht. Das wäre Wirtschaftspolitik aus einem Guss. Das wäre etwas anderes als der Dilettantismus und die Klientelpolitik, die Sie hier an den Tag gelegt haben, Herr Otto. Sie können sich wieder setzen. ({4}) - Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen. ({5}) Hubertus Heil ({6}) An dieser Stelle geht es um die Sache, lieber Herr Kollege. Das, was passiert ist, ist viel zu ernst, als dass Sie das hier einfach so abtun könnten. 68 Prozent der Menschen in Deutschland würden keinen Pfifferling darauf setzen, dass Sie es mit diesem ominösen Moratorium ernst meinen. Wegen der Rechtsgrundlage sollten Sie einmal in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland schauen. Den Artikel „Par ordre du mutti“, ({7}) per Anweisung der Bundeskanzlerin, finden Sie dort nicht. Die Energieversorgungsunternehmen bereiten die Klagen schon vor, die sie nach der Landtagswahl gegen das einbringen werden, was Sie jetzt rechtswidrig machen. Deshalb sage ich: Schaffen Sie eine klare Rechtsgrundlage für den geordneten Ausstieg. Wir legen heute den Entwurf eines Ausstiegsgesetzes vor. Helfen Sie mit, damit wir in Deutschland die modernste Energieversorgung bekommen, mit erneuerbaren Energien, mit effizienten Kraftwerken und mit Energiesparen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sauber, sicher und bezahlbar - dafür stehen wir. Chaos ist Ihre Sache. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Marie-Luise Dött hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Lichte der schlimmen Ereignisse in Japan führen wir eine sehr intensive Diskussion über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland; das ist richtig. Die Ereignisse in Japan lassen ein Weiter-so nicht zu. ({0}) Aber was passiert jetzt in Deutschland? Wir erleben eine hemmungslose Instrumentalisierung der Ereignisse in Japan durch die Opposition für die Durchsetzung ihrer ideologiegetriebenen Energiepolitik. ({1}) Wir erleben eine bewusste Verunsicherung der Bürger unseres Landes, um alte Feindbilder und überholte Politikkonzepte von Rot-Grün zu neuem Leben zu erwecken. ({2}) Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist nicht akzeptabel. ({3}) Es besteht keine Gefahr für die Bürger in unserem Land. Unsere Kernkraftwerke sind sicher. ({4}) Ihre Methode - gute Kernkraftwerke unter Rot-Grün, schlechte unter Schwarz-Gelb; gute Castortransporte unter Rot-Grün, schlechte unter Schwarz-Gelb - ist billig und erzeugt bei den Bürgern nur Kopfschütteln. ({5}) Kommen Sie den Bürgern jetzt doch nicht mit dem Spruch, dass Sie alles schon immer gewusst haben. Sie haben in Ihrer Regierungszeit kein Kraftwerk wegen Sicherheitsbedenken abgeschaltet. ({6}) Wären die Kraftwerke nicht sicher gewesen, wären Sie verpflichtet gewesen, die Anlagen abzuschalten. ({7}) Sie haben es nicht getan. Sie haben das Gegenteil gemacht: Sie haben Ihren Ausstiegsbeschluss damals dadurch erkauft, dass Sie auf zusätzliche Investitionen in die Sicherheit der Kraftwerke schriftlich verzichtet haben. ({8}) Sie haben geredet, aber nicht gehandelt. So sieht rotgrüne Sicherheitskultur aus. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Dött, möchten Sie Herrn Kelber die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, vielen Dank. - Sosehr uns alle die Bilder aus Japan bewegen: Kehren Sie zu einer sachlichen Diskussion zurück! Das, was in Japan passiert ist, kann und wird für uns nicht folgenlos bleiben. ({0}) Wir müssen - hören Sie zu! - neu bewerten und mit ergänzenden Maßnahmen prüfen. Genau das tun wir jetzt. Wir werden die Sicherheitsannahmen zu Erdbebengefahren, zu den Auswirkungen von Hochwasserereignissen, zu möglichen Auswirkungen des Klimawandels, zu terroristischen Angriffen, zu Cyberattacken und zu möglichen Gefahren von Flugzeugabstürzen genau prüfen. Wir werden insbesondere auch die Wirkungen eines möglichen Zusammentreffens verschiedener Schadensereignisse prüfen. Und wir werden die technische Situation in den Kraftwerken genau analysieren - zum Beispiel wie die Strom- und Notstromversorgung sowie die externe Infrastruktur ausgelegt sind - und prüfen, wie robust sie bei Schadensereignissen sind. Gründlichkeit in der Analyse und Konsequenz im Handeln - das ist jetzt gefordert. Auf beides können sich die Bürger verlassen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste Priorität. Genau weil das so ist, haben wir sofort gehandelt. Wir haben aus Vorsorgegründen die älteren Kraftwerke vom Netz genommen. ({1}) Sie werden nicht wieder ans Netz gehen, bis wir genau wissen, ob sie neuen, noch strengeren Sicherheitskriterien gerecht werden. ({2}) Wenn Kraftwerke diese neuen, noch strengeren Kriterien nicht erfüllen, müssen sie nachgerüstet werden, oder sie gehen nicht wieder ans Netz. ({3}) Das gilt natürlich auch für die Kraftwerke, die nach 1980 ans Netz gegangen sind. Auch diese Kraftwerke werden nach den gleichen Kriterien geprüft. ({4}) So sieht verantwortlicher Umgang mit Kernenergie aus. ({5}) Die in Deutschland in den nächsten drei Monaten stattfindenden Sicherheitsüberprüfungen aller deutschen Kraftwerke sind ein wichtiger Schritt. Aber die Sicherheit der Kernkraft ist gerade auch eine europäische Aufgabe. Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen in Brüssel reichen nicht aus. Die Teilnahme aller Staaten und die Prüfung nach einheitlichen, strengen Kriterien sind erforderlich. Die Bundeskanzlerin wird dieses Thema mit Nachdruck in Brüssel verfolgen. Sie hat auch dabei unsere volle Unterstützung. Die ergebnisoffene Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke kann dazu führen, dass wir unser Energiekonzept nachjustieren müssen. ({6}) An dem zentralen Ansatz unseres Konzepts, den Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien möglichst schnell zu vollziehen, wird nicht gerüttelt. Im Gegenteil: Wir werden diesen Übergang weiter beschleunigen. ({7}) Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netze und Speicherkapazitäten beschleunigen. Wir werden gerade auch bei der Erhöhung der Energieeffizienz für schnelle Fortschritte sorgen. Dafür werden wir in den nächsten Wochen und Monaten die Weichen stellen und sehr konkrete Vorhaben auf den Weg bringen. Ein Beispiel dafür ist das bereits vorgelegte Eckpunktepapier für ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz. Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den Grünen - „Atomzeitalter beenden - Energiewende jetzt“ -, geht mit manchen Vorschlägen durchaus in die richtige Richtung. Aber Sie laufen nicht nur mit dem Titel des Antrags den Ereignissen hinterher; ({8}) die Energiewende läuft bereits, und wir werden sie in den nächsten Monaten noch beschleunigen. ({9}) Meine Damen und Herren von der SPD, Sie laufen mit Ihrem schnell zusammengezimmerten Gesetzentwurf zur Stilllegung von Atomkraftwerken den Grünen genauso hilflos hinterher wie den Linken beim Mindestlohn. Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie es mit der Energiewende ernst meinen, dann wird es endlich Zeit, dass Sie sich daran beteiligen. Hören Sie auf, in Berlin lauthals die Energiewende zu fordern und sich dann vor Ort bei jedem Streit in die Büsche zu schlagen ({10}) und jeder Bürgerinitiative gegen den Netzausbau nach dem Mund zu reden. Es wird Zeit, dass Sie für die notwendigen Stromtrassen werben, statt vor Ort Bürgerinitiativen dagegen zu initiieren. ({11}) Stellen Sie sich nicht scheinheilig hinter Forderungen nach Erdverkabelung. ({12}) Reden Sie mit den Menschen über die Kosten und reden Sie mit ihnen über die Auswirkungen hinsichtlich Bodenversiegelung und Landschaftsbild. Wo sind denn da Ihr ökologisches Gewissen, Frau Höhn, und Ihr umweltpolitischer Sachverstand? ({13}) Sagen Sie den Bürgern endlich ehrlich, dass Sonne und Wind den Strom nicht umsonst liefern, dass erneuerbare Energien zwar richtig, aber noch teuer sind. ({14}) Reden Sie nicht vormittags über die Notwendigkeit der Speicherung der erneuerbaren Energien, wenn Sie am Nachmittag zur Demonstration gegen neue Pumpspeicherkraftwerke gehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Dött.

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Führen Sie mit uns und den Bürgern endlich eine ehrliche Diskussion darüber, wie der Wirtschaftsstandort Deutschland mit einem verlässlichen, bezahlbaren und klimaverträglichen Energiemix gesichert und gestärkt wird. ({0}) Ich komme zu meinem letzten Satz. Treten Sie endlich für einen gesellschaftlichen Konsens des Anpackens ein und organisieren Sie nicht ständig den des Stillstands. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention der Kollege Kelber.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Dött, Sie müssen mit sich selber ausmachen, ob Sie es in Ordnung finden, als letzte Rednerin in einer Debatte auf kein einziges Argument Ihrer Vorrednerinnen und Vorredner einzugehen, sondern stoisch eine Rede abzulesen, die Beschimpfungen der anderen enthält. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Aber eines ist nicht in Ordnung - das kann jeder, der uns zuhört oder das Protokoll liest, selbst überprüfen -: Der Vertrag des Jahres 2000, der zum Atomkonsens geführt hat, ist öffentlich nachzulesen. Er ist auch nicht geheim ausgehandelt worden. Er war von vornherein vonseiten der Regierung öffentlich gemacht worden; auch das ist ein Unterschied zu Ihnen. Sie haben daraus zitiert und behaupten, dass der Satz, man wolle die Sicherheitsphilosophie für Atomkraftwerke beibehalten, belegt, dass Rot-Grün auf zusätzliche Sicherheitsauflagen verzichtet hatte. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich nicht den nächsten Absatz gelesen haben. Vielleicht haben Sie einfach nur etwas abgelesen, das Ihnen andere aufgeschrieben haben. Im nächsten Absatz wird die Pflicht zu periodischen Sicherheitsüberprüfungen von Atomkraftwerken erstmals in Deutschland eingeführt; dies findet sich dann auch im entsprechenden Gesetz. Das ist das, was Sie jetzt tun. Bei diesen periodischen Sicherheitsüberprüfungen - es sollen übrigens nicht in drei Monaten 17 Atomkraftwerke überprüft werden, sondern man soll sich ein bis zwei Jahre in allen Details um ein einziges kümmern - werden alle Sicherheitsaspekte betrachtet. Dann wird das anhand des seit 1973, seit dem KalkarUrteil, verfassungsrechtlich festgelegten Prinzips „Nachrüstung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik“ nachvollzogen. Haben Sie diesen Absatz gelesen? Hören Sie jetzt endlich auf, die Unwahrheit - eine bewusste Unwahrheit kann man mit vier Buchstaben auch anders bezeichnen - zu wiederholen! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Dött zur Reaktion. ({0}) Dann habe ich noch eine Kurzintervention des Kollegen Lenkert.

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kelber, vielen Dank, dass Sie besonders darauf hingewiesen haben, dass es wichtig ist, sich diese Abschnitte sehr genau anzuschauen. ({0}) Sie haben angesprochen, dass ich als letzte Rednerin verschiedene Punkte thematisiert habe. Es hat mir besonders viel Freude gemacht, als letzte Rednerin noch einmal zusammenfassen, um welche Debatte es hier überhaupt geht ({1}) und mit welcher Thematik wir uns hier beschäftigen. Zurzeit ist es so, Herr Kelber, dass wir aufgrund der schrecklichen Ereignisse in Japan, des Erdbebens und des Tsunami, neue Erkenntnisse haben und einiges wahrscheinlich neu beurteilen müssen. Dies wollen wir auf unsere Sicherheitsvorstellungen hinsichtlich unserer Kraftwerke anwenden. ({2}) Danach wollen wir entscheiden, was gemacht werden muss, damit wir weiterhin sagen können: Unsere Kraftwerke sind sicher. Wenn es aufgrund irgendwelcher Nachrüstungen, von denen wir jetzt noch nichts wissen, so wäre, dass sich das Ganze nicht rechnet und die Kraftwerke vom Netz gehen müssten, dann würde dies in der Konsequenz bedeuten, dass wir andere Voraussetzungen unserem Energiekonzept zugrunde legen müssten, wenn es darum geht, das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu erreichen. Diese anderen Voraussetzungen müssten dann bewertet werden. Man müsste sich, da Kernkraftwerke CO2-frei sind, beispielsweise fragen: Wie können wir unsere Klimaziele erreichen? Können wir Kernkraftwerke einfach ersetzen? Dazu habe ich von Ihnen nur sehr wenig gehört. Sie wollen auch aus der Nutzung der Kohle aussteigen. Wir brauchen aber eine grundlastfähige Energie, um in Deutschland Versorgungssicherheit zu gewährleisten. All die Fragen, die damit verbunden sind, werden wir nach dem Moratorium, nachdem wir die Überprüfung durchgeführt haben, beantworten und dann sehr schnell handeln. Denn die Ereignisse in Japan und die schrecklichen Bilder haben uns vor Augen geführt, dass wir sehr schnell - so schnell es möglich ist - aussteigen sollten. Das werden wir verwirklichen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Lenkert, bitte.

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Frau Dött, ich habe ein paar Fragen zu Ihrer Rede. Sie machten indirekt darauf aufmerksam, dass erneuerbare Energie viel mehr Geld kostet. Sie sprachen ohnehin nur von Kosten. Wir haben gestern im Umweltausschuss - Sie waren anwesend über den Leitfaden für erneuerbare Energien diskutiert. Darin wurde die Feststellung getroffen, dass bei Investitionen von 800 Milliarden Euro bis zum Jahr 2050 im Vergleich zur jetzigen Energiepolitik ein zusätzlicher Gewinn von 660 Milliarden Euro zu erwarten ist. Da stellt sich mir die Frage: Warum gehen wir hier nicht schneller vor? Dies entspricht in zehn Jahren übrigens Investitionen von etwa 200 Milliarden Euro. Das war Ihnen die Bankenrettung in nur zwei Jahren wert. Für eine sichere Zukunft wäre das angebracht. Meine zweite Frage betrifft ebenfalls das Thema Preise. Herr Kurth von der Bundesnetzagentur stellte fest, dass die Strompreise in diesem Jahr um 0,5 bis 1 Cent pro Kilowattstunde hätten gesenkt werden können, weil die Spotpreise an der Leipziger Strombörse um über 2 Cent gesunken sind. Die EEG-Umlage stieg um 1,5 Cent. Es kam aber flächendeckend zu Preiserhöhungen, und zwar mit der Begründung: EEG-Umlage. Sind nicht auch Sie der Meinung, dass wir an dieser Stelle eine staatliche Preisaufsicht benötigen, um die Gewinnmacherei im Schatten der erneuerbaren Energien mit der Behauptung, erneuerbare Energien seien an allem schuld, zu begrenzen? Als Letztes zu Ihrer Aussage, dass der Klimaschutz von der Opposition nicht ernst genommen würde. Gestern lagen im Umweltausschuss drei Anträge der Opposition vor, die darauf zielten, verbindliche Klimaschutzziele für die Bundesrepublik und die EU festzuschreiben. Alle drei haben FDP und CDU/CSU abgelehnt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Dött.

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Lenkert, ich habe gesagt, dass die erneuerbaren Energien noch teuer sind. Sie wissen selbst: Wenn man investiert, kostet das eine ganze Menge. Es gibt Investitionszyklen. Investitionen bringen erst dann etwas, wenn sie abgeschrieben sind. Bei erneuerbaren Energien brauchen wir ein ganz anderes Netz, um die Energie zum Bürger, vor allen Dingen aber zum Mittelstand und zur Industrie zu liefern. Von daher habe ich gesagt: noch. Wir werden das machen. Wir müssen aber die Preise im Auge behalten. Wie Sie wissen, werden zurzeit Umfragen durchgeführt, in denen die Bürger gefragt werden: Wie viel mehr wären Sie zu zahlen bereit, wenn wir aus der Kernkraft aussteigen würden? Im Schnitt würden die Bürger im Jahr etwa 15 Euro mehr für Strom zahlen. Es geht aber nicht nur um den Endverbraucher, um den Bürger, sondern es geht auch um die Frage: Behalten wir unsere Industrie in Deutschland? Wenn man kein ausgewogenes Energiekonzept hat, stellt sich auch die Frage: Behalte ich die Arbeitsplätze in Deutschland oder nicht? ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5181, 17/5202, 17/5179, 17/5180 und 17/5182 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Drucksache 17/5148, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/3182 abzulehnen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. Dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die Fraktion der SPD hat sich enthalten. Eine dritte Beratung entfällt dementsprechend. Tagesordnungspunkt 4 c. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/5148 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3649 mit dem Titel „Die Energieversorgung in kommunaler Hand“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP. Dagegen hat die SPD gestimmt. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3671 mit dem Titel „Energienetze in die öffentliche Hand - Kommunalisierung der Energieversorgung erleichtern - Transparenz und demokratische Kontrolle stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Die übrigen Fraktionen haben dafür gestimmt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5183 mit dem Titel „Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnologien“. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Zustimmung der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen waren dagegen. ({0}) Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 33 a bis f sowie 33 h bis k und 24 sowie Zusatzpunkt 8 a und b auf: 33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften über den Wertersatz bei Widerruf von Fernabsatzverträgen und über verbundene Verträge - Drucksache 17/5097 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Februar 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft - Drucksache 17/5126 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen - Drucksachen 17/5127, 17/5201 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Commonwealth der Bahamas über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/5128 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Monaco über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/5129 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({4}) Rechtsausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Kaimaninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch - Drucksache 17/5130 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Rechtsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({6}), Gisela Piltz, Manuel Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophen11310 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt schutz und humanitärer Hilfe ({7}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten - Drucksache 17/5194 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Auswärtiger Ausschuss Sportausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten - Drucksache 17/5177 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung für Leistungen der Integrationsfachdienste ermöglichen - Drucksache 17/5205 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleiches Rentenrecht in Ost und West - Drucksache 17/5207 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) Innenausschuss 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von Europäischen Betriebsräten umsetzen - Drucksache 17/5184 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ Finanzierung langfristig sichern - Drucksache 17/5185 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Schutz vor militärischem Fluglärm - Drucksache 17/5206 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({14}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 34 a bis q. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 34 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. August 2009 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Wehrpflicht der Doppelstaater/Doppelbürger - Drucksache 17/4810 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({15}) - Drucksache 17/5068 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers ({16}) Fritz Rudolf Körper Elke Hoff Paul Schäfer ({17}) Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5068, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4810 anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf zustimmen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. Die übrigen Fraktionen haben dafür gestimmt. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 34 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 16. April 2009 über die Änderungen des Übereinkommens vom 5. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Republik Polen über das Multinationale Korps Nordost - Drucksache 17/4809 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({18}) - Drucksache 17/5084 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers ({19}) Elke Hoff Paul Schäfer ({20}) Omid Nouripour Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5084, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4809 anzunehmen. Hier gibt es nur zwei Lesungen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt. Tagesordnungspunkt 34 c: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung der Zahlung von Entschädigungsleistungen bei der Anrechnung des Lastenausgleichs und zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes ({21}) - Drucksache 17/4807 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22}) - Drucksache 17/5086 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Petra Hinz ({23}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({24}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5087 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({25}) Otto Fricke Roland Claus Alexander Bonde Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5086, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4807 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Das ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher bitte auf? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Juli 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Drucksache 17/4806 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({26}) - Drucksache 17/5186 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Dr. Birgit Reinemund Dr. Thomas Gambke Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5186, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4806 anzunehmen. Wer möchte für den Gesetzentwurf stimmen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher bitte auf? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie vorher angenommen. Tagesordnungspunkt 34 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({27}) Nr. 4/2009 und zur Neuordnung bestehender Aus- und Durchführungsbestimmungen auf dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts - Drucksache 17/4887 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({28}) - Drucksache 17/5240 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Sonja Steffen Stephan Thomae Jörn Wunderlich Ingrid Hönlinger Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5240, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4887 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf zustimmen? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Erheben mögen sich bitte diejenigen, die zustimmen wollen. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 f: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 17/4144 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({29}) - Drucksache 17/5169 Berichterstattung: Abgeordnete Kirsten Lühmann Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5169, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4144 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen bitte die Hand heben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dafür ist, erhebe sich bitte. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 g: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die vorläufige Durchführung unmittelbar geltender Vorschriften der Europäischen Union über die Zulassung oder Genehmigung des Inverkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln - Drucksache 17/4985 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({30}) - Drucksache 17/5199 Berichterstattung: Abgeordnete Alois Gerig Gustav Herzog Dr. Christel Happach-Kasan Alexander Süßmair Friedrich Ostendorff Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5199, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4985 anzunehmen. Wer möchte dafür stimmen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie vorher angenommen. Tagesordnungspunkt 34 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({31}) zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss des Übereinkommens über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen durch die Europäische Gemeinschaft KOM({32}) 373 endg.; Ratsdok. 12265/09 - Drucksachen 17/136 Nr. A.29, 17/5241 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Stephan Thomae Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5241, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen und Die Linke, dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt, enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 34 i: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({33}) zu dem Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen Anwendung der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums ({34}) ({35}) KOM({36}) 779 endg.: Ratsdok. 5140/11 - Drucksachen 17/4768 Nr. A.4, 17/5242 Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Burkhard Lischka Stephan Thomae Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5242, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion gestimmt, dagegen hat Bündnis 90/ Die Grünen gestimmt, Die Linke hat sich enthalten. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 34 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 234 zu Petitionen - Drucksache 17/5059 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 235 zu Petitionen - Drucksache 17/5060 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 236 zu Petitionen - Drucksache 17/5061 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD. Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Tagesordnungspunkt 34 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 237 zu Petitionen - Drucksache 17/5062 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41}) Sammelübersicht 238 zu Petitionen - Drucksache 17/5063 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, die übrigen Fraktionen dafür. Tagesordnungspunkt 34 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42}) Sammelübersicht 239 zu Petitionen - Drucksache 17/5064 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt, die übrigen Fraktionen waren dafür. Tagesordnungspunkt 34 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43}) Sammelübersicht 240 zu Petitionen - Drucksache 17/5065 11314 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Gegenstimmen von Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt. Tagesordnungspunkt 34 q: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44}) Sammelübersicht 241 zu Petitionen - Drucksache 17/5066 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu- stimmung durch CDU/CSU und FDP. Die Fraktionen SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 28 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes - Drucksache 17/4803 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({45}) - Drucksache 17/5249 - Berichterstattung: Abgeordnete Markus Grübel Sönke Rix Heidrun Dittrich b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({46}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Bürgerschaftliches Engagement der jungen Generation anerkennen und fördern - zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Stärkung der Jugendfreiwilligendienste Platzangebot ausbauen, Qualität erhöhen, Rechtssicherheit schaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen nutzen - Jugendfreiwilligendienste stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst einführen - zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt auf den Weg bringen - Quantität, Qualität und Attraktivität steigern - Drucksachen 17/4692, 17/2117, 17/3429, 17/4845, 17/3436, 17/5249 Berichterstattung: Abgeordnete Markus Grübel Sönke Rix Heidrun Dittrich Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({47})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein denkwürdiger Tag. Wir fassen heute Beschlüsse von historischer Tragweite. Nach über 50 Jahren beschließen wir das Ende der Pflichtdienste in Deutschland. Den liebgewordenen Zivi und den liebgewordenen Grundwehrdienstleistenden gibt es ab 1. Juli nicht mehr. Die Einberufung zum Wehrdienst und damit die Einberufung zum Zivildienst werden wir heute aussetzen. In wenigen Tagen, am 11. April, begehen wir mit einem Festakt 50 Jahre Zivildienst. Im April 1961 haben die ersten anerkannten Kriegsdienstverweigerer ihren Ersatzdienst angetreten. Bis heute haben über 2,5 Millionen junge Männer diesen Dienst geleistet, zuletzt jährlich 90 000. Der Festakt wird eine Art Beerdigung, aber es wird eine fröhliche Beerdigung. Wir trauern zwar um den Zivildienst, aber wir freuen uns auf die neuen Freiwilligendienste und den Bundesfreiwilligendienst. Gerade auch wegen der großen Bedeutung, die der Zivildienst erlangt hat, stellt uns seine Aussetzung vor eine große Herausforderung. Herausforderungen sind immer auch Chancen. Eine solche haben wir mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst ergriffen. Mit diesem Dienst ist in kurzer Zeit etwas Großes und Gutes geschaffen worden; das ist das Fazit der Sachverständigenanhörung. ({0}) Wir ermöglichen damit freiwilliges Engagement in einer sehr großen Breite in Deutschland: im sozialen Bereich, in den Bereichen Ökologie, Kultur und Sport, Integration und im Zivil- und Katastrophenschutz. Wir ermöglichen es, dass sich künftig Menschen jeden Alters im Bundesfreiwilligendienst engagieren können. Den jungen Männern wird künftig der Wehrersatzdienst nicht mehr abverlangt, aber sie dürfen sich freiwillig engagieren. Das tut ihnen gut und der Gesellschaft. Die Opposition trägt jetzt aus meiner Sicht etwas kleinkariert und wenig konstruktiv Kritik vor. Ihre Kritik ist deshalb nicht konstruktiv, weil Sie keine Lösungswege aufzeigen. Es gibt zum Beispiel ein Nebeneinander von Bundesfreiwilligendienst und Jugendfreiwilligendiensten. Wir sind uns einig, dass wir beide langfristig zusammenführen wollen. Ein einheitlicher Dienst stößt heute aber an verfassungsrechtliche Grenzen. Es ist nicht möglich, den Ländern einfach 350 Millionen Euro zu überweisen, indem wir ihnen zum Beispiel die Einnahmen durch einen Umsatzsteuerpunkt abtreten, weil die Länder dann beim Einsatz dieser Gelder völlig frei sind. Kinderbetreuung, Schulen, Hochschulen, Forschung, Polizei, Schuldenabbau - es gibt viele sinnvolle Aufgaben, für die die Länder das Geld einsetzen könnten; nur ein Bruchteil würde bei den Freiwilligendiensten ankommen. Eine Verfassungsänderung in diesem einen Punkt ist wenig realistisch. Die Lösung ist die Schaffung eines Bundesfreiwilligendienstes bei gleichzeitigem Ausbau und besserer Förderung der bestehenden Jugendfreiwilligendienste. Die Stärke der Freiwilligendienste war schon immer ihre Vielfalt. So bunt wie unsere Gesellschaft sind auch die Freiwilligendienste. Festzuhalten bleibt auch, dass wir noch nie so viel Geld für die Freiwilligendienste in Deutschland zur Verfügung gestellt haben. Auch die bestehenden Freiwilligendienste profitieren von dieser Regelung. Bisher haben wir den Ländern eine Förderung von 72 Euro pro Monat für ein Freiwilliges Soziales Jahr gezahlt; künftig sind es 200 Euro pro Monat. Zusätzlich gibt es - auch das ist neu - 50 Euro bei besonderem pädagogischen Betreuungsbedarf. ({1}) Das Koppelungsmodell verhindert, dass sich der Bundesfreiwilligendienst zulasten der bestehenden Dienste etabliert. Insgesamt werden vom Bund künftig 350 Millionen Euro eingesetzt. Die Länder bezahlen 12 Millionen Euro; den Löwenanteil davon tragen BadenWürttemberg und Bayern. 8 Millionen Euro kommen aus dem Europäischen Sozialfonds. Zum Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben möchte ich anmerken, dass künftig nur noch ein Teil der heutigen Mitarbeiter für den neuen Bundesfreiwilligendienst benötigt wird und in den nächsten Monaten und Jahren Veränderungen möglich und auch nötig sind. So wollen wir die administrativen Aufgaben im Zusammenhang mit der Familienpflegezeit vom BAZ erledigen lassen und nach außen vergebene Aufgaben auf das BAZ zurückübertragen. Positiv ist in der Anhörung die vorgesehene Regelung für die älteren Freiwilligen aufgenommen worden. Über 27-Jährige müssen mindestens 20 Stunden pro Woche leisten. Wir grenzen den Bundesfreiwilligendienst damit klar von anderen Ehrenämtern ab und verhindern, dass das Ehrenamt in der Breite verstaatlicht wird. Wir wollen beim Kindergeld noch eine Veränderung vornehmen. Ich denke, wir sind uns einig, dass auch der Bundesfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechtigung führen sollte. Die Kindergeldfrage soll in einem Steuergesetz, zum Beispiel im Steuervereinfachungsgesetz, geregelt werden. Der Betrag von 550 Euro plus 50 Euro bei besonderem pädagogischen Betreuungsbedarf müsste möglicherweise noch etwas reduziert werden; aber dafür erhielten die kindergeldberechtigten Freiwilligen weiter Kindergeld. Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ziel, 35 000 Jugendfreiwillige und 35 000 Bundesfreiwilligendienstleistende pro Jahr zu gewinnen, erreichen können, wenn auch vielleicht nicht gleich zum 1. Juli. Aber auch bisher war der Dienstantritt beim Jugendfreiwilligendienst in der Regel nicht der 1. Juli, sondern der 1. September. Wir haben in letzter Zeit zudem eine hohe Bereitschaft bei Zivildienstleistenden erlebt, den Zivildienst freiwillig zu verlängern. Auch diesbezüglich hat die Opposition seinerzeit viel Kritik vorgetragen. Diese Regelung hat sich aber bestens bewährt. Sie werden sehen, dass auch der Bundesfreiwilligendienst angenommen und funktionieren wird. Es spricht einiges dafür, dass sich die Menschen in unserem Land für einen Bundesfreiwilligendienst entscheiden werden. Richtig ist aber auch, dass wir den Zivildienst nicht vollkommen ersetzen können. Das ist auch nicht die Aufgabe des Bundesfreiwilligendienstes. Einige Stellen werden künftig nicht mehr zu besetzen sein, zum Beispiel die als Pförtner in einer Einrichtung. Es ist für junge Menschen schlechterdings keine Herausforderung, einen solchen Dienst zu leisten. Dagegen werden wahrscheinlich Stellen in Pflegeeinrichtungen stark nachgefragt werden. Der Bundesfreiwilligendienst wird uns den Abschied vom liebgewonnenen Zivildienst erleichtern. Mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst haben wir in kurzer Zeit etwas Großes und Gutes geschaffen. Dank möchte ich der Ministerin und dem Ministerium sagen. Dank auch Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sowie den Verbänden für die eigentlich recht konstruktive Diskussion des Entwurfes. ({2}) Die Kritik der Opposition werden wir ertragen. Ich bin sicher: Die Praxis wird die Kritik widerlegen. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil der Dank meines Vorredners nicht nur an die Kollegen der Regierungsfraktion, sondern auch an die anderen Kollegen so schön war, möchte ich auch Ihnen von Schwarz-Gelb danken, dass Sie den Mut haben, die Wehrpflicht auszusetzen, und damit, wie Sie gesagt haben, ein liebgewonnenes Kind - Sie haben das sicherlich mehr liebgewonnen als wir - gegen ein neues Modell, auf das ich gleich in meiner Rede eingehen werden, eintauschen. Dafür gebührt Ihnen Dank, aus welchen Gründen auch immer Sie das getan haben. Dieser Mut ist auf jeden Fall einen Dank wert. ({0}) Wir reden heute zum x-ten Mal - schon das ist etwas Tolles; darüber kann man froh sein - über das Thema Freiwilligendienste. Es ist schön, dass wir den Wegfall des Zivildienstes zum Anlass nehmen, bei den Jugendfreiwilligendiensten etwas zu verbessern; das finde ich in Ordnung. Aber nun komme ich auf den Gesetzentwurf zu sprechen, der heute verabschiedet wird. Nach relativ kurzer Zeit der Diskussion - es war ein ziemlich sportliches Tempo - soll nun zum 1. Juli dieses Jahres der Bundesfreiwilligendienst umgesetzt werden. Sie haben gesagt, angesichts der Anhörung und der Gespräche mit den Vertretern der Fachverbände und den Fachexperten sei alles quasi im Lot und in Ordnung. Das liegt in der Natur der Sache. Ich habe auch andere, kritische Stimmen gehört, insbesondere bei der Anhörung. Kritisiert wurde unter anderem die staatliche Steuerung eines Freiwilligendienstes. Kritisiert wurde auch die Doppelstruktur. Kritisiert wurde die Regelung im Bundesfreiwilligendienstgesetz betreffend das Kindergeld. Sicherlich ist es positiv, dass die Freiwilligendienste für alle Generationen offen stehen sollen. Nichtsdestotrotz wurde kritisch darauf hingewiesen, dass Jung und Alt unterschiedliche Ansprechpartner in den Seminaren und unterschiedliche Seminarformen brauchen. Es wurde auch die Aufrechterhaltung des - so heißt es noch Bundesamtes für den Zivildienst kritisiert. Gefordert wurde eine Organisation für Freiwilligendienste auf der Basis der Zivilgesellschaft. Es wurden des Weiteren eine wissenschaftliche Begleitung und einheitliche Strukturen gefordert. Es war zwar die Rede von mittelfristigen und langfristigen Übergängen. Aber eine einheitliche Struktur wurde von der überwiegenden Anzahl der Experten gefordert, genauso wie eine Regelung der Kindergeldfrage. Unsere Kritik deckt sich mit diesen Kritikpunkten. Wir hatten von Ihnen ein Gesamtkonzept erwartet. Es kann nicht nur darum gehen, die Lücke, die durch den Wegfall des Zivildienstes entsteht, mit dem Bundesfreiwilligendienst zu schließen. Im Rahmen eines Gesamtkonzeptes hätten die Fragen beantwortet werden müssen: Wie können wir das bürgerschaftliche Engagement insgesamt stärken, um den Wegfall des Zivildienstes aufzufangen? Wie können wir einige Tätigkeiten von Zivildienstleistenden in sozialversicherungspflichtige Jobs überführen? Diese Debatte hat nicht stattgefunden. Es gibt zwar die Ankündigung, die Mittel für den Bereich des FSJ aufzustocken. Aber es sind noch keine entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen worden. Es hat auch noch keine intensiven Gespräche mit Verbänden und Kommunen darüber gegeben, wie man die Rahmenbedingungen und die Anerkennung bei FSJ und FÖJ verbessern kann. Das alles fehlt. Das ist leider enttäuschend. ({1}) Natürlich besteht die Gefahr einer Doppelstruktur. Es gibt unterschiedliche Ansätze. Vonseiten der Regierung und der schwarz-gelben Koalition wird immer wieder betont, ein junger Freiwilliger solle gar nicht merken, welchen Dienst er leistet. Das ist ein richtiger Ansatz. Ich finde das auch gut. Sie haben dankenswerterweise die Kritik von Verbänden und Opposition aufgegriffen. Das war am Anfang nicht so. Sie haben in diesem Bereich etwas verändert. Aber es gibt noch Unterschiede und eine unterschiedliche Förderung durch den Bund. Es gibt auch Unterschiede bei der Ausgestaltung der Kindergeldregelung, genauso wie bei der pädagogischen Begleitung und der Anerkennung der Plätze. Auch das ist noch ein Wunsch, den wir gehabt hätten. Sie, Herr Grübel, sagen zwar, der Markt werde entscheiden, welche Plätze attraktiv sind - der Posten des Pförtners im Seniorenheim ist sicher nicht so attraktiv wie der desjenigen, der mit Kindergartenkindern einen Platz gestalten kann -; aber es wäre die Aufgabe bei solch einem Gesetz gewesen, diese Dinge zu überprüfen. Wir können nicht darauf warten, dass der Markt das regelt. Ich hätte mir gewünscht, dass wir alle Zivildienstplätze überprüfen, bevor sie Bundesfreiwilligenplätze werden. ({2}) Wir haben dankend zur Kenntnis genommen, dass Sie erkannt haben, dass beim Kindergeld eine Regelung getroffen werden muss, aber wir beschließen das Gesetz jetzt. Da reicht die Ankündigung nicht aus, dass die unterschiedliche Regelung des Kindergeldes im Jugendfreiwilligendienst und im Bundesfreiwilligendienst irgendwann durch die Steuergesetzgebung erfolgt. Wir würden das gerne jetzt klären; denn der Bundesfreiwilligendienst wird zum 1. Juli umgesetzt. Deshalb hätten wir jetzt gerne Antworten und nicht nur eine Ankündigung. ({3}) Ich möchte gerne auf die Widersprüche, die es gab, eingehen. In der Anhörung wurde erwähnt, dass die Freiwilligendienste quasi auf Pflichtstrukturen stoßen. Das liegt zum einen an der automatischen Anerkennung der Plätze, die ich gerade kritisiert habe, aber auch daran, dass wir die Verwaltung, die dem Zivildienst zugrunde lag, nutzen. Wir hätten Einsparungen vornehmen können. In Richtung FDP will ich sagen - Graf Strachwitz hat das sehr gut auf den Punkt gebracht -: Es ist nicht unbedingt im Sinne von jungen Menschen, ein staatliches Dienstverhältnis einzugehen, wenn man sich für eine besondere Form von bürgerschaftlichem Engagement entscheidet. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Kritik annehmen. ({4}) Wir brauchen eine dauerhafte finanzielle und rechtliche Voraussetzung, um FSJ und FÖJ zu stärken, und nicht nur eine Ankündigung der Mittelerhöhung. Wir brauchen ein Jugendfreiwilligenstatusgesetz. Wir brauchen keine unterschiedlichen Rechtsformen für unterschiedliche Freiwilligendienste. Wir brauchen noch in dieser Legislaturperiode eine Überprüfung des Gesetzes; denn ich gehe davon aus, dass Sie es heute mit Mehrheit beschließen werden. Wir brauchen ein ganzheitliches Konzept zur Stärkung der Freiwilligendienste und des bürgerlichen Engagements, das gemeinsam mit den Ländern abgestimmt werden muss. Dann vermeiden wir Doppelstrukturen. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP hat Miriam Gruß das Wort. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede damit beginnen, den Jungen Liberalen im Namen der FDPFraktion zu danken, die vor 20 Jahren den wegweisenden Beschluss getroffen haben, die Wehrpflicht auszusetzen. ({0}) Ich danke den Kolleginnen und Kollegen dieser Koalition, die dieses jetzt im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit umsetzen und damit die Konsequenzen gezogen haben. Wir legen hiermit eine beachtliche Reform vor, die die Freiwilligentätigkeit auf ganz neue Beine stellt, Bewährtes übernimmt, aber auch Neues schafft. Ich glaube, dass die Freiwilligentätigkeit in Deutschland im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit einen ganz starken Impuls von dieser Koalition bekommt. ({1}) Die Daten und Fakten sind schon oft genannt worden. Ich will aber noch einmal betonen, dass ich es für richtig und wichtig erachte, dass die Freiwilligentätigkeit für Mann und Frau geöffnet wird, dass sich alle Altersgruppen einbringen können und dass wir eine breite Varianz an Möglichkeiten, sich einzubringen, haben, so etwa in den Bereichen Sport, Bildung und, was uns als FDPFraktion besonders wichtig war, im Bereich Integration; denn auch hier gibt es viele Bemühungen vor Ort. Die sollen anerkannt werden. Durch die neuen Strukturen sollen dafür Möglichkeiten eröffnet werden. ({2}) Der Wille ist ungebrochen da. Über ein Drittel aller Deutschen engagieren sich bereits jetzt ehrenamtlich. Von denjenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ abgeschlossen haben, könnten sich über 70 Prozent vorstellen, sich weiterhin zu engagieren, und nahezu 100 Prozent würden es weiterempfehlen. Das heißt, die Deutschen wollen sich freiwillig engagieren, und sie tun es auch. Deswegen wird mir nicht angst und bange bei der Frage, ob wir die 35 000 Plätze besetzen können. Junge Menschen wollen sich engagieren. Sie sehen dadurch die Chance, neue Einblicke zu gewinnen, ihren Horizont zu erweitern, sich, je nachdem, wie viel Zeit sie einbringen wollen, ein Jahr oder länger, auch Themenfeldern zu öffnen, die sie aus der Schule vielleicht so nicht kannten, sich vielleicht im Hinblick auf den zukünftigen Berufsweg zu orientieren. Wir haben damit die Chance für die Gesellschaft, dass Freiwilligkeit das Miteinander fördert und alle Generationen zusammenführt. Ich bin der Meinung: Es ist eine sehr gute Reform. Ich möchte mich dafür noch einmal ganz herzlich bedanken. Im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit ist das ein tolles Signal dieser Koalition. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Harald Koch hat das Wort für die Linke. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wie Herr Grübel vorhin sagte, wird der Bundesfreiwilligendienst eine kurze Halbwertszeit haben. In der Anhörung bemängelten mehrere Sachverständige die Doppelstrukturen zwischen existierenden Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilligendienst und meinten, mittelfristig sei eine einheitliche Struktur durch Zusammenführung der Dienste nötig. Der Bundesfreiwilligendienst, so wie er geplant ist, wird schnell wieder Geschichte sein. Kurzfristig können nun aber gemeinwohlorientierte Einrichtungen wegen einer Bevorteilung des staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienstes in Existenznöte geraten. Bei ihnen wird die Nachfrage nach Jugendfreiwilligendienstplätzen zurückgehen. Für die Linke ist in11318 des klar: Es darf keine Freiwilligendienste erster und zweiter Klasse geben. ({0}) Zudem ist erstaunlich, dass die FDP als vermeintliche Partei des Bürokratieabbaus diesen Doppelstrukturen und diesem Bürokratiemonster - so muss man es ja bezeichnen - mucksmäuschenstill zustimmt. ({1}) Die Anhörung hat gangbare Alternativen aufgezeigt. ({2}) Es wäre etwas anderes möglich gewesen. Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koalition, hätten Sie auf die Linke gehört, ({3}) hätten Sie diese Probleme von vornherein verhindern können. Die Wehrpflicht gehört nicht nur ausgesetzt, sondern ganz abgeschafft. ({4}) Dann braucht man auch keinen Platzhalter für einen Zivildienst zu schaffen, der - das ist sicher - nicht mehr zurückkommt. Die durch die Aussetzung der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes entstehenden Lücken im sozialen Bereich müssen ohne Zweifel geschlossen werden. Aber wir bezweifeln, dass der Weg, den Sie einschlagen, der richtige ist. Vielmehr müssen neue, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden - für qualifizierte Beschäftigte und mit tariflichem Lohn oder wenigstens Mindestlohn. ({5}) Jugendfreiwilligendienste haben nur flankierenden Charakter. Grundsätzlich dürfen junge wie alte Menschen nicht Lückenbüßer in einem von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, zu verantwortenden System des stetigen Sozialabbaus sein. Die Linke will lieber die rechtlichen Grundlagen schaffen, um bestehende Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen zu können, anstatt einen Bundesfreiwilligendienst einzuführen; denn Jugendfreiwilligendienste als Bildungs- und Lernorte zwischen Schule und Beruf haben eine wichtige individuelle und gesellschaftliche Funktion. Es wird immer in Abrede gestellt, dass wir das anerkennen. Auch deshalb haben wir unseren Antrag gestellt. Die Dienste unterstützen bei der Suche nach persönlicher, gesellschaftlicher und beruflicher Orientierung. Sie verschaffen vielfältige Kompetenzen. Sie sensibilisieren für Probleme und ermutigen zur Partizipation an der Gesellschaft. So gesehen sind Jugendfreiwilligendienste bereits Lernorte für Demokratie und Solidarität. Das - nicht irgendwelche halbgaren Paralellstrukturen - muss gestärkt werden. ({6}) Wir fordern in unserem Antrag eindeutige Mindeststandards für die Durchführung von Jugendfreiwilligendiensten. Diese Dienste müssen klar von Zwangsdiensten wie dem Zivildienst, von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sowie von Ausbildung abgegrenzt werden. Sie sollten nur Menschen bis 27 Jahren offenstehen, auch um die Abgrenzung zu den Freiwilligendiensten aller Generationen zu festigen. Wer es mit einem Lern- und Bildungsdienst ernst meint, muss auch Mindeststandards in der inhaltlichen Ausgestaltung schaffen. Ich spreche nicht von Festlegungen zu der Zahl von Seminartagen, sondern von Inhalten, die in diesem Bundesfreiwilligendienst konkret vermittelt werden sollen. Dies fehlt im Gesetzentwurf völlig. Das ist wieder einmal typisch: das eine sagen, das andere tun. Typisch ist auch, von der Attraktivität des Bundesfreiwilligendienstes zu reden und dann nur eine Obergrenze für Aufwandsentschädigungen einzuziehen. Die Linke fordert, dass eine angemessene Aufwandsentschädigung gezahlt wird. ({7}) Die im Gesetzentwurf vorgesehene freie Verhandelbarkeit geht im Zweifel immer zulasten der jungen Menschen. Das zeigt die praktische Erfahrung. Wir brauchen daher dringend eine Untergrenze für das Taschengeld. Alle jungen Leute müssen sich einen solchen Freiwilligendienst auch leisten können. Der Linken ist weiterhin wichtig, dass Jugendfreiwilligendienste ausschließlich und dauerhaft arbeitsmarktneutral sind. Junge Menschen dürfen auch nur in gemeinwohlorientierten Bereichen eingesetzt werden. Der bisherige Zivildienst hat die dauerhafte Arbeitsmarkneutralität nicht gewährleisten können. Die dort Tätigen wurden immer seltener für zusätzliche Arbeiten eingesetzt. Deshalb will die Linke, dass die Arbeitsmarktneutralität regelmäßig, effizient und streng bei Trägern und Einsatzstellen geprüft wird. Wir stellen uns klar gegen jegliche Verdrängung betrieblicher Ausbildungsplätze sowie sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. ({8}) Es müssen ferner bei jedem Träger Mitbestimmungsstrukturen für die Jugendlichen geschaffen werden. Es geht um echte Mitbestimmung und nicht nur um die Wahl von Vertretern. Auch die inhaltliche Ausrichtung muss mitbestimmt werden können. Es ist aus linker Sicht dringend nötig, die Jugendfreiwilligendienste für jugendliche Migrantinnen und Migranten, für Menschen mit Behinderungen sowie für sozial Benachteiligte zu öffnen. Das halten wir für sehr wichtig. ({9}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, der Bundesfreiwilligendienst ist unnötig. Er ist derzeit Ihr einziges Aushängeschild im Bereich der Jugendpolitik. ({10}) Auf zentrale Fragen von jungen Menschen wie auf Fragen der Jugendarbeitslosigkeit finden Sie keine Antworten. Stattdessen werden auch die Jugendfreiwilligendienste seit Jahren durch permanente Mittelkürzungen im Bundeshaushalt bei den Jugendverbänden geschwächt. Das ist wirklich erbärmlich. Der Bundesfreiwilligendienst wird gesicherte Zukunftschancen für junge Menschen nicht ersetzen. Kurzum: Schaffen Sie die Wehrpflicht ab! ({11}) Schaffen Sie reguläre, qualifizierte Arbeitsplätze im sozialen Bereich! ({12}) Schaffen Sie noch bessere Jugendfreiwilligendienste als soziales Plus! Nehmen Sie sich der Jugendpolitik als Zukunftspolitik ernsthaft an! Danke schön. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regierung hat uns Grüne ganz klar an ihrer Seite, wenn es darum geht, bürgerschaftliches Engagement und eine Kultur für Freiwilligkeit zu stärken. Sie müssen es aber auch tatsächlich tun. Der Bundesfreiwilligendienst ist das unausgegorene Ergebnis einer beispiellosen Hauruckaktion. ({0}) Hatten Kanzlerin Merkel und die Herren Seehofer und Guttenberg die Wehrpflicht vor einem Jahr noch zum konservativen Marken- und Identitätskern erklärt, haben sie diesen mittlerweile über Bord geworfen. Das ist gut, und das war auch mehr als überfällig. Für den Ausstieg aus der Wehrpflicht haben wir Grüne 30 Jahre lang geworben; das steht quasi in unserer grünen Geburtsurkunde. ({1}) Bis zum Jahr 2005 haben wir bei der SPD leider auf Granit gebissen. Das kann man auch so deutlich sagen. Weil wir Grünen die Wehrpflicht für so überflüssig halten, tragen wir die Aussetzung als historischen Schritt mit. Schlecht an Ihrem Vorgehen ist allerdings die dilettantische und sprunghafte Umsetzung. Sie hätten einmal überlegen müssen, welche Konsequenzen auf uns zukommen, wenn Wehrpflicht und Zivildienst fallen. Die Bundesregierung handelt an dieser Stelle leichtfertig, weil die Folgewirkungen nicht genug durchdacht worden sind. Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgsmodell sein. Wer den Zivildienst beendet, muss die Pflegemisere und den Fachkräftemangel im Sozialbereich dringend bekämpfen. Das hat Minister Rösler ganz klar vernachlässigt. ({2}) Wer aus den Pflichtdiensten aussteigt, muss für 150 000 junge Männer zusätzlich einen Ausbildungsund Studienplatz bereitstellen; sonst droht eine Generation Warteschleife. Ministerin Schavan hat das lange übersehen und dann ausgesessen. Wer Freiwilligendienste ausbauen will, der muss erst einmal den ersten Schritt tun, nämlich ein Freiwilligendienstestatusgesetz machen und sich um eine weitere Stärkung der Zivilgesellschaft kümmern. Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf tut Frau Schröder das glatte Gegenteil. ({3}) - Das sage ich Ihnen jetzt gerne. Der erste zentrale Kritikpunkt ist, dass der Bundesfreiwilligendienst zu ineffizienten Doppelstrukturen und einer Ungleichbehandlung der bestehenden Freiwilligendienste führt. ({4}) Die Grundkonstruktion ist einfach falsch: Auf der einen Seite haben wir die zivilgesellschaftlichen Freiwilligendienste vor Ort und auf der anderen Seite einen Bundesstaatsdienst. Auch Sie haben ja in Ihrer Rede hier eingeräumt, dass man langfristig eine Lösung aus einem Guss benötigt und dass eine Zusammenführung notwendig ist. ({5}) Das zeigt doch, dass auch Sie mit dieser Konstruktion nicht gut leben können. Es ist ein Kardinalfehler, dass Schwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiter Klasse schaffen will. ({6}) Sie sprechen immer von gleich guten Bedingungen für alle Freiwilligen und Dienststellen. Das kommt aber nur in Ihren Sonntagsreden vor, nicht aber in Ihrem Gesetz. Damit wird eine Chance vertan; denn es ist überhaupt nicht akzeptabel, dass der Bundesdienst höher gefördert wird als das bewährte Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr. Es wird sich auch in Form geringerer Nachfrage nach dem Bundesdienst rächen, dass die Eltern von Bundesdienstleistenden künftig den Kindergeldanspruch verlieren. Hier sparen Sie nicht nur an der falschen Stelle. Mit der Gewährung von Kindergeld hätten Sie wirklich mit der oft beschworenen Anerkennungskultur Ernst machen können. Das tun Sie nicht. Sie setzen vielmehr Fehlanreize, die Freiwillige, Träger und Dienststellen ausbaden müssen. ({7}) Ein gelungener Systemwechsel vom Pflichtdienst zu Freiwilligendiensten hätte ein Gesamtkonzept gebraucht. Dieses aufzustellen, hat Ministerin Schröder versäumt. Sie hätte eine breite gesellschaftliche Debatte unter Einbeziehung aller Beteiligten initiieren müssen. Dazu hätte sie sich auch mehrere Monate Zeit lassen können. Aber der selbst verursachte Zeitdruck innerhalb der Koalition hat dazu geführt, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure überrumpelt wurden, dass der vor uns liegende Gesetzentwurf unausgereift und ein fraktionsübergreifender Konsens verhindert worden ist. Wir befürchten Nachteile für die Erfolgsmodelle FSJ und FÖJ. Sie bekommen künftig Konkurrenz durch diesen Bundesdienst. Langfristig drohen die zivilgesellschaftlichen Freiwilligendienste verdrängt zu werden. Diese Sorge muss man ernst nehmen. Das Bundesministerium hat zwar mit den Trägern ein Kopplungsmodell verabredet, das die Zahl der Bundesplätze an die FSJund FÖJ-Plätze bindet. Sie verweigern aber, dies auch in Ihr Gesetz hineinzuschreiben. Wenn dieses informelle Kopplungsmodell nicht mehr gilt, stellt sich schon die Frage: Was passiert eigentlich mit den bewährten Jugendfreiwilligendiensten? Da ist Skepsis angebracht. ({8}) Ihr Bundesdienst tritt das Träger- und Subsidiaritätsprinzip mit Füßen. Freiwilligendienste sollten von der Zivilgesellschaft, von den Trägern, von den kleinen Einrichtungen, von Verbänden und Vereinen organisiert werden, weil es sich eben um eine besondere Form des bürgerschaftlichen Engagements handelt. ({9}) Sie schaffen aber einen Bundesdienst, der sogar ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet. Das geht nicht nur am Ziel vorbei, sondern auch an der Lebensrealität der jungen Generation. ({10}) Sie haben völlig recht: Auch ältere Menschen brauchen passgenaue Engagementmöglichkeiten. Dazu ist der Bundesdienst jedoch aus unserer Sicht der falsche Weg. Es gab einen erfolgreichen Freiwilligendienst aller Generationen. Hier hätte man ein Nachfolgeprogramm auf den Weg bringen können. Aber wenn Sie jetzt die 20-Stunden-Regel für ältere Freiwillige festschreiben, stellt sich schon die Frage: Welche Auswirkungen hat das auf die Arbeitsmarktneutralität? ({11}) Diese Arbeitsmarktneutralität, die schon beim Zivildienst nicht eingehalten wurde - sonst wäre die Aufregung gar nicht so groß -, wird hier jetzt womöglich erst recht nicht eingehalten. Deshalb muss man sich das immer wieder anschauen. Ein ganz zentraler Kritikpunkt lautet: Statt Bürokratieabbau betreibt Schwarz-Gelb nichts anderes als Bestandsschutz für das Bundesamt für den Zivildienst. Dabei hat das BAZ mit dem Ausstieg aus dem Zivildienst seine Kernaufgabe schlichtweg verloren. Es ist ein Treppenwitz, dass die Koalition nicht einmal mehr schlankere Strukturen anpeilt, obwohl die Ministerin das auch immer wieder angekündigt hat, sondern dem BAZ jetzt reihenweise Aufgaben zuweist und zuschaufelt. Das ist das Gegenteil von Bürokratieabbau. Mich würde es gar nicht wundern, wenn CDU und FDP in zwei Jahren nach noch mehr Personal für das Bundesamt rufen. ({12}) Alles in allem sind wir der Überzeugung, dass die Bundesregierung die Chance verspielt, mit der Zivilgesellschaft eine nachhaltige Ausbauoffensive für Freiwilligendienste auf den Weg zu bringen. Wir Grüne streiten weiter dafür, Quantität, Qualität und Attraktivität der Freiwilligendienste zu stärken und insgesamt bessere Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement zu fördern. Anstatt eine neue Bundesbürokratie aufzubauen, sollten wir die Mittel tatsächlich auf die Förderung von Freiwilligkeit konzentrieren. Weil Sie das nicht tun, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tu was für dein Land, tu was für dich - wer das von junDr. Peter Tauber gen Menschen fordert, der muss in der Tat die richtigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. Genau das tun wir mit dem Bundesfreiwilligendienst und mit der Stärkung der Jugendfreiwilligendienste. Unser Antrag liegt Ihnen vor. Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag gemeinsam vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zu stärken. Was haben wir getan? Wir haben zunächst einmal die Deckelung der Platzförderung aufgehoben. Jeder Platz im Jugendfreiwilligendienst wird künftig gefördert. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwar schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Inzwischen werden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligendienst dreimal so hoch sein wie noch zu Beginn der Legislaturperiode. Wir haben eine Sonderregelung eingeführt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf besser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereiche über das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausgebaut. Künftig können Jugendliche sich auch in der Politik, im Sport, in der Kultur, in der Bildung und in der Integration mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihren Ideen einbringen. Das ist eine gute Sache. Für diesen Bereich stellen wir insgesamt 350 Millionen Euro zur Verfügung. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht behaupten: Das ist die große gesellschaftspolitische Entscheidung, das große gesellschaftspolitische Projekt dieser Legislaturperiode. Ich danke der Ministerin, dass sie nicht mit dem Geld aus dem Zivildienst einen Beitrag zum Sparpaket geleistet hat, sodass wir das heute auf den Weg bringen können. ({0}) Es ist aber natürlich schwierig - damit wende ich mich an den Kollegen Gehring und auch an den Kollegen Rix -, wenn man einen solchen fundamentalen Wechsel vornimmt. Da bleiben Fragen offen. Auch heute sind sie noch offen. Der Kollege Grübel hat das Kindergeld angesprochen. Man kann auch die Umsatzsteuerbefreiung nennen. Wir haben dort Hausaufgaben zu erledigen. Natürlich müssen wir hier nicht nach unten nivellieren, sondern wir müssen das Ganze evaluieren, um am Ende besser zu werden. In meiner letzten Rede habe ich Sie eingeladen, dabei mitzumachen. Beim Kollegen Rix habe ich den Eindruck, dass er sich ein bisschen auf uns zubewegt und den Weg mitgeht. ({1}) Beim Kollegen Gehring habe ich den Eindruck, dass er am Ende ein wenig in die Sprachmuster zurückfällt, die wir am Anfang der Debatte hatten. Das finde ich sehr schade; denn man kann konstatieren, dass wir jetzt zwei Säulen haben, die entgegen Ihrer Unkenrufe gleichberechtigt nebeneinanderstehen. ({2}) - Doch, das stimmt. Behaupten Sie nicht das Falsche, Herr Gehring. Sie können es nachlesen. Wir haben darüber diskutiert. Sie behaupten es einfach nur. Den Gegenbeweis sind Sie hier vorne eben schuldig geblieben. ({3}) Diese beiden Säulen haben wir, weil die Länder sich in der Kompetenzfrage nicht bewegen und der Bund sich auch nicht aus der Verantwortung, die er übernommen hat, zurückziehen will. Es ist auch gut, dass wir hier mit zwei Säulen ein Angebot für junge Menschen machen, die sich freiwillig engagieren wollen. Es bleibt dabei: Wir wollen das Ganze so organisieren, dass es keinen Unterschied für die Jugendlichen in den Freiwilligendiensten und im BFD gibt, egal in welcher dieser beiden Säulen sie sich bewegen. Die Hausaufgaben, die wir nach wie vor zu erledigen haben, habe ich angesprochen. Dabei bleibt es auch; das ist keine Frage. Es gibt aber noch einige andere Dinge zu tun: Stichwort „Anerkennungskultur“. ({4}) Natürlich müssen wir uns noch intensiv Gedanken darüber machen, was nicht nur wir als Politik, sondern auch die Träger, die Einrichtungen, die Kommunen sowie die Länder dazu beitragen können, damit es sich für junge Menschen - neben der Erfahrung, die sie sammeln lohnt, einen solchen Dienst zu tun. Ich glaube allerdings, dass wir dabei nicht nur über einen konkreten Nutzen reden müssen, sondern es auch um die Frage der Wertschätzung geht. ({5}) - Frau Präsidentin, ich glaube, der Kollege möchte eine Frage stellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie denn die Frage zulassen und damit Ihre Redezeit unendlich verlängern?

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde die Frage zulassen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Gehring.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich rede nicht „unendlich“. Keine Sorge! ({0}) Bitte schön, Herr Kollege.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich höre in den Debatten des letzten Dreivierteljahres - eigentlich seit vielen Jahren -, dass man etwas für die Anerkennungskultur tun muss. Ich würde gerne wissen - vielleicht können Sie ein bisschen für die Regierung sprechen; Frau Schröder ist zumindest anwesend -: ({0}) Gibt es in der Kultusministerkonferenz, in der Jugendministerkonferenz oder in den ganzen Bund-Länder-Vereinbarungen konkrete Verabredungen zur Verbesserung der Anerkennungskultur? Wie ist denn da der Fahrplan? Die Bundesebene ist da doch ganz klar in der Initiatorenrolle.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege, herzlichen Dank für die Frage. Sie wissen - ich hoffe, dass Sie es wissen -, dass die Ministerin bei dieser Frage bereits initiativ ist: Es gibt einen Gesprächskreis in ihrem Hause, in dem genau diese Frage mit den Ländern und Kommunen erörtert wird. ({0}) Sie wissen auch, dass es unheimlich schwierig ist, vonseiten des Bundes in gewisse Kompetenzen einzugreifen. Ich nenne das Beispiel einer Anerkennung in Form zusätzlicher Wartesemester: Das können wir in diesem Hause, selbst wenn wir es wollten, nicht regeln; dazu brauchen wir in der Tat die Kultusministerkonferenz und die Länder. ({1}) Man kann andere Dinge hinzunehmen: die Frage, ob Freiwillige das, was sie in ihrem Freiwilligendienst leisten, bei einer möglichen Berufsqualifizierung anerkannt bekommen. Auch das können wir nicht in jedem Fall in diesem Haus regeln. Wir brauchen ein Miteinander. Wir beginnen jetzt; ({2}) es geht, wie gesagt, um einen Prozess. Es wäre schön, wenn Sie da mitgehen würden. ({3}) Herzlichen Dank, Sie dürfen sich gerne wieder setzen. Frau Präsidentin, keine Sorge, ich werde nicht ohne Ende weiterreden. Ich glaube, dass man das Ganze schön mit einem Zitat von Konrad Adenauer zusammenfassen kann. Er hat einmal gesagt, dass jeder einzelne Bürger das Gefühl und das Bewusstsein haben muss, dass er selbst Mitträger des Staates ist. Er müsse erkennen und wissen, dass es ein gemeinsames Interesse gibt, das beachtet werden muss, und dass das in seinem eigenen, ureigensten Interesse geschieht. Was heißt das? Wenn man das ernst nimmt, dann muss man jungen Menschen in dieser Gesellschaft die Chance geben, Verantwortung zu übernehmen. Genau das wollen wir mit den Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilligendienst erreichen. Denn wir können nicht von der jungen Generation erwarten, dass sie irgendwann Verantwortung für Deutschland übernimmt, wenn sie vorher keine Gelegenheit hatte, sich selbst und ihre Fähigkeiten zu erproben. Deswegen bleibt es richtig, dass wir diesen Weg gehen. Wir brauchen auch künftig den Thorsten, der bei der Caritas alte Menschen pflegt. Wir brauchen die LisaMarie, die in einer Jugendwohngruppe der Diakonie mit sozial benachteiligten jungen Menschen arbeitet, die Melanie in der Schutzstation Wattenmeer, die Vogelzählungen vornimmt und Wattexkursionen durchführt, den Giovanni im Sportverein, ({4}) die Heike bei der Hausaufgabenbetreuung des Fördervereins der örtlichen Schule, den Murat im kommunalen Integrationsprojekt, die Sabine bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die ein Jahr in Israel verbringt - 800 junge Menschen aus Deutschland machen das gerade -, auch den Lars, der freiwillig Wehrdienst leistet und sagt: ({5}) „Bevor ich in den Hörsaal gehe, trete ich auf dem Appellplatz an und gehe über die Hindernisbahn.“ All das gehört zusammen. Wir müssen jungen Menschen die Chance geben, Verantwortung für unser Land zu übernehmen. Wenn das freiwillig geschieht, ist das eine wunderbare Sache. ({6}) Ich habe Sie schon letztes Mal eingeladen, mitzumachen. Sie haben jederzeit die Chance dazu; die Türen stehen offen. Vielleicht nutzen Sie sie das nächste Mal. Darüber würde ich mich sehr freuen. Herzlichen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Rolf Schwanitz hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei Feststellungen sind mir heute bei der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfes wichtig. Erste Feststellung. Der Gesetzentwurf ist keine Errungenschaft, schon gar keine alternativlose Errungenschaft, sondern das Ergebnis einer Notoperation; Sie ziehen das im Schnellverfahren durch das Parlament. ({0}) Der Anlass für diese Notoperation ist natürlich die überstürzte Aussetzung der Wehrpflicht, die Sie vorgenommen haben. Genauso, wie Sie die Strukturen im Bundeswehrbereich überstürzt auf die neue Situation einstellen, tun Sie das angesichts des Wegfalls des Zivildienstes auch bei der sozialen Infrastruktur. Sie sind übrigens an dieser Stelle realistisch. Das merke ich, wenn ich in den Text des Gesetzes schaue. Denn der Gesetzentwurf besagt, es gehe um die Minimierung der negativen Effekte. Also bitte schön: Backen Sie kleine Brötchen. Das ist nicht die soziale Errungenschaft, sondern der Versuch der Nothilfe aufgrund eines Dilemmas, das Sie selbst geschaffen haben, meine Damen und Herren. ({1}) Zweite Feststellung. Anstatt auf wirkliche Reformen zu setzen und den Freiwilligendienst sowie die bewährten Strukturen zu stärken, sind Sie auf ein altes Staatsdenken zurückgefallen und haben nun einen neuen, zusätzlichen staatlichen Freiwilligendienst etabliert - mit allen Nachteilen und Folgen, die hier schon diskutiert worden sind. Wir haben Ihnen frühzeitig gesagt: Nehmen Sie das freiwerdende Geld - das ist für einen Haushälter nicht selbstverständlich - und weisen Sie große Teile davon dem Freiwilligendienst an. ({2}) Denn wir wissen: Dort ist die Nachfrage faktisch dreimal so groß wie das bisherige Angebot. Sie, Frau Ministerin, haben bei dieser Ausgangssituation diese Option nach meiner Überzeugung niemals ernsthaft erwogen. ({3}) Sie haben zwei Gegenargumente gebracht, zu denen ich etwas sagen möchte. Das erste Gegenargument hieß, es gebe ein Gebot der institutionellen Vorsorge. Das heißt, für den plötzlichen Fall, dass die Wehrpflicht wieder aktiviert wird, müsse man die staatlichen Strukturen vorhalten. - Ich bin gespannt, ob im Herbst, wenn das Standortkonzept für die Bundeswehr im Deutschen Bundestag diskutiert wird, die Kasernen in Zellophan gepackt und vorgehalten werden, meine Damen und Herren. ({4}) Eigentlich dürfte man solche schlichten Argumente vonseiten der Bundesregierung gar nicht mehr zulassen. Das zweite Argument, das Sie gebracht haben, war, es fehle beim Freiwilligendienst die Finanzierungskompetenz des Bundes. Deswegen dürfe man nicht über das heutige Maß hinausgehen und finanziell fördern. Mittlerweile ist diese These mindestens zweifach widerlegt worden. Das geschah zum einen durch die heutige Lage selbst. Die Länder geben ausweislich ihrer eigenen Zahlen rund 20 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilligendienste aus. ({5}) Übrigens stammt der größte Teil davon aus ESF-Mitteln und nicht einmal aus originären Landesmitteln. ({6}) Schon 2011, also in diesem Jahr, stehen diesen 20 Millionen Euro 50 Millionen Euro an Förderung durch den Bund gegenüber. ({7}) Es gibt sogar vier Länder, die dafür noch nicht einmal eigene Landesmittel zur Verfügung stellen. ({8}) Also tun Sie doch nicht so, als sei das ein verfassungswidriger Zustand, meine Damen und Herren. ({9}) Völlig absurd wird diese Frage beim Blick auf das nächste Jahr 2012. Dann werden Sie - das kritisieren wir nicht - 100 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilligendienste ausgeben. Das ist das Fünffache der Ländermittel - ich rechne die ESF-Mittel hinzu - oder das Zehnfache der Ländermittel ohne die ESF-Mittel. ({10}) Also hören Sie auf mit solch künstlichen Argumenten, es gebe keine Finanzierungskompetenz des Bundes. Es gibt keine Legimitation für Doppelstrukturen. Das ist die Situation. ({11}) Dritte Feststellung. Sie haben nicht nur im Zusammenhang mit dem Wegfall des Zivildienstes die Situation schlecht vorbereitet, sondern Sie haben auch in Ihrem eigenen Haus die Hausaufgaben nicht gemacht. ({12}) Damit meine ich natürlich das Bundesamt für den Zivildienst. Sie haben erst einmal auf den windigen Vorschlag von Frau von der Leyen gesetzt, dass dort das Bildungspaket für Familien mit Kinderzuschlag verwaltet werden sollte. Ich weiß gar nicht, wie Beamte aus Köln den Musikunterricht im Erzgebirge hätten kontrollieren sollen. ({13}) Ich bin froh, dass der Bundesrat diesen Unsinn verhindert hat, meine Damen und Herren. ({14}) Nachdem sich diese Situation jetzt erledigt hat, sagen Sie: Wir ziehen von Trägern, von Fachleuten, von Experten vor allen Dingen als Regiefunktion Programmsteuerungselemente zurück in das Amt. Mit dieser Tätigkeit sollen 120 Beamte in Lohn und Brot kommen. Dabei wird auch Expertise verloren gehen. ({15}) Auch darüber müssen wir zu gegebener Zeit noch einmal reden. Am schlimmsten allerdings finde ich, dass rund 30 Prozent der Beschäftigten des Bundesamtes, also etwa 200 Planstellen, bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht wissen, mit welcher Aufgabe sie künftig ausgestattet werden sollen. ({16}) Ich bedanke mich bei allen Fraktionen, dass gestern der Haushaltsausschuss Folgendes gesagt hat: Hier muss ein Personalkonzept auf den Tisch, das muss im Parlament beraten werden. - Denn diese Unsicherheit ist gegenüber den Beschäftigten und gegenüber dem Steuerzahler völlig unzumutbar. ({17}) Sie starten jetzt eine Öffentlichkeitskampagne. In den Ausschreibungsunterlagen zu dieser Öffentlichkeitskampagne habe ich einen schönen Satz gefunden, den ich zitieren möchte. Dort heißt es: Die Kampagne - es geht um den Bundesfreiwilligendienst soll darüber hinaus deutlich machen, dass das BMFSFJ kompetent, verantwortlich und erfolgversprechend auf die Aussetzung der Wehrpflicht reagiert hat, und die positive Rolle von Bundesfamilienministerin Schröder kommunizieren. ({18}) Echte Reformpolitik hätte diese Schminke nicht nötig gehabt. ({19}) Mehr Mut zu echter Reformpolitik und weniger Engagement für die Fassade, das hätte dem Freiwilligendienst gutgetan und auch Ihnen persönlich. Herzlichen Dank. ({20})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Florian Bernschneider hat jetzt das Wort für die FDPFraktion. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es interessant, mit welcher Doppelzüngigkeit die Opposition hier argumentiert. Auf der einen Seite regen Sie sich darüber auf, wie groß der staatliche Einfluss auf den Bundesfreiwilligendienst ist, und betonen, wie schlimm es ist, dass der Staat jetzt auf die Zivilgesellschaft Einfluss nimmt. Auf der anderen Seite haben Sie jede Menge Forderungen, was wir noch alles gesetzlich regeln müssen, damit die Zivilgesellschaft das ja nicht selbst regelt. ({0}) Ich sage Ihnen ganz klar: Die Zivilgesellschaft weiß viel besser, wie der Unterricht pädagogisch zu gestalten ist. Das können wir in einem Gesetz gar nicht so gut regeln. ({1}) Seit August 2010 debattieren wir hier im Parlament über die Pläne der Koalition aus Union und FDP zur Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch über die Aussetzung des Zivildienstes. Schon im Juni 2010 hat die Ministerin im Ausschuss angekündigt, eine Erhebung durchzuführen, welche Folgen die Aussetzung der Wehrpflicht für den Zivildienst hat. ({2}) Ich glaube, dass Sie sich jetzt schon ein halbes Jahr lang darüber ärgern, dass es nun Union und FDP sind, die diesen wichtigen Schritt unternehmen. Das kann ich zwar gut verstehen, aber heute, ein halbes Jahr später, kann mir niemand erzählen, dass diese Lesung für ihn überraschend kommt. Sie können nicht sagen, dass die Beratungen im Schweinsgalopp stattgefunden hätten. ({3}) Union und FDP haben das vergangene halbe Jahr genutzt, um offene Fragen gemeinsam zu klären. Es ging dabei um offene Fragen, die wir uns gestellt haben, und um offene Fragen, die Sie gestellt haben. Zum Beispiel ging es um die Frage, wie wir verhindern können, dass der Bundesfreiwilligendienst - das wurde auch heute oft angesprochen - die Existenz der bestehenden Freiwilligendienste FSJ und FÖJ gefährdet. Wir legen Ihnen heute eine Antwort auf diese Frage vor: Das Kopplungsmodell und die Stärkung der Jugendfreiwilligendienste sorgen dafür. Beide Säulen sind nur dann stark, wenn beide Bereiche miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Wir haben das vergangene halbe Jahr auch genutzt, um die Sonntagsreden, die wir im Zusammenhang mit den Jugendfreiwilligendiensten alle - das sage ich ganz offen - viel zu oft gehalten haben, endlich in konkrete Punkte zu überführen. In Ihren Anträgen heißt es ganz abstrakt: Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste neuen Zielgruppen eröffnen. Wir machen Ihnen jetzt endlich einen konkreten Vorschlag, wie das aussehen kann: 50 Euro mehr zusätzliche Bildungsförderung für Jugendliche mit besonderem pädagogischen Förderbedarf. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. - Wir haben das vergangene halbe Jahr aber auch genutzt, um ein paar Realitäten anzuerkennen, zum Beispiel, dass für FSJ und FÖJ die Länder zuständig sind und der Bund nur einen relativ geringen Spielraum hat. Diesen Spielraum nutzen wir jetzt. Statt mit 72 Euro werden FSJ-Plätze künftig mit 200 Euro monatlich gefördert. SPD und Grüne gehen auf diese Realitäten in ihren Reden selten ein. Sie haben die Realität aber längst erkannt. Das sieht man, wenn man ihre Anträge liest. SPD und Grüne fordern in keinem Satz, die Pauschalen bzw. die Bildungsförderung, die wir bei FSJ und FÖJ vorsehen, auf über 200 Euro anzuheben. Anscheinend ist Ihnen also bewusst, dass der Bund viel mehr gar nicht machen kann. Die Linken hingegen fordern mehr als 200 Euro. Das habe ich in Ihrem Antrag gelesen. Allerdings müssen auch Sie anerkennen, dass wir dafür nicht zuständig sind. ({0}) Das ist wie immer: Wenn linke Politik auf die Realität trifft, funktioniert das nicht richtig. ({1}) Das sieht man in den Ländern, in denen Sie mitregieren. Schauen Sie einmal in die Länder - ich sage das, weil das erwähnt wurde -, in denen die Linke die Verantwortung für die Freiwilligendienste trägt. Schauen Sie einmal, was die Linke in diesen Ländern für die Freiwilligendienste tut, nämlich relativ wenig. ({2}) Es passiert selten - auch das muss man einmal festhalten -, dass die Forderungen der Opposition hinter denen der Regierung zurückbleiben. Die SPD fordert 30 000 Freiwilligendienstplätze. Die Grünen fordern eine Verdoppelung der Freiwilligendienstplätze. Wir legen Ihnen heute ein Konzept vor, mit dem eine Verdreifachung der Freiwilligendienstplätze in Deutschland möglich ist. Das geht natürlich nur, weil wir mit der zweiten Säule, nämlich dem Bundesfreiwilligendienst, eine Möglichkeit geschaffen haben, die Fördermöglichkeiten des Bundes voll auszureizen. Deswegen lasse ich mir von Ihnen nicht länger erzählen, wir hätten kein Gesamtkonzept vorgelegt. Wie ist denn Ihr Gesamtkonzept? Ein Blick in den Antrag der Grünen gibt darüber gut Auskunft. Darin steht: Wir wollen uns jetzt mit Bund, Ländern und Trägern zusammensetzen und am Kaffeetisch darüber beraten, wie dieses Gesamtkonzept aussehen soll. ({3}) - Sehr geehrter Herr Kollege, das alles ist schön und richtig. Aber das ist doch genau das, was Sie hier fordern. Sie fordern jetzt runde Tische, um zu klären, wie es weitergehen soll. Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: Am 1. Juli setzen wir die Wehrpflicht aus. Ich finde es toll, dass die Grünen zustimmen, und ich finde das sehr vernünftig. Aber es ist doch nicht vernünftig, sich jetzt zwei, drei Jahre lang an runde Tische zurückzuziehen ({4}) und mit den Ländern darüber zu streiten, wer für die Freiwilligendienste überhaupt zuständig ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie denn eine Frage der Kollegin Malczak zulassen?

