Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Vor Eintritt in unsere Tagesordnung gebe ich Ihnen
Folgendes bekannt: Die Fraktion Die Linke hat mitgeteilt, dass im Beirat der Bundesnetzagentur die Kollegin Johanna Voß zukünftig von der Kollegin Eva
Bulling-Schröter und die Kollegin Dorothee Menzner
vom Kollegen Ralph Lenkert vertreten wird. Sind Sie
damit einverstanden? - Es sieht ganz danach aus. Dann
können wir so verfahren.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten
- Drucksache 17/5168 ({0})
ZP 2 Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz
von NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({2}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1943 ({3}) vom 13. Oktober 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/5190 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
({5})
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Konkrete Anforderungen insbesondere des
Bundesumweltministeriums für die Sicherheitsüberprüfung deutscher Atomkraftwerke
({6})
ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine beschleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken
- Drucksache 17/5179 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes - Abschalten der acht unsichersten Atomkraftwerke
- Drucksache 17/5180 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Energiewende jetzt
- Drucksache 17/5182 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnolo-
gien
- Drucksache 17/5183 -
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 8 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 33
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ Finanzierung langfristig sichern
- Drucksache 17/5185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutz vor militärischem Fluglärm
- Drucksache 17/5206 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({11})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen
- Drucksache 17/5204 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12})
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({14})
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Paul Schäfer ({15}), Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Libyen-Krieg sofort beenden
- Drucksache 17/5173 ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({16}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton
Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenter Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21
- Drucksachen 17/5041, 17/5236 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann
ZP 12 - Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({17}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von NATO-AWACS im Rahmen der
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({18}) unter Führung
der NATO auf Grundlage der Resolution
1386 ({19}) und folgender Resolutionen,
zuletzt Resolution 1943 ({20}) vom 13. Oktober 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/5190, 17/5251 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({21})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({22})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/5252 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({23}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen
schaffen
- Drucksachen 17/4851, 17/5198 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth ({24})
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 15, 20, 23, 26 und 33 g
werden abgesetzt. Der bisher bei Tagesordnungspunkt 24 zur Beratung vorgesehene Antrag soll ohne
Debatte überwiesen werden.
Ich möchte Sie noch auf folgende geplante Änderungen des Ablaufs aufmerksam machen: Der Tagesordnungspunkt 28 wird schon heute im Anschluss an die
Präsident Dr. Norbert Lammert
Beratungen ohne Aussprache aufgerufen. Ebenso soll der
Tagesordnungspunkt 30 auf den heutigen Nachmittag
vorgezogen und nach dem Tagesordnungspunkt 6 behandelt werden. Dadurch rücken der Tagesordnungspunkt 7
und die übrigen Punkte der Koalitionsfraktionen jeweils
einen Platz nach hinten. Die Tagesordnungspunkte 8 und
32 werden getauscht. Der Tagesordnungspunkt 5 verschiebt sich auf morgen und wird nach dem Tagesordnungspunkt 29 beraten. - Das haben Sie alle jetzt sicher
sofort neu sortiert. Falls Zweifel oder Unsicherheiten zurückbleiben sollten, stehen Ihnen sowohl die Parlamentarischen Geschäftsführer wie auch das Präsidium für
Auskünfte gern zur Verfügung.
Ich mache schließlich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzliste aufmerksam:
Der am 25. Februar 2011 überwiesene nachfolgende
Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Kultur
und Medien ({25}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Beate MüllerGemmeke, Volker Beck ({26}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes personenbezogener Daten der Beschäftigten in der Privatwirtschaft und bei öffentlichen Stellen
- Drucksache 17/4853 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({27})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Kultur und Medien
Darf ich für alle diese vorgesehenen Änderungen Ihr
Einverständnis feststellen? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 24./25. März 2011
in Brüssel
Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offenkundig
einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({28})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir im Rahmen dieser
Debatte über das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion beraten, das der heute beginnende Europäische Rat beschließen wird, möchte ich
zunächst unseren Blick noch einmal auf die dramatischen Ereignisse in Japan und die Umbrüche im arabischen Raum lenken. Seit einigen Wochen erleben wir in
zahlreichen Staaten der arabischen Welt tiefgreifende
Umwälzungen. Sie gründen in der Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, nach politischer Selbstbestimmung.
Sie werden das Gesicht dieser Region verändern. Damit
werden sie auch das Gesicht der Welt verändern.
Die Menschen, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder
vor der Universität in Sanaa demonstrieren, fordern Freiheit, sie fordern Demokratie, sie fordern soziale Gerechtigkeit, und sie fordern bessere Lebensbedingungen. Sie
wenden sich gegen Willkürherrschaft, Unterdrückung
und Korruption. Sie nehmen den Übergang zu einer
neuen Ordnung in ihre eigenen Hände. Dafür gebührt ihnen unser aller Respekt.
({0})
Diese Umwälzungen sind eine historische Chance für
die Menschen in der arabischen Welt, aber genauso auch
für uns als Nachbarn dieser Region. Deshalb hat sich der
Europäische Rat am Freitag vor 14 Tagen mit diesem
Thema beschäftigt. Die Kommission hat Vorschläge für
eine neue Partnerschaft mit dieser Region vorgelegt.
Allerdings spüren wir gleichzeitig, wie fragil die Entwicklungen sind und wie ungewiss ihr Ausgang ist. Wir
sehen das in Bahrain, in Jemen, in Syrien, in Algerien,
und wir sehen das natürlich noch viel gravierender in Libyen. Dort hat Gaddafi seinem eigenen Volk den Krieg
erklärt. Die in der vergangenen Woche im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 1973
dient deshalb dem Ziel, diesem Krieg Gaddafis gegen
sein eigenes Volk Einhalt zu gebieten.
Die Bundesregierung hat sich, wie Sie wissen, bei der
Abstimmung über diese Resolution enthalten. Sie hat
sich enthalten, weil sie Bedenken hinsichtlich der militärischen Umsetzung der Resolution hat. Deutschland entsendet deshalb auch keine Soldaten der Bundeswehr.
Aber auch wenn das so ist, so gilt gleichzeitig: Die
Bundesregierung unterstützt die Ziele, die mit dieser Resolution verabschiedet wurden, uneingeschränkt. Sie hat
sich für diese Ziele von Anfang an eingesetzt. Deshalb
hoffen wir auf einen schnellen und vor allem nachhaltigen Erfolg, um diese Ziele zu erreichen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir treten vor allen Dingen für stärkere wirtschaftliche Sanktionen ein. Ich spreche über dieses Thema, weil ich mich auf dem Rat in
Abstimmung mit allen Ministern - insbesondere natürlich mit dem Außenministerium - noch einmal für ein
umfassendes Ölembargo und weitreichende Handelseinschränkungen gegenüber Libyen einsetzen werde. Ich
hoffe, dass wir an diesem Punkt in der Europäischen
Union endlich auch eine gemeinschaftliche Haltung er11252
reichen. Dies sollte möglich sein. Kein Ölexport mehr
aus Libyen in ein europäisches Land, meine Damen und
Herren.
({2})
Darüber hinaus ist es uns wichtig, humanitäre Hilfe
für Flüchtlinge aus Libyen zu leisten. Dazu gehört auch,
dass wir den Mitgliedstaaten, die außergewöhnlich stark
durch Migrationsströme belastet werden, solidarisch zur
Seite stehen. Wir kennen die Entwicklung der Zukunft
noch nicht. Ich will aber ganz deutlich sagen: Bürgerkriegsflüchtlinge, wie wir sie eventuell aus Libyen zu erwarten haben, sind Flüchtlinge, die unserer Solidarität
bedürfen. Flüchtlinge zum Beispiel aus Tunesien, wo die
Freiheit sich schon Bahn gebrochen hat, sind etwas anderes. Ich glaube, wir müssen hier deutlich unterscheiden.
({3})
Meine Damen und Herren, auch weil Deutschland
sich militärisch nicht an der Umsetzung der Resolution
1973 beteiligt, werden wir unsere NATO-Verbündeten
beim Einsatz von AWACS-Flugzeugen über Afghanistan
entlasten. Da ich an der morgigen zweiten und dritten
Lesung zum AWACS-Mandat wegen des zeitgleich stattfindenden EU-Rates nicht teilnehmen kann, erlaube ich
mir, die Gelegenheit dieser Regierungserklärung zu nutzen, meine Haltung zu diesem Mandat vor diesem Haus
deutlich zu machen; denn darauf haben Sie einen Anspruch.
Wir werden über den Beschluss der Bundesregierung
debattieren und abstimmen, bis zu 300 deutsche Soldaten für NATO-AWACS-Flüge zur Überwachung des afghanischen Luftraums einzusetzen. Der Einsatz ist zeitlich befristet bis zum 31. Januar 2012. Die NATOAWACS-Flugzeuge leisten einen wichtigen Beitrag für
die Sicherheit ziviler und militärischer Flugbewegungen
im afghanischen Luftraum. Das AWACS-Mandat dient
dem Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan sowie dem Schutz der afghanischen Bevölkerung.
Es folgt dem Gebot der Bündnissolidarität. Ich darf deshalb bereits heute um Ihre Zustimmung bitten.
({4})
Meine Damen und Herren, mindestens genauso sehr
bewegen uns die dramatischen Ereignisse in Japan. Sie
sind ein Einschnitt für die ganze Welt, ohne jeden Zweifel. Auch in Deutschland und in Europa konnten wir
nach den Ereignissen in Japan nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Über die dazu notwendigen bisherigen Entscheidungen der Bundesregierung haben wir am
vergangenen Donnerstag nach meiner Regierungserklärung debattiert. Das ist heute nicht zu wiederholen.
Ich weise aber darauf hin, dass die Sicherheit der Kernenergie auch Thema beim Rat der Staats- und Regierungschefs sein wird. Deutschland hat dieses Thema angemeldet; denn die Sicherheit der Kernkraftwerke innerhalb der
Europäischen Union geht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union gleichermaßen an. Deshalb gehört dies
auf die Agenda unserer Beratungen. Ich werde die von
Kommissar Oettinger vorgeschlagene Durchführung von
freiwilligen Sicherheitsüberprüfungen, sogenannte Stresstests, für alle europäischen Kernkraftwerke unterstützen.
Ich werde darüber hinaus intensiv dafür werben, dass
auch unsere Nachbarländer außerhalb der Europäischen
Union solche Stresstests durchführen. Frankreich und
Deutschland werden zudem gemeinsam eine Initiative
der G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerken
einbringen. Die zuständigen Minister werden dazu in
Kürze zu einer Konferenz zusammenkommen.
Das eigentlich zentrale Thema des morgigen Rates
werden aber die Beratung und Verabschiedung eines Gesamtpakets zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion sein. Für mich ist dabei ganz wichtig: Der
Euro und die Wirtschafts- und Währungsunion sind
Kernbereiche der europäischen Einigung. Sie sind unverzichtbar aus wirtschaftlichen wie aus politischen
Gründen. Deutschland profitiert vom Euro. Deutschland
profitiert vom Euro wie kaum ein anderes Land in der
Europäischen Union. Wir profitieren von der Preisstabilität. Wir profitieren davon, dass wir beim Reisen keine
lästigen Umtauschgebühren mehr bezahlen müssen.
Unsere Wirtschaftsunternehmen, die vielfach stark exportorientiert sind, profitieren von anderen Euro-Ländern, die wichtige Absatzmärkte für deutsche Waren sind.
Die nominalen Warenexporte Deutschlands in die EuroZone haben sich zwischen 1999 und 2009 um 48 Prozent
erhöht. Durch entfallende Umtauschkosten werden in der
Euro-Zone rund 20 bis 25 Milliarden Euro jährlich eingespart. Dieses Geld kann an anderer Stelle investiert werden.
Kurz gesagt: Der Euro sorgt für Arbeitsplätze, er
sorgt für Wirtschaftswachstum, er sorgt für Steuereinnahmen in Deutschland. Er ist eine stets stabile Währung
im Innen- wie im Außenwert, und zwar - das haben wir
erlebt - auch in Krisenzeiten. Wir haben eine stabile Gemeinschaftswährung, weil wir eine unabhängige Europäische Zentralbank haben, die strikt dem Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet ist. So steht es in
den Verträgen.
({5})
Ich will mir gar nicht ausmalen, wie viel härter uns die
internationale Finanz- und Bankenkrise 2008 getroffen
hätte, wenn wir nicht die gemeinsame Währung gehabt
hätten.
({6})
Meine Damen und Herren, der Euro hat nicht nur einen
wirtschaftlichen Wert. Er ist weit mehr als eine verlässliche Währung. Er ist ökonomischer und politischer Ausdruck unserer engen Verflechtung und Verbundenheit in
der Europäischen Union. Wir Mitglieder der Wirtschaftsund Währungsunion bilden eine Verantwortungsgemeinschaft. Jeder Einzelne von uns ist zu Eigenverantwortung
und Solidarität verpflichtet. An diesen Grundsätzen habe
ich, hat die ganze Bundesregierung im letzten Jahr ihr
Handeln ausgerichtet, als es um die Krisenbewältigung
auch innerhalb von Europa ging. An diesen Grundsätzen
orientiere ich mich jetzt und orientiert sich auch das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion, das der Europäische Rat verabschieden wird.
Mit diesem Gesamtpaket ziehen wir die Lehren aus
der Schuldenkrise. Es ist ganz wichtig, noch einmal Folgendes festzuhalten:
Erstens. Alles, was wir jetzt tun, ist Umgang mit den
Fehlern, die in der Vergangenheit aufgetreten sind - von
der Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts
unter Rot-Grün bis hin zu Ergebnissen innerhalb der
Banken- und Schuldenkrise. Es ist noch nicht die Umsetzung der Lehren, die wir aus der Krise gezogen haben.
Zweitens. Wir bauen uns damit ein Rahmenwerk dafür, dass die in der Vergangenheit aufgetretenen Fehler
nicht wieder passieren können.
({7})
Ich verstehe natürlich, dass viele fragen - diese Diskussionen führen wir auch hier im Parlament -: Was ist
eure Sicherheit, dass die Fehler, die in der Vergangenheit
aufgetreten sind und für die man angeblich auch das
richtige Rahmenwerk hatte, in der Zukunft nicht wieder
passieren?
Deshalb kann ich nur an uns alle appellieren: Das eine
ist das, was wir jetzt beschließen. Das andere ist die Bereitschaft, es dann auch wirklich einzuhalten und nicht
hier und dort irgendwelche politischen Begründungen
dafür zu finden, dass es jetzt gerade die Umstände nicht
erlauben. Das muss eine gemeinschaftliche Verpflichtung dieses Hohen Hauses sein, meine Damen und Herren.
({8})
Seit Beginn der Schuldenkrise im Euro-Raum haben
wir immer wieder gefordert, dass neben allem notwendigen Krisenmanagement auch über den Tag hinaus gedacht werden muss. Vor allem müssen wir eine neue Stabilitätskultur und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit
ins Zentrum unserer Bemühungen stellen; denn nur eine
höhere Wettbewerbsfähigkeit kann auf Dauer für das
Wachstum sorgen, das notwendig ist, um eine Perspektive zum Abbau der Schulden zu schaffen.
Das Gesamtpaket zur Stärkung der Wirtschafts- und
Währungsunion verfolgt deshalb drei Ziele: erstens mehr
Stabilität und Solidität, zweitens die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und drittens ein ausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität. Damit
werden wir - davon bin ich überzeugt - die wirtschaftliche und politische Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und
Währungsunion stärken und erhöhen sowie nachhaltig
gestalten.
Zum ersten Ziel: Wir sorgen für mehr Stabilität und
Solidität. Dafür werden strengere Vorgaben eingeführt
und deren Einhaltung strikt überwacht. Das bezeichnen
wir als die Überarbeitung und Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Wir verschärfen ihn in der
Tat. Künftig riskieren Euro-Mitgliedstaaten auch dann
schon Sanktionen, wenn sie nicht die notwendigen
Schritte in Richtung eines ausgeglichenen Haushalts unternehmen. Damit soll frühzeitig einem übermäßigen
Defizit entgegengesteuert werden.
Wir haben erreicht, dass Haushaltssünder bei Verletzung der Maastricht-Defizitgrenze von 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts künftig früher und schneller bestraft werden. Das ist die Stärkung des präventiven Arms
des Stabilitätspakts.
Außerdem wird ein neues Erfüllungskriterium in Zukunft viel stärker berücksichtigt. Bis jetzt war schon
klar, dass es keine Verschuldung von mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geben darf. Dieses Kriterium ist aber nie Gegenstand von Sanktionen gewesen.
Künftig müssen diejenigen mit Sanktionen rechnen, die
diesen Schuldenstand überschreiten. Davon ist im Übrigen auch Deutschland betroffen; denn unsere Gesamtverschuldung liegt über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Abbau der Schulden muss nach den neuen
Regeln um ein Zwanzigstel, also 5 Prozent, des Bruttoinlandsprodukts erfolgen. Dieser Aufgabe müssen auch
wir in der Bundesrepublik Deutschland uns stellen.
Dass wir diese Regelungen so streng gefasst haben
und dass kein einzelner Mitgliedstaat mehr dagegen opponiert, ist ein großer Fortschritt; denn von exorbitanten
Schuldenständen einiger Mitgliedstaaten gehen große
Gefahren aus, und zwar nicht nur für das Land, sondern,
wie wir erlebt haben, für die Stabilität des Euros insgesamt.
Des Weiteren - auch das ist neu - arbeiten wir an einem neuen Überwachungsverfahren, mit dem wir die
Entstehung schwerwiegender wirtschaftlicher Ungleichgewichte in Europa künftig vermeiden und notfalls gegensteuern können. Die Fragen in diesem Bereich werden sehr stark diskutiert, weil Ungleichgewichte
natürlich auf verschiedenen Ursachen beruhen können.
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben gegenüber
vielen europäischen Ländern Exportüberschüsse. Wenn
dies auf erhöhter Wettbewerbsfähigkeit beruht, darf
dies natürlich nicht zum Gegenstand von Klagen werden - damit es da zu keiner Fehleinschätzung kommt -,
sondern muss begrüßt werden.
({9})
Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch Länder, die
sehr große Importüberschüsse haben; wir sprechen hier
vom asymmetrischen Ansatz. Hier muss aufgepasst werden, ob sich nicht etwas andeutet, was langfristig oder
mittelfristig zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts führt. Das
heißt: Wir minimieren weitere Risiken, die die Finanzstabilität Europas als Ganzes gefährden könnten. Auch
hier gilt: Künftig sind Sanktionen möglich, wenn ein
Mitgliedstaat die Empfehlungen missachtet.
Wir haben klargestellt, dass Handlungsbedarf vor allem bei den Ländern mit Wettbewerbsschwächen besteht; denn Konvergenz in der Europäischen Union, insbesondere in der Euro-Zone, darf natürlich nicht
Annäherung an die Schwächeren sein, sondern muss immer an den Stärkeren unter uns ausgerichtet sein, damit
Europa als Ganzes wettbewerbsfähig bleibt.
({10})
Schließlich werden die ordentliche Haushaltsführung
durch mehr Solidität und Verlässlichkeit der Statistiken
in Zukunft verpflichtend vorgeschrieben, damit die Ergebnisse, die wir haben, wirklich vergleichbar sind.
Auch das ist ein wichtiger Faktor. Wenn wir einmal an
die griechischen Zahlen, die Eurostat gemeldet wurden,
und an die Berichtigung der Zahlen zu den Defiziten
denken, so wissen wir, wovon wir sprechen.
Es ist ein großer Erfolg, dass jetzt alle Mitgliedstaaten
zu größeren Anstrengungen bereit sind. Die Richtlinien
sind von der Kommission vorgelegt; sie werden im Europäischen Parlament und im Rat beraten und werden
natürlich auch hier im Deutschen Bundestag Gegenstand
von Beratungen sein.
Zweitens. Wir stärken die Wettbewerbsfähigkeit. Dafür verpflichten wir uns zu Strukturreformen und zur engeren Koordinierung unserer Wirtschaftspolitiken. Für
die dauerhafte Stabilisierung des Euros sind die Reformanstrengungen in den einzelnen Euro-Mitgliedstaaten
von entscheidender Bedeutung. Alle Euro-Staaten - ich
beziehe Deutschland ausdrücklich mit ein - müssen mehr
tun, um wettbewerbsfähiger zu werden. Ich möchte an
dieser Stelle dem Ratspräsidenten Herman Van Rompuy
ausdrücklich danken, dass er gemeinsam mit dem Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso die Verhandlungen über den Pakt für den Euro geführt hat.
Es ist gelungen, auch etliche Nicht-Euro-Staaten für
unseren Pakt zu gewinnen. Polen und Dänemark haben
ihre Unterstützung bereits öffentlich bekannt gegeben;
ich halte das für ein gutes Zeichen. Mir war die Öffnung
dieses Paktes für alle besonders wichtig; denn das Ziel
muss sein, dass möglichst viele Länder der Europäischen
Union der gemeinsamen Währung, dem Euro, beitreten.
Je mehr Mitgliedstaaten sich dem Pakt anschließen,
umso größer sind natürlich die gemeinschaftlichen Impulse für den Binnenmarkt.
Bei diesem Pakt geht es ausschließlich um nationale
Zuständigkeiten. Deshalb werden die Verpflichtungen
im Rahmen dieses Paktes natürlich ausführlich hier im
Deutschen Bundestag debattiert. Das Europäische Parlament wird informiert; das ist klar; denn es ist eine Institution der Europäischen Union. Wir arbeiten und koordinieren uns aber in einem Bereich, der nationale
Zuständigkeiten umfasst. Das heißt also, der Pakt setzt
auf die direkte Verantwortlichkeit der Staats- und Regierungschefs, die sich in Zukunft persönlich zu Strukturreformen verpflichten und für die nationale Umsetzung
sorgen müssen. Es versteht sich von selbst, dass dies der
Unterstützung des jeweiligen Parlaments, in diesem Fall
des Deutschen Bundestags und seiner Mehrheit, bedarf.
Das heißt, das wird Gegenstand intensiver Diskussionen
unter uns sein.
Wir machen damit die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit zur Chefsache. Wir orientieren uns nicht an den
Schwächsten, sondern an den Besten, und zwar nicht nur
innerhalb Europas. Die ausdrückliche Verpflichtung ist
vielmehr, sich auch an unseren strategischen Partnern,
das heißt, an den Besten der Welt zu orientieren. Meine
Damen und Herren, wir könnten natürlich Stabilität des
Euros und Solidarität im Euro-Raum erreichen und
gleichzeitig den Abstand zur Weltspitze immer größer
werden lassen. Das ist nicht unser Ziel. Wohlstand für
die Menschen, Arbeitsplätze für die Menschen in
Deutschland werden nur erreichbar sein, wenn wir in
Europa an der Spitze der Welt dabei sind; das ist die
simple, aber unabdingbare Wahrheit.
({11})
Der Pakt nennt objektive Indikatoren. Die Kommission wird die Überwachung dieses Paktes vornehmen.
Wir müssen eines sehen: Deutschland ist beileibe nicht
überall und in allen Bereichen schon bei den Besten dabei. Auch wir müssen uns anstrengen. Deshalb haben wir
ein Aktionsprogramm dem Parlament vorgelegt, das unter anderem die Ankündigung enthält, dass Deutschland
schon früher die vorgegebenen Neuverschuldungsgrenzen erreichen wird. Zudem wird der Bund in diesem und
im nächsten Jahr weniger neue Schulden machen, als es
die Schuldenregel des Grundgesetzes vorsieht.
Wir wollen die regulierten Bereiche der Wirtschaft,
zum Beispiel im Busfernlinienverkehr, öffnen.
({12})
- Passen Sie auf. Schauen Sie: Die Wahrheit ist immer
konkret.
({13})
- Ich hatte nicht die Absicht, gleich die gesamte deutsche Handwerksordnung abzuschaffen. Wenn Sie das
wollen, kann das Herr Steinbrück gleich mitteilen.
({14})
Das wäre etwas weitergehend, aber wir halten das nicht
für gegeben. Wir machen das, was wir sagen: Schritt für
Schritt.
({15})
Dann schauen Sie sich einmal an, wie das aussieht.
({16})
- Herr Trittin, Sie wissen genau - eigentlich ist es bedauerlich -, wie Wettbewerbsverzerrungen zum Beispiel davon abhängen, ob ein Land seinen Eisenbahnverkehr für
den internationalen Wettbewerb öffnet.
({17})
Wir können darüber sehr viel reden: Mal sind es die
Eisenbahnen, mal sind es die Busse, dann ist es der gemeinsame europäische Flugraum. Genau um diese
Dinge geht es bei der Frage, ob sich Europa seinen
Wachstumsfragen widmet oder nicht.
Aber, meine Damen und Herren, ich werde lieber auf
weitere Beispiele verzichten, weil es große Teile dieses
Hauses nicht interessiert.
({18})
Die Koalitionsfraktionen werden dann natürlich gern informiert.
({19})
- Sie können ganz unbeteiligt und erfreut, wie kleinteilig
das im Konkreten wird, über diese Dinge hinwegsehen.
({20})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich kümmere mich lieber
um die wachsende Wettbewerbsfähigkeit Europas, als
dass ich dauernd Rettungsprogramme für andere Länder
machen muss. Wir setzen darauf, dass Europa insgesamt
besser wird.
({21})
Sie können sich dann ja um andere Dinge kümmern.
Ich komme nun zum dritten Ziel. Wir sorgen für ein
ausgewogenes Verhältnis von Eigenverantwortung und
Solidarität. Dafür schaffen wir neben der heute bestehenden Fazilität, der EFSF, einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus.
Wir haben bereits früh im letzten Jahr gefordert, dass
der Mechanismus einer verlässlichen rechtlichen Grundlage bedarf. Nachdem der Bundestag die notwendige
Vertragsänderung unterstützt hat, kann ich morgen beim
Europäischen Rat dem einstimmigen Beschluss zur vereinfachten Änderung von Art. 136 AEUV zustimmen.
Anschließend muss dies natürlich national ratifiziert
werden: bei uns mit Zustimmung des Bundestages und
des Bundesrates.
Die neue Vertragsbestimmung stellt auf unser Drängen hin klar, dass der Mechanismus nur dann aktiviert
wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des
Euros als Ganzes zu wahren. Es handelt sich also um
eine sogenannte Ultima-Ratio-Klausel. Sie schafft die
gerade für Deutschland unabdingbare Rechtssicherheit
für den neuen Mechanismus und erfüllt damit den Geist
der Verträge.
Gegen große Widerstände hat Deutschland außerdem
durchgesetzt, dass auch die folgenden wichtigen Kriterien bei der Konstruktion des dauerhaften europäischen
Stabilitätsmechanismus eingehalten werden:
Erstens. Kredite des Mechanismus können nur als
letztes Mittel vergeben werden, nachdem die Kommission und der IWF in Verbindung mit der EZB die Schuldentragfähigkeit des Antragstellers untersucht haben.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Es darf sich nur um Liquiditätsprobleme handeln.
Zweitens. Die Vergabe wird durch einstimmigen Beschluss entschieden. Das heißt, jeder Mitgliedstaat hat
sein Stimmrecht in jedem einzelnen Fall. Voraussetzung
ist immer, dass sich das entsprechende Euro-Mitglied zu
harten Eigenanstrengungen im Rahmen der Programmauflagen verpflichtet.
({22})
Meine Damen und Herren, wenn ich in den Februar
des vergangenen Jahres zurückblicke - damals haben
wir uns viel über die Frage gestritten, wann Griechenland Unterstützung bekommen kann -, sage ich: Wir haben die Prinzipien jetzt richtig vereinbart.
Für uns war von Anfang an klar - das hat sich bewährt und ist im Zuge der Beratungen jetzt die gemeinsame Meinung aller -: Solidarität gibt es nur bei entsprechender Eigenanstrengung des einzelnen Landes, weil
die Euro-Zone nur dann harmonisch zusammenhalten
kann, wenn sich alle Länder auf ein gemeinsames Niveau verständigen.
Dazu bedarf es vieler Reformen in den einzelnen Ländern. Das war nicht unumstritten, genauso wenig wie die
Frage, ob der IWF daran beteiligt wird, und vieles andere mehr. Heute nimmt das jeder als gegeben hin. Ich
sage Ihnen: Es war richtig, dafür gekämpft zu haben,
weil diese Prinzipien innerhalb der Euro-Zone allgemein
gelten müssen.
({23})
Der Europäische Stabilitätsmechanismus wird mit einer effektiven Darlehenskapazität von 500 Milliarden
Euro ausgestattet. Sie wissen, dass wir diese Ausstattung
im Rahmen eines AAA-Ratings wollen. Der Europäische Stabilitätsmechanismus bildet damit ein tragfähiges
Rettungsnetz für den äußersten Notfall. Er setzt sich zusammen aus Kapital und Garantien. Die Summe des Kapitals wird 80 Milliarden Euro betragen. In den Beratungen werde ich noch einmal darauf drängen, dass der
Aufbau dieses Kapitalstocks über fünf Jahre verteilt
wird, also in mehreren Zeitschritten abläuft, beginnend
ab 2013.
({24})
- Nun brauchen Sie nicht gleich wieder dazwischenzuschreien. Wir halten das so für richtig.
Ich bedanke mich bei den Finanzministern dafür, dass
sie das, was im Zusammenhang mit diesem Mechanismus zu klären war, weitestgehend geklärt haben, sodass
wir im Europäischen Rat nur noch ganz wenige Fragen
zu besprechen haben. Das ist sehr gut.
({25})
Die Haftung Deutschlands ist nach oben begrenzt.
Die Finanzierung des Mechanismus wird von den teilnehmenden Mitgliedstaaten anteilig gewährleistet, wobei es im Grundsatz bei dem schon bisher verwendeten
EZB-Kapitalanteilschlüssel bleibt. Er wird lediglich
temporär geringfügig angepasst, um eine überproportionale Belastung einiger Mitgliedstaaten zu verhindern.
Ich sage ganz klar: Mit der christlich-liberalen Koalition
wird es keine Vergemeinschaftung von Schulden geben.
Die wird es nicht geben.
({26})
Aus genau diesem Grund lehnen wir auch die Einführung von Euro-Bonds ab. Denn dies wäre die Vergemeinschaftung von Schulden und der Einstieg in eine gesamtschuldnerische Haftung.
({27})
Wer solche Forderungen stellt, handelt nicht im Interesse
der deutschen Steuerzahler. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Es geht aber nicht nur um die deutschen Steuerzahler. Ich bin dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, sehr dankbar, der am
Montag in Brüssel noch einmal bekräftigt hat, dass mit
Euro-Bonds die Anreize für eine solide Haushaltspolitik
leiden. Genau das darf nicht passieren. Das heißt, dass es
nicht nur im Interesse des deutschen Steuerzahlers - was
schon wichtig ist -, sondern auch im Interesse Europas
ist, dass wir dies nicht machen.
({28})
Es wird also weder regelmäßige noch dauerhafte
Transferleistungen geben. Zur dauerhaften Bewältigung
der Herausforderung ist vielmehr ein konsequenter Konsolidierungs- und Reformweg unerlässlich. Dafür setzen
wir uns ein. Wie schwierig das ist, haben wir am gestrigen
Tag erlebt. Die portugiesische Regierung hatte uns auf
dem Treffen der Euro-Gruppe ein umfassendes Reformprogramm für die Jahre 2011, 2012 und 2013 vorgelegt.
Dieses Programm hat die Zustimmung der Europäischen
Kommission und der Europäischen Zentralbank gefunden. Wir haben dem portugiesischen Premierminister
Sócrates dafür - das will ich auch heute noch einmal
tun- bei dem Treffen der Euro-Gruppe unsere Hochachtung ausgesprochen.