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. ({0}) Ihre Begründung, warum Sie den Bundesfreiwilligendienst, die Doppelstrukturen so strikt ablehnen, ist aller Ehren wert. Ich finde es vernünftig, dass Sie sagen, Sie hätten das lieber in einer Säule. Auch wir hätten das lieber in einer Säule. Ich versuche Ihnen gerade zu erklären, dass das wegen der Zuständigkeiten von Bund und Ländern nur schwer möglich ist. Aber was ich so absurd finde, ist, dass Sie diese Doppelstruktur nach wie vor als eines Ihrer Hauptargumente dafür verkaufen, warum Sie dem Bundesfreiwilligendienst nicht zustimmen können. Was hatten wir denn bis jetzt? Es gab den Zivildienst und die Freiwilligendienste. ({1}) Waren das keine Doppelstrukturen, die da über Jahre hinweg bestanden haben? ({2}) War es nicht ungerecht, dass ein Freiwilliger weniger bekommen hat als ein Zivildienstleistender, obwohl sie die gleichen Aufgaben hatten? ({3}) Sie haben die Ungerechtigkeit mit der 14-c-Regelung noch einmal gesteigert, indem sogar innerhalb der Frei11326 willigendienste junge Frauen Nachteile gegenüber jungen Männern hatten. ({4}) Ich gebe zu: Auch uns gelingt es mit diesem Modell nicht, das in eine Struktur zu packen. Aber das ist nichts Neues; das habe ich Ihnen gerade gesagt. Die Doppelstrukturen gab es schon in der Vergangenheit. Aber wir beseitigen wenigstens die Ungerechtigkeiten. Sie konnten in der Vergangenheit sehr wohl ruhig damit schlafen, beides zu haben, nämlich Ungerechtigkeiten und Doppelstrukturen. Deswegen: Nehmen Sie das nicht länger als vorgeschobenes Argument! ({5}) Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem Antrag der Linken sagen. Ich habe heute Frau Dittrich als ausgewiesene Expertin der Linken für bürgerschaftliches Engagement vermisst. Aber auch der andere Redner hat deutlich gemacht, dass bei den Linken einiges durcheinandergeht, wenn es um bürgerschaftliches Engagement geht. Das merkt man allein daran, dass das Thema Mindestlohn beim bürgerschaftlichen Engagement immer eine herausragende Rolle bei Ihnen spielt. ({6}) Bei Ihnen geht auch jetzt wieder etwas durcheinander. ({7}) In der Nr. 1 g Ihres Antrags führen Sie aus, dass der Bezug des Kindergeldes um die Zeit des Jugendfreiwilligendienstes verlängert werden soll. Das ist Ihre Forderung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. ({0}) Diese Forderung ist völlig unnötig; denn das ist schon lange der Fall. Aber ich weiß, was Sie damit meinen, und es ist lieb gemeint. Darauf sind viele Kollegen eingegangen. Es geht darum, das Kindergeld im Bundesfreiwilligendienst einzuführen. Das sollte Ihnen erst einmal bewusst sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das müssen wir noch schaffen; das ist wichtig. Die FDP-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, hier noch ein besseres Konzept nachzuliefern. Dazu finden zurzeit schon Gespräche statt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin zuversichtlich, dass das funktioniert, Frau Präsidentin, und komme jetzt zum Ende. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Malczak.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege Bernschneider, Sie selbst haben angekündigt, jetzt würden noch im Nachhinein Gespräche stattfinden, also doch auch bei Ihnen runde Tische. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, das zu machen, bevor das Gesetz heute hier verabschiedet wird. Der Kollege Gehring hat vorhin klargemacht: Uns geht es nicht um runde Tische, sondern es gibt bestimmte Gremien wie den Bundesrat, die Kultusministerkonferenz und die Jugendministerkonferenz. Ich möchte Ihnen nur eine kurze Frage stellen: Meinen Sie nicht, dass Sie die Zeit im Zusammenhang mit der Verkürzung des Wehrdienstes und des Zivildienstes auf sechs Monate, die jetzt wieder hinfällig ist, vielleicht besser dafür hätten verwenden sollen, die entscheidenden Gremien vorher einzubinden? So müssten Sie nicht schon heute ankündigen, dass die Gespräche im Nachhinein folgen und dass dann Nachbesserungen kommen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Bernschneider, bitte.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, darauf möchte ich gerne antworten. Sie wissen: Manchmal ist es eben so, dass erst der eine einen kleinen Schritt gehen muss, um dann gemeinsam einen großen Schritt zu gehen. So war das bei der FDP und der Union. Sie wissen, dass sich die FDP von Anfang an gewünscht hat, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir konnten dann die Union im Laufe der Verhandlungen davon überzeugen, dass es tatsächlich sinnvoll ist, darauf zu verzichten. Ich finde das gar nicht schlimm. Sie sollten sich eher fragen, warum Sie es in Ihrer Regierungszeit niemals geschafft haben, die SPD zu überzeugen. Von daher, glaube ich, ist dies kein Grund, die FDP anzugreifen. Ich finde, wir haben tolle Arbeit geleistet. Die Liberalen haben es geschafft, den Koalitionspartner davon zu überzeugen, die Wehrpflicht auszusetzen. Davon könnten Sie sich eine große Scheibe abschneiden. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Norbert Geis hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich ist die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes eine Reaktion auf die Aussetzung der Wehrpflicht und damit verbunden des Zivildienstes. Was ist daran falsch? Die Aussetzung der Wehrpflicht und damit verbunden die Aussetzung des Zivildienstes markieren einen der größten Veränderungsprozesse der letzten 20 Jahre. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Bundeswehr, sondern vor allem auch auf die soziale Struktur unserer Gesellschaft. Der Staatsbürger in Uniform war, wie das Gelöbnis es sagt - Hunderttausende von Jugendlichen haben dieses Gelöbnis abgelegt -, bereit, seinem Land zu dienen und das Recht und die Freiheit seines Volkes tapfer zu verteidigen. Das sind die Worte in dem Gelöbnis. Dem Zivildienst lag eine ähnliche Aufgabe zugrunde. Der Zivildienst hat den Jugendlichen wohl zum ersten Mal in seinem Leben mit der Not und der Bedürftigkeit in unserer Gesellschaft konfrontiert. Der Jugendliche hat da seinen Beitrag geleistet. Das dürfen wir heute nicht vergessen. Der Zivildienst und die Wehrpflicht haben 50 Jahre lang in unserer Gesellschaft segensreich gewirkt und haben mit einen großen Anteil daran, dass sich die Jugendlichen am Ende in einer ganz großen Zahl mit unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, mit unserem Rechtsstaat identifiziert haben. Das war eine große Leistung. ({0}) Den Gedanken, dass man eine gewisse Zeit seines Lebens dem Gemeinwesen widmet, greift der Bundesfreiwilligendienst auf; diesen haben zuvor auch schon die Jugendfreiwilligendienste aufgegriffen. Ich halte es für ausgezeichnet, dass wir die Linie, die in unserer Gesellschaft entstanden ist, durch den Bundesfreiwilligendienst fortsetzen. Die Abschaffung des Zivildienstes - das ist heute schon gesagt worden - reißt natürlich eine Lücke in unsere Gesellschaft. Gerade weil wir eine älter werdende Gesellschaft sind und gerade weil viele Menschen in hohem Alter pflegebedürftig sind, große Bedürftigkeit haben, war es gut und richtig - das haben uns alle Verbände gesagt -, dass wir Zivildienstleistende hatten. Diese Zivildienstleistenden haben zusammen mit den Verbänden, den großen Verbänden wie Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und anderen Wohlfahrtsverbänden, aber auch zusammen mit kleineren Gruppierungen einen großen Dienst an der Gesellschaft erbracht. Diesen Dienst soll nun der Bundesfreiwilligendienst fortsetzen. Was ist daran falsch? Es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes. Das bestätigen die Zusage und die Anerkennung der großen Verbände, die ich eben genannt habe. Sie alle freuen sich und sind dankbar, dass der Bund einen solchen neuen Dienst errichtet. Wir sollten den Bundesfreiwilligendienst so sehen, wie er gesehen werden muss. ({1}) Er ist eine Chance, und zwar nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Erwachsene - auch für Rentner -, die bereit sind, einen Teil ihres Lebens der Gesellschaft zu opfern. Das ist, glaube ich, eine gute Seite innerhalb unserer Gesellschaft; das wird auch nicht geringer. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Geis, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dittrich von der Linken zulassen?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Geis, Sie können sich sicherlich an die Sachverständigenanhörung zum Bundesfreiwilligendienst erinnern. Sie haben gerade gesagt: Der Zivildienst, der jetzt wegfallen wird, wird eine große Lücke reißen. Können Sie uns im Parlament vielleicht erklären, wie das Fehlen des Zivildienstes, der arbeitsmarktneutral gewesen sein soll, eine große Lücke reißen wird? Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Wie kann es sein, dass auch der Bundesfreiwilligendienst arbeitsmarktneutral sein wird? Könnten Sie das bitte einmal erklären? Dann wären wir hier im Parlament - auch die jungen Menschen auf der Zuschauertribüne - vielleicht etwas weiter.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine Konkurrenz zum Ehrenamt darstellt. Ich glaube auch nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine Konkurrenz zu den Jugendfreiwilligendiensten oder den Beschäftigten darstellt. ({0}) - Er ist ganz anders strukturiert. ({1}) Für die Beschäftigten ist es der Beruf, dem diese Menschen nachgehen. Der Bundesfreiwilligendienst sieht eine Dauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr vor, und die Entlohnung ist niedrig. Wir wissen, dass Kleidung und Wohnraum gestellt und auch ein Taschengeld gezahlt werden kann. Das alles kann für den Beschäftigten im Gesamtrahmen der sozialen Fürsorge in unserem Land aber kein Ersatz sein. - Sie dürfen sich wieder setzen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nein, das können Sie nicht.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das ist nicht möglich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube fest, dass der Sozialstaat ohne die Freiwilligendienste und ohne die vielen bürgerschaftlichen Engagements - dazu zähle ich auch die Caritas, natürlich auch die Diakonie und die Arbeiterwohlfahrt - nicht aufrechterhalten werden kann. Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür, dass er aufrechterhalten werden kann, ist, dass wir Freiwillige finden, die bereit sind, in diesen Organisationen tätig zu sein. Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb die Freiwilligen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielen können. Durch die Freiwilligen entsteht eine neue Bindungskraft innerhalb der Gesellschaft. Dadurch, dass die Menschen aufeinander zugehen, sich gegenseitig und den Bedürftigen helfen, entsteht Bindung innerhalb der Gesellschaft. Dass es Freiwilligendienste gibt - ob kleinere Organisationen, größere Gruppierungen oder große wie den Caritasverband -, beweist, dass es innerhalb der Gesellschaft eine Kraft gibt, die nicht dem Staat zugeordnet werden kann, die aber auch nicht dem durch Konkurrenz und Wettbewerb gekennzeichneten Markt zugeordnet werden kann, sondern einen selbstständigen Raum ausfüllt. Das ist das, was vorhin genannt worden ist. Es geht darum, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen. Das ist das Potenzial, das wir im Freiwilligendienst sehen. Er ist eine Art Partizipation an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, an dem Leben der Gesellschaft. Zwischen Staat und Markt entsteht eine dritte Säule: die Säule der freiwilligen Betätigung der Menschen, der Freiwilligkeit und des bürgerschaftlichen Engagements. Ich halte dies für sehr wichtig. Ich bin der Bundesregierung und der Frau Ministerin außerordentlich dankbar, dass wir den Ansatz, für den Zivildienst nun den Bundesfreiwilligendienst einzuführen, gefunden haben. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Klaus Riegert hat das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus Sicht des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement bin ich froh, dass die ganze Debatte von der gemeinsamen Sorge und dem Willen getragen war, einen Konsens zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zu erzielen. Dafür möchte ich herzlich danken. ({0}) In der Tat stehen wir vor einer historischen Zäsur. Wir gehen nämlich vom Zivildienst, von einem Zwang, hin zur Freiwilligkeit. Ich glaube, dies ist ein entscheidender Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Die Demokratie lebt bekanntlich von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. Deshalb müssen wir auf Freiheit, Beteiligung und Teilhabe achten und uns Gedanken machen, wie wir junge Menschen motivieren, sich einzubringen und im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes, der nicht wie der Zivildienst Zwang ist, sondern freiwillig, Dienst für die Gesellschaft zu tun. Dabei müssen wir individuelle Aspekte wie die soziale Situation oder die Flexibilität des Engagements generationsübergreifend beachten, damit das Angebot bei Berufseinsteigern, Menschen in Übergängen, Schülern, Studenten, Vorruheständlern und benachteiligten Menschen ankommt. Für den Dienst als Bildungsinstrument braucht man im Hinblick auf die Freiwilligkeit besondere Motivation. Forscher würden sagen: Motivation ist entweder intrinsisch oder extrinsisch. - Jetzt sehe ich in ein paar verdutzte Gesichter. Da man in Debatten auch etwas lernen soll, ({1}) habe ich die entsprechende Wikipedia-Definition mitgebracht. ({2}) Der Begriff intrinsische Motivation bezeichnet das Bestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun ({3}). Bei der extrinsischen Motivation steht dagegen der Wunsch im Vordergrund, bestimmte Leistungen zu erbringen, weil man sich davon einen Vorteil ({4}) verspricht oder Nachteile ({5}) vermeiden möchte. Die neuere Motivationsforschung unterscheidet zwischen zwei intrinsischen und drei extrinsischen Quellen der Motivation. So weit Wikipedia. - Diese Vielfalt, auf den kurzen Nenner gebracht, sollten wir zulassen, und wir sollten neben dem neuen Bundesfreiwilligendienst auch die bisherigen Dienste würdigen. Deshalb, glaube ich, ist an dieser Stelle ein herzlicher Dank an die engagierten jungen Menschen, Männer und Frauen, im FSJ, im FÖJ, in den Auslandsdiensten und in „weltwärts“ angebracht. ({6}) Dazu müssen wir Angebote machen; das wurde ja schon hinreichend diskutiert. Wir müssen auch neue Einsatzfelder generieren und dafür werben und hier eine neue Kultur der Freiwilligkeit - wie es die Frau Bundesministerin genannt hat - herstellen. Die Rahmenbedingungen dafür sind sehr wichtig. Das haben wir ja jetzt die ganze Zeit diskutiert. Ich glaube, außer dem, was wir hier diskutieren, geht es auch darum, dass wir junge Leute für diesen Dienst begeistern. Wir müssen ein positives Klima schaffen, damit die jungen Leute, Frauen und Männer, sich freiwillig für den Dienst bewerben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Herr Koch würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Werter Herr Kollege, eigentlich wollte ich die Frage schon den Vorrednern aus Ihrer Fraktion stellen. Sie haben sich jetzt auch auf die freiwillig Dienstleistenden, FSJ und FÖJ, berufen und haben gesagt, diese würden diesen Dienst angeblich begrüßen. Es gibt einen Rat der Sprecherinnen und Sprecher der Schleswig-Holsteiner FSJler und FÖJler, der über 1 000 der freiwillig Dienenden vertritt und ein Papier erarbeitet hat. Dieses ist im März unter dem Titel - ich halte es einmal hoch - „Was für einen Freiwilligendienst wollen wir haben?“ verabschiedet worden. Ich zitiere einmal daraus und möchte dann kurz Ihre Position dazu hören. Der Bundesfreiwilligendienst ist die unnötige Einrichtung einer Doppelstruktur, die für Verwirrung der jungen Menschen sorgt, die sich engagieren wollen. Ich will nur sagen: Berufen Sie sich also bitte nicht auf die freiwillig Dienstleistenden in den Freiwilligendiensten. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege, da haben wir - wie die Debatte gezeigt hat - ein rechtliches Problem. Da waren wir ja unterschiedlicher Meinung. Auch der Kollege Schwanitz hat da die Verfassungslage einmal kurz übergangen. ({0}) Im Bereich des Zivildienstes geht es nicht um eine Abschaffung, sondern um eine Aussetzung. Auch bei Aussetzung des Wehrdienstes wollen wir für die Zukunft die notwendigen Rechtsgrundlagen behalten, um auf eine Sicherheitslage vorbereitet zu sein, die eine Wiedereinrichtung des Wehrdienstes, was wir uns alle nicht wünschen - wir gehen auch nicht davon aus, dass das der Fall sein wird -, nötig macht. Aufgrund der Verfassungslage war es zwingend notwendig, den Gesetzentwurf so zu gestalten, wie er vorliegt. Wenn Sie noch ein bisschen gewartet hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass ich in meinem Schlusswort versuchen wollte, die Brücke in die Zukunft zu schlagen. ({1}) Wenn man ein neues Instrument wie den Bundesfreiwilligendienst schafft und aus Zwang Freiwilligkeit macht - darüber habe ich ja schon gesprochen -, dann muss man die Instrumente natürlich auch ausprobieren. Es ist die Frage, ob man sich zuerst an den runden Tisch setzen sollte oder anschließend, wenn man dann aufgrund eines Gesetzes weiß, worüber man spricht. Der Kollege Rix hat es sehr vernünftig formuliert, indem er gesagt hat, dass man evaluieren muss. Das heißt, man muss sich natürlich anschauen: Wie funktioniert das Gesetz? Wie kann man es weiterentwickeln, um es dann in eine gute Zukunft zu führen? Wenn irgendwann einmal der Tag kommt, an dem das aufgrund der Verfassungslage zulässig ist, dann kann man die Freiwilligendienste auch vereinen. ({2}) Momentan haben wir aber eine andere Gesetzeslage. Deswegen haben wir das so beschlossen. ({3}) - Wenn Sie etwas wissen wollen, dann müssen Sie eine Zwischenfrage stellen, sonst geht das von meiner Zeit ab. ({4}) Ich nehme den Faden wieder auf und knüpfe an meine Rede an. Wir müssen diesen Bundesfreiwilligendienst positiv begleiten, wir müssen junge Menschen für diesen Dienst begeistern, und wir müssen die Einsatzstellen auffordern, den Dienst so auszugestalten, dass er attraktiv wird und sich junge Menschen dadurch anerkannt fühlen. Ich glaube - der Kollege Markus Grübel hat das ja schon gesagt -, dass wir heute einen historischen Tag haben. Nach 50 Jahren Zivildienst haben wir heute nämlich die Stunde null des Bundesfreiwilligendienstes. Es freut mich, dass ich als letzter Redner sozusagen den Segen für dieses Gesetz geben darf. ({5}) Ob es eine Mehrheit gibt, müssen Sie jetzt bestimmen. Ich wünsche mir 50 gute Jahre für den Bundesfreiwilligendienst. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5249, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4803 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in der Schlussabstimmung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5255. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch die SPD-Fraktion und die Fraktion Die Linke, bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und bei Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 28 b. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4692 mit dem Titel „Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Bürgerschaftliches Engagement der jungen Generation anerkennen und fördern“. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch die Koalitions- und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2117 mit dem Titel „Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Platzangebot ausbauen, Qualität erhöhen, Rechtssicherheit schaffen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Dagegen gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3429 mit dem Titel „Chancen nutzen - Jugendfreiwilligendienste stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben gestimmt CDU/CSU und FDP. Dagegen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4845 mit dem Titel „Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst einführen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen gestimmt hat die Linke. Enthalten hat sich die SPD-Fraktion. Schließlich und letztlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3436 mit dem Titel „Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt auf den Weg bringen Quantität, Qualität und Attraktivität steigern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, Gegenstimmen der SPD und Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke. Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Schlecht, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beschäftigte am Aufschwung beteiligen Staatlich begünstigtes Lohndumping aufgeben - Drucksache 17/4877 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Hierfür ist eine Dreiviertelstunde Debatte vorgesehen. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke. ({1})

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in Deutschland ein zentrales Problem, über das im Regelfall sehr wenig geredet wird: ({0}) Wir haben in Deutschland seit dem Jahr 2000 eine Lohnsenkung zu verzeichnen. Der durchschnittliche Beschäftigte verdient heute preisbereinigt ungefähr 3 bis 4 Prozent weniger als im Jahr 2000, und dies in einem Land, in dem wir eine ganz beständige Steigerung der Produktivität haben, wo also eine deutlich stärkere Beteiligung an der Entwicklung der Ökonomie möglich wäre. Das ist ein grandioser Skandal. ({1}) Wenn man dann noch berücksichtigt, dass jüngst der Wirtschaftsaufschwung zu dramatischen Steigerungen der Unternehmensgewinne geführt hat und die Bundesregierung mit Bundeskanzlerin Merkel und Minister Brüderle beständig den Aufschwung bejubelt, dann muss man sagen: Sie bejubeln einen Aufschwung der Profite; es ist aber kein Aufschwung, der bei der breiten Masse der Bevölkerung ankommt. Bei der breiten Masse der Bevölkerung herrschen nach wie vor Stagnation, Lohndumping und Sozialdumping vor. In der jüngsten Zeit erleben wir, dass die Regierung den Beschäftigten im Aufschwung sogar noch zuruft: Eure Löhne können ruhig ein bisschen erhöht werden. Das ist heuchlerisch und zynisch; denn dass es diese Entwicklung überhaupt gegeben hat, hängt damit zusammen, dass durch die Veränderungen am Arbeitsmarkt und die Agenda 2010 die Durchsetzungsmöglichkeiten und Kampfbedingungen für die Gewerkschaften dramatisch verschlechtert worden sind. ({2}) Zu den Punkten, die zuallererst zu nennen sind, gehört die Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen, Leiharbeit und Minijobs. Es ist doch völlig klar, dass es in einem Tarifbereich, in dem ein großer Teil der Beschäftigten nur befristet oder in Leiharbeit tätig ist, für die Gewerkschaften außerordentlich schwierig ist, Tarifrunden durchzuführen und Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Ich habe es selbst erlebt. In den 80er-Jahren waren die Verhältnisse noch anders. Damals herrschte noch eine andere Ordnung am Arbeitsmarkt, und es war sehr wohl möglich, in Tarif- und Streikauseinandersetzungen nachhaltig Druck auszuüben und den Beschäftigten einen halbwegs angemessenen Anteil am wirtschaftlichen Fortschritt zu sichern. Diese Bedingungen sind durch politisches Wollen gerade in den letzten zehn Jahren, begonnen mit der Agenda 2010 durch Rot-Grün und massiv unterstützt und fortgesetzt durch Schwarz-Gelb, unterhöhlt worden. Deshalb haben wir die miserable Lohnentwicklung zu verzeichnen, von der ich eben bereits gesprochen habe. Hinzu kommt, dass in dieser Entwicklung mit den Hartz-IV-Gesetzen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Erwerbslosen eingeführt worden sind. Diese Sanktionsmöglichkeiten bedeuten, dass einem Erwerbslosen zugemutet werden kann, für 2,50 Euro pro Stunde Klos zu putzen oder für 3,80 Euro pro Stunde den Hof zu kehren, und zwar vollkommen unabhängig davon, was der Betroffene oder die Betroffene in der Vergangenheit an Qualifikationen und beruflicher Erfahrung erworben hat. Erstens ist das zynisch und eine sozialpolitische Katastrophe. Zweitens hat es aber auch ganz verheerende Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten von Gewerkschaften, weil sich mittlerweile im Kreise der noch Beschäftigten natürlich herumgesprochen hat, was einem droht, wenn man Arbeitslosengeld II bezieht. Dies hat eine ungeheuer disziplinierende Wirkung. Nicht nur weil es unsozial ist, sondern auch wegen dieser disziplinierenden Wirkung gehört Hartz IV abgeschafft. Das ist völlig klar. ({3}) Um wieder bessere Lohnentwicklungen durchsetzbar zu machen, wollen wir die gesamte Agenda 2010 rückabwickeln. ({4}) Solange man das nicht macht, wird Deutschland weiterhin ein Land des Lohndumpings und des Sozialdumpings sein und wird es weiterhin eine schlechte Entwicklung der Löhne geben. Eine Notmaßnahme, die unmittelbar ansteht, ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes mit der Perspektive von 10 Euro. Das ist das Mindeste. Aber wir brauchen vor allen Dingen wieder eine Ordnung am Arbeitsmarkt. Dazu gehören weitere Etappen wie die Beschränkung von Befristungsmöglichkeiten; Befristungen dürfen nur in äußersten Notfällen zulässig sein. Wir brauchen außerdem eine Entwicklung, die dem Unwesen der Leiharbeit begegnet. Im Musterländle Baden-Württemberg, wo ich herkomme, ist bei den Beschäftigten vom Wirtschaftsaufschwung nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. 80 Prozent der neu geschaffenen Arbeitsplätze sind Arbeitsplätze in der Leiharbeitsbranche, die alle deutlich schlechter bezahlt sind als die Stammbelegschaft. Deswegen brauchen wir mindestens die Einführung von Equal Pay. Obendrauf wollen wir absichern, dass in diesem Bereich zusätzliche Prämien gezahlt werden. ({5}) Die einzige Partei, die konsequent für diese Linie steht - die überhaupt erst wegen der Politik der vier Hartz-IV-Parteien entstanden ist -, ist die Linke. Danke schön. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter Herr Kollege Schlecht, Sie begannen Ihren Vortrag mit dem Hinweis, es gebe ein Problem in diesem Land. Nach Ihrem Vortrag stimme ich Ihnen zu, und ich nenne das Problem beim Namen: Es sind die Linken. ({0}) Allein mit dem Ruf nach immer mehr Wohltaten, die angeblich nichts kosten, ist diesem Land sicherlich nicht gedient. Entscheidend ist, was man daraus macht. Denken Sie nur an das Märchen Tischlein deck dich der Gebrüder Grimm: Auf Zuruf wird aufgetafelt, ohne dass jemand zahlt. An genau dieses Märchen erinnert mich Ihr Antrag. Es handelt sich dabei - vom gesetzlichen Mindestlohn bis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen - um ein Wünsch-dir-Was der Sozialpolitik. Es gibt nur ein einziges Problem: Im wahren Leben deckt sich kein Tisch von selbst, und irgendjemand zahlt immer die Zeche. ({1}) In Ihrem Falle wären das übrigens die Langzeitarbeitslosen, die Geringqualifizierten sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit ihrem Einkommen die Wohltaten finanzieren sollen, die Sie ausschütten wollen. Ich will nur auf einige Punkte aus Ihrem Antrag eingehen, zunächst auf Ihre Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro. ({2}) Das hört sich zunächst einmal verlockend an. Die bittere Wahrheit ist aber: Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu niedrig ist, hilft niemandem. ({3}) Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu hoch ist, kostet Arbeitsplätze, denn die Firmen, die keine höheren Gehälter zahlen können, müssen Mitarbeiter entlassen. Das sind die Gesetze der Ökonomie, über die auch die Linken sich nicht hinwegsetzen können. ({4}) Ein einheitlicher Mindestlohn nimmt übrigens auch keine Rücksicht auf Branchen oder Regionen. In Grenzgebieten geht der Kunde ins Ausland, wenn es in Deutschland zu teuer ist, zum Beispiel nach Polen. Dort gibt es tatsächlich einen Mindestlohn, aber dieser beträgt 1,85 Euro. Ein gesetzlicher Mindestlohn schadet vor allem den Schwächsten. Als Erste entlassen werden nämlich die Menschen ohne Schulausbildung und die Menschen ohne Ausbildung. Das schadet im Ergebnis auch dem Beitragszahler; denn die Finanzierung von Arbeitslosigkeit ist immer sehr viel teurer als staatliche Zuzahlungen zum Lohn. Alle diese Effekte sind durch Studien belegt. Selbst die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem Ergebnis: „Ein genereller Mindestlohn - ohne jede Differenzierung - scheint nicht sinnvoll.“ Man höre! Wir wissen um diese Probleme, und deshalb lehnen wir einen gesetzlichen Mindestlohn ab. Wir wollen, dass jeder eine Chance auf Arbeit hat, insbesondere die Schwächeren. Wir wollen, dass Familien ein Mindesteinkommen haben. Das geht übrigens nicht mit einem einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro; denn die Leistungen, die eine Familie schon heute im Rahmen des Transfereinkommens, zum Beispiel in Form von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, erhält, sind höher als dieser Mindestlohn. ({5}) Es geht aber mit einer Kombination aus fairen Löhnen und ergänzenden staatlichen Leistungen. Wir wollen übrigens auch, dass die Menschen, die arbeiten, mehr haben als die Menschen, die nicht arbeiten. Das ist ein berechtigtes Interesse. ({6}) Wir wollen Mindestlöhne, aber tarifliche Branchenmindestlöhne, damit die Tarifparteien ihre Souveränität erhalten und unterschiedliche Branchenbedingungen berücksichtigt werden. So viel zum ersten Beispiel aus Ihrem Antrag. Das zweite Beispiel aus Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der Linken. Sie fordern, dass Arbeitslose nur die Arbeit annehmen müssen, bei der eine Entlohnung wie zuvor stattfindet. Das klingt auf den ersten Blick charmant. Das wird zum Beispiel die zwischenzeitlich arbeitslosen Bankmanager der Hypo Real Estate erfreuen. Bei einem Jahreseinkommen in Höhe von circa 200 000 Euro aufwärts werden diese auf dem normalen Arbeitsmarkt kaum jemanden finden, der sie beschäftigen könnte. In diesem Fall lässt sich sagen: Willkommen in der Arbeitslosigkeit, finanziert von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, vergoldet mit einer Abfindung und abgesegnet von Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken! ({7}) Beispiel drei. Sie fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen anstelle des Arbeitslosengeldes II. ({8}) Egal wie man sich verhält: Der Steuerzahler zückt das Portemonnaie. Ich frage Sie: Wer ist denn der SteuerzahGitta Connemann ler in Deutschland? Das sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jeden Tag zur Arbeit gehen und mit zum Teil kleinen Einkommen diesen Staat finanzieren. Das sind nicht nur die großen Bosse, sondern auch die Verkäuferin, der Maurer oder der Arbeiter am Band. Genau um deren Steuerzahlungen geht es: Deren Steuergelder schütten Sie aus. Ich wünschte mir, dass Sie damit vorsichtiger umgingen. ({9}) Summa summarum kostet Ihr Wunschzettel zig Milliarden Euro. Das ist so unseriös, ({10}) dass Ihnen inzwischen alle Ihre Finanzpolitiker von der Stange gehen, zum Beispiel Ihr ehemaliger Genosse Ronald Weckesser. ({11}) Er wurde gefragt, was er denn von diesen Ihren Forderungen halte. Er stellte fest: Es werden Dinge versprochen, die nicht einmal dann eingehalten werden könnten, wenn wir die Wahl gewännen. … Das weiß jeder. Aber die Parteikonzeption laute, Forderungen müssten nicht realisierbar sein, sondern nur andere in Zugzwang bringen. Kurzum: Sie verfolgen ausschließlich eine Tischleindeckdich-Politik der leeren Versprechen. Das erleben übrigens besonders schmerzlich die Menschen, die in Ländern leben, in denen die Linken mitregieren, zum Beispiel in Berlin, ({12}) insbesondere die Familien, die Kinder und die Jugendlichen, auf deren Rücken gespart wurde. Die Liste der Grausamkeiten von Rot-Rot ist lang. Ich möchte nur einige wenige nennen: Kürzung der Sozialhilfe- und Pflegeleistungen um fast 50 Millionen Euro, Kürzung des Blindengeldes, Kürzungen der Leistungen für Seniorenarbeit, Selbsthilfegruppen und Ehrenamt um mehr als 50 Prozent. Das wurde im sogenannten LIGA-Vertrag ausgestaltet. Dafür wurden im letzten Jahr die Gaspreise zum wiederholten Mal erhöht. Nicht erhöht wurden über viele Jahre die Bezüge der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Erst im letzten Jahr hat es eine Erhöhung gegeben. Aber der Rückstand zu den anderen Ländern ist erheblich. Das zeigt einmal mehr: Dort, wo Sie regieren, tun Sie in keiner Weise das, was Sie einfordern. Sie dreschen Phrasen; aber Sie lassen keine Taten folgen. Die Arbeitnehmer, von denen ich gesprochen habe, können über den Titel Ihres Antrags „Beschäftigte am Aufschwung beteiligen“ nur lachen, meine Damen und Herren von der Linken. ({13}) Mein Fazit ist: Dort, wo die Linken regieren, geht es den Menschen schlechter. ({14}) Ihre Politikmodelle helfen niemandem. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Josip Juratovic hat das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie in Ihrem Allerweltsantrag kurz vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz alle Forderungen platzieren, die Sie in Ihren alten Anträgen gefunden haben. Die Überschrift von Ihrem Antrag ist gut gewählt; aber der Inhalt ist sehr mager. ({0}) Ein Beispiel für Ihre realitätsfernen Forderungen ist, dass in der Zukunft wir Politiker die Mindestlohnhöhe festlegen sollen. Ich sage Ihnen: Das kann nicht funktionieren. ({1}) Wir brauchen stattdessen einen flächendeckenden Anfangsmindestlohn von 8,50 Euro, ({2}) der bereits gesellschaftlich mit den Gewerkschaften abgestimmt ist. Dann brauchen wir eine Mindestlohnkommission, ({3}) in der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Wissenschaftler analysieren, wie sich Produktivität, Lohnzuwächse, Wachstum und Inflation entwickeln, und danach die Höhe des Mindestlohns festlegen. ({4}) Ein zweites Beispiel für Ihre Allerweltsforderungen ist der Antistreikparagraf. Das ist wirklich nicht das Problem, das den Gewerkschaften aktuell unter den Nägeln brennt. Wir brauchen keine populistischen Allerweltsforderungen, sondern realitätsbezogene Lösungen, und zwar für alle Menschen in unserem Land. ({5}) Ich habe den Eindruck, dass die Realität in der Welt draußen hier im Parlament - sowohl von links als auch von rechts - verdrängt wird. ({6}) Union und FDP sehen nicht die massiven Verwerfungen im Niedriglohnsektor, und die Linke verkämpft sich für alte Klamotten wie den Antistreikparagrafen. Die tatsächlichen Probleme der arbeitenden Menschen und der anständigen Unternehmer werden viel zu wenig wahrgenommen. Leiharbeit ist nur ein Beispiel dafür, dass sich die Funktionsweise unserer Wirtschaft in den vergangenen Jahren dramatisch verändert hat. Leiharbeit ist heute Teil der Mischkalkulation in den Betrieben. Billige Leiharbeiter werden in der betriebswirtschaftlichen Logik in den Unternehmensprofit von vornherein einkalkuliert. Das zeigt, dass Leiharbeit nicht mehr, wie sie gedacht war, nur Auftragsspitzen abdeckt. Das ist ein klarer Missbrauch von Leiharbeit. ({7}) Es wird noch schlimmer: Leiharbeit wird in den Bilanzen nicht wie Personalkosten behandelt, sondern als Sonderaufwendung, genau wie der Einkauf von Schrauben und Toilettenpapier. Das ist menschenunwürdig. ({8}) Lassen Sie mich auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Leiharbeit eingehen. Erstens. Leiharbeit schafft Kinderarmut. Frau Connemann, wenn Sie hier von Kinderarmut sprechen, dann sollten Sie zuerst die Niedriglöhne der Eltern als Ursache von Kinderarmut bekämpfen. ({9}) Zweitens. Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn wir Niedriglöhne staatlich subventionieren. Rund 92 000 Leiharbeiter erhalten so wenig Lohn, dass sie ihr Einkommen durch Sozialhilfe aufstocken müssen. Das kostet den Steuerzahler 700 Millionen Euro im Jahr. Drittens. Die Leiharbeit von heute schafft die Armutsrentner von morgen. Leiharbeiter brauchen über 70 Beitragsjahre, um eine Rente in der Höhe der Grundsicherung zu erhalten. Kein Leiharbeiter kann sich eine Riester-Rente leisten. Viertens. Leiharbeiter werden gesellschaftlich stigmatisiert. Sie erhalten keine Kredite. Eine Familiengründung können sie sich finanziell nicht leisten. Kolleginnen und Kollegen, in was für einem Land leben wir, wenn eine Familiengründung inzwischen zum Luxus geworden ist? ({10}) Fünftens. Leiharbeit schafft eine Entsolidarisierung im Betrieb. Man kann in Betrieben oft sehen, dass die rechte Autotür von einem festangestellten Mitarbeiter eingebaut wird und die linke Autotür von einem Leiharbeiter, der bestenfalls 70 Prozent des Lohns des festangestellten bekommt. Es kann doch nicht sein, dass die Arbeiter für exakt die gleichen Handgriffe unterschiedlich entlohnt werden. ({11}) Das dient nicht gerade dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb müssen wir verhindern, dass die Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden. ({12}) Wir müssen verhindern, dass Leiharbeiter als Dank für ihre Flexibilität und ihren Lohnverzicht in einer Krise als Allererste entlassen werden. ({13}) Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet von einem knallharten Wettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Produktionskostensenkung beruht. Der erste Teil dieser Kostensenkung ist die schon angesprochene Mischkalkulation in den Unternehmen. Es wird genau ausgerechnet, was wie viel kosten darf, und dann wird Druck auf die einzelnen Unternehmensteile ausgeübt, insbesondere auch auf Zulieferer und Leiharbeiter. Das geht so weit, dass man bereits mit Zahlungsverzögerungen bei den Zulieferern von bis zu sechs Monaten kalkuliert. Der zweite Teil dieser Kostensenkung ist die Leistungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz. Gerade ältere Arbeitnehmer müssen oft olympiareife Leistungen vollbringen. Daher gibt es bei den Arbeitnehmern eine steigende Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine steigende Zahl psychischer Erkrankungen. Unsere Wirtschaft handelt rein wachstums- und profitorientiert. Es gibt nur noch die reine Betriebswirtschaft. Die Volkswirtschaft hat niemand mehr im Blick. Das geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Viele der Gründer unserer Nachkriegswirtschaft sind heute entsetzt darüber, was ihre Enkel aus der sozialen Marktwirtschaft gemacht haben. In meinen zahllosen Gesprächen erfahre ich, dass viele Menschen ratlos sind, wenn sie diese einseitige Orientierung der Wirtschaft spüren. Angesichts dessen müssen wir gemeinsam mit Gewerkschaften, Unternehmen, Kirchen und vielen weiteren Menschen aus der Zivilgesellschaft überlegen, wie wir unsere Wirtschaftsund Arbeitswelt organisieren. Aber wir dürfen nicht nur nachdenken, sondern wir müssen auch politisch handeln. Dass die Bundeskanzlerin bei jedem Problem nach einer Kommission, einem Moratorium oder nach den Sozialpartnern ruft und dann alles für alternativlos erklärt, ist ein Zeichen von Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit dieser Regierung. ({14}) Kolleginnen und Kollegen, wir müssen zeigen: Wir wissen, wie die Realität draußen aussieht, und wir haben die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein, daraus politische Handlungen abzuleiten und die politischen Rahmenbedingungen entsprechend zu setzen. Meine Damen und Herren der Regierungsparteien, nicht nur reden, sondern endlich auch handeln! ({15}) Ein flächendeckender Mindestlohn und das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, was so viele Probleme lösen würde und gesellschaftlich unumstritten ist, könnten sofort eingeführt werden. ({16}) Wir brauchen eine Kultur des Anstands in der Arbeitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft. Kolleginnen und Kollegen, ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass es viele gute Unternehmer gibt, die von der marktradikalen Logik dazu gezwungen werden, ihren Betrieb durch schlechte Löhne über Wasser zu halten. Wir müssen diese Arbeitgeber durch einen allgemeinen flächendeckenden Mindestlohn und durch das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ vor Lohndumping schützen. ({17}) Unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt darf eben nicht nur auf Profitmaximierung ausgerichtet sein, sondern sie muss auch eine Antwort auf die Frage geben können: Wie wollen wir in der Zukunft leben? Arbeit ist ein entscheidender Bestandteil des Lebens, weil Arbeit Sinn stiftet. Jeder Mensch will gebraucht werden. Wir brauchen Respekt und Wertschätzung der Arbeit. Arbeit muss sich außerdem daran messen lassen, ob sie zu mehr Lebensqualität für alle Menschen beiträgt. Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit sind Werte und Tugenden, die unsere Wirtschaft so groß und erfolgreich gemacht haben. Wir alle, auch die Unternehmer, müssen daher zurück zu den Werten und Tugenden. Meine Damen und Herren, am Sonntag hat man in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine Chance, der Erreichung dieser Ziele näherzukommen. ({18}) Auch in unserem Musterländle ist jeder zweite Job, der nach der Krise entstanden ist, in der Leiharbeit angesiedelt. ({19}) Der wirtschaftliche Erfolg spielt sich auch hier auf dem Rücken der Leiharbeiter ab. Wenn Baden-Württemberg wieder das Land der Pioniere werden will, brauchen wir durch faire Arbeitsbedingungen motivierte Arbeitnehmer. ({20}) Ein erster Schritt ist die Verabschiedung des von der SPD geforderten Tariftreuegesetzes. Öffentliche Aufträge sollten nur an gute Arbeitgeber vergeben werden. Ich denke, der Staat sollte als Auftraggeber mit gutem Beispiel vorangehen. ({21}) Die Menschen in Baden-Württemberg brauchen nach 57 Jahren endlich wieder verantwortungsvolle und realitätsnahe Politik mit Empathie und Vernunft. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({22})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb spricht für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit den Anträgen der Linken ist es so: Die Überschriften wechseln; der Inhalt ist immer der gleiche. Auch das, was heute vorliegt, enthält wieder viel Bekanntes, Herr Kollege Schlecht. Das einzig Neue - das will ich immerhin festhalten - scheint Ihr Vorschlag zu § 146 SGB III zu sein, den Sie irgendwo aus der Schublade gezogen haben. Allerdings ist mir der aktuelle Hintergrund nicht ganz schlüssig. ({0}) - In den 80er-Jahren war die Neutralitätspflicht der Bundesanstalt für Arbeit noch ein Problem. - Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass die Bundesagentur für Arbeit in den letzten Tarifauseinandersetzungen sich für die eine oder andere Richtung eingesetzt hat, was dazu hätte animieren können, Ihren Antrag entsprechend zu gestalten. Vielleicht wollen Sie nur ein bisschen variieren; das wäre lobenswert. Sie sollten mehr nachdenken. Dann fällt Ihnen vielleicht noch etwas Besseres ein. ({1}) Da aufgrund der ständigen Wiederholungen eigentlich alles schon besprochen worden ist, will ich gezielt ein paar Aspekte aus Ihrer Rede aufgreifen. Sie machen einen Denkfehler, Herr Kollege Schlecht. Sie gehen da11336 von aus, der durchschnittliche Beschäftigte verdiene seit dem Jahr 2000 weniger. Den durchschnittlichen Beschäftigten gibt es aber nicht, sondern es gibt Beschäftigte mit jeweils individuellem Entgelt. Ich bezweifle Ihre These, dass es in den vergangenen zehn Jahren bei dem einzelnen Arbeitnehmer tatsächlich zu Lohnkürzungen gekommen ist. Es ist Folgendes passiert - das führt zu dem Ergebnis, das Sie angesprochen haben -: Wenn man in einer Volkswirtschaft einen Niedriglohnsektor einrichtet, so wie es Rot-Grün mit den Arbeitsmarktreformen der Jahre 2004 und 2005 getan hat, dann muss das Durchschnittseinkommen dieser Volkswirtschaft notwendigerweise sinken. Das ist der erste Effekt. Der zweite Effekt ist: In einer Aufschwungphase, in der viele Menschen mit einer geringeren Qualifikation die Chance bekommen, sich zusätzlich am volkswirtschaftlichen Leistungsprozess zu beteiligen, sinken die durchschnittlichen Löhne. In der Krise halten die Unternehmen diejenigen Beschäftigten, die besonders qualifiziert sind und die über ein hohes Einkommen verfügen, während die Geringqualifizierten, die herangezogen werden, um das Leistungsvermögen des Unternehmens in Phasen hoher Auslastung zu erhöhen, entlassen werden. Dies erklärt den Befund, den Sie festgestellt haben. Aus meiner Sicht wäre es jedoch falsch, daraus zu schließen, dass in den vergangenen zehn Jahren in den Unternehmen in Deutschland flächendeckend Lohndrückerei stattgefunden hat. Im Gegenteil, die Chancen der Arbeitnehmer haben sich durch die demografische Entwicklung und zusätzlich durch den wirtschaftlichen Aufschwung verbessert; in Verhandlungen mit den Arbeitgebern haben sie eine bessere Position als zuvor. Dies wird sich in den nächsten Jahren noch deutlicher zeigen. Außerdem stellen Sie immer wieder fest, die Zeitarbeit und die befristete Beschäftigung seien der Standard bei der Schaffung neuer Arbeitsverhältnisse. Auch da muss man sagen - zu diesem Ergebnis können auch Sie, Herr Kollege Schlecht, durch Nachdenken kommen -, dass es ganz normal ist, dass die Unternehmen nach der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik an den Aufbau neuer Beschäftigung zunächst vorsichtig herangehen, auch was die Nutzung solcher Instrumente angeht. Wir wissen aus dem letzten Konjunkturzyklus, dass flexible Beschäftigungsverhältnisse sehr schnell in dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse und insbesondere in Vollzeitstellen umgewandelt worden sind. Man kann sicherlich zu Recht erwarten, dass das auch jetzt wieder passieren wird. Die Unternehmer sind gut beraten, wenn sie qualifizierte Arbeitnehmer an das eigene Unternehmen binden, weil der Arbeitsmarkt in Deutschland in zwei bis drei Jahren gerade in Bezug auf solche Arbeitnehmer leergefegt sein wird. Das waren die Anmerkungen, die ich machen wollte; mehr war heute nicht drin. Kollege Kober wird sicherlich noch wichtige Beiträge leisten. Zum Thema Zeitarbeit will ich in der Debatte, die in circa zwei Stunden in diesem Hause zu führen sein wird, gerne mehr sagen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht das Wort.

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kolb, da Sie mich in Ihrer Rede angesprochen hatten, möchte ich Ihnen noch einmal sagen: An den empirischen Daten kommen Sie nicht vorbei. Entsprechende Daten gibt es ja nicht nur von Eurostat und AMECO, sondern auch von der Internationalen Arbeitsorganisation und anderen. Daraus ergibt sich völlig eindeutig, dass die Realeinkommen in Deutschland in den letzten zehn Jahren preisbereinigt im Durchschnitt - ich habe gar nicht vom durchschnittlichen Beschäftigten gesprochen ({0}) um 3 bis 4 Prozent gesunken sind. Das Skandalöse ist - das regt zumindest mich auf, Sie anscheinend nicht -, dass eine solche Entwicklung nur in Deutschland zu verzeichnen ist. In allen anderen Ländern sind die Realeinkommen in den letzten zehn Jahren mehr oder minder deutlich angestiegen. Nach uns kommen gleich Belgien und Österreich mit plus 6 Prozent, Frankreich mit plus 10 Prozent, die Niederlande mit plus 15 Prozent. Nur Deutschland liegt bei einer Größenordnung von minus 3 bis minus 4 Prozent, obwohl es doch eines der wirtschaftlich stärksten Länder in Europa ist. Das ist der eigentliche Skandal. Daran kommen Sie nicht vorbei. Hinter dieser Durchschnittsbildung verbergen sich natürlich Bereiche, in denen es noch dramatisch schlechter läuft. Das liegt daran, dass von Rot-Grün im letzten Jahrzehnt - Schröder war immer stolz darauf - sehr erfolgreich ein Hunger- und Niedriglohnsektor ausgebaut worden ist. Infolgedessen gibt es Beschäftigte, deren derzeitige Einkommen gegenüber den Einkommen von vor zehn Jahren um 10, 20 oder 30 Prozent gesunken sind. Es gibt sicherlich auch einige Wirtschaftsbranchen, in denen es für Einzelne günstiger gelaufen ist, sodass deren Einkommen gestiegen sind. Das Problem der Lohnsenkung ist nicht nur ein Problem im Dienstleistungsbereich; Lohnsenkungsprozesse gibt es vielmehr längst auch in Bereichen, in denen qualifizierte Beschäftigte arbeiten. In der derzeit laufenden Tarifrunde für Journalisten in der Zeitungsbranche wird von den Verlegern gefordert, die Gehälter für neu einzustellende Journalisten um sage und schreibe 25 Prozent abzusenken. Der Background dafür, dass mit Verve solche frechen Forderungen aufgestellt werden, ist, dass auch in Zeitungsredaktionen mittlerweile in zunehmendem Maße eine Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen eingetreten ist, ({1}) dass immer mehr auf Leiharbeiter zurückgegriffen wird, dass immer mehr befristet eingestellt wird und dass in immer stärkerem Maße Freie eingesetzt werden. Das ist wirklich ein Skandal.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie hatten nicht das Wort zu einer zweiten Rede, sondern nur zu einer Kurzintervention. ({0}) Möchten Sie erwidern, Herr Kolb?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, Herr Kollege Schlecht, das kann man nicht sagen. Ich stehe mitten im Leben. Ich glaube, dass ich eine sehr gute und auch nahe Anschauung dessen habe, was in den Betrieben tatsächlich passiert. Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe, und das, was Sie soeben ergänzend vorgetragen haben, ändert daran nichts. Bei einer Durchschnittsbetrachtung - es ist gleichgültig, ob man den durchschnittlich Beschäftigten oder das Durchschnittseinkommen zugrunde legt - zeigt sich: Die Einführung eines Niedriglohnsektors führt immer dazu, dass die Durchschnittswerte sinken. Es ist nicht die FDP gewesen, die den Niedriglohnsektor erfunden und gesetzlich verankert hat; vielmehr haben dafür seinerzeit die Kollegen von SPD und Grünen gesorgt. ({0}) - Nein. Ich kann Ihnen sagen, warum der Effekt in Deutschland besonders stark ist. Deutschland hatte im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in Europa keinen Niedriglohnsektor, mit dem Ergebnis, dass wir 2004/2005 unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder mehr als 5 Millionen Arbeitslose hatten. Da es sich dabei überwiegend um geringqualifizierte Beschäftigte handelte, hatte Gerhard Schröder damals folgende Idee: Wenn wir diese Menschen in Arbeit bringen wollen, müssen wir Arbeitsverhältnisse schaffen, bei denen der Lohn, der dort zu Buche steht, auch mit einer geringeren Wertschöpfung erarbeitet werden kann. Bezogen auf das zurückliegende Jahrzehnt ist dieser Effekt in Deutschland deswegen besonders ausgeprägt. Man kann das alles also erklären. Ich habe es Ihnen bewusst erläutert, damit Sie bei Ihrem nächsten Antrag vielleicht von neuen Erkenntnissen und Analysen ausgehen. ({1}) Sie haben gesagt, die Beschäftigten seien am Aufschwung zu beteiligen. Ich möchte feststellen: Uns geht es in der Tat darum, die Menschen am Aufschwung zu beteiligen. Wir haben die Menschen am Aufschwung beteiligt: die große Zahl derjenigen, die neue Beschäftigungsverhältnisse gefunden haben und die aus der Kurzarbeit in ein normales Beschäftigungsverhältnis zurückgekehrt sind. Wir haben selbst vorgeschlagen - Sie haben den Wirtschaftsminister zitiert -, dass die Tarifpartner Spielräume nutzen sollen. Es ist nicht unsere Aufgabe, sondern die der Tarifpartner, die vorhandenen Spielräume zu nutzen. Das werden sie verantwortungsvoll tun. Ich bin ein großer Anhänger und Verfechter des Prinzips der Tarifautonomie. Die Politik sollte sich in die Tariffindung meines Erachtens nicht einmischen, sondern sie sollte den Tarifpartnern als denjenigen, die sich vor Ort auskennen, das Geschäft überlassen. Damit sind wir in der Vergangenheit gut gefahren und werden es auch in Zukunft tun. Frau Präsidentin, danke dafür, dass Sie mich durch Klopfen auf das Ende meiner Redezeit hingewiesen haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich habe jetzt einen rhythmischen Hinweis gegeben. Das geht offensichtlich auch. Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linken behandelt viele richtige und wichtige Themen, die wir hier im Bundestag bereits häufig debattiert haben. Es ist bekannt, dass wir viele der genannten Forderungen unterstützen und dazu schon zahlreiche Anträge gestellt haben. Insgesamt sieht dieser Antrag aber schon ein bisschen nach Wahlkampfhilfe für die Linke in Baden-Württemberg aus. ({0}) Mir soll es aber recht sein. Ich rede gerne zu diesen Themen; denn sie sind mir ein Anliegen. Wichtig sind mir diese Themen auch - Herr Kolb, Sie sprechen es immer wieder an -, weil wir Grünen sehr wohl wissen, dass die Politik unter Rot-Grün zu Fehlentwicklungen beigetragen hat, die korrigiert werden müssen. Entscheidend ist, dass wir die Augen nicht verschließen. Schon lange wollen und fordern wir an verschiedenen Stellen Korrekturen. ({1}) Die Arbeitswelt wird zunehmend atypisch: Prekäre Beschäftigung nimmt zu. Viele Menschen erleben tagtäglich eine Arbeitswelt, die aufreibender und unsicherer wird, und viel zu viele Menschen arbeiten und können dennoch nicht von ihren Löhnen leben. Die Koalition ignoriert diese Realität. Ich habe ebenfalls das Zitat von Minister Brüderle gelesen: „Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige Lohnerhöhungen möglich.“ Als ich das las, dachte ich - es kommt selten vor -: Recht hat er. Wenn sich die Bundesregierung für Lohnerhöhungen, ausgehandelt durch die Tarifparteien, ausspricht, muss sie aber auch selber ihre Möglichkeit nutzen und Verantwortung übernehmen. Konkret bedeutet das, dass sie für entsprechende politische Rahmenbedingungen sorgen muss, damit prekär Beschäftigte, die eben nicht von tariflichen Lohnerhöhungen profitieren, endlich Löhne erhalten, von denen sie auch leben können. ({2}) Die Bundesregierung und insbesondere die FDP stehen aber bei allen notwendigen Maßnahmen auf der Bremse. Das geht zulasten der Beschäftigten und der Ärmsten in unserer Gesellschaft. ({3}) Wir unterstützen zwar nicht alle, aber etliche Forderungen in diesem Antrag, und zwar ohne Wenn und Aber. ({4}) Wir brauchen eine Regulierung in der Leiharbeit, Änderungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz, Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen und ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften. Wir brauchen insbesondere - das steht nicht im Antrag der Linken - eine Reform bei den Minijobs. Davon würden vor allem Frauen profitieren. ({5}) Wir fordern auch eine Grundsicherung, die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe ermöglicht. Dazu gehört auch unser Antrag, in dem wir ein Sanktionsmoratorium fordern. Der zentrale und wichtigste Punkt ist aber ein gesetzlicher Mindestlohn. Ich wünsche mir noch immer, dass wir, die Opposition, dabei an einem Strang ziehen. Das entscheidende Thema ist momentan nicht die Höhe des Mindestlohns; entscheidend ist, dass überhaupt ein Mindestlohn eingeführt wird. ({6}) - Herr Kolb, wir haben da immer eine sehr klare Meinung. Ich kann in Richtung der Koalitionsfraktionen nur sagen: Stellen Sie sich endlich ernsthaft dem Thema Mindestlohn; denn alle Menschen haben das Recht, für ihre Arbeit gerecht und fair entlohnt zu werden. ({7}) Wir begründen höhere Löhne aus der Perspektive der Beschäftigten. Sie müssen diese Begründung aber nicht teilen; Mindestlöhne und die konsequente Regulierung der Leiharbeit könnten auch mit Ihrer wirtschaftspolitischen Programmatik begründet werden, auch mit der wettbewerbspolitischen Tradition der FDP; denn Dumpinglöhne führen zu einer Wettbewerbsverzerrung zulasten der tariftreuen Betriebe, die vom Markt verdrängt werden, wenn sie faire Löhne zahlen. Sie haben sich auch den Subventionsabbau auf die Fahnen geschrieben. Mit Mindestlöhnen und allgemeinverbindlich erklärten Tariflöhnen über dem Niveau des Arbeitslosengeldes II wäre endlich Schluss mit der staatlichen Subventionierung beispielsweise bei der Leiharbeit. ({8}) Vor allem könnten Sie auch bei der Haushaltskonsolidierung punkten, weil höhere Löhne auch zu höheren Einnahmen führen, die Sozialversicherungen stabilisieren und die Sozialleistungen mindern. Alles zusammen würde Ihrer Programmatik voll und ganz entsprechen. ({9}) Programmatik hin oder her: Schlussendlich geht es um Gerechtigkeit. Die Politik darf sich nicht einer alternativen Zwangsläufigkeit eines freien Marktes unterordnen. Die Gesellschaft und die Menschen sind nicht ausschließlich Teil der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft ist Teil der Gesellschaft. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Politik. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Margot Käßmann enden: Die Schwächsten sind der Maßstab für die Gerechtigkeit. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke legt heute wieder ein Sammelsurium der bekannten Vorschläge vor, um damit Wahlkampf zu betreiben; das ist offensichtlich, aber das wird Ihnen nicht gelingen. Ich bin überzeugt, dass die Programmpunkte, die im Antrag vorgestellt werden, zum einen bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht verfangen und dass zum anderen ihre Umsetzung für den hiesigen Arbeitsmarkt und die Menschen in Deutschland sehr schlecht wäre. Es werden immer die falschen Vergleiche gezogen. Herr Schlecht, Sie haben hier einen sehr langfristigen Vergleich der Situation im Jahr 2002 mit der jetzigen Situation angestellt. Sie entwerfen das Bild einer Gesellschaft des Jammerns; das trifft in keiner Weise zu. Sie sollten sich mehr in der Realität bewegen. Es ist festzustellen, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern seit langem nicht mehr so gut gegangen ist wie unter der Regierungsverantwortung der CDU/CSU. ({0}) In den vergangenen 18 Monaten ist es noch besser geworden; ({1}) denn die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland - unter Rot-Grün waren etwa 5 Millionen Arbeitslose zu beklagen - ist auf 3 Millionen gesunken; das heißt, 2 Millionen zuvor arbeitslose Menschen haben eine Arbeit gefunden. Das ist letztendlich die Grundlage dafür, ein eigenständiges Leben zu führen. ({2}) Das ist aber nicht im Sinne der Linken in unserem Lande. Sie fordern hier, die Zumutbarkeitsregeln, die Rot-Grün richtigerweise geändert hat - ich möchte das anerkennen -, aufzubohren, sodass es beispielsweise für jemanden, der früher als Architekt beschäftigt war, nicht mehr zumutbar wäre, einen Job als Bauaufseher anzunehmen. Das wird in Ihrem Antrag begründet. Wir sehen das anders. Wichtig ist, dass jeder eine zumutbare Arbeit annimmt, weil das letztlich entscheidend dafür ist, am Arbeitsprozess teilnehmen zu können. Man wundert sich schon, wenn man an Folgendes denkt: Ihre Vergangenheit liegt in der PDS und im Sozialismus der DDR. Dort gab es eine disziplinierende Pflicht, nämlich die Arbeitspflicht, werter Herr Kollege Schlecht, ({3}) und keine sogenannte disziplinierende Wirkung unter dem Gesichtspunkt: Wenn ich arbeite, habe ich auch mehr zum Leben. - Das ist nämlich ein gewaltiger Unterschied. In der damaligen DDR musste man arbeiten; trotzdem hat man schlecht verdient. Auch das ist Realität. ({4}) Das wollen Sie offensichtlich hiermit erreichen. ({5}) Ich bin natürlich auch über Behauptungen verwundert, dass es den Arbeitnehmern nicht besser gehen würde. Die Lohnsteigerungen in den Jahren 2008, 2009 und 2010 waren moderat, aber die Preissteigerungsrate lag noch darunter. Somit gab es ein Einkommensplus für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist letztlich entscheidend. Wir sind aus dem Tal der Tränen, das Rot-Grün mit der damaligen Politik geschaffen hat und das durch massive Arbeitslosigkeit in Deutschland gekennzeichnet war, herausgekommen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie unsere Wirtschaftsbetriebe haben letztlich aufgrund der Regierungsverantwortung von CDU/CSU und FDP Kraft geschöpft. ({6}) Das wird auch weiterhin so sein. Damit werden die Menschen eine richtige Grundlage für Beschäftigung haben. ({7}) Lassen Sie uns noch einmal die Debatte von heute Vormittag zu Gemüte führen. Da hat die versammelte Linke in diesem Haus aufgrund der schrecklichen Ereignisse in Japan gefordert, sofort aus der Nutzung der Kernkraft auszusteigen. Auch das bedeutet mehr Arbeitslosigkeit in unserem Land, und zwar von gutbezahlten Kräften. ({8}) - Natürlich! Die Menschen in den Kraftwerksbetrieben wollen arbeiten und nicht mit Sozialplänen abgespeist werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Das muss man einmal deutlich sagen. ({10}) Sie nehmen letztlich keine Rücksicht auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Linken wollen nur einen Beitrag zur Deindustrialisierung des Landes leisten. ({11}) Ihre Forderung, dass Siemens keine Kraftwerkstechnik mehr exportieren solle, stellt nur ein Arbeitsplatzprogramm für die französische, für die amerikanische, für die chinesische, für die japanische Industrie sowie möglicherweise für die Exporteure aus Russland dar. Auf deren Technik möchte ich mich nicht verlassen. Da ist es mir lieber, wenn unser Land funktionierende Sicherheitstechnik exportiert ({12}) und wenn die entsprechenden Arbeitsplätze in unserem Land gesichert sind, meine Damen und Herren. ({13}) Um diese Frage geht es auch am Sonntag bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in BadenWürttemberg. ({14}) Wer für Arbeitsplätze ist, tut gut daran, die CDU zu unterstützen. ({15}) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Schlusssequenz wird als Wahlkampfspot gesondert gesendet. ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({1})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schlecht, Sie haben Ihre Rede mit der Aussage begonnen, Deutschland habe ein zentrales Problem. Dem möchte ich entgegenhalten: Deutschland hat vor allen Dingen einen zentralen Vorteil, eine zentrale Kraft mit einer zentralen Idee: Das ist die Politik der christlich-liberalen Koalition. So erfolgreich ist bisher noch keine Koalition in diesem Land gewesen. ({0}) In die Regierungszeit dieser Bundesregierung fiel die geringste Arbeitslosigkeit seit 1991. Sie werden anmerken, das sei nicht allein die Tat dieser Regierung. Völlig richtig: Das ist die Tat vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie vieler innovations- und investitionsfreudiger Unternehmer. ({1}) Es müsste Ihnen doch zu denken geben, dass diejenigen Länder am erfolgreichsten sind, und zwar insbesondere hinsichtlich Arbeitsplätze, Wohlstand und Kaufkraft, ({2}) in denen Schwarz-Gelb am längsten zusammen regiert und in denen seit langer Zeit eine christlich-liberale Politik gemacht wird. ({3}) Das ist beispielsweise in Baden-Württemberg der Fall. Die durchschnittliche Kaufkraft in Baden-Württemberg liegt 7 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Dafür gibt es einen Grund. Das fällt nicht vom Himmel. Wir müssen die Voraussetzungen für Investitionen schaffen. Wir müssen das für Investitionen notwendige Vertrauen aufbauen, und wir müssen in die Bildung investieren. Deswegen ist es ein Kernanliegen dieser Bundesregierung, die Bildungsausgaben des Bundes zu erhöhen. Sie sollen bis zum Jahr 2013 um 12 Milliarden Euro erhöht werden. ({4}) In Baden-Württemberg hatten wir schon im Jahr 2006 die höchsten Bildungsausgaben eines westdeutschen Flächenlandes: 5 000 Euro pro Kind. Wir haben im Rahmen einer Bildungs- und Qualitätsoffensive weitere 528 Millionen Euro investiert. ({5}) Ich kann Ihnen sagen: Das ist die richtige Politik. Diese Politik hilft den Menschen. Sie sorgt dafür, dass die Menschen aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt erwirtschaften und auf eigenen Beinen stehen können. ({6}) Da die Schwächsten in dieser Gesellschaft angesprochen wurden, möchte ich sagen, dass diese Bundesregierung dafür gesorgt hat, dass wir in Bildung und bessere Teilhabechancen von jungen Menschen investieren. ({7}) Gerade die Schwächsten der Gesellschaft profitieren davon. Wir haben das Bildungspaket auf den Weg gebracht und unterstützen damit die Menschen, die Sie vergessen haben. Wir bringen 740 Millionen Euro auf, um gerade die Kinder von Langzeitarbeitslosen, von Wohngeldempfängern und Empfängern des Kinderzuschlags zu unterstützen. ({8}) All das ist Ausweis einer verantwortungsvollen Politik, ({9}) die Wohlstand und Teilhabechancen für die Menschen schafft. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft gehören in der Tat gute Löhne für gute Arbeit. ({0}) In einer sozialen Marktwirtschaft werden die Löhne deswegen in freier Verhandlung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden festgelegt, geschützt durch die Tarifautonomie, die in unserem Grundgesetz festgeschrieben ist. Es gibt keinen besseren Weg zu guten Löhnen als den über die Tarifautonomie. ({1}) Wenn wir die vergangenen drei Jahre betrachten, in denen die Bundesrepublik Deutschland die schwerste Wirtschaftskrise seit ihrem Bestehen durchgemacht hat, müssen wir feststellen, dass die Tarifpartner, also die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände, in hohem Maße verantwortlich gehandelt haben. Sie haben beispielsweise in der Krise Tarifverträge abgeschlossen, in denen die Beschäftigungssicherung an Nummer eins stand und damit Vorrang hatte, während man bei den Lohnforderungen sehr bescheiden war. Auf der anderen Seite gilt: Jetzt, in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, muss es auch möglich sein, entsprechende Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu realisieren. Genau das haben der Bundeswirtschaftsminister und die Bundeskanzlerin gesagt. Sie haben recht damit. Die Tarifautonomie hat uns geholfen, aus der Krise herauszukommen. Jetzt hilft sie, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Aufschwung teilhaben können. Das ist richtig. ({2}) Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, die Tarifautonomie in Deutschland schlechtzureden. Im Gegenteil: Sie hat sich bewährt, sie ist erfolgreich, und sie wird auch in Zukunft erfolgreich sein. ({3}) Richtig ist aber auch, dass es Bereiche gibt, in denen sie nicht funktioniert. ({4}) Lohndumping passt nun einmal nicht zu sozialer Marktwirtschaft. ({5}) Deshalb ist in solchen Fällen staatliches Handeln notwendig. ({6}) Das ist der Grund dafür, dass CDU, CSU und FDP in der Regierung Helmut Kohl unter Federführung von Norbert Blüm das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffen haben. Das ist auch der Grund dafür, dass wir in der Großen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz novelliert haben. Wir wollten Folgendes möglich machen: Dort, wo es notwendig ist, sollen branchenbezogene Mindestlöhne vereinbart werden können. Jetzt schauen wir uns einmal die Bilanz an: Wir haben mittlerweile in acht Branchen Mindestlöhne. Fünf dieser Mindestlöhne sind unter der Regierung von CDU/CSU und FDP eingeführt worden. ({7}) Nur ein einziger Mindestlohn ist aufgrund des Gesetzes aus der Regierungszeit der CDU/CSU von Rot-Grün festgelegt worden. ({8}) Die Schlussfolgerung lautet also: Mindestlöhne gibt es dann, wenn CDU/CSU und FDP regieren, und sie gibt es praktisch nie, wenn Rot-Grün regiert. ({9}) Genauso geht es weiter. Noch heute werden wir hier im Deutschen Bundestag das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz novellieren und damit ermöglichen, dass für die Zeitarbeit ein Mindestlohn, eine untere Lohngrenze, festgelegt werden kann. Heute ist also ein Tag, an dem wir die Grundlage für einen weiteren Mindestlohn, nämlich in der Zeitarbeit, schaffen. ({10}) Am vergangenen Freitag hat der Gemeinsame Tarifausschuss einen Mindestlohn für das Wach- und Sicherheitsgewerbe festgelegt. Jetzt ist der Weg frei, dass auch dieser Mindestlohn durch die Bundesministerin für Arbeit und Soziales per Rechtsverordnung festgelegt werden kann. Ich wiederhole: Es ist notwendig, dass der Staat dort, wo die Tariffindung nicht mehr funktioniert, hilft und Lohndumping entgegenwirkt. Wir handeln, indem wir branchenbezogene Mindestlöhne einführen. ({11}) Peter Weiß ({12}) Diese Mindestlöhne sind zum größten Teil in Zeiten, in denen CDU/CSU und FDP regiert haben, festgelegt worden, bzw. sie werden jetzt neu festgelegt. Damit ist eigentlich klar, wer entgegen aller Verdächtigungen und aller Polemik der eigentliche Begründer von Mindestlöhnen in Deutschland ist, nämlich die christlich-liberale Koalition. ({13}) Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass diese Debatte offensichtlich wegen der Wahlen am kommenden Sonntag in Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg beantragt worden ist.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Weiß, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie wegen der zu Ende gegangenen Redezeit zu den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz leider nichts Sachdienliches mehr vortragen können. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, es bedarf in der Tat nur noch einer einzigen Bemerkung. Baden-Württemberg ist mit 5 Prozent Wirtschaftswachstum und der niedrigsten Arbeitslosigkeit das Spitzenland in Deutschland. Deswegen haben tüchtige Bürgerinnen und Bürger eine tüchtige Regierung aus CDU und FDP verdient, die diesen Kurs fortsetzt. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4877 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011 ({0}) - Drucksache 17/4821 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({1}) - Drucksache 17/5239 Berichterstattung: Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({2}) Elke Hoff Paul Schäfer ({3}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/5243 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Peter Willsch Johannes Kahrs Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière. ({5})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz, das heute abschließend beraten wird, setzen wir die Verpflichtung zum Grundwehrdienst zum 1. Juli dieses Jahres aus. Zugleich führen wir einen freiwilligen Wehrdienst ein. Beides sind zentrale Elemente auf dem Weg zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Ich wiederhole: Wir reden nicht nur über die Aussetzung der Wehrpflicht, wir reden gleichzeitig über die Einführung eines neuen freiwilligen Wehrdienstes. Unser Land braucht Streitkräfte, die modern, leistungsstark, wirksam, international geachtet und im Bündnis verankert sowie nachhaltig finanzierbar sind. Unser Land braucht Streitkräfte, die auf die gegenwärtige Situation reagieren können und ausreichend vorbereitet und flexibel sind, sich an neue Herausforderungen anzupassen. ({0}) Das ist der Grund, warum eine Neuausrichtung der Bundeswehr erforderlich ist. Ich habe bei meinem Amtsantritt - dieser war erst vor drei Wochen - gesagt, dass ich mir die Zeit nehme, die ich brauche. Das heißt nicht, dass ich Entscheidungen auf die lange Bank schiebe oder schieben kann. Bis Juni dieses Jahres möchte ich die grundlegenden Festlegungen über die Zahl der Soldaten, über das Fähigkeitsprofil und über die groben Strukturen der Bundeswehr treffen. Auch die Entscheidung über das Ministerium und die Entscheidung über die zivile Wehrverwaltung gehören dazu. Alle diese Entscheidungen müssen in einem Zusammenhang getroffen, in einem Zusammenhang begründet und in einem Zusammenhang umgesetzt werden. Das habe ich vor. Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung ({1}) Die Entscheidung, die Verpflichtung zum Grundwehrdienst auszusetzen, ist richtig, und sie ist nicht mehr infrage zu stellen. ({2}) Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspolitisch nicht mehr begründen, und sie ist zweitens militärisch nicht mehr erforderlich. ({3}) Eine umfassende Wehrgerechtigkeit wäre drittens auch nicht mehr gewährleistet. Es gibt keinen Weg zurück. Ich sage das nicht mit Freude. Denn die Aussetzung der Wehrpflicht heute ist kein Freudenakt. Es ist eine notwendige, aber mich nicht fröhlich stimmende Entscheidung. Entscheidend sind heute nicht mehr hohe Zahlen von Soldaten, sondern professionelle Streitkräfte, die unter schwierigen und anspruchsvollen Bedingungen rasch und erfolgreich im Inland und im Ausland im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grundlagen zum Einsatz gebracht werden können. Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, tritt an die Stelle des verpflichtenden Grundwehrdienstes ein neuer freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten für junge Frauen und Männer. Weder die verfassungsrechtliche noch die einfachgesetzliche Grundlage der Wehrpflicht werden gänzlich abgeschafft. Nicht zuletzt ist dies eine Rückversicherung mit Blick auf die sich in der Zukunft möglicherweise ändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen. Mit dem freiwilligen Wehrdienst verdeutlichen wir zugleich, dass junge Frauen und Männer Dienst in der Bundeswehr im Sinne eines staatsbürgerlichen Engagements leisten können, ohne sich gleich länger als Soldat auf Zeit verpflichten zu müssen. Das ist ganz ohne Frage ein Einschnitt. Niemand kann Ihnen heute mit Sicherheit sagen, wie viele Freiwillige am 1. Juli zu uns kommen werden. Es gibt viele Spekulationen über die Zahlen; dabei wird hinsichtlich der Kurzzeitfreiwilligen und Grundwehrdienstleistenden viel durcheinandergeworfen. Ich kann das nicht im Einzelnen bewerten. Ich finde es nicht verwunderlich, dass es keine klare Auskunft über die Zahlen gibt; schließlich verabschieden wir erst heute diesen Gesetzentwurf. Ich werde keine Zahl nennen, wie viele wohl am 1. Juli den neuen freiwilligen Wehrdienst antreten werden. Ich freue mich über jede und über jeden, der kommt. ({4}) Die Frage, ob dieses Gesetz ein Erfolg wird, entscheidet sich erst im Laufe der Jahre, nicht im ersten Quartal dieses Jahres. ({5}) Ich halte es für selbstverständlich, dass gesetzgeberische Entscheidungen - auch diese - auf ihre Praktikabilität und gesellschaftliche Akzeptanz überprüft werden. Ich schlage Ihnen deshalb vor, dass wir schon nach dem ersten Jahr eine Evaluierung dieses Gesetzes und des freiwilligen Wehrdienstes durchführen. Dazu werde ich dem Deutschen Bundestag gern einen Bericht vorlegen. Dann können wir sehen, welche Erfahrungen wir damit gemacht haben und wo wir im Einzelnen nachsteuern müssen. Meine Damen und Herren, wir setzen natürlich verstärkt auf Nachwuchswerbung. Wir müssen sicherstellen, dass wir die Besten und die Fähigsten für den neuen freiwilligen Wehrdienst gewinnen, und zwar solche Frauen und Männer, die als Soldaten auch eine ethische Verpflichtung empfinden; ich komme gleich darauf zurück. Deswegen - aber nicht nur deswegen - auch ein Wort an die jungen Frauen. Bisher haben wir um junge Frauen als länger dienende Zeitsoldaten geworben, nicht als Grundwehrdienstleistende. Das wird sich jetzt ändern. Es ist nicht nur aus Gründen der Demografie und eines Ergänzungsbedarfs, sondern es liegt auch im Sinne der Streitkräfte, dass wir mit dieser tollen Generation junger Frauen so umgehen und um sie so werben, dass wir viele von ihnen für die Streitkräfte gewinnen. Ich würde mich freuen, wenn Sie alle dabei mithelfen. ({6}) Der deutlich verbesserte Wehrsold für den freiwilligen Wehrdienst und die Verpflichtungsprämien für Soldaten auf Zeit senden starke Signale. Ich freue mich sehr über den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der vorsieht, dass man bestimmte Zahlungen wegen der längeren Beratungsfrist des Bundesrates schon vor Inkrafttreten des Gesetzes leisten kann. Das wäre für uns eine gute Grundlage, um kurzfristig zu handeln. Wir streben bessere Unterbringungsstandards für Mannschaften und nach Möglichkeit heimatnahe Verwendungen an. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Fortgeltung der Steuerfreiheit der Geld- und Sachbezüge, der kostenlosen Familienheimfahrten sowie der Regelungen des Arbeitsplatzschutzgesetzes, all das sind weitere Elemente einer attraktiven Ausgestaltung des freiwilligen Wehrdienstes. ({7}) Darüber hinaus wollen wir im Rahmen der Berufsförderung die Möglichkeiten der Teilnahme an Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen erweitern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einen Satz aus dem Entschließungsantrag der SPD vortragen, den ich mir gerne zu eigen machen möchte - ich zitiere -: Wer freiwillig Wehrdienst leistet, muss besser gestellt werden als derjenige, der keinen Freiwilligendienst versieht. ({8}) Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung Damit bin ich voll einverstanden. Ich werde Sie daran erinnern. Wenn wir mit SPD-Wissenschaftsministern über Wartezeiten und Ähnliches reden, dann hoffe ich auf Ihre Unterstützung. ({9}) - Vielen Dank. Nur wenn wir den Dienst attraktiv ausgestalten, sichern wir die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Das alles ist notwendig und unverzichtbar. Aber - das soll im Rahmen dieser Rede mein letzter Gedanke sein - neben den rein materiellen Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität darf ein Aspekt nicht vernachlässigt werden: Jeder, der sich für einen Dienst in den Streitkräften entscheidet, ob als freiwillig Wehrdienstleistender bzw. als Berufs- oder als Zeitsoldat, muss Anerkennung für seinen freiwilligen Dienst erfahren. Wer ausschließlich wegen des Geldes zur Bundeswehr kommt, ist vielleicht genau derjenige, den wir nicht haben wollen. ({10}) Ausschließlich mit finanziellen Anreizen und Vergünstigungen werden wir den freiwilligen Wehrdienst nicht lebensfähig erhalten und der Bundeswehr nicht helfen. Ein Soldat muss sich darauf verlassen können, dass sein Dienst als das angesehen und geachtet wird, was er ist: als ein Dienst an unserer Gesellschaft, als ein ehrenvoller Dienst für unser Land, auf den der Soldat stolz ist und auf den unser Land stolz ist. Wenn es gelingt, dafür ein größeres Bewusstsein zu schaffen - das geht mit keiner Werbekampagne und auch nicht über Nacht, sondern nur im Rahmen eines Prozesses, den wir in unserer Gesellschaft anstoßen müssen und sichtbar zu machen, was Soldaten heute und morgen für unser Land leisten, dann können wir zuversichtlich sein, dass auch künftig der Dienst in der Bundeswehr, auch der freiwillige Wehrdienst in der Bundeswehr, zum Wohle und Nutzen von uns allen ist. Ich bitte Sie auf diesem Weg herzlich um Unterstützung. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist dies ein Thema, bei dem hier im Bundestag sicherheitspolitische Gemeinsamkeiten sichtbar werden können. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass die bisherige Ausgestaltung der Wehrpflicht nicht mehr haltbar ist. Wenn fast die Hälfte eines Jahrgangs als untauglich ausgemustert wird, damit das Verfassungsgebot der Wehrgerechtigkeit nicht zu eklatant verletzt wird, dann ist das nicht mehr haltbar und muss geändert werden. Wenn aus einem Jahrgang von 400 000 jungen Männern nur noch 50 000 im Jahr zu einem praktikumsartigen Grundwehrdienst eingezogen werden, dann ist es mit der allgemeinen Pflicht zum Dienen nicht mehr weit her. Deshalb haben wir Sozialdemokraten bereits in der letzten Wahlperiode den Übergang zu einem freiwilligen Wehrdienst vorgeschlagen. Dass Sie von der Regierungskoalition nun auf diese Idee eingehen, begrüßen wir ausdrücklich. Unser Konzept orientiert sich an den positiven Erfahrungen mit den FWDL, den 25 000 freiwillig länger Wehrdienstleistenden in der Bundeswehr. Auch hier sehe ich einen gemeinsamen Ansatz von Regierung und SPD. Um Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, nun aber nicht durch zu viele Gemeinsamkeiten zu irritieren, will ich einiges zu Ihrem Umgang mit dem Thema Wehrpflicht in den vergangenen Monaten sagen: Dass Ihr damaliger Verteidigungsminister erst theatralisch beteuern musste, mit ihm sei die Abschaffung der Wehrpflicht nicht zu machen, um dann Monate später genau dies in die Wege zu leiten, entbehrt nicht gerade einer gewissen persönlichen Konsequenz. Das haben wir bei ihm öfter erlebt; sei es drum. Aber die Verkürzung der Grundwehrdienstzeit von neun auf sechs Monate, wie es Ihr Kompromiss im Koalitionsvertrag vorsah, war nun wirklich eine Veralberung Ihres eigenen sicherheitspolitischen Sachverstandes und eine Veralberung der Bundeswehr. ({0}) W6, das nützt und nutzte niemandem: den Wehrpflichtigen nicht, der Truppe nicht, nicht einmal der Koalition.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gern. ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Kollege, da Sie die Haltung der Union angesprochen haben, möchte ich fragen: Wie war es in Ihrer Partei? Sie waren schließlich in einer Koalition mit den Grünen. Ich erinnere daran, dass die Grünen, ähnlich wie die FDP, für die Aussetzung der Wehrpflicht waren. ({0}) Die Grünen konnten es nicht durchsetzen. Wir haben es in dieser Koalition durchgesetzt. Wie war da die Haltung der Sozialdemokraten? Erinnere ich mich richtig, dass Ihre Verteidigungsminister gesagt haben: Mit uns ist das nicht zu machen?

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau. Deshalb sind wir dabei geblieben. ({0}) - Ja, das hätte eine Frage an die Grünen sein können. Wir hatten kein Problem damit, dass wir als Befürworter der Wehrpflicht in der Koalition mit den Grünen bei der Wehrpflicht geblieben sind. In der letzten Wahlperiode hätte es die Möglichkeit gegeben, mit der Union zu etwas Neuem zu kommen. Das ist offenbar nur unter Ihrem Einfluss möglich gewesen. ({1}) W6 war ein Kompromiss, der eigentlich eine Winwin-Situation hätte werden sollen. Wenn man Kompromisse eingeht, sollten eigentlich beide Seiten gewinnen. In diesem Fall haben beide verloren. Wir Sozialdemokraten werden Ihrem Wehrrechtsänderungsgesetz heute nicht zustimmen, weil die Rahmenbedingungen noch völlig unklar sind. ({2}) Wir kennen die Struktur der künftigen Bundeswehr nicht. Was sollen die Freiwilligen dort tun? Wir kennen das notwendige Programm zur Steigerung der Attraktivität nicht. Das wird Geld kosten. Wird der Freiwilligendienst daran scheitern? Wir wissen nicht, wie Sie künftig für diesen und für die anderen Freiwilligendienste werben wollen. Wollen Sie das überhaupt? Von nichts kommt nichts. Schauen Sie sich einmal Ihre ersten Freiwilligenzahlen an. Das ist niederschmetternd. Der Minister sprach heute von einer Evaluation, mithilfe derer nach dem ersten Jahr geschaut werden soll, ob das alles überhaupt funktioniert. Im Hinblick darauf stelle ich fest: Ihr Wehrrechtsänderungsgesetz ist ein weiteres Experiment mit der Wehrpflicht mit dem Ziel der Abschaffung. Ich bin etwas unsicher, ob das mit den Koalitionsfraktionen so vereinbart war. Wir haben das bisher an keiner Stelle so gehört. ({3}) Ein Wehrrechtsänderungsgesetz für ein Jahr: herzlichen Glückwunsch! Was uns als Opposition heute am meisten irritiert hat, ist der völlig wurschtige Umgang der Regierung mit geltenden Gesetzen. Ich hoffe, wir sind uns hier im Parlament einig, dass die Wehrpflicht noch gilt. Etwas Neues gilt erst dann, wenn wir hier im Deutschen Bundestag ein neues Gesetz beschlossen haben; darüber reden wir gerade. Aber Ihr fabelhafter Minister a. D. hat die Reform einfach vorgezogen - ganz ohne gesetzliche Grundlage. Ich lese Ihnen vor, was die Kreiswehrersatzämter in den ersten Tagen dieses Jahres 160 000 wehrpflichtigen jungen Männern per Brief mitgeteilt haben: Die Bundesregierung hat beschlossen, ab dem 1. Juli 2011 die Einberufung zum Grundwehrdienst auszusetzen. Und weiter: Im Vorgriff auf die geplante gesetzliche Regelung besteht ({4}) die Möglichkeit, ab dem 1. März 2011 - das war schon freiwilligen Wehrdienst zu leisten. Ich frage Sie, Herr Minister de Maizière: Wozu beraten wir hier eigentlich noch einen Gesetzentwurf, wenn die Regierung der Auffassung ist, es gehe auch ohne? ({5}) Wieso machen Sie als Koalitionsfraktionen sich noch die Mühe, Änderungsanträge zum Gesetzentwurf der Regierung einzubringen? Die Regierung bewegt sich bei ihrem Umgang mit dem Parlament hart am Rande der Rechtsstaatlichkeit. ({6}) Das erleben wir bei der Wehrpflicht und genauso bei der Rücknahme der von Ihnen durchgesetzten gesetzlichen Regelungen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke. Es erfolgt einfach eine Rücknahme per Pressekonferenz. Sie sollten ernsthaft zur verfassungsmäßigen Praxis zurückkehren. Gesetze verpflichten die Exekutive. Gesetze ernst zu nehmen, ist keine freiwillige Leistung der Regierung, sondern ihre Pflicht - auch beim Übergang zum freiwilligen Wehrdienst. ({7}) Ihre Reform des Wehrrechts findet nicht isoliert statt, sondern sie ist Teil einer weiteren Verkleinerung der Bundeswehr, um Geld zu sparen. Das Prinzip, auch beim Militär sparsam zu haushalten, gehört wohl zu den Gemeinsamkeiten hier im Parlament. ({8}) Es waren christdemokratische und sozialdemokratische Verteidigungsminister, die unsere Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges umgebaut und ihren Umfang von über 600 000 Soldaten bei der Vereinigung auf heute 250 000 reduziert haben. Seit vielen Jahren ist die Bundeswehr eine Armee im Einsatz. Sie hat sich bewährt, und sie bewährt sich heute - auch in schwierigen Missionen. Gerade in der heutigen Lage sollten wir mit beliebig anmutenden Sparvorgaben aber vorsichtig sein. Wir wissen nicht, was die nächsten Jahre bringen. Wer hätte vor drei Monaten mit dieser Freiheitsbewegung in der arabischen Welt gerechnet? Wer war 2001 auf den 11. Sep11346 tember vorbereitet? Wie lange im Voraus wussten wir, wann der Kalte Krieg zu Ende geht? Was zeigen die aktuellen Katastrophen in Japan mit Blick auf unsere Fähigkeit, schnell große Personalkörper für den Katastrophenschutz zu mobilisieren? Ich will nicht Kassandra spielen, ({9}) aber, Herr Minister de Maizière, lassen Sie uns vorsichtig dabei sein, Fähigkeiten allzu leichtfertig aus der Hand zu geben. Es kann einen raschen politischen Wandel geben - zum Guten und zum weniger Guten. Wir sollten deshalb nicht allzu schnell in die Lage kommen, sagen zu müssen: Die Bundeswehr kann das nicht mehr. Herr Schockenhoff hat in dieser Woche die Libyen-Politik des Außenministers damit begründet. Das ist nicht gut, und das stimmt in der gegenwärtigen Lage übrigens auch nicht. Deshalb wäre es besser, wenn wir uns einig wären, dass es keine Bundeswehrreform nach Kassenlage geben darf. Der ausgeplante Umfang von 185 000 Soldaten muss jetzt stehen. Zerschlagen Sie nicht diese Minimalstruktur! ({10}) Es muss struktursicher sein, dass 15 000 Soldaten freiwillige Wehrdienstleistende sind; das darf keine variable Größe sein, die in den Haushaltslöchern der Zukunft verschwindet. ({11}) Lassen Sie uns bitte so viel Gemeinsamkeit herstellen, dass nicht jede neue Regierung eine neue Bundeswehrreform anfangen muss. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Rainer Erdel für die FDP-Fraktion. ({0})

Rainer Erdel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004031, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke dem Bundesverteidigungsminister für seine klaren Worte heute an uns alle; denn er hat damit einen ganz klaren Weg und ein ganz klares Ziel vorgezeichnet. Er hat uns mitgeteilt, wie er sich vorstellt, diese Strukturreform anzugehen. Das heißt, er schießt nicht aus der Hüfte. So ähnlich kommen mir aber Ihre Vorschläge vor, Herr Kollege Bartels. Nein, es gibt ein klares Konzept, einen klaren Masterplan dafür, wie diese Strukturreform stattfinden soll. ({0}) Mit diesem Gesetzentwurf geben wir den Startschuss für die vielleicht umfassendste Strukturreform, die diese Bundeswehr bisher erlebt hat, indem wir die Wehrpflicht jetzt aussetzen. Dadurch wird uns aber auch die Möglichkeit eröffnet, künftig Reservisten einzuziehen und im Falle eines Falles auch eine Rekonstitution zu vollziehen. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, den Millionen von Wehrpflichtigen meinen Dank auszudrücken, die in den letzten 56 Jahren Dienst für Deutschland und in der sicherheitspolitischen Lagebeurteilung der frühen Jahrzehnte auch einen wichtigen Dienst für die Sicherheit Europas geleistet haben. ({1}) Ich möchte mich aber auch bei den vielen Freiwilligen bedanken. Denn wenn wir wie heute über die Aussetzung der Wehrpflicht diskutieren, dann erwecken wir immer den Eindruck, als würde die Bundeswehr nur aus Wehrpflichtigen bestehen. 190 000 Soldaten der Bundeswehr sind Zeit- und Berufssoldaten. Auch das müssen wir berücksichtigen. Seit einigen Jahrzehnten zeichnet sich ein Prozess hin zu einer Professionalisierung ab. Die Waffensysteme und Verfahren werden komplexer und machen eine längere Stehzeit notwendig. Deswegen und auch vor dem Hintergrund einer ständigen sicherheitspolitischen Lagebeurteilung ist es notwendig, die Bundeswehr zu professionalisieren, und den finalen Schritt zur Professionalisierung gehen wir mit dem Aussetzen der Wehrpflicht. ({2}) In den vergangenen Jahrzehnten war es einfach, die sicherheitspolitische Lage Deutschlands zu beurteilen. Wir lebten in schwierigen Zeiten. Eine undurchdringbare Grenze zog sich mitten durch unser Land, und es gab zwei Blöcke. Jetzt zeigt sich, dass die Volatilität in der politischen Lagebeurteilung zunimmt. Ich will nur ein Beispiel nennen. Die Frauen und Männer, die Ende der 40er-Jahre unser Grundgesetz verfasst haben, haben sich sicherlich nicht vorstellen können, dass wir uns im Jahr 2010 mit Piraterie beschäftigen müssen, ein Phänomen, das in den letzten zehn Jahren aufgetaucht ist und uns auch sicherheitspolitisch beschäftigt. Wenn wir nur noch 17 Prozent eines Jahrgangs unserer jungen Männer als Wehrpflichtige zur Bundeswehr holen, dann kann nicht mehr von Gerechtigkeit gegenüber diesen jungen Männern gesprochen werden. ({3}) In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die Gefahr beschworen, dass ein Staat im Staat entsteht. Ich sehe diese Gefahr nicht. ({4}) Unsere Zeit- und Berufssoldaten sind bereits jetzt integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie genießen hohes Ansehen. ({5}) Sie tragen Verantwortung in Vereinen und Kirchen und sind kommunalpolitische Mandatsträger. Auch unter uns sind einige Berufssoldaten, die sich politisch engagieren. Deswegen ist dieser Vorwurf absurd und eine Unverschämtheit gegenüber unseren Zeit- und Berufssoldaten. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich freue mich, dass wir im Gegensatz zu der Diskussion von vor vier Wochen heute eine sehr sachliche Diskussion führen. Gehen Sie diesen Weg mit! Denn im Wesentlichen sehe ich bei allen Ihren Vorschlägen ein gemeinsames Ziel: die Bundeswehr zu reformieren. Gehen wir es an! Abschließend wünsche ich Ihnen, Herr Minister, viel Tatkraft für das klare Konzept, das Sie geschildert haben. Die Unterstützung der FDP-Fraktion ist Ihnen dabei sicher. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass ab Juli die Wehrpflicht für die jungen Männer ausgesetzt wird, ist, finde ich, durchaus ein Grund zur Freude, Herr Minister. Keine Wehrüberwachung, Gewissenserklärung und ungewollte Zäsuren der Lebensplanungen mehr: Das ist durchaus gut, vor allem für die Betroffenen oder potenziell Betroffenen. Die Freude wird allerdings dadurch getrübt, dass Sie diesen Schritt nur halbherzig und inkonsequent gehen. Spätestens seit dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation ist die sicherheitspolitische Begründung für den Pflichtdienst an der Waffe entfallen. Wenn man sagt, dass es auf absehbare Zeit keine konkrete militärische Bedrohung gibt, wäre es konsequent gewesen, die Wehrpflicht nicht nur auszusetzen, mit der Option, dies schnell wieder rückgängig machen zu können, sondern sie abzuschaffen. Daran halten wir fest. ({0}) Zu dieser Zäsur hat sich die Regierung leider nicht durchringen können, weil Sie offensichtlich von der Sorge getrieben sind, ob Sie noch genug junge Leute für die Truppe bekommen. Daher führen Sie jetzt im Rahmen des - auch das ist interessant - Wehrpflichtgesetzes eine neue Statusgruppe ein, die sogenannten freiwillig Wehrdienstleistenden. Sie suggerieren dabei, es handele sich um einen Freiwilligendienst wie andere auch. Es gibt dann aber offensichtlich zwei Arten von Freiwilligen: einerseits die Idealisten, die im Freiwilligen Sozialen Jahr engagiert sind, und andererseits die freiwillig Wehrdienstleistenden, die de facto doch berufstätig sind und für die man einen materiellen Anreiz schaffen muss. Das führt dazu, dass diejenigen, die beispielsweise ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, mit einem Drittel der Summe derjenigen nach Hause gehen, die den neuen Wehrdienst leisten. Es handelt sich exakt um die Differenz zwischen 400 Euro und 1 200 Euro. Das finden wir nicht nur ungerecht, sondern das finden wir inakzeptabel. Da gehen wir nicht mit. ({1}) Andererseits nehmen Sie eine scharfe Differenzierung zwischen den Quasisoldaten und den Soldaten auf Zeit vor. Gegenüber Letzteren sind die neuen freiwillig Wehrdienstleistenden nämlich benachteiligt. Diese Diskriminierung erklärt sich ganz einfach daraus, dass man bei den Mannschaftsdienstgraden weiter sparen will und froh ist, Leute zu haben, die für kleines Geld arbeiten, die man aber dennoch in die Auslandseinsätze schicken kann. Denn spätestens nach zwölf Monaten - so steht es in Ihrem Gesetzentwurf - muss man eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, dass man bereit ist, in Auslandseinsätze zu gehen. Auch das gefällt uns ganz und gar nicht. ({2}) Es scheint im Übrigen noch gar nicht klar zu sein, wie viele Nachwuchssoldaten gebraucht werden. Der Generalinspekteur hielt im letzten Sommer 7 500 für ausreichend, der Exminister zu Guttenberg auch. Jetzt sind wir bei 15 000. Die Zahl hängt natürlich vom Gesamtumfang der Streitkräfte ab. Auch dieser ist nicht festgelegt, ist unklar. Das zeigt, wie konfus Ihr Herangehen ist. ({3}) Auch andere Einzelheiten des Gesetzes sind unverdaulich. Ich nenne nur zwei Beispiele. Die Meldestellen müssen unaufgefordert die Daten aller Jungen und Mädchen an die Bundeswehr schicken. Das ist mit den Datenschutzbestimmungen nicht in Einklang zu bringen, und das ist eine nicht zu vertretende Privilegierung der Bundeswehr gegenüber anderen Arbeitgebern. ({4}) Außerdem fehlt in dem Gesetzentwurf eine klare Vorgabe, dass Minderjährige nicht angeworben werden sollen. Die UN-Vereinbarungen zu Kinderrechten und Kindersoldaten sehen einen anderen Umgang vor. Auch diese beiden Punkte sind für uns maßgebliche Gründe, weshalb wir nicht zustimmen werden. Paul Schäfer ({5}) ({6}) Sie legen einen Gesetzentwurf vor, der mit heißer Nadel gestrickt und in vielerlei Hinsicht misslungen ist. Das hat den einen Grund, dass die öffentlichen Kassen wegen Ihrer Bankenrettung klamm sind, Sie aber zugleich eine Effizienzsteigerung bei der Einsatzarmee wollen, die Geld kostet. Nur deshalb hat insbesondere Ihr Vorgänger, Herr de Maizière, die Aussetzung der Wehrpflicht vorangetrieben, und nur deshalb gibt es diese Eile. Dabei ist ein Murksgesetz herausgekommen, und Murksgesetzen stimmen wir nicht zu. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluss ein paar grundsätzliche Anmerkungen: Manche sagen, der Wegfall der Wehrpflicht verändere das innere Gefüge der Streitkräfte und ihre Stellung in der Gesellschaft erheblich. An dieser These könnte etwas dran sein. Wenn die alte Klammer von Staatsbürger, Landesverteidigung und Wehrform, die eigentlich schon länger nicht mehr existiert, jetzt vollends aufgelöst wird, dann könnte das mit einem beträchtlichen Risiko verbunden sein. ({8}) - Das wird doch durchaus diskutiert. Davor können Sie doch nicht die Augen verschließen. Die Gefahr, dass wir es irgendwann mit einer professionalisierten Kaste von mobilen Einsatzsoldaten zu tun haben werden, für die sich die Gesellschaft nicht mehr sonderlich interessiert, ist doch gegeben. Da muss man gegensteuern. Das ist die Aufgabe. ({9}) Entscheidend dafür ist aber nicht in erster Linie die Wehrform, sondern das sind der Auftrag der Streitkräfte und der Stellenwert, den die sogenannte Innere Führung in der Praxis hat. Dieser Maßstab muss für die Bundeswehrreform gelten, die mit diesem Gesetzentwurf auf den Weg gebracht werden soll. Herr Minister, diese Reform muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Dazu gehört an erster Stelle, zu definieren, wofür wir die Bundeswehr überhaupt noch brauchen. ({10}) Dafür brauchen wir eine gründliche und kritische Bestandsaufnahme der Auslandseinsätze der vergangenen 20 Jahre. Es ist ein Grundfehler, die Dinge jetzt auf die Erhöhung der Einsatzeffizienz zu verkürzen. Der Afghanistan-Krieg ist keine Blaupause. Er darf keine Blaupause sein. Er ist ein abschreckendes Beispiel. Deshalb sagt die Linke: Diese Kriegseinsätze wollen wir nicht, und wir wollen auch keine Reform, die sie effektivieren soll. ({11}) Die Mehrheit der Bevölkerung will das auch nicht. Wahrscheinlich wäre es gut, wenn die Menschen zumindest die Möglichkeit hätten, sich direkter an solchen Entscheidungen der Politik zu beteiligen. Darüber sollte man nachdenken. Vollends abenteuerlich wird es - wir reden ja über eine Gesamtreform der Bundeswehr -, wenn Sie jetzt auch noch über neue Aufträge für die Soldatinnen und Soldaten nachdenken. Sie sollen jetzt auch noch unser wirtschaftliches Interesse an billigen Ressourcen und Rohstoffen durchsetzen. Es muss definitiv klargestellt werden: Landesverteidigung ja, Wirtschaftskriege nein. Basta. ({12}) Es bleibt mit Blick auf die Veränderungen der inneren Verfassung der Bundeswehr richtig, den Staatsbürger in Uniform mehr in das Zentrum zu rücken. Das war in einem bestimmten historischen Einschnitt schon einmal notwendig, nämlich 1969/70, als es darum ging, den überkommenen Traditionalismus aus der Wehrmacht zu überwinden. Damals ging es um Modernisierung. In dieser Hinsicht ist einiges gelungen, was wir auch klugen Soldaten verdanken. Einer davon trägt den Namen Ulrich de Maizière. Jetzt geht es darum, unter veränderten Umständen den Anspruch auf größtmögliche Zivilität in den Streitkräften einzulösen und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform zu erneuern und mit Leben zu erfüllen. Das ist bislang nur bruchstückhaft umgesetzt, wenn überhaupt. Das ist eine Aufgabe, der sich der neue Verteidigungsminister durchaus energisch stellen sollte. Das Gesetz, das heute verabschiedet werden soll, ist ein schlechter Auftakt für die Bundeswehrreform. Die Minister haben gesagt, sie wollten sich Zeit zum Nachdenken lassen. Sie sollten über eine Bundeswehr nachdenken, die bezahlbar ist, die den veränderten sicherheitspolitischen Erfordernissen entspricht und die deshalb nach unserer Überzeugung erheblich kleiner und defensiv ausgerichtet sein sollte. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister de Maizière, ich wünsche Ihnen für die Ausübung Ihres neuen Amtes viel Glück und Erfolg. Ihr Vorgänger hat Ihnen mit der Bundeswehrreform eine große Herausforderung vermacht. Allerdings hat er Ihnen auch das ganze Chaos vererbt, das er angerichtet hat. Wenn man sich die Reform als ein Haus vorstellt, kommt einem das Bild einer Baustelle in den Sinn, auf der nichts an Ort und Stelle ist. Die Baupläne sind nur grobe Skizzen, und die Handwerker wissen noch nicht einmal, wie viele Quadratmeter das Gebäude schließlich haben soll. ({0}) Herr Verteidigungsminister, Sie müssen sich heute noch nicht die volle Verantwortung für die bisherigen Fehler zu eigen machen. Doch Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Koalition müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie schon bei der Schaffung des krummen und schiefen Rohbaus dabei waren. In der Expertenanhörung in der vergangenen Woche wurden nicht nur die zahlreichen Fehler im Wehrrechtsänderungsgesetz thematisiert. Ein ganz grundlegender Mangel dieses Reformschritts kam wiederholt zur Sprache. Die Bundesregierung hat darauf verzichtet, vor der Reform über heutige und zukünftige Aufgaben, Fähigkeiten und Grenzen der Bundeswehr zu sprechen. ({1}) Das Fundament der Baustelle Bundeswehrreform ist noch viel zu schwach. Nicht zuletzt wurde in der Anhörung aber auch deutlich, dass etliche Rahmenbedingungen für die Aussetzung der Wehrpflicht noch gar nicht geklärt sind. Attraktivität des Dienstes, Nachwuchsgewinnung, Ausbildung und Verwendung der freiwillig Wehrdienstleistenden sind Stichworte für ungelöste Probleme. Wir brauchen hier schnell Antworten. Trotzdem wird mit der Verabschiedung dieses Gesetzes heute ein notwendiger und historischer Schritt vollzogen. Wir Grüne haben seit Jahren eine Bundeswehr ohne Wehrpflicht gefordert, und wir hatten und haben dafür gute Gründe. Die allgemeine Wehrpflicht war sicherheitspolitisch schon lange nicht mehr begründbar. Der erhebliche Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männer ist nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Doch die Union und auch die SPD haben viel zu lange an dieser überkommenen Wehrform festgehalten. ({2}) Weniger als die Hälfte aller jungen Männer eines Jahrgangs hat zuletzt Wehr- oder Zivildienst geleistet. Die Wehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch ungerechtfertigt. Sie war auch höchst ungerecht. ({3}) Wirklich bitter ist aber, dass Sie so unendlich viel Zeit und Ressourcen für nichts verplempert haben. Noch im April 2010 haben wir Grüne im Bundestag einen Antrag gestellt, in dem wir von der Bundesregierung gefordert haben, ein schlüssiges, tragfähiges sicherheitspolitisches Konzept vorzulegen, mit dem die Bundeswehr ihren Auftrag ohne Rückgriff auf die Wehrpflicht erfüllen kann. In der namentlichen Abstimmung haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, diesen Antrag abgelehnt. Damals dachte ich, Sie würden krampfhaft an der Wehrpflicht als Relikt des Kalten Krieges festhalten. Heute beschleicht mich manchmal der ungute Verdacht, dass sich Ihre Stimmen vor allem gegen die Forderung gerichtet haben, ein Konzept zu entwickeln. ({4}) Denn rund acht Monate später hat das Kabinett die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen, ohne Konzept. Sie haben auch viel Zeit und viele Mittel für die sinnlose, wirklich völlig vernunftwidrige Verkürzung des Wehrdienstes auf sechs Monate verschwendet. Aus finanziellen Gründen musste die Wehrpflicht dann doch weichen. Auf einmal fiel auch Ihnen ein, dass die Wehrpflicht sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar ist. Dann musste alles ganz schnell gehen. Heute beraten wir deshalb über ein unausgegorenes Gesetz. Das zeigen auch die zahlreichen Korrekturen der Koalitionsfraktionen an dem ersten Entwurf. Diese Änderungen beseitigen zwar einige Fehler, aber viele Kritikpunkte bleiben. Da wäre zum Beispiel die fehlende Altersgrenze für den freiwilligen Wehrdienst. Der Entwurf schließt den Dienst Minderjähriger nicht ausdrücklich aus, auch wenn bestimmte Grenzen gezogen werden. Deutschland kämpft international aber gegen den Einsatz und die Rekrutierung von Kindersoldaten. Wir haben das Zusatzprotokoll der UN-Kinderrechtskonvention über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten 2004 ratifiziert. Dieses Engagement ist nur glaubwürdig und kann nur glaubwürdig sein, wenn wir bei unserer eigenen Armee konsequent sind. ({5}) Deshalb fordern wir in unserem Änderungsantrag den Bundestag dazu auf, beim Kampf gegen den Einsatz von Kindersoldaten in der Bundeswehr Konsequenz zu zeigen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, darf der Kollege Koppelin eine Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte, gerne.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Frau Kollegin. - Ich habe schon sehr früh, seit ich im Bundestag bin, die Freiwilligenarmee gefordert. Wäre es nicht viel besser - man kann manches kritisieren; das billige ich Ihnen zu -, an einem solchen Tag zufrieden zu sein - das gilt für Ihre Partei wie für meine -, dass wir uns endlich durchgesetzt haben, dass wir die Freiwilligenarmee bekommen und dass die Wehrpflicht ausgesetzt wird? Das ist doch ein großer Erfolg, bei allen Schwierigkeiten, die es noch geben wird. Vielen Dank dafür, dass ich Sie noch etwas fragen darf. Können Sie in Richtung SPD sagen, wie es damals in Ihrer Koalition war und warum Sie sich nicht durchsetzen konnten? ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weiß, dass in der Weizsäcker-Kommission diskutiert wurde, den Wehrdienst auf sechs Monate zu verkürzen. Damals fand man das aber unsinnig, sodass man es nicht getan hat. Glauben Sie mir: Ich würde tausendmal lieber unter Rot-Grün mit der SPD, die damals leider noch nicht so weit war, die Aussetzung der Wehrpflicht beschließen als heute mit Ihnen. ({0}) Wieder zurück zum Gesetz. Ein weiterer problematischer Punkt ist die Erhebung personenbezogener Daten der 17-Jährigen bei den Meldebehörden und die Speicherung dieser Daten für ein Jahr. Die massenhafte Datensammlung soll zum Zwecke der Werbung für den freiwilligen Wehrdienst eingeführt werden. Dieser Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung minderjähriger Frauen und Männer ist unverhältnismäßig. Ich wundere mich schon sehr, dass die FDP dem zustimmt. Sonst schreiben Sie sich den Datenschutz doch auch groß auf Ihre Fahne. ({1}) In dem zweiten Punkt unseres Änderungsantrags - dem können Sie zustimmen - fordern wir den Verzicht auf diese Datensammlung. Der Zeitdruck, die Fehler, das Chaos - auf der Baustelle der Bundeswehrreform wurden die ersten Elemente des neuen Hauses errichtet. Aber nicht nur das Fundament ist rissig, auch die Wände sind bisher noch sehr wacklig. Leidtragende dieses Pfuschs am Bau sind am Ende die Soldatinnen und Soldaten, die zivilen Bundeswehrangehörigen und die betroffenen jungen Menschen. Herr Minister, wir werden weiterhin sehr kritisch begleiten, wie es mit der Reform weitergeht, und wir hoffen, dass Sie als neuer Bauherr systematischer und gründlicher sind als Ihr Vorgänger. Es müssen dringend Nachbesserungen zu diesem Gesetz vorgenommen werden. Deshalb freue ich mich auch über die angekündigte Evaluation. Mit der Zustimmung zu unserem Änderungsantrag könnte der Bundestag heute schon zwei Probleme abräumen. Der Abschied von der Wehrpflichtarmee war aber längst überfällig und ist in der Sache völlig richtig. Darum werden wir diesem Gesetz heute trotzdem zustimmen. ({2}) Viele der Vorschläge, die wir Grünen seit Jahren auf den Tisch gelegt haben, werden in der Reformdebatte diskutiert und begrüßt. Wir haben nicht nur die Abschaffung der Wehrpflicht, sondern auch eine Verkleinerung der Armee insgesamt, andere Strukturen und eine andere Beschaffungspolitik gefordert. Aber wenn die nächsten Reformschritte genauso stümperhaft erfolgen, können wir das nicht noch einmal unterstützen. Eine derart mangelhafte Ausfertigung und Umsetzung werden wir nicht noch ein weiteres Mal mittragen, selbst wenn dann die Vorschläge in der Sache richtig sein mögen. ({3}) - Sie können das auch ohne uns Grüne machen. Es mag Ihnen egal sein, ob Ihre Vorschläge vom Parlament mitgetragen werden oder nicht. ({4}) Aber wir halten eine breite parlamentarische Unterstützung für die Reform der Parlamentsarmee für notwendig. ({5}) Denn sie ist eine Voraussetzung für die so oft angemahnte gesellschaftliche Unterstützung. Wir fordern die Bundesregierung daher eindringlich dazu auf, bei den weiteren Reformschritten eine größere Sorgfalt an den Tag zu legen. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Gädechens für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingo Gädechens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat hat die eingeleitete Reform unserer Bundeswehr eine besondere Dimension, weil mit der Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht nicht nur eine tiefgreifende Zäsur in unseren Streitkräften vorgenommen wird, sondern weil wir damit auch auf ein Element in unserer Gesellschaft verzichten, das deutlich gemacht hat: Dieser Staat gibt dir nicht nur etwas, sondern er verlangt auch etwas. Er verlangte von gemusterten Männern, dass sie bereit waren, ihre Wehrpflicht abzuleisten. Das Signal in die Gesellschaft war klar und deutlich: Man muss bereit sein, diesem Staat zu dienen, ihn notfalls zu verteidigen, damit nicht nur die Demokratie geschützt wird, sondern auch die Gesellschaft solidarisch und mit dem notwendigen Zusammenhalt existieren kann. Nun gibt es einige Kollegen im Saal, die über ihre eigenen Erfahrungen im bisherigen Wehr- oder Zivildienst berichten könnten. Ich denke, es waren meist wichtige Erfahrungen und erlebnisreiche Zeiten, die viele hier autorisieren, ein fachkundiges Urteil über die bisherige Form des Wehrdienstes abzugeben. ({0}) Bei mir persönlich ist es noch ein wenig anders. Wer wie ich über Jahrzehnte als Berufssoldat in der Bundeswehr gedient hat - als Truppenfachlehrer und Ausbilder, als Vorgesetzter und Dienststellenleiter -, hat bei jedem Stellenwechsel besonders auf die neuen Wehrpflichtigen geblickt und geachtet. In den Jahrzehnten durfte ich eine große Menge an Erfahrungen mit der Wehrpflicht sammeln. Es war stets hochinteressant, zu sehen, wie aus den jungen Männern, aus den Grundwehrdienstleistenden, die oftmals unterschiedliche Bildungsabschlüsse hatten und aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und Gegenden Deutschlands kamen, echte Kameraden wurden. Es waren Männer, denen am Anfang manchmal ein wenig Rücksichtnahme und Toleranz fehlte und die Schwierigkeiten hatten, sich in die Kameradschaft einzuordnen. Dennoch wurden die meisten wichtige Leistungsträger, auf die man sich selbst in schwierigsten Situationen verlassen konnte. Natürlich gab es hin und wieder auch andere. Trotzdem bleibt resümierend als Ergebnis, dass der Wehrdienst für viele Männer oft eine sehr wichtige Lebenserfahrung war, die ihnen geholfen hat, als Persönlichkeit zu reifen, um im weiteren Leben erfolgreich zu sein. Die Bundeswehr im Bündnis war über Jahrzehnte nicht nur Garant der äußeren Sicherheit, sondern durch die Wehrpflicht auch so etwas wie die Schule der Nation. So gesehen oder, besser gesagt, nur so gesehen müssten wir alles daransetzen, die Wehrpflicht in ihrer bisherigen Form zu erhalten. Die Welt um uns herum - wir hörten es bereits - hat sich aber dramatisch verändert. Die Sicherheitslage heute ist eine völlig andere als vor 25 Jahren. Aus einer reinen Verteidigungsarmee wurde die Armee der Einheit. Der oftmals steinige Weg führte weiter bis zu einer Einsatzarmee mit schwierigsten Auslandseinsätzen. Dieser Weg war häufig nicht nur holprig, sondern zog sich über mehrere Reformen und Reförmchen über einen längeren Zeitraum hin und hat unseren Soldatinnen und Soldaten in vielerlei Hinsicht sehr viel abverlangt. Viel Zeit hat sich die Politik bei ihren Entscheidungen genommen, besonders viel unter einem Verteidigungsminister Scharping und leider auch unter Peter Struck. Nun beklagt die Opposition schon wieder, es gehe alles viel zu schnell. Herr Schäfer sagt, das Gesetz sei mit der heißen Nadel gestrickt; man hätte viele Dinge lieber parallel beraten. Im Verteidigungsausschuss beklagte insbesondere die SPD, man hätte sich lieber noch ein wenig mehr Zeit genommen. Diese Regierungskoalition aber handelt. Sie handelt mit Bedacht, aber schnell, weil unsere Soldatinnen und Soldaten reformgebeutelt sind. ({1}) Die Bundeswehr braucht und will auch endlich Klarheit. Sie will endlich Entscheidungen, die zu Planungssicherheit führen, zu Sicherheit bei den Dienstposten, Sicherheit für das eigene Fortkommen innerhalb oder auch außerhalb der Bundeswehr bis hin zur Sicherheit bei der Frage: Welche Standorte bleiben erhalten? Welche stehen zukünftig nicht mehr zur Verfügung? ({2}) In den vergangenen Jahrzehnten war aufgrund der sicherheitspolitischen Lage die allgemeine Wehrpflicht die richtige Wehrform. Deshalb danke ich meinen Kameradinnen und Kameraden sowie allen Ausbilderinnen und Ausbildern, die in meist vorbildlicher Weise und unter Berücksichtigung des Prinzips der Inneren Führung junge Männer ausgebildet haben. ({3}) Eine gewaltige Zahl: Rund 7,5 Millionen Wehrpflichtige haben gelobt, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Dafür möchte ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion allen ehemaligen und auch den noch diensttuenden Wehrpflichtigen herzlichen Dank sagen. ({4}) Heute und für die Zukunft brauchen wir eine angepasste Form des Dienstes in unserer Bundeswehr, eine Armee im Einsatz. Was der Einsatz einer Armee wirklich bedeutet, erleben wir besonders schmerzlich in Afghanistan oder auch teilweise auf See im Kampf gegen Piraterie. Wir brauchen nicht nur das bestmögliche Gerät und modernste Ausrüstung, sondern wir brauchen auch ein Wehrrecht, das Klarheit schafft und die Menschen rekrutiert, die sich einer manchmal gefährlichen, aber stets fordernden Aufgabe stellen wollen. Hierzu bietet die Koalition in dem vorgelegten Gesetzentwurf ein neues angepasstes Angebot, das einen freiwilligen 12- bis 23-monatigen Wehrdienst vorsieht. Darüber hinaus kann der Weg vom Soldaten auf Zeit zum Berufssoldaten führen, so wie es ihn bereits heute gibt. Der bisher vorhandene Werbeeffekt durch die allgemeine Wehrpflicht wird mit ausgesetzt, geht also verloren. Deshalb müssen wir zwangsläufig attraktivitätssteigernde Maßnahmen einleiten, die neben Berufsförderung verstärkt Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen ins Gesamtportfolio aufnehmen. Auch hier reagiert die Koalition konsequent und bringt ein Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität auf den Weg. Kreiswehrersatzämter und Zentren für Nachwuchsgewinnung müssen schnellstmöglich so aufgestellt werden, dass Einstellungen mit klaren Aussagen und Vorgaben erfolgen können. Der Umstrukturierungsprozess hin zur Freiwilligenarmee wird all diejenigen, die es gut mit der Bundeswehr meinen, auch weiterhin fordern. Die Regierungskoalition arbeitet intensiv an der Beantwortung vieler Fragen. Uns geht es neben einer vernünftigen Struktur um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerechte Be11352 soldung, um eine gute sanitätsärztliche Versorgung, um Fürsorge und um Verpflegung bis hin zur Einsatzvorund -nachsorge. Meine Damen und Herren, die Wehrpflicht war ein bedeutendes Element in der damals noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Sie auszusetzen, fällt vielen nicht leicht - der Minister sagte es bereits - und hat zu intensiven, aber auch zielführenden Diskussionen geführt. Der Bundestag hat gerade in sicherheitspolitischen Fragen und in Fragen der Bundeswehr nach einem größtmöglichen Konsens gesucht und ihn auch sehr oft gefunden. Ich denke - das richte ich an die Kolleginnen und Kollegen der SPD -, man sollte dieser Tradition folgen. Ich bitte um Zustimmung zum Wehrrechtsänderungsgesetz. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussetzung der Wehrpflicht ist ein großer politischer, aber auch gesellschaftlicher Schritt in Deutschland. Er markiert das Ende einer langen Tradition. Die Aussetzung der Wehrpflicht ist richtig. Die Verpflichtung junger Männer zum Grundwehrdienst ist heute sicherheitspolitisch nicht mehr gerechtfertigt. Mittlerweile besteht hierüber im Parlament Konsens über die Parteigrenzen hinweg. Ich denke, es ist gut, dass wir uns im Grundsatz gemeinsam auf diesen Weg machen. ({0}) Die Aussetzung der Wehrpflicht stellt uns aber auch vor eine neue, vor eine gravierende Herausforderung. Eine Institution wie die Bundeswehr, die sich bisher darauf verlassen konnte, einen Großteil des geeigneten Nachwuchses aus den eigenen Reihen zu rekrutieren, muss sich nun dem freien Wettbewerb stellen. Jede Schulabgängerin und jeder Schulabgänger steht vor der Frage: Wie geht es weiter? In diesem Moment muss die Bundeswehr eine ernsthafte Alternative sein, eine Alternative, die Möglichkeiten bietet und Chancen eröffnet. Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ich will es Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Hier haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. ({1}) Sie haben die Wehrpflicht verkürzt, und nun setzen Sie sie aus - und das alles in einem unwahrscheinlichen Tempo. Dabei haben Sie es schlichtweg verpasst, die Bundeswehr attraktiver zu machen und so aufzustellen, dass sie auf dem freien Markt ausreichend geeigneten Nachwuchs finden kann. Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind erst seit wenigen Wochen im Amt. Sie persönlich können nichts für den Scherbenhaufen, den man Ihnen hinterlassen hat; andere nennen es ein „gut bestelltes Haus“. Aber die Zeit drängt. Wir müssen den Themenkomplex Nachwuchsgewinnung und Attraktivitätssteigerung jetzt zügig angehen. Sie haben eine enorme Kraftanstrengung vor sich. Ich will Ihnen ausdrücklich danken für die ersten Gespräche, die die SPD gemeinsam mit Ihnen führen konnte, und will Ihnen unsere ehrliche Unterstützung anbieten, wenn es in den kommenden Wochen darum geht, das Versäumte nachzuholen und die Attraktivität der Bundeswehr zu steigern. ({2}) Es sollte in unser aller Interesse sein, dass wir diese Reform zustande bekommen. Die Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee ist ein zentraler Pfeiler dieser Reform. Er wird maßgeblich über ihren Erfolg entscheiden. Die Erhöhung der Attraktivität, die Intensivierung der Nachwuchsgewinnung und die konzeptionelle Planung, wie wir die besten Hände und die besten Köpfe in unsere Armee bekommen können, muss integraler Bestandteil jeglicher Reformbemühungen in den kommenden Wochen sein. Um es klar zu sagen: Es kann keine Reform der Bundeswehr ohne eine signifikante Erhöhung der Attraktivität geben. Herr Minister, Sie haben recht, wenn Sie sagen, die Steigerung der Attraktivität ist keine reine Frage des Haushalts. Es geht hier auch um Ansehen, es geht um gesellschaftlichen Stellenwert, und es geht auch um Überzeugungen und Idealismus. Aber Attraktivität ist auch eine monetäre Frage. Deshalb wird es uns nur mit schönen Slogans, mit schönen Bildern und mit Anzeigenkampagnen nicht gelingen, ausreichend Nachwuchs für die Bundeswehr zu gewinnen. Eine Bundeswehrreform, die getrieben ist vom strategischen Parameter der Haushaltskonsolidierung, wird nicht gelingen. Die Abschaffung der Wehrpflicht wird gerade am Anfang - das haben die Experten bestätigt - nicht kostenneutral sein. Es muss also darum gehen, neue Anreize zu setzen. Herr Minister, ich habe die Hoffnung, dass Sie Ihre guten Beziehungen zum Finanzminister im Sinne der Truppe nutzen werden. Bei der Frage der Attraktivität dürfen wir aber nicht außer Acht lassen, dass sie ebenso wichtig ist für unsere Soldatinnen und Soldaten, die heute schon als Berufsund Zeitsoldaten tätig sind. Sie sind wichtige Multiplikatoren für die Gewinnung von Nachwuchs. Sie berichten von ihren Erfahrungen in der Truppe und von der Wertschätzung, die ihnen entgegengebracht wird. Lassen Sie es mich auch an dieser Stelle anmerken: Die weitere Kürzung des Weihnachtsgeldes war im Übrigen kein Zeichen der Wertschätzung und auch kein positives Signal für die Nachwuchsgewinnung. ({3}) Wenn es uns nicht gelingt, bessere Perspektiven zu schaffen, etwa indem wir Angebote zur Ausbildung, Weiterbildung und zum Studium erhöhen, indem wir auch die Bundeswehruniversitäten öffnen, dann wird die Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns nicht gelingt, die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, etwa durch ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder auch durch eine Neuregelung beim Trennungsgeld und der Umzugskostenvergütung, zu erreichen, dann wird die Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns nicht gelingt, Laufbahnen anders zu planen und Beförderungsstaus abzubauen, wird die Bundeswehr nicht attraktiver werden. Ich bin mir sicher, Sie werden genauso wie wir bei Truppenbesuchen auf diese Punkte angesprochen. Die Soldaten und Soldatinnen haben sehr konkrete Vorstellungen, wie man den Dienst attraktiver gestalten kann. Ich finde, an der Stelle sollten wir als Parlamentarier einfach einmal genauer zuhören und die Sorgen und Wünsche der Soldaten auch ernst nehmen. Bei allem haushaltspolitischen Spagat, den wir zu bewältigen haben, ist festzuhalten: Soldatinnen und Soldaten und auch die Zivilbeschäftigten verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Gerade die letzten Wochen haben uns doch gelehrt, wie schnell sich die weltpolitische Lage verändern kann. Ich hoffe, uns allen ist noch einmal bewusst geworden, dass es gut ist, zu wissen, dass wir uns auf eine gut aufgestellte, eine hochmotivierte und gut ausgebildete Bundeswehr in jedem Fall verlassen können. Sehr geehrte Damen und Herren, die Aussetzung der Wehrpflicht verändert die Bundeswehr maßgeblich. Wir alle tragen Verantwortung, dass diese Reform gelingt. Als die Kanzlerin auf der Kommandeurstagung in Dresden im letzten Jahr den Soldaten euphorisch zurief, sie wünsche gemäß dem Motto „No risk, no fun“ viel Spaß bei der Veränderung, da war ich schon verwundert. Ich wünsche uns allen in den kommenden Monaten den notwendigen Ernst, wenn wir die Herausforderungen, die vor uns liegen, gemeinsam angehen. Vielen Dank fürs Zuhören. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Christoph Schnurr von der FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bartels, Sie sind zu Beginn Ihrer Ausführungen wieder auf die Frage eingegangen, warum diese Koalition den Wehrdienst von neun Monaten auf sechs Monate reduziert hat. Ich will Sie gleich am Anfang daran erinnern, dass wir über diese Frage, diese Entscheidung und diesen Beschluss der Koalition in diesem Hohen Hause bereits im Sommer des letzten Jahres mehrfach ausführlich diskutiert haben, und zwar nicht nur im Verteidigungsausschuss, sondern auch im Plenum. Heute geht es nicht um die Frage, ob wir einen sechsmonatigen Wehrdienst haben, sondern um die Entscheidung - und das ist eine historische Entscheidung -, ob wir die Wehrpflicht aussetzen. ({0}) Der Minister hat heute gesprochen. Er hat angekündigt, dass er Ende des Jahres eine Evaluierung vornehmen möchte und einmal zurückblicken will, wie viele junge Frauen und Männer denn den Dienst bei der Bundeswehr auf freiwilliger Basis aufnehmen möchten. Und die SPD spricht schon wieder davon, dass die Koalitionsfraktionen Experimente auf Kosten der Wehrpflichtigen machten! ({1}) - Nein, das ist eben nicht so. Wir wollen zurückblicken. Es ist doch richtig, dass man auch einmal zurückblickt, um dann zu sehen, welche weiteren Maßnahmen man einführen und welche Änderungen man vielleicht vornehmen kann, und zwar nicht im Hinblick auf die Aussetzung der Wehrpflicht, sondern in Bezug auf die Steigerung der Attraktivität ({2}) und das Bekanntmachen des ehrenamtlichen Engagements, um die Kultur des freiwilligen Dienstes in diesem Land vielleicht weiter zu fördern. Herr Minister, dabei haben Sie unsere volle Unterstützung. Ich begrüße diese Ankündigung am heutigen Tage ausdrücklich. ({3}) Liebe Kollegen, das Wehrrechtsänderungsgesetz wird hier am heutigen Tag nicht nur besprochen und debattiert, sondern auch verabschiedet. Das ist ein historischer Schritt. Wir entscheiden heute über ein maßgebliches Momentum im Hinblick auf die Strukturreform, über die Aussetzung der Wehrpflicht. Die Wehrpflicht ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte junger Männer. Deshalb muss die Begründung für diesen Eingriff in die Freiheit junger Menschen kontinuierlich überprüft werden. Diese Evaluierung wurde vorgenommen. Die FDP - das ist bekannt und kein Geheimnis - fordert die Aussetzung der Wehrpflicht seit Jahren, und zwar nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Wir brauchen in Zukunft keine großen Streitkräfte, sondern eine hochprofessionelle, flexible, gut ausgebildete und gut ausgerüstete Bundeswehr. Die Union hat intensive Beratungen über diese Frage angestellt. Die Kollegen der Union - ich zolle ihnen meinen Respekt - sind zu einem Entschluss gekommen, der es heute ermöglicht, die Wehrpflicht auszusetzen. Die Bundeswehr wird mit diesem Gesetz auf die Freiwilligkeit und nicht mehr auf die Pflicht setzen. Das hat selbstverständlich auch für uns als Deutscher Bundestag Konsequenzen. Natürlich muss die Bundeswehr als Arbeitgeber noch attraktiver werden. Die Frage des Maßnahmenkatalogs werden wir daher weiter thematisieren und behandeln. Es sind erste Maßnahmen vorgeschlagen worden. Diese Maßnahmen sind aber erst der Anfang und sicherlich nicht das Ende, um die Bundeswehr noch attraktiver zu gestalten. ({4}) Die Ausstattung und Ausrüstung der Bundeswehr, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Infrastruktur der Standorte, die Versetzungshäufigkeit, finanzielle Anreize sowie die Ausbildung und Fortbildungsmaßnahmen sind weitere Aspekte, die in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden müssen und auch berücksichtigt werden. Wir brauchen aber auch eine Kultur der Freiwilligkeit. Dazu ist vieles gesagt worden. Diese Prozesse sollten und werden wir weiter begleiten. Zum Schluss möchte ich Ihnen nicht nur empfehlen, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen, sondern auch der Grünenfraktion meinen Dank dafür ausdrücken, dass sie unserem Gesetzentwurf - ein historischer Schritt in der Bundeswehrreform, aber auch ein historischer Schritt, wenn man sich die Geschichte der Bundeswehr ansieht - heute hier zustimmt. ({5}) - Das ist keine Koalitionsverhandlung, Frau Kollegin. Wenn Teile der Opposition der richtigen Entscheidung der Koalition zustimmen, darf ich sie an dieser Stelle doch auch einmal loben, glaube ich. ({6}) Die Bundeswehr ist gut aufgestellt. In Zukunft werden wir den Weg in die richtige Richtung gehen. Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Beschluss wird die allgemeine Wehrpflicht nach 55 Jahren ausgesetzt. Es ist ein historischer Tag in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf der einen Seite entfällt damit für zukünftige Generationen junger Männer die Pflicht, einen Wehr- oder Ersatzdienst zu leisten. Sie gewinnen dadurch Lebenszeit, die sie zum Beispiel für ihr berufliches Fortkommen einsetzen können. Auf der anderen Seite bedeutet der Wegfall für die Bundeswehr, dass sie sich neu organisieren und vor allem ihre Nachwuchswerbung auf neue Beine stellen muss. Von den Befürwortern der Wehrpflicht wurde immer hochgehalten, dass gerade die Wehrpflicht dafür sorgt, dass sich die Bundeswehr nicht von der Gesellschaft abkoppelt und keine militärische Sonderkultur entsteht, sondern sich der soziale und weltanschauliche Pluralismus in unserem Land auch in unserer Armee wiederfindet. Zentrales Leitbild dafür ist der Staatsbürger in Uniform; das gilt weiterhin, dafür braucht man am Ende keine Wehrpflicht. Aber ohne Wehrpflicht müssen wir ein noch stärkeres Augenmerk darauf richten. Wir, der Deutsche Bundestag, entsenden unsere Soldaten, unsere Parlamentsarmee in Einsätze auf der ganzen Welt. Sie sind dort oftmals schwierigen Konfliktsituationen ausgesetzt, die im äußersten Fall auch den Einsatz von Waffengewalt erfordern. Wir müssen uns dann darauf verlassen können, dass ihr Handeln ethischen Maßstäben genügt und die Soldaten vorbildliche Botschafter unseres Landes, unserer Demokratie und unserer Werteordnung sind. ({0}) Meine Damen und Herren, wir stellen diese Anforderungen nicht an andere Freiwilligendienste. Ich betone das deswegen, weil vonseiten der Opposition immer wieder gefragt wurde, warum denn der freiwillige Wehrdienst bevorzugt behandelt werde und nicht mit anderen Freiwilligendiensten gleichgestellt sei. Der Dienst an der Waffe ist eben nicht mit anderen Diensten vergleichbar, die für unser Land genauso wichtig sind, aber einen fundamental anderen Charakter haben. Bei der Bundeswehr gibt es ein überragendes Interesse daran, dass wir junge Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft erreichen und für einen Dienst gewinnen. Frau Kollegin Malczak, „erreichen“ heißt in diesem Zusammenhang auch, dass wir sie anschreiben können müssen. Deswegen ist es gerechtfertigt, dass die Werbung für den freiwilligen Wehrdienst einen Sonderstatus hat. ({1}) - Kollege Gehring, Sie haben jetzt nicht zugehört. Der Dienst an der Waffe ist eben nicht mit anderen Freiwilligendiensten vergleichbar. Die anderen Freiwilligendienste sind genauso wichtig, aber bei der Bundeswehr - ich sage es noch einmal, weil es wichtig ist - haben wir ein Interesse daran, dass sie einen Querschnitt der Bevölkerung abbildet. ({2}) Dies ist bei anderen Freiwilligendiensten nicht der Fall. Meine Damen und Herren, wenn wir in diesem Zusammenhang von der Steigerung der Attraktivität des Dienstes sprechen, darf das nicht nur mehr Geld bedeuten. Die finanziellen Aspekte sind wichtig - das gebe ich zu -; aber es ist mindestens genauso wichtig, dass gerade wir als Parlamentarier den Soldaten vermitteln, welche zentrale Rolle wir ihnen als Botschafter unserer Demokratie und unserer Werteordnung beimessen, dass es eine besondere Ehre ist, unser Land im Ausland vertreten zu dürfen. ({3}) Sie haben recht: Das vermittelt man nicht mit großen Anzeigen. Wir müssen vielmehr den Soldaten Wertschätzung entgegenbringen, in Debatten wie heute, in öffentlichen Äußerungen und im persönlichen Gespräch. ({4}) Das ist der zentrale Beitrag, den wir als Parlamentarier zur Steigerung der Attraktivität und des Ansehens des Dienstes und damit für die Zukunft der Bundeswehr leisten können und müssen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung wehrrechtlicher Vorschriften 2011. Uns liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll neh- men.1) Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/5239, den Gesetz- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4821 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab- stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5244? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan- trag ist bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen ab- gelehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD- Fraktion und der Linken. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - 1) Anlage 2 Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. ({0}) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/5245. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD und der Linken angenommen. Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5246. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion ist bei Zustimmung der SPD-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5247. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen sowie der SPD-Fraktion bei Zustimmung der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5248. Wer stimmt dafür? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa - Drucksache 17/5191 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Katrin Göring-Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erinnern uns alle noch an die eindringliche und berüh11356 rende Rede von Zoni Weisz am 27. Januar in diesem Hause an dieser Stelle. Wir hatten damals zum ersten Mal einen Vertreter der Sinti und Roma eingeladen, bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zu sprechen. Ich will ihn mit folgendem Appell aus seiner Rede zitieren: Wir sind doch Europäer und müssen dieselben Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten. Im Protokoll auf der Homepage des Deutschen Bundestages steht, dass Zoni Weisz dies unter Beifall des gesamten Plenums gesagt hat. ({0}) Leider ist aus dem gemeinsamen Applaus von damals kein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen hervorgegangen. Auf die Gründe, warum es dazu nicht kam, will ich hier jetzt nicht eingehen, weil es um die Sache geht. Dennoch sage ich: Ich hoffe, dass wir noch eine Chance in den Beratungen haben. ({1}) Wie können wir den Forderungen an uns, die Zoni Weisz in seiner Rede formuliert hat, politisch gerecht werden? Zunächst sicherlich, indem wir die historische Perspektive betrachten. Wir müssen uns darüber klar sein, dass Sinti und Roma Teil Europas, Teil Deutschlands sind. Wir müssen daran erinnern, dass sie in der Geschichte immer wieder Opfer von Verfolgung und Diskriminierung wurden, was in der Vernichtungspolitik der Nazis seinen Höhepunkt, seinen Extrempunkt fand. Etwa eine halbe Million Sinti und Roma sind ihr zum Opfer gefallen. Daraus erwächst für Deutschland eine mehr als besondere historische und selbstverständlich auch moralische Verantwortung. ({2}) Auch heute werden Sinti und Roma Opfer aggressiver Diskriminierung. In diesen Tagen erreichen uns wieder erschreckende Berichte aus Ungarn, wo die Bürgerwehr der rechtsextremen Jobbik-Partei über Wochen hinweg Roma terrorisiert hat. Sie hat ausdrücklich angekündigt, dass sie dies auch weiterhin tun will. Es heißt sogar: unter Duldung der örtlichen Polizei. Offenbar, so ist zu erfahren, plant diese Organisation weitere Aktionen. Zum Glück gibt es in Ungarn Menschenrechtsorganisationen, die dagegen protestieren. Auch die Roma selbst haben zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Trotzdem ist es offenbar so, dass die Hasstiraden, die den Roma entgegengeschleudert werden, in Ungarn von vielen gesellschaftlichen Schichten vertreten und akzeptiert werden, dass ihnen nicht widerstanden wird. Die Roma brauchen unsere Unterstützung, sie brauchen unsere Solidarität, genau wie die Menschenrechtsorganisationen, die dagegen aufstehen. ({3}) Natürlich reicht es nicht, nach Ungarn zu schauen. Es ist auch notwendig, auf uns selbst zu blicken, auf das eigene Land, in dem nach wie vor Vorurteile gegen Sinti und Roma, Klischees und manches, was nicht gerade auf gelungene Integration hindeutet, wahrgenommen werden können. Wie kann sich die besondere deutsche Verantwortung jenseits des Applauses von damals und anderer symbolischer Gesten zeigen? In unserem Antrag sagen wir, worum es konkret gehen muss: um die Lebenssituation der größten in Europa lebenden ethnischen Minderheit. Diese müssen wir verbessern. Deutschland muss sich deswegen auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass der neue Aktionsrahmen zur Integration von Roma rasch entwickelt wird. Deutschland muss darauf hinwirken, dass das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten in allen Ländern - in wirklich allen Ländern -, die diesem Übereinkommen beigetreten sind, angewandt wird. Die ungarische Ratspräsidentschaft hat Anfang dieses Jahres angekündigt, die Integration der Roma zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen. Die Situation in Ungarn habe ich eingangs beschrieben. Lassen Sie mich an dieser Stelle eines deutlich sagen: So wichtig der europäische Rahmen, die europäische Programme und Initiativen, die in dem Antrag genannt werden, auch immer sind, Europa darf kein Alibi sein. Nein, wir haben auch in Deutschland eine Verantwortung. Auch hier müssen wir sie zeigen. Die besondere Verantwortung Deutschlands muss sich da zeigen, wo es um konkrete Menschen geht. ({4}) Deswegen können wir nicht das aussparen, was die Bundesregierung im April 2010 beschlossen hat, das Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo. Wir alle wissen, dass im Kosovo Kapazitäten zur Aufnahme, erst recht zur Integration, an allen Ecken und Enden fehlen. Wir haben in einem Antrag schon damals das sofortige Ende der Zwangsrückführungen gefordert. Das tun wir jetzt wieder und fordern die Bundesregierung auf, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebung von Roma in das Kosovo einzusetzen. ({5}) Es ist unerträglich, wenn Kinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, in ein Land geschickt werden, das im Grunde kein Ort für sie ist, in dem sie keine Perspektive, keinen anständigen Wohnraum und auch keine echte Chance auf Bildung haben. „Besondere Verantwortung Deutschlands“ heißt auch, ganz praktisch zu handeln, auch innerhalb Europas. Warum gab es eigentlich keine laute Empörung der Bundesregierung, als Frankreich im vergangenen Sommer Roma mit drastischen Maßnahmen abschob? Da darf Außenpolitik nicht aufhören. Da muss sie gerade erst anfangen, wenn sie glaubwürdig sein soll. ({6}) Ich möchte zum Schluss noch einen Satz von Zoni Weisz zitieren. Er sagte: Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und verfolgt worden ist, heute - im 21. Jahrhundert immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird. Das müssen wir ändern. Darum unser Antrag. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa“ so lautet der Titel des Antrags der Grünen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen ganz großen Teil dessen, was wir am 27. Januar hier miteinander erlebt haben, noch in Erinnerung haben - nicht nur den Applaus, sondern auch die Bewegtheit - und dass wir uns auch über die moralische und geschichtliche Verantwortung einig sind. Deshalb bin ich froh darüber, dass ich an der Stelle den Staffelstab aufnehmen kann. Sie haben die historische Perspektive genannt, Frau Kollegin. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Zoni Weisz an dem Gedenktag zum ersten Mal aus dieser Perspektive gesprochen, uns dadurch bereichert und diese Farbe in die Diskussion eingebracht hat. Für mich persönlich war das sehr bewegend, weil ich selbst - und auch meine Frau - sehr viele verschiedenste Erlebnisse und Begegnungen mit Mitgliedern dieser Gruppe hatte. Es ist richtig: Es ist eine der größten Gruppen, die noch dazu vernachlässigt wurde, was ihre Wahrnehmung als Geschädigte angeht, als Opfer der NS-Zeit: Es waren 500 000. Oft wurde über viele andere Gruppen geredet. Heute gehören in Europa 10 bis 12 Millionen Menschen dieser größten ethnischen Minderheit an; wir haben das gerade gehört. Inzwischen gibt es eine klare Benennung: Das ist die Gruppe der Roma. Die Identität bestimmt sich nicht nur aus dem Roma-Sein, sondern auch aus der regionalen und nationalen Kultur, aus der sie stammen. Besonders im Süden Europas - von der Europäischen Grundrechteagentur wurden immer wieder einige Länder genannt - sind Diskriminierungen vorgekommen, die nicht unbedingt struktureller Art waren. Zwar gab es Ermahnungen, aber die Diskriminierungen geschahen oft in dem Alltagsmiteinander. Es gab Segregation anstatt Integration sowie eine Ghettoisierung und erschwerte Bildungszugänge. Das lag nicht nur an den Personen selbst, sondern oft auch an den Strukturen, auch an uns. Menschenhandel wird an der Stelle immer angeführt. In einigen Regionen Europas stammen 80 Prozent derer, die mit Menschenhandel, Zwangsarbeit, sexueller Ausbeutung und Bettelei von Kindern zu tun haben, aus dieser Personengruppe. Das darf nicht sein. Das dürfen wir nicht einfach so hinnehmen. 2006 haben 76 Prozent der Roma in Deutschland Diskriminierungen am Arbeitsplatz erlebt; so ist ihre Aussage. Das ist als solches nicht sofort ein Problem des Rechts; da ist auch ein Teil subjektiv. Aber das dürfen wir so nicht stehen lassen. Darum müssen wir uns kümmern; denn das darf in unserem Land nicht so sein und bleiben. Deshalb ist für mich der Gedanke klar: Wehret den Anfängen des Antiziganismus. Gut, dass wir es hier noch einmal vor Augen geführt bekommen haben. Danke auch ein Stück weit dafür, dass Zoni Weisz hier reden durfte, dass dies angestoßen und von Ihnen angenommen wurde. Sie sind uns ein Stück vorausgegangen; denn auch wir haben einen Antrag in der Pipeline. Wir möchten gerne in dieser Frage ins Gespräch kommen. Vielleicht gibt es da eine Chance. Ich werde jetzt nicht umfassend über den rechtlichen Status referieren. In Europa gibt es die Grundrechtecharta, auf die sich jeder EU-Bürger berufen kann. Helmut Schmidt hat 1982 gesagt, dass das Völkermord war. Helmut Kohl hat das später ebenfalls betont, auch hier vor dem Hohen Haus. Inzwischen gibt es Rahmenabkommen. Wir haben das Jahrzehnt der Integration der Roma. Das muss man natürlich umsetzen. Deshalb bin ich froh, dass es uns präsent gemacht wurde. Auch wir, ich persönlich und meine ganze Fraktion, sind sehr dankbar, dass die Ratspräsidentschaft Ungarns der europäischen Roma-Strategie auf der Tagesordnung Priorität einräumt. Das begrüßen wir, und das werden wir unterstützen. Sie werden das auch in unserem Antrag, der Ihnen bald vorliegen wird, sehen. ({0}) Auf den Unterschied werden meine Kollegen, die gleich reden - unter anderem ein Kollege aus dem Innenausschuss; ich bin kein Jurist -, genauer eingehen. Sie sagen, dass Sie der faktischen Ausgrenzung und Stigmatisierung durch die Asylpolitik entgegentreten möchten. Ja, es gibt hohe Vertreter, die das stützen. Auch uns in Deutschland werden Vorwürfe gemacht. Navi Pillay hat deutlich gesagt, dass auch wir hier daran zu arbeiten haben. Sie fordern eine Aussetzung des Rücknahmeabkommens. Wir sagen, dass man damit letztlich auch die Bekämpfung der illegalen Migration untergräbt; das sollte man nicht tun. Wir möchten das Asylrecht als solches nicht aussetzen. Wir finden, das ist kein Mittel zum Minderheitenschutz. Die Forderungen, die wir stellen werden - ich möchte unserem Antrag nicht vorgreifen -, sind zu großen Teilen identisch mit denen in Ihrem Antrag. Darüber bin ich sehr froh. Sie fordern zum Beispiel das Eintreten gegen jede Form von Antiziganismus in Politik und Zivilgesellschaft. ({1}) - Ich werde Ihnen bei Gelegenheit sagen, wann genau wir ihn einbringen. ({2}) Ich sage bewusst: Darauf müssen wir nicht nur als Politiker, sondern auch als Einzelne Wert legen. Wir müssen es benennen, und wir müssen die Menschen auffordern, Sinti und Roma in ihrem Umfeld zu begegnen. Wir müssen EU-weit an einer Verbesserung der Situation mitwirken. Wir müssen für Chancengleichheit eintreten. Wir müssen natürlich auch kritische Gespräche mit den Roma führen. Mögliche Themen sind die Rechte der Frauen und manche ihrer Vorbehalte gegen Schulbesuche. Wir müssen die europäische Ratspräsidentschaft in ihrer Einstellung, die Roma-Strategie prioritär zu behandeln, unterstützen. Bei den EU-Staaten, die das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten noch nicht anerkannt haben, müssen wir dafür werben. Wir müssen die eingesetzte Task Force unterstützen. Wir wünschen uns natürlich eine Einbeziehung der Vertreter der Roma in alle Gespräche, die es dazu gibt. Danke für die Initiative. Danke für den 27. Januar 2011 - die Gedenkveranstaltung hat mich sehr bewegt -, danke Zoni Weisz für den Anstoß zum Nachdenken über dieses Thema und danke, dass dieser Anstoß angenommen wurde. Ich bin gespannt, wie wir weiter damit verfahren. Danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Kerstin Griese. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns alle hat die Rede von Zoni Weisz am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, am 27. Januar, hier in diesem Haus sehr beeindruckt und betroffen gemacht. Er hat davon berichtet, wie er als siebenjähriger Junge seine Familie verloren hat, die in den Zug nach Auschwitz getrieben worden war. Meine beiden Vorredner haben schon gesagt, dass es das erste Mal war, dass ein Vertreter der Opfergruppe der Sinti und Roma an diesem Gedenktag hier gesprochen hat und damit ein deutliches Zeichen gesetzt hat, dass wir an diese viel zu lange vergessene Opfergruppe, an die vielen Sinti und Roma, die in ganzen Familien in die Lager der Nazis eingeliefert worden sind, endlich mehr und auch würdig erinnern müssen. Ich habe oft mit Menschen gesprochen, die die KZ überlebt haben. Sie haben gesagt, dass sie zum ersten Mal Kinder in den Lagern gesehen haben, als die Sinti und Roma dorthin verschleppt worden waren. Hunderttausende wurden ermordet, wurden entrechtet und wurden ihres kulturellen Erbes beraubt. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir in Verantwortung vor unserer Geschichte jeder Diskriminierung der heute in Deutschland und in Europa lebenden Sinti und Roma entgegentreten, und zwar nicht nur an Gedenktagen und in Erinnerungsreden, sondern auch in unserer alltäglichen Politik. ({0}) Was uns bei der Rede von Zoni Weisz am 27. Januar, glaube ich, alle besonders betroffen gemacht hat, waren seine historischen und aktuellen Bezüge: der Verweis auf die jahrhundertelange Tradition der Ausgrenzung von Sinti und Roma, aber eben auch der Verweis auf die Kontinuitäten nach 1945, als bei den Behörden weiterhin mit den Akten der Nazis gearbeitet wurde, wenn es um Sinti und Roma ging. Er hat uns Beispiele vor Augen geführt, wie heute in Rumänien und Bulgarien Roma diskriminiert werden, wie in Ungarn Rechtsextremisten Juden, Sinti und Roma überfallen. Wir haben es eben schon gehört: Mit etwa 12 Millionen Menschen sind die Roma die größte Minderheit in Europa. Das Europäische Parlament hat schon 2008 beschlossen, eine europäische Strategie für die Roma zu entwickeln. Wir erwarten dafür in den nächsten Wochen einen neuen EU-Rahmen. Wir setzen uns dafür ein - ich will das ausdrücklich unterstützen -, dass die Anstrengungen der EU verstärkt werden. Noch mehr setzen wir uns dafür ein, dass sich auch die Mitgliedstaaten daran halten. Auf europäischer Ebene sind hierzu schon einige gute Beschlüsse gefasst worden. Sie erinnern sich sicherlich daran, dass die EU-Justizkommissarin Frau Reding im letzten September den französischen Präsidenten wegen der Gruppenabschiebung von Roma aus Frankreich scharf kritisieren musste und eine Klage der EU-Kommission wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft oder Rasse angedroht hat. Die EU hat hierzu also schon eine sehr eindeutige Position. Wir begrüßen es sehr, dass sich die ungarische Ratspräsidentschaft vorgenommen hat, bald, noch in den nächsten Wochen, die Anstrengungen auf europäischer Ebene zur Integration der Roma zu verstärken. Dies soll auch Teil der Strategie „Europa 2020“ werden. Denn nachhaltiges Wachstum heißt auch, dass man alle Bevölkerungsgruppen teilhaben lässt: an Bildung, an Gesundheit, an Integration und auch an guten Wohnmöglichkeiten. Wir erwarten, dass gerade zu diesen Themen, zu Bildung, Gesundheit und Wohnen, in der EU-Strategie deutliche Worte gefunden werden. Dazu muss auch gehören, dass die Sinti und Roma an der Entwicklung dieser Strategie von Anfang an beteiligt werden und dass transparent überprüft wird, welche Fortschritte es gibt. Es ist in dieser Debatte schon zu Recht gesagt worden: Wir schauen nicht nur nach Europa, sondern auch darauf, was bei uns los ist. Es gibt noch immer offene und subtile Diskriminierung. In einer aktuellen Studie mit dem Titel „Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung“ wurde untersucht, inwieweit Menschen, die eigentlich, rein rechtlich, gleichberechtigt sind, diskriminiert werden und inwieweit in ihnen andere oder Fremde gesehen werden. Das Erschreckende ist, dass dabei herausgekommen ist, dass Sinti und Roma in der Unbeliebtheitsskala mit 79 Prozent Spitzenreiter im Spektrum der Menschenfeindlichkeit waren. Es wurden viele Beispiele gefunden - in Aschermittwochsreden, bei der Arbeitssuche, bei der Wohnungssuche und im öffentlichen Leben -, die belegen, dass Sinti und Roma diskriminiert werden. Auch dies ist schon erwähnt worden: Ein besonderes Problem ist die Abschiebung von Roma aus Deutschland in den Kosovo, weil sie dort häufig diskriminiert werden, keine Gesundheits- und Sozialleistungen bekommen und keine Chance auf Bildung und Arbeit erhalten. Das ist besonders dann problematisch, wenn es sich um Familien mit Kindern handelt, die entweder hier geboren oder aufgewachsen sind, oder wenn es sich um alte, pflegebedürftige oder traumatisierte Menschen handelt. Wir wissen aus Berichten von Vertretern internationaler Organisationen und deutscher Sozialverbände, die vor einem Jahr mit einer Delegation im Kosovo waren, dass abgeschobene Familien von Roma dort auch direkte Gewalt erlebt haben. ({1}) Deshalb appelliere ich mit Nachdruck an die Innenminister aller Länder, die Ermessensspielräume in Einzelfallprüfungen großzügiger zu nutzen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vonseiten der SPD-Fraktion sind der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sehr dankbar für die Initiative zu diesem Antrag; streckenweise haben wir sogar schon ein bisschen gemeinsam daran gearbeitet. Auch nach Ihrer Rede, Kollege Heinrich, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir es in den Ausschussberatungen schaffen können, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten. Wir brauchen eine Positionierung, die im Deutschen Bundestag eine Mehrheit findet, damit wir aus der Rede von Zoni Weisz vom 27. Januar dieses Jahres Lehren ziehen und real und konkret etwas für die Sinti und Roma erreichen können. Wir sollten den Appell, dass ein Volk, das über Jahrhunderte diskriminiert und verfolgt worden ist, nun eine bessere Zukunft braucht, wirklich ernst nehmen. Deshalb mein Appell gerade an die Koalitionsfraktionen: Lassen Sie uns versuchen, einen gemeinsamen Beschluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen, in dem die Grundüberzeugung zum Ausdruck kommt, dass wir mehr tun müssen, um der Diskriminierung von Sinti und Roma bei uns und in Europa entgegenzuwirken und das Problem der menschlichen Schicksale, die bei einer Abschiebung drohen, so zu lösen, dass wir unserem Anspruch an ein humanes Miteinander in Europa gerecht werden! Heute Morgen ist schon viel über Europa diskutiert worden. Zu einem Europa der Zukunft und zu einer Strategie für ein Europa 2020 gehört neben der wirtschaftlichen Gemeinschaft auch eine Gemeinschaft sozialer, humanitärer und demokratischer Standards, in der Minderheiten gewürdigt werden und bessere Chancen bekommen. Deshalb meine Bitte - die Sachlichkeit der Debatte, aber auch die Gemeinsamkeit, mit der wir uns auf die Rede vom 27. Januar dieses Jahres beziehen, stimmen mich ein wenig hoffnungsfroh -: Lassen Sie uns real etwas zur Verbesserung der Situation der Menschen unternehmen! Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Serkan Tören. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Situation der Roma und Sinti in Deutschland und Europa greifen wir ein wichtiges Thema auf. Denn eines gehört zu den ganz traurigen Kapiteln der europäischen Historie: die Geschichte der Roma in Europa, die über Jahrzehnte hinweg mit Unterdrückung, Diskriminierung und Ausgrenzung verbunden war. Der schlimmste Abschnitt war zweifelsfrei ihre Verfolgung während der Zeit des Dritten Reiches, einer Zeit, der mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer gefallen sind. Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2011 hier im Deutschen Bundestag hat Zoni Weisz uns allen seine Empfindungen sehr eindrucksvoll geschildert. Wenn man die verschiedenen Staaten Europas betrachtet, kann man eines festhalten: Die gegenwärtige Situation der Roma stellt sich doch sehr unterschiedlich dar. Nehmen wir etwa viele Staaten Mittel- und Osteuropas! Dort leben heute die meisten Roma. Die Probleme der betroffenen Menschen sind in diesen Staaten am deutlichsten zu erkennen. Es geht dabei um schlechte Wohnverhältnisse, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildungschancen. Noch gravierender ist jedoch die soziale Situation. Diese ist oft durch Ausgrenzung und Isolation geprägt. Dass die Kinder der Roma in gesonderten Klassen getrennt von den anderen Kindern unterrichtet werden, ist mit den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar. ({0}) Wenn die Wohnungen der Roma in räumlich getrennten Gebieten oder Stadtvierteln liegen, dann zementieren sich Integrationsprobleme; dann existiert ein Klima, das von gegenseitigen Vorurteilen und Missverständnissen geprägt ist. Diesen Teufelskreis der sozialen Ausgrenzung zu durchbrechen und die Roma besser zu integrieren, ist eine Herausforderung, die viele europäische Staaten noch nicht ausreichend bewältigt haben. Eines gehört ebenfalls zur Wahrheit: Auch innerhalb der Gemeinschaften der Sinti und Roma muss zum Teil ein Umdenken stattfinden. Verbesserte Rahmenbedingungen haben keinen positiven Effekt, wenn sie von den betroffenen Volksgruppen nicht als Chance begriffen werden. Ein verbesserter Zugang zu Bildung ist unbedingt notwendig. Die Eltern müssen ihre Kinder dann aber auch zur Schule schicken. ({1}) Die Gleichstellung von Sinti und Roma in allen gesellschaftlichen Bereichen ist absolut wünschenswert. Solange aber innerhalb der Familien der Sinti und Roma Frauen zum Teil unterdrückt werden, häuslicher Gewalt ausgesetzt sind und ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht wahrnehmen können, kann eine tatsächliche Gleichstellung von Frauen auch nicht erfolgen. ({2}) Wir beraten heute den Antrag der Fraktion der Grünen für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa. Als christlich-liberale Koalition werden wir in Kürze einen eigenen, sehr viel ausgewogeneren und sachorientierten Antrag zur Situation der Sinti und Roma in Europa in den Deutschen Bundestag einbringen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Tören, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler?