({29})
- Das ist schon geschehen. Da brauchen Sie sich gar
nicht so aufzuregen. Das ist alles schon passiert. Ich
hoffe sowieso, dass wir nicht in so eine Lage kommen.
({30})
- Mein Gott, wie kleinkariert sind Sie? Also wirklich,
Mannomann!
({31})
Hier geht es um die Frage, ob die Finanzstabilität des
Euro als Ganzes erhalten werden kann, und darum, dass
ein Premierminister - dabei ist es mir egal, ob er zu einer
sozialdemokratischen, einer christdemokratischen oder
sonst einer Partei gehört - Verantwortung gezeigt hat.
Dafür war ich dankbar. Es ist bedauerlich, dass es nicht
gelungen ist, dafür eine parlamentarische Mehrheit zu
bekommen.
({32})
Beklagen Sie sich bitte nicht darüber, dass wir uns dann
hier noch einmal mit den Folgen dieser Sache auseinandersetzen müssen. Ich sage nur, dass es ein richtiger und
mutiger Schritt war und dass es auch zeigt, wie viel politischen Mutes es bedarf, wenn die Dinge in der Vergangenheit nicht richtig gelaufen sind.
Wir machen uns - um zum permanenten Stabilitätsmechanismus zurückzukommen - stark - das wird Teil
des Mechanismus sein - für die Beteiligung privater
Gläubiger. Dies ist ein immer wieder diskutierter Faktor.
Ich glaube, es ist absolut richtig, zu sagen: Ab 2013
muss im Falle der nicht gegebenen Solvenz eines Staates
die Beteiligung privater Gläubiger verpflichtend sein.
Das haben wir gegen viele Widerstände durchgesetzt.
({33})
Ich sage ausdrücklich: Das, was von einer Seite dieses
Hauses immer als Isolierung oder Alleinstehen Deutschlands betrachtet wurde, ist notwendig gewesen, damit
wir zu einer vernünftigen Ordnung kommen; denn Sie
sehen an den Märkten ganz deutlich, dass die Beteiligung privater Gläubiger eine notwendige Voraussetzung
ist, um manche Probleme zu bewältigen. Auf jeden Fall
haben wir in der Zukunft dieses Instrumentarium zur
Verfügung. Das wird ein immanenter Bestandteil dieses
neuen Mechanismus sein.
Für mich gilt weiterhin der Grundsatz, den ich auch
am 15. Dezember in diesem Haus genannt habe: Niemand in Europa wird allein gelassen. Niemand wird fallen gelassen; denn Europa gelingt nur gemeinsam.
({34})
Aber dies bedarf natürlich gemeinsamer Anstrengungen,
also eines vernünftigen Verhältnisses von Eigenanstrengung und Solidarität.
({35})
Ich kann Ihnen sagen - so weit sind wir in den Gesprächen mit Irland noch nicht -, dass zum Beispiel
Griechenland beim Treffen der Chefs der Euro-Zone am
11. März überzeugend die Fortsetzung der Strukturreformen dargelegt sowie ein 50 Milliarden Euro umfassendes Privatisierungsprogramm angekündigt hat.
Dass die übrigen Euro-Mitgliedstaaten bereit sind, solidarisch zu handeln, haben wir mit unserem Beschluss
zum derzeitigen provisorischen Euro-Rettungsschirm am
11. März 2011 deutlich gemacht. Im Falle Griechenlands
sind wir zu einer bestimmten Zinssenkung bereit.
Wir werden auch sicherstellen, dass das im Mai 2010
beschlossene Volumen des Euro-Rettungsschirms von
440 Milliarden Euro im Notfall effektiv zur Verfügung
gestellt werden kann. Dies wird allgemein erwartet.
Auch hier zeigen wir konkrete Solidarität und Verantwortung.
Ich bin überzeugt: Mit dieser Gesamtstrategie zur
Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion wird das
Jahr 2011 für den Euro und für die Europäische Union
zum Jahr des Vertrauens.
({36})
- Sie möchten also nicht, dass dieses Jahr zum Jahr des
Vertrauens wird. Es ist interessant, dies festzuhalten. Wir
wollen das. Ich glaube, das ist sehr wichtig und richtig.
({37})
Ich würde an Ihrer Stelle, auch wenn es schwerfällt, in
diesen europäischen Angelegenheiten einmal die Kraft
aufbringen, ein kleines bisschen über den Tellerrand zu
gucken. Dies würde Europa wirklich guttun.
({38})
Sie erheben sich hier über die portugiesische Opposition
und sind nicht einmal bei Sachen, bei denen Sie gar
nichts zu entscheiden haben, bereit, eine ernsthafte Debatte zu führen. Das ist schon beachtlich, muss ich sagen.
({39})
Es geht um die dauerhafte Stabilität des Euro. Wir
machen den Euro und Europa zukunftsfähig. Wir bringen Eigenverantwortung und Solidarität in ein ausgewogenes Verhältnis. Wir füllen somit - das ist das Eigentliche, das jetzt passiert - eine Lücke in der Konstruktion
der Wirtschafts- und Währungsunion, die in ihrem ganzen Ausmaß erst im letzten Jahr offenbar geworden ist.
Damit stärken wir die politische und die wirtschaftliche
Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion;
denn nur ein stabiles und wettbewerbsstarkes Europa hat
Gewicht in der Welt.
Die Stärkung der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung ist eine zentrale Aufgabe unserer
Zeit. Die Bundesregierung setzt alles daran, diese zentrale Aufgabe so zu lösen, dass die Europäische Union
insgesamt und damit alle Bürgerinnen und Bürger der
Europäischen Union eine gute Zukunft haben. Für diesen Weg bitte ich den Deutschen Bundestag um Unterstützung, weil er aus meiner Sicht ein notwendiger Weg
ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({40})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie müssen nicht ganz so angefressen reagieren, wenn es zu einem gewissen Rumoren - und nicht nur zu einem Stillhalten - auf einigen
Oppositionsbänken kommt, wenn Sie Einlassungen wie
„Jahr des Vertrauens“ von sich geben. Ein Teil dieses
Parlaments empfindet das als eine Wortblase und darf
dies auch zum Ausdruck bringen.
({0})
Das betrifft auch die Begrifflichkeit „Herbst der Entscheidungen“. Nicht alle Parlamentarier müssen stillhalten, wenn Sie solche Begriffe in Ihre Rede einspannen.
Die Europäische Union, um nicht zu sagen: ganz Europa, befindet sich unbenommen der dramatischen und
erschütternden Ereignisse um uns herum an einem
Scheideweg. Ob Deutschland in und mit Europa am
Ende dieses Jahrzehnts noch eine führende Wohlstandsregion in der Welt ist, ob Europa und Deutschland noch
zu den führenden, einflussreichen, sich dynamisch entwickelnden Regionen gehören und ob Europa seine Zivilisation behalten bzw. behaupten kann, gegebenenfalls
sogar zum Vorbild für die Bürger aufstrebender Länder
machen kann, all das entscheidet sich maßgeblich bei
der Bewältigung der Krise, die uns seit Mitte 2007 in der
Klammer hält und inzwischen ganze Nationalstaaten in
den Schraubstock genommen hat. Schreitet die europäische Einigung voran, oder zerfällt sie mit der Folge einer
Renationalisierung, und zwar nicht nur einer Renationalisierung von Währungen? Auf dieser Flughöhe müssen
wir, denke ich, die Debatte führen und nicht in den Niederungen kleinlicher nationaler Egoismen.
({1})
Es geht um die Frage, welche Bedeutung und welchen
Einfluss Europa zukünftig in einer sich rasant verändernden Welt hat. Ich will zu Beginn konzedieren, Frau Bundeskanzlerin, dass das heute und morgen im Europäischen Rat zur Abstimmung anstehende Paket keine
kleinkarierte oder von oppositionellen Reflexen geprägte
Kritik verdient. Dieses Paket ist notwendig. Es ist aber
in mancherlei Hinsicht, wie ich glaube, nicht hinreichend - ich komme darauf zurück -, und es wird allerdings sehr spät versendet. Es hat sehr lange gedauert, bis
in Teilen Ihrer Regierung, Ihrer Koalition die Einsicht
nachvollzogen wurde, dass aus einem Stolpern von Fall
zu Fall ein umfassender Ansatz gefunden werden muss.
({2})
Diese Erkenntnis ist offenbar um die Jahreswende gereift; denn in seiner Antwort auf Ihre Regierungserklärung vom 15. Dezember 2010 hat Ihnen Frank-Walter
Steinmeier völlig zu Recht vorgehalten, dass die Zeit des
Durchmogelns vorbei ist.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auf der Wegstrecke
seit Ausbruch der Griechenland-Krise erstaunlich viele
- zu viele - Volten und Pirouetten gedreht. Ihr Satz eben
in der Regierungserklärung: „Wir machen, was wir sagen“ klingt vor dem Hintergrund der Volten, die diese
Regierung geschlagen hat, sehr nach Kabarett.
({3})
Diese Volten hätte man sportlich nennen können,
wenn sie denn nicht Glaubwürdigkeit gekostet hätten
und wenn sie nicht die Märkte maßgeblich irritiert und
eine Reihe, wenn nicht sogar viele, europäische Partnerländer verstört hätten.
Es hieß zunächst: Es gibt keine Haushaltsmittel für
Griechenland. - Ich kann mich erinnern, wie Sie auf der
Welle gesurft sind, auf der Sie als eiserne Kanzlerin stilisiert worden sind. Anschließend wurde diese Position
der Bundesregierung natürlich geräumt. Dann wurde der
laufende Rettungsschirm - die Abkürzung ist EFSF - in
einem dramatischen Umfeld im Mai 2010 verabschiedet,
aber die Bundesregierung hinterlegte, dass er nicht in
Anspruch genommen werden müsse, der Ernstfall stehe
nicht bevor. Das war alles andere als ein klares Signal an
die Märkte.
Dann beruhigten Sie die innenpolitischen Gemüter
und auch die innerparteilichen Heißsporne mit der Ansage, dass dieser Rettungsschirm gar nicht in Anspruch
genommen werden müsse und bis 2013 zeitlich limitiert
sei. Ich habe folgendes Zitat von Ihnen in Erinnerung,
das lautet: Ich sage ganz klar, dass es eine Verlängerung
des Hilfsfonds nicht geben wird.
({4})
Wenn Sie sagen: „Es ist etwas ganz klar“, dann gehen
bei mir inzwischen die Warnblinkanlagen an.
({5})
Dann traten Sie völlig berechtigt für automatisierte
Sanktionsmechanismen ein und gaben diese auf einem
denkwürdigen Spaziergang entlang der französischen
Kanalküste in Deauville auf. So wurde in einer Art
Orwell’scher Sprachverdrehung aus einem automatisierten Sanktionsmechanismus ein quasi-automatischer.
({6})
Diese Wortschöpfung täuscht darüber hinweg, dass ein
sanktionsbewehrtes Defizitverfahren jetzt nur noch möglich ist, wenn es vorher eine politische Entscheidung
gibt. Es läuft ein Automatismus ab, der durch eine qualifizierte Mehrheit allerdings wieder ausgehebelt werden
kann.
({7})
Dann traten Sie vehement für eine Gläubigerhaftung
ein, wie auch eben in Ihrer Regierungserklärung. Ich zitiere aus einem Zeitungsartikel, in dem es heißt, sie, die
Bundeskanzlerin, werde kein Schlaraffenland für Banken
erlauben, in dem das Risiko zu 100 Prozent beim Steuerzahler abgegeben wird. Herr Schäuble sagte - ebenfalls
bemerkenswert -: Es kann nicht sein, dass Chancen von
den Investoren und Krisen von den Steuerzahlern getragen werden. - Hört, hört! Gut gebrüllt! Aber was sind
die Fakten?
Eine Gläubigerhaftung soll es im Rahmen des permanenten Rettungsschirmes ab 2013 geben - richtig, aber
nur im Insolvenzfall, nicht bereits bei Liquiditätsproblemen. Das ist ein eminenter Unterschied. Dass ein solcher
Fall der Zahlungsunfähigkeit eintreten kann, bezweifeln
die europäischen Finanzminister im Übrigen selber. Sie
reden in einem Kommuniqué von dem unerwarteten
Fall, dass ein Land zahlungsunfähig wird. Aber wenn
der Insolvenzfall quasi ausgeschlossen wird, dann gibt
es ergo doch auch keine Gläubigerhaftung. Oder gibt es
da eine spezifische christdemokratische Logik?
({8})
Nicht genug der Volten! Sie wollten lange Zeit - wie
ich behaupte: aus guten Gründen - keine Wirtschaftsregierung der 17 Euro-Länder haben. Dann sind Sie wie
Zieten aus dem Busch mit der Befürwortung einer Wirtschaftsregierung der 17 Euro-Staaten gekommen. Es ist
in diesem Parlament inzwischen übrigens eine ganz
merkwürdige Konstellation festzustellen: Die Marktwirtschaftler, die das Prinzip hochhalten, dass Haftung
und Risiko zusammenfallen und Anleger haften müssen,
wenn ein Land seine Schulden nicht mehr bedienen
kann, sitzen eher auf den Bänken der Sozialdemokratie
und, wie ich vermute, auch der Grünen,
({9})
während Vertreter einer Art des Neosozialismus, der faktisch bedeutet, dass Kreditausfälle zulasten der Steuerzahler sozialisiert werden, eher in dem anderen Spektrum des Hohen Hauses zu finden sind.
({10})
Die beiden Rettungsschirme, der laufende und der
permanente, sollten nicht aufgestockt werden
({11})
- Herr Kauder, ich danke Ihnen für die Ermunterung; sie
wird mich beflügeln -,
({12})
jedenfalls nicht unter deutscher Beteiligung; so hieß es.
Sie haben heute dargestellt, dass es selbstverständlich
unter deutscher Beteiligung zu einer Ausweitung unserer
Bürgschaftsposition und zu Kapitaleinlagen kommt. All
dies wird heute oder morgen beschlossen. Vor dem Hintergrund dieser Volten erinnere ich daran, was Sie eben
gesagt haben: Wir, die Regierung, machen, was wir sagen. - Tatsächlich?
({13})
Sie, Frau Merkel, haben sich zusammen mit Vertretern der Koalitionsfraktionen durch Tabuisierungen und
Ideologisierungen, bezogen auf Transferunion, Haftungsgemeinschaft, Euro-Anleihen und Fiskalunion, eingemauert. Im Übrigen: Das, was jetzt beschlossen wird,
ist eine reine Umetikettierung dessen, was sich eigentPeer Steinbrück
lich hinter diesen Begriffen verbirgt. Denn wir haben
längst eine Transferunion,
({14})
gar nicht einmal bezogen auf das, was seit den Römischen Verträgen 1957 verabredet worden ist, noch nicht
einmal bezogen auf den Kohäsionsfonds und die Strukturfonds. Vielmehr haben wir es mit Blick auf die Krisenbewältigung längst mit einem Transfer von Liquidität
und Bonität von solventen europäischen Ländern zu notleidenden Ländern zu tun. Es ist ein Faktum.
({15})
Sie haben sich durch die Tabuisierung und Ideologisierung dieser Begriffe eingemauert: im Hinblick auf
Vorschläge, die zu einer adäquaten Problemlösung beitragen könnten, und auch im Hinblick auf andere europäische Partnerländer. Ihre Politik, Frau Merkel, hätte
schneller sein müssen, als es die Märkte erwarteten. Sie
hätten schneller, als es die Märkte erwarteten, Lösungen
finden und umsetzen müssen. Das hätte die Märkte beruhigt. Ihre diversen Volten sind nicht mehr mit der Methode „Versuch, Irrtum und Erkenntnisgewinn“ zu rechtfertigen. Sie haben versäumt, den Märkten ein klares
Signal zu geben. Die Märkte wussten angesichts der
Rückzieher, der Volten, der Widersprüche dieser Koalitionsregierung nie genau, woran sie mit ihr waren.
({16})
Insofern ist die Krise in der Euro-Zone auch eine Führungs- und Glaubwürdigkeitskrise.
({17})
Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange eine Führungsrolle verweigert und nationale Befindlichkeiten in
den Mittelpunkt Ihrer Betrachtungen gestellt. In dieser
Führungskrise ist übrigens die Europäische Zentralbank
sozusagen als Ausputzer für eine nicht handlungsfähige
Politik in die Situation gedrängt worden, Staatsanleihen
aufzukaufen, was wir heute beklagen.
({18})
Erstens. Die deutsche Unentschlossenheit über lange
Zeit trug zu einer langen europäischen Entschlusslosigkeit bei und lud damit die Märkte zu Testläufen gegen
einzelne Mitgliedstaaten ein. Das Abwarten, das allenfalls begrenzt und mit erheblichen Kollateralschäden den
Vorteil hätte bringen können, dass die deutsche Stabilitätskultur vielleicht auf andere Länder hätte übertragen
werden können, hat auf der anderen Seite die Kosten
dieser Rettungsaktion gesteigert.
({19})
Zum Zweiten haben das Gewicht Deutschlands und
die Anerkennung unseres Wirkens für Europa, wenn
man so will: unsere politische Bonität als Deutsche,
spürbar abgenommen. Jeder, der das Ohr auf der Schiene
der europäischen Magistralen hat, weiß, wovon ich rede.
Das war vor Ausbruch der Griechenland-Krise in unserer gemeinsamen Regierungszeit anders.
({20})
Zum Dritten haben Sie gegenüber dem Publikum und
den Bürgern nicht fest und überzeugend kommuniziert.
Sie hätten erklären müssen, dass Deutschland Europa
braucht und dass es unserem Land immer nur so gut gehen kann, wie es den anderen Ländern um uns herum gut
geht.
({21})
Sie hätten deutlicher und klarer erklären müssen, dass
und warum es in einem originären deutschen Interesse
liegt, einen Beitrag zur Förderung der Stabilität der
Euro-Zone und zur weiteren Integration Europas zu leisten. Es war von vornherein klar, dass dieser Beitrag etwas kosten würde und wir auf kleinliche nationale egoistische Vorteile zu verzichten hätten.
({22})
Es war von vornherein klar, Frau Merkel, dass die Aufstockung der beiden Rettungsschirme auf ihren Nennwert etwas kosten würde,
({23})
und Herr Schäuble hat es von Anfang an gewusst.
Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, zu lange den Eindruck vermittelt, dass Solidaritätsleistungen für Europa
und die Übernahme von Risiken auch auf deutsche
Schultern eine Art Gnadenakt sei, der uns in Europa abgerungen werden müsste. Wenn wir für den Aufbau Ost
bisher ungefähr 100 Prozent einer Jahreswirtschaftsleistung vor der Wiedervereinigung aufgebracht und transferiert haben, dann ist uns Europa nicht 10 Prozent wert?
Das, Frau Bundeskanzlerin, hätten Sie kommunizieren
müssen, statt den Sprachverklemmungen und Tabuisierungen zu folgen, die - nicht aktiv von Ihnen betrieben;
das konzediere ich gerne - indirekt auch Raum für antieuropäische Ressentiments gegeben haben.
({24})
Das im Europäischen Rat jetzt anstehende Paket ist
richtig. Es ist notwendig. Es ist aber nicht hinreichend,
weil einige auf die Ursachen der Krise zielende Punkte
nicht aufgegriffen werden.
Ihr Paket für Wettbewerbsfähigkeit, Frau Merkel, ist
ebenfalls prinzipiell richtig, vermittelte aber lange den
Eindruck, dass es auch eine innenpolitische und innerparteiliche Funktion hatte, indem das Gelände planiert
werden sollte, auf dem der bereits absehbare Rückzug
von den unhaltbaren Bedingungen zu den beiden Ret11260
tungsschirmen letztlich ohne Meuterei in den eigenen
Reihen gelingen sollte.
Solche Manöver kosten Glaubwürdigkeit, eines der
wichtigsten politischen Pfunde, auch im Verhältnis zu europäischen Partnern. Dieses Pfund entgleitet Ihnen zusehends: in der Personalie des Herrn zu Guttenberg, weil
Sie bürgerliche Tugenden hintangestellt haben; im Falle
der Kernenergie, weil Ihr Verständnis von einer Brückentechnologie und von einem Ausstieg mit Augenmaß offensichtlich mit einem Deal über eine Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken bis möglichweise 2050 und
einer Kürzung von Haushaltsmitteln für alternative Energieversorgungsstrategien kollidiert; und auch im Fall des
UN-Mandats für eine Flugverbotszone über Libyen, weil
Sie als Oppositionsführerin seinerzeit die Regierung von
Gerhard Schröder und Joschka Fischer massiv für eine
Isolierung im Bündnissystem kritisiert haben, in die Sie
sich nun aber selbst durch das deutsche Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat gebracht haben.
({25})
Wenn ich auf eine Detailkritik an dem Paket verzichte, so bedeutet das nicht, dass dies bereits hinreichend ist. Ich möchte dazu fünf oder sechs einzelne
Punkte anführen.
Erstens. Wer bezahlt die Schulden überschuldeter
Staaten, die Gläubiger oder die Steuerzahler? Ich halte
eine Gläubigerhaftung bereits im Illiquiditätsfall, nicht
erst im Insolvenzfall für dringend erforderlich.
({26})
Zweitens. Was passiert mit Staaten, die unter ihrer
Schuldenlast und unter ihrem Kapitaldienst zu ersticken
drohen? Das Szenario einer Umschuldung wird eintreten. Dies sage ich Ihnen glasklar voraus, und zwar nicht,
weil ich besonders originell bin, sondern weil die überwiegende Anzahl der Experten, die man dazu hören
kann, eine solche Umschuldung sogar als Voraussetzung
für die Stabilisierung in der Euro-Zone ansieht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Vorschlag des
Bundesbankpräsidenten, der zusammen mit Mitarbeitern
der Bundesbank gefragt hat, warum es im Fall von Notkrediten aus den Rettungsschirmen nicht automatisch
eine Laufzeitverlängerung der Anleihen des in Bedrängnis geratenen Landes um drei Jahre geben sollte.
Uns stehen hinsichtlich der Umschuldungsmöglichkeiten verschiedene Instrumente zur Verfügung: Laufzeitverlängerung, Zinserlass bis hin zu einem klassischen Haircut. All dies müsste in meinen Augen
vorbereitet werden. Wir sind darin durchaus trainiert,
weil wir dies bereits im Pariser Club und im Londoner
Club geübt haben. Wir haben weltweit viele Erfahrungen
machen können, dass dies gelungen ist.
Drittens. Die Heranziehung des Bankensektors zur
Mitfinanzierung der Folgekosten der maßgeblich von
ihm ausgelösten Finanzkrise ist nicht nur eine finanzielle
oder haushalterische Frage. Ich bitte, auch den legitimatorischen Aspekt nicht zu unterschätzen. Die Bürger
stellen die Frage: Wer zahlt? Wir als Politiker müssen ihnen sagen: Ihr zahlt im Fall der deutschen Abschirmung,
im Fall der Griechenland-Hilfe, im Fall des aktuellen
Schirmes und im Fall der Staatsanleihen der EZB. Dadurch kann das Vertrauen in unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erschüttert werden. Deshalb sollte
der fehlende Konsens im Kreis der G-20-Staaten, in der
EU der 27 Staaten und in der Euro-Zone der 17 Staaten
über die Einführung einer Umsatzsteuer auf alle Finanzgeschäfte - vulgo: einer Finanzmarkttransaktionsteuer ({27})
nicht zum Vorwand dafür genommen werden, nichts zu
tun, sondern man sollte mit den sechs, sieben oder acht
Ländern in Europa anfangen, die dazu erklärtermaßen
bereit sind. Dies ist insbesondere auch der französische
Staatspräsident.
({28})
Viertens. Die Bankenkrise in Europa ist nicht überwunden. Durch harte Stresstests wird dies belegt werden.
Deshalb brauchen wir ein europäisches Bankeninsolvenzrecht, um insbesondere mit Blick auf grenzüberschreitende Bankinstitute zu dem zu kommen, was in Deutschland richtigerweise verabschiedet worden ist, nämlich
einem Restrukturierungsgesetz.
({29})
Übrigens, die Vorarbeiten zu diesem Restrukturierungsgesetz sind maßgeblich von der damaligen Justizministerin, meiner Kollegin Frau Zypries, und mir erarbeitet
worden - damit es da nicht zu einer Auseinandersetzung
um das Copyright kommt.
({30})
Ich sage voraus, dass wir in Europa über ein solches
geordnetes Insolvenzrecht oder eine solche Bankenabwicklung hinaus auch eine europäische Fazilität zur Restrukturierung und Rekapitalisierung von Banken brauchen. Das ist ein heißes Thema, wie ich weiß, aber ich
sage ganz deutlich: Ohne eine Restrukturierung oder Rekapitalisierung von labilen Banken wird es keine umfassende Lösung in Europa geben.
Fünftens. Ein weiterer Punkt ist, dass Europa, insbesondere die Euro-Zone, natürlich von internen Ungleichgewichten geprägt ist. Die Deutschen werden inzwischen als die Chinesen Europas bezeichnet. Unsere
Handelsbilanz- und Leistungsbilanzüberschüsse spiegeln sich in den entsprechenden Defiziten anderer Länder wider. Weil ein Sabbatical, eine Art Ruhepause für
deutsche Exportaktivitäten, nicht infrage kommt, stehen
nur zwei Strategien zur Auswahl, nämlich einerseits, die
Wettbewerbsfähigkeit von Defizitländern zu stärken,
und andererseits, die Inlandsnachfrage in Deutschland
ebenfalls zu stärken.
({31})
Bei beiden Strategien läuft es auf sehr handfeste Fragen
hinaus.
In Europa wird sich die Frage stellen, ob wir die europäischen Mittel, die zur Verfügung stehen, zunehmend
für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder einsetzen, ob wir nach wie vor 40 Prozent, 45 Prozent der Mittel in die Förderung des landwirtschaftlichen
Sektors stecken oder ob wir dieses Geld nicht viel besser
in die Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung und
in Bildung investieren, also in all das, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder gefördert werden
könnte.
({32})
Hinsichtlich der Hebung der Nachfrage in Deutschland geht es ganz konkret um die Lohn- und Gehaltsentwicklung. Ich füge hinzu: Mit Blick auf die Massenkaufkraft geht es auch um die Frage, ob die Kaufkraft in
Deutschland durch die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne nicht deutlich erhöht werden könnte.
({33})
Mit dem Wegfall der ideologischen Systemkonkurrenz 1989/1990 nach der Implosion der Sowjetunion und
ihrer Satrapen ist die Geschichte keineswegs zu Ende.
Stattdessen haben wir es heute im globalen Maßstab mit
einer ökonomisch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz
zu tun. Europa muss in dieser Konkurrenz mehr sein als
eine Wirtschaftsgemeinschaft und eine Währungsunion,
nicht zuletzt deshalb, um die Kluft seiner Bürger gegenüber europäischen Institutionen zu überwinden. Die Bürger sind nicht müde an Europa, aber sie sind müde an der
Organisation Europas. Um diese Kluft zu überwinden,
muss Europa aus dem Zustand vornehmlich intergouvernementaler Beschlüsse herausgeführt werden. Es bedarf
einer Parlamentarisierung europäischer Entscheidungsprozesse mit Blick sowohl auf das Europäische Parlament als auch auf die nationalen Parlamente.
({34})
In diesem Sinn hat die Bundesregierung ihre Informationspflicht auf der Basis des Bundesverfassungsgerichtsurteils mehrfach sträflich verletzt.
({35})
Die Art des Umgangs mit dem Pakt für Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Parlament ist vor diesem Hintergrund inakzeptabel.
({36})
Wir haben es mit einem immer weiter wachsenden Kompetenzzuwachs der Europäischen Kommission und auch
des Europäischen Rates zu tun. Es gibt aber keinen Demokratie- und Legitimationszuwachs. Das wird die Europamüdigkeit eher fördern als abbauen.
Es geht allerdings um mehr als das. In dieser ökonomisch-gesellschaftlichen Modellkonkurrenz müssen wir
eine neue Geschichte über Europa erzählen. Europa ist
nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft und Währungsunion,
sondern es ist über eine Friedens- und Wohlstandsregion
hinaus eine Region, in der Rechtssicherheit, Sozialstaatlichkeit, Freizügigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit,
aber keine Korruption herrschen.
({37})
Deshalb war übrigens die Reaktion auf die ungarische
Mediengesetzgebung in der Debatte in diesem Hause
seinerzeit unterirdisch.
({38})
Wenn wir insbesondere einer jüngeren Generation
und einer Wahlbevölkerung insgesamt Europa als historisch einmalige Errungenschaft vermitteln wollen, statt
Europa nur als bürokratische Konstruktion - das Subsidiaritätsprinzip bei Glühbirnen lässt grüßen - und als einen reinen Männerklub mit Dame erscheinen zu lassen,
dann werden wir die Attraktivität dieses Kontinents neu
erklären und in eine faszinierende Geschichte fassen
müssen. Genau darum geht es heute und morgen im Europäischen Rat bei der Bewältigung der Krise und den
anstehenden Beschlüssen.
Vielen Dank für das Zuhören.
({39})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn die Staats- und Regierungschefs in dieser Woche
zusammenkommen, dann geht es im Kern um die Stabilität des Euro. Dies ist gleichzeitig eine zentrale Voraussetzung für die Stabilität Europas. In so schwierigen Fragen war Arroganz noch nie ein guter Ratgeber, Herr
Steinbrück.
({0})
Dass Sie Ihre eigenen Verantwortlichkeiten ausblenden,
ist ebenfalls bemerkenswert.
Deutschland ist von seiner Geschichte geprägt. Die
Bürgerinnen und Bürger haben eine hohe Sensibilität,
wenn es um ihre Währung geht. Deshalb geht es darum,
diese Währung zu sichern. Wir brauchen eine harte
Währung. Das ist seinerzeit bei der Umstellung auf den
Euro versprochen worden. Wir haben damals mit dem
Stabilitäts- und Wachstumspakt dafür gesorgt. Dass wir
heute in einer so schwierigen Lage sind, Herr
Steinbrück, hat auch und vor allem damit zu tun, dass
der Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa im Jahr
2004 aufgeweicht wurde, und zwar deshalb, weil eine
rot-grüne Regierung innenpolitische Probleme hatte, die
sie zulasten des Euro und damit auf dem Rücken Europas ausgetragen hat.
({1})
Während Herr Schröder und Herr Fischer, die damals
zuständig waren, längst als hochbezahlte Lobbyisten unterwegs sind, dürfen wir heute die Scherben in Europa
zusammenkehren. Das ist die Wahrheit, Herr Steinbrück.
({2})
Wir wollen, dass sich die Bürger auf unsere Währung
verlassen können. Deshalb ist es unser Ziel, den Euro zu
stabilisieren, ihn auf ein solides Fundament zu stellen
und einen Krisenmechanismus für den Notfall einzuführen.
({3})
Diesem Ziel sind wir in den letzten zwölf Monaten nähergekommen. Wir müssen aber jeden einzelnen Schritt
bis zum Schluss begleiten. Ich sage ganz deutlich: Eine
Zustimmung kann es nur zu einem Gesamtpaket geben,
weil es das Ziel sein muss, die Ursachen einer Krise zu
bekämpfen - dazu gehört auch eine Verschärfung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts -, und es nicht genügt,
die Symptome zu retuschieren. Das ist das Ziel, das wir
verfolgen, und dies rechtfertigt eine entsprechend intensive Behandlung auf europäischer Ebene.