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich hatte mich bereits vor zwei Sätzen zu einer Zwischenfrage gemeldet, als Sie den Schulbesuch und die Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, angesprochen haben. Ohne Schärfe in die Debatte bringen zu wollen, möchte ich darauf hinweisen, dass wir letztes Jahr mit einer Delegation des Innenausschusses im Kosovo waren. Dort wurde uns berichtet, dass die aus Deutschland in den Kosovo abgeschobenen Kinder der Sinti und Roma in der Regel nicht Serbisch und Albanisch sprechen können, da sie in Deutschland aufgewachsen sind. Diese Kinder sprechen zu Hause Romanes, Deutsch oder eine andere Sprache. In der Regel sprechen sie aber nicht die Mehrheitssprache der jeweiligen Gegend im Kosovo. Es ist also nicht gewährleistet - das wurde flächendeckend berichtet -, dass die Kinder, die wir dorthin abschieben, überhaupt beschult werden können, wenn sie von ihren Eltern in die Schule geschickt werden. Entweder sitzen sie dort und können dem Unterricht nicht folgen oder sie gehen logischerweise irgendwann einfach nicht mehr hin, weil ihnen nicht geholfen wird. Sie hatten einen Fall geschildert. Ich wollte Sie schlicht und ergreifend bitten, diese Umstände im Rahmen ihrer Beratungen über den zu erwartenden Antrag zu berücksichtigen. Es ist vielleicht nicht der Hauptpunkt. Denn es gibt nicht nur Probleme mit der Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder wirklich beschulen zu lassen. Es gibt auch Probleme bei denjenigen, die von Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden. Es gibt von staatlicher Seite kein Angebot einer entsprechenden Beschulung. Wir sollten zumindest im Hinblick auf die Fälle, für die wir mittelbar verantwortlich sind, weil wir die betreffenden Personen abgeschoben haben, in Zukunft darauf achten, dass dieses Problem in Gesprächen mit der Regierung des Kosovo angesprochen wird. Ich möchte Sie mit dieser Zwischenbemerkung bitten, dies zu berücksichtigen. Vielleicht können Sie kurz dazu Stellung nehmen.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit Sicherheit werden wir uns diese Thematik bei der Antragsberatung innerhalb der Koalition näher anschauen; das ist ganz klar. Ich habe hier auf einen anderen Sachverhalt aufmerksam gemacht, den es durchaus gibt - an dieser Stelle dürfen wir uns auch nicht verschließen oder ein Thema tabuisieren -: Es geht darum, dass Eltern in der Community ihre Kinder bewusst nicht zur Schule schicken. Das ist ein weiter verbreitetes Phänomen als das, das Sie beschrieben haben. Insofern ist unser Hauptanliegen, uns erst einmal darum zu kümmern. Das andere Thema werden wir uns in der weiteren Antragsberatung natürlich auch anschauen, Herr Kollege Winkler. ({0}) Als christlich-liberale Koalition werden wir in Kürze einen eigenen, sehr viel ausgewogeneren und sachorientierten Antrag zu der Situation der Roma und Sinti in Europa in den Deutschen Bundestag einbringen; ich sagte es bereits. Wir möchten damit Folgendes zum Ausdruck bringen: Uns ist das Thema sehr wichtig, und wir wollen eine Verbesserung der Situation der Roma und Sinti. In dem Antrag der Grünen werden die aktuellen Bemühungen der Bundesregierung in keinster Weise erwähnt, beispielsweise die aktive Arbeit in internationalen Foren wie der OSZE oder die Arbeit im Europarat, der die Integration der Roma und Sinti in Europa auf vielfältige Weise fördert. Auch unterstützt die Bundesregierung seit vielen Jahren zahlreiche Menschenrechtsprojekte zur Unterstützung der Roma und Sinti im Rahmen des EUStabilitätspaktes für Südosteuropa bzw. des regionalen Kooperationsrates für Südosteuropa. Die Bundesregierung arbeitet eng mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zusammen. Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wir uns, dass sich die Bundesregierung weiterhin zur Verbesserung der Menschenrechtslage der Roma und Sinti einbringt. Was uns als FDP besonders wichtig ist: Wir bekämpfen explizit den Menschenhandel, welcher unter Roma und Sinti aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation vermehrt auftritt. Die Bundesregierung fördert auch EUweite Kampagnen wie „Dosta!“ zur Verbesserung der Lage der Roma und Sinti und zum Abbau von Vorurteilen und Ausgrenzung. Die Bundesregierung unterstützt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, welches Forschungsarbeiten und Promotionen in diesem Bereich ideell und materiell ermöglicht. Als christlich-liberale Koalition möchten wir in dem Zusammenhang insbesondere die ungarische EU-Ratspräsidentschaft auffordern: Setzen Sie den eingeschlagenen Weg zur Umsetzung einer umfassenden Roma-Strategie weiter fort. All dies werden wir auch in unserem eigenen Koalitionsantrag zur Situation der Roma und Sinti thematisieren. Damit arbeiten wir effektiv auf eine Verbesserung der Lebenssituation der Roma und Sinti in Europa hin. All diese von mir erwähnten Bemühungen der Bundesregierung kommen in dem Antrag der Grünen leider kaum vor. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einige Worte zu dem Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo sagen. Die Forderungen der Grünen nach einem generellen Abschiebestopp bzw. nach einer Aussetzung des Rücknahmeabkommens mit dem Kosovo sind aus meiner Sicht sehr problematisch und zu kurz gedacht. Die schwierige soziale und wirtschaftliche Lage von Roma und Sinti alleine kann kein generelles Abschiebehindernis darstellen. Grundsätzlich möchte ich sagen: Ein Abschiebestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akute Krisenentwicklungen, also nur eine Ultima Ratio. Als christlich-liberale Koalition verfolgen wir das Ziel: Die Situation der Roma und Sinti in Europa muss verbessert werden. Als FDP-Bundestagsfraktion nehmen wir uns dieser Herausforderung an, und wir werden in Kürze zusammen mit dem Koalitionspartner einen abgerundeten und in sich stimmigen Antrag vorlegen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Dezember vorigen Jahres wurde hier in Berlin der Europäische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma verliehen. In ihrer Laudatio verwies Frau Professor Dr. Rita Süssmuth auf die zahlreichen Diskriminierungen von Sinti und Roma europaweit, und sie mahnte: Es geht nicht um Minderheitenrechte, sondern um Menschenrechte. ({0}) Diesen Gedanken möchte ich hier gerne einführen. Wenn wir über die Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa diskutieren, dann reden wir nicht primär über Sinti und Roma, sondern debattieren vielmehr über Bürgerrechte und Menschenrechte in Deutschland und in der Europäischen Union. Hier gibt es eklatante Defizite. Vor knapp einem Jahr war ich in Ungarn - ebenso wie DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger und Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Neonazis hatten ein Haus in Brand gesteckt. Als der Familienvater mit seinem fünfjährigen Sohn dem Inferno entkommen wollte, wurden sie beide erschossen, weil sie Roma waren. In Italien und Frankreich wurden Sinti und Roma isoliert oder des Landes verwiesen. Auch in der Slowakei, in Bulgarien und Rumänien werden Sinti und Roma teils wie Aussätzige behandelt. Sie sind de jure EU-Bürgerinnen und Bürger. De facto aber werden sie pauschal ausgegrenzt. Das sind die Aufgaben, über die wir heute reden. Ich bin dankbar, dass Bündnis 90/Die Grünen einen so weitgefassten Antrag vorgelegt haben. In meinem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf in Berlin gibt es eine Gedenkstätte. In Berlin fanden 1936 Olympische Spiele statt. Die Reichshauptstadt sollte von Zigeunern gesäubert werden. Die meisten Sinti und Roma, die damals in Marzahn interniert waren, wurden später im KZ in den Gaskammern ermordet. Wir haben kein Recht, diese Geschichte zu vergessen, aber wir haben die gemeinsame Pflicht, neuen Anfängen zu wehren. ({1}) Dabei spreche ich nicht nur von der extremen Rechten. Ausgrenzung beginnt oft in der Mitte der Gesellschaft. Sinti und Roma werden noch immer oder schon wieder diskriminiert: bei der Bildung, bei der Gesundheit, beim Arbeiten, beim Wohnen, sozial, kulturell, rechtlich. Darauf macht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen aufmerksam. Die Linke unterstützt ihn weitgehend. Überfällig ist auch, dass die EU eine gemeinsame Strategie zur Verbesserung der Lage der Roma verabschieden will. Aber dieses EU-Papier entlässt keinen Staat aus seiner nationalen Verantwortung, auch Deutschland nicht. ({2}) Das ist der Kern, über den wir zu diskutieren haben. Es wurde schon angesprochen: Die Bundesrepublik Deutschland will weiterhin hier lebende und Schutz suchende Sinti und Roma in den Kosovo abschieben. Dort sind sie dem Ungewissen und Schlimmerem ausgeliefert. Die Linke hält das im doppelten Sinn für unmoralisch: gegenüber der Geschichte und gegenüber den Menschen, die davon betroffen sind. ({3}) Lassen Sie mich zum Schluss ganz persönlich eine Bitte äußern: Die heutige Debatte ist bei allen Differenzen - vielleicht gibt es kleine Unterschiede - sehr verantwortungsvoll geführt worden und war von Vorhaben geprägt, die aus allen Fraktionen vorgetragen wurden. Lassen Sie die Debatte am heutigen Nachmittag und die folgende Beratung, in der auch die Anträge der anderen Fraktionen diskutiert werden, nicht folgenlos bleiben. Es geht nicht darum, dass wir diesen Antrag unverändert beschließen, sondern darum, dass wir uns um die Bürger- und Menschenrechte auch dieser Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union kümmern und ihnen helfen, diese Rechte wahrzunehmen. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin dem Präsidium des Deutschen Bundestages ausdrücklich dankbar, dass am 27. Januar dieses Jahres Zoni Weisz die Rede zur Erinnerung an die Befreiung der Insassen der KZ gehalten hat. Es war eine eindringliche und anrührende Rede, die unter die Haut gegangen ist. Er hat nicht nur erinnert, sondern gemahnt. Er hat uns gemahnt, dass es auch heute noch schwierige Situationen für die Sinti und Roma in Europa gibt. Ja, es ist richtig, dass die Situation der Roma immer noch nicht in allen europäischen Ländern befriedigend ist. Sie ist außerordentlich problematisch und zum Teil prekär. Die Achtung und der Schutz von Minderheiten zählen zu den Kopenhagener Kriterien, die alle Staaten erfüllen müssten, bevor sie der Europäischen Union beitreten können. Aber wie in einigen anderen Bereichen auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfahren in der Frage der Roma sehr leichtfertig über gravierende Defizite, die es bis zum heutigen Tage gibt, hinweggegangen. So müssen wir leider bis heute feststellen, dass es in Europa in einzelnen Ländern nach wie vor nicht nur eine banale Diskriminierung und Benachteiligung dieser Volksgruppe gibt. Hier ist in erster Linie die Europäische Union gefragt. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür dankbar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das Schicksal und die Situation der Roma dieses Jahr zu einem zentralen Thema gemacht hat, und das vor dem Hintergrund, dass es in Ungarn selbst problematische Situationen gibt. Hier in Deutschland gibt es weder eine staatliche Diskriminierung noch eine Ausgrenzung dieser Volksgruppe aus dem Schul- oder Gesundheitsbereich. Aber es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftliche Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem Hause vermutlich klar. Wichtig ist - darauf müssen wir immer wieder hinweisen -, dass die rechtmäßig in Deutschland lebenden Sinti und Roma alle Möglichkeiten der Teilhabe haben. ({0}) Aber diese Möglichkeiten werden leider nicht ausreichend genutzt. Nicht ohne Grund hat der Deutsche Bundestag 2007 festgestellt - die Kollegin Graf wird sich an den von der Großen Koalition eingebrachten Antrag erinnern -, dass bei den Bemühungen, die soziale Situation von Roma zu verbessern, auch die Hürden in der RomaGesellschaft überwunden werden müssen. In vielen Familien, so haben wir festgestellt, bestehen Vorbehalte hinsichtlich eines Schulbesuchs der Kinder. Bildung wird dort nicht als Chance verstanden, obwohl sie eines der wichtigsten Instrumente darstellt, dem Teufelskreis aus Armut und Arbeitslosigkeit zu entkommen. ({1}) - Das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Das ist der Text des Beschlusses. - Mitunter werden Kinder von ihren Eltern von der Schule genommen, um zum Unterhalt der Familie beizutragen oder bereits in jungem Alter verheiratet zu werden. Jungen und Mädchen werden innerhalb der Roma-Gesellschaft oft ungleich behandelt, sodass der Anteil der Roma-Frauen ohne Schulbildung jenen der Männer übersteigt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sind Dinge, die den Kindern aus solchen Familien den Weg in eine gute Zukunft versperren. Wir müssen in Gesprächen mit den Repräsentanten der Roma für diese Probleme sensibilisieren und deutlich machen: Ihr müsst eure Kinder in die Schule schicken. Ihr dürft eure Frauen nicht verprügeln. Ihr dürft die Mädchen nicht zwangsverheiraten. - Diese Dinge versperren den Menschen den Weg in das Miteinander in unserer Gesellschaft. ({2}) Deshalb haben wir seinerzeit die Bundesregierung aufgefordert, in Gesprächen mit Vertretern der Roma in Deutschland und in anderen europäischen Ländern daErika Steinbach rauf hinzuwirken, dass sie sich innerhalb ihrer Gemeinschaft dafür engagieren, diese Defizite zu beheben. Seitens der Bundesregierung gibt es viel Unterstützung für diese Volksgruppe. Die Bundesregierung unterstützt den Zentralrat der Sinti und Roma, und es gibt inzwischen - was ich sehr begrüße - eine Gedenkstätte, die daran erinnert, was den Sinti und Roma im Dritten Reich widerfahren ist. Wir sollten aus unserer deutschen Warte heraus in Gesprächen mit Vertretern dieser Volksgruppen sehr deutlich machen, dass wir ihr Schicksal kennen und an ihrer Seite stehen. Wir müssen sie aber auch animieren, Teil unserer Gesellschaft zu werden. Herr Weisz ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es einem Roma gelingen kann, nicht nur Teil der Gesellschaft zu werden, sondern auch eine herausgehobene Position zu erringen und ein höchst respektables Amt zu bekleiden. Er hat uns mit seiner Rede bewegt und auf das Schicksal der Roma aufmerksam gemacht. ({3}) Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass wir noch eine ganze Menge gemeinsamer Arbeit vor uns haben. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen hat das Europäische Parlament eine Resolution zur Lage der Roma verabschiedet, und heute sprechen wir im Bundestag über einen Antrag der Grünen zur Umsetzung der Gleichstellung der Roma in Europa. Ich denke, das ist eine Konsequenz aus dem, was uns Zoni Weisz im Januar mitgegeben hat. Der Antrag der Grünen nimmt Bezug auf seine Rede - diese habe ich als erschütternd und zutiefst berührend in Erinnerung - zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Zoni Weisz hat vor uns allen nicht nur seine schrecklichen Erlebnisse als Kind während des Nationalsozialismus geschildert - ich kann mich gut daran erinnern, wie er geschildert hat, dass er seine Angehörigen im Zug hat wegfahren sehen und sie nie wiedergesehen hat -, sondern er ist auch auf die heutige Lebenssituation vieler Sinti und Roma in Europa, insbesondere in den osteuropäischen Ländern, eingegangen. Er hat diese Situation als menschenunwürdig beschrieben. Sinti und Roma werden ausgegrenzt, systematisch schlechtergestellt, leben oft in Gettos und werden bei Gelegenheit schnell des Landes verwiesen. Ich selbst war einige Male in osteuropäischen Ländern und habe dort auch Roma-Siedlungen besucht. Ich habe vorgefunden: Es gibt keine Stromversorgung und nur eine schlechte Trinkwasserversorgung. Die Abwasserentsorgung ist teilweise ebenfalls sehr schlecht. Die Sinti und Roma, mit denen ich gesprochen habe, haben zudem über behördliche Willkür geklagt. Die Gesundheitsversorgung ist miserabel. Frauen und Kinder werden Opfer von Menschenhandel. Das ist in menschenrechtlicher Hinsicht eine unmögliche Situation. Daher kann ich die Mahnung von Zoni Weisz nur unterstützen: Verschließen wir nicht die Augen vor der oft menschenunwürdigen Lebenssituation vieler Roma in Europa! ({0}) Es ist nicht das erste Mal - Frau Steinbach hat das angesprochen -, dass wir dieses Thema aufnehmen. Der Antrag der ehemaligen Großen Koalition ist uns allen vielleicht noch in Erinnerung. Roma, Sinti, Gitanos und Manouches bilden zusammen die größte ethnische Minderheit Europas. Sie werden - das muss man ganz klar ansprechen - nicht nur in Osteuropa diskriminiert, sondern zum Beispiel auch in Deutschland, wo neben den 70 000 Sinti und Roma mit deutschem Pass viele aus Osteuropa leben. Das Leben für diese Bevölkerungsgruppe ist oft nicht einfach; denn auch bei uns sind Vorurteile prävalent. Frau Steinbach und Herr Tören, ich möchte keine Schärfe in die Debatte bringen, aber manches, was Sie vorgetragen haben, war doch sehr pauschal. ({1}) Nicht jeder Roma wendet Gewalt in der Familie an. Auch Bildungsferne kann man nicht generell der ganzen Volksgruppe zur Last legen. ({2}) Sinti und Roma werden leider häufig Opfer von rassistisch motivierter Gewalt. In Deutschland besuchen Sinti- und Roma-Kinder trotz Normalbegabung überproportional häufig Förderschulen. Sinti und Roma sind auch kaum in politischen Vertretungen und Institutionen vertreten. Ich finde es gut, dass sich die ungarische Ratspräsidentschaft trotz der Aktionen der Rechtsextremisten in Ungarn dieses Themas annimmt und versucht, eine soziale Integration der Roma in Europa zu befördern. Das Europäische Parlament hat eine Entschließung verabschiedet, in der auf die wachsende Stigmatisierung sowie den aufkommenden Antiziganismus im politischen Diskurs und in der breiten Öffentlichkeit hingewiesen wird. Zudem wird in dieser Entschließung die Rückführung von Roma in mehreren Mitgliedstaaten als „fragwürdig“ bezeichnet. Seit 2008 schieben Frankreich und Italien Roma massiv in den Kosovo ab. Mit dem deutsch-kosovarischen Rücknahmeabkommen vom April 2010 ist auch bei uns faktisch der Weg frei für die Abschiebung von circa 11 700 Roma. ({3}) Nach einer UNICEF-Studie sind - das wurde vom Kollegen Winkler schon angesprochen - die Hälfte davon Angelika Graf ({4}) Minderjährige, von denen zwei Drittel in Deutschland geboren wurden, die hier sozialisiert sind und Deutschland als ihre Heimat sehen. Die Studie fand heraus, dass drei von vier abgeschobenen Kindern in dem Land, in das sie verbracht werden, nicht mehr in die Schule gehen, weil die Familien dort zu arm und ohne Beschäftigung sind, Sprachbarrieren haben - wenn sie hier bei uns aufgewachsen sind, können sie die Sprache des Landes nicht, in das sie verbracht werden - oder ihnen Papiere fehlen. Deshalb ist es richtig, dass SPD-geführte Bundesländer besonders sensibel mit den Rückführungen umgehen und umfassende individuelle Einzelfallprüfungen durchführen. Nordrhein-Westfalen führt beispielsweise keine Kinder, ältere oder pflegebedürftige Menschen zurück. Ich darf Sie daran erinnern, dass unser ehemaliger CDU-Kollege Professor Dr. Christian Schwarz-Schilling, der ehemalige Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina und hochgeschätzte Menschenrechtsverteidiger, mit Blick auf die Situation der Kinder die Abschiebung der Roma verurteilt und sie als historisch verantwortungslos bezeichnet. Ich denke, wir sollten die Mahnungen von Zoni Weisz aufnehmen und mit und für Sinti und Roma europaweit Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben entwickeln. Deswegen habe ich mich sehr über Ihren Beitrag gefreut, Herr Kollege Heinrich. Ich habe die Hoffnung, dass wir aus dem, was Sie hier vorgetragen haben, wirkliche Perspektiven entwickeln, wie wir in diesem Haus zu einer Lösung dieses Problems kommen. Ich würde es sehr begrüßen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Michael Frieser von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Nürnberger Abgeordneter ist man mit den Themen Alltagsdiskriminierung und Intoleranz historisch auf besondere Art und Weise verknüpft. Das gilt ganz besonders für die Diskriminierung von Sinti und Roma. Der Verweis auf die schändlichen Nürnberger Rassegesetze darf hier nicht fehlen. Sie wissen, dass von diesem unsäglichen Blutschutzgesetz von 1936 auch Sinti und Roma betroffen waren. Am ehemaligen Standort des Nürnberger Industrie- und Kulturvereins erinnert heute ein Gedenkstein daran. Wir müssen uns immer wieder dieses Unrechts bewusst werden, damit wir für die Zukunft daraus Lehren ziehen können. Ich bin stolz, dass es zur Gründung des Landesverbandes Bayern der Deutschen Sinti und Roma in Nürnberg kam. Ich honoriere vor allem den Beitrag, den Sinti und Roma zur Gedenkstättenarbeit in Nürnberg leisten. ({0}) Wir tun uns dennoch mit dem vorliegenden Antrag - es ist bereits erwähnt worden, dass die CDU/CSU und die FDP einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema vorlegen werden - etwas zu leicht. Der Antiziganismus - ich verweise noch einmal auf die Nürnberger Geschichte ist ein Thema, mit dem wir uns inhaltlich auseinandersetzen müssen. Er hat offenbar in Europa Wurzeln, die nur ganz schwer auszureißen sind. Da gilt es nach unserer Auffassung anzusetzen. Es gibt nach wie vor eine Vielzahl von Klischees und sehr viel Unwissenheit über die Lebensweise der Sinti und Roma. Die Klischees und Vorurteile werden gerne kultiviert und führen wie alle Vorurteile und Klischees zu sozialer Ausgrenzung. Deshalb ist es notwendig, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Wir werden das mittels eines Antrags tun. Ich will aber deutlich sagen, warum wir dem Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen heute nicht zustimmen können. Er suggeriert, es gebe gezielte Abschiebungen in das Kosovo. Frau Kollegin Graf, wer das Rückführungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit den Abschiebungen von Frankreich gleichstellt, neigt schon sehr zu Pauschalisierungen, um es vorsichtig auszudrücken. ({1}) Sie tun Ihrem Anliegen damit keinen Gefallen. Worum geht es? Es geht darum, dass in erster Linie die manchmal wirklich bedauerlichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Heimatlandes nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass wir es mit zwei verschiedenen Problemen zu tun haben. Das eine ist die soziale Situation der Sinti und Roma hier in Deutschland und in Europa, wo sie als Flüchtlinge Zuflucht gefunden haben; das andere ist das Asylrecht. In ihrem Antrag versuchen die Grünen - es tut mir leid, wenn ich das sagen muss -, gewollt oder ungewollt, beides über einen Kamm zu scheren. ({2}) Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass das deutsche Asylrecht auch in dieser Frage anzuwenden ist. Wir müssen letztendlich darauf Rücksicht nehmen, dass die völkerrechtliche Praxis, was die Anwendung des Asylrechts und die Anerkennung des Flüchtlingsstatus anbetrifft, zu wahren ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern. Wenn ich den Gedanken noch schnell zu Ende bringen darf, stehe ich für die Beantwortung einer Zwischenfrage selbstverständlich zur Verfügung. Ich will noch einmal darauf abzielen, dass es einen deutlichen Unterschied gibt. Auf der einen Seite steht der ehrenwerte Ansatz: Wir müssen sozialer Benachteiligung, Ausgrenzung überall dort begegnen bzw. sie verhindern und abstellen, wo wir sie antreffen. Aber auf der anderen Seite müssen wir auch das, was wir an asylrechtlichen Grundlagen und an rechtmäßigen, legalen Formen der Rückführung haben, beachten. Herr Kollege, bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Kollege. - Geben Sie mir recht darin, dass die Sinti und Roma, die sich derzeit in Deutschland aufhalten und jetzt von der Abschiebung oder Rückführung bedroht sind, aus ihrem Heimatland, nämlich dem Kosovo, nicht aus ökonomischen Gründen weggegangen sind, sondern deshalb, weil man sie nach der Befreiung des Kosovo dort systematisch verfolgt hat, weil man ihre Häuser angesteckt hat und weil sie um ihr Leben fürchten mussten? Bei mir hier im Deutschen Bundestag sind danach mehrere Delegationen angekommen, die diese Leute vertreten haben bzw. selber aus dem Kosovo kamen und mir im Einzelnen berichtet haben, welcher scheußlichen Verfolgung sie im Kosovo ausgesetzt waren, weswegen sie dann in die Nachbarländer gegangen sind, aber auch nach Deutschland, insbesondere übrigens nach Bayern; gerade in der Nähe von München sind sie heute ansässig. Wenn man diese Leute jetzt gegen ihren Willen mit Gewalt wieder dahin zurückbringt, müssen sie berechtigterweise befürchten, dass die Verfolgung, derentwegen sie dort weggegangen sind, sie erneut trifft. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, die Antwort auf diese Frage soll zeigen, dass es um zwei unterschiedliche Problembereiche geht. Das eine ist die durchaus nachvollziehbare Situation, was den Aufenthalt anbetrifft. Das andere ist die Frage der Rückführung. Ich gebe Ihnen in diesem Punkt natürlich recht: Viele von ihnen sind nicht freiwillig von dort weggegangen; das steckt ja in dem Begriff der Vertreibung. Für uns ergibt sich nach den asylrechtlichen Grundsätzen und der völkerrechtlichen Praxis eine entscheidende Frage: Ist durch die geänderte Situation in der Heimat eine Rückkehr möglich? Am Schluss dieser Rede darf ich mir erlauben, noch einen Gedanken vorzutragen. Gerade dieser Punkt macht mich etwas ratlos: Vollenden wir damit nicht sogar das, was einmal verbrecherisch begann? Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben, müssen an einen Ort, an den sie vielleicht nicht wollten. Die entscheidende Frage ist - so verstehe ich die völkerrechtliche Praxis -, dass wir alles tun müssen, um ihnen die Rückkehr wieder zu ermöglichen. Also ist doch unsere Unterstützung in erster Linie dort gefragt. Das ist, glaube ich, der Punkt. Wir dürfen das, was einmal durch Unrecht eingetreten ist, nicht sozusagen historisch auch noch legitimieren. Deshalb sind es zwei verschiedene Dinge. Das eine ist, hier alles zu tun, um eine soziale Teilhabe zu ermöglichen; das andere ist, dort, wo es rechtlich zulässig und notwendig ist, Menschen wieder in eine Situation zurückzuführen, die ihnen angestammt ist und aus der sie eigentlich kommen. So verstehe ich den politischen Auftrag. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5191 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung - Drucksache 17/4804 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strikten Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung - Drucksache 17/3752 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 17/5238 Berichterstattung: Abgeordnete Jutta Krellmann Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen das Wort. ({1})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zahlen stimmen. Wir haben ein glänzendes Wachstum von 3,6 Prozent. Wir haben 41 Millionen Menschen in Ar11366 beit; das ist ein Rekordwert. Wir sind zuversichtlich, dass die Arbeitslosigkeit 2011 im Jahresschnitt unter der 3-Millionen-Grenze sein wird. Ja, die Zahlen stimmen. Dennoch glauben viele Menschen in unserem Land, dass etwas nicht stimmt. Unter dem Druck des globalen Wettbewerbs drohen unfaire Arbeitsbedingungen am unteren Rand des Arbeitsmarktes Fuß zu fassen. Es sind insbesondere Vorfälle aus dem Bereich der Zeitarbeit gewesen, die den Menschen diesen Eindruck vermittelt haben. Einige haben Schlupflöcher ausgenutzt, um die Stammbelegschaft systematisch schlechterzustellen. Das ist weder der Sinn von Zeitarbeit noch die Intention des Gesetzes. Wer seiner Belegschaft kündigt, um sie für die gleiche Arbeit zu schlechteren Löhnen als Zeitarbeiter wieder einzustellen, der kündigt den fairen Umgang miteinander auf. ({0}) Das wollen wir nicht tolerieren. Deshalb schließen wir mit diesem Gesetz die Gesetzeslücke. Wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeitarbeit kann für Geringqualifizierte eine wichtige Alternative zur Arbeitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei Drittel der Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma anfangen, vorher nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat keinen Berufsabschluss. Sie haben als Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer volle Arbeitnehmerrechte: Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch, und sie sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auf der anderen Seite gibt die Zeitarbeit Unternehmen die Möglichkeit, ihren Personalbedarf flexibel zu decken. Sie gibt ihnen Beweglichkeit für Auftragsspitzen oder besondere Projekte. Wir sind uns deshalb einig, dass wir aus diesen Gründen die Zeitarbeit brauchen. Das ist auch einer der Gründe, warum vor gut acht Jahren SPD und Grüne die Zeitarbeit flexibilisiert haben. Wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass der Grundgedanke richtig ist, dadurch Menschen in Arbeit zu bringen, weil Arbeit immer besser als Arbeitslosigkeit ist. ({1}) Meine Damen und Herren, wir stehen heute eher vor einer anderen Herausforderung. Es geht einerseits darum, die Flexibilität zu erhalten, und andererseits darum, die Fairness in der Zeitarbeit zu sichern. Hierzu trägt auch die europäische Leiharbeitsrichtlinie bei, die wir vollständig, eins zu eins, umsetzen. Am 1. Mai werden wir unseren Arbeitsmarkt vollständig öffnen, auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den acht neuen EU-Mitgliedstaaten. Sie sind willkommen auf unserem Arbeitsmarkt. Was wir aber nicht wollen, ist, den Arbeitsmarkt für ausländische Billiglöhne öffnen. Deshalb habe ich mich immer klar für eine Lohnuntergrenze in der Leiharbeit ausgesprochen. ({2}) Wir ziehen jetzt in der Leih- und Zeitarbeit eine gesetzliche Lohnuntergrenze ein, die auf Vorschlag der Tarifpartner durch Rechtsverordnung festgelegt wird. ({3}) Es wird eine Lohnuntergrenze für die Verleihzeit und für die verleihfreie Zeit geben. Sie wird für Inländer und für Ausländer gelten. Ferner haben wir uns darauf verständigt, dass der Zoll die Einhaltung der Lohnuntergrenze kontrolliert. Hier wird der gleiche Mechanismus wie bei der Kontrolle der Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz greifen. Das geht aber nur mit einer sorgfältigen Abgrenzung der Prüfzuständigkeiten und der Kontrollbefugnisse der Bundesagentur für Arbeit einerseits und der Zollbehörden andererseits. Wir brauchen dazu die erforderliche Zeit. Sie alle wissen, meine Damen und Herren, dass die entsprechenden Regelungen in Vorbereitung sind und dass sie rechtzeitig eine Kontrolle der künftigen Lohnuntergrenze gewährleisten. Abschließend möchte ich noch etwas zum Thema Equal Pay sagen. Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen für die gleiche Leistung in demselben Betrieb dauerhaft ungleich bezahlt werden. ({4}) Im Gesetz steht: Es gilt Equal Pay, ({5}) gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Leiharbeitern und Stammbelegschaft, es sei denn, die Tarifparteien einigen sich auf eine abweichende Lösung. Ich weiß sehr wohl, dass es einen unseligen Tarifparteienwettbewerb nach unten gegeben hat. Das war übel. Das hat dem Ansehen der Zeitarbeit richtig geschadet. ({6}) Ein Gerichtsurteil hat hier jetzt eine Zäsur gesetzt; das ist richtig. Für uns bleibt es aber unstreitig, dass die Tarifautonomie erst einmal Vorrang hat. ({7}) Erst wenn sie versagt, muss der Staat eingreifen. ({8}) Deshalb erwarten wir jetzt, dass die Sozialpartner ihre Freiräume nutzen und sich mit Augenmaß auf eine Annäherung an Equal Pay verständigen. ({9}) Wenn die Tarifparteien innerhalb eines Jahres keine Tariflösung finden, dann ({10}) werden wir eine Kommission einsetzen, ({11}) die an ihrer statt die Regeln für Equal Pay auslotet und dem Gesetzgeber einen Vorschlag unterbreiten muss. ({12}) Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass die Tarifautonomie ein schützenswertes Instrument ist. Es ist aber eben auch unsere gemeinsame Aufgabe, sicherzustellen, dass der Sozialstaat wirkt. Das gelingt meines Erachtens am besten in einem breiten Konsens und nicht im Streit. Heute gehen wir einen ersten und wichtigen Schritt in diese Richtung. Danke. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPDFraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundesministerin, diese Beratung bietet vielleicht die Gelegenheit, einmal grundsätzlich darüber zu reden, was der eigentliche Sinn und Zweck von Arbeitnehmerüberlassung, also von Zeit- und Leiharbeit, überhaupt ist. ({0}) Schon hier gibt es einen Widerspruch zu dem, was Sie, Frau Ministerin, eben gesagt haben. Wir sind nicht der Meinung, dass das, was wünschenswert wäre und was Sie hier in leuchtenden Farben beschrieben haben, tatsächlich eingetreten ist. Die Daten geben nämlich nicht her, dass Zeit- und Leiharbeit im Wesentlichen eine Art arbeitsmarktpolitisches Instrument ist, um Menschen in Arbeit zu führen. Nach Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist ein sogenannter Klebeeffekt, also die Tatsache, dass Menschen über Zeit- und Leiharbeit tatsächlich in feste Beschäftigung bzw. ordentliche Arbeit kommen, nur in 7 Prozent der Fälle festzustellen. Gleichwohl kann man aus wirtschaftspolitischer Sicht argumentieren, dass Zeit- und Leiharbeit als Flexibilitätsinstrument sinnvoll für die Abdeckung von Auftragsspitzen von Unternehmen sein kann. In diesem Sinne sind die Gewerkschaften und auch wir Sozialdemokraten nicht der Meinung, dass man Zeit- und Leiharbeit verbieten sollte. Als Instrument zur Abdeckung von Auftragsspitzen der Unternehmen ist sie akzeptabel. Frau Ministerin, es darf aber nicht sein, dass Zeit- und Leiharbeit in Deutschland weiter als Instrument des Lohndumpings und damit zum Lohndrücken missbraucht wird. Das ist aber leider Realität in diesem Lande. ({1}) Sie hatten wenig Redezeit, ich habe auch wenig Redezeit, aber die Höflichkeit hätte es geboten, Frau Ministerin, dass Sie, als Sie eben über die Einführung eines Mindestlohnes in Form einer absoluten Lohnuntergrenze gesprochen haben, gesagt hätten, dass diese Regelung, die von Ihnen ursprünglich nicht im Gesetz vorgesehen war, aber durch die Annahme der Beschlussempfehlungen des Ausschusses quasi dem Gesetzeswerk als Omnibus aufgesetzt wird, Ihnen in zähen Verhandlungen in der Nacht vor allen Dingen gegen den Widerstand der FDP abgerungen werden musste. ({2}) Wir Sozialdemokraten haben also in diesen Verhandlungen dafür gesorgt, dass vor Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai 2011 zumindest ein Mindestlohn als gesetzliche Lohnuntergrenze eingeführt wird. Wir haben dafür gesorgt, nicht Sie - mit Copyright, Frau Dr. von der Leyen, sollten Sie sich an dieser Stelle auskennen -; das zu erwähnen, wäre ein Akt der Höflichkeit gewesen. Gleichwohl kann ich nicht feststellen, dass dieser Gesetzentwurf zureichend ist, um das zu erreichen, was offensichtlich beabsichtigt ist, nämlich den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit zu bekämpfen. ({3}) - Entschuldigen Sie, Herr Kollege. Ich weiß nicht, ob Sie sich mit diesem Thema irgendwann einmal beschäftigt haben oder hier nur rumkrakeelen wollen. Die Wahrheit ist: Zeit- und Leiharbeit wird in diesem Land massiv missbraucht. ({4}) Frau von der Leyen, an einem der Abende, an denen wir keine Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses hatten, hatte ich noch den Nachtrhythmus drauf und konnte nicht richtig schlafen, weil wir sonst immer miteinander verhandelt haben. In dieser Nacht hatte ich die Gelegenheit, einmal das Nachtmagazin der ARD zu sehen. Dort wurde die Situation sehr gut beschrieben. Es gab ein Interview mit zwei Beschäftigten: der eine Stammbelegschaftskollege, der andere Leiharbeitnehmer; beide in einem Hamburger Unternehmen tätig; beide die gleiche Qualifikation; beide die gleiche Tätigkeit. Der eine Unterschied war, dass der Kollege Leiharbeiter weniger Urlaub hat als der Stammbelegschaftsbeschäftigte. Der wesentliche Unterschied war, dass er trotz gleicher Tätigkeit 900 Euro weniger bekommt. Das nehmen Menschen als entwürdigend wahr, wenn sie es zu erleben haben. Aber auch der Stammbelegschaftskollege war nicht glücklich über die Situation, weil er trotz Ihres PlaceboGesetzes nach wie vor damit rechnen muss, dass er zukünftig durch jemanden ersetzt wird, der schlechter bezahlt wird. Genau an dieser Stelle versagt Ihr Gesetz. ({5}) Hubertus Heil ({6}) Ihr wohlfeiler Hinweis auf eine Tarifautonomie, die in diesem Bereich eben nicht mehr funktioniert, ist eine Ablenkung davon. Zu Recht zitieren Sie, dass das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz bis dato im Prinzip den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kennt. Sie verschweigen aber, dass das nicht die Regel ist, Frau Ministerin. Sie verschweigen das. Und Sie wissen ganz genau - da können Sie sich auch nicht herausstehlen -, dass wir dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit nicht effektiv begegnen können, wenn wir nicht den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ als Gesetzgeber im Gesetz scharfschalten. Ich nehme es als ein Stück Heuchelei wahr, wenn die für Arbeit und Sozialordnung zuständige Ministerin ankündigt - ich darf das zitieren, was Sie eben gesagt haben -: Wir schauen uns ein Jahr lang noch einmal an, ob sich etwas bewegt, und drohen damit, nach einem Jahr eine Kommission einzusetzen. - Was für eine Ankündigung! Diejenigen, die Zeit- und Leiharbeit missbrauchen, zittern wirklich davor, dass Sie eine Kommission einsetzen. Frau Ministerin, die Wahrheit ist: Wir hätten längst in den Verhandlungen - ich glaube, sogar mit Ihnen - eine bessere Lösung erzielt, was den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ betrifft, wenn Sie nicht in Geiselhaft eines Koalitionspartners namens FDP wären, der nicht einmal nach neun Monaten gleichen Lohn für gleiche Arbeit wollte, sondern sich dafür eingesetzt hat, dass selbst nach neun Monaten dauerhaft nur der Grundlohn gleich ist, nicht aber die Zuschläge. Sie, die FDP und die CDU/CSU, verhindern den Kampf gegen den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit. ({7}) Deshalb, meine Damen und Herren, kann ich nur sagen: Dieses Gesetz beinhaltet zwar einen großen Fortschritt, was die Lohnuntergrenze betrifft. Deshalb werden wir dem Antrag ganz folgerichtig zustimmen. Wir haben das zusammen mit den Grünen in den Verhandlungen durchgesetzt. Ich halte dies für eine gute Nachricht. Das ist überfällig. Es ist notwendig, dass wir vor dem 1. Mai zumindest zu einem Mindestlohn in dieser Branche kommen. Zureichend ist es aber nicht. Wenn man dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit effektiv begegnen will, sind einige weitere Dinge notwendig, Frau Ministerin. Das können Sie unserem Entschließungsantrag entnehmen. Wir wollen die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte ausweiten, was den Einsatz von Zeit- und Leiharbeit betrifft. Warum verweigern Sie das eigentlich? Wir wollen gleiche Teilhabe der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer beim Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen, beispielsweise Kinderbetreuung, Gemeinschaftsverpflegung und Beförderungsmitteln. Wir wollen die konzerninterne Verleihe an dieser Stelle einschränken. Das halte ich für dringend notwendig. Wir wollen vor allen Dingen, dass es keine Verträge von Fall zu Fall gibt - Stichwort: Synchronisationsverbot. ({8}) Wir wollen auch eine zeitliche Befristung auf ein Jahr, was den Einsatz von Zeit- und Leiharbeitern betrifft. Das Wichtigste ist aber - und das ist der Geist der EU-Richtlinie zur Leiharbeit, die bis zum 5. Dezember dieses Jahres umzusetzen ist -, dass wir uneingeschränkt den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchsetzen wollen. Mindestlohn ist das eine. Wir sind stolz darauf, dass wir Ihnen das abringen konnten. ({9}) Das reicht aber nicht, weil „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ das ist, was die Menschen brauchen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sage Ihnen: Wer den Menschen das verweigert, der hat keine Ahnung von der Lebensrealität dieser Menschen. Es ist unwürdig, was Sie hier abziehen. Deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen können. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Heil, ich schätze Sie eigentlich sehr; aber ich finde das, was Sie hier tun, nicht konsequent. Wenn Sie mit uns der Meinung sind, dass wir hier - insbesondere was den Antrag anbelangt - in die richtige Richtung gehen, dann sollten Sie auch die Größe aufbringen, diesen Schritt am Ende komplett mitzugehen, das heißt, dem Gesetz insgesamt zuzustimmen. ({0}) Das fände ich richtig. Schade, dass Sie das verweigern wollen. ({1}) So viel zum Thema „Konsens und gemeinsames Bemühen“. Ich will für uns, die FDP, erstens festhalten: Die Zeitarbeit ist für uns ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung von Flexibilität am Arbeitsmarkt. Wir wollen Zeitarbeit erhalten und auch künftig am deutschen Arbeitsmarkt gangbar machen. ({2}) Wir haben aber immer gesagt: Wir wollen keinen Missbrauch der Zeitarbeit. Wir treten Tendenzen, Stammbelegschaften durch Zeitarbeiter zu ersetzen, deutlich entgegen. Deswegen haben Kollege Schiewerling und ich sehr frühzeitig, zu Beginn letzten Jahres, gesagt: Wir werden mit einer Drehtürklausel genau dies verhindern, nämlich dass Belegschaften entlassen und über Zeitarbeitsunternehmen zurückgeholt werden. Wir sind auch der Meinung: Zeitarbeit darf kein Mittel zur Lohndifferenzierung nach unten sein; auch das wollen wir definitiv nicht. ({3}) Deswegen sind wir in den Verhandlungen konkrete Schritte gegangen. Herr Kollege Heil, die Verhandlungen waren nicht einfach - das will ich festhalten -; aber wir sollten hier keine Legendenbildung betreiben. Wir haben gemeinsam eine Lohnuntergrenze verabredet, die am Ende auf Ihren Wunsch hin - das will ich hier bestätigen - als absolute Lohnuntergrenze ausgestaltet wurde. Wir sind diesen Schritt auch deswegen mitgegangen, weil sich durch die Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit - Sie können es auch Mindestlohn nennen - in Deutschland de facto nichts ändern wird; denn die Tarifautonomie funktioniert in diesem Bereich. Es ist der Bereich mit der mit Abstand höchsten Tarifbindung: 98 Prozent der Arbeitsverhältnisse sind tarifgebunden, entweder direkt durch Tarifmitgliedschaft oder durch Bezugnahme auf Tarifverträge. Es wird sich für die deutschen Zeitarbeitsunternehmen und die bei ihnen angestellten deutschen Zeitarbeiter de facto nichts ändern. Aber es gibt einen Schutz gegen die erwarteten und - vor allen Dingen von Ihnen - befürchteten Verwerfungen am Arbeitsmarkt aufgrund der Freizügigkeit ab dem 1. Mai; diesen Schritt gehen wir mit. Zweitens. Die FDP-Fraktion hat sehr früh auf das Thema Equal Pay hingewiesen. ({4}) Wenn Sie sich erinnern: Im Sommer letzten Jahres - da waren Sie noch sehr mit der Diskussion über Mindestlohn und Freizügigkeit beschäftigt ({5}) haben wir gesagt, dass die Durchsetzung von Equal Pay eigentlich kein Problem ist. Man muss sagen - Herr Heil, ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen -: Bei den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss und in der Arbeitsgruppe hat nicht die SPD Angebote gemacht, sondern die Koalition. Wenn Sie sich erinnern, von wem jeweils die Angebote vorgetragen wurden, werden Sie das bestätigen müssen. ({6}) Wir wollten das Thema angehen - das haben wir gesagt -; aber dabei wollten wir eine Auffanglinie schaffen, damit die Tarifpartner im Vorfeld tätig werden. Nach langen Verhandlungen mussten wir am Ende feststellen: „We agree to disagree.“ Wir sind nicht auf einen Nenner gekommen. Jetzt machen wir genau das, was wir anfangs vorhatten: Wir fordern die Tarifpartner auf, im Vorfeld tätig zu werden und ausdifferenziert - Branche für Branche, entsprechend den jeweiligen Bedingungen aufzuzeigen, was hier Equal Pay bedeutet und welche Frist angemessen ist. Wir wollen - da stehen wir weiterhin bereit - eine Auffanglinie schaffen und sagen: Am Ende, nach einer bestimmten Frist, muss immer klar sein, dass Equal Pay gezahlt wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich gestatte sie. Sie kommt gerade noch rechtzeitig in der Redezeit. Danke, Herr Heil. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Heil, bitte schön.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich mache das gerne. Das ist eine Art Wiedergutmachung: Ihr Kollege Otto hat mir vorhin in der Energiedebatte zu etwas mehr Redezeit verholfen. Herr Kolb, ich habe in diesem Zusammenhang zwei ernsthafte Fragen, verbunden mit der Bitte um präzise Antworten. ({0}) Es geht mir um Klarstellungen zu den Verhandlungen, damit da keine Legendenbildung stattfindet. Erstens. Ist es richtig, dass Sie in den Verhandlungen erreichen wollten, dass es in den ersten neun Monaten einer Beschäftigung keinen gesetzlich vorgeschriebenen gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und Sie diese Zeit pauschal als Einarbeitungszeit definiert haben? Ist es richtig, dass Sie erst nach neun Monaten Beschäftigungszeit den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ uneingeschränkt per Gesetz durchsetzen wollten, wissend, dass über 50 Prozent der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer weniger als drei Monate in einem Unternehmen beschäftigt sind? Zweitens. Ist es richtig, dass Sie unter „Equal Pay“ nicht das verstehen, was heute übrigens im Gesetz steht, nämlich dass es sich auf wesentliche Arbeitsbedingungen inklusive Arbeitsentgelt bezieht? Stimmt es, dass Sie den Gesetzentwurf einfach umdrehen wollten und auch nach neun Monaten Beschäftigungszeit kein Equal Hubertus Heil ({1}) Pay in dem Sinne zulassen wollten, wie es jetzt im Gesetz steht, sondern nur bezogen auf den Grundlohn, dass Sie also die Zuschläge herausrechnen wollten? Können Sie mir das bitte bestätigen, um zu unterstreichen, warum wir „agree to disagree“, weil wir faule Kompromisse zulasten der Arbeitnehmer nicht mitmachen wollen?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für die Frage und die Gelegenheit, zu präzisieren. ({0}) Wir haben uns in den Verhandlungen - wenn Sie Zahlen nennen, kann ich das umgekehrt auch tun - aus sehr unterschiedlichen Ecken aufeinander zubewegt. Es ist richtig, dass die Koalition zunächst ein Angebot über zwölf Monate gemacht hat. Es ist richtig - das darf ich auch sagen -, dass Sie vom allerersten Tag an weniger wollten und das in einer sehr forschen Art und Weise vorgetragen haben. Es ist richtig, dass wir uns im Laufe der Verhandlungen aufeinander zubewegt haben. Wenn ich das recht erinnere, standen wir, bevor wir festgestellt haben, dass wir nicht übereinkommen, bei neun und Sie bei drei Monaten. Von den jeweiligen Startpunkten aus betrachtet ergibt sich ungefähr eine gleiche Entfernung. An dieser Stelle haben wir nicht weiter verhandelt, weil man gesehen hat, dass es keinen Sinn macht, und weil wir eine andere Wahrnehmung hatten. Ich habe das in den Verhandlungen als „masochistischen Ansatz“ bezeichnet; denn nach Ihnen ist es nur gut, wenn es wehtut. Wir haben gesagt: Wir wollen schon das Signal an die Zeitarbeitsunternehmen senden: Ihr könnt nicht ewig so weitermachen. ({1}) Aber das muss nicht dazu führen, dass Arbeitsverhältnisse bedroht werden. Dabei sind wir nicht übereingekommen. Jetzt werden wir erleben - da bin ich mir sicher; die Signale haben wir jedenfalls -, dass sich die Zeitarbeitsunternehmen und die Einsatzbranchen Gedanken machen werden - das ist übrigens keine unverbindliche Ankündigung und wir innerhalb der nächsten zwölf Monate - ({2}) - Sie bekommen auch die zweite Frage beantwortet, wenn der Präsident zustimmt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jeder kann Fragen stellen, wie er will, und jeder kann antworten, wie er will. So ist es. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aus meiner Sicht, Herr Kollege Heil, gehört auch das dazu, was ich jetzt noch gesagt habe. Was die konkrete Ausgestaltung der Frage nach Equal Pay - dabei gibt es in der Tat eine Bandbreite - anbelangt, haben die Verhandlungen in einer Arbeitsgruppe stattgefunden. Sie haben verwirrende Ergebnisse geliefert. Es hieß zunächst, man habe sich auch über Fragen verständigt wie: Was heißt Equal Pay? ({0}) Dann hieß es, der Kollege Heil habe den Konsens in dieser Unterarbeitsgruppe wieder aufgekündigt, sodass ich mich außerstande sehe, zu bestätigen, dass wir uns auf irgendetwas an dieser Stelle hätten verständigen können. Sie wollten das selbst nicht; das muss man auch sagen. ({1}) Sie waren da vielleicht ein Stück weit ferngesteuert. ({2}) Ich habe durchaus Verständnis für Dinge, die im Hintergrund von Verhandlungen ablaufen. Ich kann nur sagen: Die Koalition hat sich wirklich fair und nach Kräften bemüht, die Zeitarbeit zu modernisieren und die Fehler, die Sie bei den Hartz-Gesetzen gemacht haben - so muss ich Sie verstehen, Herr Heil -, ein Stück weit zurückzunehmen, ({3}) aber dabei das Instrument der Zeitarbeit nicht kaputtzumachen. ({4}) In diesem Sinne werden wir uns mit Interesse anschauen, wie es weitergeht. Wir stehen dazu, dass auch der zweite Teil, die Umsetzung der Kontrolle, noch kommt. ({5}) Da dürfen Sie sich auf uns als Verhandlungspartner verlassen. Wir werden auch weiterhin dafür garantieren, dass es einen Missbrauch der Zeitarbeit in Deutschland mit uns nicht geben wird. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es immer nett, wenn Sie sich streiten. Sie sollten weitermachen. Das ist interessant. ({0}) Wir nehmen heute circa einer Million Menschen das Menschenrecht auf gleiches Geld für gleiche Arbeit. Ich zitiere aus Art. 23 der Erklärung der Menschenrechte: Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. ({1}) Früher war Leiharbeit dafür da, Auftragsspitzen abzufangen. Die Hartz-Gesetze von Rot-Grün haben es ermöglicht, dass die Leiharbeit inzwischen zum Billiglohnsektor geworden ist. Die Zeche zahlen die Leiharbeiternehmer. ({2}) In meinem Wahlkreis gibt es einen Leiharbeitnehmer, der fünf Jahre unter dem Leiharbeitstarifvertrag des Christlichen Gewerkschaftsbundes arbeiten musste. Dieser ist jetzt ungültig. Deshalb steht ihm der gleiche Lohn wie einem Stammbeschäftigten zu. Für ihn heißt das in Zahlen: Er ist in fünf Jahren um 28 000 Euro betrogen worden. Leiharbeit ist und bleibt ein milliardenschweres Geschäft, das auf dem Rücken der Beschäftigten betrieben wird. Wer profitiert davon? Einerseits profitieren die Firmen, die Leiharbeiter einsetzen. Sie senken ihre Lohnkosten und entledigen sich der Verantwortung für ihre Beschäftigten. Andererseits profitiert die Leiharbeitsbranche. Allein der Marktführer Randstad konnte seinen Umsatz von 2002 bis 2010 verdreifachen. Die Bosse bei Randstad freuen sich mittlerweile über einen fetten Umsatz in Höhe von 1,7 Milliarden Euro im Jahr. Gleichzeitig ist für viele Leiharbeitnehmer der Monat zu lang, um von dem Geld leben zu können. Die schwarz-gelbe Regierung entscheidet gegen die Mehrheit der Deutschen. Eine Umfrage der Wochenzeitung Die Zeit ergab, dass 91 Prozent der Deutschen für Equal Pay in der Leiharbeit sind. Doch was macht die Bundesregierung? Statt endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit einzuführen, beschließt sie einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche. Zu einem Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche sagt die Linke Nein. Wir brauchen keinen Mindestlohn, wir brauchen Equal Pay, ({3}) weil der Mindestlohn dazu führt, dass die Leiharbeiter weiterhin weniger verdienen als die Stammbelegschaft. ({4}) - Da bin ich aber noch nicht. Ich bin noch bei der Arbeit. In der Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsen beispielsweise verdient man in der untersten Entgeltgruppe 13,77 Euro. Da der Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche im Westen 7,60 Euro beträgt, verdient ein Leiharbeitnehmer etwa 45 Prozent weniger als ein Stammbeschäftigter. Der Mindestlohn darf nur in der verleihfreien Zeit gelten. Für die Arbeit gilt: Gleiches Geld für gleiche Arbeit. ({5}) Als Zweites regelt die Bundesregierung den Drehtüreffekt. Sie verhindert zwar, dass eine Firma ihre Beschäftigten zu einem schlechteren Entgelt über eine eigene Leiharbeitsfirma beschäftigen darf. Wenn diese Personen allerdings sechs Monate arbeitslos oder woanders beschäftigt waren, ist das wieder möglich. Wo ist die Verbesserung? Die Umgehung ist vorprogrammiert. Es liegt auf der Hand, was man machen muss, um die Beschäftigten wieder einstellen zu können. Die Bundesregierung behauptet zudem, mit ihrem Gesetz über Leiharbeit schaffe sie einen Mindestlohn, der nicht unterschritten werden kann. Das ist schlicht nicht wahr. Auch hier ein Beispiel: Adecco, eine der größten Leiharbeitsfirmen weltweit, zeigt, wie es geht. Bereits jetzt müssen Beschäftigte neue Arbeitsverträge unterschreiben. Der Unterschied war für sie kaum zu merken. Statt Adecco GmbH stand Adecco Outsourcing GmbH im Arbeitsvertrag. Was hat sich geändert? Die Kolleginnen und Kollegen sind keine Leiharbeitnehmer mehr. Adecco hat sie in die konzerneigene Werkvertragsfirma ausgegliedert, und für Werkvertragsbeschäftigte gilt der Mindestlohn nicht. So einfach ist das. ({6}) Für die Kolleginnen und Kollegen heißt das, dass selbst die schlechten Bedingungen, die wir hier beschließen sollen, schon jetzt unterlaufen werden. Das Gesetz der Bundesregierung ist Murks. ({7}) Leiharbeit darf nur dafür da sein, Auftragsspitzen aufzufangen. Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir mit der Lohndrückerei Schluss machen. Die Linke sagt: Gleiches Geld für gleiche Arbeit. Wenn Sie das Wohl der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer im Auge haben, müssen Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, damit sich endlich etwas bewegt und wir diese unsozialen Bedingungen endlich abschaffen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere Position in Sachen Leiharbeit ist bekannt. Unsere zentralen Forderungen sind die konsequente Anwendung von Equal Pay, eine Flexibilitätsprämie für Leiharbeitskräfte in Höhe von 10 Prozent und die Wiedereinführung des Synchronisationsverbots. Wir meinen, nur eine konsequente Regulierung stoppt den Missbrauch in der Leiharbeit. ({0}) - Herr Kolb, stellen Sie doch eine Frage. Nicht nur die Interessen der Wirtschaft und der Leiharbeitsbranche dürfen im Mittelpunkt stehen, sondern die Politik muss auch den Beschäftigten in der Leiharbeit gerecht werden. Sie haben einen berechtigten Anspruch auf die gleichen Arbeitnehmerrechte, auf faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen wie alle anderen Beschäftigten auch.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Müller-Gemmeke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das soll jetzt ausgleichende Gerechtigkeit sein. - Ich möchte nur auf Verantwortlichkeiten hinweisen. Ich erinnere mich noch - ich bin lange genug im Deutschen Bundestag -, dass Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen als besonders wichtig erkannt hatte, dass die Zeitarbeit gerade auch Menschen mit geringerer Qualifikation die Möglichkeit zur Integration in den Arbeitsmarkt eröffnet. Ist es nicht ein bisschen so, dass Sie hier wie der weibliche Zauberlehrling stehen? Ich glaube, die Geister, die Sie riefen, werden Ihnen jetzt zu viel. Sie machen jetzt die Drehung zurück. Das, was Sie jetzt verändern wollen und als Ihre Vorschläge präsentiert haben, ist doch das glatte Gegenteil dessen, was Sie in der Regierungsverantwortung 2004/2005 damals gemacht haben. Können Sie mir das bestätigen? ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Kolb, ich bestätige Ihnen, dass wir unsere Meinung geändert haben. ({0}) Es wäre schön, wenn auch die FDP das hin und wieder einmal täte. ({1}) Denn Politik muss meiner Meinung nach schlichtweg auch schauen, wie Gesetze wirken und welche Entwicklungen und Fehlentwicklungen es gibt. Wir haben immer gesagt: Wir haben andere Erwartungen gehabt. Ich nenne zum Beispiel den Klebeeffekt, der nicht eingetreten ist. Wir haben nicht damit gerechnet, dass beispielsweise die Christlichen Gewerkschaften ({2}) so in diese Branche gehen und einen solchen Lohndruck machen, wie sie es getan haben. ({3}) - Herr Kolb, ich bin jetzt dran. - Wenn Fehlentwicklungen zu sehen sind, dann muss die Politik Verantwortung übernehmen. Dann muss man auch die Größe haben, zu sagen: Da sind Dinge gelaufen, die wir so nicht haben wollten. - Deswegen muss man dann Maßnahmen ergreifen, damit die Fehlentwicklungen wieder gestoppt werden. Das finde ich überhaupt nicht schlimm, sondern richtig. ({4}) Ich wünsche mir, dass das auch die FDP irgendwann einmal macht. ({5}) Ich habe gerade von den gleichen Rechten der Beschäftigten geredet. Wir meinen, dass der Gesetzentwurf dem nicht gerecht wird. Einzig und allein die Lohnuntergrenze ist ein richtiger und vor allem auch ein notwendiger Schritt. Dieser Lohnuntergrenze werden wir nachher zustimmen. Der Gesetzentwurf in Gänze aber ist und bleibt eine Minimalreform, der wir nicht zustimmen werden; denn Sie werden Ihrer Verantwortung den Leiharbeitskräften gegenüber nicht gerecht. ({6}) Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, Sie suggerieren immer wieder, die Leiharbeitsbranche sei eine Branche wie alle anderen auch. Fakt ist aber: In keiner anderen Branche müssen so viele Beschäftigte aufstockendes Arbeitslosengeld II beantragen. Schon heute muss der Staat circa eine halbe Milliarde Euro pro Jahr an Transferleistungen für Leiharbeitskräfte ausgeben. Darin sind die langfristigen Kosten von Leiharbeitskarrieren noch gar nicht enthalten; denn die niedrigen Rentenansprüche führen die Menschen direkt in die Altersarmut. Keine andere Branche wird in diesem Umfang staatlich subventioniert. Sie betonen auch immer, dass der Großteil der Leiharbeitskräfte vorher arbeitslos war. Das ist richtig, aber es ist auf gar keinen Fall eine Rechtfertigung für die Leiharbeit. Natürlich kündigt kein Mensch sein festes Arbeitsverhältnis, um in der Leiharbeit für kurze Zeit und unter schlechteren Arbeitsbedingungen weniger zu verdienen. Deutlich wird aber, dass der Beschäftigungsaufbau stark in die Leiharbeit geht und Stammbelegschaften schleichend ersetzt werden. Auch der sogenannte Klebeeffekt ist ein Mythos. Gerade einmal 7 Prozent der Leiharbeitskräfte werden in reguläre Beschäftigungen übernommen. Diese Bilanz ist unterirdisch und zeigt, dass die Leiharbeit als arbeitsmarktpolitisches Instrument nicht funktioniert. Das wird von dieser Regierung wohl auch nicht gewollt; denn die Unternehmen profitieren doppelt: Sie erhalten Flexibilität und billige Arbeitskräfte. Die Leiharbeitskräfte hingegen leiden unter einer doppelten Belastung: Sie verdienen weniger und haben keinen sicheren Job. Das ist ungerecht und nicht fair. Die heutige Entscheidung zur Leiharbeit im Bundestag ist also wichtig. Es geht darum, ob wir den Umbau in der Arbeitswelt hin zu noch mehr prekärer Beschäftigung befördern oder stoppen. Wir Grünen entscheiden uns für eine soziale Arbeitswelt. Sozial ist, was gute Arbeit schafft. ({7}) Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, lange haben wir auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung warten müssen. Jetzt aber geht es ganz schnell. Am Montag fand die Anhörung statt, und heute, drei Tage später, wird das Verfahren schon abgeschlossen. Dies geschieht, wie ich finde, trotz dieses wichtigen Themas auch noch zu einer sehr späten Tageszeit. ({8}) In der Anhörung wurden vielfältige Bedenken von Experten geäußert. Sie ignorieren komplett die Gewerkschaften und vor allem auch Teile der Wissenschaft. Das hat uns aber nicht überrascht. Gestern in der Ausschusssitzung haben wir auf unsere Maximalforderungen verzichtet und versucht, mit konkreten Änderungsanträgen einige wenige Verbesserungen des Gesetzentwurfs zu erreichen. Wir haben beispielsweise beantragt, dass die Auszubildenden in die Drehtürklausel einbezogen werden, dass Betriebsräte mehr Rechte erhalten und dass Leiharbeitskräfte nicht in bestreikten Betrieben eingesetzt werden dürfen. Vor allem haben wir auch beantragt, dass die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge gestrichen und der Zugang zur betrieblichen Weiterbildung erleichtert wird, damit der Gesetzentwurf zumindest der EU-Richtlinie über Leiharbeit gerecht wird. Leider hatten wir keinen Erfolg. Nicht einmal über diese Minimalforderungen haben Sie ernsthaft diskutiert. Der Gesetzentwurf bleibt also nahezu bedeutungslos für die Beschäftigten. Die Interessen der Leiharbeitsbranche und der Wirtschaft bedienen Sie aber. Das kann ich nur Klientelpolitik pur nennen. Vor allem spalten Sie die Gesellschaft mit dem unregulierten Anstieg der Leiharbeit weiter, und zwar nicht nur in Arm und Reich, sondern auch in regulär und prekär Beschäftigte. Soziale Gerechtigkeit und verantwortungsbewusste Politik sehen anders aus. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Schiewerling das Wort. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitnehmerüberlassung hat eine lange Geschichte. Sie hat nicht erst im Jahre 2001 begonnen; es gab sie davor auch schon. Durch Hartz I wurde allerdings bewirkt, dass sie sich von einem arbeitsmarktpolitischen Instrument zu einer Branche entwickelt hat. Dies geschah, weil die Rahmenbedingungen durch die damalige Gesetzgebung unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Situation, der steigenden Arbeitslosigkeit und der schwierigen Entwicklung in den Sozialsystemen verändert wurden. Dadurch sollte wesentlich mehr Flexibilität in diesen Bereichen entstehen. Mittlerweile gibt es circa 1 600 Zeitarbeitsfirmen. In der Tat gibt es in 98 Prozent dieser Firmen einen Tarifvertrag; die allermeisten dieser Tarifverträge wurden mit DGB-Gewerkschaften abgeschlossen. ({0}) Ich verurteile das überhaupt nicht. Vom Grundsatz her gilt Equal Pay. Ich kenne die Geschichte sehr genau. ({1}) Wenn wir wollen, dass Equal Pay in der Zeitarbeitsbranche gilt, dann brauchen wir in dieser Branche ab 2013 einfach keine Tarifverträge mehr abzuschließen. Dadurch würden wir völlig problemlos Equal Pay für alle erreichen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr Kollege. - Mich würde interessieren, wie Sie auf 98 Prozent kommen. Es gibt ja ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das festgestellt hat, dass bestimmte Gewerkschaften überhaupt nicht tariffähig sind. Sie nennen sich zwar christlich, sind meiner Auffassung nach aber weder christlich noch Gewerkschaften. Deren Tarifverträge sind von Anfang an nichtig und ungültig. Wie bewerten Sie diese Tatsache? Welche Vorstellungen haben Sie, um dem Wildwuchs, dass Arbeitgeber mit bestimmten Gewerkschaften Tarifverträge abschließen, die gar nicht im Interesse der Beschäftigten sind, und dass Gewerkschaften auf Veranlassung von Arbeitgebern gegründet werden, nur um Dumpinglöhne in ihren Betrieben aufrechtzuerhalten, entgegenzutreten? Bei uns im Münsterland arbeiten Beschäftigte in der Leiharbeitsbranche für 5,60 Euro pro Stunde. Jeden Donnerstagabend gibt es extra verlängerte Öffnungszeiten bei der GAB, bei den Argen, damit die Leute dort ergänzendes ALG II beantragen können. Halten Sie das tatsächlich für würdige Arbeitsbedingungen? Ich glaube, hier müssen Sie noch ordentlich nachlegen und noch einmal genau überprüfen, wie die Situation bei uns im Münsterland tatsächlich ist.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Vogler, die Situation ist auch im Münsterland sehr differenziert zu beurteilen. Erstens. Tarifverträge werden von Gewerkschaften geschlossen, egal in welchem Bereich. Die 98-prozentige Tarifbindung haben wir. Ein Teil der Tarifverträge wurde als nicht gültig eingestuft - dennoch gibt es zur Stunde Tarifverträge -; ich gehe davon aus, dass dies im Nachhinein geregelt und nachgeholt wird. Es bestehen sicherlich Probleme. Sie haben aber nichts mit Grundsatzfragen im Hinblick auf Tarifverträge zu tun, sondern betreffen gewerkschaftliche Entscheidungen in einem ganz bestimmten Bereich. Zweitens. Ich will Ihnen gerne sagen, dass auch ich einen Stundenlohn von 5,40 Euro nicht gut finde. Sehen Sie: Deswegen schaffen wir mit diesem Gesetz die Voraussetzungen für eine Lohnuntergrenze. Wir wollen solche Löhne verhindern. ({0}) Ich hoffe sehr, dass Sie dem zustimmen. ({1}) Drittens möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang sagen: Ich halte es schon für notwendig, die Zeitarbeitsbranche sehr differenziert zu betrachten. Es geht nämlich nicht nur um Stundenlöhne von 5,40 Euro; dieses Beispiel, das eine bestimmte Branche, nämlich ungelernte Arbeitskräfte, betrifft, haben Sie gerade genannt. Vielmehr ist das Tarifsystem in der Zeitarbeitsbranche sehr ausdifferenziert. Im Münsterland, aus dem wir beide kommen, gibt es auch Zeitarbeitsfirmen, die ihren Mitarbeitern 16 Euro die Stunde zahlen. ({2}) Ich kenne Industriebetriebe, die Wert darauf legen, dass vom ersten Tag an Equal Pay gilt. Diese Betriebe kennen auch Sie. Ich glaube, dass es notwendig ist, von dem gesamten Kübel der Verwerfungen, den Sie über der Zeitarbeit ausgießen, ein wenig Abstand zu nehmen, die Dinge sehr differenziert zu betrachten und genau zu überprüfen, an welchen Ecken wir Veränderungen benötigen. Genau das tun wir. ({3}) Ich glaube allerdings, dass es in den vergangenen Jahren - das gestehe ich gerne zu, und deswegen handeln wir heute - zu Verwerfungen gekommen ist, weil Betriebe ihre Betriebskonzeption darauf abgestellt haben, mit möglichst niedrigen Löhnen und durch Ausgliederungen in eigene Zeitarbeitsfirmen geschäftsfähig zu sein. ({4}) Dies steht in deutlichem Widerspruch zur sozialen Marktwirtschaft, zur sozialen Verantwortung und zum Handeln eines ehrbaren Kaufmanns, der nicht nur Umsätze, sondern auch seine Mitarbeiter im Blick haben muss. ({5}) Mit dem heute vorliegenden Gesetz führen wir mit der sogenannten Drehtürklausel eine Regelung ein, die dem einen Riegel vorschiebt. Außerdem verhindern wir Verwerfungen im Bereich der Zeitarbeit, zu denen es aufgrund der Herstellung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ab dem 1. Mai dieses Jahres kommen könnte. Darüber hinaus schaffen wir für die Verleihzeiten und die verleihfreien Zeiten eine Lohnuntergrenze, die wie ein Mindestlohn wirkt. Im Übrigen werden wir mit diesem Gesetz die europarechtskonformen Regelungen umsetzen. ({6}) 3 Prozent aller Beschäftigten sind in Deutschland in einer Zeitarbeitsbranche tätig. Nicht ganz Deutschland arbeitet in Zeitarbeit, sondern nur 3 Prozent aller Beschäftigten. ({7}) Das sind - zugegebenermaßen - 1 Million Menschen. Die Branche erlebt einen deutlichen Aufschwung. In der Aufschwungphase geht es Betrieben darum, Auftragsspitzen aufzufangen - ich erlebe das immer wieder - und flexibel auf den Personalbedarf der Wirtschaft zu reagieren. Ich sage sehr deutlich: Das gelingt, auch dank der guten Zusammenarbeit mit den Regionalagenturen vor Ort. Davon profitieren übrigens nicht nur alle Zeitarbeitsfirmen, die wir kennen, sondern auch eine Zeitarbeitsfirma, an der der DGB beteiligt ist. Es zeigt sich, dass Betriebe zurzeit mit Festanstellungen zögern; ich halte das für falsch. Sie vergeben eher zeitlich begrenzte Verträge. Das ist für unsere gesellschaftliche Entwicklung hochgefährlich, weil sich junge Menschen, die keinen Dauerarbeitsplatz bekommen, nicht für Kinder und Familie entscheiden. Wir sind dabei, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Wir haben die Verwerfungen, die es im Augenblick gibt, im Blick; das gilt auch für andere Bereiche. Ich frage mich, ob es notwendig ist, jemanden länger als zwölf Monate an einen Betrieb zu verleihen. Ich glaube, dass das nichts mehr mit Zeitarbeit zu tun hat, sondern ein Regelarbeitsverhältnis ist. Wir sollten das gut im Blick behalten. Ich will auch deutlich sagen, dass es Zeitarbeit nicht nur in der Wirtschaft gibt. Es gibt sie leider auch im kommunalen Bereich und in Wohlfahrtsverbänden, und zwar in einer Form, wie ich sie nicht vermutet hätte. Leiharbeit kommt insbesondere im Bereich der Pflege vor. Die Arbeiterwohlfahrt in Essen zum Beispiel hat zu meinem großen Erstaunen ein komplettes Geschäftsmodell entwickelt. ({8}) Sehr deutlich möchte ich sagen, dass ich den Klebeeffekt durch Vermittlung nicht geringschätze. Die Werte schwanken übrigens, Frau Kollegin Krellmann, zwischen 8 und 15 Prozent; ({9}) das ist nicht genau festgelegt. Diesen Klebeeffekt gibt es aber. Ich begrüße das außerordentlich. Hier macht sich die Zeitarbeit als eine Brücke zur dauerhaften Beschäftigung sehr positiv bemerkbar. ({10}) Bei aller Diskussion dürfen wir eines nicht übersehen: Der Aufschwung, den wir in der Wirtschaft erleben, ist auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Weniger Menschen sind im Bereich der Kurzarbeit tätig. Wir haben einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Es ist zu einem nach einer solchen Krisensituation nie gekannten Aufschwung im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gekommen. ({11}) Ich möchte Ihnen abschließend zwei Dinge sagen: Erstens. Ich würde der Opposition raten, in ihrer Wortwahl zum Thema Zeitarbeit etwas sorgsamer zu sein. Die Menschen, die dort arbeiten, möchten auf das, was sie leisten, stolz sein. ({12}) Sie haben Respekt für die Arbeitsleistung, die sie erbringen, verdient. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schiewerling, achten Sie bitte auf die Zeit.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Zweitens. Ich glaube, dass wir mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, einen wichtigen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit und zu mehr Regelungen in diesem Bereich machen. Das ist nicht nur für die Beschäftigten, sondern auch für die Akzeptanz der Branche und damit für die Betriebe wichtig. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kramme für die SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen von den Unionsparteien und der FDP, ich frage mich immer Folgendes: Liegt bei Ihnen Sarkasmus oder Zynismus vor? Ist es schlichtweg der Balken im Auge, wenn Sie über die Zustände in der Leiharbeit reden? ({0}) Ich kann nur sagen: Ich nehme ein komplette Realitätsverkehrung wahr. ({1}) Ihr Gesetzentwurf ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Man kann auch sagen, er sieht aus wie ein Sack voller Kartoffeln, in dem es nur eine einzige genießbare Kartoffel gibt. Wir alle wissen, dass es zwei Kernprobleme im Bereich der Leiharbeit gibt. Das eine Problem ist: Die Leiharbeit ist eine Niedriglohntätigkeit. Viele Menschen, die in der Leiharbeit beschäftigt sind, bekommen nicht nur Niedriglöhne, sondern Armutslöhne. Das andere Problem ist: Immer mehr Menschen sind in der Leiharbeit beschäftigt. Das liegt daran, dass Stammarbeitnehmer durch Leiharbeitskräfte substituiert werden. Das macht uns große Sorgen. Denn Menschen in der Leiharbeit sind über die Armutslöhne, mit denen sie auskommen müssen, sozial nur unzureichend abgesichert. Vor allem be11376 reitet es große Sorgen, wenn man sich ausrechnet, was diese Menschen eines Tages an Rente bekommen werden. Es ist volkswirtschaftlich auch äußerst unökonomisch, über SGB II Jahr für Jahr 500 Millionen Euro an Aufstockungsleistungen zuzuzahlen und damit Dumpingunternehmen in dieser Republik letztlich finanziell zu unterstützen. Wenn Sie einen Gesetzentwurf zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorlegen, könnte man denken, dass Sie damit die Kernprobleme der Leiharbeit angehen und auf die Realität eingehen. Das ist aber leider nicht zu beobachten. Sie legen hier eine winzige Regelung vor, mit der gegen die sogenannte Drehtürmethode vorgegangen werden soll. Was ist diese Drehtürmethode? Dabei geht es darum, dass Arbeitnehmer zunächst in einem Stammunternehmen beschäftigt waren, dort entlassen worden sind oder mit der Arbeit aufgehört haben, weil sie nur einen befristeten Arbeitsvertrag hatten, danach in einem Leiharbeitsunternehmen auftauchen und am gleichen Arbeitsplatz weiterarbeiten. ({2}) Es ist richtig: Das ist ein Problem, das gelöst werden muss. In der Gesamtproblematik der Leiharbeit in das aber eine Marginalie. Die Regelung kann durch Arbeitgeber auch ganz leicht umgangen werden, indem sie mit dem Leiharbeitsunternehmen einfach absprechen: Schickt mir andere Leiharbeitnehmer. - Dann muss kein Equal Pay gelten, wie es vorgesehen ist. Man kann auch mit einem komplett fremden Unternehmen der Leiharbeit zusammenarbeiten, zu dem es nie Kontakte oder Berührungspunkte gegeben hat. Sie schreiben in dem Gesetzentwurf weiter: Leiharbeit soll nur noch vorübergehend sein. - Damit reagieren Sie auf die EU-Leiharbeitsrichtlinie. Europäische Richtlinien sind aber so auszulegen, dass sie effektiv sind. Das tun Sie an dieser Stelle nicht, sondern Sie sagen: Vorübergehend ist alles, was irgendwann einmal ein Ende hat. ({3}) Zu solch einem Ende kann es aber natürlich auch erst in 10 oder 15 Jahren kommen. ({4}) Dabei hat sich der europäische Gesetzgeber durchaus etwas dabei überlegt, zu sagen, dass Leiharbeit nur vorübergehend geleistet werden soll. Es geht hierbei darum, dass Dauerarbeitsplätze in Stammunternehmen vorhanden sein sollen, dass die Beschäftigung primär dort stattfinden soll, zu guten Konditionen, und dass die Leiharbeit ihre Probleme hat, weshalb mit ihr nur Auftragsspitzen abgedeckt und Vertretungsregelungen umgesetzt werden sollen. Ein weiteres Problem lösen Sie ebenfalls nicht. Damit liegt ein gravierender Verstoß gegen die EU-Leiharbeitsrichtlinie vor. Danach sind Abweichungen vom Grundsatz Equal Pay nur dann gestattet, wenn es Regelungen zur Sicherung des Gesamtschutzniveaus der Leiharbeitnehmer gibt. Hier haben Sie jegliche Regelung unterlassen. Meine Damen und Herren, wir brauchen drei Dinge: Erstens. Wir brauchen Equal Pay und Equal Treatment, um die Verdrängung von Stammarbeitnehmern zu verhindern. Zweitens. Wir brauchen eine Höchstüberlassungsdauer, um ebenfalls zu verhindern, dass dieser Verdrängungswettbewerb stattfindet. Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist für uns: Es muss ein Synchronisierungsverbot geben, weil wir in der Realität immer mehr festgestellt haben, dass Leiharbeitsverträge mit Arbeitnehmern parallel zum Auftrag des Entleihunternehmens abgeschlossen werden. Das kann und darf nicht sein. Eine allerletzte Konstellation sei an dieser Stelle genannt: Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte schaden nie. Betriebsräte können gut und flexibel mit Leiharbeit umgehen, wenn sie auch Rechte haben, um auf die spezifische Situation im Unternehmen einzugehen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Vogel hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben ja schon darüber geredet: Als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, die Zeitarbeit flexibilisiert haben ({0}) - ich habe mir vom Kollegen Kolb umfangreich berichten lassen, lieber Toni Schaaf -, hatten Sie doch in Wahrheit - wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie das zu zwei Ziele im Blick: Sie hatten einerseits natürlich ein Flexibilitätsinstrument für die Unternehmen im Blick, andererseits aber doch auch - zumindest hoffe ich das für Sie - den Einstieg für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt. Jetzt sagen Sie: Es hat Fehlentwicklungen gegeben; die wollen wir korrigieren. Ich frage Sie: Was sind denn diese Fehlentwicklungen? Ist es eine Fehlentwicklung, dass zwei Drittel der Arbeitslosen, die in der Zeitarbeit tätig sind, darüber den Einstieg in den Arbeitsmarkt finden? Ist es eine Fehlentwicklung, dass drei Viertel davon dauerhaft im Arbeitsmarkt bleiben und dass 40 Prozent der Unqualifizierten, die in der Zeitarbeit beschäftigt sind, darüber in den Arbeitsmarkt kommen? Johannes Vogel ({1}) ({2}) Wenn das so ist, dann kann ich für die christlich-liberale Koalition nur sagen: Wir sagen, das ist eine Errungenschaft und keine Fehlentwicklung. Diese wollen wir erhalten. ({3}) Aber vielleicht meinen Sie mit der Fehlentwicklung etwas anderes. Vielleicht meinen Sie Ereignisse in der Art von schwarzen Schafen, die die Zeitarbeit missbrauchen, wie wir es bei Schlecker und bei der Arbeiterwohlfahrt im Ruhrgebiet erlebt haben. Schönen Gruß an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da könnten Sie positiv Einfluss nehmen. Wenn Sie das meinen, dann frage ich mich, warum Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Genau das führen wir nämlich ein: eine Anti-Schlecker-Klausel und einen Mindestlohn mit Blick auf die ausländischen Zeitarbeitsunternehmen. ({4}) Wenn das die Fehlentwicklungen sind, dann könnten Sie zustimmen. Ich habe heute von Ihnen keinen Grund gehört, dem Gesetzentwurf in irgendeinem Punkt nicht zuzustimmen. Ich habe das Gefühl, Sie meinen es mit der Korrektur von Fehlentwicklungen nicht richtig ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Auch wir meinen, dass es bei der Zeitarbeit noch einen Punkt gibt, der korrigiert werden muss, damit die Zeitarbeit nicht nur ein Steg in den Arbeitsmarkt ist, sondern eine Brücke. Dabei geht es um das Equal Pay. Das haben wir selber thematisiert. ({6}) - Ja, lieber Kollege Heil. - Wir wissen, dass es mit dem Equal Pay nicht ganz einfach ist. Es kann auch, zum Beispiel wenn man es ab dem ersten Tag vorsieht, wie Sie es wollen, negative Effekte haben. Ich zitiere kurz, was Herr Walwei vom IAB in der Anhörung gesagt hat. Es ist übrigens interessant, dass in der Anhörung, von der auch Sie heute häufig gesprochen haben, kein einziger Kollege von Ihnen, liebe Opposition, auch nur eine einzige Frage an die anerkannt unabhängigen Akteure BA und IAB gestellt hat. Sie haben nur die von Ihnen selbst bestellten Sachverständigen befragt. ({7}) Deswegen zitiere ich, was Herr Walwei gesagt hat: Bei Equal Treatment muss man ganz klar sagen, dass dies ab dem ersten Tag und ohne Ausnahme die Zeitarbeit erheblich verteuern würde. Die Inanspruchnahme ginge dann definitiv zurück. Da muss man ganz klar sagen, dass damit dann Zugangshürden für wettbewerbsschwächere Arbeitnehmer wachsen würden. Es käme im Grunde zur Rache des Gutgemeinten. Das wollen wir nicht. Wir wollen das auch für die Geringerqualifizierten erhalten. Deshalb sagen wir: Die Tarifpartner regeln das Equal Pay. Liebe Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben ebenso wie ein anderer Kollege von Heuchelei gesprochen und gesagt, dass das Aufgabe der Politik sei. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir wollen den Tarifpartnern nicht die Brosamen überlassen, die übrigbleiben, nachdem die Politik alles geregelt hat. Wir vertrauen den Tarifpartnern, dass sie eine gute Lösung finden werden. ({8}) Nur dann, wenn sie nicht handeln, werden wir nach einem Jahr tätig. In diesem Sinne ist festzustellen: In der Frage des Equal Pay wird es entweder eine guten Lösung der Tarifpartner oder durch die Kommission geben, die wir nach einem Jahr einsetzen. ({9}) Alle anderen Probleme, die Sie beklagen, die die Zeitarbeit aber nicht kaputtmachen würden, sind gelöst. In diesem Sinne kann ich nicht erkennen, warum Sie dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ich kann nur erkennen, dass Sie viel Schauspiel betreiben und wir uns um die Probleme der Menschen kümmern. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Lehrieder hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Diskussion wurde bereits einiges ausgeführt. Wir führen die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs durch, der den Missbrauch bei der Zeitarbeit unterbinden soll. Lieber Kollege Hubertus Heil, wir haben lange verhandelt. Es wäre gut, wenn Sie als SPD das Ergebnis der Verhandlungen mittragen könnten. ({0}) Wir haben vieles mit in den Gesetzentwurf hineinverhandeln können. Wir haben uns sehr viel Mühe mit Ihnen gegeben. Es wäre schön, wenn Sie das ganze Paket mitschultern könnten. ({1}) Kollege Vogel hat gerade die Anhörung angesprochen, die am Montag stattgefunden hat. Auf meine Frage, ob durch die Zeitarbeit eine Verdrängung regulärer Arbeitsverhältnisse in nennenswertem Umfang erfolgt, hat der Sachverständige Walwei ausgeführt, dass das nach seiner Erkenntnis gerade nicht der Fall ist. Denn, wie Sie selber gesagt haben, Herr Heil, haben viele Leiharbeitnehmer nach einer kurzen Frist das Unternehmen verlassen. Insofern kommt es nicht zu einer spürbaren Verdrängung aus regulären Beschäftigungsverhältnissen. Wir haben auch festgestellt, dass durch die von Ihnen vorgegebene gesetzliche Regelung Möglichkeiten zum Missbrauch gegeben waren. Der Gesetzentwurf sieht deshalb Regelungen vor, um die Fälle von Scheinzeitarbeit zu vermeiden, in denen den Arbeitnehmern gekündigt wurde, um sie dann als Zeitarbeitnehmer zu schlechteren Bedingungen und Löhnen wieder im ehemaligen Unternehmen zu beschäftigen. Auf die Drehtürklausel wurde bereits zu Beginn der Debatte von unserer Ministerin hingewiesen. Wer Zeitarbeit auf diese Weise missbraucht, um Arbeitslöhne zu drücken, der untergräbt ein an sich gutes Instrument der Arbeitsmarktpolitik und verkennt den Sinn der Zeitarbeit. ({2}) Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird nun sichergestellt, dass ein solcher Missbrauchsmechanismus nicht mehr möglich ist. Zugleich wird damit die EULeiharbeitsrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 in nationales Recht umgesetzt. Wir gewährleisten damit, dass die Zeitarbeit nicht mehr als Drehtür zur Absenkung von Arbeitslöhnen und Arbeitsbedingungen genutzt werden kann. Wir leisten damit einen notwendigen und wichtigen Beitrag zur Verbesserung eines für den Arbeitsmarkt bewährten Instruments. Selbstverständlich ist es wünschenswert, feste Anstellungen bzw. unbefristete Arbeitsverträge auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Das ist bei über 95 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in unserem Land auch der Fall. Unser Ziel ist es aber, allen arbeitsfähigen Menschen die Möglichkeit zu bieten, einer Arbeit nachzugehen. ({3}) Arbeit zu haben, ist besser als gar keine Arbeit. Die Zeitarbeit ist daher auch ein Sprungbrett in eine feste Beschäftigung. Sie ist die Chance für jeden, der Arbeit sucht; Kollege Vogel hat auf diesen Aspekt bereits hingewiesen. Der Leiharbeit haben wir es zu verdanken, dass gerade in den Krisenzeiten der letzten Jahre Geringqualifizierte und Arbeitslose eine Chance auf Beschäftigung hatten. Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeitarbeitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, und zwei Drittel hatten vor ihrer Anstellung keine Arbeit. ({4}) Die Flexibilität der Zeitarbeit machte es möglich, den konjunkturellen Aufschwung schneller in Beschäftigung umzusetzen. ({5}) Sicherlich - das soll nicht in Abrede gestellt werden ist in der Zeitarbeitsbranche, die sich von einem Arbeitsmarktinstrument zu einem Wirtschaftszweig entwickelt hat, einiges unglücklich gelaufen. Schlupflöcher, die auf Kosten der Arbeitnehmer ausgenutzt wurden, werden mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nun geschlossen. Folgende Kernpunkte sind darin enthalten. Erstens erfolgt eine Ausdehnung der Erlaubnispflicht der Arbeitnehmerüberlassung auch auf solche Überlassungen, mit denen keine Gewinnerzielungsabsicht verbunden ist, sowie auf solche, die nicht auf Dauer angelegt sind. Zweitens wird in Zukunft verhindert, dass zuvor arbeitslose Leiharbeitnehmer für einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen von einem Unternehmen zu einem Nettogehalt beschäftigt werden, das dem zuletzt gezahlten Arbeitslosengeld entspricht. Drittens wird den Zeitarbeitnehmern nun das Recht eingeräumt, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten zu erhalten. Last, but not least - viertens - geht der Entleiher die Verpflichtung ein, Leiharbeitnehmer über freie Stellen im Unternehmen in Kenntnis zu setzen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Festlegung einer absoluten Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit. Eine solche haben wir in Höhe von 7,60 Euro für die alten und 6,65 Euro für die neuen Bundesländern eingeführt. Erlauben Sie mir, am Ende meiner Redezeit noch einmal auf das viel gerühmte Equal Pay einzugehen. Lieber Herr Kollege Heil, Equal Pay soll im Laufe der nächsten Monaten insbesondere bei auslaufenden Tarifverträgen von den Tarifvertragsparteien diskutiert bzw. in TarifverPaul Lehrieder träge hinein verhandelt werden, die wir dann mit den Arbeitgeberverbänden und mit den Gewerkschaften für allgemeinverbindlich erklären können. Die Forderungen der SPD zeigen, dass ihr sehr viele Gewerkschafter davongelaufen sind. Wir halten es für sinnvoll, dass die Tarifvertragsparteien, denen wir ein großes Vertrauen entgegenbringen, innerhalb des nächsten Jahres - auf diesen Zeitraum hat die Frau Ministerin hingewiesen - Regelungen anstreben, die wir dann überprüfen werden und übernehmen können. Das ist allemal gescheiter, als sich aus der Hüfte heraus auf eine Begrenzung der Verleihdauer auf einen Zeitraum zwischen drei und neun Monaten - Kollege Heil und Kollege Kolb hatten davon gesprochen - zu entscheiden. Lassen Sie uns das prüfen. Es wird ja auch in Zukunft Handlungsbedarf geben. Lassen Sie uns dieses an sich vernünftige Instrument weiterentwickeln. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5238, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4804 in der Ausschussfassung mit den in der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben anzunehmen. Die Fraktion der SPD hat getrennte Abstimmung über die Maßgaben beantragt. Ich rufe daher zunächst die in der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben auf. Ich bitte diejenigen, die diesen zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind die in der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich lasse jetzt über die übrigen Teile des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4804 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind auch die übrigen Teile des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Der Gesetzentwurf ist somit in allen Teilen in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wir stimmen zuerst über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5253 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5254. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Wir kommen zu dem von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur strikten Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5238, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/ 3752 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zusatzpunkt 9 auf: 10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexporten - Drucksache 17/5054 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Auswärtiger Ausschuss ({1}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen - Drucksache 17/5204 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Auswärtiger Ausschuss ({4}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich bitte diejenigen, die an dieser Aussprache teilhaben wollen, sich einen Platz im Plenum zu suchen, und diejenigen, die eine Aussprache zu anderen Themen führen wollen, das Plenum zu verlassen. - Frau Ministerin von der Leyen, ist es möglich, dass wir mit den Beratungen fortfahren? Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion. ({5})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist der Grund für unseren Antrag und für einen Neuanfang? Wir teilen die Einschätzung der evangelischen und der katholischen Kirche, die uns in der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung auffordern, in der Rüstungs- und Waffenexportpolitik Deutschlands einen Neuanfang mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung zu machen. Vor dem Hintergrund meiner elfjährigen Mitgliedschaft im Bundessicherheitsrat - das Entwicklungsministerium ist seit 1998 dort Mitglied unterstütze ich diesen notwendigen Neuanfang aus tiefer eigener Überzeugung und Erfahrung. Ich meine das durchaus selbstkritisch. ({0}) Welche konkreten Gründe gibt es aktuell? Durch die Umstrukturierung der Bundeswehr verfügen die deutschen Streitkräfte zukünftig über Waffen und Rüstungsgüter, die nicht mehr benötigt werden. Die Gefahr ist groß, dass diese Waffen weltweit und damit auch in Krisengebiete exportiert werden. Deutschland darf aber nicht dazu beitragen, dass damit Konflikte in anderen Regionen angeheizt werden. Das hätte entsetzliche Konsequenzen für das Leben von Menschen. ({1}) Entsprechende Entwicklungen bei der Umstrukturierung von Armeen gibt es in vielen Industrieländern. Auch deshalb ist es notwendig, dass der gemeinsame Standpunkt der Europäischen Union zu Rüstungsausgaben aus dem Jahr 2008 endlich von allen EU-Ländern, auch von Deutschland, in einer rechtlich bindenden Form gefasst wird; denn mit diesen acht Kriterien werden Festlegungen für eine restriktive Waffen- und Rüstungsexportpolitik in der Europäischen Union insgesamt getroffen. Dazu gehören unter anderem die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen des Empfängerlandes, die Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch das Empfängerland, die Frage, ob das betreffende Land in einer Region mit bewaffneten Konflikten oder in einer Spannungsregion liegt, und die Frage, wie sich ein solches Empfängerland gegenüber der internationalen Gemeinschaft verhält. Rot-Grün hat, beginnend im Jahr 1999 und dann im Jahr 2000, sehr restriktive politische Grundsätze für den Waffen- und Rüstungsexport erarbeitet, die für das Verhalten der Bundesregierung prägend sein sollten, und man hat sie so ausgestaltet, dass in Länder außerhalb der NATO bzw. in der NATO gleichgestellte Staaten nur in begründeten Einzelfällen geliefert werden kann. Ich sage aber auch: Es bestand und es besteht immer die Gefahr der unterschiedlichen Interpretation, ob bei konkreten Entscheidungen die politischen Grundsätze eingehalten wurden bzw. werden oder nicht. Der zweite Grund, warum es notwendig ist, jetzt entsprechende Initiativen zu ergreifen, ist folgender: Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat angekündigt, dass sie von einer restriktiven zu einer verantwortungsbewussten Exportpolitik übergehen will. ({2}) Das lässt Schlimmes vermuten, zumal die europäische Rüstungslobby auf die Lockerung der Bestimmungen für den Rüstungsexport drängt. Der dritte Punkt ist - ich glaube, da sind wir uns alle einig -: ({3}) Die Erfahrungen vieler europäischer Länder, Frankreichs, Italiens, Spaniens, Großbritanniens und auch Deutschlands, mit Waffen- und Rüstungsexporten unter dem Zeichen geostrategischer Stabilität an nordafrikanische Länder und Länder des Nahen Ostens in den letzten Jahren und zum Teil Jahrzehnten zeigen, wie notwendig Transparenz sowohl in unserem Land als auch in anderen europäischen Ländern für derartige Exportentscheidungen ist. Wären diese Verhaltensweisen früher öffentlich diskutiert worden, hätten viele Entscheidungen keinen Bestand gehabt. Wir alle haben gelernt - das ist hoffentlich ein Ergebnis dieser Debatte -: Waffenlieferungen in Länder, die nicht der Demokratie verpflichtet sind, darf es nicht geben. ({4}) Es ist natürlich wichtig, dass man Waffenembargos beschließt. Aber sie werden doch immer erst beschlossen, wenn die Krisensituation schon eingetreten ist. Anschließend wird oft genug Business as usual betrieben. Eine solche Praxis muss ein Ende haben. ({5}) Wir fordern deshalb eine restriktive Genehmigungspraxis, die eine Kultur der Zurückhaltung erkennen lässt und die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch die Hintertür einer europäischen Harmonisierung verwässert. Wir fordern, nicht Lobbyinteressen zu bedienen, indem Exportrichtlinien aufgeweicht werden, sondern Ansätze der Konversion wiederzubeleben, um die zivile Produktion deutscher Unternehmen, die neben Rüstungsgütern in vielen Fällen auch zivile Produkte herstellen, zu stärken. Gerade jetzt, da Deutschland als nicht ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt worden ist, forHeidemarie Wieczorek-Zeul dern wir die Bundesregierung auf, die Verhandlungen für ein weltweites Waffenhandelsabkommen im Jahr 2012 zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen und dabei vor allen Dingen abrüstungspolitisch engagierte Nichtregierungsorganisationen in die Beratungen einzubeziehen. Ziel des Abkommens muss es sein, eine möglichst große Zahl von Staaten - ich verweise auf China, Russland und die USA - auf grundlegende Prinzipien zur Begrenzung und Kontrolle der Rüstungstransfers zu verpflichten und völkerrechtlich bindende Richtlinien für alle Rüstungsexporte zu entwickeln. Die Zahl der Exportgenehmigungen für sogenannte kleine und leichte Waffen, also für Massenvernichtungswaffen in Zeitlupe, wie sie Kofi Annan genannt hat, muss endlich drastisch reduziert werden. Hier müssen entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden. Der Kern unseres Antrags - da bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen um Unterstützung -, besteht aber darin, dass wir den Vorschlag der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung für eine stärkere parlamentarische Beteiligung bei Rüstungs- und Waffenexportentscheidungen aufgreifen. Wir formulieren in unserem Antrag: Ein geeignetes Instrument dafür - für die frühzeitige Einbeziehung des Deutschen Bundestages in den Entscheidungsprozess könnten vertrauliche Beratungen im Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages für „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ sein … Wir gehen davon aus, dass die Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, und zwar in allen Fraktionen, ein Interesse daran haben, die Beteiligung des Deutschen Bundestages zu stärken, und bieten deshalb ausdrücklich an, einen interfraktionellen Antrag zu erarbeiten, mit dem Ziel, diese Rechte des Deutschen Bundestages zu erweitern. Schweden zum Beispiel hat einen solchen Prozess der parlamentarischen Beteiligung. Zum Schluss. Die nordafrikanischen Länder brauchen Chancen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Perspektiven für die Jugendlichen, die aufbegehren. Sie müssen ihre Militärausgaben drosseln und die Mittel für Bildung, Arbeit und zivile Entwicklung einsetzen. Insgesamt befanden sich laut dem Bonner International Center for Conversion im Jahr 2009 elf Länder der Region Nordafrika/Naher Osten unter den Ländern mit den höchsten Militarisierungsgraden. Das wichtigste Bollwerk gegen mögliche islamistische Gewalt ist aber die Unterstützung von Demokratie und Zukunftsperspektiven in diesen Ländern; es ist nicht die Lieferung von Waffen. Ich danke Ihnen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Fritz hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik und muss Friedenspolitik sein. Daran gibt es seit der Gründung dieser Republik keinen Zweifel. Was Rüstungsexportpolitik angeht, liebe Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, haben wir in diesem Parlament eine lange gemeinsame Praxis. Das hängt auch damit zusammen, dass das Verhalten nach Änderung von Mehrheiten in der Regel nicht kurzfristig geändert wurde. Aus dem Wort „verantwortungsvoll“ zu schließen, unsere Politik sei nicht mehr restriktiv, passt, finde ich, überhaupt nicht in die Diskussion in diesem Hause zu dem komplizierten Thema Rüstungsexport. Sie wissen ganz genau, dass durch den Lissabon-Vertrag, durch den Binnenmarkt vieles, von dem wir früher ausgegangen sind, von der Praktikabilität des Umgangs und der Kooperation innerhalb der Europäischen Union her nicht mehr passt. Deshalb gibt es Bedarf, da etwas zu ändern, und das soll gemacht werden. Reden Sie doch bitte nicht klein, was stets das Ziel der Bundesregierungen und vor allen Dingen des Bundestages war! Es waren immer Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die das vorangetrieben haben, indem sie gesagt haben: Lasst uns eine gemeinsame europäische Exportkontrollpolitik betreiben, weil sie, wenn der Standard höher wird, auf jeden Fall insgesamt bessere Ergebnisse zeitigt als viele nationale Ansätze mit den Zwängen, die Sie dargestellt haben. Insofern kann ich das, was Sie hier vorgetragen haben, nicht ganz verstehen. Ich kenne logischerweise all die Themen und Papiere, auf die Sie sich beziehen. Ich sage hier nur: Der Antrag, den Sie eingebracht haben, über den zu reden wir Gelegenheit haben werden, enthält, was Veränderungen angeht, etwa hinsichtlich der parlamentarischen Beteiligung, keine neuen Vorschläge. Das diskutieren wir seit 20 Jahren. ({0}) - Jetzt passen Sie einmal auf. Der Vorschlag, das Parlament, das ich als den wichtigsten Kontrolleur ansehe, was Rüstungsexportpolitik angeht, zumindest teilweise zur Genehmigungsbehörde zu machen, hat zwei Seiten, die man ernsthaft betrachten muss. Das Beispiel Schweden repräsentiert eine Seite. Die dortige Praxis habe ich mir schon vor Jahren ganz genau angesehen und immer wieder mit Kollegen diskutiert. Bedenken Sie einmal Folgendes: In deutschen Großstädten wurde sehr ausgiebig über die Einrichtung von Vergabeausschüssen in Form von politischen Gremien diskutiert, die die Aufträge für die Stadt verteilen. Wenn Sie sich heute umschauen, dann stellen Sie fest, dass es nicht mehr viele davon gibt. Es ist nämlich nicht gut, die Dinge zu vermischen. Außerdem ist die Anfälligkeit, etwa für Korruption, viel zu groß, wenn man die Dinge nicht auseinanderhält. Wir sind bereit, ernsthaft darüber zu reden; schließlich gibt es gute Argumente für beide Positionen. Denken Sie aber daran, dass das kein Thema ist, das man von Anfang an für zentral erklären muss, nur weil es starke Kräfte gibt, die das fordern. Wir haben in diesem Bereich eine Trennung zwischen Exekutive und Legislative. In diesem Fall geht es um exekutives Handeln. Es geht nicht nur um die Genehmigung von wenigen Großaufträgen. Dem Bundestag ist im Übrigen noch nie verweigert worden, rechtzeitig informiert zu werden. Jeder Kollege, der sich darum kümmerte, konnte sich informieren und kann das auch heute noch. Es geht um Folgendes: Zur Bundesverwaltung gehört das Bundesausfuhramt und das Zollkriminalinstitut. Die Kontrollfähigkeiten des Zolls sind - das wissen Sie aufgrund Ihrer früheren Mitwirkung ganz genau - immer stärker geworden. Das führt dazu, dass Unternehmen häufiger eine Unbedenklichkeitserklärung beantragen. Dadurch ist die Anzahl der Genehmigungen dieser Anträge enorm gewachsen. Es gibt in diesem Bereich eine große Sensibilität, auch der Unternehmen. Niemand will sich in die kriminelle Ecke stellen. Das ist auch gut so. Das alles jetzt in die Verantwortung des Bundestags zu stellen, das ist keine positive Entwicklung. Damit sind auch Schwierigkeiten verbunden. Meine Redezeit ist seltsamerweise fast vorüber. ({1}) - So ist das manchmal, wenn man sich nicht an das Konzept hält. Die Praxis der Kontrolle, an der Sie beteiligt waren, Frau Wieczorek-Zeul, führt dazu, dass wir ganz viele delikate Probleme haben, bei denen es berechtigte Einwände gibt. Auch heute kann blockiert werden. Die Auseinandersetzungen wegen Genehmigungsverfahren, die sich über Jahre hinziehen, sind nicht beliebt. Ich bin dennoch für restriktive Verfahren, weil die Folgen falscher Entscheidungen immer bedacht werden müssen. Zu den anderen Themen will ich jetzt nichts sagen. Ich will nur noch anführen, dass Siegfried Lenz in seiner Novelle Schweigeminute, die der eine oder andere vielleicht gelesen hat, den schönen Satz geschrieben hat: Was wir verschweigen … ist mitunter folgenreicher als das, was wir sagen. Das gilt auch für dieses Thema. Deshalb sind wir für Transparenz, für Kontrolle und für eindeutige, klare Verfahren. ({2}) Wenn Sie mit uns darüber reden möchten, was man besser machen kann, sind wir dabei. Populistischen Forderungen stimmen wir aber nicht zu. Danke. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe in den letzten Wochen mehrfach gehört, dass Deutschland eine strenge Rüstungsexportkontrolle habe. Das ist wirklich eine Legende. ({0}) Damit müssen wir endlich einmal aufräumen. ({1}) Denn wenn es eine strenge Exportkontrolle gäbe, dann wäre Deutschland doch nicht weltweit die Nummer drei der waffenexportierenden Länder, dann hätte Deutschland auch keine Waffen an Libyen, an Ägypten, an Saudi-Arabien und all die anderen Länder geliefert, für die jetzt plötzlich ein Waffenembargo gilt und gegen die der Westen möglicherweise Krieg führt. Ich möchte das einmal an drei Beispielen aufzeigen: Erstens. Was passiert eigentlich mit den Waffen, wenn sie erst einmal exportiert worden sind? Das weiß kein Mensch. Das muss man sich einmal vorstellen. Es ist ausreichend, wenn eine Waffenschmiede wie Heckler & Koch, die Maschinenpistolen herstellt, ein Schreiben vorlegt, in dem zum Beispiel Mexiko versichert: Ja, die Maschinenpistolen, die wir kaufen, bleiben bei uns im Land. Wir liefern sie nicht weiter. - Danach kontrolliert das nie wieder jemand. Angesichts dessen sage ich immer: Jede Frittenbude in Deutschland wird besser kontrolliert als Waffenexporte. Wenn ich in Hamburg eine Frittenbude aufmache, dann reicht es nicht aus, dass ich am Anfang ein Schreiben schicke, in dem ich bestätige: Ja, ich mache jeden Tag sauber und wechsle jede Woche das Öl. - Da kommen natürlich regelmäßig Kontrolleure und kontrollieren das. Bei den Waffenexporten ist das nicht der Fall. Das führt dazu, dass deutsche Waffen bei allen Kriegen in der Welt auftauchen. In Mexiko hat zum Beispiel Heckler & Koch jetzt ein Strafverfahren am Hals, weil deutsche Gewehre plötzlich in Provinzen auftauchen, für die ein Embargo gilt. Beim Krieg in Georgien sind plötzlich Sondereinheiten mit deutschen G36-Sturmgewehren aufgetaucht. Diese Gewehre hätten dort gar nicht sein dürfen; dafür gab es nie eine Genehmigung. Oder denken Sie an den Sohn von Gaddafi, der neulich in Tripolis mit einem deutschen Sturmgewehr vom Typ G36 wedelte. Das hätte nie dort sein dürfen. Wenn man nicht kontrolliert, wo die Waffen in den einzelnen Ländern verbleiben, dann kommt es natürlich dazu, dass sie wild in die ganze Welt exportiert werden. ({2}) Man sollte sich einmal anschauen, was die Amerikaner machen. Die Amerikaner haben eine entsprechende Endverbleibskontrolle. Sie schicken gerne einmal Kontrolleure ins Land, die nachschauen, ob die Waffen wirklich da geblieben sind, wohin sie geliefert wurden. Das ist doch das Mindeste, was Deutschland machen könnte. ({3}) Zweitens: die Frage der Menschenrechte. Es war hier mehrfach die Rede von den Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung. Diese können Sie getrost in die Tonne drücken; sie sind völlig unverbindlich. Es gibt in Deutschland kein Verbot des Exports von Waffen in menschenrechtsverletzende Staaten. Das muss man ein für alle Mal klarstellen. Es handelt sich um eine unverbindliche Richtlinie. Es wird nämlich abgewogen zwischen den Fragen, wie viel Geld verdient wird, wie wichtig ein Land in politischer Hinsicht ist und wie es mit der Einhaltung der Menschenrechte im betreffenden Land aussieht. Die Menschenrechte fallen am Ende immer hinten herunter. Anders kann man doch gar nicht erklären, dass nach Saudi-Arabien Tausende von Sturmgewehren geliefert werden, ({4}) obwohl die Bundesregierung selber in ihrem Menschenrechtsbericht schreibt, dass dort dauerhaft schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Es reicht insofern nicht aus, auf die Menschenrechte hinzuweisen, sondern eine rechtsverbindliche Regelung muss her. ({5}) Ich bin dafür, dass als minimaler Standard festgelegt wird, dass in ein Land, in dem es nach dem Menschenrechtsbericht der Bundesregierung dauerhaft schwere Menschenrechtsverletzungen gibt, keine Waffen mehr exportiert werden dürfen. - Punkt! Hier darf dann keine Abwägung mehr vorgenommen werden. ({6}) Drittens: die Frage der Transparenz. Man muss sich einmal vorstellen, dass wir und die Öffentlichkeit zum Beispiel von einer Lieferung von Panzern nach Chile, die die Bundesregierung genehmigt, erst anderthalb Jahre später erfahren. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Das Mindeste ist - das finde ich auch richtig -, dass wir vorab informiert werden, welche Anträge vorliegen und was wann wohin gehen soll, damit wir gegebenenfalls einschreiten können. Heute kann niemand mehr die Waffen, die nach Libyen gegangen sind, zurückholen. Erst vor einigen Wochen haben wir erfahren, wie viele Waffen im Jahr 2009 dorthin exportiert wurden. Für das Jahr 2010 liegen uns ja noch gar keine Daten vor. Schließlich unterstütze ich die Forderung der SPD, dass die Exporte von Kleinwaffen drastisch reduziert werden. Das aber einfach nur in den Raum zu stellen, ändert nichts. Die SPD und die Grünen haben diese Forderung schon 1998 erhoben; hinterher sind die Exporte von Kleinwaffen aber gestiegen. Hier müssen Sie klare Grenzen ziehen. Es müssen Verbote erlassen werden, dass in bestimmte Regionen und Staaten, die Menschenrechte verletzen, oder wohin auch immer Waffen geliefert werden. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass Deutschland gar keine Waffen mehr exportieren sollte. ({7}) Mit einer vernünftigen Endverbleibskontrolle, die mit Transparenz, klaren Menschenrechtskriterien und dem Verbot des Exports von Kleinwaffen einhergeht, könnte ein Anfang gemacht werden. Darauf könnte man sich jetzt schon verständigen; das fände ich gut. In ein paar Jahren kommt es dann zu einem Totalverbot. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Lindner für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Es ist schade, dass wir am letzten Freitag nicht die - in der Qualität ganz anderen - Anträge der SPD und der Grünen beraten haben. Das hätte uns deutlich mehr gebracht, als sich ausschließlich mit dem populistischen Klientelantrag der Linken zu beschäftigen. Der Antrag der Linken hat nur dazu gedient, in irgendwelchen Antifa-Veröffentlichungen zu zeigen, dass schon etwas läuft und wer hier gut und böse ist. ({0}) Das war doch der einzige Zweck. Die heutige Debatte hätte also schon früher stattfinden können. Frau Wieczorek-Zeul, was Sie hier vorgelegt haben, ist zwar seriöser, ich wage aber, zu bezweifeln, dass Ihre Fraktion Ihnen und damit sich einen Gefallen damit getan hat, Sie hier als Rednerin vorzuschicken. Letzte Woche gab es den neuesten Rüstungsexportbericht. Wenn man die Zahlen darin liest, fällt einem auf, dass zwischen dem Jahr 2003 und heute ein Gesamtvolumen an Kriegswaffenexporten aus Deutschland pro Jahr im Wert von etwa 1,3 Milliarden Euro zu verzeichnen ist. Das sind, um einmal die Größenordnung klarzustellen, etwa 0,15 Prozent des Gesamtexports. Ein Jahr sticht dabei heraus, nämlich das Jahr 2005. Damals waren nicht nur Sie als Entwicklungshilfeministerin, sondern auch Außenminister Joseph Fischer im Bundessicherheitsrat vertreten. In diesem Jahr wurden Kriegswaffen mit einem Wert von 1,63 Milliarden Euro exportiert. Das machte 0,26 Prozent des Gesamtexports aus. ({1}) Jetzt könnten wir natürlich denken, dass es sich dabei vielleicht um besondere Exporte in verbündete NATOStaaten handelte. Wenn man sich das Ganze etwas ge11384 Dr. Martin Lindner ({2}) nauer anschaut, kommt man zu dem Ergebnis, dass von den 1,6 Milliarden Euro Exporte im Wert von 911 Millionen Euro in Entwicklungsländer gingen, für die Sie zuständig waren, Frau Wieczorek-Zeul. ({3}) Dennoch sagten Sie uns gerade: Waffenlieferungen in Länder, die nicht der Demokratie verpflichtet sind, sind zu untersagen. ({4}) - Entschuldigung, Sie waren die dienstälteste Ministerin, als Schwarz-Rot abgewählt wurde. Sie waren jahrelang zuständig. Kaum sind Sie aus dem Amt, erzählen Sie uns hier etwas vom Pferd und sagen, was einzuschränken sei. ({5}) Das ist doch wirklich nicht glaubwürdig. ({6}) Genau in dem Jahr, in dem Rot-Grün hauptverantwortlich war, stieg die Anzahl der Kriegswaffenexporte. Jetzt werden wieder Kriegswaffen im Wert von etwa 1,3 Milliarden Euro exportiert. Kriegswaffenexport ist in seinem Wesen kein Problem des Kleinwaffenexports. Kleinwaffen sind sozusagen Stangenware auf diesem Markt. Diese Länder, auch Saudi-Arabien, können sie überall kaufen. Das große Problem und die ernsthafte Herausforderung sind hochtechnologische Waffensysteme. Wenn Sie dieses Thema beleuchten, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass eine besondere Herausforderung darin besteht, dass die Absatzmärkte innerhalb der NATO und innerhalb der EU in den Jahren des Kalten Krieges deutlich größer waren. Gott sei Dank haben wir mittlerweile eine andere Sicherheitslage. Daher sind die entsprechenden Unternehmen jetzt in der Bedrängnis, nur noch wesentlich geringere Stückzahlen verkaufen zu können, was die Stückpreise erhöht. Allerdings haben die Staaten der Europäischen Union feste Budgets, was zusätzlichen Druck bedeutet. Die einzig sinnvolle Forderung, die wir in diesem Bereich aufstellen müssen, lautet doch, dass es innerhalb der Europäischen Union nicht nur, was die Rüstungsunternehmen angeht, sondern auch, was die Rüstungsbudgets betrifft, zu einer Harmonisierung und Integration kommt. Nur dann können die Stückzahlen innerhalb unserer Wertegemeinschaft so erhöht werden, dass der ökonomische Druck, Exporte in Länder außerhalb der EU zu tätigen, nicht mehr in der Weise besteht wie im Moment. Die Forderung lautet also, die Rüstungsprogramme innerhalb der Europäischen Union zu harmonisieren. ({7}) Ein weiteres Thema ist Dual Use. Dazu habe ich am vergangenen Freitag ebenfalls schon etwas gesagt. Auch hier ist es doch nicht so, wie Sie suggerieren: dass die deutschen Unternehmen diejenigen sind, die andere an den Rand drängen. Vielmehr machen zahlreiche Konkurrenzunternehmen aus anderen Ländern der Europäischen Union regelrecht Werbung: Kauft diese Produkte nicht bei deutschen Unternehmen, sondern kauft sie bei uns. Wir haben zwar möglicherweise schlechtere Produkte, aber bis die deutschen Anbieter ihre Exportgenehmigung bekommen, habt ihr schon längst, was ihr braucht. - Das ist doch die Realität. Wir müssen überlegen, wie wir zu schnellen Verfahren kommen, die natürlich auch zu einer Ablehnung eines Antrags führen können. Um dies zu erreichen, kann das Ziel sinnvollerweise nur eine Harmonisierung europäischer Anforderungen an die Exportbestimmungen für Dual-Use-Produkte sein. ({8}) Nur dann, wenn wir gleichgerichtete Vorschriften haben, besteht kein Konkurrenzverhältnis mehr innerhalb der Europäischen Union und innerhalb der NATO. ({9}) Meine Damen und Herren, der Kollege Fritz hat schon das meiste zu der Forderung nach einer Vorabbefassung des Deutschen Bundestages gesagt. Wir haben eine Exekutive und eine Legislative. Wir tun uns keinen Gefallen - ich habe dasselbe gesagt, als ich in einem anderen Parlament Oppositionspolitiker war -, wenn wir als Parlament bei klassischen Angelegenheiten der Exekutive unsere Finger im Spiel haben. Wir haben gar nicht die Kompetenz und die Mitarbeiter dafür. ({10}) - Herr van Aken, Sie natürlich schon. Sie haben Mitarbeiter dafür; Sie haben Tausende von Beamten in Ihrer Fraktion, die einzelne Rüstungsexportgenehmigungsanträge prüfen können. - Das glauben Sie doch wohl selber nicht. Das ist doch völliger Blödsinn; Sie betreiben hier nur Populismus. Wenn Sie sich ernsthaft damit beschäftigen, kommen Sie nicht zu dem Ergebnis, dass der Deutsche Bundestag eine Rüstungsexportkontrollbehörde werden kann; das ist ausgeschlossen. Der Geheimschutz und Nachrichtendienste wie der BND sind in diesem Bereich beteiligt. ({11}) Man kann das doch nicht im Deutschen Bundestag machen. Im Übrigen kommt es oft zu der Situation, dass es im Zuge eines solchen Genehmigungsverfahrens zu einer Rücknahme des Antrags kommt; mit dieser Möglichkeit kann man dem Unternehmen eine öffentliche Darstellung ersparen. So handelt man sinnvoll. Diese Bundesregierung und diese Koalition werden dieses Thema genauso verantwortlich wie die Vorgängerregierungen handhaben. ({12}) Dr. Martin Lindner ({13}) Wir werden in einem Spannungsfeld von berechtigten Interessen unserer Industrie und Sicherheitsinteressen eine vernünftige Abwägung treffen. Ich habe auch angesichts der beteiligten Minister überhaupt keine Sorge, dass hier planlos die Schleusen geöffnet werden. Alle Damen und Herren, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigen, handeln verantwortungsvoll; sie ist bei ihnen in guten Händen. ({14}) Herzlichen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Keul das Wort.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern haben wir in den Ausschüssen über den Rüstungsexportbericht debattiert, aber leider nicht über den von 2010, sondern über den von 2009. Es ist wieder einmal über ein Jahr ins Land gegangen; die im Berichtszeitraum gelieferten Waffen sind längst im Einsatz. 2009 wurden Exporte im Wert von mehr als 5 Milliarden Euro genehmigt. Dabei wurde nicht nur an verbündete Demokratien geliefert: Der Wert der genehmigten Kriegswaffenausfuhren an Drittstaaten war mehr als doppelt so hoch wie der Wert der Ausfuhren an EUund NATO-Staaten. Dabei darf nach der Rüstungsexportrichtlinie der Bundesregierung eigentlich nur in Ausnahmefällen an Drittstaaten geliefert werden. Diese Entwicklung ist ganz klar gesetzeswidrig. ({0}) Darüber hinaus ist die Berücksichtigung menschenrechtlicher Standards in dieser Richtlinie festgeschrieben. Dennoch wurde an Mubarak, Gaddafi und andere Despoten geliefert. ({1}) Saudi-Arabien hat gleich eine ganze Waffenfabrik bekommen. Das Problem liegt auf der Hand: Die Bundesregierung unterliegt in diesen Bereichen weder einer parlamentarischen noch einer gerichtlichen Kontrolle. Sie trifft ihre Exportentscheidungen in geheim tagenden Gremien, ohne sich dafür irgendwo rechtfertigen zu müssen. ({2}) Sie fühlt sich zur Auskunft über einzelne Ausfuhrgenehmigungen und deren Begründung nicht verpflichtet. ({3}) Die Lobby der Menschenrechte kann mit den Wirtschaftsinteressen hier gar nicht mithalten. Der Kollege Lindner hat uns schon letzte Woche eindrücklich vor Augen geführt, was die Koalition von einer restriktiven Exportpolitik hält, als er hier zum Thema Rüstungsexporte ein flammendes Bekenntnis zur Exportnation Deutschland abgegeben hat. Die SPD erhebt in ihrem Antrag die berechtigte Forderung nach Transparenz und parlamentarischer Beteiligung. Im Kern der Forderung steht die frühzeitige Einbindung des Deutschen Bundestages in die Genehmigungsverfahren. Diese Forderung teilen wir Grünen, da die Bundesregierung nur so gezwungen werden kann, ihre Entscheidungsgründe offenzulegen. Richtig ist auch die Forderung, die Konversion von Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie zu unterstützen; denn gerade der europäische Markt wird aufgrund der Sparmaßnahmen künftig nicht mehr wie im bisherigen Umfange für die Abnahme von Rüstungsgütern zur Verfügung stehen. Die Rüstungsexportrichtlinie ist eindeutig: „Beschäftigungspolitische Gründe“ dürfen bei der Genehmigung „keine ausschlaggebende Rolle spielen“; der Rüstungsexport in Drittstaaten darf „nicht zum Aufbau zusätzlicher, exportspezifischer Kapazitäten führen“. Auch wenn wir den Antrag der SPD grundsätzlich unterstützen, habe ich einige Verbesserungsvorschläge. Zunächst einmal greift der Titel des Antrags zu kurz. Wir sind nicht nur dafür, „die Ausweitung von Rüstungsexporten“ zu stoppen; es geht uns darum, den Umfang der Rüstungsexporte zu verringern. ({4}) Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, die Rüstungsexportrichtlinie und den EU-Kodex für Waffenausfuhren in das Außenwirtschaftsgesetz zu integrieren, um den Normen damit eine höhere Verbindlichkeit zu verschaffen. Wir sind außerdem für die konsequente Übertragung der Federführung vom Wirtschaftsministerium an das Auswärtige Amt, wo die Einschätzung von Krisenregionen und Menschenrechtslagen deutlich besser aufgehoben sein dürfte. Zuletzt noch einige Worte zu Heckler & Koch: Da wir bereits am 10. Februar über den Antrag der Linken debattiert haben, mache ich es kurz. Das Unternehmen steht im Verdacht, Waffen nach Mexiko geliefert zu haben, und zwar in Provinzen, in die es nicht hätte liefern dürfen. Die Bundesregierung hat deswegen die Genehmigung der Ausfuhranträge nach Mexiko ausgesetzt. Da der Verdacht der Unzuverlässigkeit aber gerade nicht das Empfängerland, sondern das exportierende Unternehmen betrifft, reicht es nicht, die Aussetzung auf Mexiko zu beschränken. ({5}) Leider musste die Fraktion der Linken unbedingt noch die Forderung nach einem Totalverbot aller Waffenexporte anhängen und dazu das Grundgesetz bemühen. ({6}) Wahrscheinlich wollen Sie einfach nicht, dass wir Ihren Anträgen zustimmen. Aber bei uns ist es anders: Wir freuen uns über Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als nächster Redner hat unser Kollege Dr. Reinhard Brandl von der Fraktion der CDU/CSU das Wort. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich wundere mich schon darüber, welche Debatte wir heute führen und - genauer gesagt - was die SPD heute hier fordert. ({0}) Der Wunsch, dem Parlament ein Mitspracherecht bei Rüstungsexporten einzuräumen, ist nicht wirklich neu. Am 19. Oktober 2000 hat zum Beispiel die damalige PDS einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem sie genau das fordert. Meine Damen und Herren von der SPD, ich erspare es Ihnen, jetzt darzulegen, mit welcher Begründung die Redner der SPD dies damals abgelehnt haben. ({1}) Ich könnte die SPD-Reden von damals heute fast selbst halten. Meine Damen und Herren, Sie waren danach noch neun Jahre an der Regierung beteiligt. Warum haben Sie denn in dieser Zeit keine Parlamentsbeteiligung eingeführt? ({2}) Zumindest mit Blick auf die Zeit bis 2005 können Sie wohl nicht sagen, dass es an uns gelegen habe. ({3}) Ich vermute, dass es nicht an den Grünen lag, sondern daran, dass Sie selbst es nicht als sinnvoll erachtet haben. Da hatten Sie recht: Wir sind als Parlament keine Genehmigungsbehörde. ({4}) Das ist klassische Aufgabe von Verwaltung und Regierung. Der Kollege Fritz hat es vorhin ausgeführt. Aber wir üben parlamentarische Kontrolle aus. Diese Aufgabe müssen wir ernst nehmen. Ich bin zum Beispiel in dem Punkt, den Sie in Ihrem Antrag aufführen, nämlich dass die Rüstungsexportberichte schneller vorgelegt werden müssen, völlig Ihrer Meinung. Frau Kollegin Keul hat es ebenfalls angesprochen. ({5}) Aber warum Sie jetzt plötzlich bei der Frage der Parlamentsbeteiligung auf die Position der Linken umschwenken, ist mir nicht erklärbar. ({6}) - Diese Position haben Sie übernommen. Ich möchte über die Gründe nicht spekulieren; das ist Ihre Sache. Mich stört aber, dass Sie in Ihrem Antrag unterschwellig den Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung bei der Genehmigung von Exportgeschäften seit Ihrem Ausscheiden aus der Regierung plötzlich verantwortungslos handelt. ({7}) Das ist nicht gerechtfertigt; das wissen Sie auch. Deswegen verwenden Sie in Ihrem Antrag vorsichtshalber auch nur Formulierungen wie „es könnte sein“, „es besteht die Gefahr, dass … “ und „das kann dazu führen“. Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, dass die Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus Ihrer rot-grünen Regierungszeit und der Gemeinsame Standpunkt der Europäischen Union aus 2008 unverändert Grundlage für Genehmigungen sind. Die christlichliberale Koalition hat daran nichts geändert. Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfolgen einzelfallbezogen unter besonderer Berücksichtigung der außenpolitischen Position und der Menschenrechtslage im Empfängerland. Genehmigungen werden nur erteilt, wenn zuvor der Endverbleib im Endempfängerland sichergestellt ist. Auch an diesem Verfahren haben wir nichts geändert. Die Kriterien, die in Ihrer Regierungszeit galten, gelten auch heute noch.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Dr. Reinhard Brandl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich gestatte sie.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Dann hat der Kollege Ströbele jetzt Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. - Sie haben mich aufmerken lassen, als Sie gesagt haben, der Endverbleib werde sichergestellt. Wie wird er sichergestellt? Was sagen Sie dazu, dass die Regierung des Landes, in das geliefert wird - das gilt zum Beispiel im Fall von Mexiko -, nicht einmal darüber informiert wird, dass es eine Einschränkung gibt? Wie soll angesichts dessen der Endverbleib sichergestellt werden? Können Sie mir das erklären?

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist richtig, dass es Fälle wie den gibt, den Sie ansprechen. Wir erfahren davon manchmal aus der Presse. Auch ich habe mich geärgert, als ich Gaddafi gesehen habe oder als gemeldet wurde, dass Heckler & Koch Waffen in eine Unruheprovinz geliefert haben soll. ({0}) Der Punkt ist: Das müssen wir aufklären. Im Fall von Heckler & Koch sind Gerichte dafür zuständig. Diese Ermittlungen warten wir ab. Jedes Jahr werden viele Anträge gestellt. Ich glaube, es sind 16 000 Anträge. Das ist eine große Zahl. ({1}) Wenn es in Einzelfällen zu Problemen kommt, dann muss man daraus lernen. Das ist ja richtig. ({2}) Vielen Dank für die Zwischenfrage, Herr Kollege. Es gibt einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag, der mich stört. Sie stellen sehr undifferenziert jede mögliche Ausweitung von Rüstungsexporten als Gefahr für den Frieden dar. Es findet sich zum Beispiel kein Hinweis darauf, dass der größte Teil der tatsächlich ausgeführten Kriegswaffen in NATO-, der NATO gleichgestellte oder EU-Länder geht. 2009 waren es 76 Prozent. Da stellt sich die Frage, wie Sie es grundsätzlich mit der deutschen Rüstungsindustrie halten. Mich stört die Doppelzüngigkeit, mit der hier manchmal gesprochen wird. Wir fordern hier immer wieder - diesbezüglich gibt es einen breiten Konsens -, dass die Bundeswehr für ihre Aufgaben bestmöglich ausgerüstet wird. Ich bin froh, dass wir wesentliche Kompetenzen dafür in unserem eigenen Land haben. Das liegt in unserem ureigenen sicherheitspolitischen Interesse. Es versteht wirklich jeder, dass man mit dem Export von Rüstungsgütern sehr sensibel umgehen muss. In Deutschland haben wir ein Genehmigungs- und Kontrollverfahren dafür gefunden. Das haben Sie in Ihrer Regierungszeit praktiziert, und wir haben es fortgeführt. Deshalb ist es unfair, eine ganze Branche und damit die Arbeit vieler Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Betrieben pauschal zu verurteilen, als unethisch zu bezeichnen und diese Menschen damit in eine bestimmte Ecke zu stellen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege Jan van Aken.

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte nur kurz auf die Debatte, die wir in der letzten Woche hier geführt haben, zurückkommen. Herr Fritz, ich habe Sie in der letzten Woche an dieser Stelle einen Rüstungslobbyisten genannt. ({0}) Das würde ich gerne zurücknehmen, weil ich noch nicht weiß, ob Sie ein Rüstungslobbyist sind oder nicht. Ich weiß das von einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion. Herr Kauder zum Beispiel vertritt gerne Heckler & Koch als Anwalt. Von Ihnen weiß ich das aber nicht. Deswegen entschuldige ich mich an dieser Stelle für diesen Vorwurf. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Fritz, wollen Sie antworten?

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme das gerne entgegen, Herr Präsident.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Daher schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/5054 und 17/5204 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktionen der Sozialdemokraten und des Bünd- nisses 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Aus- schuss. Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Überwei- sungsvorschläge sind abgelehnt. Jetzt lasse ich über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, nämlich Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft Vizepräsident Eduard Oswald und Technologie. Wer stimmt für diese Überweisungs- vorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Überweisungsvorschläge sind angenommen. Damit liegt die Federführung zu beiden Vorlagen beim Aus- schuss für Wirtschaft und Technologie. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze - Drucksache 17/5178 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Krankenhausinfektionen vermeiden - Tödliche und gefährliche Keime bekämpfen - Drucksache 17/4489 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Prävention von Krankenhausinfektionen verbessern - Drucksache 17/5203 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat zunächst Bundesminister Dr. Philipp Rösler. ({3})

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005311

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Schätzungen zufolge gibt es jährlich 400 000 bis 600 000 sogenannte Krankenhausinfektionen und aufgrund solcher Infektionen jährlich circa 7 500 bis 15 000 tote Menschen in Deutschland. Es trifft dann meist die Älteren, die Schwachen und im wahrsten Sinne des Wortes die Kranken im System. All diese Menschen haben keine Lobby. Sie haben keine Interessenvertreter - mit einer Ausnahme: Diejenigen, die genau die Interessen dieser Menschen vertreten, sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages; denn die Initiative zu diesem Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes stammt aus den Reihen der Abgeordneten von CDU/CSU und FDP. Das gemeinsame Ziel ist es, mit den vorhandenen guten Instrumenten - auch mit den Instrumenten, die die Vorgängerregierungen geschaffen haben - die Menschen in Deutschland künftig vor solchen Krankenhausinfektionen besser schützen zu können, als dies bisher der Fall ist. ({0}) Ein Problem bei diesen Infektionen ist nicht allein ihre hohe Zahl, sondern der Anteil an resistenten Erregern. Fachleute beziffern den Anteil der Krankenhausinfektionen in Deutschland aufgrund dieser Erreger auf bis zu 20 Prozent. In den Niederlanden - zum Vergleich beträgt dieser Anteil gerade einmal 1 Prozent. Man kann solche Resistenzen durch den richtigen Einsatz von antibiotischen Medikamenten verhindern. Deswegen sieht dieses Gesetz die Einrichtung einer „Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie“ am Robert Koch-Institut vor. Das ist eine wissenschaftliche Kommission, die Leitlinien für den richtigen Gebrauch von Antibiotika entwickeln soll. Denn uns geht es nicht nur darum, Infektionen, die es gibt, zu bekämpfen, sondern auch darum, Infektionen durch einen besseren und optimalen Einsatz von Antibiotika von vornherein zu verhindern. ({1}) Die Existenz solcher Gesetze allein reicht aus unserer Sicht nicht aus. Zum Teil gibt es zwar schon gute Empfehlungen; die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie ist hier nur ein Beispiel. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass solche Gesetze dann in der Praxis umgesetzt werden. Am Robert Koch-Institut gibt es bereits eine Kommission; sie heißt „Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention“, kurz: KRINKO. Diese Kommission hat schon längst Empfehlungen entwickelt, wie beispielsweise die Prozesse in den Kliniken, aber auch die baulichen Maßnahmen daraufhin ausgerichtet werden können, um die Anzahl von Krankenhausinfektionen künftig zu reduzieren oder sie gar ganz zu vermeiden. Das Problem ist nur, dass solche Vorschläge bisher nur empfehlenden Charakter haben. Mit diesem Gesetz bekommen diese Fachempfehlungen eine höhere Verbindlichkeit. Wir stellen damit sicher, dass es nicht nur gute Gesetze und nicht nur gute Vorgaben gibt, sondern dass diese Vorgaben im klinischen Alltag auch umgesetzt werden. So können die Menschen vor Krankenhausinfektionen besser geschützt werden. ({2}) Erreichen wollen wir dies, indem wir den Ländern die Möglichkeit geben, ohne ein eigenes Landeshygienegesetz eine Hygieneverordnung auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes des Bundes auf den Weg zu bringen. Bisher gibt es nur sieben Bundesländer, die eine solche eigene Hygieneverordnung haben. Wir wollen nicht nur, dass mehr Länder Hygieneverordnungen auf den Weg bringen und dass sie dies schneller tun, sondern wir wollen auch möglichst einheitliche Standards. Nach diesem Gesetzestext wäre die Einheitlichkeit dadurch gegeben, dass immer dann davon auszugehen ist, dass man den Stand der Wissenschaft eingehalten hat, wenn man die Empfehlungen der KRINKO befolgt. Damit stellen wir beide Ziele sicher: mehr und schneller erlassene Hygieneverordnungen auf Landesebene und gleichzeitig eine Vereinheitlichung. Erreger machen nicht an Landesgrenzen halt. Deswegen hat es Sinn, die Schutzmaßnahmen nicht an Landesgrenzen auszurichten, sondern möglichst bundeseinheitlich auszugestalten. Ebenso wollen wir dafür sorgen, dass die Ergebnisse solcher Maßnahmen künftig gemessen werden können und diese Ergebnisse veröffentlicht werden, damit die Menschen ein Stück weit selbst einen Einblick in die Hygienesituation in den jeweiligen medizinischen Einrichtungen bekommen. Auch das kann bewirken, dass der Anreiz für die Kliniken größer wird, selber für bessere Hygienemaßnahmen zu sorgen. Ebenso möchten wir, dass die Menschen, die heute mit resistenten Erregern befallen sind, schon im ambulanten und nicht erst im stationären Bereich als Hochrisikopatient erkannt werden und dass sie, noch bevor sie mit solchen hochresistenten Stämmen stationär im Krankenhaus aufgenommen werden, davon befreit, also saniert werden. Dadurch wird verhindert, dass sich solche Erreger in den Kliniken verbreiten. Wir wollen die betroffenen Menschen, wie gesagt, von vornherein im ambulanten Bereich von diesen Erregern befreien und damit einen höheren Schutzgrad in den Kliniken erreichen. ({3}) Insgesamt können wir feststellen, dass es schon heute durchaus gute Maßnahmen gibt, zum Beispiel die „Aktion Saubere Hände“, die ganz konkret in den klinischen Alltag integriert werden können. Wir brauchen aber weitere Instrumente; wir haben einige vorgeschlagen. Fachleute gehen davon aus, dass man die Zahl der Infektionen durch bessere Hygienemaßnahmen langfristig um 20 bis 30 Prozent senken kann. Es sollte unser gemeinsames Ziel sein, die Zahl der Krankenhausinfektionen zum Schutz der Patientinnen und Patienten zu senken. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Als Nächste hat das Wort unsere Kollegin Bärbel Bas von der Fraktion der Sozialdemokraten. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004006, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat ein äußerst wichtiges Thema. Das Robert Koch-Institut - dessen Namensgeber hat nicht grundlos einen Nobelpreis für seine Forschung in dem Bereich bekommen und gilt heute als Vorreiter für die moderne Krankenhaushygiene - setzt Standards und gibt Empfehlungen. Aber das Problem, das wir in der Tat haben - das haben Sie richtig beschrieben, Herr Minister -, ist, dass diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden; sonst müssten wir uns heute hier im Hause nicht über dieses Thema unterhalten. Ich glaube, wir brauchen uns nicht über die Zahl, wie viele Menschen sich infizieren, zu streiten. Jeder Einzelne ist einer zu viel. Wer mit Menschen gesprochen hat, die Angehörige durch solch eine Infektion im Krankenhaus verloren haben, weiß das. Diese Infektionen können auch Amputationen zur Folge haben. Der Leidensweg für die Betroffenen ist lang. Zu dem Leid des Einzelnen kommen die hohen Kosten der Behandlung solcher Infektionen hinzu. Was müssen wir tun? Wie können wir eine Lösung finden? Ich weiß, dass ein Argument ist, dass wir auf der Bundesebene nicht viel tun können, weil die Krankenhäuser Länderangelegenheit sind. Wir sollten uns, wenn wir Ihren Gesetzentwurf betrachten, fragen, ob wir alle nicht mutiger sein sollten. Es gibt schon jetzt über alle Fraktionen hinweg weitaus bessere Vorschläge, die Krankenhaushygiene zu verbessern. Ich weiß, dass selbst die Kollegen Ihrer eigenen Fraktion deutlich weitreichendere Vorschläge gemacht haben, als man sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf findet. Das finde ich bemerkenswert. Sie haben zum Beispiel gesagt, dass die Länder die Verordnung jetzt umsetzen sollen; bisher hätten das nur sechs oder sieben Länder getan. Das ist richtig; aber dann müssen Sie, finde ich, den Ländern eine Frist setzen. Es bringt nichts, dies auf den Sankt-NimmerleinsTag zu vertagen. Die Länder sollten nicht wieder unendlich viel Zeit haben, um etwas für die Krankenhaushygiene zu tun. Kollege Spahn und ich sind beide aus NRW. Es gibt dort ein bemerkenswertes Projekt, bei dem es ein Screening von Risikopatienten direkt bei der Aufnahme im Krankenhaus gibt. Dieses anerkannte Projekt hat schon tolle Erfolge erzielt. Ich verstehe nicht, warum so etwas nicht als Standard in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen wird. ({0}) Ich denke, es ist eine wichtige Entscheidung, Risikopatienten direkt bei Aufnahme zu screenen. Die Daten und Zahlen, die wir dabei gewinnen, müssen ausgewertet und transparent gemacht werden. Vor allen Dingen ist es wichtig, sie der Forschung zur Verfügung zu stellen, damit herausgefunden werden kann, warum es zu diesen Infektionen kommt. Außerdem brauchen wir deutlich mehr Fachpersonal; das werden auch meine Kollegen sicherlich noch ansprechen. Wir haben auf diesem Gebiet schon Know-how verloren, und zwar massiv. Selbst wenn wir jetzt auf Bundesebene die Forderung aufstellen, dass es ab einer Krankenhausgröße von 300 oder 400 Betten in jedem Krankenhaus Hygienefachärzte gibt, müssen wir feststellen: Wir können diese Forderung nicht erfüllen, weil das nötige Hygienefachpersonal nicht vorhanden ist. Dennoch finde ich, dass eine solche Regelung, bezogen auf eine bestimmte Bettenanzahl oder Fallzahl, auf jeden Fall als Standard in dieses Gesetz gehört. Ich glaube, Ihre FDP-Kollegen haben eine Größenordnung von 30 000 Fällen vorgeschlagen. Diese Regelung sollte man in das Gesetz aufnehmen. Man darf nicht so vage bleiben. ({1}) Ein weiterer Aspekt ist - ich habe das mit Spannung gelesen; deswegen will ich darauf zu sprechen kommen -: Sie sagen, dass ambulant tätige, niedergelassene Ärzte Sanierungen durchführen und dafür eine Abrechnungsziffer bekommen sollen. Ich persönlich halte das - abgesehen davon, dass es vielleicht Geldverschwendung ist medizinisch bzw. aus hygienischen Gründen nicht für sinnvoll. Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Patient wird, eine Woche oder 14 Tage nachdem er beim Arzt war, ins Krankenhaus aufgenommen. In der Zwischenzeit war er vielleicht im Pflegeheim oder zu Hause und hat sich den Keim schon wieder irgendwo anders eingefangen. Ich finde, es ist medizinisch sinnvoller, in ein Aufnahmescreening in einer stationären Einrichtung zu investieren, als es im ambulanten Bereich durchführen zu lassen. Ich glaube, es bringt uns in Sachen Hygiene überhaupt nicht weiter, das Aufnahmescreening weiterhin niedergelassenen Ärzten zu überlassen. Das macht für mich in medizinischer und hygienischer Hinsicht keinen Sinn. ({2}) Wir brauchen Eingangsscreenings im Hinblick auf Risikogruppen. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Ihren Blick nach NRW zu richten, sich mit dem Projekt, von dem ich sprach, zu beschäftigen und sich die entsprechenden Zahlen anzuschauen. Es wurde in diesen Bereich investiert. Es ist nachgewiesen, dass sich Investitionen in die Krankenhaushygiene im Verhältnis 1 zu 10 rechnen. Ich finde, das ist bemerkenswert und auf Bundesebene nachahmenswert. Ich kann Sie nur auffordern, alle Vorschläge, die auf dem Tisch liegen - seien sie von den Linken, seien es unsere Vorschläge zum Hygienepersonal, seien sie von Ihrer eigenen Fraktion -, ernst zu nehmen und diesen Gesetzentwurf deutlich zu verbessern. Wir brauchen eine Verbesserung im Bereich der Hygiene, damit die Menschen, wenn sie ins Krankenhaus kommen, keine Angst mehr haben müssen, dass sie sich möglicherweise infizieren und das Krankenhaus noch kränker verlassen, als sie es waren, bevor sie ins Krankenhaus kamen. Herzlichen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. - Als Nächster hat unser Kollege Lothar Riebsamen von der Fraktion der CDU/CSU das Wort. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob im Krankenhaus, in der Praxis, im Pflegeheim - geschwächte Menschen geben sich überall, wo sie unterwegs sind, jeden Tag millionenfach die berühmte Klinke in die Hand. Nun möchte ich nicht behaupten, dass die Türklinken in diesem Zusammenhang das größte Problem sind. Aber in der Tat - der Herr Minister hat es erwähnt - ist die Zahl der Krankenhausinfektionen und vor allem die Zahl derjenigen, die daran sterben, allzu hoch. Diese Zahl ist sogar höher als die der Verkehrstoten, die wir in diesem Land jedes Jahr zu verzeichnen haben. Es ist daher richtig, dies zu ändern. Heute ist somit ein guter Tag für die Patientinnen und Patienten in unserem Land. ({0}) Ich denke, es ist nicht nur ein guter Tag, sondern auch ein gutes Jahr für die Patientinnen und Patienten. Denn wir bringen nicht nur diesen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes in den Bundestag ein, sondern wir werden ihm auch ein Patientenschutzgesetz folgen lassen, um die flächendeckende Versorgung mit Ärzten im Land sicherzustellen. Außerdem werden wir, ebenfalls noch in diesem Jahr, ein Patientenrechtegesetz erarbeiten, mit dem wir dafür sorgen werden, dass sich Patienten und Leistungserbringer mehr auf Augenhöhe begegnen. ({1}) Im europäischen bzw. im internationalen Vergleich stehen wir übrigens gar nicht so schlecht da. Es gibt Länder, in denen die Infektionsraten noch höher sind als in Deutschland. Allerdings gibt es auch Länder, die deutlich geringere Infektionsraten zu verzeichnen haben. Wir müssen und wollen uns an den Ländern orientieren, die es bisher besser machen als wir. ({2}) Die Problematik liegt vor allem darin, dass viele Infektionen durch zunehmend resistente Keime entstehen, die dann nur schwer therapierbar sind und eine sehr lange Behandlungsdauer erfordern. Es kommt hinzu, dass unsere Gesellschaft älter wird. Älter werdende Patienten sind natürlich noch anfälliger. Deswegen werden wir drei Wege gehen, um zu einer Verbesserung der Situation zu kommen: Erstens. Wir werden mit diesem Gesetz die Hygienequalität unmittelbar in den Einrichtungen verbessern. Zweitens. Wir werden für einen sachgerechteren Einsatz von Antibiotika sorgen, um Resistenzen zu minimieren. Drittens. Wir werden sektorübergreifend für mehr Prävention sorgen. ({3}) Ich komme zu meinem ersten Punkt: die Verbesserung der Hygienequalität. Dazu brauchen wir alle Bundesländer im Boot. ({4}) Wir haben es gehört: Es sind bisher sieben Bundesländer im Boot. Baden-Württemberg gehört seit dem 1. Januar 2011 dazu. 7 Bundesländer von 16 haben eine Hygieneverordnung erlassen. Daran mag man erkennen, dass die Priorität noch nicht in allen Ländern an der gleichen Stelle gesetzt wird. Wir werden die Länder daher motivieren, im föderativen Wettbewerb zu handeln. Wir werden aber auch für Wettbewerb um Qualität innerhalb der Einrichtungen sorgen. Es ist richtig, den Richtlinien zur Krankenhaushygiene, die es beim Robert Koch-Institut bereits gibt, Gesetzes-charakter zu verleihen, um ihnen mehr juristisches Gewicht zu geben. Es muss klar sein, dass die Einhaltung des Standes der Technik und der Wissenschaft zukünftig verpflichtend sein muss. Ein Baustein dafür wird ein Mehr an Qualitätssicherung und Transparenz sein. Dafür ist es notwendig, Indikatoren zu schaffen, die eine Vergleichbarkeit ermöglichen. Wir werden den Gemeinsamen Bundesausschuss auffordern, den Kliniken, den Einrichtungen und uns entsprechende Indikatoren vorzugeben. Die Risikolage ist von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich. Es reicht nicht aus, schlicht und ergreifend Informationen über die Anzahl der Infektionen ans Schwarze Brett zu tackern oder im Internet zu veröffentlichen. Wir brauchen Vergleichbarkeit. Es muss für jeden nachvollziehbar sein - auch für die Patientinnen und Patienten -, ob es sich um eine vermeidbare Infektion handelt. Kolibakterien haben beispielsweise nichts in einem Hüftgelenk zu suchen. ({5}) Es muss für jeden nachvollziehbar sein, ob es sich um einen deutlich komplexeren Sachverhalt handelt. ({6}) Es nützt herzlich wenig, Pläne zu machen, wenn diese Pläne nicht umgesetzt werden. Deswegen werden wir auch Vorgaben zur Umsetzung machen. Ich habe am Wochenende mit einem Architekten geredet, der den Auftrag hat, einen OP-Saal zu sanieren, auch in hygienischer Hinsicht. Er hat mir erzählt, dass während seiner ersten Aufnahme der Situation ein leitender Mitarbeiter mit einem Tablett voller Wurstbrötchen durch den aseptischen Bereich des OPs gewandelt ist. Da nützen Hygienerichtlinien natürlich nichts. ({7}) Da nützen auch große bauliche Maßnahmen nichts. Der Faktor Mensch spielt eine große Rolle. Deswegen kommt den Führungskräften in den Häusern eine besondere Verantwortung zu. Sie dürfen es nicht ignorieren, wenn im nachgeordneten Bereich Fehler gemacht wurden. Mit diesem Gesetz werden die Leiter der Einrichtungen zukünftig in Haftung genommen, wenn unsere Vorgaben nicht eingehalten werden. ({8}) Ein zweiter Punkt ist der gezieltere Einsatz von Antibiotika, um Resistenzen zu minimieren. Wir werden eine neue Kommission einrichten, die sich mit antiinfektiver Resistenz und Therapie beschäftigt. Die erarbeiteten Standards werden Gesetzescharakter und dadurch ein größeres juristisches Gewicht erhalten. Der Gemeinsame Bundesausschuss wird verpflichtet, diese Indikatoren auf der Grundlage der etablierten Systeme - Erfassung, Auswertung und Rückkopplung - für einen rationalen Einsatz zu erarbeiten, damit Antibiotika nur dort eingesetzt werden, wo es tatsächlich auch angezeigt ist. Ein dritter Punkt ist die sektorübergreifende Prävention. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf entsprechende Anreize schaffen und die vertragsärztliche Vergütung verändern. Das Screenen von Risikopatienten, zum Beispiel vor planbaren Operationen, und das Sanieren wird vergütet, um das Risiko innerhalb der Kliniken und auch sektorübergreifend - wie gesagt: Der Erreger kann vom Krankenhaus ins Pflegeheim oder in die Praxis transportiert werden - zu reduzieren. Mit der Änderung dieses Infektionsschutzgesetzes werden wir eine deutliche Verbesserung für die Patienten in Bezug auf ihr Leid erlangen, ({9}) aber wir werden auch ein deutliches Mehr an Wirtschaftlichkeit für die Krankenhäuser und auch für die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt erreichen. ({10}) Freilich sind Vorleistungen der Einrichtungen notwendig, und es gibt eine große Anzahl von Krankenhäusern, die Risikopatienten vor geplanten Operationen auch bisher schon screenen und isolieren, wenn dies notwendig ist. Dies hat sich bewährt. Diese Krankenhäuser haben kapiert, dass es sich rechnet. Sie haben kapiert, dass man zuerst zwar Geld in die Hand nehmen muss, es zum Schluss aber günstiger und wirtschaftlicher für sie ist, das Screening durchzuführen. Zukünftig haben wir hinsichtlich der Qualität ein Mehr an Wettbewerb in unseren Einrichtungen, und wir haben zukünftig mehr Transparenz in den Einrichtungen. Dadurch erreichen wir mehr Sicherheit für die Patientinnen und Patienten. Deswegen gibt es mit diesem Gesetzentwurf, mit der Vermeidung von Infektionen, nur Gewinner. Die größten Gewinner sind die Patienten in unserem Land. Herzlichen Dank. ({11})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Als Nächster hat unser Kollege Harald Weinberg von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Gesetzentwurf zur Krankenhaushygiene kommt zu spät. ({0}) Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Linksfraktion, meine Fraktion, hat bereits 2009 einen Antrag zur Bekämpfung von Krankenhausinfektionen vorgelegt. Das Robert Koch-Institut hat gute Richtlinien erlassen. Die Niederlande und andere Staaten zeigen, wie die Zahl der Krankenhausinfektionen durch konsequente Hygienestandards wirksam gesenkt werden kann. Während die schwarz-gelbe Koalition durch die Schweinegrippe zu großem Aktionismus befeuert wurde, sah die Bundesregierung beim Thema Krankenhaushygiene jahrelang weg. Tausende Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn früher effektive Maßnahmen ergriffen worden wären. ({1}) An Krankenhausinfektionen sterben in Deutschland mehr Menschen als an den Folgen von Verkehrsunfällen, illegalen Drogen, Aids und Selbsttötungen zusammengenommen. Sogar der Bund spricht in seiner Gesundheitsberichterstattung von bis zu 40 000 Toten jedes Jahr. Das sind bis zu 100 Tote jeden Tag. Dieser Zustand war und ist durch nichts zu rechtfertigen. ({2}) Hinter diesen Zahlen verbergen sich tragische Einzelschicksale. Insbesondere Patienten mit einem relativ schwachen Immunsystem sind betroffen, also Neugeborene und ältere Menschen. Im epidemiologischen Bericht der EU über Infektionskrankheiten von 2010 wird die Zunahme von Krankenhausinfektionen noch vor der Bedrohung durch pandemische Influenza und HIV als größte Gefahr eingeordnet. Verlaufen diese Infektionen nicht tödlich, können sie trotzdem schwerwiegende Schädigungen an verschiedenen Organen hervorrufen. Bleibende Behinderungen und Amputationen können die Folge sein. Wirksame Maßnahmen für die Verbesserung der Krankenhaushygiene sind also mehr als überfällig: Erstens. Die von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut aufgestellten Richtlinien müssen flächendeckend umgesetzt werden. ({3}) Zweitens. Es ist eine grundsätzliche Meldepflicht für Infektionen mit multiresistenten Keimen und ein verbindliches Screening bei der Aufnahme in stationäre Einrichtungen einzuführen. ({4}) Drittens. An allen Krankenhäusern müssen Fachärztinnen und Fachärzte für Hygiene und Hygienefachkräfte die Einhaltung von Hygienestandards sicherstellen. Wir brauchen bundeseinheitliche wirksame Sanktionen für den Fall, dass dagegen verstoßen wird. ({5}) Viertens. Durch die Vergütungsregelungen und Investitionszuschläge für Krankenhäuser müssen Anreize für die Einhaltung von Hygienestandards geboten werden. Fünftens. Es müssen entsprechende Fachkräfte ausgebildet werden, weil es bis jetzt so wenige gibt. Sechstens. Der massenhafte Einsatz von Antibiotika in der kommerziellen Tierhaltung und auch die übermäßige Anwendung beim Menschen haben zu einer dramatischen Zunahme von multiresistenten Keimen geführt. Der Antibiotikaeinsatz ist daher auf das medizinisch notwendige Maß zu beschränken. ({6}) All dies haben wir schon mit unserem Antrag von 2009 gefordert. Unseren damaligen Antrag lehnte die Union übrigens mit der Begründung ab, die Bundesregierung sei, soweit ihre Zuständigkeit das zulasse, bereits tätig geworden. Es gebe mit dem Infektionsschutzgesetz und den Krankenhaushygieneverordnungen schon effektive Regelungen zur Prävention. Deswegen hat die Union damals den Antrag abgelehnt. Die FDP, damals Oppositionsfraktion, meinte, dass für die Einhaltung hygienischer Standards in erster Linie die Krankenhäuser selbst die Verantwortung trügen. Die Bundesregierung dürfe hierfür nicht verantwortlich gemacht werden. Deswegen hat sie damals dem Antrag nicht zugestimmt. - Auf einmal geht es doch. ({7}) Nachdem die Presse häufiger über skandalöse Zustände und Tote in Krankenhäusern berichtet hat, konnten Sie die Suche nach einer Lösung für das Problem offensichtlich nicht weiter auf die lange Bank schieben. Es bewegt auch die Bürgerinnen und Bürger: Allein in der letzten und in der aktuellen Wahlperiode sind 20 Petitionen, also Eingaben und Beschwerden von Betroffenen und Bürgern, zum Thema Krankenhaushygiene beim Deutschen Bundestag eingegangen. In diesen Tagen fühle ich mich an die Geschichte von Ignaz Semmelweis erinnert. Das war ein ungarischösterreichischer Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts - also vor 150 Jahren - das verstärkte Auftreten von Kindbettfieber in Krankenhäusern mit Gebärstationen auf mangelnde Handhygiene bei den Ärzten und dem Personal zurückgeführt hat. Seine Erkenntnisse wurden von der Mehrheit seiner Fachkollegen damals als spekulativer Unfug abgelehnt, weil sie nicht zur herrschenden Lehrmeinung passten. Semmelweis starb im Irrenhaus, und es gab Gerüchte, die besagen, er sei von seinen eigenen Ärztekollegen dorthin abgeschoben worden, weil er zu unbequem war. ({8}) Seine Erkenntnisse zur Krankenhaus- und Handhygiene setzten sich erst zwei Ärztegenerationen später zu Anfang des 20. Jahrhunderts durch. Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Betroffenen darauf verlassen können müssen, sich im Krankenhaus nicht neue, weitere und schwerwiegende Krankheiten zuzuziehen. Es ist zu hoffen, dass es nicht zwei Generationen dauert, bis das der Fall ist. ({9}) Nun bewegt sich die Regierung endlich in die richtige Richtung. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierung bleibt aber hinter dem zurück, was möglich und notwendig ist, um Deutschland in Sachen Krankenhaushygiene in die europäische Spitzengruppe zu führen. Wir werden in den weiteren Beratungen darauf drängen, dass die erforderlichen Verbesserungen vorgenommen werden. Vielen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste hat unsere Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte, Frau Kollegin.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ganz so martialisch wie mein Vorredner will ich nicht an das Thema herangehen. Es ist zwar leicht, am Ende eines Erkenntnisprozesses zu sagen: „Wir haben es schon immer besser gewusst; jetzt kommt zum Glück die Erkenntnis zum Tragen“, ({0}) aber ich glaube, man muss ein bisschen fairer damit umgehen. ({1}) - Wie gnädig. In der Tat liegt ein Gesetzentwurf zur Verbesserung der Krankenhaushygiene vor, dessen Inhalt noch vor zwei Jahren vom größeren Teil dieses Hauses abgelehnt worden ist. Das sehe ich genauso. Man sieht, dass es einen längeren Erkenntnisprozess gegeben hat, der zu der Einsicht geführt hat, dass wir nicht weiter nur auf freiwillige Maßnahmen und das Engagement der Länder und Kommunen bei der Hygieneüberwachung setzen können, sondern auf allen Ebenen konsequent arbeiten müssen. So lässt sich die Vorgeschichte beschreiben. Es ist zwar nicht verkehrt, auf die verschiedenen freiwilligen Instrumente einzugehen. Diese nutzen wir auch in vielen anderen Bereichen. Man muss aber deutlich sagen, dass der Erkenntnisgewinn zu lange gedauert hat. Ich selber komme aus Münster. Dort kann man erleben, dass konsequentes Handeln und ein strikter Hygiene- und Präventionsplan dazu führen, dass die Infektionsraten in den Krankenhäusern massiv gesenkt werden können, nämlich auf ungefähr 1 Prozent wie in den Niederlanden. Als Münsteranerin weiß ich auch, dass man, wenn man einen Unfall hat und in ein grenznahes Krankenhaus kommt, als Risikopatient gilt, weil wir - jedenfalls bislang - so schlechte Hygienestandards haben. Das alles ist ernst zu nehmen und ein Hinweis darauf, dass wir große Defizite haben. Der Gesetzentwurf versucht, einige Problemfaktoren anzugehen, und zwar vor allen Dingen mit Regelungen, die über die Länderverordnungen zum Tragen kommen sollen. Ein Defizit ist aber, dass Sie die Dinge, die man im Bundesinfektionsschutzgesetz regeln könnte, nicht auch dort regeln, zum Beispiel das Instrument des Screenings, das sich in den Niederlanden so gut bewährt hat. Warum gibt es dazu keine gesetzliche Vorgabe im Bundesinfektionsschutzgesetz? Das leuchtet mir nicht ein. Eine solche Vorgabe würde dazu führen, dass wir bundesweit einen bestimmten Standard hätten, der überall - sowohl in Krankenhäusern als auch in anderen Einrichtungen - einzuhalten wäre. ({2}) Diesen wichtigen Schritt könnte man gehen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Sie dieses Problem, obwohl wir eine Bundeskompetenz dafür haben, nicht auf Bundesebene angehen. Die Niederlande profitieren davon, dass sie seit Jahrzehnten eine sehr restriktive Antibiotikastrategie haben. Was machen wir? Wir setzen erneut eine Kommission ein. Es gab ja schon eine Vorläuferkommission; ich konnte bei meiner Recherche allerdings keinerlei Ergebnisse oder Zwischenberichte finden. Die neue Kommission soll jetzt zwar verbindliche Empfehlungen abgeben, aber das wird dauern. Wir brauchen einen ganz konkreten Plan, um in der ambulanten medizinischen Versorgung wirklich zu einem viel restriktiveren Antibiotikaeinsatz zu kommen. Wir wissen alle, dass eine neue und sehr gefährliche Quelle von MRSA die Landwirtschaft, die Tierzucht, ist. Was ist diesbezüglich vorgesehen? Dieser gesamte Bereich ist in dem Gesetzentwurf komplett ausgeklammert worden. Es gibt keine gezielten Maßnahmen für die Beschäftigten in der Landwirtschaft. Ich habe keinen einzigen Ansatz in diesem Papier dazu gefunden, was wir in landwirtschaftlich geprägten Regionen ganz gezielt machen müssen, um zu weiteren Fortschritten zu kommen. ({3}) Da besteht ein massiver Nachbesserungsbedarf. Der Gesetzentwurf liefert aber eine gute Vorlage, um im Sinne des Patientenschutzes voranzukommen. Ich bitte aber darum, zusätzlich die Frage eines neuen EBM noch einmal genauer zu betrachten. Es geht nicht darum, Anreize zu schaffen. Es geht darum, wirksame Instrumente wie das Screening sehr zielgerichtet einzusetzen, und zwar nicht als zusätzliche Einkommensmöglichkeit für Ärzte, sondern um im Übergang zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sowohl Risiken auszuschließen als auch die Sanierung von MRSA zu gewährleisten. Heute liegt tatsächlich ein Vorschlag für einen Schritt in Richtung Patientenschutz auf dem Tisch. Wir müssen allerdings zusehen, dass er auch wirklich stringent und tatkräftig umgesetzt wird. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster hat unser Kollege Lars Lindemann von der Fraktion der FDP das Wort. ({0})

Lars Lindemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004095, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Weinberg, die Regierung hat nichts auf die lange Bank geschoben, wie Sie ganz am Anfang behauptet haben. Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode sehr bemüht, das Thema aufzugreifen. Es hat zwar eine gewisse Zeit gedauert, bis wir zu diesem Entwurf gekommen sind. Aber das Thema stand von Anfang auf der Agenda. ({0}) Das Eingeständnis des Zurückbleibens hinter eigentlich als selbstverständlich empfundenen Hygienestandards im Gesundheits- und Pflegebereich in Deutschland ist nicht angenehm. Es ist auch keine annehmbare Botschaft für die Patientinnen und Patienten in unserem Land. Darüber sind wir uns alle einig; das brauchen wir, denke ich, hier nicht weiter zu erörtern. Unser Problem liegt darin, dass es viele unterschiedliche Versorgungseinrichtungen in diesem Land gibt, die mit großer Selbstverständlichkeit Hervorragendes auf dem Gebiet der Hygiene leisten, jedoch nicht alle so erfolgreich sind, wie wir uns das wünschen und vorstellen. Daran müssen wir miteinander arbeiten. Dies erkennend, geht es in dem von der Koalition vorgelegten Gesetzentwurf nicht in erster Linie darum, das Verhalten Einzelner zu pönalisieren oder öffentlich zu sanktionieren, sondern darum, die systemischen Unzulänglichkeiten - so will ich das nennen - herauszuarbeiten und diesen dann mit gesetzgeberischem Handeln entgegenzuwirken. ({1}) Wir haben festzustellen, dass jedes Jahr in Deutschland Tausende Menschen an Infektionen, die sie sich in verschiedenen Versorgungsbereichen zuziehen, erkranken und schlimmstenfalls auch sterben. Das Risiko im Vergleich zum Straßenverkehr ist hier bereits mehrfach beschrieben worden. Diese Auffassung teilen wir. Wir haben in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die Zahl schwer behandelbarer Infektionen, ausgelöst durch mehrfach resistente Erreger, seit Jahren zunimmt. Ebenso ist festzustellen, dass ein übermäßiger und undifferenzierter Einsatz von Antibiotika - auch in der Tierzucht - ganz wesentlich zu Entstehung und Vermehrung neuer resistenter Keime beigetragen hat. Schließlich haben wir festzustellen, dass es regional gut funktionierende Netzwerke gibt, die sich der Problemlage angenommen haben, jedoch leider nicht flächendeckend. Die Analyse des Vorgehens anderer Länder, aber auch der Ergebnisse einiger Modellprojekte - auch aus Ihrem Heimatort, Frau Klein-Schmeink - zeigt, dass es Ansätze gibt, die man verfolgen kann. Die Schlussfolgerungen, die wir daraus gezogen haben, sind in den Gesetzentwurf aufgenommen worden. ({2}) Durch Verbesserung der Hygienequalität und Veränderung des Einsatzes von Antibiotika lassen sich tausendfaches Leid vermeiden und erhebliche Kosten sparen; darauf ist schon hingewiesen worden. Die Ersparnisse werden weit über den Aufwendungen liegen, die die Umsetzung des Gesetzes nach sich ziehen wird. Es ist deshalb richtig, dass nun alle Bundesländer verpflichtet werden, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes Hygieneverordnungen zu erlassen, die sodann beispielsweise die erforderliche Ausstattung mit Hygienefachkräften in den adressierten Einrichtungen verbindlich vorschreiben. Es ist richtig, dass die Empfehlungen des RKI in Sachen Hygiene für die Adressaten einen verbindlichen Charakter erhalten. Es ist zudem zielführend, dass neben der Kommission für die Erarbeitung von Hygienerichtlinien eine Kommission, die den Ursachenzusammenhang zwischen der Art und Weise der Verordnung von Antibiotika und der Entstehung von Resistenzen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, einberufen wird. Es ist richtig, dass die Verantwortlichen in den adressierten Einrichtungen verpflichtet werden, den Stand der medizinischen Wissenschaft hinsichtlich Hygiene und auch der Verordnung von Antibiotika einzuhalten haben, der sich dann in den jeweils aktuellen Empfehlungen der Kommissionen ausdrückt. Es ist richtig, dass den Leitern der adressierten Einrichtungen verpflichtend aufgegeben wird, das Auftreten von nosokomialen Infektionen bei Häufungen dem zuständigen Gesundheitsamt zu melden und über die Landesbehörden auch dem RKI mitzuteilen. ({3}) Mit den vorgesehenen Vergütungsregeln werden die Voraussetzungen für ein verbessertes Screening und die Sanierung der betroffenen Patienten geschaffen. Ich bin auf Ihrer Seite, dass wir da mehr tun können. Darüber werden wir noch Gespräche führen. Zudem wird es Vorgaben zur sektorenübergreifenden Qualitätssicherung geben, die, wenn die Indikatoren gefunden und veröffentlicht sind, zu einem qualitätsfördernden Wettbewerb führen werden. Zum Schluss. Ich freue mich über die sachorientierten Vorschläge und inhaltliche Unterstützung durch die Opposition. Sie hat konkrete Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie wir gemeinsam an einer Verbesserung arbeiten können. Ich bin zuversichtlich - und ich werbe ausdrücklich bei Ihnen, meine Damen und Herren der SPD -, dass wir uns in den anstehenden Berichterstattergesprächen über das eine oder andere auseinandersetzen können und dass es uns gelingt, unserem gemeinsamen Ziel der Reduzierung von Infektionsraten zum Schutz aller Betroffenen ein Stück weit näherzukommen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Lindemann. - Nächste auf meiner Rednerliste ist unsere Frau Kollegin Dr. Marlies Volkmer von der Fraktion der SPD. ({0})

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns hat sicherlich schon von solchen tragischen Ereignissen gehört: Jemand geht wegen einer Routineuntersuchung ins Krankenhaus und verstirbt dort an einer Sepsis. Oder ein Mensch muss nach einem Unfall künstlich beatmet werden und bekommt dann im Krankenhaus eine schwere Lungenentzündung, auf die kein Antibiotikum anspricht. Das sind leider keine bedauernswerten Einzelfälle, sondern das ist hunderttausendfache Realität in deutschen Krankenhäusern. Wir haben leider auch 7 500 bis 15 000 Todesfälle wegen Krankenhausinfektionen in Deutschland. ({0}) Diese Zahl zeigt schon ein Problem: Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Krankenhausinfektionen wir genau haben. Erstens werden nicht alle Fälle diagnostiziert, zweitens werden nicht alle Fälle gemeldet, und drittens werden die gemeldeten Fälle nicht zusammengeführt. Das ist ein unhaltbarer Zustand. ({1}) Wir brauchen eine Bewusstseinsänderung und eine Verhaltensänderung, und zwar sowohl in den Einrichtungen des Gesundheitswesens als auch in der Politik. Es darf nicht so sein, dass Hygiene das fünfte Rad am Wagen ist; denn ohne einen guten Hygienestandard gibt es keine sichere und erfolgreiche Behandlung der Patienten. Auf eine sichere Behandlung haben Patientinnen und Patienten jedoch einen Anspruch. ({2}) Daher ist es auch so wichtig, dass wir in den Universitäten wieder flächendeckend Lehrstühle für Hygiene haben. ({3}) Als ich studiert habe, gab es diese noch. Ich habe in meinem Staatsexamen noch eine Prüfung in Hygiene ablegen müssen. Das halte ich auch für richtig. ({4}) Nun geht die Bundesregierung das Problem der Krankenhaushygiene mit einem Gesetzentwurf an, aber es ist - das ist schon gesagt worden - ein äußerst zaghafter Entwurf. ({5}) Ein Beispiel sind die Antibiotikaresistenzen. Die Ursachen für Antibiotikaresistenzen sind komplex. Eine Ursache führt der Gesetzentwurf ausdrücklich auf. Es ist die unsachgemäße Verordnung von Antibiotika, und zwar sowohl für Menschen als auch für Nutztiere. Doch statt eine Strategie vorzustellen, wie man damit sinnvoll umgehen kann, gründet die Bundesregierung eine neue Kommission, ({6}) zusätzlich zur bereits bestehenden Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Aber was passiert denn, wenn die Leiter von medizinischen Einrichtungen den Empfehlungen solcher Kommissionen nicht folgen? Nichts passiert. Wir brauchen aber für solche Fälle Sanktionsmöglichkeiten, zum Beispiel in Form von Vergütungsabschlägen, die Krankenhäuser allethalben dann hinnehmen müssen. Ein Thema, das Sie bei der Erstellung des Gesetzentwurfes überhaupt nicht auf dem Radarschirm hatten, ist die unzureichende Personalausstattung der Kliniken. ({7}) Je größer der Zeitdruck, desto flüchtiger wird zum Beispiel die Händedesinfektion ausfallen. Das ist nun einmal eine ganz einfache und wirkungsvolle Methode in der Hygiene. Ein Vergleich zwischen Deutschland und den Niederlanden ist aufschlussreich. In einer deutschen Intensivstation versorgt eine Pflegekraft drei Patienten, in den Niederlanden ist das Verhältnis nahezu eins zu eins. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wenn Sie weiter auf Kosten der Beschäftigten in den Krankenhäusern sparen, wie mit der letzten Gesundheitsreform geschehen, wird sich der Zeitdruck in den Krankenhäusern weiter erhöhen. Das steht einem konsequenten Hygienemanagement und einer Senkung der Infektionsraten absolut entgegen. ({8}) Das ist aber das Letzte, was wir gebrauchen können; denn es darf nicht sein, dass jemand wegen einer Krankenhausinfektion kränker aus dem Krankenhaus herauskommt, als er hineingegangen ist. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Volkmer. - Jetzt hat als Nächster unser Kollege Erwin Rüddel für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 2011 wird das Jahr der Patientinnen und Patienten. ({0}) Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt daher insbesondere den vorliegenden Gesetzentwurf. Ich freue mich über die durchaus positive Bewertung dieses Gesetzentwurfs durch die Opposition. Ich denke, wir werden bei diesem Gesetz zu einer konstruktiven Zusammenarbeit finden. Mit dem Gesetz werden die Voraussetzungen geschaffen, um die Hygienequalität in Krankenhäusern und bei medizinischen Behandlungen durchgreifend zu verbessern sowie die Infektionsrate durch Krankenhauskeime deutlich zu reduzieren. In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Meldungen über infektionsbedingte Todesfälle, die mit Recht Unruhe und Sorgen in der Bevölkerung ausgelöst haben. Nach vorsichtiger Schätzung von Experten sind in Deutschland durch Infektionen in Kliniken, die auf mangelnde Hygiene zurückzuführen sind, jährlich zwischen 7 500 und 15 000 Todesfälle zu beklagen. Darüber hinaus erkranken jedes Jahr schätzungsweise rund 400 000 bis 600 000 Patientinnen und Patienten an Infektionen, die im Zusammenhang mit einer medizinischen Maßnahme stehen. Nach anderen Schätzungen muss sogar von noch höheren Fallzahlen ausgegangen werden. Unabhängig davon, welcher Einschätzung wir jeweils Glauben schenken und mehr Plausibilität zubilligen wollen: Es besteht in jedem Fall ein dringender Handlungsbedarf. Jede zusätzliche Infektion bedeutet persönliches Leid. ({1}) Durch das Gesetz werden die Bundesländer verpflichtet, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes Verordnungen zur Infektionshygiene und zur Prävention von resistenten Krankheitserregern in medizinischen Einrichtungen zu erlassen. Durch einheitliche Standards und Qualitätsberichte sowie durch zusätzlichen Expertenrat und Präventionsmaßnahmen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft lassen sich - das sagen Fachleute - rund 30 Prozent der Infektionen mit Klinikkeimen vermeiden. Hinzu kommt, dass wir Anreizsysteme für die niedergelassenen Ärzte schaffen wollen, die bereits im Vorfeld verhindern sollen, dass gefährliche Keime überhaupt in die Krankenhäuser gelangen. ({2}) Ein Auslöser der öffentlichen Diskussion über mangelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern waren zweifellos die beklagenswerten Vorfälle im vorigen Sommer auf der Intensivstation der Universitätsklinik Mainz. Auch wenn sich zwischenzeitlich herausgestellt hat, dass diese nicht die Folge mangelnder Hygiene, sondern einer Vergiftung aufgrund einer verseuchten Infusionslösung waren, hätte dies für das zuständige Gesundheitsministerium in Mainz Veranlassung sein können, eine eigene Hygieneverordnung für die Ärzte und Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz zu erlassen, wozu die Gesetzeslage dem Land durchaus Handhabe gegeben hätte. ({3}) Die verantwortliche Ministerin in Mainz, Frau Dreyer, hat dies allerdings versäumt, ({4}) und das steht leider auch beispielhaft für Defizite und Versäumnisse der Gesundheitspolitik in RheinlandPfalz. ({5}) Auch deshalb ist es gut und richtig, dass nun der Bund die Initiative ergreift und wir den vorliegenden Gesetzentwurf beraten. Für uns ist dabei entscheidend, dass Hygienepersonal in die Krankenhäuser kommt, dass die Hygieneleitlinien des Robert-Koch-Instituts verbindlich werden und dass es jährliche Qualitätsberichte gibt. Nicht recht verständlich ist mir in diesem Zusammenhang die Kritik der Deutschen Krankenhausgesellschaft an unserem Vorhaben. Der Kampf gegen mangelnde Sauberkeit, unzureichende Reinigung oder verschmutztes Operationsgerät in unseren Krankenhäusern sollte eine bare Selbstverständlichkeit sein. Ja, es stimmt: Wir wollen, dass Hygienebeauftragte und zusätzliche Ärzte neu eingestellt werden, damit in deutschen Krankenhäusern das Augenmerk verstärkt auf Sauberkeit und Hygiene gelegt wird. Das wird Geld kosten. Auf der anderen Seite aber werden diese Mehrkosten dadurch mehr als ausgeglichen, dass Infektionen mit all ihren entsprechenden Folgekosten in großer Zahl vermieden werden. Der GKV-Spitzenverband hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Krankenhäuser allein in diesem Jahr 1,9 Milliarden Euro zusätzlich von den Beitragszahlern erhalten. Mit diesem Geld sollte sich einiges bewirken lassen, um die hygienische Situation in unseren Kliniken zu verbessern. ({6}) Der Gemeinsame Bundesausschuss wird dazu geeignete Standards und Vergleichsmarken entwickeln, die für die Qualitätsberichte der Krankenhäuser als Richtschnur dienen werden. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf sind wir auf dem richtigen Weg. Wir unterstützen den Gesundheitsminister in seinem Bestreben, auf diese Weise unser Gesundheitswesen zu stärken. Wir werden deshalb gemeinsam - dabei schließe ich die Opposition mit ein - für eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung zur Verbesserung der Hygiene in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen sorgen. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. - Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/5178, 17/4489 und 17/5203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Es spricht niemand dagegen. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ({0}) - Drucksache 17/648 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Neškoviæ, Jan Korte, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot der Verdachtskündigung und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen bei Bagatelldelikten - Drucksache 17/649 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - Drucksache 17/4281 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2}) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen korrigieren - Pflicht zur Abmahnung einfüh- ren - Drucksachen 17/1986, 17/4281 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb Interfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto- koll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen - ich lasse die Fraktionsbe- zeichnung jetzt weg und erwähne nur die Namen -: Kol- legin Gitta Connemann, Kollege Ottmar Schreiner1), Kollegin Gabriele Molitor, ({3}) Kollegin Sabine Zimmermann, Kollegin Ingrid Hönlinger, Kollege Ulrich Lange und Kollege Johannes Vogel. Die Reden sind somit zu Protokoll genommen.2) Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ({4}). Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 17/4281, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/648 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthal- tungen? - Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord- nung die weitere Beratung. Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zum Verbot der Verdachtskündigung und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen bei Bagatelldelikten. Der Ausschuss für Arbeit und So- ziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/4281, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/649 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- schäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 12 b. Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ungerechtigkei- ten bei Bagatellkündigungen korrigieren - Pflicht zur Abmahnung einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 17/4281, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1986 abzulehnen. Wer stimmt 1) Der Redebeitrag lag zu Redaktionsschluss nicht vor und wird zu ei- nem späteren Zeitpunkt abgedruckt. 2) Anlage 3 Vizepräsident Eduard Oswald für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Jens Ackermann, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Entwicklung ländlicher Räume stärken - Drucksachen 17/2478, 17/5117 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Horst Meierhofer Kornelia Möller Markus Tressel Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kollege Horst Meierhofer, ({6}) Kollege Heinz Paula, Kollegin Marlene Mortler, ({7}) Kollege Dr. Ilja Seifert, Kollege Markus Tressel, Kol- lege Klaus Brähmig und Kollege Dr. Edmund Geisen.1) ({8}) Der Beifall zeigt, dass alle einverstanden sind, dass die Reden zu Protokoll genommen werden. ({9}) - Okay, den Eindruck habe ich auch gehabt. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Ent- wicklung ländlicher Räume stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 17/5117, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/2478 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom- men. 1) Anlage 4 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen - Drucksache 17/5174 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. Bitte schön, Frau Kollegin. ({11})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 9. Februar 2010 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig sind und dass das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum für Hilfebedürftige dem Grunde nach unverfügbar ist. Dieses Urteil ging zurück auf eine Klage von Thomas Kallay. Nur wenige Tage nach dem Urteil drohte das zuständige Jobcenter Frau Kallay unter windigen Vorwänden eine 100-prozentige Sanktion an. 100prozentige Sanktion meint den kompletten Entzug der Hartz-IV-Leistung. ({0}) Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: Da macht ein Erwerbsloser von seinen rechtsstaatlichen Rechten Gebrauch, klagt, bekommt Recht, aber kurz darauf droht seiner Frau der komplette Entzug des ohnehin niedrigen Hartz-IV-Regelsatzes. Hier deutet sich doch an, dass Sanktionen disziplinierend eingesetzt werden und die Wehrhaftigkeit von Betroffenen untergraben sollen. Deswegen gehören sie abgeschafft. ({1}) Zum Glück kannte die Familie einige Abgeordnete. Als es Nachfragen aus ganz unterschiedlichen politischen Richtungen gab, wurde diese Androhung auch zurückgezogen. Doch nicht jeder, der von Sanktionen betroffen ist, hat dieses Glück. Jährlich werden mehr als 700 000 Sanktionen verhängt. Eine Sanktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die ohnehin niedrigen Regelleistungen gekürzt werden. Die Wirkung dieser Sanktionen ist verheerend. Zum einen widersprechen sie dem Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum, zum anderen führen sie bei den Betroffenen zu Existenzangst, ja, zu richtiger existenzieller Not. Um das noch einmal zu verdeutlichen: Jeden Monat sind im Durchschnitt 12 000 Menschen vom kompletten Entzug der Hartz-IV-Leistungen betroffen. Ja, selbst Schwangere werden mit dem kompletten Entzug der Leistungen bedroht, wenn sie nicht jeden 1-EuroJob, nicht jedes Jobangebot annehmen. ({2}) Die Betroffenen werden durch diese Sanktionsmöglichkeit wehrlos gegenüber ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Ich habe von einem Fall gehört, bei dem eine Frau in einem Bewerbungsgespräch nur kritisch die Höhe des angebotenen Lohnes, der übrigens sehr niedrig war, hinterfragt hat. Daraufhin ist sie nicht eingestellt worden. Es wurde ein Vermerk angefertigt, dass dort kritisch nachgefragt worden ist, und ihre Unterlagen wurden mit diesem Vermerk an die Bundesagentur zurückgeschickt. ({3}) Ihr wurde sofort der Regelsatz gekürzt mit dem Hinweis darauf, das sei ein Fall von fehlender Mitwirkung. Hinzu kommen enorm hohe Fehlerquoten. 37 Prozent aller Widersprüche gegen Sanktionen ist in Gänze stattgegeben worden. Das heißt, dass diesen Leuten nachweislich zu Unrecht das Existenzminimum vorenthalten wurde. Ich möchte Sie einmal erleben, wenn Ihnen über Monate hinweg die Diäten einfach nicht überwiesen werden. ({4}) Hier reden wir über Menschen, die wirklich kaum ein finanzielles Polster haben. ({5}) Das zentrale Argument der schwarz-gelben Bundesregierung lautet - Zitat -: … Sanktionen dienen dazu, die Besetzung von Arbeitsplätzen zu unterstützen … Schauen wir uns doch einmal das Verhältnis von offenen Stellen zu Erwerbslosen an. Wenn wir die offiziellen Statistiken betrachten und nur die offensichtlichsten Tricks bei der Berechnung von Arbeitslosen herausnehmen, erhalten wir folgendes Ergebnis: Auf eine offene Stelle kommen zehn Erwerbslose. Egal wie sehr sie sich bemühen, müssen von diesen zehn also neun leer ausgehen. Das ist nüchterne Mathematik. Das heißt, das Problem ist nicht die angebliche Arbeitsunwilligkeit; das Problem ist, dass es diese Gesellschaft nicht schafft, die vorhandene Erwerbsarbeit gerecht zu verteilen, zum Beispiel durch Arbeitszeitverkürzung. ({6}) Die Linke fordert deswegen: Weg mit den Sanktionen. Wir fordern, die vorhandene Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitverkürzung gerechter zu verteilen. Ja, wir lehnen Zwang zur Arbeit genauso ab wie Erwerbslosigkeit wider Willen; denn beides widerspricht unserem Verständnis von einer freiheitlichen und einer humanistischen Gesellschaft. Insofern möchte ich mit dem Zitat des Humanisten Erich Fromm enden. Er sagte, daß der Mensch unter allen Umständen das Recht hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft „von Nutzen ist“. So weit der Humanist Erich Fromm. Vielen Dank. ({7})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster hat unser Kollege Dr. Carsten Linnemann von der Fraktion der CDU/CSU das Wort. ({0})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kipping, herzlichen Dank für die Einführung. In der Tat machen Sie den Vorschlag, die Sanktionen abzuschaffen, sodass die Menschen, die von der Solidargemeinschaft Unterstützung bekommen, am Ende keiner Kontrolle mehr unterliegen. ({0}) Die Frage ist: Macht das Sinn? Diese Frage muss man sich stellen. Wir verneinen das, und ich will es Ihnen auch begründen. Zunächst einmal müssen wir uns fragen: Welche Gruppen werden von der Solidargemeinschaft unterstützt? Zum einen ist das die Gruppe der Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Dabei handelt es sich um Menschen, die sich nicht selber helfen können. Sie können nicht, wie Röpke sagt, wenn sie Hilfe suchen, ihren rechten Arm nehmen. Das sind Menschen, die unsere Unterstützung brauchen - wie geistig Behinderte, körperlich Behinderte und andere. Diese Menschen brauchen Solidarität, und zwar nicht nur die normale Solidarität, sondern die bedingungslose Solidarität. ({1}) Zum anderen gibt es die Menschen, über die Sie sprechen, nämlich die SGB-II-Empfänger. Das sind Langzeitarbeitslose, die von der Solidargemeinschaft unter11400 stützt werden, also von den Menschen, die mit ihren Einkommensteuern und Umsatzsteuern das soziale Netz in Deutschland finanzieren. Das kann man ja einmal aussprechen. Auch die Langzeitarbeitslosen brauchen unsere Solidarität - aber nicht bedingungslos. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik. ({2}) Jetzt habe ich so viel über Solidarität gesprochen. Was steckt hinter Solidarität? Das Ganze ist nichts anderes als eine Vertragsvereinbarung zwischen Menschen, die in das System einzahlen, also die Solidargemeinschaft, und Menschen, die das Geld abrufen und gleichzeitig eine Gegenleistung erbringen. Es ist also nichts anderes - Herr Zimmer, Sie haben es letztens gesagt als das Prinzip der Reziprozität. Das heißt, Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Für diese Gegenseitigkeit bedarf es Schranken. Diese Schranken sind wichtig, damit -

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Schnaufen Sie einmal schnell durch. Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zulassen?