({4})
Es besteht ein Unterschied zwischen einer Transferunion, wie Sie es verstehen, Herr Steinbrück, und einer
Haftungsunion. Sie wollten von Anfang an bedingungslose Hilfe für Griechenland und werfen uns jetzt vor,
dass wir Griechenland nicht schnell genug geholfen hätten. Sie haben schon zu einem Zeitpunkt, als Griechenland noch gar keine Hilfen wollte, davon gesprochen,
Griechenland das Geld hinterherzutragen. So werden Sie
nie eine Stabilitätskultur erreichen.
({5})
Sie setzen sich für Euro-Bonds ein. Deutschland müsste
damit für die Schulden anderer Länder geradestehen. Sie
wollen nichts anderes als eine Vollkaskohaftung für Europas Schulden. Eine solche Vollkaskohaftung machen
wir nicht mit.
({6})
Es sind nicht diejenigen die besseren Europäer, die
glauben, mit Euro-Bonds und einer EU-Steuer eine
schnelle Lösung zu haben. Stabilität wird es nur dann
geben, wenn jeder einzelne Mitgliedstaat sich darüber
im Klaren ist, dass er seiner stabilitätspolitischen Verantwortung gerecht werden muss. Sie, Herr Steinbrück, sagen jetzt, wir hätten zu lange gezögert. Wer hat denn
aber dem Rettungsschirm in diesem Hause im letzten
Mai, kurz vor den NRW-Wahlen, nicht zugestimmt? Es
war Ihre Fraktion, die sich verweigert hat.
({7})
Sie sprachen von kleinkarierten nationalen Egoismen.
Das finde ich schon bemerkenswert. Es geht an dieser
Stelle auch um die Stabilität Deutschlands und um das
Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({8})
Wenn wir klare Regeln einfordern, dann geht es nicht
um kleinkarierte nationale Egoismen, sondern dann ist
das eine schlichte Notwendigkeit. Das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands schuldig.
({9})
Die No-bail-out-Klausel ist eine Grundfeste Europas.
({10})
Es soll eben keine Schuldenüberwälzung auf andere
Staaten der Euro-Zone zugelassen werden, und es soll
keine Euro-Bonds oder gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenrückkaufprogramme geben. Wir wollen eine Stabilitätsgemeinschaft. In der Tat ist Europa
eine Schicksalsgemeinschaft. Es ist aber nicht nur eine
Schicksalsgemeinschaft, sondern auch eine Verantwortungsgemeinschaft. Für diese Verantwortungsgemeinschaft setzen wir uns ein.
({11})
Es geht nicht darum, dass wir jetzt neue Geschichten
über Europa erzählen. Wir müssen in einer ganz konkreten Situation entscheiden, wie es weitergeht und wie wir
sicherstellen, dass solche Situationen in Zukunft möglichst vermieden werden. Jeder Einzelstaat muss seiner
stabilitätspolitischen Verantwortung gerecht werden.
Deshalb wollen wir die Verschärfung des Stabilitätspakts
- das hat die Bundeskanzlerin eben noch einmal ausgeführt -, ein Frühwarnsystem sowie nach Möglichkeit automatisierte Sanktionen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist zu
stärken, und zwar auch durch eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Das alles sind integrale Bestandteile eines Pakets, und ein Teil ist ohne den anderen
Teil nicht denkbar; das ist ein umfassender Ansatz. Die
Bundeskanzlerin hat heute hier gesagt, dass sie den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht aufweichen will und
dass es eine gemeinsame Verpflichtung ist, dafür zu sorgen, dass er auch wirklich eingehalten wird. Dabei hat
sie die volle Unterstützung dieses Hauses, jedenfalls der
Koalitionsfraktionen in diesem Haus.
({12})
Wir haben in den letzten Monaten doch einiges in Europa erreicht, auch was das Umdenken bei anderen anBirgit Homburger
geht. Das haben wir deshalb erreicht, weil wir auch im
Deutschen Bundestag eine so klare Haltung eingenommen haben, weil wir in Anträgen immer wieder die roten
Linien aufgezeigt haben; das war notwendig. Dadurch
hatte die Bundeskanzlerin eine starke Verhandlungsposition in Brüssel. Diese Verhandlungsposition hat sie - das
will ich festhalten - klug genutzt.
({13})
Es gibt drei Kernpunkte, für die sie ihre starke Verhandlungsposition genutzt hat. Erstens, das Ultima-Ratio-Prinzip für den Einsatz der Stabilisierungsmechanismen. Hilfen werden nur dann gewährt, wenn die EuroZone als Ganzes in Gefahr ist. Ich halte dies nach wie
vor für richtig. Wer wie die Opposition leichtfertig Gelder in Europa verteilt, schafft keine Anreize für eine solide Finanzpolitik. Staaten müssen zuerst eigene Anstrengungen unternehmen, um die Verschuldung zu
stoppen. Wir sind froh, dass auch in Zukunft der IWF
stark vertreten sein wird und mit im Boot sitzt. Das ist
ein wichtiger Punkt.
({14})
Zweitens, das Einstimmigkeitsprinzip. Das Einstimmigkeitsprinzip bei allen Maßnahmen des ESM ist eine
Lebensversicherung für den deutschen Steuerzahler.
({15})
Niemand kann gegen unser Votum über den Einsatz der
Gelder der deutschen Steuerzahler bestimmen. Auch das
ist ein Erfolg für Deutschland.
({16})
Drittens. Wir wollen - auch das ist entsprechend verhandelt worden - eine Umschuldung, also ein Insolvenzrecht für Staaten. Es ist wichtig, dass es eine Beteiligung
privater Gläubiger an Hilfsmaßnahmen geben wird. Das
darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleiben.
Vielmehr muss das, was die Staats- und Regierungschefs
der Euro-Gruppe bei ihrem letzten Treffen entschieden
haben, immer gelten und umgesetzt werden.
({17})
Es gibt also drei glasklare Botschaften von der letzten
Sitzung der Staats- und Regierungschefs der EuroGruppe: Ultima-Ratio-Prinzip, Einstimmigkeitsprinzip
und Gläubigerbeteiligung. Das sind die Kernpunkte.
Diese sind einzuhalten. Für uns ist auch wichtig, dass auf
dem bevorstehenden Gipfel klargestellt wird, Frau Bundeskanzlerin, dass das, was die Staats- und Regierungschefs in aller Eindeutigkeit festgehalten haben, gilt und
dass das, was teilweise in dem Papier des Ecofin-Rats
nicht ganz so deutlich formuliert ist, hinter dem zurücksteht, was die Staats- und Regierungschefs zugesagt haben. Das heißt, diese drei Punkte sind für uns nicht verhandelbar und müssen durchgesetzt werden.
({18})
Wir haben natürlich noch ein Problem mit der Finanzierung des europäischen Stabilitätsmechanismus. Hier
geht es um Einlagen oder Bürgschaften. Wir sind uns in
der Koalition einig, dass das Ergebnis des Ecofin-Rates
nicht das Ergebnis des Gipfels der Staats- und Regierungschefs sein darf. Wer Solidarität will - wir sind bereit, uns solidarisch zu verhalten -, der darf nicht diejenigen überfordern, die Solidarität leisten sollen. Darüber
muss noch einmal geredet werden; denn deutsche Bürgschaften haben ein Triple-A. Deshalb ist über die Bareinlagen nachzuverhandeln. Das hat die deutsche Regierung in Europa schon angemeldet. Wir gehen davon aus,
dass es hier zu einer Veränderung kommt. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben auch an dieser Stelle die volle Rückendeckung der Koalition für die Verhandlungen.
({19})
Sie haben über die schwierige Situation in Portugal
gesprochen und haben deutlich gemacht, dass die von
den Staats- und Regierungschefs befürworteten Maßnahmen nicht die Zustimmung des Parlaments gefunden haben. Das ist eine schwierige Situation, die in den nächsten Tagen sicherlich eine Rolle spielen wird, auch in
Europa.
Wenn Portugal nicht sparen will, dann können und
dürfen wir nicht mit Geld des Steuerzahlers helfen. Die
Hilfe ist nur bei einem klaren Sparkonzept möglich. Der
Rettungsschirm ist kein Rettungsnetz und erst recht
keine Rettungshängematte.
({20})
In Lissabon wurden die Rechte der nationalen Parlamente gestärkt, und das ist gut so. Das zeigt sich in diesem Verfahren. Wir wollen, dass die Ratifizierung des
Vertrages und die Umsetzung der anderen Punkte gleichzeitig erfolgen. Es gibt viele Staaten in Europa, die ein
Interesse an einer schnellen Ratifizierung der Vertragsänderung haben. Deutschland hat ein ebenso großes Interesse daran, dass die Mechanismen, die hinter dieser
Ratifizierung stehen, verbindlich vereinbart werden.
Deshalb darf im weiteren Ablauf die Vertragsänderung
nur zusammen mit der Umsetzung und Verschärfung des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes erfolgen. Wir brauchen klare Verhältnisse. Eine Ratifizierung gibt es nur
im Rahmen des Gesamtpakets.
({21})
Ich will zum Schluss etwas festhalten,
({22})
was auf europäischer Ebene keine Rolle spielt, aber hier
im Hause klar sein muss. Bei der Ratifizierung legen wir
größten Wert darauf, dass dieses Parlament nicht nur eingebunden wird, sondern dass unsere Rechte bei der Umsetzung der Maßnahmen gewahrt bleiben.
({23})
Das heißt: Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht des
Parlaments. Deshalb werden wir in jedem Einzelfall, von
dem der Haushalt betroffen ist, dafür sorgen, dass der
Deutsche Bundestag seine Zustimmung geben muss. Dieser Parlamentsvorbehalt ist nicht verhandelbar. Das ist
eine ganz klare Linie, die diese Koalition vereinbart hat.
Wir werden die Rechte des Parlaments durchsetzen. Ich
lade die Opposition in diesem Hause ein, daran teilzuhaben.
({24})
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich muss Ihnen sagen:
Ich finde es unverfroren und arrogant, dass Sie eine Regierungserklärung abgeben, ich Ihnen die ganze Zeit zuhöre und Sie, wenn die Opposition erwidert, aufstehen,
herumlaufen und nicht zuhören. Das ist nicht anständig;
das ist arrogant und falsch, wenn ich das einmal deutlich
sagen darf.
({0})
Wir hatten zunächst eine Bankenkrise, dann eine
Krise des Euro, und jetzt haben wir eine Staatsschuldenkrise, übrigens auch in unserem Land; denn Bund, Länder und Gemeinden haben im letzten Jahr neue Schulden
im Umfang von 300 Milliarden Euro gemacht. Davon
sind 232 Milliarden Euro auf die Bankenkrise zurückzuführen. Ich habe eine Frage: Wer bezahlt jetzt diese
Schulden? Bei uns sind das ganz eindeutig die Bürgerinnen und Bürger, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
und sogar die Hartz-IV-Empfangenden. Es gilt nicht das
Verursacherprinzip; sonst würden nämlich die Banken
die Schulden bezahlen müssen. Genau das haben Sie immer abgelehnt.
({1})
- Es ist richtig: Das haben wir schon einmal gesagt.
Aber geändert haben Sie es nicht, weil Sie die Banken
immer schonen; denn es regiert die Bankenlobby, es regieren nicht Sie selbst. Das ist nämlich das Problem, mit
dem wir es in Deutschland zu tun haben.
({2})
Dasselbe gilt übrigens für Zahlungen auf europäischer Ebene. Die Privatbanken verdienen glänzend. Ich
muss Ihnen, Herr Kauder, zwei Beispiele nennen, damit
Sie die in Baden-Württemberg verbreiten. Erstes Beispiel: Die Europäische Zentralbank gibt keine Kredite an
Staaten, auch nicht in Ausnahmesituationen, obwohl das
jetzt dringend notwendig wäre. Was macht die Europäische Zentralbank? Sie gibt zum Beispiel der Deutschen
Bank einen Kredit über 1 Milliarde Euro und verlangt dafür 1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank zur
griechischen und zur irischen Regierung und sagt: Wir
haben gehört, ihr braucht Geld. - Dann antworten die Regierungen: Das ist schön; wir hätten gerne 1 Milliarde
Euro. - Dann erwidert die Deutsche Bank: Wir leihen
euch das Geld, wenn ihr uns 13 Prozent - im Falle Griechenlands - oder 10 Prozent - im Falle Irlands - Zinsen
zahlt. - Mit einer Überweisung verdient die Deutsche
Bank ein Schweinegeld, ohne irgendetwas hergestellt
oder irgendeinen Wert geschaffen zu haben.
({3})
Ich nenne Ihnen jetzt das zweite Beispiel. Sie müssen
auch das zweite Beispiel verbreiten, Herr Kauder.
({4})
Sie haben zusammen mit der SPD die Hypo Real Estate
verstaatlicht. Es ist schon selten, dass die CDU etwas
verstaatlichen will und die Linke Kritik dazu äußert. Das
lag einfach daran, dass wir gesagt haben: Wenn wir verstaatlichen, dann verstaatlichen wir nach dem schwedischen Modell und übernehmen alle privaten Großbanken. - Sie aber wollten nur die höchstverschuldete Bank
übernehmen. Dadurch haben die Bürgerinnen und Bürger
von Ihnen die gesamten Schulden der Hypo Real Estate
bekommen. Insgesamt sind auch von unseren Bürgerinnen und Bürgern dadurch an die Deutsche Bank jetzt
schon 20 Milliarden Euro gezahlt worden. Deshalb kann
die riesige Dividenden an ihre Großaktionäre sowie Boni
über Boni an alle ihre Ackermänner auszahlen. Das ist
die Wahrheit. Genau das ist das Problem. Hier brauchen
wir endlich Gerechtigkeit.
({5})
Jetzt komme ich zu Griechenland, Irland, Portugal
und Spanien und sage Ihnen: Was Sie dort machen, Frau
Bundeskanzlerin, ist eine Politik von Versailles. Ich hatte
gehofft, wir hätten aus der Geschichte endlich gelernt.
Deutschland hat zu Recht den Ersten Weltkrieg verloren.
Aber die Sieger konnten in Versailles nicht aufhören, zu
siegen, und haben ganz enge und demütigende Bedingungen für Deutschland festgelegt. Das war nicht der
einzige, aber ein Grund dafür, dass dann die NSDAP mit
ihrem entsetzlichen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus solchen Erfolg in Deutschland hatte.
({6})
Ich dachte, wir hätten daraus gelernt. Aber was machen
wir? Wir machen gegenüber Griechenland, Irland, Portugal und Spanien wieder eine Politik von Versailles. Sie
verlangen dort Lohnsenkungen, Rentensenkungen, Senkungen der Sozialleistungen, Rücknahme von Investitionen, und - die Frau Bundeskanzlerin hat es heute stolz
gesagt - Griechenland soll öffentliches Eigentum im
Wert von 50 Milliarden Euro verkaufen. Sollen die auch
noch die Akropolis verkaufen, oder was stellen Sie sich
eigentlich vor? Ich finde das indiskutabel.
({7})
Dass der portugiesische Ministerpräsident zurückgetreten ist, liegt doch nur daran, dass die Opposition jetzt
mehrheitlich entschieden hat, diesen Kurs von Versailles
nicht mitzumachen, und das ist völlig richtig.
({8})
- Ja, ich weiß, dass die Konservativen und die Linken
das auch entschieden haben. Wenn die Konservativen in
der Opposition sind, haben sie ab und zu auch einmal einen vernünftigen Gedanken; selten, aber immerhin, es
kommt vor.
({9})
Das nächste Problem besteht darin, dass Sie hier die
Finanzmärkte nicht reguliert haben. Was haben Sie gemacht, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben weder die Spekulation noch Leerverkäufe noch Hedgefonds noch
Zweckgesellschaften eingeschränkt. Es gibt auch keine
Finanztransaktionsteuer. Herr Steinbrück, ich habe gern
gehört, dass Sie für die Finanztransaktionsteuer sind. Sie
müssen nur zwei Dinge erklären, erstens, warum Sie sie
als Bundesfinanzminister nicht eingeführt haben, und,
zweitens, weshalb Sie bei einer namentlichen Abstimmung dagegen gestimmt haben. Wenn Sie das noch erklären, dann sind wir hier einen Schritt weiter.
({10})
Der Internationale Währungsfonds befürchtet jetzt
übrigens eine neue und noch schlimmere Krise, und
zwar deshalb, weil nichts reguliert worden ist. Wir wollen nicht vergessen: Sie haben einen Fonds für die
nächste Krise eingeführt. Da sollen die Banken jedes
Jahr 1 Milliarde Euro einzahlen. Da Sie den Banken selber innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben, machen Sie damit eine sehr langfristige Politik. Dann haben wir das Geld von den
Banken, wenn ich das Ganze richtig verstehe, schon in
480 Jahren zurück.
Aber abgesehen davon: Jede Bundesregierung achtet
immer auf den Export und nicht auf die Binnenwirtschaft. Deshalb die Reallohnsenkung, die Rentensenkung, die Sozialleistungssenkung! Sie wollen, dass alle
Produkte so billig wie möglich ins Ausland verkauft
werden können. Deshalb nehmen wir da auch Platz zwei
ein. Ich sage Ihnen: Diese Einseitigkeit muss endlich
überwunden werden. Wir brauchen eine Stärkung der
Binnenwirtschaft. Deshalb betone ich erneut: Die einzige Mittelstandspartei ist die Linke.
({11})
- Ich wusste, dass Sie sich freuen. Deshalb wiederhole
ich es. Ich will Ihnen auch die Gründe nennen, Frau
Homburger, damit Sie es verstehen. Passen Sie auf!
Wir sind die Einzigen, die Lohnsteigerungen wollen,
die Rentensteigerungen wollen und die Steigerungen der
Sozialleistungen wollen. Davon lebt der Gastwirt, davon
leben die kleinen und mittleren Unternehmen, die in der
Binnenwirtschaft agieren. Für die tun Sie gar nichts. Das
ist die Wahrheit.
({12})
Wir wollen ein soziales Europa der Völker, und Sie
wollen ein Hartz-IV-Europa.
({13})
Der Reallohnabbau in den letzten zehn Jahren betrug in
Deutschland 4,5 Prozent, auch unter Mitregierung der
SPD. Erklären Sie doch einmal, weshalb keine andere
Industriegesellschaft einen Reallohnabbau hatte, nur
Deutschland. In Norwegen gab es sogar ein Plus von
25 Prozent. Was Sie auf dieser Strecke angerichtet haben, ist nicht vertretbar.
({14})
Dasselbe gilt für Renten und Sozialleistungen.
Sie wollen statt eines sozialen Europas ein Agenda2010-Europa. Da spielt auch gar keine Rolle, ob Union,
SPD, FDP oder Grüne handeln; da sind Sie sich ja einig.
Was bedeutet ein Agenda-2010-Europa? Das bedeutet:
prekäre Beschäftigung, Befristung, Leiharbeit, Aufstockung, das gesamte Paket im Niedriglohnsektor. Das alles ist durch die Agenda 2010 in Deutschland massenhaft eingeführt worden.
Lassen Sie mich nur zu drei Dingen etwas sagen. Befristete Beschäftigung bedeutet immer, den Leuten keine
Perspektive zu geben - weil sie nicht wissen, ob sie wieder einen Vertrag bekommen. Sie können sich überhaupt
nicht darauf einstellen. Das schwächt auch die Gewerkschaften; denn jemand, der einen befristeten Vertrag hat,
geht doch nicht zu einer Kundgebung gegen die Leitung
seines eigenen Unternehmens, weil er Angst hat, keinen
neuen Vertrag zu bekommen. Das ist ja auch Ihr Ziel.
Deshalb soll die befristete Beschäftigung ausgebaut werden.
({15})
Leiharbeit ist für mich eine moderne Form der Sklaverei. Wir könnten wenigstens die französische Regelung einführen, wonach ein Leiharbeiter von Anfang an
genauso viel Geld plus 10 Prozent bekommt. Dann wird
das eine reine Ausnahme. Aber hier arbeiten die Leiharbeiter für einen Zweidrittellohn oder einen halben Lohn.
({16})
Sie wollen die gleiche Bezahlung nach neun Monaten
einführen, wenn die Leiharbeiter schon längst wieder
entlassen sind. Liebe FDP, das könnt ihr nun wirklich
vergessen. Das ist eine Veralberung der Leute.
({17})
Nun zu den Aufstockerinnen und Aufstockern. Aufstockerinnen und Aufstocker verdienen, obwohl sie Vollzeit arbeiten, so wenig, dass sie ergänzend Hartz IV beantragen müssen. Wir betreiben diesbezüglich eine
Subventionierung von jährlich 10 Milliarden Euro. Die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Deutschlands zahlen
an die Aufstockerinnen und Aufstocker 10 Milliarden
Euro. Die Frau Bundeskanzlerin sagt immer, sie sei stolz
darauf, dass der Staat an dieser Stelle eingreift. Ich sage,
das ist ein Grund, sich zu schämen. Jemand, der einen
Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen Lohn haben,
mit dem er in Würde leben kann, und darf nicht zum Sozialamt geschickt werden.
({18})
- Sie müssen das ändern. Dann brauchen Sie sich das
nicht mehr zu anzuhören.
({19})
In Deutschland sind 22 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Das ist
mehr als ein Fünftel. Das ist die Realität, mit der wir es
zu tun haben.
Mit dem Agenda-Europa würde auch die Rente ab 67
eingeführt. Die ganze Zeit reden Sie vier - SPD, Grüne,
Union und FDP - davon, der demografische Faktor sei
entscheidend, die Leute würden immer älter. Das ist völlig falsch. Entscheidend ist die Produktivität. Ein Bauer
konnte früher nur acht Menschen versorgen; heute versorgt er über 80 Menschen. Die Produktivitätssteigerung
ist das Entscheidende.
({20})
Deshalb müssen wir an eine Kürzung der Lebensarbeitszeit und auch der Wochenarbeitszeit denken, aber nicht
an eine Verlängerung.
({21})
Herr Müntefering hat immer gesagt, man müsse auch
berücksichtigen, wie die Älteren beschäftigt sind. Ich sage
es Ihnen: Von den 63- bis 64-Jährigen haben 8,4 Prozent
der Männer und 3,7 Prozent der Frauen einen Vollzeitjob.
Das ist die Realität. Und da sagt auch die SPD diesen Leuten, dass sie zwei Jahre länger arbeiten sollen. Ich finde
das indiskutabel.
({22})
Ein Agenda-Europa bedeutet ferner, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmend die Kosten
für ihre Gesundheit alleine tragen müssen. Jetzt haben
Sie, Union und FDP, doch ernsthaft den Arbeitgeberanteil eingefroren und gesagt: Alle zusätzlichen Kosten
müssen die Versicherten, das heißt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, alleine tragen. Das ist extrem unsozial.
Wir brauchen ein Europa frei von Atomenergie und
eine staatliche Energiepreisregulierung. An dieser Stelle
rufen Sie immer, das sei Planwirtschaft. Was Planwirtschaft angeht, haben Sie aber von Tuten und Blasen
keine Ahnung.
({23})
- Das stimmt. - Wir hatten Jahrzehnte der staatlichen
Energiepreisregulierung in der Bundesrepublik Deutschland, und dort gab es keine Planwirtschaft. Wenn Sie
nach dem Markt rufen würden, hätte ich nichts dagegen.
Wir haben hier aber nur vier Konzerne - das ist alles -,
die sich feudal Deutschland aufgeteilt haben. Entgegen
Ihrer Annahme sind sie in der Lage, einmal mittwochs
zu telefonieren und zu verabreden, wie sie uns übernächste Woche abzocken. Das muss endlich ein Ende haben.
({24})
Wir brauchen ein Europa des Friedens, frei von Kriegen. Nicht zu fassen ist, dass eine Bundesregierung aus
SPD und Grünen und dann aus Union und SPD Waffenexporte an das feudale Saudi-Arabien genehmigt, das
nicht nur Menschenrechte - insbesondere von Frauen verletzt, sondern aus dem sämtliche Zahlungen an die
Terrororganisation al-Qaida fließen. Von 2005 bis 2009
waren dies 471 Millionen Euro. Damit wurden Panzer
und Munitionsfabriken möglich. Jetzt marschiert SaudiArabien in Bahrain ein und schießt mit deutschen Waffen auf friedliche Demonstranten.
Herr Kollege!
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Die Regierung
von Union und SPD hat ferner von 2006 bis 2009 Waffenexporte an Gaddafi im Wert von 83 Millionen Euro geliefert. Gestern hat Herr Kauder gesagt, dass das ein Fehler
war. Das würde ich auch gern von der SPD hören. Das
war ein gravierender Fehler. Man weiß nämlich nie, auf
wen Diktatoren schießen.
({0})
Ich sage Ihnen zum Schluss: Der Kriegsbeschluss der
UNO ist falsch. Der Außenminister bekommt jetzt mit,
wie schwer es in Deutschland ist, nicht an einem Krieg
teilzunehmen. Ich füge hinzu: Was SPD und Grüne machen, ist reine Eierei. Sagen Sie doch einmal klipp und
klar, ob Sie dafür oder dagegen sind. Sagen Sie nicht
nur, die Regierung hätte sich klarer äußern müssen.
({1})
Ich bin froh, einer Fraktion anzugehören, die klar
Nein zu Krieg als politischem Mittel sagt, wie übrigens
auch Willy Brandt.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der Europäische Rat heute und morgen wird eine ganz
bedeutende Entscheidung für Europa treffen. Er wird
nämlich einen Regelungsmechanismus beschließen, von
dem wir einige Teile dann noch in nationales Recht umsetzen müssen. Er wird einen Regelungsmechanismus
beschließen, der verhindern soll, dass die Probleme, die
jetzt entstanden sind, in Zukunft wieder entstehen. Der
entscheidende Punkt ist, dass wir jetzt aus dem lernen,
was in der Vergangenheit nicht richtig funktioniert hat.
({0})
Dafür ist natürlich, Herr Steinbrück, um gleich auf einen von Ihnen angesprochenen Punkt zu kommen, in
Europa eine Einigung zu erzielen. Hier gibt es nicht das
Diktat des einen, der sagt: „So muss es gemacht werden“
und dem alle anderen folgen müssen. Die Bundesregierung hat vielmehr eine führende Rolle dabei gespielt,
dass man sich auf das geeinigt hat, was jetzt im Rat vorliegt. Dieses Ergebnis geht ausschließlich auf die kluge
Verhandlungsstrategie der Bundesregierung und der
Bundeskanzlerin zurück, auf keinen anderen. Das ist
Führung in der Europäischen Union.
({1})
Richtig ist, Herr Steinbrück, dass auch in Zeiten, in
denen SPD-Bundeskanzler für Europapolitik Verantwortung hatten, geführt wurde. Mit dem Ergebnis der Führung, die damals ausgeübt wurde, schlagen wir uns aber
heute herum. Sie haben den Stabilitätspakt aufgeweicht.
Das war ein Ergebnis Ihrer Führung. Damit müssen wir
jetzt zurechtkommen.
({2})
Da kann ich nur sagen: Führung ist nicht immer nur gut.
Es muss sich auch um richtige Führung handeln.
Neben all den Mechanismen, die die Bundeskanzlerin
dargestellt hat und auf die die Kollegin Homburger noch
einmal eingegangen ist, ist noch etwas anderes entscheidend: Ein zentraler Punkt ist auch der Pakt für Wettbewerbsfähigkeit. Das ist nicht nur deshalb so, weil dieser
dazu beitragen soll, dass zentrale Wirtschaftsparameter
angeglichen werden, sondern auch, weil dieser Pakt für
Wettbewerbsfähigkeit, Frau Bundeskanzlerin - das
würde ich mir auch wünschen -, eine dauerhafte ständige
Kontrolle der Entwicklungen in den einzelnen Staaten in
Europa ermöglicht. Daran hat es doch bisher gefehlt. Es
hat in den letzten Jahren doch kaum jemand richtig zur
Kenntnis genommen, was in Griechenland abgelaufen
ist. Deswegen führt dieser Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit auch dazu, dass genauer und intensiver hingeschaut wird, welche Entwicklungen in Europa ablaufen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gipfel in Europa, auf dem ein neuer Regelungsmechanismus
beschlossen wird, wird auch eine Zeit der intensiven
Diskussion über interne Angelegenheiten Europas zu einem zwar nicht endgültigen, aber einem gewissen Abschluss bringen. Dies halte ich für notwendig. Wir brauchen nämlich ein starkes Europa für Wohlstand und
Zukunft in Europa selber. Aber angesichts dessen, was
auf der ganzen Welt los ist, brauchen wir auch ein starkes Europa als Partner bei den großen Herausforderungen in der Welt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Hier nenne ich als Beispiel, das durch die Geschehnisse in Japan eine neue Dimension bekommt, die Rohstoffpolitik. Wir müssen uns in Europa mit China über
die Rohstoffpolitik auseinandersetzen. Wir müssen uns
in Europa mit Fragen der Energiesicherheit auseinandersetzen und uns damit beschäftigen, mit welchen Energieformen wir in die Zukunft gehen. Es ist geradezu absurd, wenn wir in Europa sagen, dass die Sicherheit von
Kernkraft vorangetrieben werden muss, wir Ausstiegsszenarien haben - das ist alles in Ordnung - und China
uns heute bescheinigt, dass dort so wie bisher weitergemacht wird. Da muss sich Europa um eine Lösung für
die ganze Welt bemühen.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Europa muss sich auch darum kümmern, dass Menschenrechte in der Welt nicht nur eine Ausnahme sind und
nicht nur Europa ein Hort der Menschenrechte ist, sondern sie in der ganzen Welt geachtet werden.
An dieser Stelle muss ich sagen: Ja, es war richtig,
dass im Weltsicherheitsrat jetzt eine Entscheidung für
Libyen getroffen wurde. Es war aber genauso richtig,
dass die Bundesrepublik Deutschland sich aufgrund verschiedener Fragen, die heute noch offen sind, im Sicherheitsrat der Stimme enthalten hat. Sie hat nicht Nein gesagt, sondern nur erklärt: Wir können an diesem Mandat
nicht teilnehmen.
Aber unsere Solidarität und Unterstützung dort, wo
wir sie leisten können, wird morgen mit dem Beschluss
zum AWACS-Einsatz dokumentiert. Wir brauchen uns
von niemandem vorhalten zu lassen, dass wir im Bündnis kein stabiler Partner seien.
({5})
Im Übrigen rate ich dazu - darum würde ich auch bitten, Frau Bundeskanzlerin -, dass man in Europa darüber spricht und dass wir uns auch ein Bild davon verschaffen, wie die Entwicklung nun in den einzelnen
Staaten verläuft. Es ist nicht damit getan, zu sagen: Wir
sorgen jetzt für einen Stopp. - Wir müssen auch dafür
Sorge tragen, wie es weitergeht.
Ich sehe mit einiger Sorge die Diskussionen um die
Verfassungsänderungen in Ägypten. Bis zum heutigen
Tag ist nicht sichergestellt, dass auch für koptische
Christen in Ägypten Religionsfreiheit gilt. Auch dort
müssen wir genauer hinschauen. Wir dürfen nicht einfach schweigen, sondern müssen dafür sorgen, dass dies
erreicht werden kann, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({6})
Ägypten und Tunesien sind etwas aus dem Blickwinkel verschwunden. Ich habe manchen Umsturz, manche
sogenannte Volksbewegung erlebt, beispielsweise im
Iran, ohne dass ich behaupten könnte, dass die Verhältnisse für die Menschen vor Ort durch diese Bewegung
besser geworden sind, als sie vorher waren. Deswegen
kommt es auch darauf an, solche Entwicklungen zu begleiten. Ich würde herzlich darum bitten, dass dies auch
ein Thema in Europa bleibt.
Herr Steinbrück, natürlich haben Sie mit Ihrer Aussage recht, dass es nicht nur darum geht, in dem Fall, in
dem tatsächlich Insolvenz eingetreten ist, zu helfen. Die
Euro-Gruppe hat sich im November 2010 mit genau dem
von Ihnen angesprochenen Thema befasst und dabei
auch ein Ergebnis erzielen können. Wegen der Bedenken
der Europäischen Zentralbank hat man gesagt: Im Falle
von Problemen, die auf eine Insolvenz hinauslaufen
könnten, muss mit den Gläubigern gesprochen werden,
dass sie das internationale Regelwerk einhalten.
Mehr war zu diesem Zeitpunkt nicht zu machen. Ich
bin aber schon sehr froh, wenn das System der Haftung
auch von Privaten eintritt und die Solvenzregelungen,
die wir jetzt in dem europäischen Gesamtpaket beschließen, dann auch zum Gesetz gemacht werden können.
Im Übrigen sage ich auf die Frage, wer eigentlich für
solche Dinge bezahlt, nur Folgendes: Es kommt doch
darauf an, zu differenzieren - jetzt in der konkreten aktuellen Situation und für die Zukunft. Herr Steinbrück, Sie
haben als Bundesfinanzminister, unterstützt von uns,
doch genau diesen Weg beschritten. Sie haben doch die
Hypo Real Estate mit Steuergeldern finanziert, um sie zu
retten. Sie haben dabei nicht gefragt, wo private Gläubiger sind. Auch Sie haben das gemacht. Die Frage ist
doch: Was geschieht in der Zukunft? Herr Steinbrück,
ich wäre angesichts der Verantwortung, die Sie für die
katastrophale Situation der WestLB tragen, etwas leiser.
({7})
Ich glaube, dass wir mit dem neuen System auf einem
guten Weg sind. Im Übrigen haben wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen, dass wir eine Finanztransaktionsteuer, eine Beteiligung privater Märkte, wollen.
Sie wissen als Fachmann doch genauso gut wie jeder andere, dass eine Transaktionsteuer auf nationaler Ebene
völliger Unsinn ist und auf europäischer Ebene gerade
noch machbar ist.
({8})
- Ja, wissen Sie, man kann natürlich etwas wollen, aber
es muss dann auch zu einem Ergebnis führen. - Ich habe
mit den verantwortlichen Leuten in Singapur gesprochen. Sie haben gesagt: Führen Sie doch eine nationale
Transaktionsteuer ein, führen Sie doch eine europäische
Transaktionsteuer ein; dann bauen wir hier drei weitere
Türme, damit wir noch mehr in Singapur abwickeln können. - Das Ganze treibt die Finanzaktivitäten aus Europa
und aus unserem Land heraus. Deswegen sollte man an
diesem Rednerpult als Fachmann, der Sie sind, nicht so
unverantwortlich daherreden.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bankenabgabe, die diese Koalition durchsetzt, hat zu mancher Diskussion geführt; aber sie ist richtig. Sie sorgt dafür, dass diejenigen, die sich an entsprechenden Risiken
beteiligen, die Haftung dafür übernehmen müssen.
Herr Gysi, jetzt nur ein Satz zu Ihnen.
({10})
Wissen Sie, ich halte es schon für einen großen Unsinn,
das Staatsbankensystem der DDR als Modell für
Deutschland zu betrachten.
({11})
Nur darüber haben Sie geredet. Sie haben davon gesprochen, dass die Europäische Zentralbank der Deutschen
Bank einen Kredit gibt und dafür 1 Prozent Zinsen verlangt. Dazu kann ich Ihnen sagen: Das war eine Maßnahme in der Krise, weil nur so einigermaßen günstig
Kredite an die mittelständische Wirtschaft ausgereicht
werden konnten, wodurch Arbeitsplätze erhalten worden
sind; das war entscheidend. Aber das haben Sie, Herr
Gysi, noch nie kapiert.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße
es auch wegen der deutschen Haushaltssituation außerordentlich, dass die Bundeskanzlerin bei den Verhandlungen darauf drängen wird, die Einlage der notwendigen Barmittel über einen längeren Zeitraum zu verteilen,
sodass wir es besser mit unseren Haushaltszielen in Einklang bringen können.
Ein letzter Hinweis: Ja, wir nehmen die Beurteilung
Europas in der Öffentlichkeit sehr bewusst wahr. Insofern liegt in diesen Regelungen, die wir auf den Weg
bringen, die große Chance, den Menschen zu erklären,
dass es sich hier nicht um rein finanztechnische Maßnahmen handelt, sondern es schlicht und ergreifend darum
geht, die Zukunftsfähigkeit Europas zu erhalten. Wir
wissen: Deutschland ist unser Vaterland, aber Europa ist
unsere Zukunft. Ohne Europa werden wir nie stark genug sein, um in der Welt im Wettbewerb bestehen zu
können. Deshalb ist die Maßnahme, die wir auf den Weg
bringen, im Interesse Deutschlands, aber auch im Interesse ganz Europas.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, 68 Prozent bzw. 71 Prozent
der Bevölkerung - so eine andere Umfrage - halten Ihr
Atommoratorium für ein bloßes Wahlkampfmanöver.
({0})
Das taten sie schon, bevor Herr Brüderle diese Wahrheit
auch noch ausdrücklich beim Bundesverband der Deutschen Industrie protokollieren ließ.
({1})
Was heißt das? Die Glaubwürdigkeit der deutschen
Bundeskanzlerin ist in einer zentralen Frage beschädigt.
Dafür gibt es jenseits dieses Themas einen Grund. Sie
machen nicht viel richtig, aber selbst wenn Sie mal etwas richtig machen, machen Sie es
({2})
verkehrt.
({3})
Es ist richtig - ich erläutere das gern für Sie, Frau
Homburger -, skeptisch gegenüber einer deutschen Beteiligung an der Militäroperation in Libyen zu sein. Es
war falsch, sich deswegen im Sicherheitsrat zu enthalten.
({4})
Es ist richtig, dass wir dort dringend ein Waffenembargo
brauchen. Es ist aber falsch, sich anders als selbst die
Türkei nicht an der Durchsetzung dieses Waffenembargos zu beteiligen.
({5})
Es ist richtig, dass wir ein konsequentes Ölembargo für
Libyen brauchen, aber es ist peinlich, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dass sich genau dazu der Europäische Rat
nicht wird durchringen können. Das kennzeichnet diese
Politik.
({6})
Dann stellt sich die Frage, wie handlungsfähig wir
sind.
({7})
Mit dem Satz: „Selbst da, wo Sie mal etwas Richtiges
machen, machen Sie es verkehrt“, ist Ihre Haltung eigentlich noch freundlich beschrieben. Sie dementieren
häufig das, was Sie richtig machen. Sie reden national,
geben bei der Bild die „Eiserne Lady“, und am Ende sehen Sie sich gezwungen, europäisch zu handeln. Das
führt Sie in die verblüffende Situation, dass Sie hier permanent Niederlagen als Siege verkaufen müssen.
Liebe Frau Homburger, wenn Sie sagen, die Opposition sei so scharf auf die Euro-Bonds,
({8})
muss ich Sie darauf hinweisen: Es war der Christdemokrat Jean-Claude Juncker, der den Vorschlag gemacht
hat.
({9})
Es ist die Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, Frau Goulard von den französischen Liberalen,
die genau dies fordert.
({10})
Also hören Sie auf, das bei anderen abzuladen, meine
Damen und Herren.
({11})
Eine der Wahrheiten ist, dass Sie heute Bedenken
nachkommen, die wir bei der Einrichtung des Stabilitätsmechanismus in der ursprünglichen Form einer Luxemburger Zweckgesellschaft kritisiert haben. Heute legen
Sie zwar kein vergemeinschaftetes Modell vor, aber wenigstens schaffen Sie eine völkerrechtliche Grundlage
für diesen Stabilitätsmechanismus. Das ist nicht befriedigend, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
({12})
Aber nach wie vor täuschen Sie die deutsche Öffentlichkeit über die Ursachen dieser Finanzkrise. Sie hat
drei Ursachen: Auf der einen Seite ist das die überbordende staatliche wie private Verschuldung, auf der anderen Seite sind es Leistungsbilanzungleichgewichte, und
es ist die Schwäche europäischer Banken. Das lässt sich
eben nicht auf das wahnwitzige Modell Griechenlands
mit seiner Staatsverschuldung reduzieren. Sie wissen
sehr genau, dass Irland und Spanien nach den
Maastricht-Kriterien lange Zeit Musterknaben waren,
von denen sich Deutschland zwar hätte eine Scheibe abschneiden können, die aber das Problem massiver privater Überschuldung hatten.
({13})
Wir brauchen den Stabilitätspakt. Er ist notwendig,
aber er ist nicht hinreichend. Das dämmert Ihnen; Sie ha11270
ben das an dieser Stelle zugegeben. Es kann eben nicht
dauerhaft gut gehen, dass die einen nur exportieren und
die anderen nur importieren, meine Damen und Herren.
Wenn wir uns aber in dieser schwierigen Situation befinden und wenn eine der Ursachen dafür die Schwäche
des europäischen Bankensektors ist, dann gehört es auch
dazu, dass Sie als deutsche Bundeskanzlerin den Mut haben, zu sagen, dass zur Rettung von Finanzmärkten - so
schwer das allen fällt; ich glaube, das geht allen Kolleginnen und Kollegen hier im Hause so - auch gehört,
Banken retten zu müssen. Nur muss man dann den Mut
haben, Frau Bundeskanzlerin, diese bittere Wahrheit
auszusprechen.
({14})
Aber Sie vermeiden das, weil Sie wissen, dass Ihnen
dann Ihr Koalitionsladen um die Ohren fliegt. Die FDP
hat lautstark verkündet, wenn es zu einer Aufstockung
des Rettungsfonds käme, dann würde sie die Koalition
beenden. Das ist eine interessante Aussage. Der Rettungsfonds ist aufgestockt worden - das ist beschlossen -,
und was macht Herr Westerwelle? Er enthält sich wahrscheinlich jeden Kommentars.
({15})
Sie sagen: Der Rettungsfonds, der Europäische Stabilitätsmechanismus, darf in Zukunft sogar Anleihen von
Staaten kaufen. Der EFSF darf das schon jetzt.
({16})
Aber es ist eigentlich egal, ob die Europäische Zentralbank, der ESM oder der EFSF das macht. Sie behaupten,
es gäbe keine Haftungsgemeinschaft. Natürlich gibt es
die. Wenn die Anleihen ausfallen, ist Deutschland mit einem guten Viertel daran beteiligt. Wegen zusätzlicher
Risikovorsorge hat die Bundesbank sogar weniger Gewinn überwiesen. Beim ESM sind wir mit 22 Milliarden
Euro größter Geldgeber. Die Garantien kommen noch
hinzu.
({17})
Wofür sind die Garantien denn gut, liebe Frau
Homburger, wenn nicht, um schwächelnden EU-Staaten
unter die Arme zu greifen? Das, was hier beschlossen
wird, ist nichts anderes als eine Haftungsgemeinschaft.
Ich sage Ihnen: Es ist auch gut so, dass das eine Haftungsgemeinschaft ist.
({18})
Sie haben in einem Antrag geschrieben, dass der
Deutsche Bundestag erwartet, dass gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme ausgeschlossen werden. Meine Damen und Herren, was ist
denn mit den irischen Anleihen im Wert von 77 Milliarden Euro, die bei der EZB liegen? Wenn die ausfallen,
sind wir in Deutschland mit dabei.
({19})
Deutschland steht schon lange für die Schulden anderer
Länder ein. Hören Sie auf, diese einfache Tatsache gegenüber der Bevölkerung vertuschen zu wollen.
({20})
Das hilft nämlich nicht weiter. Am Ende kommt so etwas immer heraus.
({21})
Zu der Frage einer einfachen Verlängerung haben Sie,
Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Regierungserklärung
vom 27. Oktober 2010 gesagt - ich zitiere -:
Eine einfache Verlängerung [des derzeitigen Rettungsschirms] … wird es mit Deutschland nicht geben.
({22})
Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, bei
dem … private Gläubiger beteiligt werden.
({23})
Was ist der Fall? Wir haben eine Überführung. Der ESM
ist die Fortschreibung des EFSF.
({24})
Die Gläubigerbeteiligung wird nur unter äußerst engen
und restriktiven Bedingungen und keinesfalls automatisch möglich sein. Das ist Ihr Kurs.
Ich kann das fortsetzen. Jahrelang waren Sie gegen
eine europäische Wirtschaftsregierung. Jetzt machen Sie
eine 180-Grad-Wendung. Damit der Deutsche Bundestag das nicht merkt, haben Sie es am Bundestag vorbei
gemacht. Das hat Ihnen den zutreffenden Hinweis des
Bundestagspräsidenten eingebracht, es mache sich eine
gewisse „Wurstigkeit“ im Umgang mit Gesetzen in diesem Hause durch die Bundesregierung breit.
({25})
In der Sache ist der Schwenk in Richtung Wirtschaftsregierung richtig.
({26})
Aber welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Sie wollen bei den anderen etwas ändern, aber nicht bei sich
selbst. Leistungsbilanzungleichgewichte haben aber
zwei Seiten und nicht nur eine Seite. Über die Frage der
Stärkung der Binnennachfrage muss man nicht nur im
Zusammenhang mit dem Mindestlohn reden. Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen zu Recht, dass es keine dauerhafte Abkopplung der Lohnentwicklung von der Produktivität geben kann, und sind deswegen gegen die
automatischen Lohnindizes in anderen europäischen
Staaten. Das gilt aber auch umgekehrt. Es kann auch
keine dauerhafte Entkopplung der Lohnentwicklung von
der Produktivität in der Form geben, dass die Reallohnquote permanent sinkt, was in Deutschland der Fall ist.
Das ist ein Defizit, das wir in Deutschland endlich und
schnell beheben müssen.
({27})
Ich komme auf die berühmten Euro-Bonds zurück,
die die Europäische Union auflegt, also zu den Kreditgarantien. Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit stärken
wollen, wenn wir beispielsweise mehr in den Ausbau der
Netze oder den Bereich Ausbildung investieren wollen,
dann müssen wir nicht nur den Haushalt umbauen. Darauf hat der Kollege Steinbrück zu Recht hingewiesen.
Wenn man, wie jetzt vorgeschlagen, auf Projekt-Bonds
zurückgreift, was ist das anderes als eine andere Form
europäischer Verschuldung?
({28})
Ich sage: Es ist richtig, diesen Weg zu gehen. Hören Sie
auf, zu sagen, Sie seien gegen Euro-Bonds. Sie haben
dem Kind nur einen anderen Namen gegeben. Das ist die
Wahrheit.
({29})
Fahren wir fort. Frau Merkel, Sie haben heute hier gesagt: „Es wird … weder regelmäßige noch dauerhafte
Transferleistungen geben.“ Das legt die Frage nahe, ob
es unregelmäßige oder gelegentliche Transferleistungen
gibt. Ich möchte Ihnen eines in aller Deutlichkeit sagen:
Dieses Europa ist, seit es es gibt, eine Transferunion.
Kohäsionsfonds, Gemeinsame Agrarpolitik - all dies
sind Transfers.
({30})
Diese Transfers sind zum politischen und ökonomischen
Vorteil auch und gerade Deutschlands.
Herr Kollege.
Deswegen kann man es nicht weiterhin für Führung
halten, in Deutschland nationale Reden zu halten und am
Ende vom gemeinsamen Europa dazu gezwungen zu
werden, vernünftig zu sein.
({0})
Das verschärft die Europafeindlichkeit und die Europamüdigkeit. Führung, liebe Frau Bundeskanzlerin, besteht
darin, in Europa die Richtung anzugeben. Doch da
herrscht bei Ihnen ein erklecklicher Mangel.
({1})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Link das
Wort.
Herr Kollege Trittin hat gerade in der Debatte gesagt,
dass der EFSF bereits jetzt Anleihen aufkaufen dürfe. Er
hat offengelassen, an welchem Markt, aber die Aussage
war klar. Ich möchte das ganz eindeutig richtigstellen:
Der EFSF darf keine Anleihen aufkaufen. Wir müssen
bei diesem wichtigen Thema schon bei der Wahrheit
bleiben, Kollege Trittin.
({0})
Er hat des Weiteren dargestellt, dass wir ohnehin
schon jetzt eine Transferunion hätten. Richtig: Wir haben Struktur- und Kohäsionsfonds. Auch die FDP steht
zu Struktur- und Kohäsionsfonds. Wir können uns jetzt
zwar gern über die Bedeutung des Wortes „Transferunion“ unterhalten. Aber die entscheidende Botschaft
dieser Debatte ist, dass es durch den ESM keine Haftungsgemeinschaft und auch keine Ausweitung der
Transfers gegenüber dem gibt, was bereits jetzt in den
Verträgen zur Struktur- und Kohäsionspolitik steht. Das,
lieber Kollege Trittin, was wir jetzt bei der Unterstützung für die weniger entwickelten Regionen solidarisch
machen, ist etwas völlig anderes als das, was der ESM
bezüglich einer Nothilfe in einzelnen Fällen macht. Eine
Transferunion werden Sie hier auch mit noch so vielen
rhetorischen Tricks nicht herbeireden können, eine Haftungsunion schon gar nicht; denn diese ist durch die Verhandlungslinie der Bundesregierung erfolgreich verhindert worden.
({1})
Zur Erwiderung, bitte, Herr Kollege Trittin.
Lieber Herr Kollege, zum Ersten: Ich wiederhole
gerne mein Beispiel, das ich gerade genannt habe. Bei
der Europäischen Zentralbank liegen 77 Milliarden Euro
Staatsanleihen aus Irland.
({0})
Wenn diese 77 Milliarden Euro fällig werden, haften wir
dafür. Welchen Grund gibt es, hier öffentlich zu bestreiten, dass es eine Haftungsgemeinschaft gibt? Das ist völlig absurd.
({1})
Jetzt kommen wir zum Zweiten: Dabei geht es um
mehr als Technik.
({2})
- Ich habe ein Faktum festgestellt. Ich weiß, dass Ihnen
das wehtut.
({3})
- Lieber Kollege Fricke, es gibt diese Staatsschulden.
Sie sind von der EZB aufgekauft worden. Wir haften,
wenn sie fällig werden. Das ist eine Haftungsgemeinschaft. Um dieses simple Faktum kommen Sie nicht herum.
({4})
Über die FDP muss ich mich zunehmend wundern.
Sie hatten einen Außenminister, an den sich viele sozusagen als Benchmark erinnern, nämlich Hans-Dietrich
Genscher. Er hat in der Frage der Notwendigkeit eines
gemeinsamen Europas, in der Frage der Behebung von
Wettbewerbsschwächen und in der Frage, ob man dieses
Europa öffnen soll, gerade nach Osteuropa, immer wieder für dieses gemeinsame Europa gestritten.
({5})
Eine der Voraussetzungen dieses gemeinsamen Europas
war, dass wir gemeinschaftlich darangegangen sind,
auch und gerade die Wettbewerbsfähigkeit von Beitrittsländern, von schwachen Ländern anzuheben. Die gesamte Erweiterungspolitik ist von Anfang an und permanent davon geprägt, dass es Transfers aus wirtschaftlich
stärkeren Regionen in schwächere Regionen gibt.
({6})
Das hält, übrigens auch in dem Krisenmechanismus, bis
heute an, indem wir Liquidität von starken Ländern in
schwächere Länder transferieren.
({7})
Dies geschieht übrigens mit Ihrer Zustimmung.
Ich frage Sie: Welchen Grund gibt es, dass Sie diese
Errungenschaft Europas, die die Weiterentwicklung Europas so befördert hat - dies war übrigens auch wirtschaftlich zu unserem Nutzen -, permanent in öffentlichen Veranstaltungen denunzieren? Transfer ist kein
Grund zur Denunzierung, Transfer ist eine Grundlage
dieses gemeinsamen Europas. Wer das in Abrede stellt,
versündigt sich am gemeinsamen Gedanken Europas.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Gunther Krichbaum
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zu
Ihnen, Herr Kollege Steinbrück. Ich hätte mich gern mit
noch mehr Rednern der Opposition auseinandergesetzt.
Es hat wahrscheinlich einen tieferen Sinn, dass hier von
allen Fraktionen die Fraktionsvorsitzenden gesprochen
haben und nur die SPD-Fraktion davon abgesehen hat;
aber das ist eine andere Geschichte.
({0})
Zum Inhalt Ihrer Rede: Das, was Sie gemacht haben,
bringt uns überhaupt nicht weiter. Es war rückwärtsgewandt und zu großen Teilen besserwisserisch. Genau das
brauchen wir in Europa und in den europapolitischen
Debatten nicht.
({1})
Ein Zweites. Es bedarf einer bestimmten Chuzpe, um
nicht zu sagen: einer bestimmten Dreistigkeit, sich hier
hinzustellen und solch eine Rede zu halten, wenn man
weiß, dass man selbst - ich denke an das Jahr 2003 - einen
aktiven Beitrag zu den heutigen Problemen geleistet hat,
nämlich die Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Vieles von dem, was wir heute reparieren müssen, ist diesem Umstand geschuldet.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hendricks?
Jetzt noch nicht,
({0})
auch wenn es mich freut, dass meine Rede offensichtlich
schon zu einem frühen Zeitpunkt dazu führt, dass der
Blutdruck der Oppositionsfraktionen steigt.
Noch ein Letztes zu Ihrer Rede. Sie werfen der Bundesregierung vor, dass die Märkte schneller reagiert hätten. Ich kann dazu nur sagen: Es gibt in der Politik den
Anspruch, dass man nicht alles in vorauseilendem Gehorsam macht. Die Ratingagenturen weltweit, alles in allem drei Stück, haben meiner Ansicht nach schon etwas
zu viel zu sagen; aber offensichtlich sehen Sie das anders.
Man muss wissen: Wenn Entscheidungen in Europa
getroffen werden, dann werden diese anders getroffen
als hier bei uns im Bundestag oder in den Parlamenten
anderer Mitgliedstaaten. In Europa sind Kompromisse
gefragt. Genau diese waren auch in diesem Fall erforderlich. Ich bin der Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin
Merkel und vor allem unserem Bundesfinanzminister
und seinem gesamten Haus sehr dankbar, dass sich jetzt
in dem sogenannten Europäischen Stabilisierungsmechanismus, kurz ESM, die wesentlichen deutschen Positionen wiederfinden. Dazu sage ich nachher noch mehr.
({1})
Ich glaube, es ist gerade in diesen Tagen wichtig - bei
so manchem Kommentar, den man liest oder hört, wird
das deutlich -, dass wir darauf hinweisen, warum wir das
alles überhaupt machen. Es war sicherlich von großem
Nutzen, dass wir heute in der Regierungserklärung von
Frau Bundeskanzlerin Merkel nochmals gehört haben,
was der konkrete Nutzen auch für uns, für die Menschen
in Deutschland ist. Sicher ist: Die Maßnahmen sind im
Interesse von Europa. Aber sicher ist auch: Sie sind im
Interesse Deutschlands.
Wir vergessen oft und allzu sehr, warum wir die gemeinsame Währung, warum wir den Euro seinerzeit aus
der Taufe gehoben haben. Zwei Drittel aller Exporte der
Bundesrepublik Deutschland gehen in Länder der Europäischen Union und sichern damit Arbeitsplätze und
Wohlstand in Deutschland.
Wie sah es denn früher aus? Auf- und Abwertungen
und Währungsaufkäufe bestimmten das Bild, mit allen
damit verbundenen Belastungen für die deutsche Wirtschaft. In der Vergangenheit war es so, dass sogenannte
Fremdwährungsrisiken abgesichert werden mussten, damit die deutsche Wirtschaft mehr Planbarkeit hatte. Diese
kosteten Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbetrag. Jahr für Jahr kam es durch den Euro in der deutschen
Wirtschaft und im Mittelstand zu größeren Einsparungen,
als sie dieses Haus mit jeder Unternehmensteuerreform
hätte erzielen können. Es ist wichtig, das alles zu erwähnen und in Erinnerung zu rufen. Hinzu kommt: Der Euro
war in seiner Vergangenheit stabiler, als es die D-Mark je
war; auch dies gerät allzu häufig in Vergessenheit. Mit anderen Worten: Hätten wir ihn nicht, müssten wir ihn heute
geradezu erfinden.
Jetzt zurück zu den Maßnahmen. Wir wollen mehr
Stabilität, und wir wollen mehr Vertrauen. Ich glaube,
dies gelingt auch. Der bevorstehende Europäische Rat
wird sich natürlich schwerpunktmäßig mit dem sogenannten ESM auseinandersetzen. Aber dies ist eigentlich
erst der dritte Schritt in einer logischen Kette.
Der erste Schritt ist die Schärfung und Stärkung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts, beispielsweise dadurch, dass die Mitgliedstaaten ihre Haushalte in Zukunft
auch in Brüssel vorlegen - Stichwort: Europäisches Semester -, nicht weil sich Brüssel zum Oberaufseher machen möchte, sondern weil man dann frühzeitig auf
Schieflagen hinweisen kann. Denn viele Probleme, über
die wir uns heute beklagen, hätten wir nicht bekommen,
hätten wir nur früher gehandelt. Es ist wichtig, dass wir
diese Maßnahme jetzt treffen und damit auch zu mehr
Stabilität und zu mehr Planbarkeit kommen.
Der zweite Schritt ist der Pakt für den Euro, der uns
zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen wird. Um eines
aufzuzeigen, Herr Kollege Steinbrück: Der Erfolg, den
die Bundesrepublik Deutschland hat, ist nicht zeitgleich
der Misserfolg der anderen Länder, vor allem der Partnerländer in Europa. So war Ihre Rede an diesem Punkt
allerdings zu verstehen. Genau das wäre aber nicht der
Fall.
({2})
Die anderen Länder profitieren geradezu davon, dass wir
in Deutschland eine wettbewerbsstarke Position haben.
Das geht nicht auf Kosten der anderen.
({3})
Es sind keine kommunizierenden Röhren.
({4})
Der dritte Schritt ist der Europäische Stabilisierungsmechanismus. Er ist die Ultima Ratio und greift nur dann,
wenn sich ein Land selbst nicht mehr helfen kann. Dann ist
es dazu verpflichtet, ehrgeizige, beherzte Reformprogramme vorzulegen. Dann folgt eine Schuldentragfähigkeitsanalyse - auch dies wurde heute Morgen schon angesprochen - von Europäischer Kommission, IWF und EZB.
Nur dann, wenn der Euro als Ganzes in Gefahr ist - ich
wiederhole: nur dann; hier gibt es kein Oder -, wird unterstützend gehandelt.
Ein Letztes - weil es hieß, dass die Beteiligung der
privaten Gläubiger nicht ausreichend sei -: Sehr verehrter Herr Kollege Steinbrück, Sie stehen im politischen
Leben und wissen, was in Verhandlungen realistisch ist
und was nicht. Fakt und Realität ist, dass in diesen Verhandlungen nicht mehr drin war. Trotzdem findet sich
die Handschrift Deutschlands auch hier wieder.
Um dies zu verdeutlichen, möchte ich aus einem Papier zitieren. Darin heißt es:
Wird bei der Schuldentragfähigkeitsanalyse festgestellt, dass eine Rückführung der öffentlichen Verschuldung mithilfe eines makroökonomischen Anpassungsprogramms auf eine nachhaltige Grundlage
nicht realistisch ist, wird das Empfängerland verpflichtet, aktiv in Verhandlungen nach Treu und
Glauben mit seinen Gläubigern einzutreten, um
diese unmittelbar in die Wiederherstellung der
Schuldentragfähigkeit einzubinden. Die Gewährung
von Finanzhilfen steht unter dem Vorbehalt, dass der
Mitgliedstaat diesbezüglich ein plausibles Sanierungskonzept vorlegt und sich zu einer angemessenen und verhältnismäßigen Beteiligung des Privatsektors verpflichtet.
So weit das Zitat. Hier wurde nicht umsonst eine Beteiligung der privaten Gläubiger vorgesehen, gerade
auch auf Druck der Bundesrepublik Deutschland. Denn
unsere Position, die Position der Bundesregierung, ist,
dass wir diejenigen, die an den entsprechenden Papieren
verdienen, in die Haftung einbinden wollen.
Ein Allerletztes: Ich glaube, dass gerade die Europäische Union hiermit ihre Hausaufgaben gemacht hat.
Wenn ich an andere Stellen dieser Welt schaue, beispielsweise in die USA, in denen die Verschuldung
14 Billionen Dollar beträgt, dann fürchte ich, wir werden
uns in Zukunft mit anderen Ecken dieser Welt noch näher beschäftigen müssen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Barbara Hendricks.
Herr Kollege Krichbaum, ich möchte auf den Beginn
Ihrer Ausführungen zurückkommen. Begonnen haben
Sie damit, Sie wollten sozusagen Ihren Blick in die Zukunft richten. Als Nächstes haben Sie gesagt, Sie müssten aber etwas zur Änderung des Stabilitäts- und Wachstumspakts unter Rot-Grün im Jahre 2003/2004 sagen.
Nehmen Sie und vielleicht auch das ganze Haus, insbesondere die Kollegin Fraktionsvorsitzende der FDP,
die das immer fälschlich behauptet, doch bitte zur
Kenntnis: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist in der
Tat unter anderem auf Initiative von Deutschland im
Jahre 2003/2004 geändert worden. Der so geänderte Stabilitäts- und Wachstumspakt ist durch die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, zusammen mit dem damaligen Bundesfinanzminister, Herrn Steinbrück, im November des
Jahres 2005 gegenüber dem Währungskommissar
Almunia ausdrücklich bestätigt worden.
Diese Bundesregierung hat auch keinerlei Initiativen
unternommen, wesentliche Änderungen rückwirkend sozusagen wieder abzuwickeln. Keinerlei Versuch ist unternommen worden.
({0})
Wenn man das Bundesfinanzministerium fragt, warum nicht, dann wird das Bundesfinanzministerium antworten: Ja, weil die allermeisten dieser Maßnahmen
sinnvoll sind und waren.
Wenn ich das Haus abschließend noch darauf aufmerksam machen darf, dass die so hochgelobte Schuldenbremse, die wir mit breiter Mehrheit dieses Hauses
und mit Zustimmung des Bundesrates in die Verfassung
geschrieben haben, genau diesem so geänderten Mechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspakts nachgebildet worden ist, dann frage ich Sie: Sind Sie angesichts
dessen endlich einmal in der Lage, diese unzutreffenden
Behauptungen sein zu lassen, oder wollen Sie in Zukunft
auch die Schuldenbremse nicht mehr haben? Sie entspricht genau demselben Mechanismus. Haben Sie das
einfach noch nicht verstanden, oder was ist los?
({1})
Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Kollegin Hendricks, die Bundeskanzlerin hat
heute Morgen in ihrer Regierungserklärung genau diesen
Blick zurück nicht gemacht. Sie hätte hier sehr wohl anfügen können, warum wir diesen Reparaturbetrieb überhaupt haben aufmachen müssen. Sie hat darauf verzichtet,
({0})
im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Steinbrück.
Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer hier
diese Baustelle aufmacht, der muss sich dann auch anhören, warum wir diesen Schlamassel heute überhaupt zu
beseitigen haben.
({1})
Was war nämlich der Grund?