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Jetzt ist die Zwischenfrage unserer Kollegin gerne erlaubt.

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe vernommen, dass Sie annehmen, dass Menschen, die keiner Berufstätigkeit nachgehen, keine für die Gesellschaft nützliche Arbeit verrichten. ({0}) Ich kenne jede Menge Mütter, die ihre Kinder erziehen. Ich kenne jede Menge Menschen, die Steuern zahlen, weil sie Lebensmittel, Kleidung und alle Sachen, die sie für ihren alltäglichen Bedarf benötigen, einkaufen und natürlich wie jeder andere auch Mehrwertsteuer zahlen. Natürlich tragen sie zur Solidargemeinschaft bei. Wieso diskreditieren Sie hier Menschen, bloß weil sie vom Arbeitsprozess ausgeschlossen sind? Was meinen Sie, wie viele dieser Menschen sich in dieser Zeit gegen Atomkraft oder für sehr viele andere Sachen engagieren, die ohne bürgerschaftliches Engagement überhaupt nicht mehr laufen würden, weil so viel weggekürzt worden ist? ({1})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe eben versucht, zu erklären, was die Solidargemeinschaft ist. Das sind in erster Linie die Menschen, die in Deutschland arbeiten gehen, Einkommensteuer und andere Dinge zahlen. Natürlich gehören auch die Menschen dazu, die einkaufen gehen und mit der Mehrwertsteuer einen Beitrag leisten; aber in erster Linie sind es die Menschen, die den Kuchen, der in Deutschland verteilt wird, erst erwirtschaften. Das ist so. Damit habe ich nichts Falsches gesagt, sondern nur das, was Realität ist. ({0}) Lassen Sie mich zu den Schranken zurückkommen. Wir brauchen Schranken, damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert, damit wir ein gutes Zusammenleben in der Gesellschaft haben. ({1}) Lassen Sie mich an dieser Stelle, weil anscheinend kaum noch jemand zuhört - Sie haben eben auch nicht zugehört, sonst hätten Sie die Frage nicht gestellt -, ({2}) in die Wirtschaftsgeschichte einsteigen. Ich bin Fan von Adam Smith, dem alten Schotten, der gesagt hat: Es bedarf verschiedener Schranken, damit das Zusammenleben funktioniert. In der Familie gibt es eine natürliche Schranke, weil der eine für den anderen einsteht: Wenn mein Bruder einen Platten hat, helfe ich ihm; da brauchen wir keine Gesetze. ({3}) Eine Ebene höher finden wir die Schranke in der Dorfgemeinschaft, im Vereinsleben - Adam Smith bezeichnet sie als die „Schranke der Ethik“ -: Man tut etwas oder tut es nicht; man läuft nicht nackt über den Sportplatz, weil man das einfach nicht tut. Wenn diese Schranken nicht funktionieren, dann kommen gesetzliche Schranken zum Einsatz, damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert. Bei Hartz IV machen wir nichts anderes: ({4}) Damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert, brauchen wir Schranken. Sanktionen sind hier ein Instrument. Wir nutzen dieses Instrument, damit das, was die Solidargemeinschaft einzahlt, sachgerecht verwendet wird. Ich bin sicher, dass das System der Sanktionen funktioniert. Frau Kipping, Sie haben absolute Zahlen genannt; das ist clever. Man muss aber sagen, dass die Quote der Fälle, in denen es zu Sanktionen kommt, in den verschiedenen Bundesländern zwischen 2 und 4 Prozent liegt. Das System funktioniert. Insofern räume ich Ihrem Antrag wenig Chancen ein. Wir können gerne im Ausschuss darüber reden; aber wir werden diesen Antrag nicht unterstützen. Ich bedanke mich, wünsche Ihnen einen schönen Abend und zu dieser Zeit auch eine geruhsame Nacht. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank für die höfliche Schlussformel. - Als Nächste hat unsere Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von der Fraktion der SPD das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken! Sie beklagen in Ihrem Antrag Sanktionen und Leistungseinschränkungen bei Hartz IV und in der Sozialhilfe. Es ist richtig: In beiden Gesetzen sind entsprechende Möglichkeiten verankert. Ich stimme Ihnen zu: Gerade vor dem Hintergrund des Urteils der obersten Verfassungsrichter zur Grundsicherung vom Februar 2010 gehören Sanktionen und Leistungskürzungen auf den Prüfstand. Deshalb haben wir bereits am 30. November 2010 einen Entschließungsantrag zu diesem Thema eingebracht. Die Erfahrungen mit dem Instrument der Sanktionen im Sozialgesetzbuch II zeigen, dass diese in der Regel stark überschätzt werden. Die bessere Alternative zu Sanktionen ist die intensive Betreuung und Unterstützung von langzeitarbeitslosen Menschen durch deren Fallmanager. ({0}) Eines wissen wir genau: Die große Mehrheit der Arbeitsuchenden will arbeiten und wäre froh, wenn ein passender Arbeitsplatz zur Verfügung stünde. ({1}) Unser Anliegen muss deshalb sein, so viel Unterstützung zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wie irgend möglich zu leisten. Leider geht die schwarz-gelbe Bundesregierung den genau entgegengesetzten Weg. Sie kürzt ausgerechnet bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik massiv. Im Vergleich der Jahre 2010 und 2011 wurde der Mittelansatz von 6,6 Milliarden Euro auf 5,3 Milliarden Euro eingedampft. Das bedeutet durchschnittliche Budgetkürzungen um 21 Prozent gegenüber 2010. ({2}) Einige Jobcenter wie zum Beispiel das in meinem Wahlkreis sind noch härter betroffen und müssen mit bis zu 30 Prozent weniger auskommen. Das, meine Damen und Herren, ist der falsche Weg. ({3}) Fördern kostet erst einmal Geld. Doch es rechnet sich mittel- und langfristig auf jeden Fall. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, sprechen in Ihrem Antrag die jugendlichen Arbeitslosengeld-II-Bezieher unter 25 Jahren an. Nach einer aktuellen Bertelsmann-Studie haben 58 400 Jugendliche im Jahr 2009 die Schule ohne Abschluss verlassen. Das entspricht einer Abbrecherquote von 7 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist viel zu hoch. ({4}) Wir wissen: Ein fehlender Schulabschluss oder eine abgebrochene Berufsausbildung stellen besonders schwere Vermittlungshemmnisse dar. Deshalb muss es unser Ziel sein, Jugendliche auf ihrem Weg ins Berufsleben mit aller Kraft zu unterstützen und zu begleiten. ({5}) Wir von der SPD haben hierfür 2008 einen Rechtsanspruch auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses geschaffen und den Ausbildungsbonus auf den Weg gebracht. Bis zum September 2010 haben mehr als 40 000 Altbewerberinnen und Altbewerber durch den Ausbildungsbonus eine echte Berufseinstiegschance erhalten. Das, meine Damen und Herren, ist eine gute Investition in die Zukunft. ({6}) Es ist unfassbar, dass ausgerechnet dieses wichtige Förderinstrument von Ministerin von der Leyen nicht verlängert wurde. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns steht ganz klar das Fördern im Vordergrund. Sanktionen dürfen niemals Schikane oder Demütigung, sondern lediglich ein letztes Druckmittel sein. Wir müssen uns die Sanktionsmöglichkeiten sehr genau anschauen. Gänzlich auf sie zu verzichten, halte ich für falsch; denn wir brauchen auch ein Instrument zur Durchsetzung von Zielvereinbarungen bei der Eingliederung und zum Schutz vor Missbrauch. Wie sieht es nun in der Sozialhilfe aus? Sie ist das unterste Auffangnetz für besonders hilfebedürftige Menschen. Deshalb müssen wir hierbei ganz besonders darauf achten, dass das Existenzminimum abgesichert ist und nicht unterschritten wird. Es gibt zwei „Sanktionsparagrafen“ in der Sozialhilfe, die §§ 26 und 39 SGB XII. In § 39 heißt es: Lehnen Leistungsberechtigte entgegen ihrer Verpflichtung die Aufnahme einer Tätigkeit oder die Teilnahme an einer erforderlichen Vorbereitung ab, vermindert sich der maßgebende Regelsatz in einer ersten Stufe um bis zu 25 vom Hundert, bei wiederholter Ablehnung in weiteren Stufen um jeweils bis zu 25 vom Hundert. Die Leistungsberechtigten sind vorher entsprechend zu belehren. Ich habe im Sozialamt meines Wahlkreises nachgefragt, wann und wie oft diese Möglichkeit der Leistungskürzung eingesetzt wird. Die Antwort lautete: nie. Nach der Reform der Grundsicherung 2005 unter Rot-Grün sind alle Leistungsempfänger, die mehr als drei Stunden täglich arbeiten können, aus der Sozialhilfe herausgenommen und in Hartz IV überführt worden. Das bedeutet, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen, überhaupt nicht erwerbstätig sein können. Deshalb ist es richtig, diesen Paragrafen infrage zu stellen. Wenn er keine Bedeutung mehr hat, sollten wir ihn streichen. Anders verhält es sich mit § 26, in dem es heißt: Die Leistung soll bis auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche eingeschränkt werden 1. bei Leistungsberechtigten, die nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen vermindert haben in der Absicht, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistung herbeizuführen, 2. bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen. So weit wie möglich ist zu verhüten, dass die unterhaltsberechtigten Angehörigen oder andere mit ihnen in Haushaltsgemeinschaft lebende Leistungsberechtigte durch die Einschränkung der Leistung mitbetroffen werden. Dieser Paragraf kommt zumindest in meinem Wahlkreis so gut wie nie zur Anwendung. Die wenigen Fälle betreffen Rückforderungen von zu viel ausbezahlter Sozialhilfe. Es werde in jedem Einzelfall sehr genau geprüft - das erfuhr ich von dem Sozialamt in meinem Wahlkreis -, ob eine Rückzahlung überhaupt möglich sei und inwieweit Angehörige möglicherweise unter einer Leistungskürzung zu leiden hätten. Wenn eine Rückzahlung unzumutbar sei, werde darauf verzichtet. Auch wenn Leistungsmissbrauch nur selten vorkommt, halte ich es für richtig, diese Sanktionsmöglichkeit zum Schutz der Solidargemeinschaft aufrechtzuerhalten. ({8}) Menschen, die Sozialleistungen widerrechtlich in Anspruch nehmen, müssen mit Konsequenzen rechnen. Das gilt für die Sozialhilfe und gleichermaßen für Hartz IV. In § 1 des Sozialgesetzbuches XII steht als erster Satz, und zwar nicht erst seit dem Urteilsspruch der Bundesverfassungsrichter vom letzten Jahr: Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Diesen Leitsatz müssen wir natürlich insbesondere im Hinblick auf Leistungskürzungen sehr genau im Auge haben. Das Gesetz sieht deshalb vor, dass Leistungen nicht beliebig, sondern nur bis auf das Unerlässliche gekürzt werden dürfen. Das bedeutet, das materielle Existenzminimum darf nicht angetastet werden. Einschränkungen sind nur im Bereich des soziokulturellen Existenzminimums möglich. Dies steht aus meiner Sicht nicht im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010. Die Bundesrichter räumen einen gewissen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein. Sie sagen sehr deutlich, dass der Gestaltungsspielraum bei den Leistungen zur Sicherung der physischen Existenz sehr eng begrenzt ist und er nur etwas größer ist, wenn es um Art und Umfang der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht. Danke für Ihre Aufmerksamkeit bei diesem so wichtigen Thema. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. - Als Nächster spricht für die FDP-Fraktion Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Sozialstaat hat zwei Seiten. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die auf die Leistungen des Sozialstaates angewiesen sind, und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die mit ihrer Hände oder ihrer Köpfe Arbeit das erwirtschaften, was der Sozialstaat als Leistung denjenigen zur Verfügung stellt, die auf Leistung angewiesen sind. Beiden Seiten muss die Politik gerecht werden. Deshalb ist das Sozialgesetzbuch II - das sind die sogenannten Hartz-IV-Gesetze - geprägt vom Prinzip des Förderns auf der einen und des Forderns auf der anderen Seite. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Menschen schulden sie sich gegenseitig. Beide Seiten sind sich Solidarität schuldig. Deshalb geht kein Weg daran vorbei, dass die einen Steuern zahlen, durch die die Sozialleistungen finanziert werden, und zugleich die anderen das ihnen Mögliche tun, um aus ihrer Notsituation herauszukommen. ({0}) Im Bereich des Förderns hat diese Regierung schon einiges unternommen, um gerade bei diesem Aspekt zu Verbesserungen zu kommen. Mit der Jobcenterreform haben wir sichergestellt, dass die Betreuung der Menschen weiterhin vernünftig und kompetent aus einer Hand erfolgt. Zudem haben wir den Schlüssel für die Betreuung durch die Jobcenter im Rahmen des SGB II auf 1: 75 für die unter 25-Jährigen und auf 1: 150 für die über 25-Jährigen gesenkt. Damit möchten wir sicherstellen, dass die Mitarbeiter der Jobcenter gezielt auf die spezifischen Probleme der Arbeitsuchenden eingehen und sie besser bei der Arbeitsaufnahme unterstützen können. Wir werden in den kommenden Wochen mit der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente sicherstellen, dass diese Instrumente in Zukunft gezielter und wirkungsvoller zum Wohle der Arbeitsuchenden eingesetzt werden können. ({1}) Doch zum Aspekt des Förderns gehört auch der Grundsatz des Forderns. ({2}) Aus diesem Grund werden Eingliederungsvereinbarungen abgeschlossen. Darin enthalten sind genau die Maßnahmen, die nach Ansicht des Jobcenters hilfreich für die Arbeitsaufnahme sind. Ich finde, es ist nicht verwerflich, wenn wir im Rahmen der Eingliederungsvereinbarungen den Menschen gegenüber Erwartungen formulieren, wie zum Beispiel Terminen im Jobcenter nachzukommen, eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen zu schreiben oder notwendige Fortbildungen zu besuchen. Natürlich wäre es uns am liebsten, wenn keine Sanktionen ausgesprochen werden müssten, weil wir keine Probleme bei der Aktivierung hätten und die Menschen immer sehr einfach einen Job finden würden. Es stellt sich aber die Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, wenn jemand diese Hilfe bewusst oder vielleicht auch unbewusst nicht in Anspruch nimmt, aber dennoch die Unterstützung der Solidargemeinschaft erwartet. Der Antrag der Linken schlägt vor, in diesem Fall komplett darauf zu verzichten, Sanktionen auszusprechen. Doch was wäre die Folge eines solchen Verzichts? Er würde sicherlich nicht mehr Menschen in Arbeit bringen. Aussagen von Mitarbeitern der Jobcenter verdeutlichen uns, dass für viele Menschen, gerade für junge Menschen, solch eine Sanktion unter Umständen ein hilfreicher Schuss vor den Bug sein kann. Ohne Sanktionen gäbe es keine Unterscheidung zwischen denjenigen, die sich bemühen - egal ob die Bemühungen erfolgreich oder erfolglos sind -, und denjenigen, die keinerlei Anstrengungen unternehmen. Dies halte ich für ungerecht, und es trägt auch nicht zur Motivation der Arbeitsuchenden bei. Zudem müssen wir die Frage stellen, welche Akzeptanz die Grundsicherung für Arbeitsuchende bei den Erwerbstätigen, also denjenigen, die die Grundsicherung durch ihre Arbeit finanzieren, hätte, wenn es keine Notwendigkeit zur Eigeninitiative gäbe. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie zeichnen gerne ein Bild, das zeigen soll, dass so gut wie jeder Bezieher von Arbeitslosengeld II von Sanktionen betroffen wäre. Aber tatsächlich betrifft das nur einen ganz geringen Teil der Arbeitsuchenden. Laut einer Studie des IAB betrug die Quote der tatsächlich mit Sanktionen belegten Personen im Jahr 2010 nur 3,7 Prozent. ({3}) Das zeigt, wie hoch die Motivation der Arbeitsuchenden ist. Das zeigt auch, wie hoch die Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ist, wenn es um die Unterstützung der Arbeitsuchenden geht. ({4}) Ich kann Ihnen versichern, dass es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern sicherlich nicht leichtfällt, in Einzelfällen Sanktionen auszusprechen. Wir sollten nicht so tun, als würden die Jobcenter Sanktionen aus Jux und Tollerei verhängen. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall und wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern nicht gerecht. Was werden wir machen? Wir werden mit Sicherheit auf die Ausbildung und die Stärkung der Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern setzen, gerade in der nahen Zukunft. Aber es wäre auch schon heute ungerecht, es diesen Personen gegenüber so darzustellen, als würden sie Sanktionen aus Jux und Tollerei aussprechen. ({5}) Menschen in Deutschland haben ein Recht auf Solidarität durch die Gesellschaft, aber dafür kann die Gesellschaft auch eine Gegenleistung erwarten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. - Als Nächster käme, wenn er die Rede nicht zu Protokoll gegeben hätte, der Kollege Markus Kurth von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Rede ist damit zu Protokoll genommen. ({0}) Jetzt ist - er steht schon da - der Kollege Paul Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU aufgerufen. ({1})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident Edi Oswald, ich darf Ihnen an dieser Stelle - trotz vorgerückter Stunde - zu Ihrem noch heute aufgenommenen und souverän ausgeübten Amt recht herzlich gratulieren und wünsche Ihnen viel Vergnügen an dem Amt. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Die Ovationen werden zu jeder Zeit entgegengenommen. Vielen Dank.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Kipping hat vorhin in ihrer Rede hier ausgeführt, die Erwerbsarbeit gerechter zu verteilen sei Aufgabe staatlichen Handelns. Von zehn Arbeitslosen bekommt nur einer den Job, sagte sie. Das traurige Beispiel der Schwangeren, die sich um jeden Job bemühen muss, rührt einen direkt zu Tränen. ({0}) Frau Kollegin Kipping, Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Vermittlung nur in zumutbare Beschäftigungs11404 verhältnisse erfolgt. Das heißt, eine Hochschwangere wird kaum in eine körperlich anspruchsvolle Tätigkeit vermittelt werden können. ({1}) Der Staat weist Arbeit nicht zu; der Staat bietet Arbeit an. Wenn aber die Arbeit aus Gründen, die die Allgemeinheit nicht tolerieren kann, nicht angenommen wird, dann gebietet es die Sachwalterstellung der Behörden für die kargen öffentlichen Mittel, dass man sie effizient einsetzt. Das steht ausdrücklich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010. ({2}) Wir sind nicht diejenigen, die Arbeit verteilen. Sie haben gerade das Recht auf Arbeit angesprochen. Liebe Frau Kollegin Kipping, aus Sozialromantik heraus werden Sie wahrscheinlich die DDR im Auge gehabt haben. ({3}) In der DDR hat es ein Recht auf Arbeit gegeben; es hat aber auch eine Pflicht zur Arbeit gegeben. Sagen Sie mir doch einmal, wie sich ein Bürger in der DDR hätte sanktionslos durch das System mogeln können, wenn es eine für ihn zumutbare Tätigkeit gab. ({4}) - Darüber freue ich mich. - Frau Kollegin Kipping, wir leben im Hier und Heute. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde ausgeführt - ich darf mit Erlaubnis des geschätzten Herrn Präsidenten zitieren -: Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit …, als auch die Sicherung der Möglichkeit … zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst … ({5}) Die Verfassung gebietet also nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen, so das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli 2010. Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz greift nur dann, wenn andere Mittel zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zur Verfügung stehen. Wenn einem Menschen diese Mittel fehlen, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die Menschenwürde zu schützen. Zunächst ist also vorrangig, dass das Erwerbseinkommen bzw. der Lebensunterhalt mit eigenen Mitteln gesichert wird. Erst dann können wir staatliche Mittel, Mittel, die wir anderen Bürgern durch Steuern von ihrem Erwerbseinkommen weggenommen haben, an die Bedürftigen ausreichen. ({6}) Liebe Frau Kipping, zu Ihrer wohlgefälligen Aufklärung: Unser Sozialstaatsprinzip ist keine Kuh, die im Himmel frisst, aber auf Erden Milch geben kann. Das heißt, wir müssen das, was wir verteilen, irgendjemandem vorher abnehmen. Wir müssen es erwirtschaften. Wir können nur das ausgeben, was wir eingenommen haben. Deshalb ist Sozialpolitik auch immer Wirtschaftspolitik. Wir haben vorhin - da waren Sie leider, sicherlich wegen wichtiger Termine, verhindert - eine wunderbare Debatte zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geführt. In dieser Debatte hat Ihre Kollegin Krellmann ausgeführt: Die Linkspartei ist gegen einen Mindestlohn in der Leiharbeit. - Das möchte ich in dieser Debatte wiederholen, weil es eine ungeheuerliche Aussage ist. ({7}) Ich nehme das zur Kenntnis. Jetzt steht es zweimal im Protokoll des Bundestages. Nehmen Sie das heute Abend mit nach Hause. Freuen Sie sich: Die Linkspartei war heute gegen Mindestlohn. Danke schön. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Birkwald das Wort.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte nur ganz kurz klarstellen, dass Sie vorhin wohl leider nicht richtig zugehört haben, Herr Kollege. Wir haben gesagt, dass wir für Equal Pay in der Leiharbeit eintreten, weil für uns das Prinzip gelten muss: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nur deshalb haben wir gesagt, dass in der Leiharbeit ein Mindestlohn nicht die Lösung ist. Wir wollen, dass Arbeit gleich bezahlt wird. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank. - Herr Kollege Lehrieder, Sie stehen bereits. Das heißt, Sie wollen antworten?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich darf, Herr Präsident, sehr gerne. - Lieber Kollege Birkwald, es gibt zwei Komponenten - das wissen Sie so gut wie ich, auch aus unserer Diskussion im Ausschuss -: die Verleihzeit und die verleihfreie Zeit. ({0}) Wir wollen - anders als Ihre Partei - die Arbeitnehmer auch in der Nichtverleihzeit durch einen Mindestlohn in der Leiharbeit schützen. Das haben wir gegen Ihren erklärten Willen getan. Diejenigen, die die Arbeitnehmer richtig schützen, sitzen auf dieser Seite des Hauses und nicht auf Ihrer. Danke schön. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Ich sehe keine weiteren Wünsche nach einer Kurzin- tervention. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5174 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Das ist also der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d sowie Zusatzpunkt 10 auf: 13 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Die arabische Welt - Region im Aufbruch, Partner im Wandel - Drucksache 17/5193 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller ({0}), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine neue Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens - Drucksache 17/5192 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern - Drucksachen 17/4849, 17/5146 Berichterstattung: Abgeordnete Hartwig Fischer ({2}) Marina Schuster Kerstin Müller ({3}) d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren - Drucksachen 17/4671, 17/5147 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Marina Schuster Kerstin Müller ({5}) ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({6}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Libyen-Krieg sofort beenden - Drucksache 17/5173 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Kollege Dr. Rainer Stinner für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Dr. Stinner. ({7})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Herr Präsident, auch ich freue mich, dass ich heute, an Ihrem ersten Arbeitstag, unter Ihnen reden darf. ({0}) Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Erfolg und freue mich auf vergnügliche gemeinsame Stunden hier im Deutschen Bundestag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann zunächst feststellen, dass wir uns im Deutschen Bundestag von ganz links bis ganz rechts zur Überraschung vieler in der Öffentlichkeit völlig einig sind. Wir sind uns einig, dass sich deutsche Soldaten nicht am militärischen Einsatz im Libanon beteiligen sollen. ({1}) - Entschuldigung, in Libyen. Aber was den Libanon betrifft, sind wir uns hoffentlich auch einig. ({2}) Diese Einigkeit geht in der Öffentlichkeit weitestgehend unter, weil sie von dem Streit darüber, wie wir zu dieser Entscheidung gekommen sind, überlagert wird. Diese Einigkeit wird auch von einigen Mitgliedern dieses Hauses durchbrochen. Frau Wieczorek-Zeul zum Beispiel hat sich anders geäußert. Da befindet sie sich in guter Gesellschaft mit Peter Scholl-Latour. Die beiden, das Traumpaar deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, ({3}) sind in dieser Frage nämlich derselben Meinung. ({4}) Man kann über den Weg zu dieser Entscheidungsfindung sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein. Die Bundesregierung hat sich entschlossen, sich im UN-Sicherheitsrat zu enthalten, weil sie nicht möchte, dass sich Deutschland militärisch beteiligt. Die Grünen sind anderer Meinung; das kann man so sagen. Ich glaube aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenn die Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat Ja gesagt und sich anschließend genauso verhalten hätte, wie Sie es ja wollen - wenn sie also entschieden hätte, dass sich Deutschland nicht militärisch beteiligt -, würden wir eine ähnliche Diskussion über die deutsche Beteiligung führen. Das kommt auf dasselbe heraus. ({5}) Meine Damen und Herren, es wird vielfach vergessen, dass die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates aus mehreren Teilen besteht und dass in nur einem Teil von militärischen Maßnahmen die Rede ist, nämlich in den Absätzen 4, 5 und 6. Darüber hinaus sind in dieser Resolution weitere Maßnahmen beschrieben, an denen sich die Bundesregierung natürlich außerordentlich gerne beteiligt, zum Beispiel an Boykotten, Sanktionen etc. ({6}) Leider erleben wir in diesen Tagen, dass sich in anderen Ländern ähnliche Szenen abzuspielen beginnen, wie wir sie auch in Libyen beobachten können. In meiner letzten Rede habe ich auf die Situation in Bahrain hingewiesen. Heute erleben wir dramatische Zustände in Syrien. Ich möchte all diejenigen in diesem Hause und draußen im Lande, die der Meinung sind, man solle diese Situation mal eben mit Militär bereinigen, fragen: Sind Sie der Meinung, dass der Einsatz militärischer Mittel auch in Syrien richtig wäre, wenn sich die Entwicklung dort, was wir nicht hoffen, fortsetzen sollte? Ich glaube, wenn wir das zu Ende denken, kommen wir zu der Überzeugung, dass dieses Vorgehen insgesamt sehr fragwürdig ist. ({7}) Allerdings stehen wir vor dem Hauptproblem, dass die arabische Welt, um die es primär geht, nach wie vor ein völlig konfuses Bild abgibt; das muss ich so deutlich sagen. Der Widerspruch besteht darin, dass Katar auf der einen Seite angekündigt hat, sich an der Aktion in Libyen zu beteiligen - das ist bis heute nicht geschehen -, andererseits aber bereit ist, Truppen in sein Nachbarund Bruderland Bahrain zu schicken, um dort den Widerstand und die Freiheitsbewegungen niederzuhalten und eventuell niederzuknüppeln. Die arabische Welt muss sich fragen lassen, auf welchem Weg sie eigentlich ist. Ich befürchte nach wie vor, dass, nachdem die Kampagne seit sechs Tagen läuft, zunehmend der Eindruck erweckt wird, es handele sich ein weiteres Mal um eine reine Aktion westlicher Staaten, die „natürlich“ nur ihre Ölinteressen vertreten und deshalb dort aktiv werden. Ich fordere die arabische Welt daher von hier aus auf, ihren Beitrag zur Friedens- und Freiheitsbewegung in diesen Ländern zu leisten. Es liegen zur heutigen Debatte Anträge von allen Fraktionen vor. Ich möchte kurz auf diese Anträge eingehen. Ich bin doch sehr erstaunt, dass heute, am 24. März dieses Jahres, sowohl von der Linkspartei als auch von der SPD Anträge vorliegen, die ich nur mit dem Wort „antiquarisch“ bezeichnen kann. Wir stehen heute, am 24. März 2011, unter dem Eindruck von Libyen. Da kann doch die Linke nicht einen Antrag vom 8. Februar 2011 einbringen, in dem der Rücktritt von Mubarak gefordert wird. ({8}) Glauben Sie wirklich, dass wir Sie dabei ernst nehmen? Wir haben unseren Antrag an die aktuelle Situation angepasst und ihn gestern eingebracht. Die Grünen haben das genauso getan. Doch auch die SPD ist nicht viel besser dran als die Linkspartei: Ihr Antrag ist vom 22. Februar 2011. Es steht viel Richtiges und Gutes darin; das will ich gar nicht bestreiten. Aber auch Sie sind in Ihrem Antrag nicht auf die Situation in Libyen eingegangen. Wir werden die Anträge ablehnen, weil wir einen umfassenden und, wie ich finde, abgewogenen Antrag vorgelegt haben, der mit der zugegebenermaßen schwierigen Positionierung Deutschlands - das will ich gar nicht bestreiten - sauber und ehrlich umgeht. Ich glaube, dass es richtig ist, diesen Antrag heute im Deutschen Bundestag zu verabschieden. Auf diese Weise können wir gemeinsam einen Beitrag leisten, um die schwierige Situation in der arabischen Welt einer Besserung zuzuführen. Ich habe die Hoffnung, dass es in einigen Ländern bald aufwärts geht - das kann Tunesien oder Ägypten sein und dass der Diktator Gaddafi bald abdankt und seine Untaten nicht weiter treiben kann. Ich hoffe, dass nicht noch weitere Länder mit kriegerischen Auseinandersetzungen überzogen werden. Das ist unsere Hoffnung. Unser Beitrag, den wir leisten können, umfasst Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit. Das wollen wir gerne tun. Wir wollen das Mögliche beitragen, damit sich die Situation in dieser Region verbessert und sie pazifiziert wird. Wir wollen einen Beitrag zur Stabilisierung der Region leisten. Das ist Aufgabe Deutschlands und Europas. Dieser Aufgabe wollen wir gerne nachkommen. Vielen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Rainer Stinner. - Jetzt unser Kollege Günter Gloser für die Fraktion der Sozialdemokraten. ({0})

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich natürlich auch, dass ich vor einem schwäbischen Präsidenten stehen darf.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Bayerisch-schwäbisch!

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bayerisch-schwäbisch. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute zu später Stunde über die Lage im Norden Afrikas und im Nahen Osten. Nach zunächst hoffnungsvollen Entwicklungen in Tunesien und in Ägypten bedrücken uns gegenwärtig der blutige Bürgerkrieg, aber auch das menschenverachtende Vorgehen Gaddafis und seiner Anhänger gegen die Freiheitsbewegung in Libyen umso mehr. Auch wenn es zu später Stunde ist: Ich finde es gut, dass wir darüber debattieren. Lieber Herr Kollege Stinner, auch wenn es spät ist, hätte ich mir gewünscht, dass Sie in der Lage gewesen wären, in Ihren Aussagen etwas zu differenzieren. ({0}) Nicht nur die Lage in Libyen bedrückt uns. Auch das Verhalten der Bundesregierung in der Weltgemeinschaft zur Libyen-Frage ist deprimierend und lässt leider nicht den Rückschluss zu, es sei vom Ende her gedacht, so wie es der Bundesaußenminister heute in einem Zeitungsbeitrag zu suggerieren versucht hat. Ich will jetzt gar nicht so sehr auf die neutrale Position im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen abheben. Ich gebe Ihnen völlig Recht: Es ist das Recht jedes Abgeordneten und jeder Abgeordneten, eine eigene Position zu finden. Es handelt sich hierbei um eine schwierige Frage. Aber wo bleibt gegenwärtig eigentlich die politische Initiative der Bundesregierung zur Deeskalation der Situation? Man kann doch wirklich niemandem mehr erklären, weshalb sich die Bundesmarine bei Vorliegen eines Mandates der Vereinten Nationen nicht an der Unterbindung von Waffenlieferungen an Gaddafi im Mittelmeer beteiligen soll. Dabei wurde das doch seit Wochen von Außenminister Westerwelle gefordert: Embargos, Embargos, Embargos. Jetzt aber hält man sich zurück. Ich verstehe das nicht. Das hat alles nichts damit zu tun, dass man vom Ende her denkt. Wer das tut, der muss dringend die Waffenzufuhr in diesem Konflikt unterbinden. Man kann auch nicht einfach sagen: Es gibt aber noch eine andere Grenze, die zum afrikanischen Kontinent. - So viel Geografiekenntnisse haben wir auch noch. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Ich denke, die Welt schüttelt teilweise den Kopf über Deutschland, genauer gesagt über den Außenminister und die Kanzlerin. Denn der Außenminister hat vor wenigen Wochen - da hat er auch die Unterstützung dieses Hauses gefunden - noch gesagt: Wir wollen den ersten Schritt gehen. - Das ist auch passiert. Aber was ist dann eigentlich passiert? Nichts ist passiert. Er hat nur gesagt: Ich bin beeindruckt und entsetzt aufgrund der schrecklichen Bilder aus Tripolis und ganz Libyen. Jetzt müssen wir kluge Antworten finden. Gaddafi muss weg. - Wo bleiben die klugen Antworten? Wie soll er weggehen? Nicht einmal in dem Mandat der Vereinten Nationen ist ein Regimewechsel vorgesehen. Ich sage es noch einmal: Das ist ein sehr starker Schlingerkurs. Eine Sinuskurve ist dagegen geradlinig. Einige Worte auch zu Syrien. Die Nachrichten, die uns heute von dort erreichen, sind erschütternd. Es ist von zahlreichen Toten die Rede; die Angaben schwanken zwischen 37 und 100. Das ist sehr betrüblich. Ich kann nur auch von dieser Stelle aus die Verurteilung noch einmal wiederholen und an das syrische Regime appellieren, sich mit den legitimen Forderungen der Bevölkerung nach demokratischen Reformen, der Wahrung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit in angemessener Weise auseinanderzusetzen und die Anwendung roher Waffengewalt sofort einzustellen. Die syrische Führung sollte sich an den positiven und nicht an den negativen Beispielen der jüngsten Zeit dafür, wie man einen Umbruch organisieren und was man zulassen kann, orientieren. Es gibt aber auch positive Entwicklungen in der Region. So ist das Referendum in Ägypten ein Hoffnungszeichen für Demokratie. Natürlich gibt es hier auch noch viele Gefahren. Eine Gefahr besteht darin, dass alte Eliten noch immer so fest im Sattel sitzen, dass sie am Ende auch im neuen System die Oberhand behalten. Dadurch würden die friedlichen Revolutionäre vom Tahrir-Platz um die Früchte ihres mutigen Einsatzes betrogen. Das darf nicht passieren. Deshalb müssen wir auf einen Wahltermin in angemessener Frist, auf die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und auf die international überprüfbare Einhaltung der Menschenrechte drängen. Nach Jahrzehnten des Ausnahmezustandes sind das keine kleinen Schritte; es sind gewaltige Änderungen, die noch dazu von den Militärs angestoßen werden müssen, die ja jetzt die Macht haben. Ohne den anhaltenden Druck der ägyptischen Öffentlichkeit und ohne den entscheidenden Einsatz der internationalen Partner Ägyptens wird das nicht funktionieren. In Tunesien wurde die Freiheit gewonnen und der Diktator gestürzt. Das Land steht aber vor ähnlichen Problemen, wie uns eine Delegation der Schwesterpartei der SPD in diesen Tagen bei ihrem Besuch erläutert hat: Eine junge Bevölkerung, die im Gegensatz zur Bevölkerung in manchem Nachbarland mehrheitlich sogar hervorragend ausgebildet ist, sucht nicht nur nach Freiheit und Würde, sondern auch nach einer beruflichen und sozialen Perspektive. Freiheitsdividende heißt für diese Menschen, dass sie an einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben können. Dafür müssen die richtigen Reformen eingeleitet werden. Dafür muss aber auch die Europäische Union die richtigen Schritte tun. Die Festung Europa - in Anführungszeichen - muss für Waren - auch für Agrarerzeugnisse - und in begrenztem Ausmaß auch für Arbeitskräfte geöffnet werden. ({1}) Eine wirkliche Mobilitätspartnerschaft mit Ländern wie Tunesien ist auch in unserem Interesse; denn ich denke, wenn Fachkräfte aus Tunesien für einige Jahre in Deutschland arbeiten und danach bei der Existenzgründung im eigenen Land unterstützt werden, dann kommt das auch der deutschen Wirtschaft zugute. Ich will in diesem Zusammenhang Algerien und Marokko aber nicht vergessen. Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung hat Algerien schon länger die Chance gehabt, die Erlöse aus dem Öl- und Gasgeschäft endlich für die wirtschaftliche Entwicklung und für die politische und soziale Teilhabe einzusetzen. Dies wäre im Interesse der vielen jungen Menschen, aber auch der Zukunft des Landes. Positiv ist zu vermerken, dass König Mohammed VI. weitere Reformen in Marokko angekündigt hat, dem Parlament und der Regierung mehr Rechte zukommen lassen möchte und dem Menschenrechtsrat Unabhängigkeit garantiert. Dabei darf es aber nicht bleiben. Der Abbau der sozialen Ungleichheiten im Lande muss dringend forciert werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschließend einige Sätze zu den vorliegenden Anträgen: In fast allen Reden und Antragstexten ist zu vernehmen, dass sich Europa eine historische Chance bietet, Demokratie und Freiheit in der arabischen Welt zu unterstützen. Fast nie wird aber der notwendige Schluss daraus gezogen, dass unsere Reaktion auf diese Chance nicht kleinteilig und leisetreterisch sein darf, sondern dass sie klar und deutlich sein muss. Mit einer Fortschreibung der bisher schon betriebenen europäischen Nachbarschaftspolitik unter den strikten Vorgaben durch den bisherigen Finanzrahmen allein werden wir der Situation der Region jedenfalls nicht gerecht. Insofern sind auch die insgesamt guten Vorschläge der Europäischen Kommission und die Beschlüsse des Europäischen Rates zur Mittelmeerpolitik nicht ausreichend. Denn es geht nicht nur um ein bisschen mehr Konditionierung von Hilfeleistungen. Es muss um einen wirklichen Pakt für Demokratie und Entwicklung im Mittelmeerraum gehen. Das große Wort Marshallplan habe ich selbst in diesem Zusammenhang benutzt. Auch wenn historische Vergleiche gelegentlich hinken, stehe ich zu diesem Wort; denn es zeigt die Dimension dieser Aufgabe. Wir dürfen jetzt den alten Fehler nicht wiederholen, Demokratie nur im Norden Afrikas zu fördern und in anderen arabischen Ländern nur auf Sicherheit und vermeintliche Stabilität durch die gegenwärtigen Regierungen zu setzen. Wir werden hier neue Konzepte brauchen, und wir werden sie - das sage ich in aller Klarheit nicht im Rahmen der bisherigen Haushaltsansätze umsetzen können. Im Antrag der Koalition zur heutigen Debatte heißt es auf der fünften Seite: Der Bundestag begrüßt ausdrücklich die führende Rolle, die die Bundesregierung in den vergangenen Wochen gespielt hat. Ich schlage Ihnen vor, den Text der Regierungsfraktionen folgendermaßen zu ändern: Der Deutsche Bundestag hätte es begrüßt, wenn die Bundesregierung eine führende Rolle gespielt hätte. Vielen Dank. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Günter Gloser für die Fraktion der Sozialdemokraten. Der Nächste auf meiner Rednerliste ist unser Kollege Joachim Hörster für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin mit der Erwartung in diese Debatte gegangen, dass es uns um die Frage geht, wie wir mithelfen und mitsteuern können, dass die Umwälzungen, die sich in dem einen oder anderen arabischen Land andeuten, befördert werden und in die richtige Richtung laufen. Das Verjagen des Autokraten ist das eine; das Installieren einer demokratischen Ordnung ist das andere. Noch kann man nicht erkennen, dass in einem einzigen der Staaten, in denen gegenwärtig Auflehnung gegen die Regierungen und die Machthaber stattfindet, Positionen bezogen würden, die mit unseren demokratischen Grundsätzen übereinstimmen. Deswegen ist es, glaube ich, wichtig, dass wir uns von vornherein darüber im Klaren sind, dass wir nicht global von einer arabischen Welt oder von Nordafrika sprechen können, Kollege Gloser, weil die Staaten Nordafrikas weder in der Vergangenheit in der Lage waren noch in der Zukunft in der Lage zu sein scheinen, die Arabische MaghrebUnion tatsächlich mit Leben zu füllen und sich wechselseitig zu stützen. Die Staaten Nordafrikas könnten ganz alleine über alle Mittel verfügen, um ihr Land aufzubauen, ihrer Jugend eine Ausbildung zu gewähren und Arbeitsplätze für sie mitzufinanzieren. Wir müssen darauf achten, dass auch in der arabischen Welt eine Perspektive in den Ländern selbst entsteht, die dieses wollen. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Deutschen Bundestag, Herr Kollege Gloser. Ich war damals Vorsitzender der deutsch-arabischen Parlamentariergruppe; Sie waren Vorsitzender der deutsch-maghrebinischen Parlamentariergruppe, und der Kollege Ernst Hinsken war Vorsitzender der deutsch-ägyptischen Parlamentariergruppe. Die „Tage der Arabischen Welt“ fanden vom 1. bis 3. Dezember 2004 statt und waren eine einmalige Angelegenheit. So etwas hat es weder davor noch danach in vergleichbarer Weise gegeben. Wir hatten über 180 Gäste aus 18 arabischen Ländern, die wir zum Teil selbst ausgesucht haben. Die Hierarchien standen nicht im Vordergrund. Amru Mussa war unter den Rednern. Der frühere Bundeskanzler Schröder hat teilgenommen, und Bundestagspräsident Thierse hat die Veranstaltung mit eröffnet. Wir haben damals als Bundestag insgesamt versucht, losgelöst von unseren politischen Positionen einen einheitlichen Einfluss auf die arabischen Länder auszuüben und deutlich zu machen, wie man vorgehen könnte. Vielleicht wäre die jetzige Situation geeignet, dass wir als Deutscher Bundestag an die neuen Kräfte in den betreffenden Ländern herantreten und mit ihnen darüber diskutieren, was sie vorhaben und welche Ziele sie verfolgen. ({0}) Jede neue Verfassung, die jetzt entsteht, muss auch einmal daraufhin geprüft werden, ob damit auch das, was wir unter Demokratie verstehen, zustande kommt. Wir Europäer neigen dazu, immer gleich Schuldbekenntnisse abzugeben, wenn es darum geht, wie wir mit unseren Nachbarn umgehen. Der Barcelona-Prozess aus dem Jahre 1995 war allerdings ein genialer Vorgang. Im Barcelona-Prozess waren drei Körbe vorgesehen: eine Kooperation im Bereich der Sicherheit, eine Kooperation im Bereich des Handels und der Ausbau der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft ist genau der Bereich, in dem die politischen Parteien und die Nichtregierungsorganisationen auftreten und in dem die Wissenschaft und die Medien frei agieren können. In einer ganzen Reihe von Ländern ist auch Positives geschehen. Die Entwicklung in Tunesien wäre ohne den Barcelona-Prozess nicht vorstellbar gewesen; denn der Barcelona-Prozess hat dazu geführt, dass die Analphabetenrate in Tunesien außerordentlich gering ist, dass der Mittelstand größer ist als in jedem anderen arabischen Land und dass eine sehr starke Vernetzung mit Europa - auch in Form persönlicher Kontakte - vorhanden war. Auch wenn man es jetzt Mittelmeerunion oder wie auch immer nennt, sollte man dieses Modell nicht einfach zu den Akten legen, weil es uns ermöglicht hat, mit unseren Nachbarn in der arabischen Welt in organisierter Weise zu kooperieren. ({1}) Dass der Palästina-Konflikt die Sache am Ende zum Erliegen gebracht hat, ist sehr bedauerlich. Ich will aber - weil Sie, Herr Kollege Gloser, eben Syrien angesprochen haben - auch daran erinnern, dass Syrien das erste arabische Land war, das auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, um an dem BarcelonaProzess teilnehmen zu können. Es gibt also verschiedene Optionen. Der Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin haben recht, wenn sie sagen, dass die arabischen Länder - die Bevölkerungen in den arabischen Ländern - selbst definieren müssen, was sie wollen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen; das braucht Zeit. Eine der Klagen, die zum Beispiel gegen den Reformprozess und die Verfassungsänderungen in Ägypten vorgebracht werden, ist die, dass es nur zwei Organisationen gibt, die in der Lage sind, innerhalb so kurzer Fristen Parteistrukturen aufzubauen und sich Wahlen zu stellen. Die eine ist die frühere Regierungspartei, die andere sind die Muslimbrüder. Alle anderen aus dem bürgerlichen, zivilen Bereich haben keine echten Chancen. Das sind Dinge, über die wir nachdenken müssen. Das Anstreben der Demokratie und freier Wahlen ist richtig. Wir sollten diese Bestrebungen überall unterstützen. Aber wir sollten bei der Unterstützung von freien Wahlen darauf achten, dass Gruppierungen gewählt werden, die auch bereit sind, wieder von der Macht zu lassen, falls die Mehrheiten einmal anders ausfallen. ({2}) Wenn diese Selbstverständlichkeit implementiert werden kann, dann haben wir den Wechsel erreicht. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Joachim Hörster. Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Sevim Dağdelen. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die Frage, ob die deutschen Waffenlieferungen an Libyen, also an Ihren Gaddafi, nicht falsch gewesen wären, besaß der Vorsitzende der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, gestern im deutschen Fernsehen die Dreistigkeit, zu antworten: Ja, es ist immer ein Fehler, in solche Systeme Waffen zu liefern. Hier im Deutschen Bundestag findet man in Ihrem Antrag kein Wort dazu. Deshalb nehmen wir der Koalition ihre plötzliche Unterstützung für die Demokratiebewegungen in der arabischen Welt nicht ab. ({0}) Sevim Daðdelen Während wir hier debattieren, werden Menschen in der arabischen Welt ermordet. Die Diktatoren benutzen deutsche Waffen, die unter Ihrer Regierung und unter Schwarz-Rot, aber auch schon unter Rot-Grün geliefert wurden. Nun versuchen Sie, die Öffentlichkeit massiv zu täuschen und die Wirklichkeit zu verbiegen. Doch genauso wie bei Ihrem Atommoratorium: Dieses Tricksen, Tarnen und Täuschen wird nicht aufgehen. ({1}) Sie liefern weiter Waffen in Länder, wo Parteien verboten sind, wo von Opposition, Koalitions-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit keine Rede sein kann, wo Tausende Menschen ohne Anklage in Haft sind und gefoltert werden, wo Frauenrechte mit Füßen getreten werden, wo Demonstrationen mit tödlicher Gewalt aufgelöst werden, und all das mit Ihrer Hilfe und Unterstützung. Wozu all die Waffen dienen, die allein 2009 an Bahrain, Katar, Oman, Saudi-Arabien, die Emirate und den Irak, aber auch an Syrien, Marokko, Libyen, Kuwait, Jordanien, Algerien und Tunesien im Wert von fast 1 Milliarde Euro geliefert wurden, war stets klar: zur Kontrolle und Unterdrückung der Bevölkerung. ({2}) - Da lachen Sie! Ich finde das ganz schön zynisch. - Mit diesen Waffen, deutschem Tränengas, deutschen Wasserwerfern und Ihrer Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für Polizei und Militär dieser Regime werden nun die Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern blutig niedergeschlagen. Solange Sie das tun, sind Sie vollkommen unglaubwürdig. ({3}) In den Anträgen der Koalition wie der SPD findet sich konsequenterweise kein einziges Wort dazu. Man muss deshalb schlussfolgern: Es geht Ihnen um ein Weiter-so. Sie wollen die Demokratie in den arabischen Ländern nicht fördern. Sie wollen hingegen die Diktaturen dort weiterhin stützen. Erst als Ben Ali und Mubarak fielen, stoppten Sie Ihre Rüstungsexporte. Die Parteien Ben Alis und Mubaraks hatten bis zuletzt Platz an der Seite der SPD in der Sozialistischen Internationalen. Angesichts dieses fortgesetzten Desasters sagt die Linke: Beenden Sie endlich Ihre Unterstützung von Diktatoren! Sie dürfen sich nicht weiter zum Erfüllungsgehilfen der deutschen Rüstungslobby machen. Der Bundestag muss endlich die Außenpolitik wieder selbst in die Hand nehmen. ({4}) Noch ein Wort an die Grünen. In Ihrem Antrag wird die Bombardierung Libyens regelrecht begrüßt. Sie feiern sogar die Zusage der Teilnahme der beiden monarchistischen Diktaturen Katar und Vereinigte Arabische Emirate an den Luftangriffen auf Libyen. Das ist einfach skandalös. ({5}) Man findet im Forderungsteil Ihres Antrages kein einziges Wort zu Saudi-Arabien. Man möchte fast meinen: Grüne haben einen Stillhaltepakt mit den Monarchodiktaturen in der arabischen Welt. ({6}) Ist es Ihnen mit Jugoslawien, mit Ihrer indirekten Beteiligung am Krieg gegen den Irak, mit dem nunmehr neun Jahre dauernden Afghanistan-Krieg nicht genug? Wie viele Tote muss es noch geben? Sagen Sie endlich einmal Nein zu einem Krieg, nur ein einziges Mal, bitte schön! ({7}) Leider hat die Linke auch hier ein Alleinstellungsmerkmal. Sie ist die einzige Partei im Deutschen Bundestag, die für eine friedliche Außenpolitik streitet. Sie ist die einzige Partei, die keine Waffen an Diktatoren liefern will. Sie ist die einzige Partei, für die Krieg kein Mittel der Politik ist, sondern die gravierendste Menschenrechtsverletzung. Ich sage es noch einmal: Wenn Sie die Demokratiebewegungen in der arabischen Welt unterstützen wollen, dann bedarf es einer radikalen Wende. Eine Wende können Sie erreichen, wenn Deutschland autoritären Regimen keine Waffen mehr liefert, mit denen diese Regime ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger ermorden. ({8}) Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, mit dem wir uns mit den Menschen in der arabischen Welt solidarisieren und die Unterstützung der autoritären Regime beenden wollen. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Als Nächste hat unsere Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Grünen sollen die einzige monarchistische Partei Deutschlands sein? Das hat uns noch niemand vorgeworfen. ({0}) Ich kann das leider nicht ernst nehmen, Frau Dağdelen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind seit drei Monaten Zeugen von Veränderungen in der arabischen Welt, die so niemand vorhergesehen hat und mit denen so kaum jemand gerechnet hat. Es ist sehr bedauerlich, dass die Europäer nicht gemeinsam und multilateral auf diese großen Herausforderungen reagieren, sondern dass bei ihnen leider nationale Alleingänge das Bild bestimmen. Damit meine ich nicht nur Libyen; wir haben auch andere Fehler der EU und der Außenbeauftragten erlebt. Wenn das so bleibt, dann wird das - davon bin ich überzeugt - langfristig verheerende Konsequenzen haben. Kerstin Müller ({1}) Daher ist es zunächst einmal absolut erforderlich, dass Europa zu einer gemeinsamen Politik gegenüber den Ländern der arabischen Welt findet. Sonst wird unser politischer Einfluss in der Zukunft gegen null gehen, und die Menschen werden sich von Europa abwenden, weil sie sich im Stich gelassen fühlen. ({2}) Die erste Konsequenz muss sein, dass wir mit der Politik der doppelten Standards in der deutschen und europäischen Außenpolitik Schluss machen. Das heißt, dass wir Bilanz ziehen und klar sagen, dass es falsch war, auf Stabilität durch Despoten zu setzen, anstatt Demokratie und Menschenrechte zu fördern. Das war ein Irrweg. Das heißt auch - das sage ich sehr deutlich -, dass Rüstungsexporte in solche Länder künftig unterbleiben müssen. ({3}) Europa darf - auch das muss auf den Prüfstand keine Budgethilfe mehr leisten, ohne sie an die Umsetzung von demokratischen und rechtsstaatlichen Reformen zu knüpfen. Wir brauchen darüber in Europa und auch in der Kommission endlich eine Debatte. ({4}) Ich teile die Ansicht von Herrn Gloser, dass wir unsere Märkte für Produkte aus der Region öffnen müssen. Das ist absolut wichtig; denn die jungen Menschen sind nicht nur für politische Rechte auf die Straße gegangen, sondern auch für ökonomische Perspektiven, aus sozialökonomischen Gründen. Deshalb ist es absolut wichtig, wie sich Europa in dieser Hinsicht verhalten wird. Schließlich muss die Mittelmeerunion endlich beerdigt werden. Herr Hörster, Sie sprachen von der Mittelmeerunion und dem Barcelona-Prozess. Wir stimmen dem zu, was im Koalitionsantrag steht. Es muss darum gehen, die von Sarkozy initiierte Mittelmeerunion zu beerdigen und die europäische Nachbarschaftspolitik zu überarbeiten und auszuweiten. ({5}) Ich fand die Vorschläge des Außenministers gar nicht so schlecht. Ich habe nur die Befürchtung, dass nach dem diplomatischen Desaster in der Libyen-Frage unsere Durchschlagskraft in Europa nicht mehr sehr groß sein wird. Warum sollten Frankreich oder andere Südländer unseren Vorschlägen folgen, nachdem wir einen nationalen Alleingang gemacht haben? Ich glaube, das Vorgehen Deutschlands hat Europa in dieser extrem wichtigen Frage gespalten und unsere Glaubwürdigkeit bei der UNO beschädigt. ({6}) Darunter werden wir noch lange leiden; davon bin ich überzeugt. Man kann bezüglich der Motive und des Vorgehens von Sarkozy Zweifel haben, aber er ist jetzt erst einmal gestärkt. Wir wurden leider auch noch von Gaddafi gelobt; das ist einfach eine Katastrophe. Natürlich hat man eine schwierige Abwägung zu treffen. Außer bei der Fraktion Die Linke sind in allen Fraktionen Abwägungen vorgenommen worden. ({7}) - Sie haben gerade gesagt, dass Sie keine schwierigen Abwägungen treffen, weil Sie sowieso wissen, wie Sie abstimmen werden. - In den anderen Fraktionen ist das anders gewesen. Die meisten treffen ihre Entscheidung nach schwierigen Abwägungen. Es besteht ein Eskalationsrisiko, und es gibt keine chirurgischen Eingriffe. Natürlich ist auch die Durchsetzung der Flugverbotszone eine militärische Intervention, und es ist bitter: Wenn das Militär eingreift, dann hat die Politik bereits versagt. Jahrelang hat die Politik, auch Frankreich, Gaddafi hofiert, Libyen aufgerüstet und sich einen Terroristen herangezogen. Dennoch kommen viele in meiner Fraktion bei dieser Abwägung zu dem Schluss: Ohne den Beschluss des Sicherheitsrates und das schnelle Eingreifen wären Tausende in Bengasi und Misurata schon tot. Deshalb ist der Sicherheitsratsbeschluss, die Resolution 1973, konsequent und richtig. Er war notwendig und richtig, und er ist ein Ausdruck der Responsibility to protect, zu der sich die gesamte internationale Gemeinschaft verpflichtet hat. ({8}) Selbst wenn bei dieser Abwägung die Risiken überwiegen, hätte man im Sicherheitsrat mit Ja stimmen und erklären können, dass man nicht bereit ist, alle Maßnahmen mitzutragen. Ich finde es nicht einsichtig, dass man jetzt zur eigenen politischen Entlastung AWACS-Flugzeuge im Luftraum von Afghanistan zur Verfügung stellt. Das ist ein schlechter Deal. Herr Stinner, Sie haben gesagt, man wolle sich an allen anderen Maßnahmen der Resoultion beteiligen. Warum beteiligt man sich zum Beispiel nicht an der Durchsetzung des Waffenembargos? ({9}) Ich finde schwer verständlich, warum wir hier nicht die Anfrage der Bundesregierung bekommen, ob wir uns an der maritimen Absicherung des Waffenembargos beteiligen, und dass wir stattdessen morgen im Eilverfahren über Afghanistan reden, obwohl es keine Eilbedürftigkeit in dieser Sache gibt. Ich glaube, im Ergebnis war das eine schwerwiegende Fehlentscheidung der deutschen Diplomatie, an der wir leider noch lange zu knabbern haben werden und die auch Auswirkungen auf unser Standing in der arabischen Welt haben wird. Vielen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Thomas Silberhorn für die Fraktion CDU/CSU das Wort. Bitte schön, Kollege Thomas Silberhorn. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Edi, ({0}) zu dieser späten Stunde vor nahezu leeren Zuschauerrängen zu reden, ({1}) zählt nicht gerade zu meinen liebsten Vergnügungen, aber erstmals unter deiner Präsidentschaft vortragen zu dürfen, beflügelt mich. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir warten die Rede mal ab. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Tunesien und Ägypten steht nun Libyen im Zentrum eines epochalen Wandels, der sich derzeit im Nahen Osten und in Nordafrika vollzieht. Die Sehnsucht der überwiegend jungen Bevölkerungen nach Freiheit, nach politischer Teilhabe ist unwiderruflich geweckt. Die Veränderungen, deren Zeugen wir derzeit sind, können das Tor zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu Menschenrechten und individueller Freiheit öffnen. Der Wandel wird sich aber nicht automatisch und nicht linear vollziehen, also nicht so, dass ohne großes Zutun ein Regime nach dem anderen geradezu wie von selbst fallen würde. Die Reformbewegungen werden vielmehr Rückschläge zu verkraften haben, und sie werden harte Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Doch die Chancen stehen gut, dass das Streben nach einer neuen und besseren Zukunft letztlich die Beharrungskräfte der alten Ordnungen überwindet. Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, dass die Reformbewegung in Tunesien deutlich auf Distanz zum Vorgängerregime ging und rasch nach Ägypten übergeschwappt ist. Viel wird jetzt davon abhängen, ob freie und faire Wahlen in diesen Ländern gelingen. Wenn dort ein friedlicher Übergang zu Demokratie und Freiheit stattfindet, dann wird das der Reformbewegung in der gesamten Region Dynamik verleihen; das wird sich auch auf andere Staaten ausweiten. Tunesien und Ägypten können damit zu Schrittmachern in ihrer Region werden. Deswegen wird nicht umsonst die Entwicklung gerade in diesen Staaten im übrigen Nahen Osten mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Es ist bemerkenswert, welche weitreichenden Veränderungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben. Man kann diese Entwicklung auch als eine schrittweise Eskalation lesen. Während in Tunesien der Umsturz noch weitgehend friedlich verlaufen ist und es in Ägypten nur kurze Zeit zu gewaltsamen Übergriffen kam, mobilisiert in Libyen das Regime Gaddafi jetzt alle Kräfte und führt nachgerade einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Die größte Gefahr für den arabischen Aufstand ist, dass Machthaber die Augen vor der Realität verschließen, nicht erkennen, dass ihre Zeit abgelaufen ist, und mit roher Gewalt um sich schlagen. Deshalb ist es notwendig, dass die internationale Gemeinschaft unzweideutig zum Ausdruck bringt, dass sie das nicht toleriert und dass Regime, die gegen die eigene Bevölkerung Gewalt anwenden, ihre Legitimation verlieren. ({0}) Welchen Beitrag können wir für das Gelingen der Neuordnung in Nordafrika und im Nahen Osten leisten? Militärische Mittel dürfen nur bei schwersten Menschenrechtsverletzungen oder Völkermord in Betracht kommen. Wo sie eingesetzt werden, muss die Gefahr einer Eskalation eingedämmt werden. Wer sich militärisch engagiert, muss sich klar darüber sein, was das politische Ziel ist und wie der Einsatz beendet werden soll. Deswegen war es mit Blick auf Libyen richtig, dass Deutschland die politischen Ziele der UN-Resolution 1973 unterstützt, aber sich nicht an Militäraktionen beteiligt. Wir haben bei Sanktionen eine internationale Führungsrolle gespielt. Die Vereinten Nationen und die Europäische Union gehen gezielt gegen Personen und Institutionen vor. Es entfaltet Wirkung, den Zugang zu Finanzquellen abzuschneiden und zu verhindern, dass international platzierte gewaltige Vermögen von den jeweiligen Machthabern dazu genutzt werden, Angriffe gegen die eigene Bevölkerung zu finanzieren. Die Europäische Union hat gestern die vierte Sanktionsrunde gegen das Gaddafi-Regime verhängt. Insbesondere ist zu begrüßen, dass darin Sanktionen gegen fünf Tochtergesellschaften der nationalen Ölgesellschaft Libyens enthalten sind. Das bedeutet faktisch ein Ölembargo, für das sich die Bundesregierung in der Europäischen Union mit Nachdruck eingesetzt hat. ({1}) Meine Damen und Herren, von zentraler Bedeutung für den Wandel in Nordafrika und im Nahen Osten sind die Unterstützung beim Übergang zur Demokratie, die Mobilisierung reformorientierter Kräfte in Staat und Gesellschaft sowie die Hilfe bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Die wirtschaftlichen Faktoren, nämlich die Lebensmittelpreise, haben eine zentrale Rolle bei diesen Umbrüchen gespielt. Deswegen ist die Neuordnung der Region auch und gerade eine ökonomische Frage. Nur dann, wenn es den Reformkräften gelingt, für bessere Lebensverhältnisse zu sorgen, wird der Übergang zur Demokratie dauerhaft über den notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung verfügen. Die Bundesregierung leistet auf vielfältige Weise Hilfe. Insbesondere die Transformationspartnerschaft, die Tunesien und Ägypten angeboten worden ist, ist ein wichtiger Ansatz, der Vorbild sein kann für andere Staaten in der Region. Diese Maßnahmen stehen allen Partnern in der Europäischen Union offen. Ich denke, Deutschland hat damit angemessen und schnell auf die Erfordernisse vor Ort reagiert. ({2}) Für die Entwicklung der Region ist die Hilfe beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen natürlich ebenso wichtig. Ich will darauf hinweisen, dass sowohl die politischen Stiftungen als auch die kirchlichen Hilfswerke dabei eine unverzichtbare Rolle spielen. Sie sind bereits seit vielen Jahren und Jahrzehnten vor Ort unterwegs und haben Kontakte geknüpft auch zu Kräften, die jetzt diese Reformbewegungen mittragen. Das zeigt, dass sich das Engagement gerade unserer politischen Stiftungen langfristig auszahlt. Bei aller Unterstützung, die von außen geleistet werden kann: Im Kern muss die Kraft für den Wandel von Innen kommen. Die Bevölkerungen der arabischen Staaten müssen ihren eigenen Weg finden. Wir können im Rahmen unserer Möglichkeiten dort helfen, wo wir um Unterstützung gebeten werden. Wir leisten, was möglich ist, damit sich die Chance auf Demokratie und Freiheit entfaltet, damit der Wandel in der arabischen Welt gelingt. Vielen Dank. ({3})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Das ist der Beifall für den letzten Redner gewesen. Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/5193 mit dem Titel „Die arabische Welt - Region im Aufbruch, Partner im Wandel“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? Der Antrag ist angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5192 mit dem Titel „Für eine neue Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5146, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4849 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der deutschen Unterstützung von Diktatoren“: Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5147, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4671 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5173 mit dem Titel „Libyen-Krieg sofort beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen stärken - Drucksache 17/5195 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Monika Grütters, Dr. Reinhard Brandl, René Röspel, Dr. Martin Neumann, ({0}) Dr. Petra Sitte, Krista Sager.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5195 an den Ausschuss für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft und der Anstalt Absatzförderungsfonds der deutschen Forst- und Holzwirtschaft - Drucksache 17/4558 - 1) Anlage 6 Vizepräsident Eduard Oswald Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) - Drucksache 17/5167 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Friedrich Ostendorff Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. ({2}) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Marlene Mortler, Dr. Wilhelm Priesmeier, Dr. Christel Happach-Kasan, ({3}) Dr. Kirsten Tackmann, ({4}) Friedrich Ostendorff.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5167, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4558 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Drucksache 17/5096 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Armin Schuster, Dr. Eva Högl, Gisela Piltz, ({6}) 1) Anlage 7 Frank Tempel, ({7}) Dr. Konstantin von Notz.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der europäische Einigungsprozess hat unter anderem zu einem Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen unter den Schengen-Partnern geführt. Bürgerinnen und Bürger können sich heute weitgehend unbeschränkt innerhalb der EU bewegen; Waren und Dienstleistungen sind nahezu grenzenlos unterwegs. Diese positive Entwicklung hat Europa insgesamt gestärkt. Allerdings nutzen diese Freiheiten auch die Straftäter, die nicht an den Grenzen haltmachen. Die neuen, illegalen Möglichkeiten für Kriminelle, europäisch vernetzt vorzugehen, dürfen wir bei allen Fortschritten auf keinen Fall unterschätzen. Daher zählt es zu den elementaren Aufgaben der Europäischen Union, ihren Bürgern die Freiheit, die Sicherheit und das Recht zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund müssen wir wirksame Instrumente zur gemeinsamen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung schaffen und weiterentwickeln. Unsere Aufgabe ist es, den europäischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auch nach Wegfall der Grenzkontrollen eine effektive und effiziente Aufgabenerledigung zu ermöglichen. Hierfür ist der erleichterte Informationsaustausch zwischen den Behörden in Europa eine entscheidende Ausgleichsmaßnahme für eine wirksame Strafverfolgung und Gefahrenabwehr. Es gilt: Nur wer hinreichend informiert ist, kann die richtigen Maßnahmen ergreifen. Und hinreichend informiert heißt beim heutigen Täterverhalten, oft auch über Grenzen hinweg, also europäisch informiert zu sein. Genau das ist das Ziel des vorgelegten Gesetzentwurfes: Anlass für das Vorhaben ist der Rahmenbeschluss 2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Europäischen Union. Diese sogenannte schwedische Initiative soll nunmehr in innerstaatliches Recht umgesetzt werden. Hierdurch sind Änderungen im Bundeskriminalamtgesetz, im Bundespolizeigesetz, im Gesetz über die internationale Rechtshilfe, in der Strafprozessordnung, im Zollfahndungsdienstgesetz und im Zollverwaltungsgesetz, in der Abgabenordnung, im Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und schließlich im SGB X notwendig. Für den Austausch von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten dürfen künftig keine strengeren Regelungen gelten als innerhalb eines Mitgliedstaates. Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz ist der zentrale Aspekt des Vorhabens und orientiert sich an den rechtlichen Möglichkeiten des Informationsgeberlandes. Eine Datenübermittlung von Berlin nach Malmö soll also künftig unter den grundsätzlich gleichen gesetzlichen Voraussetzungen erfolgen können wie von Berlin nach Lörrach. Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz schafft eine völlig Armin Schuster ({0}) neue Qualität bei der innereuropäischen Zusammenarbeit. Weiterhin darf künftig die Beantwortung von Ersuchen aus dem europäischen Ausland nur noch bei Vorliegen konkreter Ausnahmetatbestände verweigert werden. Danach ist beispielsweise eine Übermittlung von personenbezogenen Daten unzulässig, wenn hierdurch wesentliche deutsche Sicherheitsinteressen des Bundes oder der Länder gefährdet würden. Schließlich gilt es, bei dem gesamten Vorhaben noch einen weiteren Aspekt zu beachten: den Datenschutz. Immerhin geht es hier um den grenzüberschreitenden Austausch von personenbezogenen Daten. Aus diesem Grund muss der Datenschutz durchgängig Beachtung finden. Dies ist ein zentrales Anliegen der Bundesregierung. Es wird auf gar keinen Fall so sein, dass unsere hohen innerstaatlichen Datenschutzstandards im Zuge einer Übermittlung an einen anderen europäischen Mitgliedstaat gesenkt werden. Der vorgelegte Gesetzentwurf erfüllt diese Vorgabe umfassend. Insbesondere unterliegen die Daten nach der Übermittlung einer besonderen Zweckbindung. Der Gesetzentwurf macht klar, dass die Daten nur für die Zwecke, für die sie übermittelt wurden, genutzt werden dürfen. Von dieser strengen Zweckbindung darf nur abgewichen werden, wenn es um die Abwehr einer gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit geht. Diese enge Ausnahmeregelung ist angemessen. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird Deutschland seinen europäischen Verpflichtungen aus dem Rahmenbeschluss nachkommen. Darüber hinaus wird der Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden in Europa erheblich erleichtert. Letzteres ist ausdrücklich im Interesse Deutschlands. Daher ist diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kriminalität ist kein nationales Problem und macht vor Ländergrenzen nicht halt. Menschenhandel, Terrorismus oder Korruption sind internationale und damit länderübergreifende Straftaten, denen auch nur länderübergreifend effektiv begegnet werden kann. Ein flexibler und zuverlässiger Austausch von strafverfolgungsrelevanten Informationen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Art. 87 Abs. 1, Abs. 2 a AEUV, ist aus diesem Grund ein wichtiger Baustein bei der wirksamen Bekämpfung der internationalen Kriminalität. Der Vertrag von Lissabon stärkt in dieser Beziehung bereits die Rolle von Eurojust und Europol, Art. 85 und Art. 88 AEUV, die die Mitgliedstaaten in ihrer Zusammenarbeit bei Ermittlungen, Strafverfolgungen und der Prävention und Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus unterstützen. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Verbesserung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in der EU. Darüber hinaus hat die Europäische Union mit dem im Dezember 2009 verabschiedeten Stockholmer Programm eine ganzheitliche Strategie vorgelegt, die die Prioritäten der EU für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für den Fünfjahreszeitraum von 2010 bis 2014 festlegt. Damit bildet sie den Rahmen für zahlreiche politische Maßnahmen der Union auf Gebieten wie der Justiz, der öffentlichen Sicherheit, der Einwanderung und des Asyls. Hierbei ist es wichtig, die richtige Balance zwischen sicherheitspolitischen Interessen und Freiheitsrechten zu wahren. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine Ausgewogenheit von Freiheit uns Sicherheit. Mit dem Rahmenbeschluss 2006/960/JI aus dem Jahre 2006 formulierte der Rat ein zentrales Ziel der Europäischen Union. Es besteht darin, ihren Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten. Nur durch eine engere Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten beim Austausch von Informationen und Erkenntnissen über Straftaten und kriminelle Aktivitäten kann eine effektive länderübergreifende Prävention und Strafverfolgung und damit ein möglichst hoher Schutz für die Bürgerinnen und Bürger in Europa gewährleistet werden. Jedem Mitgliedstaat wurde die Möglichkeit eingeräumt, die für die Strafverfolgungsbehörden relevanten Daten anzufordern und auf deren Ersuchen hin zu erhalten. Das ist ein wichtiger Schritt hin zu einer wirksamen Bekämpfung von Kriminalität, den wir als SPD ausdrücklich unterstützen. Zwei große Fortschritte beinhaltet der Rahmenbeschluss gegenüber den bisherigen Rechtshilfebestimmungen, auf die ich hinweisen möchte: Zum einen schreibt er den sogenannten Gleichbehandlungsgrundsatz bzw. Grundsatz der Verfügbarkeit personenbezogener Informationen fest, der besagt, dass Informationen den Strafverfolgungsbehörden aus anderen Ländern in der gleichen Art und Weise zugänglich gemacht werden müssen wie den inländischen Behörden. Zum anderen enthält der Rahmenbeschluss Regelungen zu Beantwortungsfristen. So soll auf Ersuchen aus EU-Staaten in Eilfällen innerhalb von acht Stunden, in normalen Fällen innerhalb von zwei Wochen geantwortet werden. Bislang wurde der Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten durch rechtliche Hindernisse und komplizierte Verwaltungsstrukturen beeinträchtigt. Eine mehrmonatige Wartezeit, wie sie bisher nicht selten die Regel war, wäre nunmehr ausgeschlossen. Mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Fristenregelung beschreiten die europäischen Staaten einen neuen und richtigen Weg. Leider hat es Deutschland bisher versäumt, den Rahmenbeschluss trotz Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht umzusetzen. Wir begrüßen daher, dass die Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, um die notwendige Umsetzung in deutsches Recht zu vollziehen. Mit dem Entwurf des Gesetzes über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union schlägt die Bundesregierung Änderungen bei einer Reihe von Gesetzen vor, darunter das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, das Bundeskriminalamtgesetz und das Bundespolizeigesetz. Zu Protokoll gegebene Reden Die SPD unterstützt ausdrücklich den Rahmenbeschluss zur Erleichterung des Informationsaustausches zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und damit auch die Umsetzung durch das geplante Gesetz. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass nur verfügbare Daten übermittelt werden sollen, also die Daten, die bei der ersuchten Behörde vorhanden sind und die ohne Ergreifen von Zwangsmaßnahmen erhoben worden sind. Eine Übermittlung von Daten, die erst durch Zwangsmaßnahmen erhoben werden müssten, wird nicht gestattet. Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme vom 11. Februar 2011, dass der Begriff der „durch Zwangsmaßnahmen erlangten Erkenntnisse und Informationen“ legal definiert wird. Der Polizei wäre sonst der Datenabgleich als ein wichtiges Instrument im grenzüberschreitenden Austausch von Informationen genommen. Die SPD hält genau wie die Bundesregierung eine Legaldefinition des Begriffes für nicht notwendig. Da ohnehin nur Daten ausgetauscht werden können, die bereits vorhanden sind und aufgrund einschlägiger nationaler Vorschriften abgeglichen werden, spielt die Frage keine Rolle, ob die Daten durch Zwangsmaßnahmen erlangt werden können, da diese ohnehin einem Verwertungsverbot unterlägen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten spielt bei der Weitergabe von Informationen der Datenschutz eine besonders große Rolle. Ein modernes europäisches Netzwerk zum Informationsaustausch bedarf auch eines gewissenhaften einheitlichen Schutzes der zu übertragenden Daten. Der Grundsatz der Verfügbarkeit zielt darauf ab, die vorhandenen nationalstaatlichen und gemeinschaftlichen europäischen Informationssysteme miteinander zu vernetzen, sodass die Daten für die verschiedenen Sicherheitsbehörden abgerufen, gespeichert und übermittelt werden können, auch wenn sie nur durch das Einverständnis des jeweiligen Mitgliedstaates eingeholt werden dürfen. Eine wirksame Strafverfolgung über Ländergrenzen hinweg zum Schutz kollektiver Sicherheitsinteressen darf den Individualschutz der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger nicht beeinträchtigen. Es ist notwendig, jedem Missbrauch vorzubeugen und den Grundrechteschutz, wie in Art. 16 AEUV sowie in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt, vollständig zu achten. Meine Fraktion und ich begrüßen den Schritt der europäischen Staaten hin zu einer gegenseitigen Akzeptanz von rechtlichen Strukturen und Entscheidungen sowie zu einem umfassenden Informationsaustausch im Bereich der Strafverfolgung. Der Umsetzung des Rahmenbeschlusses von 2006 gestehen wir dabei eine besondere Rolle zu. Nach der Umsetzung in nationales Recht ist es wichtig, den Austausch von Strafverfolgungsdaten zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu überwachen und die Funktionalität und Wirksamkeit der Austauschnetzwerke kontinuierlich zu überprüfen. Wir unterstützen eine intensive und weitgehende Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten untereinander und auf europäischer Ebene - nicht nur im Bereich der Strafverfolgung, sondern auch darüber hinaus. Deshalb können wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von herausragender Bedeutung. Es ist daher notwendig, innerhalb Europas die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu verbessern. Dabei darf aber keiner der drei Aspekte - Freiheit, Sicherheit und Recht - ins Hintertreffen geraten. Eine Zusammenarbeit, die sich nur an der Sicherheit orientiert, dabei aber die Freiheit über Gebühr einschränkt und dem Recht durch mangelnde rechtsstaatliche Sicherungen nicht ausreichend Rechnung trägt, genügte den Anforderungen an eine vernünftige Politik in der dritten Säule nicht. Der unter der schwedischen Ratspräsidentschaft entwickelte Rahmenbeschluss folgt dem Gedanken eines einheitlichen EU-weiten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dabei ist es grundsätzlich nachvollziehbar, dass in diesem kein Unterschied gemacht werden soll zwischen dem Datenaustausch der zuständigen innerstaatlichen Behörden und den zuständigen Behörden anderer EU-Mitgliedstaaten. Dennoch muss natürlich berücksichtigt werden, dass ein einheitlicher Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht bedeutet und auch nicht bedeuten darf, dass Strafverfolgung nicht mehr in nationaler Hoheit steht. Es ist daher richtig, dass eine nationale Behörde nicht über die Regeln, die für die innerstaatliche Datenübermittlung gelten, hinaus verpflichtet ist, Behörden anderer Mitgliedstaaten Daten zur Verfügung zu stellen. Damit wird gewährleistet, dass die deutschen Behörden unseren Standard wahren können, wenn Ersuchen bearbeitet werden. Richtig und wichtig ist auch die Zweckbindung der übermittelten Daten. Die strikte Zweckbindung und das ausdrückliche Verbot, übermittelte Daten zu Beweiszwecken im Strafverfahren zu verwenden, sofern keine diesbezügliche ausdrückliche Zustimmung vorliegt, ist eine zentrale rechtsstaatliche Absicherung. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung deutlich gemacht, dass in der Übermittlung von Daten ein eigener Grundrechtseingriff zu sehen ist, der dem Eingriff bei der Erhebung gleichzustellen ist. Da es sich bei den hier infrage stehenden Daten um sensible Daten handelt, muss ein hohes Niveau an Datenschutz sowie an Rechtsschutz gewährleistet sein. Zudem muss stets die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Daher hat die FDP-Fraktion immer angemahnt, dass derartige Daten nur dann übermittelt werden dürfen, wenn die Schwere der Straftat, die in Rede steht, die Datenübermittlung verhältnismäßig macht. Insofern ist es gut, dass die Datenübermittlung verweigert werden kann, wenn die Straftat im Empfängerland mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder weniger bedroht ist. Wenngleich mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf im Wesentlichen nur Anpassungen nationaler Rechtsvorschriften, die sich auf den Rahmenbeschluss bezieZu Protokoll gegebene Reden hen, vorgenommen werden, dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass, wie die Bundesregierung in ihrer Begründung schreibt, „neue Maßstäbe“ bei der Datenübermittlung gesetzt werden. Diese Maßstäbe dürfen aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion aber nicht nur die Interessen der Strafverfolgungsbehörden sein, sondern müssen ebenso die Grundrechte, insbesondere den Datenschutz und den Rechtsschutz, umfassen. Die Schnelligkeit und Leichtigkeit der Datenübermittlung muss durch strikte rechtsstaatliche Sicherungen flankiert sein. Die Liberalen erkennen ausdrücklich die Bedeutung der europäischen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus an. Ebenso steht aber die Achtung der Grundrechte für uns an vorderster Stelle. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Gratwanderung deutlich, die bei der Abwägung von Freiheit und Sicherheit stets gegeben ist. Aus Sicht der FDP-Fraktion ist dies den federführenden Bundesministerien der Justiz und des Innern gelungen. Die FDPFraktion wird weiterhin sorgsam darauf achten, dass in der EU bei allen Beschlüssen alle Aspekte der dritten Säule gleichermaßen berücksichtigt werden.