({2})
- Jetzt hören Sie auch einmal zu. - Der Grund war, dass
Deutschland damals zusammen mit Frankreich in einer
verhängnisvollen Entente cordiale - um vielleicht einen
belegten Begriff zu benutzen ({3})
genau für die Aufweichung des Stabilitätspaktes gesorgt
hat, was dann nachher als Sündenfall und Blaupause dafür diente, dass andere, auch kleinere Länder hinterher
kamen und genau diese Tarife aufgeweicht wurden, für
die sich damals Helmut Kohl und auch Theo Waigel
nicht ohne Grund eingesetzt hatten, sodass wir genau
diese scharfen Mechanismen bekommen haben.
({4})
Es ist Ihnen unter der damaligen Regierung nichts anderes eingefallen, als genau diese harten Kriterien aufzuweichen.
({5})
Dadurch wurde Vertrauen vergeudet. Da wurde Vertrauen verspielt. Deswegen haben wir heute viel von
dem Schlamassel zu beseitigen, den Sie damals angerichtet haben.
({6})
Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer den Euro stabilisieren will, der muss zum Stabilitäts- und Wachstumspakt und zu einer soliden Stabilitätskultur zurückkehren. Wenn wir die Ereignisse in Portugal betrachten, dann fällt schon auf, dass dieser Staat
im Moment Schwierigkeiten hat, die Vorgaben des bestehenden Stabilitäts- und Wachstumspakts einzuhalten.
Also, offenbar ist der Druck von außen manchmal notwendig und auch heilsam. Aber es führt an der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten kein Weg vorbei.
Das gilt auch für das zweite Ziel, das wir mit unseren
Maßnahmen hier verfolgen, nämlich, die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Wir müssen erreichen, dass sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
der einzelnen Mitgliedstaaten der Euro-Zone wieder einander annähert. Dazu ist sicherlich eine Koordination
erforderlich. Vor allem braucht man dafür aber eigene
Anstrengungen und den Mut zu eigenen Reformen.
Der Kern der Vereinbarungen wird der Europäische
Stabilisierungsmechanismus sein. Ich bleibe dabei, dass
Finanzhilfen nur dann Sinn machen, wenn zugleich ein
Regime zur Umstrukturierung von insolventen Banken
und Staaten besteht. Wir müssen Umschuldungen ermöglichen. Dabei müssen wir die Beteiligung der Gläubiger durchsetzen. Deshalb bleibe ich dabei, dass der
Schuldenankauf auf dem Primärmarkt aus meiner Sicht
problematisch zu bewerten ist. Wir dürfen nicht dahin
kommen, dass aus nationalen Schulden vergemeinschaftete Schulden werden.
Meine Damen und Herren von der SPD, das, was Sie
in Ihrem Antrag heute fordern, nämlich dass man eine
Gemeinschafts- und Verbundhaftung einrichtet, genau
das wollen wir nicht. Das dürfen wir nicht, und deswegen lehnen wir das entschieden ab.
({0})
Finanzhilfen müssen teures Geld bleiben; denn wer
Hilfe bekommt, muss einen Anreiz haben, dass er von
dieser Hilfe auch wieder wegkommt. Herr Bundesfinanzminister, deswegen bitte ich Sie, dass Sie sich dafür einsetzen, dass die Zinsen für Kredite im Rahmen
des Europäischen Stabilisierungsmechanismus höher als
die Zinsen für Kredite des Internationalen Währungsfonds sind. Diese IWF-Kredite sind vorrangig vor den
europäischen Krediten, und deswegen müssen die europäischen Kredite teurer sein.
Ich halte es für unabdingbar, dass die Kreditvergaben
unter den Mitgliedstaaten der Euro-Zone im Einvernehmen beschlossen werden. Ich frage aber schon, wieso bei
der Vergabe von Krediten auch Staaten mitstimmen sollen, die zur Finanzierung dieser Kredite nichts mehr beitragen, weil sie sich selbst schon unter dem Rettungsschirm befinden. Ich bitte, darauf zu achten, dass hier
kein Hebel entsteht, wodurch ein Mitgliedstaat, der
selbst schon Hilfe erhält, eine bessere Vereinbarung und
verbesserte Kreditkonditionen durchsetzen kann, weil
seine Zustimmung zur Kreditvergabe an einen dritten
Staat gefragt ist. Auch hier bitte ich, dass wir uns die
Dinge noch einmal genau überlegen.
Ich bin schon überrascht darüber, was ich heute aus
den Reihen der SPD zur Mitwirkung des Europäischen
Parlaments hören musste. Wir vereinbaren eine Hilfe
zwischen den Mitgliedstaaten der Euro-Zone. Deswegen
muss die Kontrolle dieser Hilfen in den Händen der Parlamente der Mitgliedstaaten liegen. Wer zahlt, schafft an.
({1})
Ich sehe überhaupt keine Grundlage für das Angebot
der Europäischen Kommission, hierzu jetzt eine Verordnung zu erlassen.
({2})
Wer eine Vergemeinschaftung in der Form will, dass das
Europäische Parlament beteiligt wird, der muss zur
Kenntnis nehmen, dass eine Veränderung im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren überhaupt nicht mehr
möglich ist. Sie müssen sich also schon entscheiden, was
Sie wollen.
Ich habe diesem sogenannten Term Sheet, das uns in
dieser Woche vorgelegt worden ist und auf dessen
Grundlage die weiteren Verhandlungen jetzt stattfinden
sollen, zwei Punkte entnommen, durch die Fragen aufgeworfen werden, und ich bitte, hier nachzusteuern:
Hinsichtlich der Instrumente des Europäischen Stabilisierungsmechanismus ist angedacht, dass die Finanzminister ermächtigt werden, die Regeln autonom zu verändern. Die Frage, ob das eine Kompetenzübertragung
darstellt, darf man stellen. Ich bitte darum, dass wir
keine Bereiche schaffen, die der parlamentarischen Kontrolle entzogen werden.
({3})
Gleiches gilt für die Möglichkeit, eine Übergangsregelung für die Gläubigerbeteiligung bei diesen sogenannten Collective Action Clauses zu schaffen. Eine
Übergangsregelung bis Ende 2011 würde bedeuten, dass
wir nicht absehen können, was nach der Beschlussfassung über diesen Europäischen Stabilisierungsmechanismus noch folgt. Deswegen glaube ich, dass es notwendig
ist, darauf hinzuweisen: Grundlage für alle diese Veränderungen soll ein neuer Art. 136 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sein, der seinerseits
aber so unbestimmt ist, dass konkretisiert werden muss,
welche Folgen das zeitigen kann. Diese Grundlage kann
nur dadurch bestimmbar werden, dass wir völlig unzweideutig regeln, nach welchen Verfahrensweisen Finanzhilfen gewährt werden sollen. Deswegen dürfen wir hier
keine Hintertüren offenlassen.
({4})
Ich setze mich dafür ein, dass wir dies auch bei der
Umsetzung in nationales Recht beachten, um Lösungen
zu finden, die auf dem Boden des Grundgesetzes realisierbar sind. Dazu gehört die Beteiligung des Bundestages. Nach meiner Auffassung muss der Bundestag nicht
nur bei der Errichtung dieses Stabilisierungsmechanismus, sondern bei jeder Aktivierung von Finanzhilfen im
Einzelfall beteiligt werden, und zwar in Form der vorherigen Zustimmung,
({5})
die konstitutiv für die Gewährung der Hilfe sein soll.
Wir sollten es so regeln wie beim Integrationsverantwortungsgesetz: Nur wenn der Bundestag zustimmt, darf
auch die Bundesregierung zustimmen. Andernfalls muss
sie mit Nein stimmen. Das ist meine Position.
({6})
Wir sollten auch überlegen, ob wir die Ermächtigung
für den Europäischen Stabilisierungsmechanismus konditionieren. Die Bundesregierung hat sich gegen Aufkäufe auf dem Sekundärmarkt ausgesprochen. Lassen
Sie uns deshalb gesetzlich regeln, welche Instrumente
der Finanzhilfe wir zulassen wollen. Wir dürfen nicht am
Ende zu einer Vergemeinschaftung von nationalen
Schulden kommen. Diesen Rubikon dürfen wir nicht
überschreiten.
In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierung
viel Erfolg bei ihren Verhandlungen.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Norbert Barthle für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich will zunächst auf einen weiteren
Aspekt eingehen, der mir in der Rede von Herrn
Steinbrück aufgefallen ist. Herr Steinbrück hat aufgrund
der Tatsache, dass die Verhandlungsergebnisse auf europäischer Ebene nicht immer hundertprozentig mit den
Verhandlungspositionen kongruent waren, die Glaubwürdigkeit der Bundeskanzlerin infrage gestellt.
Ich halte das für sehr bemerkenswert, Herr
Steinbrück, zum einen vor dem Hintergrund, dass Sie,
soweit ich mich erinnere, früher ganz gut zusammengearbeitet haben, und zum anderen, weil Sie dadurch einen
Anspruch erheben, an dem Sie sich selbst messen lassen
müssen. Wenn das der Maßstab für Glaubwürdigkeit ist,
dann frage ich Sie, ob bei all Ihren Verhandlungen das
Ergebnis genau der Position entsprochen hat, mit der Sie
in die Verhandlungen hineingegangen sind. Wenn Sie
diesen Anspruch an sich selbst erheben, frage ich Sie,
wie es mit Ihrer Glaubwürdigkeit aussieht.
({0})
Jetzt aber zum eigentlichen Thema. Ich will zunächst
auf die europäische Idee zurückkommen. Ich glaube,
man kann mit Fug und Recht sagen, dass CDU und CSU
die Europaparteien in Deutschland sind. Denn die europäische Idee wurde von Anfang an von uns getragen.
Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter
Konrad Adenauer die Annäherung an Frankreich vollzogen. Diese Annäherung war letztendlich Motor und
Grundlage der Europäischen Gemeinschaft und ihrer
Weiterentwicklung.
Es war ein weiterer Kanzler der Union, nämlich
Helmut Kohl, der die europäische Währung verwirklicht
hat. Diese Währung hat der Europäischen Union einen
ungeheuren Integrationsschub verliehen. Das zeigen
auch der im Anschluss erfolgte Beitritt einiger Staaten
und die Beitrittswünsche weiterer Länder, die sich alle
von der gemeinsamen Währung positive Wirkungen erwarten.
Die Einführung einer gemeinsamen Währung war
eine historische Zäsur. Damals gab es viele, die daran
gezweifelt haben, ob es möglich ist, eigenständige Nationalstaaten unter einer gemeinsamen Währung zusammenzufassen. Die Väter der Europäischen Währungsunion haben dieses System aber so angelegt, dass es
gelingen soll und unumkehrbar ist.
Der Blick zurück zeigt uns, dass wir in Deutschland
von der Einführung der gemeinsamen Währung am
meisten profitiert haben. Denn wo stünden wir heute
auch im Hinblick auf die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise, wenn wir keine starke gemeinsame Währung hätten?
({1})
Allein ein Blick auf den Kurs des Schweizer Franken
lässt erahnen, was mit der D-Mark passiert wäre, gäbe es
diese Währung nicht. Deshalb ist die Stabilität des Euro
nicht nur im europäischen Interesse, sondern insbesondere auch im nationalen deutschen Interesse.
({2})
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es im europäischen Raum in den vergangenen Jahren Tendenzen
gab, die zu einer Aufweichung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes geführt haben. Mein Vorredner ist bereits darauf eingegangen. Ich will das nicht
wiederholen.
Ich will aber auch bemerken, dass wir ein Stück weit
Gefangene unseres eigenen Erfolgs sind. Denn die Außenstehenden, die internationalen Finanzmärkte, nehmen den Euro-Raum inzwischen als eine Einheit wahr.
Das heißt, wenn ein Mitgliedsland schwächelt, sind auch
alle anderen betroffen. Deshalb ist es notwendig, dass
wir einen Mechanismus einführen, um gegen einzelne
schwächelnde Mitgliedstaaten, von denen eine Ansteckungsgefahr für andere ausgeht, gewappnet zu sein.
Bei den Maßnahmen, die wir jetzt ins Auge fassen,
geht es um die Verhinderung von Ansteckungen. Wir haben zunächst in einer schnellen Nothilfeaktion den Griechenland-Rettungsschirm und die EFSF aufgebaut, um
schnelle Hilfe leisten zu können, ohne dabei die EigenNorbert Barthle
verantwortung der betroffenen Partnerländer beiseitezuschieben. Es ist wichtig, auch künftig Hilfe zu leisten aber nur unter streng kontrollierten Auflagen.
Es ist ein großer Erfolg der deutschen Verhandlungsführung, wichtige Punkte in diesem Regelwerk durchgesetzt zu haben. Ich danke ganz besonders Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble, die klug verhandelt haben, indem immer wieder sehr weitgehende Forderungen eingebracht wurden.
Deshalb können wir jetzt davon ausgehen, dass sich
viele unserer Grundkonstanten im Verhandlungsergebnis
abbilden werden. Auch das ist nicht nur im Interesse Europas, sondern das ist auch im Interesse der deutschen
Bürgerinnen und Bürger.
Wer dies ausblendet, Herr Kollege Trittin, der zündelt an dem Haus, in dem wir gemeinsam wohnen.
Alle, die hier Skepsis verbreiten, handeln aus meiner
Sicht unverantwortlich. Das Zusammenstehen der Mitgliedsländer in der Europäischen Währungsunion ist in
unserem fundamentalen Interesse. Der Chefvolkswirt
der Deutschen Bank, Thomas Mayer, hat vor wenigen
Tagen gesagt - ich erlaube mir, ihn zu zitieren -:
… glaube ich nicht, dass Europa sich auch nur den
Versuch einer Alternative zur bestehenden Währungsunion leisten sollte.
Das zeigt deutlich, dass wir keine ernsthaften Alternativen haben.
Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Punkte des
Europäischen Stabilitätsmechanismus zusammenfassen.
Erstens. Es geht um die Verschärfung des Stabilitätsund Wachstumspaktes in ganz wesentlichen Punkten.
Neben einer besseren Haushaltskontrolle - dem sogenannten Europäischen Semester - wird es härtere und
schnellere Strafen für Schuldensünder geben. Das betrifft sowohl die Neuverschuldung als auch die Schuldenstandsquote in Relation zum BIP. Davon sind auch
wir betroffen; das wissen wir. Unsere Schuldenstandsquote liegt bei annähernd 80 Prozent des BIP, und diese
Regelungen werden uns zwingen, die Verschuldung abzubauen. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen werden. Auch das ist nicht nur im europäischen, sondern
auch im nationalen deutschen Interesse.
Zweite Kernbotschaft: Es entsteht ein Pakt für den
Euro. Dieser Pakt für den Euro ist so ausgestaltet, dass
sich die Mitgliedsländer verpflichten, ihre Wirtschaftspolitik besser zu koordinieren, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und gemeinsame Ziele zu vereinbaren,
die innerhalb von zwölf Monaten realisiert werden sollen. Damit wird es langfristig gelingen, Krisenszenarien,
wie wir sie beispielsweise in Irland erlebt haben, zu vermeiden. Das Ganze wird durch ein ständiges Monitoring
- die Europäer nennen das Scoreboard - unterstützt, um
Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen und beseitigen
zu können. Auch das ist sowohl im europäischen als
auch im nationalen deutschen Interesse.
Die dritte Kernbotschaft ist die Einrichtung eines Rettungsmechanismus mit einem Kapitalstock, über dessen
Ausgestaltung meine Vorredner schon hinlänglich berichtet haben. Ich will an dieser Stelle betonen, dass es
noch einige offene Fragen zur Ausgestaltung dieses Kapitalstocks gibt. Insbesondere stellt sich die Frage, wie
die Einzahlung der deutschen Bareinlage von 22 Milliarden Euro in den Jahren ab 2013 gestaltet werden soll.
Selbstverständlich geht es auch um die Rechte des deutschen Parlaments bei der Ausgestaltung und dem Einsatz
des Krisenmechanismus. Auch diesbezüglich werden
wir den Gesetzgebungsprozess konstruktiv und kritisch
begleiten, denn wir alle sind daran interessiert, die
Rechte des deutschen Parlaments zu wahren.
({3})
Deshalb fordere ich Sie alle auf, an der Ausgestaltung
des ESM und an der Gesetzgebung konstruktiv teilzunehmen.
Der Bundesfinanzminister hat in diesen Tagen ein
schönes Zitat verwendet, das ich aufgreifen möchte: „Es
kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Wir haben keine bösen
Nachbarn in Europa; wir sind von guten Nachbarn umgeben. Wir sollten alles dafür tun, dass dies so bleibt,
dass nicht aus guten Nachbarn böse werden, weil sie insolvent werden. Lassen Sie uns dies also so ausgestalten,
dass wir auch künftig in Frieden und umgeben von guten
Nachbarn leben können.
Danke.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/5187. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthal-
tung der Linken abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/5188. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5189. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der
Grünen bei Stimmenthaltung der SPD abgelehnt.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 a bis e sowie die
Zusatzpunkte 4 bis 7 auf:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Auf dem Weg zu einem nachhaltigen, effizienten, bezahlbaren und sicheren Energiesystem
- Drucksache 17/5181 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Atomzeitalter beenden - Energiewende jetzt
- Drucksache 17/5202 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulrich Kelber, Marco Bülow, Rolf Hempelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verlängerung von Restlaufzeiten von Atom-
kraftwerken - Auswirkungen auf die Entwick-
lung des Wettbewerbs auf dem Strommarkt
und auf den Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien
- Drucksachen 17/832, 17/3089 -
d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid
Nestle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes
- Drucksache 17/3182 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3})
- Drucksache 17/5148 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Breil
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({5}), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Energieversorgung in kommunaler Hand
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Energienetze in die öffentliche Hand - Kommunalisierung der Energieversorgung erleichtern - Transparenz und demokratische
Kontrolle stärken
- Drucksachen 17/3649, 17/3671, 17/5148 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Breil
ZP 4 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine beschleunigte Stilllegung von Atomkraftwerken
- Drucksache 17/5179 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des
Atomgesetzes - Abschalten der acht unsichersten Atomkraftwerke
- Drucksache 17/5180 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Energiewende jetzt
- Drucksache 17/5182 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnologien
- Drucksache 17/5183 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Rolf
Hempelmann für die SPD-Fraktion das Wort.
({9})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich bedauere sehr, dass die Bundeskanzlerin, die schon in der Debatte zu ihrer Regierungserklärung weitgehend durch Abwesenheit geglänzt hat,
auch nun in der Debatte über das wichtige Thema der zukünftigen Energieversorgung nicht anwesend ist. Das
verstärkt die Bedenken, dass das, was zurzeit passiert,
nämlich die zeitweilige Rücknahme der Laufzeitverlängerung, mehr ist als nur ein Wahlkampftrick.
Am 28. Oktober 2010 hat die Bundesregierung die
Verlängerung der Laufzeiten der 17 deutschen Atomkraftwerke beschlossen. Das ist noch kein halbes Jahr
her, 21 Wochen genau. Nun gibt es ein sogenanntes Moratorium. Die sieben ältesten Kernkraftwerke werden
vom Netz genommen. Innerhalb von drei Monaten sollen sie auf ihre Sicherheit überprüft werden. Fachleute
sagen, dass das, wenn es seriös gemacht werden soll,
mindestens ein Jahr dauert, eher länger. Was nach diesen
drei Monaten passiert, weiß kein Mensch. Wenn man
aber diejenigen, die in der Koalition Verantwortung tragen, fragt - die Medien tun das jeden Tag -, dann stellt
man fest, dass die Antworten ständig unterschiedlich
ausfallen.
({0})
Die einen sagen: Nichts wird mehr so sein wie zuvor.
Mit Sicherheit werden nicht mehr alle Atomkraftwerke
an das Netz gehen. - Herr Brüderle sagt vor dem BDI:
Das muss man nicht so ernst nehmen; das ist letztlich
dem Wahlkampf und den Landtagswahlen geschuldet.
({1})
Was vor einem halben Jahr gegen die Interessen der
Wettbewerber, der großen Vier, gegen den Rat der Wettbewerbsbehörden - Bundeskartellamt und Monopolkommission - und im Eildurchmarsch durch das Parlament, wie selbst der Präsident des Bundestages Norbert
Lammert von der Union beklagt hat, und vorbei am Bundesrat durchgesetzt wurde, war wahrlich kein Meisterstück. Das ist der Kernbestandteil des sogenannten Energiekonzepts dieser Bundesregierung. Ich denke, man
kann sich darauf verständigen - das Ablegen eines einfachen Geständnisses wäre eigentlich das Beste, was Sie
von der Koalition hier machen könnten -, dass dieses sogenannte Energiekonzept gescheitert ist.
Sie haben es durchgezogen - ich habe es gesagt -,
und jetzt auf einmal, beispielsweise gestern im Wirtschaftsausschuss, heißt es von den Vertretern der Koalition, auch von Staatssekretär Otto vom Bundeswirtschaftsministerium: Lassen Sie uns gemeinsam an einem
Konzept arbeiten. Lassen Sie uns einvernehmlich die
Energiezukunft gestalten. Lassen Sie uns das miteinander tun. - Ich höre das gerne. Ich nehme das ernst, und
ich nehme das auf. Aber ich sage Ihnen: Ich hätte mir gewünscht, dass das schon vor einem halben Jahr Ihr Angebot gewesen wäre.
({2})
Damals haben Sie vorbei am Parlament und vorbei an
denen, die schon vor Jahren Verantwortung übernommen haben, lediglich mit den vier Kernkraftbetreibern
Ihren Willen durchgesetzt.
Trotzdem wollen wir dieses Angebot aufgreifen. Darüber hinaus wollen wir Ihnen ein Angebot machen.
Wenn Sie sich die Anträge anschauen, die heute vorliegen - die von der SPD und die anderen -, dann stellen
Sie fest, dass in diesen Anträgen im Einzelnen beschrieben wird, wie die Energiezukunft in Deutschland bei einem beschleunigten Ausstieg aus der Atomkraft und bei
einem beschleunigten Einstieg in die erneuerbaren Energien aussehen kann.
Die erste Voraussetzung ist, dass Sie es wirklich ernst
meinen, dass nicht das gilt, was Brüderle sagt. Gelten
muss das Wort derjenigen, die sagen, dass das alles ernst
gemeint sei. Lassen Sie die sieben Kraftwerke, die jetzt
vom Netz gehen, dauerhaft vom Netz. Lassen Sie auch
Krümmel als achtes Kraftwerk dauerhaft vom Netz. Übrigens: Wer sagt, damit sei die Energieversorgung gefährdet, der sollte zur Kenntnis nehmen, dass in der Sektoruntersuchung des Bundeskartellamts deutlich geworden
ist, dass über 25 Prozent der deutschen Kraftwerkskapazität aus unterschiedlichen Gründen ständig vom Netz
sind. Es sind nicht immer 100 Prozent am Netz. Das hat
nicht nur etwas mit Wartungen zu tun, sondern das hat
auch etwas damit zu tun, dass Kraftwerke gelegentlich,
wie man sagt, „nicht im Geld“ sind. Wir sollten jetzt dafür
sorgen, dass diejenigen Kraftwerke, die Atomkraftwerke
ersetzen können, tatsächlich ans Netz gehen und am Netz
bleiben.
Die zweite Voraussetzung ist, dass Sie endlich das
kerntechnische Regelwerk rechtsverbindlich einführen
und dafür sorgen, dass hohe Sicherheitsstandards in
Deutschland Realität werden.
Drittens - auch das beinhaltet einer unserer Anträge -:
Verzichten Sie auf Hermesbürgschaften, auf die Kreditversicherung von Atomprojekten im Ausland, zum Beispiel in Brasilien.
({3})
Wenn Sie sich dieses Projekt anschauen, dann sehen Sie,
dass es in einem erdbebengefährdeten Gebiet realisiert
werden soll. Dort gab es schon in der Vergangenheit Vorfälle. Dort sind beispielsweise schon Maschinenhäuser
der Kraftwerksgeneration, die zunächst gebaut wurde,
abgesackt. Das sollte Warnung genug sein, gerade nach
den Ereignissen in Japan.
In einem unserer Anträge beschreiben wir im Einzelnen, wie der Systemumbau in Richtung von erneuerbaren Energien gelingen kann, sodass Energie bezahlbar
bleibt, sodass sie sauber und sicher ist. Wir beschreiben
in einem zweiten Antrag, wer die Träger dieses Umbaus
sein können. Das sind nicht die Großen, jedenfalls nicht
in erster Linie, sondern das sind eher mittelständische
Unternehmen und in starkem Maße auch die kommunalen Stadtwerke. Schauen Sie sich diese Anträge an, nehmen Sie sie ernst - ich hätte das der Kanzlerin gerne per11280
sönlich gesagt -, und laden Sie die Fraktionen des
Deutschen Bundestags zu konkreten Gesprächen ein.
Verlagern Sie die Diskussion nicht in Kommissionen.
Wir brauchen keine Ethikkommission. Wir haben bewiesen, dass wir bereit sind, Verantwortung zu übernehmen,
({4})
dass wir mit diesem Thema verantwortungsbewusst umgehen. Das muss uns nicht von außen gesagt werden. Im
Übrigen gibt es Stimmen von außen schon lange. Wir
haben sie schon lange ernst genommen.
Also: Ein Herr Töpfer, den wir sehr schätzen, wird in
der geplanten Kommission im Grunde genommen verheizt. Wir hätten ihn gerne in unsere Diskussionen einbezogen. Vielleicht kann man das noch tun. Das wird
keine Harmonieveranstaltung. Wir werden miteinander
ringen müssen, zum Beispiel um die Frage, wie wir es
mit dem Ersatz oder der Modernisierung von Kohle- und
Gaskraftwerken halten. Das ist nicht einfach. Wenn Sie
Herrn Töpfer dann als Mediator einsetzen wollen, gerne
- herzlich willkommen! -, aber bitte nicht in einer Kommission, angesiedelt
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
- außerhalb des Parlaments.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir alle stehen nach wie vor unter dem
Eindruck der Ereignisse, die in Japan stattfinden.
({0})
Diese Ereignisse haben deutlich gemacht, welche Folgen
ein Erdbeben und ein Tsunami auch in einer Hightechnation wie Japan haben können und wie verwundbar wir
alle sind.
({1})
Die Toten und das Leid der Menschen berühren uns alle
nach wie vor. Deshalb müssen wir alles tun, um den Japanern zu helfen. Unsere Gedanken, unser Mitgefühl
sind bei ihnen. Was wir tun können, um ihnen in dieser
schwierigen Situation beizustehen, versuchen wir, zu
tun.
Für mich ist durchaus beeindruckend, wie ruhig und
besonnen die Japaner in dieser schwierigen Situation,
die für sie mit Sicherheit die größte Herausforderung seit
dem Zweiten Weltkrieg darstellt, umgehen. Da macht
mich, das will ich eingangs sagen, schon etwas betroffen
- um nicht zu sagen, dass man sich fast etwas schämt -,
was sich hier in Deutschland abspielt. Zum Teil findet
wirklich eine unerträgliche Selbstbespiegelung in den
Medien und in den Diskussionen statt.
({2})
Man hat manchmal fast den Eindruck, dass das Leid, die
Toten, die Verletzten und die Ereignisse dort insgesamt
zur Randnotiz werden, wenn wir uns mit unseren innenpolitischen Spielereien hier selbst zu bespiegeln versuchen.
({3})
Japan wird mit Sicherheit auch für uns eine Zäsur bedeuten. Deshalb ist es richtig, innezuhalten, nachzudenken und nicht einfach zu sagen: Weiter so! Das sagen wir
nicht; ich glaube, das sagt niemand;
({4})
sonst wären wir schlecht beraten. Deshalb machen wir
ein Moratorium. „Moratorium“ heißt aber nicht, dass
schon am Anfang klar ist, was am Ende herauskommt,
({5})
sondern „Moratorium“ heißt, nachzudenken über das,
was wir bisher getan haben,
({6})
zu prüfen, wie wir im Bereich der Kernkraft maximale
Sicherheit - eine 100-prozentige Sicherheit hat es nie gegeben und wird es auch nie geben ({7})
erreichen können. Es gilt, das zu bewerten und erst dann
zu entscheiden. Es gilt, sich klarzumachen, was wir tun
wollen. Das heißt, Aktionismus, Schnellschüsse helfen
uns hier nicht weiter.
Bei all der Betroffenheit und all den Diskussionen,
die wir hier haben, sage ich aber auch: Eine sachliche
Erörterung der Themen ist notwendig. Deshalb greife
ich gern das auf, was der Kollege Hempelmann hier angesprochen hat. Bei einer sachlichen Erörterung zeigt
sich: Die Herausforderungen, die Fragen, die Probleme,
die wir im Energiebereich haben, sind heute nicht viel
anders, als sie vor sechs oder vor zwölf Monaten waren.
Auch in drei Monaten werden die Herausforderungen
dieselben sein.
Wir sind uns alle einig, dass wir einen beschleunigten
Übergang zu den erneuerbaren Energien wollen.
({8})
Genau deshalb haben wir das Energiekonzept verabschiedet.
({9})
Nicht eine Streckung, sondern eine Beschleunigung des
Übergangs zu den erneuerbaren Energien war und ist das
Ziel unseres Energiekonzepts.
({10})
Man muss einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen,
etwa bei den Klimazielen. Wir haben das Ziel, nach dem
Kioto-Protokoll bis 2012 in Deutschland 21 Prozent des
CO2-Ausstoßes einzusparen. Das haben wir erreicht, das
haben wir im Moment sogar übererfüllt. Wir wollen in
Deutschland bis 2020 40 Prozent des CO2-Ausstoßes
einsparen. Fakt ist aber, dass die Kernenergie in
Deutschland im letzten Jahr rund 150 Millionen Tonnen
an CO2-Ausstoß eingespart hat, sprich: Diese Menge
wurde nicht emittiert. Wir emittieren im Moment ungefähr 800 Millionen Tonnen CO2. Das heißt, wir reden
immerhin über rund 20 Prozent. Unsere Klimaziele wären bei allen Anstrengungen, die wir bisher unternommen haben, ohne die Kernenergie nicht erreichbar.
({11})
Das kann einem jetzt gefallen oder nicht; aber Adam
Riese lässt sich nicht umgehen. Das sind die Fakten, mit
denen wir es zu tun haben.
Welche Folgen hätte ein noch schnellerer Ausstieg
aus der Kernenergie? Wir haben das Ziel, bis zum Jahr
2020 den Anteil der Erneuerbaren an der Stromversorgung von heute 17 Prozent auf mehr als 35 Prozent zu
verdoppeln. Vielleicht schaffen wir sogar ein paar Prozent mehr. Was machen wir aber mit dem Rest? Bei aller
Energieeffizienz und bei allen Fortschritten, die wir erreichen wollen, um eine Verdoppelung des Anteils der
erneuerbaren Energien von 1990 bis 2020 zu erreichen,
wird es sicher nicht gelingen, die Ziele, die wir uns bisher gesetzt haben, mit einem Ausstieg aus der Kernenergie und einem gleichzeitigen Ausstieg bzw. mit einer
gleichzeitigen Nichtinvestition, beispielsweise im Kohlebereich, zu erreichen.
Kohle ist der größte CO2-Emittent. Die heimische
Braunkohle trägt heute zu 25 Prozent zur Stromversorgung in Deutschland bei. Die Steinkohle trägt heute
ebenfalls zu fast 25 Prozent zur Stromversorgung bei.
Das heißt, fast 50 Prozent des deutschen Stromverbrauchs werden heute durch Kohle erbracht. Deshalb
bleibt auch bei noch so großen Anstrengungen eine Lücke von rund 60 Prozent des Energiebedarfs, die wir im
Jahr 2020 mit anderen Energieformen schließen müssen.