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Unbestritten gibt es die Notwendigkeit für einen besseren Austausch von Erkenntnissen zwischen den Strafbehörden der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union. Bei vielen Straftaten ist die grenzüberschreitende Kriminalität zur Normalität geworden. Eine grenzübergreifende Ermittlungszusammenarbeit ist eher noch die Ausnahme. Bisher lief der zwischenstaatliche Datenaustausch von Ermittlungsbehörden weitgehend über das Mittel des Rechtshilfeersuchens. Lange Wartezeiten und ausbleibende Reaktionen auf Anfragen waren die Regel. Das war ein äußerst unbefriedigender Zustand. In den letzten Jahren hat sich in der EU der Ansatz der „weitgehend diskriminierungsfreien Verfügbarkeit von Daten“ durchgesetzt. Ermittelnde Behörden eines Mitgliedstaates sollen grundsätzlich und zeitnah auf die vorhandenen Ermittlungsdaten des anderen Mitgliedstaates zugreifen können. Für den Informationsaustausch mit dem EU-Ausland dürfen keine strengeren Regelungen als für den Austausch von Strafverfolgungsdaten im Inland bestehen. Bis zum 26. August 2011 müssen die EU-Beschlüsse zum Datenabgleich, resultierend aus dem „Ratsbeschluss zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität“, umgesetzt sein. So weit, so gut. Der Prozess zur Schaffung der technischen und rechtlichen Voraussetzungen zum Austausch von Strafverfolgungsdaten findet allerdings vor dem Hintergrund eines nicht vorhandenen europäischen Datenschutzrechtes, eines national völlig unterschiedlichen Datenschutzniveaus und teilweise unzureichender Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards statt. In der Europäischen Union existiert kein verbindlicher, einklagbarer Datenschutzstandard. Es existieren jeweils bereichsspezifische Datenschutzbestimmungen mit eher zweifelhaften Datenschutzniveaus, zum Beispiel zu Europol, Schengen oder zum Prümer Ratsbeschluss. Es gibt aber keine Anwendbarkeit des Strafrechtes auf die Datenschutzrichtlinien und -vorschriften. Der einzig geltende Rechtsakt ist das völlig veraltete völkerrechtliche „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten“ der Mitglieder des Europarates von 1981. Der Mangel bei den Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards in einigen EU-Ländern zeigte sich beispielsweise beim sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Die vom BND-Untersuchungsausschuss benannten Fälle bewiesen, dass grundlegende Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards massiv verletzt wurden und bei neuerlichen Terroranschlägen auch künftig wieder verletzt werden dürften. So gab es in den Mitgliedstaaten Polen, Litauen und Rumänien sogenannte Black Sites, also inoffizielle Gefängnisse der CIA, in denen unter Folterbedingungen inhaftierte Verdächtige bei ihren Vernehmungen mit Informationen aus unter anderem in Deutschland geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren konfrontiert wurden. Die Umsetzung des Ratsbeschlusses durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung wird von der Linken strikt abgelehnt. Der Ratsbeschluss zielt darauf, keinen Unterschied mehr zwischen innerstaatlichen und europäischen Strafverfolgungsbehörden zu machen, wenn es darum geht, bei den Strafverfolgungsbehörden vorhandene oder verfügbare Informationen zur Verfügung zu stellen. Damit geht der Rechtsakt grundsätzlich über Regelungen zum Austausch von Informationen und Erkenntnissen zwischen Strafverfolgungsbehörden hinaus, die auf Art. 39 des Schengener Durchführungsübereinkommens, SDÜ, beruhen. Art. 39 SDÜ verpflichtet die Mitgliedstaaten zwar zu gegenseitiger Hilfe im Interesse der vorbeugenden Bekämpfung und der Aufklärung von strafbaren Handlungen, überlässt es jedoch dem nationalen Recht, die Art der Zusammenarbeit auszugestalten. Nach dem Ratsbeschluss hingegen gibt es für die angefragten Mitgliedstaaten lediglich ein Rückweisungsrecht bei Informationen und Erkenntnissen, die durch Zwangsmaßnahmen erlangt wurden, und wenn dies mit dem nationalen Recht nicht vereinbar ist. Für eine derart weitgehende grenzüberschreitende Verfügbarkeit strafrechtlicher Ermittlungsdaten fehlt es indes, wie gesagt, an der Grundvoraussetzung eines unabhängig von einer Einzelfallprüfung vollzogenen Informationsaustausches: ein angemessener rechtstaatlicher, insbesondere datenschutzrechtlicher, Standard innerhalb der EU. Es fehlen insbesondere klare Regelungen im Hinblick auf den Zweck der Datenabfrage, den von der Datenverarbeitung betroffenen bzw. auszuschließenden Personenkreis, die Begrenzung der Übermittlung von DNADaten auf bestimmte Deliktbereiche, die Speicherfristen der Daten im anfordernden Land sowie ein Weitergabeverbot an dritte Dienststellen und Drittstaaten. Zu Protokoll gegebene Reden Die unscharfe Trennung von Polizei, Geheimdiensten und Militär in verschiedenen Mitgliedstaaten lässt erwarten, dass übermittelte Daten nach Belieben in deren nationale Datenbanken eingespeist und nicht im Sinne der deutschen Rechtsprechung verwendet werden. Weiterhin ist völlig unklar, wie die Einhaltung von datenschutzrechtlichen Fragen auf der europäischen und nationalen Ebene parlamentarisch überprüft werden kann. Man muss es klar sagen: Der Austausch von Ermittlungsdaten zwischen den Mitgliedstaaten ohne ausreichende Rechtsgrundlage wird den Wert der so erlangten Ermittlungsergebnisse vor Gericht reduzieren. Verurteilungen, zumindest vor deutschen Gerichten, werden unwahrscheinlich, wenn der Wert von Beweisen zweifelhaft ist. Der Bundesregierung muss man ins Stammbuch schreiben, dass sie mit großem Fleiß die Umsetzung von Beschlüssen der EU ins deutsche Recht betreibt, mit denen man die Befugnisse europäischer Sicherheitsbehörden massiv ausweitet. Zu vermuten ist gar, dass man über den Umweg europäischer Verordnungen den hohen, vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen, Datenschutzstandard aushebeln möchte. Sie rührt aber keinen Finger, wenn es um die Ausgestaltung eines europäischen Datenschutzes geht, der die Bürgerinnen und Bürger vor staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre schützen soll. Die Linke fordert eindringlich den Einsatz der Bundesregierung auf europäischer Ebene für die Sicherung individueller Rechte, Rechtsstaatlichkeit und datenschutzrechtlicher Standards nicht unter den vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Niveaus!

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir befinden uns im Jahr 2011, 15 Monate nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, nach dem nun endlich das Europäische Parlament bei der europarechtlichen Regelung des Datenschutzes und des Austauschs personenbezogener Daten auch im Bereich des Polizei- und Strafrechts entscheidend mitbestimmen kann. Das ist wichtig und im Hinblick auf die anstehende Gesamtreform des EU-Datenschutzrahmens und die datenschutzrechtlichen Herausforderungen eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den es rechtlich und politisch zu gestalten gilt, auch notwendig. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dient der Umsetzung eines eher beunruhigenden Relikts aus alten Zeiten, in denen EU-Recht noch hinter verschlossenen Türen ohne effektive parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament gemacht werden konnte, wenn sich nur die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen und der jeweiligen Innenministerien der Mitgliedstaaten einig waren. Das Gesetz soll der Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der sogenannten schwedischen Initiative aus dem Jahr 2006, dienen. Dass man die Umsetzungsfrist, die im Dezember 2008 auslief, seelenruhig und deutlich hat verstreichen lassen, kann ich angesichts der schwerwiegenden datenschutzrechtlichen Kritik, die am Konzept des Rahmenbeschlusses in den letzten Jahren immer wieder geübt wurde, verstehen. Warum Deutschland ausgerechnet jetzt den Rahmenbeschluss umsetzen soll, wo ein Bericht der Kommission über dessen Umsetzung und die Reform des EU-Datenschutzrahmens kurz bevorstehen, erschließt sich mir aber nicht. Die Erkenntnisse aus dem Bericht der Kommission und aus den Fachdebatten zur Reform des EU-Datenschutzrahmens sollten auf jeden Fall gebührende Berücksichtigung finden. Der Rahmenbeschluss und sein Umsetzungsgesetz bezwecken den möglichst ungehinderten und beschleunigten Datenaustausch zwischen den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Der Datenaustausch ist grundsätzlich nicht auf bestimmte Gefahrensituationen oder Verdachtstaten beschränkt. Der Kreis der Behörden, die untereinander - offenbar kreuz und quer - Daten austauschen sollen, ist sehr groß: Jede Behörde, die befugt ist, Straftaten oder kriminelle Aktivitäten aufzudecken, zu verhüten, aufzuklären und Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, kann Daten an deutsche Behörden übermitteln oder Daten von deutschen Behörden anfragen. Es reicht, dass der betreffende Mitgliedstaat die Polizei-, Strafverfolgungs-, Steuer-, Ausländer-, Gesundheits- oder sonstige Behörde gegenüber dem Rat der EU als zuständig benannt hat. Die Möglichkeiten, die Übermittlung von Informationen auf Anfrage einer EU-ausländischen Behörde zu verweigern, sind sehr eng. Die Übermittlung von Daten von Stuttgart nach Györ oder Barcelona soll praktisch so behandelt werden wie die Übermittlung von Daten von Stuttgart nach Wiesbaden. Die Fristen für die Übermittlung sind zudem äußerst kurz. Zwischen acht Stunden und zwei Wochen hätte eine deutsche Behörde Zeit, die Daten auf der Grundlage eines holzschnittartigen Formblatts zu übermitteln. Auch spontane Übermittlungen zwischen den als zuständig benannten Behörden verschiedener EU-Mitgliedstaaten zwischen Litauen und Portugal soll es geben, wenn konkrete Gründe für die Annahme bestehen, dass die Informationen für die Prävention oder Verfolgung schwerer Straftaten nützlich sein könnten. Es verwundert unter diesen Voraussetzungen nicht, dass sowohl Vertreter von Regierungen und Sicherheitsbehörden als auch Datenschützer davon ausgehen, dass die Umsetzung der schwedischen Initiative zu einem deutlichen Anstieg und zur Beschleunigung des Informationsaustausches in der EU führen wird. Wir Grüne wollen ein starkes Europa, einen starken Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Aber Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit und Recht auf der anderen Seite müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Eine „Securitization“ Europas unter Preisgabe der Grundrechtserrungenschaften Deutschlands wollen wir nicht. Nach Lissabon wollen und müssen wir auch das EU-Grundrecht auf Datenschutz in Zu Protokoll gegebene Reden Art. 8 der nunmehr verbindlichen EU-Grundrechtecharta in die Waagschale werfen. Der alte Rahmenbeschluss über den Informationsaustausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, den wir hier umsetzen sollen, basiert auf der Fiktion, dass die Datenschutzstandards in den EU-Staaten in etwa vergleichbar sind. Träfe das zu, könnte man Daten zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden innerhalb der EU tatsächlich weitgehend unbedenklich austauschen. Dass aber ein EU-weit vergleichbares Datenschutzniveau im Sicherheitsbereich bedauerlicherweise noch längst nicht Wirklichkeit ist, sondern pure Fiktion, bestreitet meines Wissens niemand. Wer es bestreitet, der sollte den datenschutzrechtlich völlig unzureichenden EU-Rahmenbeschluss zum Datenschutz aus dem Jahr 2008 an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die Erhebung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden messen. Er oder sie wird feststellen müssen, dass nichts von diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sich als EU-rechtliche Pflicht in dem Rahmenbeschluss wiederfindet. Die Mitgliedstaaten konnten sich 2008 aus gutem Grund gar nicht auf die Normierung datenschutzrechtlicher Standards für die Datenverarbeitung durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auf nationaler Ebene einigen. Der Rahmenbeschluss beschränkt sich deshalb auf den Datenaustausch zwischen den betreffenden Behörden der EU-Mitgliedstaaten. Das kann schon deshalb keinen ausreichenden Datenschutz garantieren, weil die übermittelten Daten im Empfängerland mit den dort erhobenen Daten zusammengeführt werden. Auch die Rechte der Betroffenen werden durch den Rahmenbeschluss Datenschutz nicht ausreichend gewährleistet. Von einem vergleichbaren datenschutzrechtlichen Schutzniveau in der EU oder gar einer europarechtlich abgesicherten Harmonisierung des Datenschutzes im Bereich des Polizei- und Strafrechts kann daher nicht die Rede sein. Unter dieser Voraussetzung können wir nicht einfach ein Gesetz verabschieden, das den praktisch ungehinderten und beschleunigten Datenaustausch mit einer Unzahl von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in der ganzen EU ermöglicht. So weit zu dem an sich schon beunruhigenden Konzept des Rahmenbeschlusses zum Informationsaustausch und seines Umsetzungsgesetzes. Lassen Sie mich weitere konkrete Gründe nennen, warum wir diesen Gesetzentwurf einer gründlichen Prüfung unterziehen sollten. Erstens fehlt es dem Gesetz an vielen Stellen an der verfassungsrechtlich gebotenen Normenklarheit. Es benennt nicht die Behörden der EU-Mitgliedstaaten, in die Daten übermittelt werden dürfen, sondern verweist Rechtsanwenderinnen und -anwender sowie Richterinnen und Richter zu diesem Zweck auf eine Liste, die irgendwo beim Generalsekretariat des Rates liegen muss. Das Umsetzungsgesetz benennt auch die Straftaten nicht, in deren Zusammenhang Daten spontan in andere Mitgliedstaaten übermittelt werden können, sondern verweist diesbezüglich auf den Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl. Darüber hinaus begnügt sich das vorgeschlagene Umsetzungsgesetz mit einem vagen Verweis auf Art. 6 des EU-Vertrages, um zu beschreiben, wann die Übermittlung aus grundrechtlichen Erwägungen heraus unterbleiben muss. Zweitens nützt das Umsetzungsgesetz die Umsetzungsspielräume nicht, die der EU-Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten gewährt. So fehlt es zum Beispiel an der Normierung einschränkender Modalitäten für Spontanübermittlungen. Es fehlt außerdem an begrenzenden Regelungen über die Weitergabe der Daten an Drittstaaten außerhalb der EU. Als letztes Beispiel für die fehlende Nutzung des Umsetzungsspielraums zugunsten der Grundrechte möchte ich anführen, dass das Umsetzungsgesetz keine inhaltlichen Anforderungen an die Ersuchen um Datenübermittlung an Drittstaaten enthält und dadurch der Übermittlung von nichterforderlichen Überschussinformationen Tür und Tor öffnet. Drittens möchte ich darauf hinweisen, dass auch dieses Umsetzungsgesetz offenbar wieder zur Ausweitung bundesdeutscher exekutiver Handlungsspielräume durch die Hintertür genützt werden soll. Wie schon zahlreiche Umsetzungsgesetzentwürfe der Bundesregierung zuvor enthält auch dieses Gesetz Rechtsverschärfungen, die mit der EU-Vorlage, dem Rahmenbeschluss, gar nichts zu tun haben. So soll zum Beispiel durch Änderungen im Bundespolizeigesetz und im BKA-Gesetz das Datenschutzniveau für die Datenübermittlung in Nicht-EUStaaten abgesenkt werden. Künftig können die „schutzwürdigen Interessen der betroffenen Personen … auch dadurch gewahrt werden, dass der Empfängerstaat oder die empfangende zwischen- oder überstaatliche Stelle im Einzelfall einen angemessenen Schutz der übermittelten Daten garantiert“. Einzelfallregelungen entsprechen nicht unseren rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Schutzstandards. Das lassen wir uns nicht so einfach unterjubeln, und das sollten auch Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, nicht tun! Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam und in aller Ruhe, bestenfalls unter Hinzuziehung externen Sachverstands, über diesen komplexen Gesetzentwurf beraten und anschließend besonnen über das weitere Vorgehen entscheiden. Lassen Sie uns den vielfältigen Entwicklungen im Sicherheitsrecht Europas Rechnung tragen, die sich seit dem Erlass des Rahmenbeschlusses 2006 vollzogen haben. Lassen Sie uns gemeinsam ein klares Ja zu Europa formulieren, gleichzeitig aber unmissverständlich klarmachen, dass es mit uns keinen Ausverkauf von Datenschutzstandards über die europäische Hintertür geben wird.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/5096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Eduard Oswald Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Drucksache 17/5053 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Ich lese die Namen der Kolleginnen und Kollegen vor, damit die Fraktionen wieder Beifall geben können: Ansgar Heveling, ({1}) René Röspel, ({2}) Stephan Thomae, ({3}) Dr. Petra Sitte, ({4}) Krista Sager.1) Sollten die Kolleginnen und Kollegen nicht da sein, bitte ich, Ihnen mitzuteilen, dass sie hier mit Beifall bedacht worden sind. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatzpunkt 11 auf: 21 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Rainer Arnold, Sören Bartol, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Stuttgart 21, Neubaustrecke Wendlin- gen-Ulm und das Sparpaket der Bundesre- gierung - zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, 1) Anlage 8 weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sofortiger Baustopp für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm - Drucksachen 17/2933, 17/2914, 17/2893, 17/5172 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Transparenter Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21 - Drucksachen 17/5041, 17/5236 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Stefan Kaufmann, Ulrich Lange, Ute Kumpf, Werner Simmling, ({7}) Sabine Leidig, Winfried Hermann.

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat empfohlen, die Anträge von SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen, die im Wesentlichen einen Baustopp zum Ziel haben, abzulehnen. Der Ausschuss hat weiterhin empfohlen, den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu einem „Transparenten Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojektes Stuttgart 21“ ebenfalls abzulehnen. Alle zur Debatte stehenden Anträge sind meiner Ansicht nach mit dem Schlichterspruch des Schlichters Dr. Heiner Geißler obsolet geworden, was ich im Einzelnen gerne erläutern möchte. Zunächst zum Antrag der SPD. Nach dem Schlichterspruch hätte die SPD die Chance gehabt, ihren Zickzackkurs beim Thema Stuttgart 21 zu beenden. Diese Chance hat sie offensichtlich aus wahltaktischen Gründen nicht genutzt. Der Schlichterspruch zu Stuttgart 21 betont, dass eine Volksabstimmung verfassungswidrig wäre und daher nicht in Betracht kommt. Mit etwas Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, das dies offenbar auch von SPD-Parteichef Siegmar Gabriel so gesehen wird. Oder wie ist die Aussage zum Volksentscheid vom 10. März dieses Jahres in der “Südwestpresse“: „vielleicht braucht man das jetzt gar nicht mehr“ zu interpretieren? Leider wurde Herr Gabriel noch am selben Tag vom SPD-Spitzenkandidaten und Möchtegern-Ministerpräsidenten Dr. Nils Schmid zurückgepfiffen. Herr Schmid hält weiter an seiner merkwürdigen KonstrukDr. Stefan Kaufmann tion eines verfassungswidrigen Volksentscheids fest. Ich kann nur dringend abraten, einen solchen Volksentscheid zu initiieren. Die Äußerungen des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle sind eindeutig. Ich zitiere ihn aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16. Oktober 2010: Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernsthaftes Problem für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten dar. Irgendwann muss hier ein Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden haben. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Einen Volksentscheid wird es nicht geben. Der SPD rate ich davon ab, ihren parteiinternen Streit in dieser Sache auf dem Rücken der Baden-Württemberger auszutragen. Zum Antrag der Linken möchte ich zwei Punkte betonen. Erstens hat die Schlichtung deutlich gemacht, dass das Projekt Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG ist. Zweitens haben unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften im Laufe der Schlichtung zudem bestätigt, dass das Projekt ausreichend finanziert ist. Auch für die Neubaustrecke, also das im Bundesverkehrswegeplan enthaltene Teilprojekt, wurde die Wirtschaftlichkeit nochmals bestätigt. Ihr Antrag ist daher folgerichtig abzulehnen. Eine dem Wahlkampf in Baden-Württemberg geschuldete totale Realitätsverweigerung erleben wir derzeit bei den Grünen. Sie haben die Faktenschlichtung gefordert, Sie haben die Person des Schlichters vorgeschlagen und Sie haben dem Verfahren zugestimmt. Da Ihnen das Ergebnis nicht passt, vermitteln Sie nun den Eindruck, als hätte es den Schlichterspruch nie gegeben. Darüber hinaus wollen Sie nun am Stresstest beteiligt werden; dem dient der jüngste der Anträge. Diese Beteiligung ist im Schlichterspruch aber nicht vorgesehen. Wie Sie wissen, wird die Bahn beginnend im April einen Stresstest durchführen und die Ergebnisse durch das schweizerische Sachverständigenbüro SMA überprüfen lassen. So wurde es im Rahmen der Schlichtung vereinbart. Der Stresstest soll im Juni abgeschlossen sein. Dies ist ein ebenso transparentes wie öffentliches Verfahren - so wie von Ihnen gefordert. Die Bahn wird den Stresstest eben nicht hinter verschlossenen Türen durchführen. Die Öffentlichkeit wird über die Schritte des Stresstests informiert, und die Bahn wird die Arbeit in einem Dialogforum zur Diskussion stellen. Da Sie sich aber ungern an Vereinbarungen halten, sind Sie sechs Tage vor der Wahl in Baden-Württemberg noch einen Schritt weitergegangen und haben die Ergebnisse eines eigenen Stresstests präsentiert, bei dem Stuttgart 21 - man glaubt es kaum - durchfällt. Bedauerlicherweise haben Sie niemanden, etwa von der Bahn oder den Projektbefürwortern, an Ihrem eigenen kleinen Stresstest beteiligt. Sie stellen nur immerzu Forderungen an die anderen. Wohlgemerkt, die Bahn selbst benötigt über ein halbes Jahr für das komplizierte Verfahren. Das Vorhaben ist deshalb so zeitaufwändig, weil zunächst alle für Stuttgart 21 geplanten Bahnanlagen - wie Gleise, Weichen, Signale und Bahnsteige inklusive der Eisenbahnstrecken rund um Stuttgart - erfasst werden müssen. Die Ergebnisse aus 100 simulierten Betriebstagen bilden dann die Grundlage, um die Leistungskapazität beurteilen zu können. In den „Stuttgarter Nachrichten“ am Montag war zu lesen, dass Sie selbst einräumen, dass nur die Bahn über die technischen Möglichkeiten für eine Computersimulation verfügt; dennoch sei Ihre stark vereinfachte Berechnung aussagekräftig. Das ist doch hanebüchen! Ich sage Ihnen, für was Ihr Aktionismus aussagekräftig ist: Es handelt sich um einen weiteren unredlichen, aber durchschaubaren Versuch, die Stuttgarter vor der Landtagswahl zu verunsichern und gegen die Zukunft aufzuwiegeln. Auf diese billige Wahlkampfmasche werden die Bürgerinnen und Bürger hoffentlich nicht hereinfallen. Seriös sind Ihre Berechnungen einmal mehr nicht. Zu Ihrem Antrag, der die Forderung nach einem sofortigen Baustopp enthält, möchte ich noch Folgendes anmerken: Mit der Schlichtung wurden die von Ihnen geforderten offenen Gespräche mit allen Beteiligten geführt. Der Bau wurde hierfür weitgehend unterbrochen. Bis ins kleinste Detail wurden die in Ihrem Antrag geforderten unterschiedlichen Aspekte des Gesamtprojekts offengelegt und intensiv diskutiert. Im Ergebnis sprach sich der Schlichter Dr. Heiner Geißler klar für eine Fortführung des Projekts und eine Weiterentwicklung zu Stuttgart 21 Plus aus. Nehmen Sie diese Tatsache bitte endlich zur Kenntnis. Lassen Sie mich nochmals kurz die Chancen des Projekts für meine Heimatstadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg skizzieren: Mit Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm stärken wir nicht nur den Fernverkehr, sondern insbesondere auch den Regionalverkehr in der Region Stuttgart und darüber hinaus. Mit dem Fildertunnel wird die Region südlich von Stuttgart inklusive des Flughafens durch schnellere Verbindungen viel besser ans Nahverkehrsschienennetz angeschlossen. Mit der Neubaustrecke nach Ulm wird die gesamte Region Oberschwaben optimal an die Landeshauptstadt Stuttgart angeschlossen. Mehrere durchgängige Regionalexpresslinien werden künftig neben U- und S-Bahn eine dritte Netzspinne bilden. All dies wird in der vom Autoverkehr sehr stark belasteten Region Stuttgart entscheidend dazu beitragen, den Personenverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Die Neubaustrecke nach Ulm und der weitere Ausbau nach Augsburg bringen eine Entlastung der A 8, eine der am stärksten frequentierten Autobahnen in Deutschland. Dies sahen selbst die Grünen bis zum Jahr 2009 so. Eine überzeugende Alternative zur Neubaustrecke haben sie auch in der Schlichtung nicht vorgebracht. Die Variante durchs dichtbesiedelte Neckartal wirft beispielsweise die Frage nach der prinzipiellen Planfeststellungsfähigkeit auf. Unabhängig davon werden die Bewohner des Neckartals die zusätzlichen Belastungen nicht widerstandslos hinnehmen. Die geplante Neubaustrecke Wendlingen-Ulm verläuft dagegen weitgehend durch weniger dichtbesiedeltes Gebiet. Weil sie parallel zur Autobahn gebaut wird, kann eine Zerschneidung der Zu Protokoll gegebene Reden Landschaft verhindert werden. Auch der Bau der Neubaustrecke hat im Übrigen schon begonnen. Lassen Sie uns diese Strecke zügig vorantreiben. Zum Schluss möchte ich noch auf die städtebaulichen Vorteile für Stuttgart selbst eingehen. Ich halte es für richtig, dass die freiwerdenden Flächen dauerhaft dem Versuch von Grundstücksspekulationen entzogen werden. Eine umfassende Bürgerbeteiligung zur Gestaltung hat bereits begonnen. Es wird ein neues lebendiges Wohnquartier und eine Erweiterung des Schlossgartens um mindestens 20 Hektar geben. An den Nahverkehr wird das Quartier bestens angeschlossen. Schon heute sind die Vorarbeiten für neue U-Bahnlinien sichtbar. Insgesamt überwiegen also die verkehrlichen und die städtebaulichen Vorteile des Projekts deutlich. Die Schlichtung hat erfreulicherweise auch dazu beigetragen, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sowohl in Baden-Württemberg als auch in der Region Stuttgart das Projekt inzwischen befürwortet, wie die repräsentativen Umfragen zeigen. Ich darf Sie daher bitten, den Beschlussempfehlungen des Ausschusses zu folgen und alle vier heute zur Diskussion stehenden Anträge abzulehnen.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Stuttgart 21 ist nicht nur für die baden-württembergische Landeshauptstadt, sondern für ganz Deutschland ein Leuchtturmprojekt. Es ist richtig, und es ist wichtig. Genauso richtig ist aber auch, dass im Vorfeld viel zu wenig auf die Bevölkerung eingegangen, die Bevölkerung bei diesem Großprojekt nicht mitgenommen wurde. Es ist das herausragende Verdienst von Heiner Geißler, dass es zu einer Befriedung, ja zu einer Versöhnung innerhalb der zerstrittenen Bevölkerung kam und eine Lösung gefunden wurde, obwohl kaum jemand eine Lösungsmöglichkeit sah. Insbesondere die Grünen hatten nicht damit gerechnet, dass es zu einer Lösung kam, und nur sehr wenige Grüne, wie der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer, waren Demokraten genug, um das Schlichtungsergebnis zu akzeptieren. Die Grünen hatten auf eine weitere Eskalation im Zusammenhang mit Stuttgart 21 gehofft, um weiter in der Gunst der Wähler zu steigen. Anschließend machte sich starke Enttäuschung breit, nicht weil die Bedeutung und die Richtigkeit von Stuttgart 21 bestätigt wurden, sondern weil es keine spektakulären Demos mehr gab, auf denen man sich als Aktivist gegen jeglichen Ausbau darstellen konnte. Deshalb werden jetzt Scheinanträge gestellt, um das Thema am Kochen zu halten. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie schüren innerhalb der Stuttgarter Bevölkerung bewusst Ressentiments, um die Spaltung in der Gesellschaft voranzutreiben, eine Spaltung, die die Schlichtung zum Glück beendet hat. Sie haben die von Ihnen geforderte Schlichtung durch Heiner Geißler erhalten. Akzeptieren Sie endlich das Ergebnis, beenden Sie Ihre Hetzkampagnen! In der öffentlichen Wirkung wurden immer nur die Grünen als Gegner von Stuttgart 21 wahrgenommen. Nur die Grünen haben davon profitiert; die SPD ist in der Bedeutungslosigkeit versunken. Lange Zeit hat die baden-württembergische SPD das Großprojekt mitgetragen. Als man sah, wie die Medien sich gegen das Projekt wandten, suchte man mit Händen und Füßen einen Grund, ebenfalls gegen den neuen Bahnhof sein zu dürfen. Man forderte eine Volksabstimmung, wohl wissend, dass das Land Baden-Württemberg gar nicht zuständig ist, wohl wissend, dass die Mehrheit der BadenWürttemberger für Stuttgart 21 ist. Hauptsache war, dass man endlich einen Grund gefunden hatte, zumindest für einen sofortigen Baustopp sein zu können. Sie haben recht, wenn Sie in Ihrem Antrag sagen, dass große Verkehrsinfrastrukturprojekte von der Unterstützung unserer Gesellschaft leben. Deshalb fand die Schlichtung statt, bei der alle Argumente pro und kontra dargelegt wurden. Geben Sie der DB AG doch die Zeit, den in der Schlichtung beschlossenen Stresstest durchzuführen und die Leistungsfähigkeit des kommenden Tiefbahnhofes zu beweisen! Wie nicht anders zu erwarten, wollten auch die Linken auf den Protestzug aufspringen. Der heute diskutierte Antrag zeigt, dass die Linken nicht bis zum Rand ihres Tellers blicken können, geschweige denn darüber hinaus. Es ist richtig, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann; aber es gibt in unserem Lande Zukunftsprojekte, die notwendig für unsere Gesellschaft, für unsere Wirtschaft, für unsere Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind. Dazu gehört der Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur. Wir müssen unsere Wirtschaft am Laufen halten, wenn wir die sozialen Leistungen wie Hartz IV bezahlen wollen; denn jede Wohltat, die verteilt werden kann, muss erst verdient werden. Sie als Nachfolger der DDR-Diktatur wissen leider nicht, was Vorsorge für die Zukunft bedeutet. Sie haben es innerhalb weniger Jahrzehnte geschafft, die Wirtschaft in Ostdeutschland zugrunde zu richten, die Verkehrsinfrastruktur verrotten zu lassen. Dass Sie sich jetzt gegen den Bau zukunftsorientierter Maßnahmen wie Stuttgart 21 und den Neubau der Strecke Wendlingen-Ulm wenden, wundert eigentlich nicht wirklich. Die Schlichtung hat den verkehrlichen Nutzen von Stuttgart 21 bestätigt. Die dadurch bedingte höhere Leistungsfähigkeit hat mehrere offensichtliche positive Effekte: Erstens Regionalverkehr: Der neue Durchgangsbahnhof wird in alle Richtungen verbunden. So ist kein Zug mehr gezwungen, zu wenden, und kann direkt Kurs auf seinen nächsten Haltebahnhof nehmen. Dadurch wird die Reisezeit verkürzt. Zweitens Fernverkehr: Stuttgart ist mit den Städten Ulm, Augsburg und München über eine uralte Strecke verbunden, auf der teilweise nur 70 Stundenkilometer gefahren werden dürfen. Durch den Neubau der Strecke Wendlingen-Ulm wird künftig eine Hochgeschwindigkeitstrasse geschaffen, mit der Folge, dass die Fahrzeit von Stuttgart nach Ulm von 54 auf 28 Minuten nahezu halbiert wird. Drittens. Die Fahrzeit bis München wird von derzeit über zweieinviertel Stunden - 139 Minuten - auf etwas mehr als eineinhalb Stunden - 102 Minuten - reduziert. Zu Protokoll gegebene Reden Viertens Güterverkehr: Durch die Neubaustrecke kommt es zu einer Entlastung der bestehenden Strecke, sodass dort zusätzliche Kapazitäten entstehen. Für die anwohnenden Schwaben wirkt sich der Ausbau auch direkt positiv aus. So kommt es zu einer deutlichen Verbesserung der Flughafenanbindung mit deutlicher Verkürzung der Reisezeiten aus den südlichen Landesteilen: Von Tübingen zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 64 auf 35 Minuten - 29 Minuten Zeitgewinn. Von Reutlingen zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 75 auf 25 Minuten - 50 Minuten Zeitgewinn. Von Nürtingen zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 68 auf 11 Minuten - 57 Minuten Zeitgewinn. Von Horb zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 66 Minuten auf 33 Minuten - 33 Minuten Zeitgewinn. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposition, geben Sie Ihre Haltung als Dauerblockierer auf, steigen Sie ein in den Zug der Zukunft, und unterstützen Sie den Ausbau von Stuttgart 21 und der Strecke Wendlingen-Ulm! Die kommenden Generationen werden es Ihnen danken.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die heute zur Debatte stehenden Anträge sind in einer Phase entstanden, als die Stimmung in Stuttgart gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hochkochte, als ein Teil der Bürgerschaft in Stuttgart sich aufgewühlt gegen die Pläne von Stadt, Bahn und Land stellte und rebellierte, als die Politiker als „Lügenpack“, „Mafiosi“ und „Kannibalen“ diffamiert wurden, als die politische Welt vereinfacht wurde in „Ihr da oben“ und „Wir da unten“. Die Gegner des Projektes Stuttgart 21 redeten über die gewählten Vertreter in den Parlamenten im Bund, im Land und in der Kommune, als seien wir alle Rosstäuscher und Berufsversager, die nichts Richtiges zustande bringen. Politiker und Experten wurden in einen Sack gesteckt, und es wurde kräftig draufgeschlagen. Stuttgart 21 wurde bundesweit zum Bürgerprotest schlechthin. Angesichts dieser Entwicklung forderte die SPD im Land wie im Bund einen Volksentscheid über Stuttgart 21 und die Zustimmung zum Projekt, da dieser aufgewühlte Volkszorn nur auf diese Weise befriedet werden kann. Ein ungewöhnlicher Vorschlag, da das Projekt in den vergangenen Jahren alle parlamentarischen Hürden genommen hatte; denn Stuttgart 21 wurde bereits über zehn Jahre hinweg in den parlamentarischen Gremien von Stadt, Land und Bund debattiert. Rund 60 Alternativen wurden beleuchtet und wieder verworfen, ehe am Ende Stuttgart 21 als beste Variante übrig geblieben ist. Die Eskalation im Sommer 2010 ist den politisch Verantwortlichen der Stadt Stuttgart und der schwarz-gelben Landesregierung zuzuschreiben - allen voran Oberbürgermeister Schuster und Ministerpräsident Mappus. Aber auch die Bahn trägt Mitschuld daran, dass sich der Protest gegen Stuttgart 21 aufschaukeln konnte. Sie sind für den Kommunikations-GAU verantwortlich. Sie haben sich lange auf die Zuschauertribünen zurückgezogen und den Kritikern das Feld überlassen, nach dem Muster: Wir haben ja die Beschlüsse, und das wird sich schon alles beruhigen. Mit einigen Aufklärungsveranstaltungen und Ausstellungen, so dachte man, seien die Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger genug informiert. Diese Einschätzung war falsch. Es stellt sich aber auch die Frage, warum sich dieser massive Protest erst im Sommer 2010, als die Pläne längst beschlossen und bekannt waren, formierte? Kam der Protest angesichts der anstehenden Landtagswahlen im März 2011 vielleicht einigen gerade recht? Der Vorschlag eines Volksentscheides wurde im Landtag Baden-Württemberg mit den Stimmen von CDU, FDP und Grünen abgelehnt. Stattdessen wurde die Schlichtung von Ministerpräsident Mappus als Lösungsweg präsentiert, als Notbremse nach dem indiskutablen und verheerenden Einsatz der Polizei am „schwarzen Donnerstag“. Die Schlichtung vor laufender Kamera trug zwar zur Entgiftung der aufgeheizten Stimmung bei, aber nicht zur Befriedung. Das Positive an dieser Form der Herstellung von Öffentlichkeit war: Ein Mythos wurde entzaubert. Es geht bei Stuttgart 21 nicht um Leben oder Tod. Es geht um ein Infrastrukturprojekt, und es geht um unterschiedliche Auffassungen, wie wir in Stuttgart und Baden-Württemberg Stadtentwicklung und Mobilität nachhaltig gestalten. Es geht darum, wie wir zukünftig mehr Verkehr von der Straße auf ein modernes europäisches Schienenverbundnetz bringen, wie wir die Verkehrsträger besser miteinander vernetzen und wie wir neugewonnene Fläche in Stuttgart zu einem hoffentlich nachhaltigen Innenstadtquartier entwickeln. Wir, das sind Stuttgart und Baden-Württemberg als leistungsstärkste Wirtschaftsregion Europas. Bei der Schlichtung sind Details und Expertenwissen zu einer höchstkomplexen Planung auf den Tisch gekommen, das öffentliche Interesse war riesengroß - Phoenix verzeichnete einen Zuschauerrekord. Heiner Geißler hat in seinem Schlichterspruch vom 30. November 2010 eine Reihe von Kritikpunkten der Gegner aufgenommen, die bei der weiteren Planung und Durchführung des Projekts Stuttgart 21 berücksichtigt werden sollen. Schwachstellen wurden identifiziert, die beseitigt werden sollen. Das Projekt Stuttgart 21 soll baulich attraktiver, umweltfreundlicher, behindertenfreundlicher und sicherer gemacht werden. Im Klartext heißt das, aus Stuttgart 21 wird Stuttgart 21 plus. Zum zentralen Ergebnis der Stuttgart-21-Schlichtung gehört der verordnete Stresstest. Die SPD unterstützt den Stresstest. Mit dieser Computersimulation muss die Deutsche Bahn die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs nachweisen. Sie muss zeigen, dass der im Bau befindliche Tiefbahnhof von Stuttgart 21 in der Spitzenstunde am Morgen bis zu 49 Züge abfertigen kann. Beim Schlichterspruch und Stresstest dürfen Bahn, Land und Stadt keine politischen Spielchen treiben. Transparenz hat höchste Priorität. Zu Protokoll gegebene Reden Die Deutsche Bahn AG muss den Stresstest öffentlich gestalten und im Dialog mit den Kritikern bleiben. Die Bahn darf nicht den Eindruck erwecken, hinter verschlossenen Türen zu agieren. Die Proteste halten trotz der Schlichtung an, zwar weniger vehement, aber sie finden statt, montags und samstags mit nachlassender Beteiligung. Daher halten wir es nach wie vor für unumgänglich, unseren vorgeschlagen Weg einer Volksabstimmung zu gehen. Wir alle sind gut beraten, neue Wege der Beteiligung zu gehen und dafür die rechtlichen Grundlagen zu schaffen. Wir müssen Antworten auf die Frage geben, wie wir künftig Bürgerbeteiligung bei Großprojekten gestalten. Wir beschleunigen die Zustimmung zu Projekten nicht, indem wir weniger Beteiligung möglich machen. Zustimmung zu Großprojekten kann gewonnen werden, wenn frühzeitig, umfassend und nachvollziehbar informiert wird, Beteiligungsformen neu entwikkelt und die Vorschläge aus der Bürgerschaft aufgenommen werden. Der Ausbau der Rheintalbahn und das Konzept „Baden 21“ der Bürgerinitiativen im Rheintal können hier Vorbild sein. Auch wir in den Parlamenten müssen unsere Hausaufgaben machen. Lassen wir bei den großen Verkehrsprojekten das populistische Süppchenkochen! Das Säen von Misstrauen - so wie jüngst durch das Schnellgutachten der Grünen zum Stresstest - und das Surfen auf der Skandalisierungswelle führen in die Irre und zerstören das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. Die Forderung der SPD nach einem Verzicht auf den Weiterbau von Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstimmung war und ist richtig. Große Infrastrukturprojekte brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach dem 27. März wird sich zeigen, wie der Volksentscheid auf den Weg gebracht werden kann. Wir, die SPD, stehen zu S 21 und auch zu S 21 plus. Wir stehen als SPD aber auch dafür, dass ein derartig wichtiges Projekt nicht über zehn Jahre hinweg unter Polizeischutz gebaut wird. Der Schlichterspruch braucht die demokratische Legitimation, und das geht nur über einen Volksentscheid.

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine im Sommer 2010 ziemlich angespannte Situation um das Projekt Stuttgart 21 wurde in einem modellhaften Schlichtungsverfahren zu einem für alle Beteiligten annehmbaren Ergebnis geführt. Allen voran gilt unser Dank der hervorragenden Arbeit des Schlichters Dr. Geißler. Alle am Schlichtungsverfahren beteiligten Gruppen haben am 30. November 2010 den Schlichterspruch, der auch die Durchführung eines Stresstests fordert, akzeptiert. Während der Schlichtung wurde vereinbart, dass die DB AG den Stresstest unter Begutachtung der Firma SMA durchführt. Auch damit haben sich alle Beteiligten einverstanden erklärt. Die DB AG hat bereits frühzeitig mitgeteilt, dass der Stresstest nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden wird, wie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag behauptet. Vielmehr werden die Zwischenergebnisse sowie die weitere Realisierung des Projektes durch ein von der Landesregierung geschaffenes Dialogforum begleitet. Unter Leitung des Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ({0}), Professor Dr. Johann-Dietrich Wörner, wird der partnerschaftliche Dialog mit den Projektgegnern fortgesetzt. Mit dem Forum wird eine Plattform geschaffen, die über den Austausch hinaus Anregungen und Vorschläge bei der weiteren Realisierung des Projekts erarbeitet und einbringt. So kann in verschiedenen Dialoggruppen, beispielsweise zur Baubegleitung oder zur Parkgestaltung, die Umsetzung von Stuttgart 21 aktiv begleitet werden. Wir sind somit auf einem guten und richtigem Weg. Gleichwohl dürfen wir uns nicht zurücklehnen, sondern müssen die bei Stuttgart 21 aufgezeigten Defizite im Planungsverfahren aktiv angehen. Wir brauchen bei künftigen Großprojekten eine verbesserte Transparenz, kürzere Planungsverfahren sowie zu einem früheren Zeitpunkt mehr Bürgerbeteiligung. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben bereits in einem Positionspapier „Beteiligung und Erneuerung - 16 Punkte zur Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung bei privaten und öffentlichen Investitionen“ Wege aufgezeigt, wie das Planungsrecht bürgerfreundlicher gestaltet werden kann, ohne dabei auf die nötige Infrastruktur zu verzichten. Denn wir brauchen auch in Zukunft staatliche Infrastrukturprojekte und große private Investitionsvorhaben in Deutschland. Forschung und Entwicklung befördern neue Technologien. Neue Technologien schaffen neue Industrien, eine schnellere und bessere Bahn mit neuen Schienenwegen und Bahnhöfen, klimafreundliche Energie nicht ohne neue Anlagen zur Energiegewinnung und neue Leitungsnetze. Wir müssen Bürokratie abbauen und Verfahren vereinfachen, um staatliche und private Investitionen zu beschleunigen und um zusätzliche Wachstumsimpulse zu setzen. Zugleich müssen wir weiterhin hohe Umweltschutzstandards gewährleisten sowie mehr Transparenz der Verfahren und mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen, um die Akzeptanz für Großprojekte zu verbessern. In diesem Sinne setzt die FDP-Bundestagsfraktion sich für einen Paradigmenwechsel ein. Wir wollen einerseits die Verfahren und Prozesse beschleunigen und andererseits die Bürger stärker einbeziehen. Information und Beteiligung ist kein Recht, das der Staat seinen Bürgern gewährt, sondern das Grundprinzip einer freien und liberalen Bürgergesellschaft. Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung widersprechen sich dabei in einem Rechtsstaat nicht, sondern sie ergänzen sich. Denn eine frühzeitige Bürgerbeteiligung bedeutet auch stärkere Akzeptanz, reduziert damit die Zahl der Klagen und beschleunigt am Ende das Verfahren. Dabei sind eine stärkere Nutzung neuer Medien, beispielsweise E-Governance, anzustreben und die Öffnung des Planungsrechts für Mediationsverfahren sowie eine stärkere Rolle von Bürgerentscheiden bei der Bestimmung der Eckpunkte des Planungsverfahrens hervorzuheben. Wir werden dem Deutschen Bundestag in Kürze die entsprechenden Gesetzentwürfe vorlegen. Zu Protokoll gegebene Reden

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zum notwendigen Ausstieg aus dem unterirdischen Projekt Stuttgart 21 will ich nichts mehr sagen. Es ist entlarvt, und die Gegenargumente sind publik - dank der starken Protestbewegung. Am vergangenen Samstag konnten alle, die es wollten, sehen und hören: Der Widerstand gegen Stuttgart 21 wird wieder stärker. Die Irritationen, die es im Zusammenhang mit dem unverantwortlichen, einseitigen und anmaßenden Schlichterspruch von Heiner Geißler gab, spielen kaum mehr eine Rolle. Es waren wieder 50 000, die gegen dieses Projekt, das für die Stadt und den Schienenverkehr zerstörerisch wirkt, auf die Straße gingen. Der Regisseur Volker Lösch hat dort in 600 Sekunden 60 Lügen vorgetragen, die zur Begründung von S 21 angeführt werden, und sie widerlegt. Und wie schon bei vorhergehenden Kundgebungen skandierten die Leute: „Lügenpack! Lügenpack!“ Das ist es, worüber ich reden will. Selbstverständlich verwende ich nicht den Begriff „Lügenpack“; aber sowohl die Bundeskanzlerin Frau Merkel als auch der Verkehrsminister Herr Ramsauer und der Ministerpräsident Herr Mappus verspielen in eklatanter Weise politische Glaubwürdigkeit und fügen damit der demokratischen Kultur Schaden zu. Das dürfte das Parlament nicht geschehen lassen. Zunächst zur Kanzlerin, die vor einigen Monaten vehement für das Projekt und gegen ein Bürgerbegehren gesprochen hat, weil ansonsten die Vertrauenswürdigkeit Deutschlands bei Investoren und Wirtschaftspartnern leide. Dieselbe Frau Merkel hat gerade offenbart, dass solche Schwarzmalerei mitnichten der Wahrheit entspricht. Bis vor kurzem hat sie behauptet, dass Atomkraftwerke weiterlaufen müssen, weil sonst unsere Energieversorgung gefährdet sei. Nach dem Super-GAU von Fukushima und vor den Landtagswahlen wurden jetzt sieben alte Atomkraftwerke abgeschaltet. Es ist kein Licht ausgegangen. Aber einigen ging ein Licht auf: Tatsächlich ist ein kompletter Ausstieg aus der Atomenergie möglich. Aber das wurde bestritten, um den Energiekonzernen die Extraprofite von 1 Million Euro täglich aus jedem abgeschriebenen AKW zu sichern. Übrigens hängt auch die Deutsche Bahn AG in der Atomseilschaft; sie ist an einem AKW beteiligt und fährt erheblich mit Atomstrom. Wenn es die Bundeskanzlerin ernst meinen würde mit ihrer neuen Atomkraftskepsis, dann müsste sie dem einen Riegel vorschieben; immerhin handelt es sich hier um ein Unternehmen, das sich zu 100 Prozent in Bundeseigentum befindet. Die DB AG muss sich komplett von der Atomenergie verabschieden und auf regenerative Energien umsteigen! Zudem muss der Chef von RWE, Jürgen Großmann, den der Verkehrsminister im Aufsichtsrat der DB AG platziert hat, ausgetauscht werden. Zweitens zu Bundesverkehrsminister Ramsauer: Er verweist immer wieder auf die europäischen Güterströme und die großen Verkehrsachsen in Europa. Allerdings wissen wir inzwischen alle, dass die S-21-Neubaustrecke Wendlingen-Ulm mit 35 Promille steiler sein wird als die Geislinger Steige und dass dort wohl gar keine Güterzüge fahren werden. Im Rheintal dagegen oder um Fulda herum müsste dringend ausgebaut werden, damit mehr Güterverkehr auf der Schiene rollen kann - aber da fehlen die Investitionsmittel. Das heißt: Die sündhaft teure Neubaustrecke nutzt dem Schienengüterverkehr rein gar nichts; im Gegenteil: Sie behindert die Verlagerung von der Straße auf die Schiene. Aber warum hält Herr Ramsauer daran fest? Er forciert PPP-Projekte, bei denen Autobahnen mit Geldern privater „Investoren“ finanziert und realisiert werden, denen dann die Mauteinnahmen zufließen. Aktuell treibt der Bundesverkehrsminister den sechsspurigen Ausbau der Autobahn Augsburg-Ulm auf diese Weise voran, nachdem der Abschnitt München-Augsburg bereits durch PPP ausgebaut wurde. Als Nächstes wäre in dieser Logik der Autobahnausbau Ulm-Stuttgart dran. Die „Schwäbische Zeitung“ schreibt am 3. Januar 2011: Privatautobahn: Der Albaufstieg wird teuer. Nach dem erfolgreichen Pilotprojekt München-Augsburg steht nun die Strecke nach Ulm auf dem Programm. Und weiter heißt es zu den PPP-Autobahnprojekten: Sicher ist: Ohne reichlich Lastwagen rechnet sich die Sache nicht. Die Investoren reagieren höchst hellhörig auf jeden Versuch, mehr Güter mit der Bahn zu transportieren. Es scheint, dass der Verkehrsminister lügt, wenn er sagt, dass er die Schiene stärken will. In Wahrheit ist er „ein Mann der Straße“, wie ihn die „Financial Times Deutschland“ bei Amtsantritt vorstellte. Schließlich noch ein Wort zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten: Herr Mappus kaufte mit viel Steuergeld den Atomstromenergiekonzern EnBW. Dabei spielt ein Mappus-Freund, der Investmentbanker Dirk Notheis, eine wichtige Rolle. Derselbe Herr Notheis ist eng mit dem Projekt der Bahnprivatisierung verbunden. Dazu schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 14. Dezember 2010: Mit einem Staatsauftrag, der Notheis besonders am Herzen lag, war er … 2008 gescheitert: Unter dem Code-Namen „Oktoberfest“ wollte der Badener ... die Deutsche Bahn an die Börse bringen. Eine äußerst unglaubwürdige Zickzackpolitik: Mappus lässt Baden-Württemberg einen Energieriesen kaufen, der sich besonders für Atomstrom engagiert. Der Vermittler des Geschäfts ist ein engagierter Bahnprivatisierer. Eine Woche vor der Wahl nimmt man einen Atommeiler vom Netz, der auch noch Atomstrom an die Bahn lieferte. Und was würden Mappus und Merkel nach der Wahl machen, wenn sie diese ohne allzu große Blessuren überstehen sollten? Die Mehrheit der Bevölkerung weiß darauf eine Antwort: Das Ganze ist lediglich ein Manöver - dann gingen die Atomkraftwerke wieder ans Netz. Zu Protokoll gegebene Reden Übrigens: Am meisten Beifall erhielt Volker Lösch auf Lüge 59. Sie lautet: Mappus und Merkel behaupten, der 27. März sei „die Volksabstimmung über S 21“. Wahr ist, dass der Kampf - unabhängig vom Ausgang der Wahl - weitergehen wird! So wie der Laufzeitverlängerungsdeal nicht der Energiesicherheit diente, sondern den Stromkonzernen, die mit jedem Tag, an dem ein abgeschriebenes AKW weiterläuft, 1 Million Euro machen, so dient Stuttgart 21 nicht einem besseren Bahnverkehr, sondern den Tunnelbohr-, Beton- und Immobilienkonzernen. So wie die Bevölkerung bei der Atomkraft getäuscht worden ist, wird sie bei S 21 belogen. So wie AKW dem Ausbau erneuerbarer, dezentraler Energien entgegenstehen, steht S 21 dem Ausbau einer besseren Bahn im Weg. Es ist höchste Zeit für eine andere Politik: Atomkraftwerke abschalten - jetzt und für immer! Und: Stuttgart 21 abblasen und stattdessen bahnsinnige Alternativen bauen!

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der heutigen Debatte zum Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs reden wir zunächst über drei Oppositionsanträge vom September 2010, die sich alle, wenn auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung, für einen sofortigen Baustopp des Projektes Stuttgart 21 und für mehr Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger einsetzen. Darüber hinaus diskutieren wir einen aktuellen Antrag meiner Fraktion für einen transparenten Stresstest zur Leistungsfähigkeit des unterirdischen Bahnprojektes Stuttgart 21. Anlass für die Anträge vom September letzten Jahres waren die monatelangen Proteste und Großkundgebungen der Gegner des Projektes, die seit dem Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs täglich zu Tausenden kreativ und friedlich gegen Stuttgart 21 demonstrierten. Sie stammen also aus der Zeit vor dem Versuch der baden-württembergischen Landesregierung am 30. September 2010, mit einem unverhältnismäßig harten Polizeieinsatz das Projekt gewaltsam durchzusetzen, was zur Eskalation der Situation führte. Hunderte Menschen, die in Stuttgart im Park friedlich gegen die Baumfällarbeiten der Deutschen Bahn AG demonstrierten, wurden verletzt. Die politische Verantwortung dafür tragen Ministerpräsident Mappus und Innenminister Rech, nicht der Polizeipräsident; der trägt seine eigene Verantwortung als Polizeichef. Erst dieser Eklat, der in eine bundesweite Diskussion über die unzureichende Beteiligung der Öffentlichkeit bei Großprojekten und die Durchsetzung solcher Projekte gegen massiven Widerstand aus breiten Schichten der Bevölkerung mündete, führte dazu, dass Gegner und Befürworter des Projektes sich an einer Art rundem Tisch unter Leitung von Heiner Geißler zur sogenannten Faktenschlichtung trafen. Das führte zur Versachlichung der Diskussion und dazu, dass endlich deutlich mehr - allerdings noch längst nicht alle - Fakten auf den Tisch kamen, als sie den Parlamenten in Stadt, Land und auf Bundesebene zuvor je zugänglich gemacht worden waren. Doch ein entscheidender Akteur saß nicht mit am Tisch. Der Bund bzw. das Bundesverkehrsministerium hielt sich fein raus. Warum eigentlich? Die Frage stellt sich vor allem, weil der Bund der Hauptzahler für den Umbau des Bahnknotens Stuttgart 21 und für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ist. Dies war ein großer Mangel des Verfahrens; denn so fanden seine Interessen keinen Eingang in das Schlichtungsergebnis. Die Konsequenzen für den Bundeshaushalt insbesondere bei der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, die bereits heute eine Deckungslücke von 865 Millionen Euro aufweist, wurden nicht berücksichtigt, obwohl Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke des Bundes gar nicht funktioniert, sondern ohne Schienenanschluss im Nichts stehen würde. Dabei ist das Schlichtungsergebnis für Stuttgart 21 vernichtend gewesen, und der Bund als Eigentümer der DB AG und verantwortliche Instanz für den Aus- und Neubau des bundeseigenen Schienennetzes hätte davon höchst alarmiert sein müssen, insbesondere was die Wirtschaftlichkeit des Projektes betrifft. Denn der zentrale Satz im Schlichterspruch von Heiner Geißler lautete: „Ich kann den Bau des Tiefbahnhofs nur befürworten, wenn entscheidende Verbesserungen vorgenommen werden.“ Mit anderen Worten, Stuttgart 21 in seiner alten Form ist tot. Es weist eklatante Mängel im Betriebskonzept auf, und der geplante unterirdische Engpass könnte nur durch erhebliche, teure Nachbesserungen beseitigt werden. Damit sind neue Planfeststellungsverfahren nötig, die einen erheblichen Zeitverzug und massive Kostensteigerungen bedeuten. Dies bestätigt unser Misstrauen und die Forderung unseres Antrages vom September 2010. Ein Baustopp ist so lange zwingend erforderlich, bis die Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 überprüft wurde. Erst danach kann eine Entscheidung über das Projekt endgültig gefällt werden. Doch wie sieht nun diese Überprüfung von Stuttgart 21 nach der Faktenschlichtung in Stuttgart aus? Heiner Geißler hatte in seinem Schlichterspruch sehr deutlich gemacht, dass der unterirdische Tunnelbahnhof nur als Stuttgart 21 plus funktioniert. Deshalb forderte er unter anderem die Erweiterung des Bahnhofs von ursprünglich acht geplanten Gleisen auf zehn Gleise sowie zahlreiche zusätzliche Baumaßnahmen an den Zulaufstrecken, und er forderte, dass die DB AG im Rahmen einer Belastungssimulation eines sogenannten Stresstestes den Nachweis erbringen müsse, dass Stuttgart 21 überhaupt in der Lage ist, in Spitzenbelastungszeiten die behaupteten 30 Prozent mehr an Kapazität gegenüber dem bestehenden Kopfbahnhof zu erbringen. Trotzdem behaupteten DB AG sowie das Land und seine Partner schon unmittelbar nach der Schlichtung, die von Geißler geforderten Nachbesserungen seien gar nicht notwendig. Der Stresstest werde ergeben, dass man so verfahren könne, wie ursprünglich geplant. Das ist ja an sich schon bezeichnend, weil damit quasi das Ergebnis schon vorher feststeht und man den Zu Protokoll gegebene Reden vielgelobten Schlichter Heiner Geißler Lügen straft, bevor der Stresstest überhaupt vollzogen wurde. Verwunderlich ist es jedoch nicht, wenn man weiß, dass die DB AG den Stresstest hinter verschlossen Türen durchführt und weder unabhängige Experten noch Kritiker des Aktionsbündnisses daran beteiligt werden sollen. Bei Stuttgart 21 soll genauso verfahren werden wie in den Jahren zuvor. Die DB AG präsentiert Ergebnisse, die auf Zahlen, Daten und Fakten basieren, die nur der DB AG zugänglich sind und die der Eigentümer Bund und im Falle von Stuttgart 21 auch die übrigen Projektpartner dann so glauben müssen. Die angebotene Einsicht im Nachhinein ist keine echte Kontrolle, weil man nicht weiß, was an Daten eingegeben wurde. Die öffentliche Kontrolle unterbleibt, obwohl maßgeblich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die Risiken und die damit verbundenen Kostensteigerungen aufkommen müssen. Stattdessen werden die Bürgerinnen und Bürger erneut damit abgespeist, dass das Projekt durch parlamentarische Beschlüsse legitimiert sei, obwohl diese auf der Grundlage fragwürdiger Informationen bzw. besser gesagt Nichtinformationen zustande gekommen sind. Das ist für uns in höchstem Maße unglaubwürdig, und darauf wollten wir uns verlassen. Schließlich mussten wir in den letzten Jahren seit Gründung der DB-Aktiengesellschaft schon viele schlechte Erfahrungen mit der Informationspolitik des DB-Konzerns sammeln. Deshalb hat die grüne Landtagsfraktion in den letzten Wochen eine eigene Studie zur Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist dramatischer als befürchtet. Stuttgart 21 erbringt nur dann die Leistung, die der unsanierte Kopfbahnhof bereits heute erbringen kann, wenn alle von Heiner Geißler aufgestellten Nachbesserungen vorgenommen werden, also das sogenannte Stuttgart 21 plus vollständig umgesetzt wird. DB AG und das Land wollen also gegen allen gesunden Menschenverstand Milliarden sinnlos verschleudern für ein Projekt, das nichts anderes kann als der alte Bahnhof, nur damit dieser unter der Erde verschwindet. Und der Bund schaut tatenlos zu. Und was sind die Konsequenzen? Es werden auf Jahrzehnte große Teile der Haushaltsmittel für den Schienenausbau für ein sinnloses Doppelprojekt verschwendet. Sie, liebe Regierungskoalitionäre, nehmen damit wider besseres Wissen in Kauf, dass der Ausbau von Projekten mit immenser verkehrlicher und volkswirtschaftlicher Bedeutung wie zum Beispiel der Ausbau der Hafenhinterlandstrecken von den Nordseehäfen in Richtung Südeuropa deshalb aufgeschoben werden muss. Für die Folgen nämlich, dass die Güter dort nicht rechtzeitig auf die klimafreundliche Schiene verlagert werden können und ab 2017 vor dem dann hervorragend ausgebauten Gotthardtunnel in der Schweiz im Stau stecken bleiben, sind Sie voll verantwortlich. Ebenso sind Sie voll verantwortlich, wenn der erst vor wenigen Tagen hier im Hause versprochene anwohnerfreundliche Ausbau der Rheintalbahn sich noch um Jahrzehnte verzögert, weil die Mittel sinnlos vergraben werden. Das ist skandalös und verantwortungslos. Und deshalb kann ich Ihnen nur zurufen: Kommen Sie endlich zur Vernunft, und stoppen Sie dieses unsägliche Projekt! Investieren wir in einen zukunftsfähigen Schienenverkehr in Baden-Württemberg und in der ganzen Republik.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5172. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2933 mit dem Titel „Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2914 mit dem Titel „Stuttgart 21, Neubaustrecke Wendlingen-Ulm und das Sparpaket der Bundesregierung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2893 mit dem Titel „Sofortiger Baustopp für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zusatzpunkt 11. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Transparenter Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5236, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5041 abzulehnen. Wer ist für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr - Drucksache 17/5057 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Vizepräsident Eduard Oswald Reden der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Vogel, Ulrich Lange, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, Patrick Döring, ({1}) Thomas Lutze, Dr. Anton Hofreiter.

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die auf der EU-Ebene beschlossene Verordnung zu den Fahrgastrechten im Kraftomnibusverkehr regelt alle nationalen und grenzüberschreitenden Linienverkehrsdienste im Langstreckenverkehr bei einer Entfernung ab 250 Kilometer. Sie tritt im Frühjahr 2013 in Kraft, und die Nationalstaaten haben die Möglichkeit, eine Schonfrist von vier Jahren mit einer einmaligen Verlängerung, also insgesamt acht Jahren, zu beschließen. Folgende wesentliche Regelungen wurden im Vermittlungsausschuss auf europäischer Ebene vereinbart: Verzögert sich die Abfahrt um mehr als 90 Minuten, haben die Fahrgäste bei Fahrten mit planmäßiger Dauer von über drei Stunden Anspruch auf Imbisse und Erfrischungen. Im Fall einer Unterbrechung der Fahrt, eines Unfalles oder bei Verspätungen, die eine Übernachtung erfordern, muss der Anbieter zusätzlich die Hotelkosten für maximal zwei Übernachtungen von bis zu 80 Euro pro Nacht aufkommen. Wünscht ein Fahrgast, nach einer Reiseantrittsverspätung von 120 Minuten von der Reise zurückzutreten, hat er das Recht auf die volle Fahrpreiserstattung. Die Verordnung sieht zudem eine Entschädigung in Höhe von 50 Prozent des Fahrpreises zusätzlich zur Erstattung des regulären Fahrpreises vor, wenn ein Anbieter nach einer Verspätung von zwei Stunden eine Fahrt annulliert und diese auch nicht auf geänderter Streckenführung oder mit anderen Transportmitteln durchführen kann. Der Anbieter ist nur bei Naturkatastrophen oder extremen Wetterbedingungen, die eine sichere Weiterreise unmöglich machen, hiervon befreit. Für verlorene oder beschädigte Gepäckstücke sollen Busunternehmen zukünftig mit bis zu 1 200 Euro haften, es sei denn, die nationale Gesetzgebung sieht höhere Entschädigungsleistungen vor. Des Weiteren ist eine Haftungssumme von bis zu 220 000 Euro für Todesfälle und Verletzungen von Fahrgästen vorgesehen. Insgesamt wurde eine ausgewogene Lösung im Europäischen Parlament erzielt, die sowohl die Rechte der Busreisenden schützt und dennoch die Existenz der zumeist kleinen und mittleren Busunternehmen sichert. Der Geltungsbereich der Verordnung umfasst zwar nur die Touren mit einer Gesamtlänge ab 250 Kilometer, aber auch Passagiere, die nicht die gesamte Strecke mitfahren, genießen den Schutz der Verordnung und haben somit ein Recht auf Schadenersatz. Dies gilt auch bei Annullierungen von Reisen, Überbuchungen oder Verspätungen. Hier muss der Veranstalter zwingend eine andere Lösung zur Fortsetzung der Reise anbieten oder den Fahrgast auf andere Weise entschädigen. Eigentlich muss man den Fernbusverkehr nicht für die Fahrgäste attraktiv machen, denn er ist es bereits. Die Fahrgäste haben keinerlei Gepäcktransfersorgen, und sie kommen für deutlich weniger Geld von A nach B als mit anderen Verkehrsmitteln. Die Fahrgastrechteverordnung ist unter Mitwirkung aller Beteiligten rechtmäßig zustande gekommen. Bei dem Vermittlungsverfahren auf EU-Ebene wurden bereits circa 50 Änderungen zum Entwurf des Rates mitgeteilt und teilweise übernommen. Unter anderem wurde der Geltungsbereich von 500 auf 250 Kilometer abgesenkt, und statt der zunächst vorgesehenen drei grundlegenden Fahrgastrechte sind nun zwölf aufgeführt. Die Grünen hatten während des gesamten - seit 2005 währenden - Prozesses die Gelegenheit, sich einzubringen und ihre Argumente vorzubringen. Die Verordnung sieht nicht ohne Grund davon ab, alle Fahrgastrechte auf alle Streckenlängen auszuweiten. Von „Rechtlosigkeit“ der Buspassagiere kann keine Rede sein. Bestimmte Basisrechte - auf Information bzw. auf Hilfeleistung nach Unfällen - gelten auch unabhängig von der Streckenlänge. Würden die von den Grünen gemachten Vorschläge so verwirklicht, hätte dies zur Folge, dass der Fernbusverkehr so teuer wäre, dass kaum ein Fahrgast ihn bezahlen könnte bzw. wollte, und das wäre dann erst recht kein verantwortungsvolles Handeln im Interesse der Verbraucher. Im Übrigen arbeiten die Unternehmen bereits jetzt sehr gut mit der im Antrag erwähnten Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V. ({0}) zusammen. Aus deren Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist. Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen hier nur vier den Busverkehr. Dies ist nicht Ausfluss fehlender Fahrgastrechte, sondern eher die Folge großer Fahrgastnähe. Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, sodass diese ihn weiterempfehlen und wiederkommen. Außerdem dürfte die von den Grünen darüber hinaus geforderte verpflichtende Beteiligung an einer Schlichtungsstelle zwar unter gewissen Voraussetzungen rechtlich möglich sein. Doch muss dazu deutlich gesagt werden, dass bereits heute, unabhängig vom Verkehrsmittel, der Zugang zur Schlichtungsstelle gewährleistet ist. Außerdem wird durch einen Schlichterspruch nicht das Recht ausgeschlossen werden, auch ein rechtsbindendes Urteil vor einem staatlichen Gericht erstreiten zu dürfen. Ich bin der Meinung, dass es jetzt erst einmal gilt, die Regelungen in der Praxis zu beobachten, um dann bei Bedarf weitere Maßnahmen zu ergreifen. Ich wünsche den Ausschussmitgliedern intensive und konstruktive Diskussionen.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Schutz der Verbraucher ist ein wichtiges Recht in Deutschland. Auch der Fahrgast muss geschützt werden, egal ob er mit dem Zug, dem Flugzeug oder dem Bus unterwegs ist. Mit ihrem Antrag auf Fahrgastrechte im Busverkehr suggerieren die Grünen unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes, dass Buspassagiere, die weniger als 250 km reisen, in Deutschland nahezu rechtlos seien. Dies ist aber nicht der Fall. Auch diese Busfahrgäste haben viele Rechte, beispielsweise das Verbot der Diskriminierung von Fahrgästen aufgrund ihrer Nationalität; das Verbot der Diskriminierung von Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität sowie finanzielle Entschädigungen bei Verlust oder Beschädigung ihrer Mobilitätshilfen infolge eines Unfalls; Mindestvorschriften für die Information aller Fahrgäste vor und während der Fahrt sowie allgemeine Unterrichtung über ihre Rechte an den Busbahnhöfen und über das Internet; Einrichtung eines Verfahrens für die Bearbeitung von Fahrgastbeschwerden; die Benennung unabhängiger nationaler Stellen in allen Mitgliedstaaten mit dem Auftrag, die Verordnung durchzusetzen und Verstöße gegebenenfalls zu ahnden. Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf die vorhergehende Anfrage der Grünen auf den bestehenden Rechtsschutz für die Buspassagiere hingewiesen. Sowohl im Busreiseverkehr als auch im Linienverkehr liegen die Rechte der Fahrgäste und die Haftung der Unternehmen an der europäischen Spitze. Wir stehen der europarechtlichen Regelung von Fahrgastrechten auch im grenzüberschreitenden Busfernlinienverkehr positiv gegenüber. Dieser kann jedoch nicht eins zu eins auf den Nah- und Regionalverkehr übertragen werden. Denn während nach Kommissionsangaben im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr jährlich europaweit 72,8 Millionen Busfahrgäste befördert werden, waren es 2008 allein im ÖPNV in Deutschland 5,4 Milliarden Busfahrgäste. Dies stellt für die praktischen, wirtschaftlichen und verwaltungsbezogenen Folgen europaweit verbindlicher individueller Fahrgastrechte eine völlig andere Dimension dar. Der Antrag der Grünen ist nicht fachdienlich. Er wird zu keinen besseren Busverbindungen führen, sondern im Gegenteil, er würde, wenn er denn durchkäme, zu weniger Wettbewerb und damit zu weniger Verbindungen bei wesentlich höheren Fahrpreisen führen. Dies wollen wir nicht. Dies ist mit uns nicht zu machen! Verspätungen - egal ob in der Bahn, im Flieger, im eigenen Auto oder mit dem Bus - sind immer unangenehm. Aber wir müssen natürlich im Falle einer Verspätung fragen: Wer hat die Zeitverzögerung verursacht, wer ist schuld? Wenn ein Stau aufgrund eines Unfalls entsteht, wenn der Busfahrer bei plötzlich auftauchendem Nebel oder Blitzeis seine Geschwindigkeit halbieren muss, kann da der Busunternehmer mit allen Folgekosten in Regress genommen werden? Im Gegensatz zu den Bahnen fahren die Busse auf öffentlichen Straßen und nicht auf Sondertrassen. Verspätungen im Busverkehr gehen in der Regel auf Straßenund Witterungsverhältnisse zurück. Der Busfernverkehr ist also in besonderer Weise von Straßenzustand, Verkehrsfluss und Witterung abhängig. Daher ist eine übermäßige Haftung für Verspätungsschäden äußerst problematisch, weil die Verspätungen in der Regel auf Umständen beruhen, die vom Busunternehmer nicht beeinflussbar sind. Die Vorstellung der Grünen vom Busverkehr gehen an der Realität vorbei. So soll die diskriminierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, seheingeschränkten und mobilitätseingeschränkten Personen zwingend vorgeschrieben werden. Aber nicht jeder Bus hat eine Hubeinrichtung, um einem Schwerstbehinderten den Einstieg zu ermöglichen. Das haben nur wenige Busse. Wollen Sie alle anderen vom Wettbewerb ausschließen? Die besten Rechte auf dem Papier nützen nichts, wenn sie praxisfern sind. Ein Kardinalfehler bei Ihnen von den Grünen ist, dass Sie bei Ihren Überlegungen nicht die Unternehmer mit ins Boot nehmen. Wie bei Stuttgart 21 der Fehler gemacht wurde, die Bevölkerung nicht in die Planungen einzubeziehen, ignorieren Sie die berechtigten Belange der mittelständigen Busunternehmer und stellen Ihre Forderungen realitätsfremd vom fernen Schreibtisch aus. Zu Ihrer Forderung, eine verpflichtende Beteiligung von Busfernreiseunternehmen an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, vorzusehen, möchte ich Ihnen sagen, dass die Busunternehmen schon lange sehr gut mit der SÖP zusammenarbeiten. Es muss nicht alles juristisch vorgeschrieben werden. Haben Sie etwas Vertrauen in unsere soziale Marktwirtschaft. Auch im Busverkehr werden sich langfristig die kundenfreundlichen Busunternehmen durchsetzen. Aus dem söp-Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist. Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen 1 509 die Bahn, 98 den Flugverkehr und 4 den Busverkehr. Dies ist nicht ein Anzeichen für fehlende Fahrgastrechte, sondern für große Fahrgastnähe und Kundenzufriedenheit. Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, sodass diese wiederkommen und ihn weiterempfehlen. Fahrgastrechte auch im Buslinienverkehr sind wichtig. Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Übertriebene Forderungen führen nur zu weniger Wettbewerb, geringerem Angebot und hohen Fahrpreisen. Das ist nicht im Sinne der Verbraucher und der Fahrgäste. Treten Sie ein in einen konstruktiven Dialog mit den betroffenen Unternehmen, um einen für alle Seiten akzeptablen Kompromiss zu finden.

Ulrike Gottschalck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004043, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind gesetzlich verankerte Rechte für Verbraucherinnen und Verbraucher, die wirksam durchgesetzt werden, sehr wichtig. Wir wollen, dass Kundinnen und Kunden grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe mit Anbietern von Dienstleistungen und Produkten am Markt teilnehmen und agieren können. Zu Protokoll gegebene Reden Im Bereich der Fahrgastrechte hat die sozialdemokratische Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, in der Großen Koalition das Fahrgastrechtegesetz durchgesetzt. Es trat am 29. Juli 2009 in Kraft. Mit diesem Gesetz wurden die deutschen eisenbahnrechtlichen Vorschriften an die Verordnung ({0}) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr angepasst. Mit diesem Gesetz wurden die Rechte der Fahrgäste maßgeblich verbessert und gegenüber den europäischen Vorgaben erheblich erweitert. Bahnkundinnen und Bahnkunden erhalten ab einer Verspätung von 60 Minuten einen Anspruch auf Erstattung von 25 Prozent des Fahrpreises. Bei einer Verspätung ab 120 Minuten erhalten sie dank dieses Gesetzes einen Anspruch auf Erstattung von 50 Prozent des Fahrpreises. Ein sehr wichtiger weiterer Schwerpunkt dieses Gesetzes ist die Möglichkeit für den Fahrgast, eine Schlichtungsstelle anzurufen, wenn es zu Streitfällen mit einem Eisenbahnunternehmen kommt. Mit dem Gesetz von Brigitte Zypries ist die sogenannte Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V., abgekürzt söp, gegründet worden. Diese Schlichtungsstelle hat mittlerweile sehr erfolgreiche Arbeit geleistet und sich eine parteiübergreifende Anerkennung erworben, parteiübergreifend sowohl im poltischen Spektrum als auch bei Fahrgästen und Verkehrsunternehmen. Die söp kann immerhin eine Schlichtungsquote von 91 Prozent aufweisen. Und das heißt, dass bei 91 Prozent der Fälle, die von der söp bearbeitet worden sind, beide Streitparteien den Schlichterspruch der söp angenommen haben. Oftmals konnte durch einen solchen Schlichterspruch sogar das Vertrauensverhältnis zwischen Fahrgast und Verkehrsunternehmen wiederhergestellt werden. Aus vielen Informationsquellen weiß ich, dass dieses System gut gelingt. Die Passagiere kommen an die Entschädigungen, die ihnen zustehen, ohne vorher zeit-, nerven- und kostenaufwendig vor deutschen Gerichten zu klagen, was bei einem Streitwert zwischen 50 und 100 Euro und darunter oftmals nicht wirklich ernsthaft in Betracht gezogen wird. Unter dem Dach dieser Schlichtungsstelle beteiligen sich heute mehr als 120 Verkehrsunternehmen im Sektor Bahn, Bus, Schiff, ÖPNV und teilweise auch im Flugbereich freiwillig am Schlichtungsverfahren. Dieser Ansatz der verkehrsträgerübergreifenden Schlichtung schafft Kundenfreundlichkeit, Stärkung der Verbraucherrechte und gleiche Augenhöhe von Kunden und Dienstleistern, die in vielen anderen Bereichen nicht vorhanden ist. Deshalb setzen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns für eine möglichst breite Beteiligung der Verkehrsunternehmen am Schlichtungsverfahren unter dem Dach der söp ein. Wir unterstützen den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, „Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr“, auch in dem Punkt, die verpflichtende Beteiligung von Busfernreiseunternehmen an der Schlichtungsstelle söp vorzusehen, wenngleich wir wissen, dass eine verpflichtende Beteiligung bei einem Schlichtungsverfahren einen Widerspruch in sich selbst darstellt. Wir hoffen jedoch, durch solch eine pointierte Formulierung einen Prozess voranzutreiben, um mehr Verkehrsunternehmen dazu zu bringen, sich der söp anzuschließen. Denn es ist uns doch allen klar, dass ohne die freiwillige Mitarbeit der Verkehrsunternehmen eine Schlichtung nicht möglich sein kann. Es liegt auch in der Natur eines Schlichterspruchs, dass er nur erfolgreich ist, wenn sich beide Streitparteien daran freiwillig gebunden fühlen. Außerdem kommt die Schlichtung immer erst dann zum Einsatz, wenn der oder die Reisende von dem betroffenen Verkehrsunternehmen keine befriedigende Antwort erhalten hat. Die Befürchtung mancher Verkehrsunternehmen, vom Staat in ein Schlichtungsverfahren gezwungen zu werden, entbehrt einer realen Grundlage. Vielmehr gibt es gute Gründe auch für Verkehrsunternehmen, sich freiwillig einem verkehrsübergreifenden Schlichtungsverfahren anzuschließen. Brigitte Zypries hat mit dem von ihr durchgesetzten Fahrgastrechtegesetz für den Bereich Bahn auch die Rechte von behinderten Personen und Personen mit eingeschränkter Mobilität sehr gestärkt. Das Gesetz schreibt vor, dass Bahnhöfe, Bahnsteige, Fahrzeuge und sonstige Einrichtungen für Personen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich sein müssen. Wir begrüßen den Vorstoß der Grünen, mit ihrem vorliegenden Antrag zu fordern, diese Rechte auch auf den Bereich Bus auszudehnen. Gerade angesichts der Aktivitäten der Bundesregierung, mit dem seit Januar vorliegenden Referentenentwurf zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle das Fernverkehrsmonopol der Bahn aufzugeben und ab 2012 einen Fernbusverkehr in Deutschland zulassen zu wollen, kommt der Stärkung der Fahrgastrechte im Busbereich eine besondere Bedeutung zu. Der Entwurf zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle der Bundesregierung wird mehr Fahrgäste von der Schiene auf den Bus umleiten. Die Möglichkeit, Sozialund Qualitätsstandards vorzugeben, wird durch den Gesetzentwurf ausgehebelt. Eine nichtregulierte Freigabe des Fernlinienbusverkehrs ohne Mautpflicht und Fahrgastrechte ermöglicht den Fernlinienbussen niedrige Preise, die dem Schienenverkehr Fahrgastverluste und Streckenstilllegungen bescheren werden. Will man wirklich gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Fernbus und Fernzug, muss man auch für beide Verkehrsmittel gleiche Fahrgastrechte vorschreiben. Schließlich beinhaltet der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt. Ohne eine Durchsetzung der Verbraucherrechte im Busfernverkehr ab dem ersten Kilometer, wie es die Grünen in dem vorliegenden Antrag fordern, würden nach der aktuell vereinbarten EU-Verordnung über die Fahrgastrechte im Omnibusverkehr die Fahrgastrechte erst nach der Überschreitung einer Reisedistanz von 250 Kilometern gelten. Das heißt, dass für Busse von Aachen nach Trier, von Luxemburg nach Saarbrücken oder von Berlin Zu Protokoll gegebene Reden nach Stettin keinerlei Entschädigungsregeln gelten würden, würden wir die kürzlich verabschiedete EU-Verordnung eins zu eins in Deutschland umsetzen. Das können wir nicht akzeptieren. Es ist uns bewusst, dass die Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem vorliegenden Antrag über den gegenwärtigen Status quo der vorhandenen Fahrgastrechte hinausgehen, auch über den Status quo der Fahrgastrechte, die wir für den Bahnbereich durch das Fahrgastrechtegesetz von Brigitte Zypries erreicht haben. Die Grünen fordern Entschädigungsansprüche bereits ab 30 Minuten Verspätung und nicht erst ab 60 Minuten, wie es das Fahrgastrechtegesetz vorsieht. Eine Forderung des vorliegenden Antrags lautet ebenfalls, ein verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau für Fahrgäste zu erreichen. Sollen beide Forderungen, Entschädigungsansprüche ab 30 Minuten Verspätung für Busreisende und verkehrsträgerübergreifendes Schutzniveau für alle Fahrgäste, gleichzeitig umgesetzt werden, müssten auch die Fahrgastrechte für Bahnkunden entsprechend weiter ausgebaut werden. Wir setzen uns für umfassende Rechte für Fahrgäste ein; deshalb können wir auch den vorliegenden Antrag unterstützen. Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang aber auch, dass wir nicht an jeder einzelnen Forderung des vorliegenden Antrags mit aller Macht festhalten werden. Wir können die Stoßrichtung des vorliegenden Antrags unterstützen; allerdings werden nicht alle Forderungen dieses Antrags von uns als unabdingbar betrachtet. Über die eine oder andere Forderung werden wir sicherlich noch einmal vertieft diskutieren. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns für die Stärkung der Rechte der Fahrgäste ein, haben in Regierungsverantwortung zur Stärkung der Fahrgäste einiges erreicht und freuen uns, wenn wir, wie der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zeigt, in diesem Bereich einen Bündnispartner gefunden haben.

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gehe davon aus, dass wir alle eine Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr wollen. Am 15. Februar dieses Jahres hat das EU-Parlament die Verordnung über Fahrgastrechte im Busverkehr angenommen. Nach Stärkung der Fahrgast- und Passagierrechte im Luft-, Eisenbahn- und Schiffsverkehr regelt diese Verordnung erstmalig Fahrgastrechte auch für den Busverkehr. Dies ist lobenswert! Allerdings gehen diese Rechte nicht weit genug. Dass Fahrgastrechte erst ab 250 Kilometer gelten sollen, ist nicht hinnehmbar. Dass Menschen mit Behinderungen keine verbindliche Assistenz zusteht, ist beschämend. Extreme Wetterbedingungen und damit auch höhere Gewalt sind nicht genauer definiert und hinterlassen damit einige Schlupflöcher. Daher begrüßen wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Besonders begrüßen wir Verbraucherpolitiker, dass sie die Fahrgastrechte im Busfernverkehr auf nationaler Ebene stärken wollen. Wenngleich wir einer Änderung des Personenbeförderungsgesetzes aus bekannten Gründen nicht zustimmen wollen, wird es wohl, sobald die Gesetzesänderung durch ist, auf deutschen Straßen zu wesentlich mehr Busfernverkehr kommen. Da müssen wir vorsorgen! Verbraucherrechte ab dem ersten Kilometer durchsetzen zu wollen, ist sinnvoll, sofern es sich dabei um Fernverkehr handelt. Entschädigungsansprüche bei Verspätungen zu fordern, um ein verkehrsübergreifend gleiches Schutzniveau zu erreichen, ist ebenfalls sinnvoll. Allerdings sollte hier genau überlegt werden, ob man dann nicht auch die Fahrgastrechte verkehrsübergreifend anpasst. Das heißt im Klartext: Entschädigung ab 60 Minuten Verspätung. So ist es auch bei der Bahn geregelt. Diese Position haben wir bereits in der vergangenen Wahlperiode vertreten, und dabei bleiben wir! Die Forderung, Schadenersatzansprüche auf den tatsächlich entstandenen Folgeschaden zu gewährleisten, betrachten wir eher mit Skepsis. Soll ein Busunternehmen wirklich für ein Musicalticket in Hamburg aufkommen, wenn der Bus aus Berlin sich verspätet hat? Das Recht auf Nutzung anderer Verkehrsmittel ohne zusätzliche Kosten dürfte selbstverständlich sein. Dies unterstützen wir natürlich. Ebenso selbstverständlich muss eine diskriminierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, Seh- und Mobilitätseingeschränkten sein. Darüber diskutieren wir nicht. Eine Beteiligung der Reise- und Fernbusunternehmen an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V. fordern wir genauso wie Bündnis 90/ Die Grünen. An dieser Stelle sei eine kurze Aufforderung an die Fluggesellschaften erlaubt, sich ebenfalls an dieser Möglichkeit einer außergerichtlichen Schlichtung zu beteiligen. Auch das fordern wir seit langem mit Nachdruck. Bereits in dem Antrag „Reisende besser schützen“ haben wir Informations- und Vermittlungszentren an allen Verkehrsknotenpunkten als kritisch und nicht durchführbar angesehen. Wenn Sie das Gleiche nun auch in Ihrem Antrag zu Fahrgastrechten im Omnibusfernverkehr fordern, halten wir das wiederum für nicht durchführbar. Gegen eine Evaluierung und Erfassung mit Verspätung oder nicht beförderter Personen im Busverkehr haben wir nichts einzuwenden. Diese Forderung dürfte aber so lange vernachlässigbar sein, bis das Personenbeförderungsgesetz geändert ist. Es ist seit Jahren ein Grundanliegen der SPD-Fraktion, die Rechte der Verbraucher zu stärken; viele Initiativen wurden bereits ergriffen. Das Anliegen des Antrages ist richtig. Ich halte eine Zustimmung aller Fraktionen für wünschenswert.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nach langen und zähen Verhandlungen einigten sich das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten vor wenigen Monaten auf die Einführung weitreichender und europaweit einheitlicher Fahrgastrechte im BusverZu Protokoll gegebene Reden kehr. Ebenso wie im Luft- und Eisenbahnverkehr gelten ab dem Frühjahr 2013 auch für Fahrgäste im nationalen sowie internationalen Buslinienfernverkehr gleiche Haftungsregeln und Entschädigungsansprüche. Darüber hinaus werden mit der neuen Verordnung, die in allen Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht darstellt, Mindestvorschriften für die Information aller Fahrgäste vor und während der Reise verankert. Menschen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität soll zusätzliche Unterstützung zukommen. Das sind Ansätze, die ich sehr begrüße. Mit der neuen Verordnung wird das europäische Regelwerk schließlich für die Nutzer aller Verkehrsarten vervollständigt. Doch wie bei so manchem, was aus Brüssel kommen, steckt auch hier der Teufel im Detail. Lassen Sie mich nur auf zwei kleine, jedoch nicht minder wichtige Punkte eingehen: Der erste Punkt ist das Subsidiaritätsprinzip. Bei grenzüberschreitenden Linienverkehren scheint es durchaus sinnvoll, ja sogar wünschenswert, europaweit einheitliche Mindeststandards bei den Fahrgastrechten festzulegen. Doch im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr werden in Europa jährlich nur 72,8 Millionen Fahrgäste befördert. Im deutschen ÖPNV waren es im Jahr 2008 hingegen über 5,3 Milliarden Fahrgäste, die den Bus wählten. Um die Größenordnung noch einmal zu verdeutlichen: Der gesamte grenzüberschreitende Buslinienfernverkehr in der Europäischen Gemeinschaft entspricht gerade einmal 1,4 Prozent des deutschen Buslinienverkehrs im ÖPNV. Vor diesem Hintergrund erschließt es sich mir nicht, warum inländische Busverkehre und insbesondere der öffentliche Personennahverkehr aus Brüssel reglementiert werden sollen. Ferner sei angemerkt, dass die Organisation und Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs in Deutschland gemäß Regionalisierungsgesetz immer noch den Ländern obliegt. Und natürlich steht es den nach Landesrecht zuständigen Aufgabenträgern frei, bei der Umsetzung der Nahverkehrspläne auch über den in der Verordnung gefundenen Kanon grundlegender Fahrgastrechte hinauszugehen. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion können kommunale Verkehre immer noch am besten dort geregelt werden, wo sie auch stattfinden, nämlich vor Ort. Der zweite Punkt, der von der FDP-Bundestagsfraktion stets wachsam und kritisch begleitet wird, ist die Frage der Verhältnismäßigkeit. Im Rahmen der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes ist die christlich-liberale Koalition gerade dabei, den deutschen Buslinienfernverkehr zu liberalisieren. Mit diesem ordnungspolitisch längst überfälligen Schritt bietet sich die Chance, Angebot und Qualität des Fernverkehrs in Deutschland spürbar zu verbessern. Bei der angestrebten Marktöffnung gibt es jedoch zahlreiche Punkte, die beachtet werden müssen. Insbesondere dürfen wir den vielen kleinen und mittelständischen Busunternehmern durch die Auferlegung von Pflichten keine Kosten aufbürden, die für die Unternehmen nicht zu überwindende Marktzutrittsschranken darstellen. Dessen ungeachtet muss, um auch das mit aller Deutlichkeit zu sagen, der Staat natürlich regulierend eingreifen, sollte nach der Liberalisierung ein Marktversagen beobachtet werden. Aber bitte nicht vorher! Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst die Praxis der Verordnung zu beobachten und zu analysieren, ehe wir, wie in dem uns vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, über zusätzliche Maßnahmen diskutieren, die weit über die Forderungen der Europäischen Union hinausgehen.

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Fahrgäste im Fernbusverkehr genießen weit weniger Rechte als die Nutzerinnen und Nutzer anderer Verkehrsträger. Auch die jüngsten Festlegungen auf europäischer Ebene bleiben weit hinter dem Notwendigen zurück. Der rechtliche Schutz für Reisende im Fernbusverkehr ist, verglichen mit den übrigen Verkehrsträgern, der schlechteste. Besonders bei Verspätungen sind die Regelungen völlig unzureichend. Mit der Klausel von den „extremen Wetterbedingungen“ hat überdies dieselbe schwammige Formulierung ihren Weg ins Regelwerk gefunden, die schon im Bereich des Flugverkehrs fast ausschließlich zum Nachteil der Kundinnen und Kunden ausgelegt wird. In einem solchen Fall gelten die Fahrgastrechte nicht. Schätzungen zufolge werden 60 Prozent der Verkehrsnachfrage auf Fernbuslinien aus dem schienengebundenen Verkehr abgezogen. Deshalb ist es gerade im Hinblick auf die Liberalisierung des Fernbusverkehrs dringend geboten, auch die Anbieter von Busreisen rechtlich in die Pflicht zu nehmen. Wettbewerbsvorteile für den Reiseverkehr auf der Straße dürfen nicht über die fehlenden Rechte der Fahrgäste gewonnen werden. Der Fernbusreiseverkehr muss beim Schutz der Fahrgäste mindestens mit dem Bahnsektor gleichziehen. Dass Menschen mit eingeschränkter Mobilität, wie beispielsweise Rollstuhlfahrer, weiterhin von der Nutzung von Fernbuslinien ausgeschlossen werden können, weil eine Beförderungspflicht und eine zwingende entsprechende technische Ausstattung der Fahrzeuge nicht vorgesehen ist, ist schlicht eine Unverschämtheit. Die Bundesregierung ist hier in der Pflicht, Art. 9 der UNBehindertenrechtskonvention Geltung zu verschaffen und diskriminierende Barrieren auch im Busfernlinienverkehr abzuschaffen. Der vorliegende Antrag der Grünen greift einige weitere wichtige Punkte zur Verbesserung der Rechtssituation von Fahrgästen im Fernlinienbusverkehr auf, von denen die Linke einige unterstützen kann. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Vorteile des Reisens mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind unbestritten. Vom Effizienzvorteil des öffentlichen Verkehrs profitieren Verbraucher und Umwelt gleichermaßen. Weniger Energieverbrauch bedeutet weniger Mobilitätskosten, weniger Emissionen und weniger Umweltfolgekosten. Und nicht zu vergessen: Öffentliche Verkehrsmittel bieten Mobilität für alle, also auch Zu Protokoll gegebene Reden für Kinder, Ältere, mobilitätseingeschränkte Personen und sozial Schwache. Umso wichtiger ist es, den öffentlichen Verkehr attraktiver zu gestalten. Menschen steigen gern auf die öffentlichen Verkehrsmittel um, wenn das Angebot stimmt. Überall dort, wo ein Angebot neu geschaffen oder nennenswert verbessert wurde, schnellen die Fahrgastzahlen in die Höhe. Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik muss deshalb der Kunde stehen. Das bedeutet: Wir brauchen hohe Pünktlichkeitsquoten und einen Taktfahrplan, der schnellstmögliche Verbindungen sicherstellt. Aber auch das Angebot an Beratung und der Service müssen stimmen. Reisen muss für Eltern mit Kindern, Rollstuhlfahrer, geheingeschränkte Personen und Reisende mit Gepäck komfortabel sein. Deshalb ist eine durchgehend barrierefreie Bahninfrastruktur nicht nur für mobilitätseingeschränkte Personen wichtig. Zudem brauchen wir verbindliche, leicht verständliche Fahrgastrechte. Denn Fahrgastrechte sind das A und O für die Verbraucher. Gestärkte Fahrgastrechte bedeutet, auf Verspätungen rechtzeitig aufmerksam zu machen, entstandene Schäden in vollem Umfang zu ersetzen, Ausweichmöglichkeiten frei zur Verfügung zu stellen sowie verbraucherfreundliche und barrierefreie Informationspflichten zu Reiseverbindungen, Fahrplänen, voraussichtlichen Störungen und Verspätungen vorzuschreiben. Fahrgäste dürfen nicht länger mit Minimalstandards abgespeist werden. Doch genau das ist in Deutschland der Fall. Die europäischen Regelungen segmentieren nach Transportmitteln. Die im Februar erlassene Verordnung über Fahrgastrechte im Busverkehr sollte Buspassagieren mehr Rechte bei Verspätungen, Annullierungen oder ähnlichen Ärgernissen zukommen lassen und die Standards denen im Bahnverkehr anpassen. Doch die Verordnung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Im Vergleich zu den anderen Verkehrsträgern fallen die Rechte für Busreisende am schlechtesten aus. Ein wirksamer Schutz der Passagiere im europäischen Busverkehr wird vor allem dadurch verhindert, dass nennenswerte Fahrgastrechte erst bei einer Entfernung von über 250 Kilometern Anwendung finden. Damit gelten für den größten Teil aller Busfahrten in Europa effektiv keine umfassenden Fahrgastrechte. Beschämend ist auch, dass die Rechte der Menschen mit eingeschränkter Mobilität bescheiden sind: Verbindliche Ansprüche auf Unterstützung im Busverkehr wird es nicht geben. Schließlich wurde den Busunternehmen ein weiteres Schlupfloch eröffnet: Im Falle „extremer Wetterbedingungen“ - die nicht genau bestimmt sind - werden die Fahrgastrechte ausgesetzt. Schon bei der Umsetzung der Fluggastrechte-Verordnung hat sich gezeigt, dass diese Klausel eindeutig auf Kosten der Reisenden geht. Das würde auch die Schaffung unabhängiger Schlichtungsstellen, die dringend geboten ist, nicht ausmerzen können. Hinzu kommt, dass durch die Ungleichbehandlung der verschiedenen Verkehrsträger bestehende Wettbewerbsverzerrungen weiter verschärft werden. So zahlen Eisenbahnen - im Gegensatz zu Bussen - nicht nur auf jedem Streckenkilometer eine Maut in Form von Trassenpreisen; vielmehr gelten für die Bahn auch deutlich stärkere Fahrgastrechte. Gerade vor dem Hintergrund der in Deutschland anstehenden Liberalisierung des Buslinienverkehrs ist eine solche künstliche Verzerrung zwischen zwei konkurrierenden Verkehrsmitteln nicht akzeptabel. Eine unserer wichtigsten Forderungen ist daher, die Verbraucherrechte im Busfernverkehr schon ab dem ersten Kilometer durchzusetzen und Entschädigungsansprüche ab 30 Minuten Verspätung vorzusehen, um ein verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau für Fahrgäste zu erreichen. Von entscheidender Bedeutung ist aber, die diskriminierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, seheingeschränkten und mobilitätseingeschränkten Personen zwingend vorzuschreiben. Die Bundesregierung verfügt nach eigener Auskunft weder über aktuelle Informationen zur Barrierefreiheit von Fernbuslinien, noch beabsichtigt sie, die Genehmigung des innerstaatlichen Busfernlinienverkehrs an den Einsatz barrierefreier Busse zu binden. Dieses Handeln widerspricht ganz klar Art. 9 und 20 der UN-Behindertenrechtskonvention. Zudem verschärft es noch die Zugangsbedingungen für die öffentlichen Nah- und Fernlinienbusse insofern, als auch zukünftig in neue Barrieren investiert werden kann. Wir brauchen verkehrsübergreifende Regelungen, die das Verbraucherschutzniveau für Kunden des öffentlichen Verkehrs bestimmen und gleichzeitig Unternehmen Planungssicherheit in Bezug auf mögliche Ansprüche von Kunden geben. Dies muss einerseits auf europäischer Ebene vorangetrieben werden; andererseits sind verbraucherfreundlichere Strukturen im nationalen Rahmen durchzusetzen. Die Grünen werden deshalb einen verkehrsträgerübergreifenden Antrag aufsetzen, in dem, im Sinne der Verbraucherfreundlichkeit und Barrierefreiheit, Informationspflichten zu Reiseverbindung, Fahrplänen, Fahrtverlauf, voraussichtlichen Störungen und Verspätungen sowie der barrierefreie Zugang zu allen Verkehrsträgern festgeschrieben werden. Auch die Einrichtung einer unabhängigen, verkehrsübergreifenden Schlichtungsstelle, wie sie CDU, CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag verankert haben, aber bis heute nicht angegangen sind, ist für die Stärkung der Verbraucherrechte im öffentlichen Verkehr unabdingbar. Denn Rechte müssen auch durchgesetzt werden können. Sowohl für Unternehmen als auch für die Reisenden hat sich dieses Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung bei Bahnreisen bewährt. Umso wichtiger ist es, dieses Angebot für alle Verkehrskunden bereitzustellen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5057 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein11434 Vizepräsident Eduard Oswald verstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Karin Binder, Frank Tempel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei massiv beschränken - Drucksache 17/5055 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Günter Baumann, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, ({1}) Ulla Jelpke, ({2}) Wolfgang Wieland.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte, bevor ich mich zu dem beschämenden Antrag der Linkspartei äußere, unseren Bundespolizistinnen und Bundespolizisten meinen Dank für Ihr großes Engagement zum Schutz der Bevölkerung aussprechen. Ich nenne diesen Antrag beschämend; denn Sie, Mitglieder der Linken, unterstellen den Beamtinnen und Beamten, nicht nur den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen, sondern dies auch noch leichtfertig, expansiv und unverhältnismäßig zu tun. Diesen Grundgedanken Ihres Antrags weise ich entschieden zurück. Die Zahl der im Einsatz verletzten Landes- und Bundespolizisten steigt von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2010 wurden so viele Bundespolizisten wie noch nie angegriffen, seit solche Attacken im Jahr 2000 erstmals statistisch erfasst wurden. 2010 kam es zu über 2 000 Attacken gegen Bundespolizisten. Im Vergleich zu 2009 bedeutet dies einen Anstieg von 33 Prozent. Ich nenne hier nur einige Ereignisse: 1. Mai 2008, Berlin: 103 verletzte Polizisten; 1. Mai 2009, Berlin: 479 verletzte Polizisten; 19. Februar 2011, Dresden: 82 verletzte Polizisten. Hier sprach die Gewerkschaft der Polizei von einer „Explosion der Gewalt durch linksextremistische Straftäter“ gegen die Polizei. Die Beamten wurden unter anderem mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Flaschen beworfen. Sicherlich demonstriert eine Vielzahl der Menschen friedlich. Wie jedoch die eben genannten Zahlen zeigen, ist die Gewaltbereitschaft einiger Demonstranten extrem gestiegen. Die Anwendung von Pfefferspray ist im Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes, UZwG, geregelt. Bei der Anwendung von Zwangsmitteln - dies sind nach Gesetz Hieb- und Schusswaffen, Reizstoffe und Explosivmittel - sind alle in Deutschland Polizeidienst verrichtenden Beamtinnen und Beamten streng an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dieser Grundsatz ist kein Novum, denn das UZwG trat im Jahr 1961 in Kraft. Sie fordern in Ihrem Antrag etwas, was seit 50 Jahren Bestand hat. Deshalb ist der Antrag nichtig. Außerdem - das möchte ich hier noch einmal betonen - steht es jedem, der den Einsatz eines Zwangsmittels gegen sich vermeiden möchte, frei, den Anweisungen der Polizei Folge zu leisten. Es liegt doch in der Natur der Sache, dass Zwangsmittel eine Art von Wirkung entfalten müssen, da ansonsten der Vollzug der polizeilichen Anordnung gegen den Widerstand nicht erfolgen könnte. Bei Einsatz der Pfeffersprays besteht die Wirkung aus einer zeitlich begrenzten Reizung der Schleimhäute. Somit schließt der Einsatz eines solchen Zwangsmittels die Lücke zwischen einfacher körperlicher Gewalt und dem Einsatz von Schusswaffen. Vor Einführung des Pfeffersprays bei den Polizeien der Länder und der Bundespolizei wurden Studien zur Wirkung und zu eventuellen Gefahren von Pfefferspray durchgeführt. Es ist kein Todesfall in Deutschland bekannt, bei dem als Ursache der vorherige Gebrauch von Pfefferspray nachgewiesen wurde. Auch die in Ihrem Antrag auftauchende amerikanische Bürgerrechtsbewegung ACLU hat entgegen dem Bekunden der Linkspartei eben nicht festgestellt, dass 26 Personen nach dem Einsatz von Pfefferspray gestorben sind; vielmehr hat sie festgestellt, dass das Pfefferspray nicht die primäre Ursache der der American Civil Liberties Union bekannten Todesfälle in Kalifornien zu sein scheint. Außerdem möchte ich anmerken, dass ich es für sehr bedenklich halte, wenn man sich für die Begründung des Antrags auf ein „Gutachten“ stützt, das ein Mitglied der eigenen Partei verfasst hat. Es ist immer möglich, dass es bei der Anwendung von Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt bei dem Betroffenen zu - möglichst vorübergehenden - Beeinträchtigungen kommt. Aber auch hier ist festzuhalten und nochmals zu verdeutlichen, dass Pfefferspray nur dann eingesetzt wird, wenn mildere Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der polizeilichen Verfügung keinen Erfolg haben. Und auch in diesem Fall wird der Einsatz grundsätzlich vorher angekündigt, um den Personen die Möglichkeit zu geben, dieses Ereignis durch ihre eigene Entscheidung noch abzuwenden. Für die polizeiliche Aufgabenstellung ist der Einsatz von Pfefferspray grundsätzlich völkerrechtlich zulässig. Pfefferspray ist für den Polizeieinsatz ein geeignetes Mittel. Technische Weiterentwicklungen machen heutzutage gezieltes Sprühen möglich; somit kann die Gefährdung unbeteiligter Dritter ausgeschlossen werden. Folglich zielt auch die Gefährdung von unbeteiligten Dritten bei Demonstrationen als Begründung des Antrags für ein Verbot von Pfefferspray ins Leere. Ich möchte kurz resümieren: Pfefferspray ist ein zugelassener Reizstoff, es ist völkerrechtlich zulässig und wird nur eingesetzt, wenn es erforderlich ist und eine geeignete sowie angemessene Maßnahme ist. Deshalb bleibt hier nur eine Entscheidung zu treffen: Der Antrag der Linken ist eindeutig abzulehnen.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Fraktion Die Linke spricht in ihrem Antrag eine Problematik an, die in der Tat bei den geschilderten Ereignissen in Stuttgart im September des vergangenen Jahres zutage getreten ist. Wir alle haben wohl noch die erschreckenden Bilder vor Augen, wie gegen überwiegend friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten mit unnötiger Härte vorgegangen wurde, wobei auch Pfefferspray zum Einsatz kam. So gibt es Videos, in denen Beamte zu beobachten sind, die ungezielt bzw. wahllos Pfefferspray einsetzen, um Demonstrantinnen und Demonstranten zum Verlassen des Ortes zu veranlassen. Hierbei hätte auch einfache körperliche Gewalt, wie zum Beispiel das Wegtragen, als milderes Mittel gereicht. Das baden-württembergische Polizeigesetz schreibt in § 52 Abs. 1 vor, dass das angewandte Mittel unmittelbaren Zwangs - und als solches ist der Einsatz von Pfefferspray zu bewerten - nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen sein muss. Wenn, wie in Stuttgart geschehen, auch eine große Anzahl älterer Leute, junger Familien und Kinder friedlich an einer solchen Versammlung teilnimmt, dann ist es offenkundig, dass der Einsatz von Pfefferspray gegen diese Personen nicht verhältnismäßig ist. Deshalb beantragte die SPD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg den Untersuchungsausschuss „Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten“, der die politische Verantwortung für den harten Polizeieinsatz offenlegen sollte. Diese Verantwortung trägt nach Ansicht der SPD-Fraktion der Ministerpräsident Mappus, der bei einer Vorbesprechung die Entscheidung an sich zog und den Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray billigte - so das Ergebnis des Untersuchungsausschusses. Aus meiner polizeilichen Arbeit kenne ich den Einsatz von Pfefferspray sehr wohl, allerdings immer nach dem Grundsatz, einfache körperliche Gewalt dem Einsatz schwerwiegenderer Hilfsmittel vorzuziehen. Vordringlich dient er im Rahmen des unmittelbaren Zwangs dazu, Gefahren abzuwehren und den Schusswaffengebrauch zu vermeiden. Diese Einsatzweise findet im Wesentlichen im Einzeldienst Anwendung und soll einen Störer vorübergehend angriffsunfähig machen. Hierbei ist selbstverständlich zu beachten, nicht auf die Augen des Betroffenen zu zielen. Die Fraktion Die Linke fordert in dem vorliegendem Antrag, den Einsatz von Pfefferspray gegen Menschen zu verbieten, die sich in Ansammlungen wie einer Demonstration oder bei einem Fußballspiel befinden. Das halte ich für übertrieben und nicht zielführend. Schließlich erlaubt auch das Gesetz über den unmittelbaren Zwang, UZwG Bund, in § 10 Abs. 2 den Schusswaffengebrauch gegen eine Menschenmenge. Der Einsatz von Schusswaffen ist ein viel schärferes Mittel als der Einsatz von Pfefferspray und mit deutlich größerer Gefahr für Leib und Leben verbunden. Deshalb muss es möglich bleiben, unterhalb des Schusswaffengebrauchs über ein polizeiliches Einsatzmittel zu verfügen. Die Forderung nach einer massiven Einschränkung geht zu weit. Bedingte Einschränkungen halte ich für ausreichend. Diese sind aber in den Polizeigesetzen der Länder bereits enthalten. Auf § 52 Abs. 1 Polizeigesetz Baden-Württemberg wurde bereits hingewiesen. Ferner ist im UZwG des Bundes und der Länder der Einsatz von Zwangsmitteln detailliert geregelt und unterliegt stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der über allen polizeilichen Handlungen „schwebt“. Verstöße gegen diese Bestimmungen bei Einsätzen der Polizei sind natürlich zu verfolgen und müssen gegebenenfalls strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Ein Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem hier vorgelegten Inhalt ist deshalb nicht erforderlich.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist schon erstaunlich, dass die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag so tut, als lebten wir in einem Polizeistaat, in dem Polizisten wahllos und willkürlich den Tod von Menschen hinnehmen, um sich das Leben leichtzumachen. Das finde ich schon ein starkes Stück! Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland, seien sie von der Bundespolizei oder von den Polizeien der Länder, die sich im Prinzip jedes Wochenende bei Großveranstaltungen für die Gewährleistung der Sicherheit in Gefahr begeben und die bei Demonstrationen oft genug verletzt werden, sind doch nicht die, die sich vor allem mit Rechtsbruch hervortun; im Gegenteil. Aber auf einen Antrag der Linksfraktion, in dem klargestellt und auch eingefordert wird, dass vom Versammlungsrecht Gewalt nicht umfasst ist, können wir wahrscheinlich lange warten. Da wird mit zweierlei Maß gemessen; im Grunde wird hier überhaupt ganz maßlos argumentiert: Wenn Steine auf Polizisten geworfen werden, machen Sie die Augen zu und behaupten hinterher noch, dass die armen Demonstranten bestimmt von der bösen Polizei provoziert wurden. Wenn aber Polizistinnen und Polizisten gegen Randalierer vorgehen, dann soll ihnen nach Meinung der Linken am besten nur noch erlaubt sein, Rechtsbruch mit Streicheleinheiten zu bekämpfen. Das kann aber nicht funktionieren. Das ist mit unserem Rechtsstaat auch nicht vereinbar. Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland sind an Recht und Gesetz gebunden, und Sie müssten eigentlich ganz genau wissen, wie eng und strikt das Regelwerk ist, innerhalb dessen Einsätze der Polizei stattfinden. Immerhin regiert die Linkspartei ja bedauerlicherweise in einigen Bundesländern und hat dort die Verantwortung für die Polizei. Da frage ich mich: Darf die Polizei in Berlin zum Beispiel bei Naziaufmärschen oder bei den 1.-Mai-Steinewerfern solche Teilnehmer von DemonstraZu Protokoll gegebene Reden tionen, die das Recht brechen, nur durch exzessives Kuscheln dazu bewegen, sich an Recht und Gesetz zu halten? Nein, natürlich nicht. Die Polizei muss die Möglichkeit haben, unseren Rechtsstaat zu schützen. Ich erinnere daran, dass die Linke im Grunde möchte, dass der Polizei vollkommen die Hände gebunden sind: Wasserwerfer finden Sie schlecht, Wegtragen finden Sie schlimm, Schlagstöcke dürfen nicht eingesetzt werden, Schutzkleidung von Polizisten finden Sie provokant usw. usf. Am Ende müssen Sie sich fragen, ob Sie überhaupt wollen, dass es in einem Rechtsstaat eine Polizei gibt. Es ist selbstverständlich richtig, dass innerhalb eines klaren Regelwerks die Polizei notfalls auch mit unmittelbarem Zwang reagieren kann. Dabei muss die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in unserem Rechtsstaat natürlich immer an den Regeln der Verhältnismäßigkeit orientiert sein. Zudem muss jede Maßnahme - und das ist ja auch der Fall - nachprüfbar sein. Die Linke will hier den Eindruck erwecken, dass genau diese Richtschnur fehlt. Dabei kann man über dieses Thema ja durchaus ernsthaft und in Ruhe diskutieren. Auch der Landtag in Baden-Württemberg befasst sich in seinem Untersuchungsausschuss mit dem Einsatz von Pfefferspray. Natürlich muss jedes Einsatzmittel der Polizei immer wieder auf seine Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Natürlich müssen auch neue Erkenntnisse in diese Bewertung einbezogen werden, vor allem wenn diese sich auf gesundheitliche Gefahren beziehen. Aber zu einer ernsthaften Befassung gehört auch, dass man festhält, dass Pfefferspray nicht generell Menschen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Verletzung bringt. In aller Regel ist es vielmehr so, dass es sich um ein Mittel handelt, das gerade ohne dauerhafte Schädigung der Durchsetzung unmittelbaren Zwangs dient. Das heißt nicht, dass man es nicht immer wieder hinterfragen muss; auch das gehört selbstverständlich in unserem Rechtsstaat dazu. Eine ernsthafte Debatte darüber würde ich gerne führen. Aber auf dem Niveau, auf das die Linke sich hier begibt, ist das nicht möglich.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Fraktion Die Linke will den Einsatz von Pfefferspray durch die Bundespolizei massiv beschränken. Denn Pfefferspray bzw. sein chemischer Ersatz ist eine gefährliche, unter Umständen tödliche Waffe. Nicht von ungefähr steht auf den Sprühgeräten, die man im Waffenladen kaufen kann, eindeutig, dass sie nur gegen Tiere eingesetzt werden dürfen. Doch eine Ausnahme gibt es: Die Polizei darf auch Menschen mit Pfefferspray besprühen. Und da müssen wir leider feststellen, dass die Polizei keineswegs nur in Fällen akuter Notwehr zum Pfefferspray greift. Vielmehr haben wir gerade im vorigen Jahr gesehen, dass Pfefferspray zum ganz normalen Mittel eines Polizeieinsatzes geworden ist und flächendeckend und massiv gegen Demonstranten, Fußballfans oder Einzelpersonen eingesetzt wird. Wie unverhältnismäßig diese Einsätze oftmals sind, erwies sich zum Beispiel am 30. September vorigen Jahres in Stuttgart, als die Menschen, die gegen das Milliardengrab Stuttgart 21 protestiert haben, massiv mit Pfefferspray beschossen wurden. Noch schlimmer war es dann beim Castortransport im November. Dort hat alleine die Bundespolizei fast 2 200 Sprühdosen verbraucht. Insgesamt waren Hunderte von Verletzten zu beklagen. Die Fraktion Die Linke hält es für absolut unverantwortlich und undemokratisch, so mit Demonstranten umzuspringen. Denn gerade beim Einsatz gegen größere Menschenmengen nehmen die Einsatzführungen und die politisch Verantwortlichen zwangsläufig in Kauf, dass auch völlig unbescholtene Bürger in Mitleidenschaft gezogen werden. Und wir reden hier nicht nur von Verletzten. Wir können vielmehr von Glück reden, dass es bei diesen Einsätzen keine Toten gegeben hat. Denn Pfefferspray ist eben nicht das handliche, nützliche Allroundmittel, als das es benutzt wird. Vielmehr ist Pfefferspray eine potenziell tödliche Waffe, der schon Dutzende von Menschen zum Opfer gefallen sind. Das ist wissenschaftlich längst erwiesen; nur hat bislang niemand die politische Schlussfolgerung daraus gezogen. Dazu hat dieses Parlament nun durch unseren Antrag die Gelegenheit. Inwiefern ist Pfefferspray hochgefährlich? Man kann generalisierend sagen: Kerngesunde Menschen können das Reizgas mehr oder weniger wegstecken. Verletzungen an den Schleimhäuten, insbesondere an den Augen, tragen auch sie davon; aber Langzeitschäden haben sie meist nicht zu befürchten. Doch bei gesundheitlich vorbelasteten Menschen sieht das ganz anders aus: Wer unter Asthma leidet, bestimmte Allergien hat, Psychopharmaka nehmen muss, dauerhaft Kokain oder Amphetamine konsumiert oder eine Herz-Kreislauf-Schwäche hat, für den wird der Kontakt mit Pfefferspray extrem gefährlich. Am schlimmsten sind dabei die möglichen Reaktionen eines allergischen Schocks, die entstehen können. In Stellungnahmen des US-Justizministeriums, aber auch beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages ist nachzulesen, dass es dieses Risiko gibt. Alleine in den letzten zwei Jahren waren in Deutschland mindestens fünf Todesopfer zu beklagen. Selbst die Bundesregierung sagt: Bei bestimmungsgemäßer Exposition von gesunden Personen sind in der Regel keine bleibenden gesundheitlichen Schäden zu erwarten. Das hat sie auf eine Kleine Anfrage von uns geantwortet. Damit bestätigt sie verklausuliert, dass kranke Personen sehr wohl gefährdet sind. Doch die tödlichen Risiken und Nebenwirkungen bezeichnet sie zynisch als „Einzelrisiken“. Die Linke meint allerdings: Ein Mittel, das den Tod hervorrufen kann, darf, wenn überhaupt, nur extrem zurückhaltend eingesetzt werden. Niemand kann Situationen ausschließen, in denen eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben existiert Zu Protokoll gegebene Reden und der Einsatz von Pfefferspray gegen einen Gewalttäter als akute Notwehr vertretbar erscheint. Viele Frauen führen es mit sich, um sich gegen angreifende Männer wehren zu können. Aber es darf einfach nicht sein, dass solche Reizgase gegen Menschen eingesetzt werden, die friedlich protestieren. Nehmen wir Stuttgart 21: Die Räumung des Schlossparks ohne Pfefferspray hätte vielleicht ein paar Stunden länger gedauert. Aber was ist schon die mögliche Verzögerung dieses unsinnigen Bauprojekts gegen das Risiko, durch wahllosen Pfeffersprayeinsatz schwerste Gesundheitsschäden zu verursachen? Denn es kann doch keiner ausschließen, dass unter den Demonstranten etliche Menschen mit Asthma oder Allergiker sind. Das Gleiche gilt für den Protest gegen den Castortransport. Auch der Einsatz gegen sogenannte Randalierer, die eventuell nur einfache Ruhestörungen verursachen, muss unterbunden werden. Denn gerade weil solche Personen häufig Drogen konsumiert haben, ist Pfefferspray für sie unvergleichlich viel gefährlicher. Wir können mit unserem Antrag nur den Pfeffersprayeinsatz der Bundespolizei einschränken. Es ist für uns ein Gebot der politischen Vernunft, aber auch schlicht der Gesundheit, auf Länderebene nachzuziehen. Genauso wenig, wie man in Menschenmengen mit Schusswaffen hineinschießen darf, darf man sie mit Pfefferspray überziehen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Seit Jahrzehnten gehören Reizstoffe wie Pfefferspray zur gängigen Ausrüstung der Polizei. Eingeführt wurden sie als das „mildere Mittel“. Wo früher Schlagstöcke oder die Schusswaffe eingesetzt werden mussten, sollte nun die Chemie die Ausübung des unmittelbaren Zwangs auf schonendere Weise ermöglichen. Sei es bei Großein- sätzen oder bei Festnahmen von Gewalttätigen, man hoffte, mit CN/CS-Gas - vulgo: chemische Keule - Ver- letzungen und Schlimmeres vermeiden zu können. Wir mussten lernen: Auch CN/CS-Gas kann zu erheb- lichen Verletzungen führen, von leichten Verätzungen über ernsthafte Schäden an Augen und Schleimhäuten bis hin zu schwersten Komplikationen bei bestimmten Vorerkrankungen. Dabei trifft es nicht selten auch den, der es einsetzt. Es ist also keine geeignete Waffe zum Beispiel bei Gegenwind. Das jetzt gebräuchliche Pfefferspray sollte alle diese Probleme lösen. Aber dieser Wunsch ging nicht in Erfül- lung. Denn auch bei den heute üblichen Reizstoffen kommt es zu teils erheblichen Verletzungen, selbst wenn sie gesunde Menschen treffen. Richtig gefährlich kann es aber für Menschen mit Asthma oder bestimmten Aller- gien sowie in Wechselwirkung mit Medikamenten oder manchen Drogen werden. Dann drohen akute Atemnot und Ersticken, Organschäden oder gar der Tod. Das mag nicht häufig passieren; aber hier gilt: Jeder Schwerverletzte ist einer zu viel, und Tote darf man schon gar nicht in Kauf nehmen. Polizeiliche Mittel dür- fen nicht schwere Verletzungen in Kauf nehmen; das ge- bietet die Verhältnismäßigkeit. Das gilt bei der ganz konkreten, auf eine bestimmte Person zielenden Aus- übung von Zwang, und das gilt auch, wenn sich die Poli- zei großen, aggressiven Gruppen gegenübersieht. Ge- rade in diesem Fall ist nicht zu erkennen und nicht vorher zu ermitteln, wer eine Allergie hat, wer von Asthma betroffen ist oder wer bestimmte Krankheiten hat. Besonders hier kommen die Risiken von Pfeffer- spray also voll zum Tragen. Verbieten klingt wie eine einfache Lösung. Wer das fordert, muss schon sagen, welchen Ersatz er anbieten kann. Durch die Menge jagende Reiterstaffeln können es ja wohl nicht sein. Deshalb gilt: Wir brauchen aussage- kräftige, ehrliche Studien zum Pfefferspray. Wir brau- chen gegebenenfalls Alternativen. Pfefferspray ist offen- bar nicht das erhoffte „mildere Allheilmittel“.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5055 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Schäfer ({0}), Inge Höger, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beachtung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes bei dem Evakuierungseinsatz in Libyen - Drucksache 17/5175 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Höger, Paul Schäfer ({1}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Stopp der Überwachung des libyschen Luftraums durch AWACS-Luftfahrzeuge - Drucksache 17/5176 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael Brand, Dr. Wolfgang Götzer, Lars Klingbeil, Dr. Rainer Stinner, ({2}) Inge Höger, ({3}) Volker Beck.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Evakuierung deutscher und anderer Staatsangehöriger aus Libyen durch unsere Bundeswehr am 26. Februar 2011 war richtig und erfolgreich. Dafür danken wir den Soldatinnen und Soldaten sehr. Die Evakuierung duldete angesichts einer humanitären Notlage keinen Aufschub, zumal Gefahr im Verzug wahr. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden insgesamt 132 Personen mit zwei Bundeswehrflugzeugen vom Typ C-160 Transall evakuiert, darunter 22 deutsche Staatsbürger. An Bord waren laut Auskunft der Bundesregierung - Bundestagsdrucksache 17/5002 vom 11. März 2011 - neben der Transall-Besatzung insgesamt 20 Soldaten der Bundeswehr, 8 Feldjäger und 12 Fallschirmjäger. In den Luftfahrzeugen wurden demnach Pistolen P8 und P7, Gewehre G3ZF, G36 sowie MG3 mitgeführt. Die Transportflugzeuge starteten und landeten auf Kreta. Mit an Bord waren seinerzeit Sicherungskräfte; als Landezone diente der im Osten Libyens gelegene Flughafen Nafurah. Bereits am 22. und 23. Februar hatte die Bundeswehr nach eigenen Angaben insgesamt 130 EU-Bürger ausgeflogen, darunter 103 Deutsche. Neben Deutschland haben auch weitere Staaten wie zum Beispiel die USA, China, die Türkei, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, die Niederlande, Portugal Österreich, Rumänien und Bulgarien eigene Staatsbürger evakuiert. Weiter geht aus der Antwort der Bundesregierung hervor, dass die an der Evakuierung deutscher Staatsbürger beteiligten Kräfte der Bundeswehr, die uns heute hier im Hohen Hause beschäftigen, durch das Einsatzführungskommando geführt wurden und der Einsatz der Kräfte auf Anforderung des Krisenstabes des Auswärtigen Amtes erfolgte. Die Obleute der Fraktionen im Verteidigungsausschuss wurden beim Rückflug am 25. Februar nach der Trauerfeier in Regen für die in Afghanistan getöteten Soldaten von Herrn Generalinspekteur Wieker über die bevorstehende Evakuierung unterrichtet, der SPD-Obmann telefonisch. Nach erfolgreichem Einsatz wurden die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen am 25. Februar spätabends und am nächsten Tag von Außenminister Westerwelle telefonisch unterrichtet; die Vorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden und Obleute des Auswärtigen und Verteidigungsausschusses wurden am 26. Februar schriftlich durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr und im Verlauf des 27. Februar durch die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes und des BMVg telefonisch über den Verlauf der durchgeführten Evakuierungen unterrichtet. Darüber hinaus erhielt der genannte Personenkreis am 4. März eine schriftliche Unterrichtung. Der Bundestag ist vor Beginn und während des Einsatzes in geeigneter Weise unterrichtet worden. Die beteiligten Soldaten waren nach Auskunft des Verteidigungsministeriums angewiesen, die Waffen nur zur Selbstverteidigung und Nothilfe sowie erforderlichenfalls zur Durchsetzung der Evakuierung einzusetzen. Zur rechtlichen Bewertung ist die Feststellung von erheblicher Bedeutung, dass seitens der Bundesregierung die klare Erwartung bestand, dass die mitgeführten Waffen nicht würden eingesetzt werden müssen. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz findet nur bei einem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland Anwendung. Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist nicht anzunehmen, wenn eine Einbeziehung deutscher Soldatinnen und Soldaten in eine bewaffnete Unternehmung nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen nicht zu erwarten ist. Dies war bei den in der Vorbemerkung der Bundesregierung und der Antwort auf die Frage 1 dargestellten Flügen zur Evakuierung deutscher und Staatsbürger anderer Länder der Fall. Aufgrund der gegebenen Bedrohungslage bestand zum Zeitpunkt der entsprechenden Entscheidungen die klare Erwartung, dass die eingesetzten Soldaten durch libysche Kräfte nicht bedroht sind, ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen und mithin nicht in eine bewaffnete Unternehmung einbezogen werden würden. In diesem Zusammenhang wird auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 7. Mai 2008 ({0}) verwiesen. Danach führt sogar erst die qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen zur parlamentarischen Zustimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes deutscher Soldaten ({1}). Dass der Deutsche Bundestag die Wahrung seiner Rechte einfordert und auf deren Einhaltung pocht, ist schlicht seine Pflicht. Daran darf es keinerlei Abstriche geben. Im vorliegenden Falle verweise ich auf die obige juristische Würdigung. Den Antrag der Fraktion Die Linke lehnen wir ab.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am 26. Februar dieses Jahres wurden 132 Personen, die sich in einer äußerst schwierigen humanitären Lage befanden, mit zwei geschützten Transall-Maschinen aus dem Raum Nafura evakuiert und außer Landes gebracht. Die Transall-Maschinen wurden von insgesamt 20 deutschen Soldaten begleitet, die zum Zwecke der Selbstverteidigung Waffen mit sich führten. Klare Erwartungshaltung von Beginn der Evakuierungsaktion an war, dass es zu keinem Einsatz der mitgeführten Waffen kommen werde. Die Linke vertritt nun gemeinsam mit der SPD und den Grünen die Auffassung, dass der Evakuierungseinsatz der nachträglichen Genehmigung durch den Bundestag bedürfe, weil es sich um einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes handele. Diese Auffassung ist rechtlich unzutreffend. Dass dies durchaus auch der Linken bewusst ist, zeigt sich an der relativ geduldigen Zurückhaltung, mit der die Fraktion auf den angeblich rechtswidrigen Bundeswehreinsatz reagiert hat. Möglicherweise möchte die Linke aber auch angesichts bevorstehender Landtagswahlen einen humanitären Rettungseinsatz nicht als rechtswidrig verurteilen. Umso verwunderlicher ist jedoch die Kritik von den Grünen und der SPD, sollten diese doch mittlerweile die Voraussetzungen des Parlamentsvorbehalts kennen, nachdem sie es waren, die im Jahr 2003 mit dem Einsatz Zu Protokoll gegebene Reden deutscher Soldaten in AWACS-Aufklärungsflugzeugen über der Türkei gegen die Verfassung verstoßen haben. Die Evakuierungsflüge vom 26. Februar dieses Jahres jedenfalls waren verfassungsrechtlich zulässig. Die Einholung eines vorherigen oder nachträglichen Mandats des Bundestages nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz war und ist nicht erforderlich. Bei der Maßnahme handelte es sich um keinen Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG, da nach der erfolgten Lageeinschätzung der Bundesregierung aus Ex-ante-Sicht nicht zu erwarten war, dass die Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werden würden. Im Jahr 2008 stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem sogenannten AWACS-II-Urteil fest, dass dies aber das entscheidende Merkmal ist. Im Urteil heißt es dazu, dass ein Auslandseinsatz der Bundeswehr im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nur dann gegeben ist, wenn - unabhängig von der Bewaffnung der entsandten Soldaten - „die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist“. Die „bloße Möglichkeit“ - diese musste bei der Luftevakuierung aus Nafura als Vorsichtsmaßnahme einkalkuliert werden und führte zu der Entsendung bewaffneter Soldaten - „reicht hierfür nicht aus“, so Karlsruhe. Sowohl das Bundesverteidigungsministerium als auch das Auswärtige Amt gingen vor Beginn der Luftevakuierung davon aus, dass die entsandten deutschen Soldaten ihre Waffen nicht einsetzen werden, denn es lag keine konkrete Gefährdungslage vor. Weder das Wintershall-Lager in Nafura noch die zu evakuierenden Personen dort waren konkret bedroht. Allerdings befanden sie sich in einer humanitären Notlage, da ihre Vorräte zur Neige zu gehen drohten und es unmöglich war, das Lager auf dem Landweg zu verlassen. Im Übrigen wurde das Gaddafi-Regime über die Aktion vorab informiert. Die fehlende Reaktion konnte als konkludente Zustimmung gewertet werden. Auch die Tatsache, dass nur zwei leicht gesicherte Flugzeuge und lediglich 20 leichtbewaffnete Soldaten zur Evakuierung von immerhin 132 Menschen entsandt wurden, zeigt, dass die Bundesregierung tatsächlich nie von einer konkreten Bedrohungslage ausgegangen ist und auch nicht ausgehen musste, sodass kein bewaffneter Einsatz im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG vorlag. Zu dem Antrag der Linken, der sich auf den AWACSEinsatz mit deutscher Beteiligung im Mittelmeerraum bezieht, ist Folgendes zu sagen: Nachdem sich die westliche Allianz nun auf eine Schlüsselrolle der NATO im Libyen-Einsatz geeinigt hat, wird die Bundesregierung 300 deutsche Soldaten, die Besatzungsmitglieder von AWACS-Aufklärungsflugzeugen sind, nach Afghanistan schicken, um die NATOPartner im Libyen-Einsatz zu entlasten. Gleichzeitig werden alle deutschen Soldaten vom NATO-Einsatz im Mittelmeer abgezogen. Der Grund dafür ist, dass nicht auszuschließen ist, dass Bilder der AWACS-Aufklärungsflugzeuge für einen operativen Einsatz verwendet werden. Es bestehen somit im Sinne des AWACS-II-Urteils aus dem Jahr 2008 „greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung“ der Soldaten, die derzeit im Rahmen von OAE im Mittelmeer tätig sind, „in bewaffnete Auseinandersetzungen“, die in Umsetzung der UN-Resolution zur Einhaltung der Flugverbotszone geführt werden. Nach diesem AWACS-II-Urteil ist ein Mandat des Bundestages erforderlich, sobald solche „greifbaren tatsächlichen Anhaltspunkte“ bestehen. Die Schiffe, die sich im Rahmen von OAE im Mittelmeer befinden, werden aus demselben Grunde nationalem Kommando unterstellt und abgezogen. Der Antrag der Linken ist damit gegenstandslos.

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Frage, ob der Evakuierungseinsatz in Libyen Ende Februar dieses Jahres unter das Parlamentsbeteiligungsgesetz fällt, lässt sich auf folgende Frage reduzieren: War zu erwarten, dass die Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen werden oder nicht? Wenn eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist, dann handelt es sich nach § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes um einen Einsatz im Sinne desselben. Dies hätte zwar nicht zur Konsequenz gehabt, dass das Parlament im Vorhinein dem Einsatz zustimmen muss, denn nach § 5 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes ist eine nachträgliche Zustimmung des Deutschen Bundestages möglich. Unter Abs. 1 steht dort: Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschub dulden, bedürfen keiner vorherigen Zustimmung des Bundestages. Gleiches gilt für Einsätze zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen, solange durch die öffentliche Befassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet würde. Es besteht kein Zweifel, dass dieser Fall in Libyen eingetreten war. Ich bin daher auch der Überzeugung, dass die Bundesregierung klug und im Sinne aller gehandelt hat. Es war wichtig und notwendig, die Evakuierung durchzuführen. Wir alle haben uns bei denen zu bedanken, die diese Maßnahme durchgeführt haben. Dass Absatz 2: Der Bundestag ist vor Beginn und während des Einsatzes in geeigneter Weise zu unterrichten. ebenfalls erfüllt wurde, berichtete mir der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Mützenich. Der letzte Absatz in § 5 regelt jedoch, wie im Nachgang mit dem Parlamentsvorbehalt umzugehen ist: Der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz ist unverzüglich nachzuholen. Lehnt der Bundestag den Antrag ab, ist der Einsatz zu beenden. Zu Protokoll gegebene Reden War die Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung in Libyen also zu erwarten, so hätte die Bundesregierung zeitnah die Zustimmung des Parlaments beantragen müssen. Wenn die Bundesregierung davon ausgegangen ist, dass eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung nicht zu erwarten war, dann benötigt dieser Einsatz nach § 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nicht die Zustimmung des Bundestages. Die Frage ist also: Konnte die Bundesregierung davon ausgehen, dass keine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten war? Die mediale Berichterstattung lässt diesen Schluss nicht wirklich zu. Es war von bis zu 1 000 Soldaten im Einsatz zu lesen. Sechs Transall-Maschinen, drei Schiffe und zwei Fregatten waren im Einsatz. Die Berichterstattung darüber ließ den Schluss zu, dass der Einsatz als äußerst riskant einzuschätzen war und daher auch streng geheim durchgeführt wurde. Was mich in diesem Zusammenhang jedoch mehr überrascht als die mediale Berichterstattung, ist die Dokumentation des Einsatzes durch die Bundesregierung selbst. Auf dem Internetauftritt des Bundesministeriums der Verteidigung ist zum Einsatz - dort als Operation Pegasus betitelt - unter anderem zu lesen: Die Landung im völlig unüberschaubaren Krisengebiet war für die Soldaten nicht ohne Risiko. Es bestand die Gefahr, dass der libysche Diktator, Muammar al-Gaddafi, die besetzten Ölanlagen der Stadt bombardieren und so auch die dort tätigen Europäer gefährden könnte. Was die Soldaten nach der Landung in einem vom Bürgerkrieg erfassten Land erwartet, ist unklar. Weiter schreibt das BMVg: Über Angst sprechen die Soldaten nicht. Sie haben Respekt vor ihrer Aufgabe, weil sie nie genau wissen, was auf sie zukommt. Die Stimmung könnte plötzlich umschlagen, selbst Angriffe sind nicht auszuschließen. In einem Video auf der Seite beschreibt ein Soldat die Gefahrenlage und die damit verbundenen Risiken. So wurden die Soldaten darauf vorbereitet, dass in Libyen möglicherweise Luftabwehrraketen eingesetzt werden würden. Dies alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass sehr wohl das Risiko einer Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung bestand. Die Einschätzung der Lage durch die Soldaten im Einsatz dürfte auch dem BMVg und dem Auswärtigen Amt und somit der Bundesregierung vorgelegen haben und vorliegen. Es ist daher meine Auffassung, dass nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz durch die Bundesregierung unverzüglich nachzuholen ist. Im Jahr 1997 führte die Bundeswehr einen ähnlichen Einsatz durch. Mit der Operation Libelle wurden deutsche Staatsbürger aus Albanien ausgeflogen. Ob die Gefahrenlage zu vergleichen ist, müssen Experten entscheiden; der Hintergrund des Einsatzes war jedoch vergleichbar. Bei der Operation Libelle kam es zu einem Schusswechsel auf dem Flugplatz, die Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung war also gegeben und der Bundestag hat im Nachgang dem Einsatz zugestimmt. Ich halte es jedoch für sehr problematisch, die Parlamentsbeteiligung davon abhängig zu machen, ob es wirklich zu einem Beschuss kam oder ob nur die Gefahr dafür bestand. Warum die Bundesregierung dem Antrag auf Zustimmung zum Einsatz nicht nachkommt und weiterhin auf dem Standpunkt beharrt, dass es sich um einen humanitären Einsatz ohne Risiko einer Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung handelte, ist für mich daher unverständlich. Erstens bin ich der festen Überzeugung, dass ein solcher nachträglicher Antrag im Deutschen Bundestag eine breite Zustimmung finden würde. Es handelt sich hierbei ja um einen Einsatz zur Evakuierung deutscher und anderer europäischer Staatsbürger. Zweitens müssen wir Politiker unseren Worten auch Taten folgen lassen. Über alle Parteigrenzen hinweg stellen wir immer wieder die Wichtigkeit und Besonderheit der Parlamentsarmee heraus. Zu Recht, denn sie hat nicht nur ihre geschichtliche Existenzberechtigung, sondern sie ist auch eine große Errungenschaft. Auch wenn der Parlamentsvorbehalt oft gescholten wird, bin ich der Überzeugung, dass die Streitkräfte der Zukunft weiterhin vom Parlament kontrolliert werden müssen. Nur so stellen wir sicher, dass ihr Einsatz durch demokratische Willensbildung zustande kommt. Anstatt dies mit Leben zu füllen, versteckt sich die Regierung hinter der Auslegung und der Interpretation von Paragrafen. Ich bin der festen Überzeugung: Im Zweifel sollte sich die Regierung parlamentsfreundlich verhalten. Drittens geht es mir um die Glaubwürdigkeit von Politik. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine breite Unterstützung in der Öffentlichkeit haben, wenn es darum geht, deutsche Staatsbürger aus Krisengebieten zu evakuieren. Wenn die Einschätzung des Auswärtigen Amts und des BMVg nun in diesem Fall ergeben, dass für die Evakuierung bewaffnete Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet vonnöten sind, dann steht ihnen das als verantwortliches Ressort zu. Wenn wir nun aber auf der einen Seite stets betonen, dass in Deutschland das Parlament über den Einsatz von Soldaten im Ausland entscheidet, auf der anderen Seite aber Bilder von bewaffneten Soldaten in Libyen auftauchen und kein Beschluss des Bundestages vorliegt bzw. beabsichtigt ist, haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Anträge der Linken sind vollkommen überflüssig und falsch. Wir brauchen zu diesem Thema nun wirklich keinerlei Nachhilfe durch eine Fraktion, die sich bei Klagen zu Bundeswehreinsätzen vor dem Bundesverfassungsgericht reihenweise schallende Ohrfeigen abgeholt hat. Nun wollen Sie Ihre absurde Rechtsauffassung, mit der Sie in Karlsruhe ausnahmslos gescheitert sind, Zu Protokoll gegebene Reden hier im Bundestag anbringen, aber hier werden Sie genauso scheitern. Selbstverständlich beachtet die Bundesregierung peinlich genau das Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ein liberal geführtes Außenministerium ist die beste Gewähr dafür. Wir Liberale haben nach dem rot-grünen AWACSEinsatz während des Irakkrieges eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht und, im Gegensatz zu den Kollegen der Linken, vollumfänglich Recht bekommen. An genau diesem Urteil orientiert sich auch das Handeln der Bundesregierung, und zwar in beiden Fällen: In einem Antrag fordern Sie die schon erfolgte Beendigung der Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten an dem AWACS-Einsatz zur Überwachung des libyschen Luftraums. Die Bundesregierung hat dies in exakt dem Moment getan, als die Operation begann, eine bewaffnete Unternehmung im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes zu werden. Das ist eine völlig konsequente, stringente und verfassungsgemäße Handlungsweise. Deshalb ist dieser Antrag überflüssig. Ihr anderer Antrag, der die Nachmandatierung des Evakuierungseinsatzes in Libyen fordert, ist schlicht und ergreifend falsch. Aus der Urteilsbegründung zum AWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich völlig unstreitig, dass der Evakuierungseinsatz in Libyen eben kein bewaffneter Einsatz im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes war und deshalb auch nicht vom Deutschen Bundestag mandatiert werden muss. Ich empfehle Ihnen, dieses Urteil noch einmal gründlich zu lesen. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner Begründung: Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen besteht, wenn sie im Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von ihnen Gebrauch zu machen. Denn es kann dadurch je nach dem Verlauf des tatsächlichen Geschehens dazu kommen, dass die Bewaffnung in die Anwendung von Waffengewalt mündet. Solange es sich allerdings rechtlich nur um eine Ermächtigung zur Selbstverteidigung handelt und der Einsatz selbst einen nicht-militärischen Charakter hat, ist, wie der Senat bereits festgestellt hat, die Schwelle der Zustimmungsbedürftigkeit nicht schon durch diese Ermächtigung erreicht. Bei der Evakuierung hat es sich ohne jeden Zweifel um einen Einsatz mit nichtmilitärischem Charakter in diesem Sinne gehandelt. Dass die Bundesregierung eine zusätzliche Sicherheitskomponente mit dem Recht zur Selbstverteidigung mitgeschickt hat, spricht dem nicht entgegen, wie das Gericht ausdrücklich feststellt. Wir sollten auch wirklich nicht dazu kommen, der Bundesregierung Vorwürfe zu machen, wenn sie sich für noch so unwahrscheinliche Eventualitäten vorbereitet. Auch vor Ihrer weiteren Argumentation kann ich Sie nur warnen: Sie sehen in der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden durch die Bundesregierung vor dem Einsatz einen Beweis dafür, dass es sich um einen zu mandatierenden Einsatz handelt. Das ist natürlich völlig lächerlich. Ich halte es für ausgesprochen angemessen, dass die Bundesregierung - unabhängig von irgendeiner rechtlichen Verpflichtung - das Parlament informiert, wenn sie deutsche Staatsbürger aus einer Situation evakuiert, die alle Schlagzeilen des Tages bestimmt hat. Wollen Sie wirklich in einer solchen Lage lieber nicht informiert werden? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Ich bedanke mich ganz ausdrücklich beim Auswärtigen Amt und bei Außenminister Westerwelle für die konstruktive und offene Informationspolitik zu dieser Operation. Die FDP-Fraktion lehnt also beide Anträge mit sehr guten Gründen ab und empfiehlt der Fraktion der Linken, sich einmal zu den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten von Bundeswehreinsätzen unterrichten zu lassen, aber bitte nicht durch die Rechtsvertreter, mit denen Sie in der Vergangenheit in Karlsruhe ständig gescheitert sind.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit dem 19. März 2011 führt eine „Koalition der Willigen“ kriegerische Angriffe auf libysches Territorium durch. Bei der Verabschiedung der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates, die als Legitimation für die Bombardierungen dient, hat sich die deutsche Regierung enthalten. Sie hat ebenfalls klargemacht, dass sich Deutschland nicht an dieser Operation beteiligen wird. Die Linke begrüßt es, dass in diesem Fall deutsche Außenpolitik etwas besonnener ist, als wir es aus anderen Krisengebieten dieser Welt kennen. Allerdings war die deutsche Regierung gerade im Vorfeld der internationalen Angriffe auf Libyen keineswegs militärisch abstinent. In der Operation Pegasus wurden unter Beteiligung von bis zu 1 000 Bundeswehrsoldaten, darunter schwer bewaffnete Sondereinheiten, Zivilisten aus Libyen evakuiert. Die Marine hat mit drei Schiffen und 700 Soldaten 450 Menschen, die aus Libyen nach Tunesien geflohen waren, nach Ägypten gebracht. Die „Tagesschau“ spekulierte damals, dass „die Guttenberg-geschüttelte Bundesregierung … schöne Fernsehbilder und Schlagzeilen von geretteten Ägyptern auf einer deutschen Fregatte“ benötigte, denn mit ein bis zwei zivilen Flugzeugen wäre der Transport in wesentlich kürzerer Zeit möglich gewesen. Zudem waren mehr als 70 deutsche Soldaten als Besatzungsmitglieder beteiligt an der Überwachung des libyschen Luftraums im Vorfeld des Krieges, also bis zum 19. März, vielleicht sogar bis zum 22. März. Erst am 22. März hat die Bundesregierung ihre Beteiligung an den entsprechenden Verbänden offiziell aufgekündigt. Für zwei dieser Militäroperationen - für die Operation Pegasus und für die Überwachung des libyschen Luftraums im Vorfeld des Krieges - wäre eine Mandatierung des Einsatzes durch den deutschen Bundestag notwendig gewesen. Leider hat die Bundesregierung weder vor dem Einsatz den Bundestag beteiligt, noch hat sie dies im Nachhinein getan. Hierdurch wurden und werden gesetzlich garantierte Rechte der Parlamentarierinnen und Parlamentarier missachtet. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz regelt ganz eindeutig, dass das Parlament - und nicht die Regierung - verantwortlich ist für Zu Protokoll gegebene Reden die Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte. Brigadegeneral Volker Bescht machte in einem Interview in der Zeitschrift „Bundeswehr Aktuell“ ausführlich klar, dass keineswegs mit einem reibungslosen Verlauf der Operation zu rechnen war: Die Gefahren stellten die Flugabwehrsysteme auf libyscher Seite dar … Es stellte sich auch die Frage, wer den Luftraum kontrolliert … Außerdem war offen, wie sich die libysche Marine bei unserem Eintritt in die Hoheitsgewässer verhalten wird. Unklar war auch, welche Kräfte die Region kontrollieren, aus der evakuiert wurde. Folglich war es allein eine Frage des Zufalls, dass die Mission tatsächlich friedlich verlief. Es handelt sich also um eine bewaffnete Unternehmung im Sinne des § 2 Abs. 2 Parlamentsbeteiligungsgesetz. Selbst wenn sich die Bundesregierung hier auf Gefahr im Verzug beruft, müsste sie dem Bundestag im Nachhinein unverzüglich ein Mandat vorlegen. Dies ist jedoch nicht geschehen und nicht beabsichtigt. Wir müssen also feststellen: Die Bundesregierung setzte 1 000 Soldaten in einem Kontext ein, in dem mit bewaffneten Auseinandersetzungen zu rechnen war, und behauptet dennoch, dass daran das Parlament nicht zu beteiligen sei. Dies ist für die Linke völlig inakzeptabel. Noch kühner wird die Argumentation der Regierung bei der Überwachung des libyschen Luftraums durch deutsche AWACS-Besatzungsmitglieder. Einerseits gab Staatssekretär Christian Schmidt bei der gestrigen Fragestunde zu, dass auf Daten, die bei dieser NATO-Operation erhoben wurden, natürlich auch sämtliche NATOMitglieder Zugriff haben. Andererseits meint Staatsekretär Werner Hoyer, er könne ausschließen, dass dadurch ein Beitrag für die „exekutiven Handlungen“ - so kann man Bombardierung auch nennen - geleistet worden wäre. Nach NATO-Angaben überwachten AWACS-Systeme seit dem 7. März rund um die Uhr den libyschen Luftraum. Schmidt weiß aber nur von Überwachungsmaßnahmen ab dem 12. März. Schon längere Zeit vor dem 19. März war absehbar, dass es zu einer internationalen Militärmission kommen würde, mit der eine Flugverbotszone über Libyen durchgesetzt werden sollte. Trotzdem hatte die Bundesregierung keine Bedenken, sich an einer Unternehmung zu beteiligen, bei der niemand ausschließen kann, dass sie eben doch der Vorbereitung kriegerischer Angriffe diente. In gewisser Weise taten sowohl Staatssekretär Hoyer als auch sein Kollege Schmidt in der gestrigen Fragestunde so, als wären sie am 19. März völlig überrascht davon gewesen, dass Libyen angegriffen wurde und als hätte es erst ab diesem Monat eine Veranlassung gegeben, die deutsche AWACSBesatzung abzuziehen. Es war jedoch schon Tage vorher absehbar, dass hier eine militärische Eskalation bevorstand. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits am 7. Mai 2008 ein Präzedenzurteil gefällt, das sich auf einen vergleichbaren Fall bezog. Damals wurde festgestellt, dass die Bundesregierung im Jahr 2003, im Vorfeld des Irakkrieges, ein Bundestagsmandat für den Einsatz von AWACS-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung hätte vorlegen müssen. Auch damals ging es „nur“ um die Überwachung des Luftraums des NATO-Partners Türkei. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist immer dann ein Bundestagsmandat nötig, wenn „greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen“, so die Randnote 78 der Urteilsbegründung, vorliegen. Diese Anhaltspunkte gab es während der gesamten Zeit der Beteiligung deutscher Soldaten an der Überwachung des libyschen Luftraums. Alles in allem missachtet die Bundesregierung systematisch die Rechte des Parlaments. Die Absicht dahinter haben die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag längst aufgezeigt: Sie planen Änderungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes. Die Folge wäre, dass die Kontrollrechte des Parlaments weiter eingeschränkt werden, sodass in vielen Fällen nur noch ein kleines ausgewähltes Kontrollgremium über die Realität der jeweiligen Militärschläge informiert wird und entscheidet. Auf diesem Wege wird die Bundeswehr Stück für Stück zur Regierungsarmee. Die Linke sagt zu dieser Entwicklung klar und entschieden Nein. Die Linke wird dafür kämpfen, dass über deutsche Militärpolitik nicht hinter verschlossenen Türen entschieden wird.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist schon erstaunlich, dass die Bundesregierung ein ums andere Mal Nachhilfe in Fragen der Parlamentsbeteiligung benötigt. Die Beteiligung des Parlaments ist keine lästige Pflichtaufgabe, wie es die Bundesregierung zu sehen scheint, sondern sie ist in einer Demokratie der Ausdruck und die notwendige Folge der Gewaltenteilung. Dieses grundlegende rechtsstaatliche Prinzip aber verletzt die Bundesregierung immer wieder aufs Neue. Die Bundesregierung möchte die Evakuierungsmission Nafurah, auch bekannt als Operation Pegasus, nicht nachträglich mandatieren. Der Bundesminister des Auswärtigen vertritt in einem Schreiben an mich die Auffassung, dass es sich bei der Evakuierungsmission um einen humanitären Einsatz gehandelt habe, der nicht mandatierungspflichtig sei. Der Einsatz sei mit der klaren Erwartung verbunden gewesen, dass die Soldaten ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen. Deswegen müsse nicht gemäß § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes der Bundestag beteiligt werden; es greife die Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 2. Diese Rechtsauffassung ist falsch. Es war die Bundestagsfraktion der FDP, die im Jahr 2003 eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht einreichte, weil sie das Parlament im Zuge des damals beschlossenen AWACS-Einsatzes im Irak-Konflikt nicht ausreichend einbezogen gesehen hatte. Das Bundesverfassungsgericht gab der FDP-Fraktion in einem wegweisenden Urteil vom 7. Mai 2008 Recht. Nun will der Außenminister, der damals einer der Kläger war, nichts mehr davon wissen. Er missachtet die Rechte des Deutschen Bundestages, die Pflichten der Bundesregierung, und er missachtet auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass ein dem Parlamentsvorbehalt unterliegender Einsatz Zu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) bewaffneter Streitkräfte dann vorliegt, wenn deutsche Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind. Eine Parlamentsbeteiligung sei entgegen der engen Auffassung, die in dem damaligen Verfahren von der Bundesregierung vertreten wurde, nicht erst bei tatsächlicher Anwendung von bewaffneter Gewalt notwendig. Andererseits lässt das Gericht die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, auch nicht genügen. Es verlangt eine sogenannte qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen. Der Unterschied der qualifizierten Erwartung von der bloßen Möglichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen soll zum einen darin liegen, dass es greifbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass ein Einsatz nach seinem Zweck, den konkreten politischen und militärischen Umständen sowie den Einsatzbefugnissen in die Anwendung von Waffengewalt münden kann. Zum anderen sollen eine besondere Nähe der Anwendung von Waffengewalt erforderlich und die Einbeziehung unmittelbar zu erwarten sein. Anhaltspunkte für die drohende Einbeziehung deutscher Soldaten sieht das Bundesverfassungsgericht gegeben, wenn diese im Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von ihnen Gebrauch zu machen. Unter diese höchstrichterlichen Vorgaben muss jetzt der tatsächliche Sachverhalt subsumiert werden. Man sollte meinen, dass dies insbesondere für einen Juristen wie den Bundesminister des Auswärtigen kein Problem darstellt. Zur Sachverhaltsdarstellung empfiehlt sich ein Blick auf die Homepage derer, die den Einsatz durchgeführt haben: auf die Seite www.bundeswehr.de. Generalleutnant Rainer Glatz, der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr und damit verantwortlich für den Evakuierungseinsatz, wird dort mit folgenden Worten zitiert: Wir haben Glück gehabt, denn diese Evakuierungsoperation war nicht unkritisch. und weiter: Mit ihrem Einsatz in einer durchaus unübersichtlichen Situation haben die Soldatinnen und Soldaten Gefahr für Leib und Leben deutscher und ausländischer Staatsbürgerinnen und -bürger abgewendet. Am Ende des Berichts heißt es: Der stellvertretende Kommandeur der Division Spezielle Operationen, Brigadegeneral Volker Bescht, war der Führer des Einsatzverbandes vor Ort und stellte fest, dass die Sicherheitslage zu keiner Zeit unterschätzt werden durfte. Obwohl beide Flüge angemeldet waren, galt die Lage insgesamt als kritisch. Wenn die Bundeswehr selber angibt, sie habe Glück gehabt und die Lage sei kritisch gewesen, wenn voll bewaffnete Fallschirmjäger und Feldjäger im Einsatz sind und ein Verband aus knapp 1 000 Soldatinnen und Soldaten aufgestellt werden muss, dann bestand nicht einfach nur die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, sondern dann gab es die qualifizierte Erwartung, dass der Einsatz in die Anwendung von Waffengewalt würde münden können. Es handelte sich bei der Operation Pegasus demnach um einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes und eben nicht um einen Ausnahmetatbestand nach § 2 Abs. 2. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil fest, dass angesichts der Funktion und Bedeutung des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts seine Reichweite nicht restriktiv bestimmt werden dürfe. Vielmehr sei der Parlamentsvorbehalt im Zweifel parlamentsfreundlich auszulegen. Insbesondere könne das Eingreifen des Parlamentsvorbehalts nicht von den politischen und militärischen Bewertungen und Prognosen der Bundesregierung abhängig gemacht werden. Geht es noch deutlicher? Angesichts dieser klaren Rechtslage ist die Weigerung der Bundesregierung unverständlich. Noch unverständlicher wird sie, wenn man berücksichtigt, dass der Bundesminister des Auswärtigen selber die Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestages vor dem Einsatz ausdrücklich gemäß § 5 Abs. 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes informierte. § 5 trägt die Überschrift „Nachträgliche Zustimmung“. Wie kann der Minister diese nachträgliche Zustimmung verweigern, wenn er doch ausdrücklich nach dieser Vorschrift handelte? Um eins klarzustellen: Meine Fraktion unterstützt den Evakuierungseinsatz inhaltlich. Doch wir sorgen uns angesichts solch rechtsstaatlicher Ignoranz um die Rechte des Deutschen Bundestages. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz formuliert in § 5 Abs. 3 Satz 1 einen Imperativ: „Der Antrag auf Zustimmung ist unverzüglich nachzuholen“. Insofern meint der Antrag der Fraktion Die Linke das Richtige; doch eigentlich ist es nicht die Aufgabe des Parlaments, die Bundesregierung zur Einhaltung ihrer genuinen Pflichten aufzufordern. Nichtsdestotrotz werden wir diesem Antrag zustimmen, auch wenn dieses Verfahren eigentlich nicht vorgesehen ist. Denn die eigentliche Konsequenz bei einer unterbliebenen Parlamentsbeteiligung ist der Weg nach Karlsruhe. Wir behalten uns diesen erneuten Gang zum Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vor. Die Bundesregierung allerdings sollte sich diese Peinlichkeit ersparen und dem Deutschen Bundestag ein Mandat für den Evakuierungseinsatz in Nafurah vorlegen. Den zweiten Antrag der Fraktion Die Linke werden wir ablehnen. Wir finden es richtig, dass die Bundesregierung nicht ohne ein Mandat des Bundestages operieren möchte. Umso verwunderlicher ist es aber, dass die Bundesregierung den Bundestag nicht bittet, die Umsetzung des Waffenembargos seeseitig vor der libyschen Küste zu unterstützen. Wenn man dem libyschen Volk helfen will, muss man dafür sorgen, dass keine Waffen ins Land kommen. Die deutsche Marine war vor Ort. Mit dem Abzug der Schiffe zerschlägt die Bundesregierung weiteres Porzellan. Und wir fragen die Bundesregierung: Wo ist ihr Antrag? Zu Protokoll gegebene Reden

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5175. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. ({0}) Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5176. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Sie werden es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. ({1}) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. März 2011, 9 Uhr, ein. Ich wünsche einen schönen Abend. Vielen herzlichen Dank! Die Sitzung ist geschlossen.