Ich frage Sie: Wie sollen wir das machen? Einen Einstieg
in die CCS-Technologie, um den CO2-Ausstoß durch
Kohlekraftwerke zu verhindern, wollen viele nicht. Den
Ausstieg aus der Kernenergie wollen wir alle. Wir wollen ihn jetzt sogar noch beschleunigen. Es gibt also allerhand Fragen, die wir zu beantworten haben.
Zur Versorgungssicherheit. Über 70 Prozent der
Stromversorgung werden heute durch die heimische Produktion gedeckt. Erneuerbare und Braunkohle habe ich
angesprochen. Es gibt außerdem in geringem Umfang
heimische Gasproduktion sowie Kernenergie. Bei einem
Ausstieg aus Kernenergie und Kohle wird diese Versorgungssicherheit so nicht mehr gewährleistet sein.
Im Übrigen sind wir nicht allein auf dieser Welt.
Wenn wir Deutschen vorpreschen, werden uns die Franzosen, die Schweizer, die Tschechen, die Schweden, die
Finnen, die Belgier und die Holländer nicht automatisch
folgen. Bei der Beratung des vorherigen Tagesordnungspunktes haben wir die europäische Währung und die damit verbundenen Notwendigkeiten behandelt. Diese sind
bei der Energieversorgung mindestens in dem Maße eine
europäische Herausforderung, wie dies im Bereich der
Währung der Fall ist.
Unsere Bürger sind bereit - zumindest im Lichte der
aktuellen Ereignisse -, bei einem schnelleren Umbau
mehr für die Energieversorgung zu bezahlen. Dass das
mehr kostet, wird sicherlich niemand bestreiten; schließlich müsste der Netzausbau, der den Notwendigkeiten
sowieso hinterherhinkt, noch schneller vonstatten gehen.
Nicht nur Planungsverfahren müssten beschleunigt werden, sondern es müssten auch hohe zweistellige Milliardenbeträge investiert werden. Das Problem der Speicherung, das technologisch noch nicht abschließend gelöst
ist, ist ebenfalls mit hohen Kosten und vielem anderen
verbunden.
Wir wollen uns diesen Herausforderungen stellen.
Dabei dürfen wir aber nicht vergessen - das will ich abschließend ins Zentrum der Überlegungen rücken -, dass
es vor allem um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit
des Industriestandortes Deutschland geht. In der Wirtschafts- und Finanzkrise haben wir gesehen, wie wichtig
der Industriestandort Deutschland ist. Heute spielen der
Produktions-, der Forschungs- und der Industriestandort
eine herausragende Rolle. Wir müssen die Wertschöpfungstiefe erhalten. Deshalb brauchen wir wettbewerbsfähige Strompreise und nicht nur wettbewerbsfähige
Energiepreise. Wenn es Ausschläge beim Öl- und beim
Gaspreis mit internationalen Auswirkungen gibt - Nordafrika, Mittlerer Osten -, trifft das alle in gleichem
Maße. Es trifft uns vielleicht sogar etwas weniger als andere auf der Welt, weil wir beim Thema Energieeffizienz
größere Fortschritte gemacht haben. Außerdem zählen
wir zu den drei Nationen in der Welt, denen es am besten
gelungen ist, das Energiewachstum vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln.
Wir gehören schon heute zu denjenigen, die den
höchsten Strompreis in Europa haben. Der Strompreis ist
heute neben den Arbeitskosten und der Höhe der Steuern
einer der entscheidenden Wettbewerbsfaktoren. Wettbewerb ist hier kein Selbstzweck, sondern entscheidet über
die Schaffung und die Erhaltung von Arbeitsplätzen.
Unser zentrales Bemühen muss sein, die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland durch verträgliche, wettbewerbsfähige Strompreise zu erhalten.
({12})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Darum sollten wir uns gemeinsam bemühen. Das sollten wir bei der Fortschreibung des verabschiedeten Energieprogramms und bei weiteren Maßnahmen nicht vergessen. Ohne die Erhaltung des Industriestandortes
werden wir Deutschland nämlich nicht so weiterentwickeln können, wie wir alle hier es wollen. Das sollten
wir bedenken.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
Wir sind gut beraten, darauf zu achten, Herr Trittin,
dass der Kernschmelze, die in Japan droht, nicht die
Hirnschmelze in Deutschland folgt.
({0})
Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Ja, Herr Trittin, ich weiß, dass Sie mich gerne hören;
deshalb rede ich zum zweiten Mal. Aber ich verspreche
Ihnen, heute und morgen nicht wieder zu reden, zumindest nicht hier.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
zur Katastrophe von Fukushima. Wie schlimm das ist,
wissen wir alle. Der Super-GAU ist noch nicht abgewendet. Ich habe in einer Stellungnahme von Pflugbeil gelesen, dass der Unfall jetzt schon den Grad von Tschernobyl erreicht hat. Das Ganze ist also eine beispiellose
Katastrophe.
Was hat die Regierung gemacht? Sie hat ein Moratorium von drei Monaten beschlossen. Sie hat die Laufzeitverlängerung ausgesetzt, will prüfen und sagt, danach werde man weitersehen. Nun lese ich heute in der
Süddeutschen Zeitung, Herr Brüderle, Folgendes
({1})
- es tut mir leid; das muss ich Ihnen vorlesen; das ist
doch wirklich ein starkes Stück -:
({2})
Was es denn mit den Meldungen von dem Moratorium auf sich habe, will BDI-Präsident Hans-Peter
Keitel wissen.
- Sie, Herr Brüderle, saßen da ja mit lauter Industriebossen zusammen. Ausweislich des Protokolls der Sitzung gibt
Brüderle darauf eine folgenschwere Antwort: „Der
Minister bestätigte dies“,
- also das Moratorium steht darin, „und wies erläuternd darauf hin, dass
angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen
Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen
daher nicht immer rational seien.“
({3})
Im Übrigen sei er, Brüderle, ein Befürworter der
Kernenergie, auch mit Rücksicht auf Branchen, die
besonders viel Energie verbrauchen. „Es könne daher keinen Weg geben, der sie in ihrer Existenz gefährde“, befindet Brüderle laut Protokoll.
({4})
Wissen Sie, Herr Brüderle: Wenn man sich mit so reichen Knöppen einlässt, dann sollte man bedenken - das
haben Sie wohl vergessen -, dass das deutsche Knöppe
sind und deshalb ein Protokoll geführt wurde.
({5})
Herr Brüderle, ich rate Ihnen, das nicht zu bestreiten.
Ich will aber auf etwas anderes hinweisen: Auch die
Kanzlerin spricht immer von Restrisiko. Restrisiko bedeutet, dass wir, wenn wir je so etwas erleben wie das,
was jetzt in Japan geschehen ist, in diesem Land wahrscheinlich gar nicht mehr leben könnten. Niemand hat
das Recht, auch nur bei kleinstem Restrisiko die Bevölkerung dieses Landes einer solchen Gefahr auszusetzen.
Sie nicht und auch nicht die Bundeskanzlerin. Niemand.
({6})
Wenn Sie, Herr Brüderle, nun wegen der Landtagswahlen die Laufzeitverlängerung aussetzen, aber danach
Ihre Politik im Kern weiterverfolgen wollen, kann ich
Ihnen nur sagen, dass das ein verantwortungsloses Spiel
mit den Bürgerinnen und Bürgern ist.
({7})
Jetzt komme ich auf den Ursprungsfehler. Wir müssen uns in unserer Gesellschaft über ein paar Fragen verständigen. Zunächst einmal: Mit wem muss eigentlich
eine Einigung erzielt werden, wenn eine bestimmte Politik durchgesetzt werden soll? Ich habe das schon einmal
gesagt und wiederhole es: SPD und Grüne haben mit
dem Ausstieg begonnen - das ist ein Verdienst -; aber
die Bedingungen hierfür haben sie mit der Atomlobby
ausgehandelt. Warum hatten Sie nicht die Kraft, ihr einmal zu sagen, dass der Bundestag der Gesetzgeber ist
und nicht die Atomlobby? Aber weil Sie alles nur mit ihr
ausgehandelt haben, war der Kompromiss so unzureichend.
({8})
Ich habe damals gefragt, wie Sie eigentlich darauf
kommen, zu glauben, dass Sie in 30 Jahren noch regieren, um das Ganze zu kontrollieren. Da haben Sie mir
gesagt: Auch eine nachfolgende Regierung kann von
diesem Beschluss nicht abweichen. Aber sie konnte abweichen, wie Frau Merkel ja nun bewiesen hat.
({9})
Union und FDP begingen den schweren Fehler, diesen Kompromiss, so unzulänglich er war, nun auch noch
aufzukündigen. Damit haben Sie eine völlig überflüssige
gesellschaftspolitische Auseinandersetzung provoziert.
Worum ging es? Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: Es
ging darum, dass die vier Atomkonzerne einen zusätzlichen Profit in Höhe von 120 Milliarden Euro erzielen
wollten. Das haben Sie ihnen zugebilligt.
Jetzt kommt der Höhepunkt. Dann sagt Frau Merkel
zu den Bossen, sie wolle aber auch für den Bund etwas
haben, und zwar 2,3 Milliarden Euro. Darauf erwidert
die Atomlobby, das sei zu viel. Letztendlich einigen sie
sich auf 1,5 Milliarden Euro.
({10})
Der Punkt ist doch, dass Sie den Bundestag ausschalten.
({11})
Herr Kauder, stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten einen
selbstständigen Gedanken gegenüber der Bundeskanzlerin
({12})
und sagten, Sie wollten mehr als 1,5 Milliarden Euro haben. Dann würde Ihnen die Bundeskanzlerin sagen, dass
das gar nicht geht, weil sie ja etwas anderes vereinbart
hat. Der Bundestag wird von Ihnen zu einem Abnickorgan gemacht. So etwas geht nicht. Das gefährdet auch
die Demokratie.
({13})
Herr Kauder, bei der Bankenlobby ist es dasselbe gewesen. Die Bankenlobby hat doch entschieden, wie wir
die Krise angeblich lösen. Es entscheidet nicht Frau
Merkel, was Herr Ackermann macht, sondern Herr
Ackermann entscheidet, was Frau Merkel macht. Selbst
wenn sie ihm ein Essen ausgibt, entscheidet nicht etwa
sie, sondern er, welche 18 weiteren Personen eingeladen
werden. Das ist eine Verkehrung der demokratischen
Verhältnisse in diesem Land.
({14})
Übrigens war es bei der Gesundheitsreform mit der
Pharmaindustrie und den privaten Krankenversicherungen nicht anders. Die haben ebenfalls entschieden, was
hier passiert.
({15})
Bei Hartz IV war es genauso. Sie haben an den illegalen
Kungelrunden doch teilgenommen.
({16})
Herr Beck, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz,
hat dort etwas Verfassungswidriges vereinbart, immer
unter Ausschluss der Linken. Es stört Sie, wenn wir von
Ihren Nebendeals erfahren. All das gefährdet die Demokratie. Das müssen Sie sich überlegen.
({17})
Ich will Ihnen auch sagen, warum die Demokratie gefährdet wird: weil nichtzuständige Einrichtungen die
Entscheidungen treffen. Die Kungelrunde von Herrn
Beck ist nicht zuständig. Angerufen war der Vermittlungsausschuss. Er hatte noch gar nicht getagt. Ich
möchte gerne, dass der Bundestag, der Bundesrat und
der Vermittlungsausschuss wieder die Entscheidungsgremien werden. Entscheidungen dürfen nicht in den illegalen Kungelrunden getroffen werden, an denen Sie sich
beteiligen.
({18})
Wir sind uns einig - zumindest in der Opposition -,
dass die acht ältesten und pannenreifen AKW sofort und
für immer vom Netz genommen werden müssen.
({19})
Die Streitfrage ist: Was wird mit den weiteren neun
AKW? Ich sage Ihnen: Was Sie hier bieten, ist willkürlich. Die SPD schreibt, bis 2020 sollten sie abgeschaltet
werden. Ursprünglich war von einer Laufzeit bis 2023
die Rede. Jetzt sagen Sie: bis 2020.
({20})
Die Grünen sagen: bis 2017. Ich halte das alles für willkürlich.
Wir schlagen etwas ganz anderes vor: dass wir uns
mit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit Umweltverbänden und mit kommunalen
Energieerzeugern beraten und dass die Abschaltung unverzüglich, ohne schuldhaftes Verzögern, das heißt so
schnell wie möglich, erfolgt,
({21})
und zwar auf der Grundlage der Berechnungen von
Fachleuten und nicht basierend auf den willkürlichen
Gedanken, die Sie hier in den Raum bringen.
({22})
Zu Baden-Württemberg kann ich Ihnen auch noch etwas sagen. Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1 müssen dauerhaft abgeschaltet bleiben. Auch Philippsburg 2
und Neckarwestheim 2 werden unverzüglich und unumkehrbar abgeschaltet und können nicht am Netz bleiben.
Da die EnBW mehrheitlich dem Land gehört, ist es gar
kein Problem, das umzusetzen, egal welche Regierung in
Baden-Württemberg gebildet wird.
({23})
- Ja, warten wir das ab.
({24})
Das ist aber nur das eine, was wir fordern.
Wir fordern darüber hinaus, den Verzicht auf Atomenergie und Atomwaffen in das Grundgesetz aufzunehmen. Das ist dringend erforderlich. Es gibt das schöne
Beispiel Österreich. Dort steht das in der Verfassung.
Folgt man diesem Beispiel, gibt es auch keine Debatte
mehr.
({25})
- Herr Kauder, haben Sie doch einmal den Mut und tragen Sie zur Zweidrittelmehrheit bei. Dann nehmen wir
das ins Grundgesetz auf. Danach wird sich im Bundestag
nie wieder eine Zweidrittelmehrheit finden, die es ändert. Dann wären wir endlich endgültig ausgestiegen.
Genau das brauchen wir.
({26})
Übrigens liegen in Rheinland-Pfalz noch 20 Atombomben der USA. Die müssten abgezogen werden. Der
Kalte Krieg ist seit über 20 Jahren vorbei. Wir brauchen
keine Atomwaffen in Deutschland.
({27})
Des Weiteren brauchen wir ein Exportverbot für die
Technik, die für die energetische und militärische Nutzung der Atomkraft eingesetzt wird. Es geht wirklich
nicht an, dass wir weiterhin damit Profit machen und daran verdienen, dass wir diese Technik weltweit verkaufen.
Mit dem, was Sie hier zu den Hermesbürgschaften gesagt haben, haben Sie recht: Die Bundesregierung kann
den Bau von Atomkraftwerken nicht auch noch finanziell begleiten. Hier muss ein Umdenken stattfinden.
({28})
Wir brauchen ein Sofortprogramm hinsichtlich der erneuerbaren Energien, gerade in Bayern und in BadenWürttemberg, wo der Anteil der Atomenergie so groß
ist. Dort muss jetzt wirklich einmal etwas passieren.
Im Übrigen führt die Verlängerung der Laufzeiten bei
der Atomenergie zu verstopften Netzen. Dadurch wird
die Entwicklung der erneuerbaren Energien gebremst.
Ich sage das, weil Sie immer so tun, als ob dabei das Gegenteil herauskommen würde. Auch hier müssen wir
also umdenken.
Ich füge hinzu, dass wir Stromnetze in öffentlicher
Hand brauchen. Ich weiß, dass Sie sich darüber immer
aufregen; Sie wollen alles privatisieren. Wenn die
Stromnetze nicht in öffentlicher Hand sind, dann ist die
Politik auch nicht zuständig. Wenn die Politik nicht zuständig ist, dann ist auch die Demokratie nicht zuständig.
Wenn alles privatisiert ist, dann ist es eben bei bestimmten Fragen egal, ob man FDP oder Linke wählt, weil das
Parlament gar nicht mehr darüber zu entscheiden hat.
({29})
Wir brauchen auch bei der Energieversorgung eine
Dezentralisierung und Kommunalisierung,
({30})
weil kleinere Einheiten einfach übersichtlicher sind. Sie
möchten, dass ein Bürgermeister nichts mehr zu entscheiden hat.
({31})
- Ja, natürlich! Wenn Sie alles privatisiert haben, hat der
Bürgermeister nichts mehr zu entscheiden, weder hinsichtlich der Energiepreise noch hinsichtlich der Wasserpreise oder der Mieten. Ich möchte, dass die Politik für
die öffentliche Daseinsvorsorge zuständig bleibt, damit
die Wahl zwischen uns beiden für die Leute Sinn macht.
({32})
Das ist die Frage, die dahintersteckt.
({33})
- Herr Kauder, quatschen Sie doch nicht immer von der
DDR. Sie wissen doch gar nicht, wie es dort war.
({34})
- Ja, ich weiß es; ich habe dort gelebt.
({35})
Aber ich gebe Ihnen nicht auch noch ein Essen aus, um
Ihnen den Osten zu erklären; das geht mir zu weit.
Herr Kauder, wir brauchen noch etwas - ich sage das
auch der FDP, die das grundsätzlich ablehnt -: Wir brauchen natürlich einen Preisstopp und eine staatliche Preisregulierung. Das gab es in der Bundesrepublik jahrzehntelang. Was war denn daran so schlimm? Seitdem die
Energieversorgung privatisiert ist, gehen die Preise nach
oben. Die Konzerne telefonieren miteinander und besprechen das. Es gibt doch in diesem Bereich überhaupt
keinen Markt. Wir haben vier Konzerne, die sich die
Bundesrepublik Deutschland feudal aufgeteilt haben.
Also brauchen wir auch hier einen anderen Weg.
Wieder geht es um die Frage der Zuständigkeit der
Politik und der Demokratie. Sie begreifen eine einfache
Tatsache nicht: Der Bundestag wird demokratisch gewählt; die Atomlobby wird nicht gewählt, die Chefs der
Pharmaindustrie werden nicht gewählt, die Chefs der
Banken werden auch nicht gewählt.
({36})
Es macht einen Unterschied, dass die Bevölkerung den
Bundestag wählen darf, aber nicht den Vorstand der
Deutschen Bank. Insofern ist es eine Katastrophe, dass
der Vorstand der Deutschen Bank mehr zu sagen hat als
die Bundesregierung. Genau das müssen wir überwinden.
({37})
Schließlich sage ich Ihnen: Am Samstag werden
große Demonstrationen stattfinden. Ich bitte Sie - auch
Sie, Herr Brüderle -, sie ernst zu nehmen. Die Bürgerinnen und Bürger werden dort ganz entschieden rufen:
„Atomkraft? Nein, danke!“ Nehmen Sie sie ernst! Veralbern Sie sie nicht mit einem Moratorium, das überhaupt
nicht ernst gemeint war.
({38})
Das Wort hat nun Bundesminister Rainer Brüderle.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
Sie kritisieren, dass ein Zusammenhang zwischen unserer Politik und dem Wahlkampf besteht. Sie haben nur
über Atomkraftwerke in Baden-Württemberg gesprochen; das nur nebenbei gesagt.
({0})
Sie haben aus einem Protokoll zitiert, zu dem der BDI
inzwischen erklärt hat, dass meine Ausführungen falsch
wiedergegeben worden sind.
({1})
Was ich kenne, ist meine Haltung und die Haltung der
Bundesregierung: Wir wollen in das Zeitalter der erneuerbaren Energien einsteigen. Wir machen verantwortungsvolle Politik und halten Kurs. Es ist absurd, uns
Wahlkampfmanöver vorzuwerfen.
({2})
Einige von Ihnen stellen sich hin und fordern hier den
sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie. Das ist verantwortungslos. Sie wissen ganz genau, dass das unsere
Netze überhaupt nicht aushalten können. Das, was Sie
fordern, ist überhaupt nicht machbar.
({3})
Herr Trittin und Herr Gabriel, Sie haben sieben Jahre
Zeit gehabt, die Kernkraftwerke sofort abzuschalten; Sie
haben es nicht getan. Sie sollten etwas mehr die Seriosität, Ruhe und Besonnenheit übernehmen, die die Japaner
im Umgang mit der Atomkatastrophe und den beiden
Naturkatastrophen gezeigt haben.
({4})
Japan geht mit diesem Schicksalsschlag gelassen und
besonnen um. Teile der Opposition meinen, in Deutschland Hysterie verbreiten zu müssen.
({5})
Das ist der Lage in Japan völlig unangemessen, und das
ist der Lage in Deutschland völlig unangemessen.
({6})
Da wird versucht, aus jeder angeblichen Neuigkeit
eine Sensation zu kreieren. Wir sollten uns auch in der
politischen Debatte mit etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit des Themas annehmen. Ja, was in Japan passiert ist,
war ein Einschnitt:
({7})
für Europa, für Deutschland und für die Welt.
({8})
Wir überprüfen bei allen Kernkraftwerken in Deutschland die Sicherheit erneut umfassend. Die sieben ältesten
Kernkraftwerke in Deutschland werden zunächst abgeschaltet.
({9})
Die Prüfung ist hart, fair und ergebnisoffen. Eine Vorfestlegung gibt es nicht. Aber eines ist klar: Sicherheit
geht vor. Eine ähnliche Überprüfung führen die Vereinigten Staaten, China und Russland durch.
({10})
Sie können doch nicht behaupten, dass die Landtagswahlen im Süden der Republik das Verhalten dieser Länder, die genauso vorgehen, beeinflussen würden.
({11})
Die Zeit während des Moratoriums wird genutzt, damit
die neue Lage nach den japanischen Vorfällen seriös
überprüft werden kann.
Zentral für den Umstieg in das Zeitalter der regenerativen Energien, den wir wollen, ist der Netzausbau. Wir
müssen die Netze schneller ausbauen. Schon heute fehlen in Deutschland 3 600 Kilometer Stromleitungen Tendenz steigend.
({12})
- Wir stellen ein Konzept für den Netzausbau auf, um
diesen zu beschleunigen.
({13})
Ich habe eine Netzplattform geschaffen, auf der wir auch
mit NGOs einen Dialog führen, damit wir schneller zu
einer Akzeptanz kommen.
({14})
Aber Teile der Opposition sind gegen alles: gegen Kernkraft, gegen Kohlekraftwerke und gegen Leitungen.
({15})
Das ist unverantwortliche Politik.
({16})
Eine Deindustrialisierung, die gegen Arbeitsplätze und
Wohlstand in Deutschland gerichtet ist, können Sie mit
Schwarz-Gelb nicht machen. Deshalb sollten Sie mit Besonnenheit und Vernunft an diese Themen herangehen.
({17})
Wir bringen Schwung in den Netzausbau. Ich stelle
mir vor, dass wir als Resultat dieser nationalen Aufgabe
ein Konzept auf den Weg bringen, um diesen Ausbau erheblich zu beschleunigen. Ich lade Sie ein, mitzumachen. Sie können nicht hier im Bundestag Ja zum Netzausbau sagen, aber vor Ort bei den Blockierern dabei
sein. Wenn konkrete Maßnahmen bei Pumpspeicherkraftwerken und Netzen anstehen, machen Sie genau das
Gegenteil dessen, was Sie fordern.
({18})
Rot-rot-grüne Energiepolitik ist eine Nullnummer. Sie
blockieren beim Umbau des Kraftwerkparks.
({19})
Sie sollten konsequent mithelfen, dass wir schneller in
das Zeitalter der regenerativen Energien kommen.
({20})
Das Wort hat nun Hans-Josef Fell für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Minister Brüderle, da kommen Sie
nicht mehr heraus.
({0})
Sie haben beim BDI in Anwesenheit von RWE und Eon
die Wahrheit zu Protokoll gegeben. Das jetzt als Fehler
im Protokoll ausgeben zu wollen, macht Sie noch wesentlich unglaubwürdiger, als Sie es vorher schon waren.
({1})
Ihr angebliches Atommoratorium ist reine Wahlkampftaktik. Das haben Sie beim BDI klar zugegeben.
Dabei brauchen wir heute doch keine Wahlkampftaktik,
um auf diese Herausforderungen des Atomunfalls in Japan zu reagieren. Er ist es, der zur Deindustrialisierung
Japans beiträgt. Es sind nicht die erneuerbaren Energien,
sondern es ist die Atomenergie, die eine Deindustrialisierung befördert. Das können Sie in Japan genau sehen.
({2})
Nach dieser nuklearen Katastrophe in Japan sind zwei
entscheidende Handlungen zwingend erforderlich: Zum
einen müssen wir jetzt dem japanischen Volk in seiner
großen Not nach Erdbeben, Tsunami und Atomunfall
alle Hilfen geben, die uns möglich sind. Dabei sehe ich
auch große Defizite dieser Regierung.
({3})
Zum anderen braucht unser Planet endlich einen völlig
neuen Entwurf für die Energieversorgung dieser Erde:
ohne Atomenergie und wegen des Klimaschutzes auch
ohne fossile Energien.
({4})
Diesen neuen Entwurf für die Energieversorgung dieser Welt gibt es bereits. Die renommierten kalifornischen
Universitäten Stanford und Davis, die mit ihren Ausgründungen im Silicon Valley die dritte industrielle Revolution der Welt ermöglicht haben, haben jetzt einen
Plan für die vierte industrielle Revolution der Welt geschaffen. Sie sagen: Der gesamte Weltenergiebedarf
kann danach bis 2030 zu 100 Prozent mit erneuerbaren
Energien gedeckt werden. Das ist technologisch möglich, industriell machbar und hat ökonomisch große Vorteile.
({5})
Doch statt nun auf die Beschleunigung des Ausbaus
der erneuerbaren Energien zu setzen, was Frau Merkel
und Sie, Herr Brüderle, in der letzten Woche noch vollmundig erklärten, wurde in dieser Woche die Verkündung von neuen Maßnahmen abgesagt. Offensichtlich
haben sich die Hardliner durchgesetzt. Offensichtlich haben Sie, Herr Brüderle, Herr Kauder und Herr Fuchs, die
Verabschiedung eines Beschleunigungskonzeptes in Sachen erneuerbare Energien verhindert.
Es ist wie immer bei Ihrem Regierungshandeln: Eine
leere Versprechung reiht sich an die andere. Statt Milliarden in den Ausbau des Bereichs der erneuerbaren
Energien zu stecken, wurden die Mittel für erneuerbare
Energien im Haushalt 2011 gekürzt, und die Mittel für
die Effizienzsteigerung wurden gleich mit gekürzt. Das
widerspricht Ihren Worten doch völlig.
({6})
Immer noch halten die Kanzlerin und Sie am uralten
kerntechnischen Regelwerk fest, ebenso am Atommanager Hennenhöfer als Leiter der Atomaufsicht. Alles
spricht dafür, dass Sie nach der Wahl am kommenden
Sonntag wieder einen Pro-Atom-Kurs fahren werden.
Frau Merkel will sich heute auf dem EU-Gipfel für einen Stresstest der europäischen Atomkraftwerke einsetzen. Da muss sie Herrn Oettinger aber sagen, dass das
nicht nach dem alten Euratom-Regelwerk geschehen
kann. Dieses Regelwerk ist zur Analyse der Gefahren
von Atomkraftwerken, die in Japan aufgetreten sind, untauglich. Wir brauchen eine Veränderung der EuratomRegeln. Am besten wäre eine Abschaffung der Unterstützungsmodalitäten. Stattdessen brauchen wir einen
neuen EU-Vertrag für erneuerbare Energien, Eurenew.
Das wäre die richtige Antwort. Das müsste Frau Merkel
jetzt in Brüssel auf den Weg bringen.
({7})
Wir Grünen haben längst gezeigt, wie eine Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien gelingen
kann. Das ist nachzulesen im Energiekonzept der Grünen und in den Vorlagen, die wir heute einbringen. Wir
machen konkrete Vorschläge, wie dieses Land spätestens
zum Ende der nächsten Wahlperiode vollständig aus der
Atomenergie aussteigen kann. Mit dem unter Rot-Grün
geschaffenen erfolgreichen Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir bewiesen, dass wir eine solche Politik gegen alle Widerstände aus den Reihen von Union, FDP
und Atomwirtschaft machtpolitisch durchsetzen können.
Wir müssen den Ausbau der Windkraft, der Solarenergie, der Wasserkraft, der Bioenergie und der Erdwärme
beschleunigen. Wir müssen den Kommunen mehr Energiehoheit geben. Wir müssen die Energieeinsparpotenziale heben und Bürgerakzeptanz für den notwendigen
Netz- und Speicherausbau schaffen. Herr Brüderle, die
Hauptengstellen liegen übrigens im 110-kV-Netz. Dort
finden die Abschaltungen statt. Für den Ausbau dieses
Netzes kann man Erdkabel nutzen. Doch die Deutsche
Energie-Agentur und Sie, Herr Brüderle, sprechen fast
nur vom Ausbau der großen 380-kV-Leitungen. Neue
Kohlekraftwerke sind - das ist eine Mahnung an die andere Seite des Hauses, an SPD und Linke - für die Umsetzung unseres Energiekonzepts nicht notwendig. Wir
müssen auch an den Klimaschutz denken.
({8})
Herr Brüderle, Sie wollen nur die großen Leitungen
bauen, um den Windstrom von Nord nach Süd zu bringen. Fordern Sie lieber endlich Herrn Mappus in BadenWürttemberg und Herrn Seehofer in Bayern auf, die Genehmigungsblockaden in Sachen Windenergie abzuschaffen.
({9})
Windstrom kann man mit neuen Windrädern auch in die
südlichen Bundesländer bringen.
Sie haben in der Vergangenheit bewiesen, dass Sie
den Blick nicht nach vorne richten. Ich will Ihnen Albert
Einstein in Erinnerung rufen, der gesagt hat, dass man
mit den Denkweisen, die ein Problem verursacht haben,
das Problem nicht lösen kann. Das werden die Wählerinnen und Wähler am kommenden Sonntag erkennen. Sie
sind mit Sicherheit in der Lage, die Konsequenzen zu
ziehen. Die Konsequenz ist: Die Atomparteien müssen
abgewählt werden.
({10})
Das Wort hat nun Michael Fuchs für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und liebe Kollegen! Herr Gysi, von Ihnen
etwas über Demokratie zu lernen, fällt mir wahrlich
schwer. Solange Sie nicht in der Lage sind, überhaupt
anzuerkennen, was Ihre Vorgängerpartei, die SED, in der
DDR-Zeit angestellt hat - ich nenne den Mauerbau; die
Mauertoten leugnen Sie nach wie vor, was unsäglich
ist -, brauchen wir in Sachen Demokratie keine Belehrung von Ihnen.
({0})
Des Weiteren darf ich Ihnen sagen: Es wäre interessant, wenn Sie sich einmal mit Österreichern unterhalten
würden. Wir haben das vor kurzem getan. Wir haben uns
mit dem österreichischen Wirtschaftsminister unterhalten und uns mit ihm auch über die Energieversorgung in
Österreich auseinandergesetzt. Was macht man dort? Die
Österreicher haben - da gebe ich Ihnen völlig recht jede Menge Pumpspeicherkraftwerke; das ist auch gut
so. Wir wären schon froh, wenn die Grünen in Deutschland Pumpspeicherkraftwerke nicht verhindern würden.
Was aber machen die Österreicher nächtens? Sie kaufen
nächtens billigen Kernkraftstrom aus Temelin ein, pumpen damit das Wasser wieder nach oben und verkaufen
ihn tagsüber als Ökostrom nach Bayern. Das ist ein Recycling, das mir nicht gefällt und das ich hier und auch
woanders nicht haben möchte. Das sollten Sie zur
Kenntnis nehmen. So funktioniert das nicht.
Lassen Sie mich nun zu Japan kommen. Ich bin in
meinem beruflichen Leben sehr häufig in Japan gewesen. Ich kann nur sagen: Mir tut das, was dort passiert
ist, alles unglaublich leid, und ich empfinde ein tiefes
Mitgefühl für die Menschen dort. Mich stört aber in vielerlei Hinsicht, wie wir mit der Situation in Japan umgehen.
({1})
400 000 Menschen sind obdachlos. Wahrscheinlich sind
mehr als 20 000 Tote zu beklagen. Niemand weiß genau,
wie viele es tatsächlich sind. Und wir diskutieren hier
über Probleme, die die Japaner momentan überhaupt
nicht wahrnehmen. Wenn Sie sich anschauen, welche
Diskussionen in Japan geführt werden, dann stellen Sie
fest, dass es dabei um ganz andere Probleme geht. Dort
geht es eben um 400 000 Menschen, die keine Häuser
mehr haben und die verzweifelt nach ein paar Habseligkeiten suchen.
({2})
Ich sage Ihnen noch etwas: Als ich kurz nach dem
verheerenden Tsunami die Worte Ihres Vorsitzenden
Gabriel gehört habe, habe ich gedacht: Hut ab! Das ist
staatstragend und vernünftig. Das ist genau das, was man
in dieser Situation sagen kann und machen muss. Aber
was anschließend passiert ist, nämlich dass es nur vier
Stunden gedauert hat, bis Sie angefangen haben, eine
Diskussion zu beginnen, die überhaupt nichts mit diesem
Unfall zu tun hat, ist schäbig.
({3})
Das ist alles andere als der Situation angemessen. Die
Sache für Wahlkampfzwecke auszunutzen, ist zynisch
und für mich auch abstoßend.
({4})
Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Nein. - Wir haben gesagt: Wir müssen ein Moratorium machen. Wir setzen die sieben ältesten Kernkraftwerke in Stillstand, um sie besser überprüfen zu können.
({0})
Wir wollen in dieser Phase des Moratoriums aus dem,
was in Japan passiert ist, lernen und zuallererst einmal
feststellen, ob wir daraus Konsequenzen für unsere
Kraftwerke ziehen müssen. Das ist wichtig.
Herr Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
Auch nicht. - Wir müssen als Allererstes die Frage
stellen: Was sind die technischen Konsequenzen, die wir
für unsere Kernkraftwerke ziehen müssen?
({0})
Ein Tsunami - das wird wahrscheinlich selbst die Grünen-Fraktion zugeben, wobei Sie im Verdrängen großartig sind - ist in Deutschland relativ unwahrscheinlich.
({1})
Dennoch haben wir mit Sicherheit Lehren daraus zu ziehen.
({2})
Das werden wir mit der IAEO machen. Wir werden dies
dann konsequent in unseren Kernkraftwerken umsetzen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Menzner?
Auch nicht.
Also generell keine Zwischenfragen? - Gut.
({0})
Ich möchte gerecht sein und niemandem eine Zwischenfrage gestatten.
Die Strompreise - das hat der Kollege Pfeiffer gerade
völlig zu Recht gesagt - sollten wir allerdings im Blick
behalten. Was ist denn von Anfang an passiert? Die
Preise sind schon gestiegen.
({0})
Wenn Sie sich den Spotmarkt in Leipzig für das zweite
Quartal dieses Jahres anschauen, dann werden Sie feststellen, dass der Preis für Großhandelsstrom um ungefähr 10 Prozent gestiegen ist.
({1})
Schon in dieser Woche - diese Zahl ist interessant mussten pro Tag circa 800 bis 1 000 Megawatt Strom
importiert werden. Ich frage Sie: Von wo wird dieser
Strom importiert? Der Strom ist überwiegend aus Osteuropa gekommen, und zwar im Wesentlichen von Kernkraftwerken.
({2})
Wenn der Strom nicht aus Osteuropa war, dann kam er
zumindest von Kohlekraftwerken.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Wenn wir
den Strom nicht zur Verfügung stellen, dann kommt er
von irgendwo anders her. Es ist völlig richtig, was Herr
Fell eben gesagt hat: Der Strom kommt aus der Steckdose.
({3})
Aber er muss vorher auch dort hineingegeben werden.
Das ist das große Problem. Sie müssen sich über eines
im Klaren sein: Nur mit Wind, nur mit Solar werden wir
dieses Problem nicht lösen können.
({4})
Mit einem weiteren Punkt muss aufgeräumt werden,
nämlich damit, dass es die rot-grüne Koalition war, die
die erneuerbaren Energien so weit vorangebracht haben.
({5})
Ich habe einmal die Zahlen herausgesucht. Als Sie 1998
an die Regierung kamen, betrug der Anteil der erneuerbaren Energien 4,7 Prozent.
({6})
Als Sie zu Recht abgewählt wurden, lag dieser Anteil bei
10,2 Prozent. Es gab in sieben Jahren also eine Steigerung um 5,5 Prozentpunkte. Heute haben wir einen Anteil von 17 Prozent.
({7})
Seit die Bundeskanzlerin Merkel an der Regierung ist,
haben wir eine Steigerung um 6,8 Prozentpunkte in fünf
Jahren.
({8})
Es ist schon fast beschämend, Herr Fell, wenn Sie behaupten, es würde nicht in erneuerbare Energien investiert. Im letzten Jahr sind rund 11,3 Milliarden Euro in
erneuerbare Energien investiert worden.
({9})
Es hat noch nie eine so intensive Phase von Investitionen
in erneuerbare Energien gegeben wie jetzt. Auch das
sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({10})
Last, but not least muss auch etwas über CO2 gesagt
werden. Wir alle hier kämpfen dafür, dass der Klimaschutz Wirklichkeit wird. Das ist schwierig genug, weil
nicht alle Länder so intensiv Klimaschutz betreiben wie
wir. Sie wissen aber auch, dass die acht Kernkraftwerke,
die jetzt nicht am Netz sind, uns circa 30 Prozent Kohlendioxidausstoß ersparen. Das sind 48 Millionen Tonnen.
({11})
Diese 48 Millionen Tonnen können wir auf kurze Frist
nur kompensieren, wenn es uns gelingt, aus Nachbarländern Strom zu importieren, und zwar dann Strom aus
Kernkraftwerken; denn ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien bekommen wir aus den Nachbarländern nicht.
({12})
Ansonsten werden wir die Klimabilanz Deutschlands
verschlechtern. Denn alle fossilen Kraftwerke, egal ob
Kohle-, Braunkohle- oder Gaskraftwerke, stoßen CO2
aus. Da können Sie sich nicht herausreden.
({13})
Auch das wird ein Problem werden.
({14})
Das sehen wir ja schon beim Emissionshandel. Die
Preise für Zertifikate sind ebenfalls schon kräftig gestiegen, und zwar von 15 Euro auf 16,50 Euro. Das können
Sie am Spotmarkt beobachten. Sie sollten sich das ansehen.
({15})
Für uns geht es um eines: Wir wollen verantwortungsvoll Energiepolitik betreiben, und zwar so, dass erstens
die Energieerzeugung sicher ist - darüber lassen wir
nicht mit uns reden -, dass zweitens die Energie zuverlässig vorhanden ist
({16})
und dass sie drittens auch noch kostengünstig ist, sodass
die Verbraucherinnen und Verbraucher sie bezahlen können und die Unternehmen nicht aus Deutschland abwandern müssen.
({17})
Das Wort zu Kurzinterventionen erteile ich der Kollegin Kotting-Uhl und danach der Kollegin Menzner.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Fuchs, Ihre Rede
gibt eigentlich Anlass, jetzt eine zehnminütige Kurzintervention zu machen,
({0})
aber das würde der Gesamtdebatte wahrscheinlich nicht
weiterhelfen. Ich möchte Sie vielmehr auf einen Punkt
ansprechen, den Sie genannt haben. Sie haben die Vergleichbarkeit zwischen dem, was in Fukushima passiert
ist, und dem, was hier passieren könnte, in Abrede gestellt und das damit begründet, dass hier keine Tsunamis
zu erwarten seien.
({1})
Ich möchte Ihnen dazu einige Fragen stellen. Erste
Frage: Stellen Sie Japans Sicherheitsphilosophie, die unserer ähnlich ist - es geht um ein hochindustrialisiertes
Land, um ein Hochtechnologieland -, in Abrede? Meines Wissens hat Japan eine ähnliche Sicherheitsphilosophie. Sprechen Sie das Japan ab?
Die zweite Frage: Stellen Sie in Abrede, dass auch bei
uns Kühlsysteme ausfallen können? Wenn Sie dies in
Abrede stellen und wenn Sie sagen, es gebe keine Vergleichbarkeit, dann muss ich noch einmal auf das hinweisen - es ist relevant -, was Herr Brüderle sagte. Ich
möchte dies noch einmal zitieren, weil es sehr deutlich
ist:
… dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien.
Das passt auch zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten, zu Herrn Mappus - ich bin BadenWürttembergerin -, der die Entscheidungen, die gefällt
wurden, in den Kontext eines emotionalen Ausnahmezustandes der Bürgerinnen und Bürger stellte.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie als Drittes:
Wem stellen Sie als Wirtschaftspolitiker - ich glaube,
Sie haben eine ähnliche Denke wie der Wirtschaftsminister; auch Ihre Argumentation war ähnlich - die Rationalität in Abrede: der Bundeskanzlerin oder den Bürgerinnen und Bürgern?
Ich bitte Sie, diese drei Fragen zu beantworten.
({2})
Kollegin Menzner, bitte.
Herr Kollege Fuchs, ich möchte mich auf ganz wenige Aspekte Ihrer Rede beschränken.
({0})
Sie haben versucht, zu suggerieren, dass das, was immer als vernachlässigbares Restrisiko bezeichnet wurde,
für Deutschland nicht gelten würde. Aber Sie haben mit
keinem Satz darauf Bezug genommen, dass dieses vermeintlich so kleine Restrisiko in Japan, in einem Land,
das sehr hohe Sicherheitsstandards hat - es handelt sich
um eine Sicherheitsphilosophie, die immer als Vorbild
dargestellt wurde -, Realität geworden ist. Im Gegensatz
zu allen bisherigen Katastrophen können die Folgen dieser Katastrophe auch durch den Einsatz von noch so viel
Geld und Personal nicht in einem überschaubaren Zeitraum bewältigt werden. Man kann alles Geld der Welt
investieren und alle Technik der Welt einsetzen, die Folgen werden Generationen von Japanerinnen und Japanern zu tragen haben.
Dr. Pflugbeil hat in einer Stellungnahme sehr deutlich
zum Ausdruck gebracht, dass der Umfang der Freisetzung von Radioaktivität und die Strahlenwerte in Japan
in weiten Teilen schon heute dem entsprechen, was wir
in Tschernobyl erleben mussten. An dem Diskussionspapier der Reaktor-Sicherheitskommission wird deutlich,
dass selbst die Reaktor-Sicherheitskommission auch in
deutschen Kraftwerken erheblichen Nachrüstbedarf
sieht. Von daher kann es nicht, wie Sie suggeriert haben,
nach drei Monaten so weitergehen wie vorher.
Abschließend möchte ich deutlich machen, dass wir
nach meiner Überzeugung zu einer schnellen Entscheidung kommen müssen.
({1})
Diesen Hinweis habe ich bei Ihnen vermisst. Block 1 des
Kraftwerks Fukushima 1 sollte diesen Monat vom Netz
gehen. Jeder Tag und jeder Monat kann entscheidend
sein.
Nicht zuletzt möchte ich Sie und die Öffentlichkeit
darauf hinweisen - Sie als Wirtschaftspolitiker müssten
das eigentlich wissen -:
({2})
Die Risiken, die mit Atomkraftwerken verbunden sind,
sind nicht versicherbar, sprich: Jeder Häuslebesitzer,
jede Bürgerin und jeder Bürger trägt dieses Risiko selbst,
und sie können sich dagegen nirgendwo versichern. Das
macht deutlich, wie dieses Risiko und dieses Wagnis
eingeschätzt werden.
Ich danke.
({3})
Kollege Fuchs, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Zuallererst möchte ich
ganz kurz das Thema Tsunami ansprechen, Frau Kollegin. Was in Japan geschehen ist, konnte man sich auch
dort bisher nicht vorstellen. Nebenbei: Es hat in der Historie Japans nie ein Erdbeben dieser Größenordnung gegeben.
({0})
Dies war also das allergrößte Erdbeben, das es dort jemals gegeben hat. Die Kernkraftwerke haben dieses Erdbeben übrigens völlig unbeschädigt überstanden. Zerstört wurden sie bzw. die Kühlzuflüsse
({1})
durch den anschließenden Megatsunami, der in dieser
Größenordnung nicht antizipiert wurde.
({2})
Man kann darüber nachdenken, ob es richtig oder
falsch war, nicht von der Möglichkeit eines solchen Tsunamis auszugehen. Bis dato war er nicht denkbar. Manche Orte - dieses Drama konnten Sie alle beobachten wurden von dem Tsunami zu fast 90 Prozent zerstört.
Kein Mensch, auch niemand in den kleineren Orten an
der Küste in der Nähe von Sendai, hat damit gerechnet.
({3})
Ein solches Ereignis haben die Japaner bei der Beurteilung dieser Problematik - das gestehe ich zu - nicht
bedacht. Das ist auch der Grund, warum wir gesagt haben - dazu stehe ich -: Es ist notwendig, dass wir Eventualitäten, die sich aus den Ereignissen in Japan ergeben,
überprüfen.
({4})
Es ist auch logisch und notwendig, dass man die Kernkraftwerke, die am ältesten sind, in Stillstand versetzt,
um parallel dazu diese Überprüfung durchzuführen. Nur,
wir wissen nicht schon vorher, was anschließend herauskommt.
({5})
Sie wissen ja schon, was bei der Überprüfung herauskommt, bevor Sie überhaupt angefangen haben, nachzudenken.
({6})
Das ist in meinen Augen nicht in Ordnung.
({7})
- Wenn Sie mich genauso ausreden lassen würden, wie
ich die beiden Kolleginnen habe ausreden lassen, dann
wäre das höflich; aber das kann ich von Ihnen nicht erwarten.
Ich gehe einmal davon aus, dass wir in dieser Phase in
jedem Einzelfall ernsthafteste Prüfungen durchführen
werden. Das ist auch notwendig.
Kühlsysteme. Es kann durchaus sein, dass wir aufgrund der Erfahrungen, die wir in Japan gewonnen haben, zu dem Ergebnis kommen, dass die Kühlsysteme
nicht ausreichend redundant aufgebaut sind. Das ist eine
relevante Prüfung, die wir jetzt machen müssen. Dazu
stehe ich. Dies gilt jedoch nicht nur für die alten acht,
sondern auch für die neuen neun Kernkraftwerke. Sie
gehören genauso überprüft.
Sie behaupten, das Restrisiko werde nicht berücksichtigt. Wir tun das doch gerade.
({8})
Wir sind doch gerade dabei, uns mit diesem Restrisiko
sehr intensiv zu beschäftigen; denn wir versuchen, die
Prüfungen durchzuführen. Wer macht es denn? Diese
Bundesregierung hat sofort reagiert. Die Kanzlerin hat
zwei Tage nach dem Vorfall gesagt, wir müssen das
Restrisiko überprüfen, müssen überprüfen, ob wir alle
Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben und ob es Erfahrungen oder Lehren gibt, die wir aus Japan mitnehmen
müssen. - Das tun wir jetzt. Ich halte das für richtig. Das
Verhalten der Bundesregierung ist klug.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Fuchs, zu Ihrer Rede möchte ich jenseits der
Frage, wie man das Restrisiko genau bewertet, noch eines anmerken: Angesichts der halsbrecherischen Wende,
die Ihre Regierung hingelegt hat, und angesichts der
Vorgänge in Japan, die uns alle betroffen machen, finde
ich es unverschämt, dass jemand, der sein ganzes politisches Leben dem Lobbyismus für Atomkraft gewidmet
hat, von hier vorne moralische Beurteilungen gegenüber
anderen ausspricht, was das Thema Wahlkampf angeht.
({0})
Ich möchte zu Ihnen sprechen, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion, um um Zustimmung für unsere Gesetzentwürfe zu
werben; denn es ist für Sie die Möglichkeit, Ihren eigenen Widersprüchen zu entrinnen. Sie ertrinken nämlich
in Ihren Widersprüchen.
Herr Brüderle, Sie können es zwar auf einen Protokollfehler schieben, aber ein Wirtschaftsminister mit einer minimalen Restachtung hätte die Gelegenheit ergriffen, hier klarzustellen, was er denn dort tatsächlich
gesagt hat.
({1})
Was haben Sie denn tatsächlich gesagt, wenn es ein Protokollfehler war? Wer soll Ihnen denn Ihre neue Nachdenklichkeit überhaupt abnehmen, wenn Sie, statt die
Chance zu ergreifen, hier klarzustellen, was Sie tatsächlich gesagt haben, nur sagen, es war ein Protokollfehler,
obwohl wir wissen, dass das, was dort steht, genau Ihrem Sprachgebrauch der letzten Wochen entspricht?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fuchs?
({0})
Herr Fuchs, angesichts Ihres Mutes verweise ich Sie
auf die Kurzintervention, die Sie nachher tätigen können.
({0})
Ein anderer Widerspruch ist folgender: Die gleiche
Truppe von Ministerpräsidenten, die bei der Laufzeitenverlängerung unabhängig davon, ob die Zustimmung des
Bundesrates eingeholt werden muss oder nicht, auf ihrer
eigenen Unzuständigkeit bestanden hat, sitzt jetzt mit
der Kanzlerin bei Atomgipfeln zusammen und verkündet
öffentlich, dass sie von der Laufzeitenverlängerung jetzt
wieder herunter will.
({1})
Sie hoffen doch inständig darauf, dass unsere Klage
in Karlsruhe Erfolg hat, weil es der einzige Weg ist, auf
dem Sie die Nichtigkeit Ihres Beschlusses hergestellt bekommen und nicht den Schadenersatzforderungen der
Atomkonzerne ausgeliefert sein werden.
({2})
Deswegen sage ich Ihnen auch: Die erste Amtshandlung einer SPD-geführten Landesregierung in BadenWürttemberg wird es sein, sich dieser Klage gegen die
Laufzeitenverlängerung beim Bundesverfassungsgericht
anzuschließen.
({3})
Der dritte Widerspruch, der Ihr ganzes Manöver als
durchsichtig und wahltaktisch entlarvt, betrifft die handwerkliche Umsetzung. Am Dienstag letzter Woche,
15. März 2011, verkündete der Ministerpräsident des
Landes Baden-Württemberg im Landtag - ich zitiere
wörtlich -:
Kernkraftwerke, die nicht den erforderlichen Sicherheitsanforderungen genügen, werden abgeschaltet - nicht in sieben Jahren, nicht in 15 Jahren,
nicht in 20 Jahren, sondern sofort.
An einer späteren Stelle in seiner Rede heißt es:
Neckarwestheim I wird abgeschaltet - dauerhaft und stillgelegt.
({4})
Am Tag darauf verkündet sein oberster Angestellter
in Sachen Atomstrom - das ist übrigens nicht die für die
Atomaufsicht zuständige Frau Gönner, sondern das ist
der Vorstandsvorsitzende der jetzt landeseigenen EnBW,
Herr Villis - in seiner Pressemitteilung vom 16. März
um 21.30 Uhr:
Der Block 1 des Kernkraftwerks Neckarwestheim
… und der Block 1 des Kernkraftwerks Philippsburg … werden seit heute Abend ({5}) abgefahren und in der Nacht vom
Netz genommen. Zuvor hatte der Betreiber, die
EnBW …, entsprechende Anordnungen des Ministeriums … erhalten.
Diese Anordnungen sehen die vorübergehende Einstellung des Betriebs der Anlagen für drei Monate
vor. Die Anordnungen wurden mit Verweis auf die
aktuellen Vorkommnisse in japanischen Kernkraftwerken ausgesprochen. Die EnBW hatte bereits am
Dienstag … erklärt, GKN I vorübergehend freiwillig abfahren zu wollen. Am gleichen Tag hatte das
Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr
Baden-Württemberg mitgeteilt, dass eine Sonderprüfung seiner Aufsichtsbeamten an den Standorten
in Philippsburg und Neckarwestheim keine sicherheitstechnischen Defizite ergeben habe. Der Betriebszustand der Anlagen ist nach dem Abfahren
vergleichbar mit dem während einer Revision.
Das sagt die EnBW Baden-Württemberg AG. Ihr Moratorium bietet so viel Rechtssicherheit wie das Ruhenlassen eines Doktortitels.
({6})
Sie wollten in Baden-Württemberg mit Atomkraft
Kasse machen. Deswegen haben Sie die EnBW gekauft.
Jetzt tritt das Gegenteil ein: Sie wird zu einem Sanierungsfall. Sie hatten und haben keinen Plan B dafür, wie
Sie den Energiewechsel dauerhaft erreichen wollen und
werden. Wir haben ein Konzept dafür vorgelegt, wie wir
bis 2020 aus der Atomkraft aussteigen können. Wir haben heute Gesetzentwürfe dafür vorgelegt, wie wir den
Energiewechsel schaffen werden. Deswegen werden wir
in Baden-Württemberg nach der Wahl das Handwerk,
den Mittelstand und die Industrie an den Tisch bitten und
mit einer SPD-geführten Landesregierung ein sicheres
Konzept für den Energiewechsel in Baden-Württemberg
auf den Weg bringen.
({7})
- Herr von Stetten, an Ihrer Stelle würde ich mir lieber
Gedanken darüber machen, mit welchem Restpöstle Sie
Herrn Mappus versorgen, wenn er ab Montag auf Arbeitsplatzsuche ist, anstatt hier Zwischenrufe zu machen.
({8})
Damit der Energiewechsel tatsächlich sicher vorankommt und hier nicht zurückgerudert werden kann, werden wir in Baden-Württemberg gemeinsam mit der Industrie, dem Handwerk und dem Mittelstand einen
Energiewechsel mit Konzept vereinbaren. Dafür brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen, den wir mit unseren Anträgen bieten. Stimmen Sie ihnen zu, damit der
Wechsel tatsächlich stattfinden kann und hier nicht nur
weiter heiße Luft abgesondert wird.
({9})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Michael Fuchs.
({0})
Herr Kollege Friedrich, erstens empfinde ich es als
eine Unverschämtheit, dass Sie mir vorwerfen, ich sei
mein ganzes Leben lang ein Kernkraftlobbyist gewesen.
({0})
Ich habe ein Unternehmen aufgebaut und 23 Jahre lang
geleitet und viele Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen. Ich weiß nicht, ob Sie das nachweisen können.
Zweitens. Ich habe festgestellt, dass Sie bei EUROSOLAR aktiv sind. Das ist wohl kein Lobbyistenverein?
Das ist der größte Lobbyistenverein für die unwirtschaftlichste erneuerbare Energie, die wir in Deutschland haben.
({1})
Kollege Friedrich, bitte.
Herr Fuchs, ich habe nicht behauptet, dass Sie bei allen Ihren Wortmeldungen und Zitaten in den letzten Jahren und auch bei Ihrer Rede hier eben als bezahlter Lobbyist tätig waren.
({0})
Ich habe aber völlig zu Recht behauptet: Durch all Ihre
Einlassungen und Ihr permanentes Störfeuer gegen erneuerbare Energien in der Großen Koalition und jetzt
wieder wird eindeutig belegt, dass Sie politisch nur im
Interesse der Atomindustrie und für niemanden sonst arbeiten.
({1})
Mit dem, was Sie hier erzählen, machen Sie die
Glaubwürdigkeit Ihrer eigenen politischen Wende zunichte.
Ich bin übrigens nicht nur Mitglied bei EUROSOLAR, sondern ich besitze sogar Aktien des Bürgerunternehmens solarcomplex AG - für 2 000 Euro.
({2})
- Kollegin Homburger auch. - Wir setzen uns also für
die richtige Sache ein und sorgen dafür, dass die Energiewende vor Ort vorankommt und dass sich die Betreiber der Anlagen zur Erzeugung von erneuerbaren Energien gegen die Atomkonzerne in der Fläche durchsetzen
können. Ich sage Ihnen: Für diese Sache kämpfe ich sehr
gerne.
Gerade im Andenken an den verstorbenen Hermann
Scheer - es ist noch nicht so lange her; ich weiß, dass Sie
auch ihn in diesem Plenum hier immer als Lobbyisten
beschimpft haben ({3})
sage ich Ihnen: Ohne Hermann Scheer und ohne den
Mut der Parlamentarier von Rot-Grün wären wir bei den
Erneuerbaren bis heute dort stehen geblieben, wo Sie
noch immer hinwollen.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich halte es allmählich für nahezu unerträglich,
wie diese Debatte mit persönlichen, diffamierenden Vorwürfen geführt wird.
({0})
Das ist dem Ernst der Situation nicht angemessen.
Die Bundesregierung hat auf das entsetzliche Unglück in Japan schnell und angemessen reagiert. Die sie
tragenden Parteien haben das unterstützt, indem sie das
Moratorium in Gang gesetzt haben.
({1})
- Das haben alle getan, die der Mehrheit angehören. Wir
haben das Moratorium einstimmig ausgesprochen. Daran gibt es nichts zu diskutieren.
({2})
Was bedeutet denn ein Moratorium? Das heißt nichts
anderes, als dass man die Zeit nutzt, um die Maßstäbe zu
überprüfen, nach denen wir bisher gehandelt haben. Es
ist genau richtig, das jetzt zu tun.
Der bekannte englische Ökonom John Maynard
Keynes hat einmal gesagt: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung“. Genau darum geht es
jetzt. Wir müssen überprüfen, ob sich bei den Kernkraftwerken in Deutschland die Fakten geändert haben.
({3})
Wenn das der Fall sein sollte, dann muss entsprechend
gehandelt werden. Das warten wir in Ruhe ab. Nach einem Vierteljahr werden die Ergebnisse vorgelegt. Dann
können wir darüber reden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Koczy?
Ja, bitte schön.
Danke. - Herr Dr. Solms, Sie haben das Wort Moratorium gebraucht. Ich frage Sie, warum dieses Moratorium
sozusagen nur bis zum nationalen Tellerrand reicht. Angesichts der Tatsache, dass wir mit deutschem Geld eine
Hermesbürgschaft für ein Atomkraftwerk in Brasilien
mit veralteter Technologie aus den 70er-Jahren gewähren, von dem bekannt ist, dass es auf labilem Untergrund
steht und dass eine unabhängige Kontrolle nicht gewährt
ist, in dem Wissen, dass Brasilien das Zusatzprotokoll
zum Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat,
frage ich Sie: Warum stehen Sie weiterhin dazu, die Hermesbürgschaft für Angra 3 nicht zurückzuziehen in Anbetracht dessen, dass sich die Lage auch national verändert hat? Warum sind Sie nicht bereit, das Moratorium
auch international durchzusetzen und die Grundsatzzusage für die Hermesbürgschaft für Angra 3 zurückzuziehen?
({0})
Ich möchte in den vier Minuten meiner Redezeit die
Debatte nicht auf andere Themen lenken. Auch diese
Fragen müssen geprüft werden.
({0})
Jetzt geht es in Deutschland um die Sicherheitskriterien
für die deutschen Kernkraftwerke. Diese werden überprüft, und danach wird gehandelt.
({1})
Im Übrigen dreht sich der ganze Streit nur um die
Frage, wie wir aus der Kernenergie herauskommen.
({2})
Denn alle Parteien fordern übereinstimmend, dass die
Kernkraftwerke auf Dauer abgeschaltet werden. Wir alle
definieren die Kernenergie als Brückentechnologie. Ich
will versuchen, die Emotionen ein bisschen zu dämpfen.
Der Streit dreht sich doch nur darum, wie schnell und
unter welchen Voraussetzungen dies geschehen kann
und durch welche Energieformen die Kernenergie ersetzt werden kann. Nur darum geht der Streit. Es geht
nicht um die Frage „Kernenergie - Ja oder Nein?“. Diese
Entscheidung ist vor 30 oder 40 Jahren gefallen. Die
können Sie heute nicht mehr revidieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich würde jetzt gerne im Zusammenhang sprechen.
Ich habe nur noch anderthalb Minuten Redezeit.
Jetzt geht es darum, welche Voraussetzungen erfüllt
sein müssen. Neben der Sicherheit - es ist klar, dass sie
Vorrang hat - geht es um Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Klimaschutz. Darüber sollten wir
uns einig sein. Alle drei Rahmenbedingungen müssen
erfüllt sein.
Wir können nicht die Kernkraftwerke abschalten und
sie durch den Import von Kernenergie ersetzen. Das ist
ausgeschlossen. Darüber sollten wir uns einig sein.
({0})
Wir können auf Dauer die Kernenergie nicht durch neue
Kohlekraftwerke ersetzen. Das geht aus Klimaschutzgründen nicht. Auch dazu müssen Sie sich bekennen.
({1})
Wenn wir also in das Zeitalter regenerativer Energien
eintreten wollen, dann müssen wir die regenerativen
Energien so schnell wie möglich marktfähig machen.
({2})
Dazu gehört selbstverständlich auch der Ausbau der
Hochspannungsnetze, Herr Fell, die Sie ein bisschen diffamiert haben, indem Sie sagten, das müsse durch die
Verlegung von Erdkabeln erfolgen. Das wird nicht möglich sein.
Jetzt geht es darum, wie wir den Prozess beschleunigen können. Wir stehen nicht im Gegensatz zu Ihnen,
wenn wir die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängern;
({3})
vielmehr geht es uns darum, den Weg zur verstärkten
Nutzung regenerativer Energien so verantwortungsvoll,
vorsorgend und schnell wie möglich einzuschlagen.
Der Herr Kollege Brüderle hat mit den Eckpunkten
eines Netzausbaubeschleunigungsgesetzes einen sehr
guten Vorschlag gemacht. Es lohnt sich, gemeinsam darüber zu reden. Diesbezüglich können wir nämlich
Handlungsbereitschaft zeigen. Wir haben doch schon oft
erlebt, dass große Infrastrukturinvestitionen in Deutschland eine Planungs- und Genehmigungszeit von zehn bis
20 Jahren in Anspruch nehmen.
({4})
Wenn daran nichts geändert wird, werden wir noch auf
lange Zeit Kernenergie brauchen.
({5})
Da brauchen wir eine Handlungsinitiative, und auf diese
sollten wir uns konzentrieren, statt diesen Grundsatzstreit auf Dauer weiterzuführen.
Im Übrigen, Herr Fell, möchte ich in Erinnerung rufen, dass die erste Initiative zur Einspeiseförderung 1990
von Wirtschaftsminister Helmut Haussmann kam,
({6})
und zwar mit dem Stromeinspeisungsgesetz, das zum
1. Januar 1991 in Kraft getreten ist.
({7})
Das haben Sie mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz
fortgesetzt - keine Frage. Aber das Gesetz von Helmut
Haussmann war die Initialzündung, und darauf haben
wir das Copyright.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Frank Schwabe.
Herr Dr. Solms, ich gestehe Ihnen durchaus zu, dass
Angra 3 ein sehr komplexes Thema ist. Ich würde von
der Bundesregierung gerne einmal wissen, was es demnächst sonst noch an Bürgschaften für den Bau von
Kernkraftwerken in anderen Ländern der Welt geben
soll.
Sie haben gerade deutlich gemacht, dass Sie auch aus
der Nutzung der Atomenergie heraus wollen. Ich nehme
an, Sie sind ebenso wie die Koalition - zumindest gibt
sie das vor - gegen den Neubau von Atomkraftwerken.
Ich frage Sie: Ist es vor diesem Hintergrund vernünftig
und konsequent, in Deutschland aus der Nutzung der
Kernenergie heraus zu wollen und den Neubau von
Kernkraftwerken auszuschließen, gleichzeitig aber den
Neubau von Atomkraftwerken in gefährdeten Gebieten
in anderen Ländern durch Exportbürgschaften zu unterstützen?
({0})
Herr Kollege Solms, bitte.
Selbstverständlich müssen diese Maßnahmen nach
den gleichen Sicherheitskriterien, wie sie für Anlagen
hier in Deutschland gelten, überprüft werden. Das alles
steht unter dem gleichen Vorbehalt. Andererseits dürfen
wir uns aber auch nicht als Vormund anderer Länder aufspielen. Diese haben natürlich immer ihre nationale Entscheidungshoheit, die wir nicht infrage stellen dürfen.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden momentan über die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin, über die Glaubwürdigkeit der Energiepolitik der Koalition und über Ihre eigene Glaubwürdigkeit, Herr
Brüderle. Sie haben gesagt, das Zitat, das heute in der
Presse steht, sei nicht von Ihnen. Gleichzeitig wollen Sie
uns nicht mitteilen, was Sie gesagt haben. Das, Herr
Brüderle, ist nicht glaubwürdig. Wir wissen alle, dass
Sie ein Freund der Atomwirtschaft sind und die Wirtschaft beruhigen wollen.
({0})
Alle anderen haben Sie offenbar richtig verstanden.
Die Protokollanten haben es richtig verstanden und die
Wirtschaft auch. Wenn etwa Herr Villis von EnBW sagt,
nach drei Monaten werde ein neues Spiel gespielt, dann
hat er Ihre Aussage absolut richtig verstanden. Stehen
Sie endlich zu dem, was Sie wirklich meinen, und versuchen Sie nicht, die Leute mit unglaubwürdigen Ausreden
zu vergackeiern.
({1})
Herr Fuchs, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir
würden Angst und Panik verbreiten.
({2})
Und was machen Sie? - Das einzige Argument, das Sie
noch haben, ist der Preis.
({3})
Sie präsentieren hier falsche Zahlen und behaupten, der
Preis sei gestiegen. Weil ich wusste, dass Sie das sagen
würde, habe ich eine Liste der Spotmarktpreise der vergangenen Monate mitgebracht.
({4})
Anfang März, also lange vor der furchtbaren Katastrophe in Fukushima, waren die Preise auf dem Spotmarkt höher als jetzt. Hören Sie endlich auf, den Menschen Angst zu machen. Sie schüren Panik mit
Preisargumenten, die nicht stimmen.
({5})
Warum sind Sie in der Defensive? Noch vor einem
halben Jahr hat Angela Merkel von einer Revolution in
der Energieversorgung gesprochen und behauptet, das
Energiekonzept sei wirklich ein Jahrhundertwerk und
umfasse viel mehr als die Laufzeitenverlängerung. - Wir
erinnern uns! Solche Worte gehen nicht verloren. Sie haben gesagt, es gehe Ihnen mit Ihrem Energiekonzept
nicht nur um die Laufzeitenverlängerung. In dieser Woche habe ich gefragt, was aus allen anderen 60 Maßnahmen, die Sie sofort umsetzen wollten, geworden ist. Die
Antwort darauf ist verheerend. Ressortabstimmung? Im
Sommer wird es irgendwelche parlamentarischen Verfahren geben. Sie haben nichts Konkretes gemacht, außer der Laufzeitenverlängerung. Das ist Ihr Energiekonzept.
({6})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Skudelny?
Ja.
Frau Höhn, ist Ihnen die Studie des Öko-Instituts im
Auftrag des WWF bekannt, wonach die Stromgestehungskosten nach dem jetzigen Moratorium um 10 Cent
pro Kilowattstunde steigen sollen? Diese Studie wurde
im Hinblick auf einen schnelleren Ausstieg aus der
Kernenergie durchgeführt. Das Öko-Institut ist nicht verdächtig, ein Lobbyverein zu sein.
Ich habe mir diese Studie sehr genau angeschaut. Wir
hatten gerade ein Gespräch mit Felix Matthes darüber.
({0})
- Stehen bleiben! Sonst wird die Zeit für die Beantwortung Ihrer Frage nicht auf meine Redezeit angerechnet.
Wie gesagt, wir haben uns die Studie genau angeschaut. Felix Matthes geht weiter. Er sagt: Wenn man
sehr schnell aussteigt, noch in diesem Jahr zehn Atomkraftwerke vom Netz nimmt und dann in den nächsten
Jahren die anderen, dann würde der Preis um 10 Prozent
steigen. - Ich sage Ihnen: Die großen Energiekonzerne
haben - weil sie das Monopol innehaben - gerade nach
der Laufzeitenverlängerung die Preise nur in einem Jahr
um 7,5 Prozent erhöht - Sie dagegen haben behauptet,
dass die Preise sinken werden -, obwohl die Kosten gesunken sind. Das ist Ihre Politik: Laufzeitenverlängerung und höhere Preise! Das ist das Ergebnis der Politik
von Schwarz-Gelb.
({1})
- Genau.
({2})
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Danke schön. - Nun zur Sicherheit. Sie behaupten,
dass es nur Ihnen um Sicherheit geht. Herr Brüderle hat
gerade gesagt: Sicherheit geht vor. - Angela Merkel hat
gesagt: Sicherheit steht über allem; im Zweifel für Sicherheit, darauf können sich die Menschen verlassen. Ich will deutlich machen, was Angela Merkel selbst, als
sie von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin war, in
punkto Sicherheit gemacht hat. Wer war damals für die
Sicherheit der Atomkraftwerke zuständig? Das war der
Abteilungsleiter Hennenhöfer. Was hat Herr Hennenhöfer
in der Zeit, als Angela Merkel Umweltministerin war,
gemacht? Ich stelle nur einen Punkt von den vielen Verwerfungen, für die er verantwortlich ist, und der Lobbyarbeit, die er für die Atomkraft geleistet hat, heraus.
Er hat damals gegen den massiven Widerstand der grünen Umweltministerin in Sachsen-Anhalt die Verstürzung von Atommüllfässern in Morsleben umgesetzt.
Alle erinnern sich sicherlich noch an die Bilder, wie der
Bagger die Atommüllfässer einfach hinunterkippt. Alles
ohne jegliche Sorgfalt! Das hat Herr Hennenhöfer durchgesetzt. Die Lagerung von Atommüll der Kraftwerksbetreiber in Morsleben war nicht rechtens. Die Sicherheit
von Herrn Hennenhöfer und dieser Kanzlerin ist nichts
anderes als Unsicherheit. Nun muss der Staat für Morsleben über 2 Milliarden Euro aufbringen, um die Unsicherheit von Herrn Hennenhöfer zu revidieren. Das ist
die Sicherheit dieser Kanzlerin!
({0})
Den grün sprechenden Röttgen sehe ich überhaupt
nicht. Er taucht in der Debatte nicht auf. Grün sprechen,
schwarz-gelb handeln! Er hat den Atomsicherheitsexperten Renneberg abgesetzt und Herrn Hennenhöfer wieder
eingestellt. Das ist Ihre Politik. Am Ende soll dann die
Reaktor-Sicherheitskommission die Standards festlegen.
({1})
- Herr Pfeiffer, wer ist denn in der Reaktor-Sicherheitskommission und in den Arbeitsgruppen vertreten? Dort
finden wir die Vertreter von Areva, EnBW, Eon und anderen Kraftwerksbetreiber. Die Betreiber sollen über die
Sicherheit ihrer eigenen Kraftwerke bestimmen. So sieht
das Sicherheitskonzept dieser schwarz-gelben Regierung
aus. Das machen wir nicht mit; denn das ist keine Sicherheit für die Bevölkerung.
({2})
Am Ende will ich noch etwas zu dem Vorwurf sagen,
Grüne seien immer gegen den Netzausbau.
({3})
Das ist der letzte Vorwurf, der Ihnen noch geblieben ist.
Schauen wir uns einmal die Daten der Bundesnetzagentur an! Ich verweise auf den Monitoringbericht 2010. Es
gibt 24 Projekte im vordringlichen Bedarf, wir haben
zehn Projekte, bei denen es Probleme gibt, und wir haben drei Projekte, gegen die es Bürgerproteste gibt. Proteste gegen die Konzepte dieser drei Projekte, gegen die
es Bürgerproteste gibt, kommen nicht nur von den Grünen, sondern auch von allen anderen Parteien. Deshalb
sage ich: Lasst uns doch gemeinsam überlegen, wer
wirklich den Netzausbau verhindert. Das sind nämlich
die Betreiber, die nicht wollen, dass die erneuerbaren
Energien stärker ins Netz einspeisen. Das ist der Punkt.
({4})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja, ich komme zum Ende. - Deshalb schlagen wir
Grüne einen Fahrplan vor: Wir wollen in der nächsten
Legislaturperiode raus aus der Nutzung der Atomkraft.
Wir wollen den Ausstieg endgültig machen, wir wollen
Ihnen von CDU und FDP jede Möglichkeit nehmen, den
Ausstieg wieder zurückzunehmen. Wir wollen das mit
Energieeffizienz und mit den erneuerbaren Energien erreichen.
Wir haben einen Antrag vorgelegt - der ist hier mehrfach erwähnt worden -, der die Hermesbürgschaften für
Angra 3 in Brasilien betrifft. Heute können Sie durch Ihr
Stimmverhalten deutlich machen: Es gibt keine Milliarden mehr aus Deutschland für den Bau eines Atomkraftwerks in einem Erdbebengebiet. - Das stellen wir zur
Abstimmung. Ich hoffe, Sie stimmen dem zu.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Franz Obermeier für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wie die
Debatte jetzt geführt wird, hat im Prinzip mit der Überschrift relativ wenig zu tun. Es geht um die zukünftige
Energieversorgung in Deutschland.
({0})
Vor dem Hintergrund der Wahl am kommenden Sonntag
in Baden-Württemberg möchte man keine Chance ungenutzt lassen, um den amtierenden Ministerpräsidenten in
Misskredit zu bringen.
({1})
Deswegen sprach auch der Generalsekretär der SPD von
Baden-Württemberg hier, wenn auch relativ fachunkundig. Aber das spielt keine Rolle.
({2})
Es geht um die Frage: Wie erfüllen wir die klassischen Vorgaben des Energiekonzepts der Bundesregierung so, dass sie mit den ökonomischen Belangen unseres Landes, also mit unseren ureigensten Interessen, in
Einklang gebracht werden können? Heute früh gab es
schon eine Veranstaltung mit Stephan Kohler von der
dena. Er hat uns dringend nahegelegt, dass wir uns dem
Effizienzkriterium, das auch im Energiekonzept der
Bundesregierung eine ganz zentrale Rolle spielt, verstärkt zuwenden.
({3})
Das ist eine Anregung, die wir wirklich ernst nehmen
sollen. Wir sollen natürlich auch die Frage der Potenziale der erneuerbaren Energien intelligent diskutieren.
Es nutzt nämlich nichts, wenn man blindlings die Windenergie ausbaut, aber nicht dafür sorgt, dass das Produkt
Strom von dort weggeleitet wird. Die Schau, die Sie hier
abziehen, soll nur überdecken, dass Sie einen falschen
Schritt in das Zeitalter der erneuerbaren Energien gemacht haben. Sie haben nämlich nichts dafür getan, dass
die Netze in Deutschland so ausgebaut werden, dass der
Strom möglichst rasch zu den Verbrauchern gelangt.
({4})
Wir stehen - damit wende ich mich dem Energiekonzept der Bundesregierung zu - auch vor der technologischen Herausforderung, wie wir die notwendige Energiespeicherkapazität schaffen, um die erneuerbaren
Energien auch dann verfügbar zu haben, wenn wir den
Strom tatsächlich brauchen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage einer
Grünenkollegin, die ich, weil sie so weit weg sitzt, nicht
erkenne?
Das ist Frau Nestle.
Richtig, wunderbar.
Mit Vergnügen, Frau Nestle.
({0})
- Der hat Sie nur in Umrissen gesehen.
Danke, Herr Obermeier. - Sie sprachen gerade davon,
dass wir Grünen noch nie etwas für den Ausbau der
Stromnetze getan hätten. Abgesehen von der Tatsache,
dass wir als einzige Fraktion ein umfassendes Konzept
für den Ausbau der Stromnetze vorgelegt haben, frage
ich Sie: Ist Ihnen bekannt, dass es im Moment zu über
90 Prozent an den Verteilnetzen liegt, wenn erneuerbare
Energien nicht abtransportiert werden können, dass wir
seit vielen Jahren dafür kämpfen, diese Verteilnetze
schnell, bürgerfreundlich und unterirdisch zu bauen, und
zwar zu fast keinen Mehrkosten, und dass insbesondere
die Union seit Jahren dagegen kämpft, diese bürgerfreundliche Lösung umzusetzen, mit der wir schon
längst die Netze hätten, die wir brauchen, und dann fast
nichts mehr abgeregelt würde?
({0})
Frau Nestle, vielleicht sollten wir uns im Wirtschaftsausschuss einmal darüber unterhalten, wo denn die
Widerstände gegen eine unterirdische Verlegung von
110-kV-Leitungen tatsächlich liegen. Aus meinem Wahlkreis ist mir kein einziger Fall bekannt, bei dem die unFranz Obermeier
terirdische Verlegung einer 110-kV-Leitung gescheitert
wäre.
Aber Tatsache ist, Frau Nestle, dass wir in Deutschland bei den Höchstspannungsübertragungsnetzen seit
Jahren die allergrößten Probleme haben. Ich erinnere Sie
an den Fall in Schleswig-Holstein, in dem über zehn
Jahre Prozesse hinsichtlich der Genehmigung und des
Baus einer Höchstspannungsübertragungsleitung geführt
wurden und nach zehn Jahren der Antragsteller aufgegeben hat. Das sind unsere Probleme.
In all den Jahren, in denen wir die Problematik schon
kennen - die dena hat zweifelsfrei festgestellt, dass wir
3 600 Kilometer neue Höchstspannungsübertragungsleitungen brauchen -, sind in Deutschland ganze 19 Kilometer verlegt worden. Das sind unsere Probleme.
Was die 110-kV-Leitungen betrifft, sollten Sie mir
einmal sagen, wo denn Schwierigkeiten bestehen. Konkret gefragt: Wo gibt es Anträge, die nicht genehmigt
wurden? Dann gehen wir der Geschichte gern nach.
Ich war bei der Frage: Wie schaffen wir den Übergang
unter Beachtung des Kriteriums der Versorgungssicherheit? Kolleginnen und Kollegen, da müssen wir schon
zusammenstehen. Wenn es um Genehmigungen geht
- sei es für 110-kV-Leitungen, sei es für Höchstspannungsleitungen -, verlange ich von den Kolleginnen und
Kollegen dieses Hauses, dass sie die Anträge dann auch
vor Ort begleiten mit dem Ziel, dass die Leitungen möglichst umweltverträglich geplant und gebaut werden, sodass wir nicht den Vorwurf bekommen, dass wir im fernen Berlin die Gesetze machen, vor Ort aber mit den
Demonstranten gegen die Leitungen auf die Straße gehen.
({0})
Das geht nicht, Kolleginnen und Kollegen. Sie wissen
ganz genau, warum ich das eindeutig in eine Richtung
sage.
({1})
Jetzt will ich noch ein Wort zu den scharfen Auseinandersetzungen über die Kernenergie und über die
Laufzeitverlängerung im Energiekonzept der Bundesregierung sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, bitte tun Sie nicht so, als wären die Verhältnisse, die in Japan zu der extremen Situation geführt
haben, eins zu eins auf Mitteleuropa und auf Deutschland übertragbar!
({2})
Dem ist nicht so,
({3})
es sei denn, Sie würden erklären, dass Sie bei uns mit einem Tsunami und einer Welle von 13 Meter Höhe rechnen. Nach meinem Sicherheitsbedürfnis und meiner Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit gehe ich nicht
davon aus, dass die Kernkraftwerke in Deutschland von
einem Tsunami bedroht sind.
({4})
Kollege Obermeier, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Menzner?
Der Frau Kollegin Menzner? Bitte schön.
Herr Kollege Obermeier, Sie betonten eben, dass aus
Ihrer Sicht die Verhältnisse von Japan nicht eins zu eins
auf Deutschland zu übertragen sind. Das mag ja richtig
sein, aber die Japaner sehen sich mit einer Situation konfrontiert, mit der sie nicht gerechnet haben. Stellen Sie in
Abrede, dass auch in Deutschland uns heute vielleicht
noch sehr unwahrscheinlich anmutende Ereignisse eintreten könnten, die eine ähnliche Situation provozieren
könnten? Ich denke zum Beispiel an einen Flugzeugabsturz - verschiedene AKW sind in Einfluggebieten -,
einen länger andauernden Stromausfall - das ist sicher
auch nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus möglich -,
der dann möglicherweise Auslöser für ähnliche Probleme ist.
({0})
Liebe Kollegin Menzner, genau mit diesen Themen
möchte ich mich in den restlichen drei Minuten befassen.
({0})
- Bitte, Sie dürfen sich setzen.
Eine Eins-zu-eins-Übertragung der Verhältnisse von
Japan auf Deutschland ist mit Sicherheit nicht zulässig.
Dennoch sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht,
das kerntechnische Regelwerk unter dem Eindruck dessen, was in Japan passiert ist, zu überdenken, zu ergänzen und die Dinge einzuarbeiten, die wir aus der Erfahrung von Japan heraus noch nicht eingearbeitet haben.
Dabei rede ich ganz konkret von folgenden Fragen:
Wie sind unsere Kernkraftwerke gegen Erdbeben gesichert? Wie sieht es mit der Notstromversorgung aus?
Noch konkreter: Wie ist die Notwasserversorgung in
dem speziellen Fall in unseren Kernkraftwerken berechnet?
Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen heute nicht
sagen, welches Ergebnis diese Untersuchung zeitigen
wird. Man wird sich auch über die Frage unterhalten
müssen, mit welchen Erdbebenwerten auf der Richterskala wir in Kontinentaleuropa und mit welchem entsprechenden Sicherheitszuschlag wir zu rechnen haben.
Diese Fragen werden wir in den nächsten drei Monaten ganz explizit und in aller Ruhe und Sachlichkeit erörtern. Dann wird es ein Ergebnis geben, und dann wird
entschieden, welche kerntechnischen Anlagen den Sicherheitsanforderungen entsprechen und welche nicht.
Deswegen ist das Philosophieren über die Frage, was ein
dreimonatiges Moratorium bedeutet, für meine Begriffe
völlig fehl am Platz.
Es ist klug, in diesem Zusammenhang nicht panikhaft
und hysterisch zu agieren, sondern die Dinge sachlich
und richtig zu analysieren und dann vernünftig zu entscheiden.
({1})
Frau Höhn, mit den Worten „panikhaft“ und „hysterisch“ habe ich auch Sie gemeint. Das ist mir eingefallen, als Sie gesprochen haben. Ich will Ihnen sagen:
Wenn man in drei Monaten nicht fertig wird, lässt sich
das Moratorium ohne Weiteres verlängern. Es könnte ja
sein, dass wir aus irgendwelchen Gründen in drei Monaten die notwendigen Erkenntnisse aus Japan nicht präsent haben.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir im Detail
relativ wenig wissen über die Ursachen dafür, was gerade in Japan passiert ist. Es müsste uns aber schon interessieren, was konkret die Ursache war. Vor allem
müsste uns der sicherheitstechnische Unterschied zwischen den jetzt kaputten Anlagen in Japan und unseren
Anlagen interessieren. Das möchte ich auch in Form einer Synopse dargestellt haben. Das Moratorium lässt
sich also verlängern.
Frau Höhn, wollen Sie ernsthaft bestreiten, dass das,
was jetzt schon läuft und auf uns zukommt, eine Preissteigerung für den Stromverbraucher zur Folge hat?
Wollen Sie das bestreiten? Nein. Das dürfen Sie nicht
bestreiten.
Eines ist doch klar: Wenn das Angebot verknappt
wird, dann steigt der Preis für die Nachfrager. Das ist
eine Regel, die auch Sie kennen sollten.
({2})
Wir legen den Schwerpunkt auf die Sicherheit der Kernkraftwerke, weil wir die Ängste unserer Bürgerschaft
ernst nehmen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Kelber für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Plauderrunden deutscher Wirtschaftsverbände werden immer mehr zum deutschen WikiLeaks
der Energiepolitik. Im Spätherbst plauderte dort ein
RWE-Vorstand aus, dass es einen Geheimvertrag zwischen der Bundesregierung und den Atomkonzernen
gibt, der erst mit deutlicher Verspätung der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
({0})
Jetzt lernen wir, was es, wie der Bundeswirtschaftsminister am 14. März dort ehrlich sagte, mit dem sogenannten Moratorium auf sich hat. Natürlich ist das Protokoll nicht fehlerhaft. Ich glaube, die Mehrheit der
Bevölkerung ist der festen Überzeugung, dass dieses
Protokoll der Wahrheit entspricht.
So schön es ist, dass die Wahrheit immer ans Licht
kommt, Herr Pfeiffer, so groß ist das Misstrauen, das
durch solche Meldungen, durch solches Verhalten in der
Bevölkerung gegenüber der Politik entsteht. Der Deutsche Bundestag könnte aber heute wieder Vertrauen zurückgewinnen und der klaren Mehrheitsposition der
deutschen Bevölkerung, die ja zu drei Vierteln will, dass
die Atomkraftwerke zügig abgeschaltet werden, zum
Durchbruch verhelfen. Um das zu ermöglichen, legen
wir heute den Entwurf eines Abschaltgesetzes zur Abstimmung vor. Um das zu ermöglichen, legen wir ein
Programm für eine Energiewende vor. Darüber können
Sie heute abstimmen, ganz konkret und ohne jegliche
Ausflüchte.
({1})
In dem Abschaltgesetz geht es um die Rücknahme der
Laufzeitverlängerung und die sofortige und dauerhafte
Abschaltung der ältesten sieben Atommeiler und des
Pannenreaktors in Krümmel. Zur Ehrlichkeit gehört
auch dazu, zu sagen, was bei der Anhörung zur Laufzeitverlängerung zur Sprache kam. Ich schaue gerade Herrn
Kauch, den Sprecher der FDP, der ja nach mir redet, und
Frau Dött von der CDU/CSU an, die ja beide dabei waren. Bei dieser Anhörung war klar, dass Sie ohne jegliche Sicherheitsüberprüfung die Laufzeitverlängerung
von acht Jahren für die ältesten Atomkraftwerke durchsetzen werden. In dieser Anhörung, die Sie ja zeitlich begrenzt haben, indem Sie die Debatte mit geschäftsordnungswidrigen Tricks beendet haben, war auch klar, dass
die Notstromversorgung in Forsmark und in Krümmel
nicht durch einen Tsunami, sondern durch andere Vorkommnisse außer Kraft gesetzt wurde. Dort war klar,
dass laut einem von der Gesellschaft für Anlagen- und
Reaktorsicherheit vorgelegten Gutachten verschiedene
deutsche Atomkraftwerke nicht mehr auf die modernsten
Sicherheitsstandards hochzurüsten sind. In der Sachverständigenanhörung war auch klar, dass bei vielen Kraftwerken eine Redundanz der Notstromversorgung nicht
gegeben ist, kein Schutz vor terroristischen Angriffen
besteht, Notfallwarten fehlen und bei allen älteren Reaktoren die Abklingbecken, die jetzt in Japan ein großes
Problem darstellen, außerhalb des Sicherheitsbereichs
dieser Kraftwerke liegen.
Zwischen Bundesminister Röttgen, der am Anfang
nicht da war, dann eine kurze Stippvisite unternommen
hat, wieder gegangen ist und jetzt wieder hereingekommen ist, um seine Sachen zu packen,
({2})
und der Sicherheit in Atommeilern verhält es sich ja wie
bei Und täglich grüßt das Murmeltier. Jetzt hat er an die
Presse ein Papier gegeben, in dem den Betreibern von
Atomkraftwerken stahlharte Auflagen gemacht werden.
Im Spätherbst gab es schon einmal ein Papier, das die
Kosten für Nachrüstungen der bestehenden Atomkraftwerke auf 50 Milliarden Euro beziffert hat.
Was ist herausgekommen? 500 Millionen Euro zahlt
die Industrie pro Reaktor, für den Rest sollen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Notfall aufkommen.
Herausgekommen ist auch, dass es keine Liste mit
den erforderlichen Nachrüstungen gibt und dass teilweise bis zu zehn Jahre, also über die Restlaufzeit hinaus, notwendige Nachrüstungen aufgeschoben werden
können.
Herausgekommen ist auch eine Verwässerung der
Vorschriften im Atomgesetz, die Wegnahme des Klagerechts für Anwohner und der Stopp des aktualisierten
über Tausend Seiten umfassenden Sicherheitskonzepts,
des sogenannten kerntechnischen Regelwerks, indem es
vom Minister und dem Atomlobbyisten, der vom Minister als oberster Atomaufseher eingestellt wurde, außer
Kraft gesetzt wurde.
Einen solchen Unterschied zwischen Reden und Handeln nennt man, mit Verlaub, Frau Präsidentin, politische
Hochstapelei.
({3})
In einem zweiten Antrag haben wir in 40 Punkten
aufgelistet, was jetzt getan werden muss, um die Energiewende wieder einzuleiten. Es geht um Netzausbau,
um Energiesparen, um die Ermöglichung von Investitionen durch Stadtwerke bis hin zur Gebäudedämmung.
Wir erinnern uns: Sie haben in den letzten 16 Monaten nicht nur die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert, Sie haben auch die Markteinführung von Minikraftwerken gestoppt, Fernwärme höher besteuert, das
Marktanreizprogramm für Erneuerbare zusammengestrichen, die Mittel für das Gebäudedämmungsprogramm,
das Sie, Herr Obermeier, gerade als eine wichtige Maßnahme bezeichnet haben, auf die Sie sich konzentrieren
wollen, um 60 Prozent gekürzt und waren auch völlig
untätig beim Netzausbau. So sieht die Realität der letzten 16 Monate aus.
({4})
Deutschland braucht keine Regierung, die Geheimverträge in Kungelrunden abschließt, Moratorien ausruft
und Kommissionen einberuft, nur um über Landtagswahlen hinwegzukommen. Deutschland braucht keine
Regierung, die erneuerbare Energien und Energieeffizienz blockiert. Deutschland braucht ein selbstbewusstes
Parlament, das seine Aufgabe wahrnimmt. Das heißt:
Zustimmung zum Abschaltgesetz und Rückkehr zur
Energiewende.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Kauch hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
mich gar nicht mit den Halbwahrheiten und Unwahrheiten beschäftigen, die Herr Kelber hier verbreitet hat, weil
ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger es inzwischen leid sind, dass die Abgeordneten sich in den Debatten der letzten zwei Wochen hier nur wechselseitig
vorwerfen, was sie denn versäumt, gemacht oder vermeintlich nicht gemacht haben. Wir sollten uns jetzt darum kümmern, wie wir mit der Situation umgehen, vor
der wir stehen.
Klar ist für diese Koalition: Wir wollen den Weg in
das Zeitalter der Erneuerbaren gehen. Die Kernkraft war
und ist nur Brückentechnologie.
Diese Debatte können wir aber nicht führen, ohne einen Blick auf den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit zu richten. Es kann nicht sein, dass wir diese
Debatte führen, ohne auch nur einen Moment darüber
nachzudenken, welche Auswirkungen die Anträge, die
die Opposition hier vorlegt, für den Klimaschutz haben.
Im letzten Jahr haben Sie gesagt, Klimaschutz habe Priorität. Jetzt ist Klimaschutz für Sie völlig egal. Das ist
nicht redlich, meine Damen und Herren.
({0})
Das Hochfahren der Kohle- und Gaskraftwerke verschärft die Problematik, unsere Klimaschutzziele zu erreichen.
Dennoch gilt: Fukushima hat die Lage geändert. Sicherheit muss neu gedacht werden. Gleiche Risiken
müssen anders bewertet werden als zuvor.
Deswegen ist es die gemeinsame Aufgabe aller, die
nicht den Bürgerinnen und Bürger vorspielen, man
könne morgen die Kraftwerke abschalten, die Sicherheitsreserven unserer Kraftwerke zu erhöhen, schärfere
Sicherheitsanforderungen nach dem Moratorium zu ver11302
abschieden und deutlich zu machen, dass die Kraftwerke, die nicht nachgerüstet werden können oder bei
denen das wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, abgeschaltet
werden. Dies prüfen wir während des Moratoriums. Das
ist glaubwürdige Politik, meine Damen und Herren.
({1})
Wenn wir davon ausgehen, dass ein Teil dieser Reaktoren - ob es nun diese sind oder andere, die momentan
weiterlaufen - nicht den Sicherheitsanforderungen, die
wir neu definieren werden, entspricht, dann müssen wir
uns heute darauf vorbereiten, wie wir schneller in das
Zeitalter der erneuerbaren Energien kommen und wie
wir gegebenenfalls ein befristetes Hochfahren von fossilen Kraftwerken an anderer Stelle ausgleichen können.
({2})
Ganz klar ist, dass wir bei den erneuerbaren Energien
nicht allein ein Mengenproblem haben. Selbst wenn wir
so große Anreize setzten, dass die Kapazitäten von erneuerbaren Energien hochgefahren würden, kämen sie
momentan bei diesem Netz nicht zum Verbraucher und
wären in diesem Netz nicht stabil anbindbar.
Deshalb müssen wir den Engpass für die erneuerbaren Energien beseitigen, indem wir Netze ausbauen und
Speicher fördern. Das ist das Gebot der Stunde.
({3})
Meine Damen und Herren, beim Netzausbau geht es
auch um die Planungszeiten. Es kann doch nicht sein,
dass es bei Stromtrassen teilweise Genehmigungszeiten
von acht Jahren gibt. Ich will gar nicht darüber diskutieren, wie viel davon auf Protest zurückgeht, wie viel auf
zu wenige Beamte in den Ländern und wie viel auf den
rechtlichen Rahmen, den der Bund ändern kann. Eines
ist aber klar: Genehmigungszeiten von acht Jahren gehen
nicht. An dieser Stelle müssen Bund und Länder zusammenarbeiten. Genau diese Frage werden wir im nächsten
Monat mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer
besprechen müssen.
({4})
Achten Sie bitte auf die Zeit, Kollege Kauch.
Meine Damen und Herren, Folgendes ist ebenfalls
klar - ich sage das auch sehr deutlich in Richtung der
Bundesregierung; auch der Bundesfinanzminister muss
erkennen, dass wir eine veränderte Lage haben -: Wenn
wir mehr Gas im Stromsektor brauchen, müssen wir bei
der Gebäudesanierung vorankommen, damit weniger
Gas für Heizzwecke verbraucht wird.
({0})
Das bedeutet, dass wir das Gebäudesanierungsprogramm in einem größeren Umfang finanzieren müssen,
als es bisher vorgesehen ist. Auch für den Bundeshaushalt ist das Moratorium nicht ohne Auswirkungen,
meine Damen und Herren.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Heil das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle und Herr Kauch, die Glaubwürdigkeit ist nur theoretisch sehr einfach wiederherzustellen,
wenn man sie einmal verloren hat. Es geht um das alte
Motto: Man muss sagen, was man tut, und tun, was man
sagt. Wenn man Glaubwürdigkeit verspielt hat - das haben Sie -, ist das zu beachten, was Ihnen die frühere Bischöfin Margot Käßmann geraten hat. Sie hat in Bezug
auf Ihren Zickzackkurs in der Atompolitik gesagt, es
würde ihr persönlich - ich glaube, auch vielen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land - Respekt abnötigen
und zu mehr Glaubwürdigkeit führen, wenn Sie wenigstens einmal den Mut hätten, zu sagen, dass Sie im Herbst
letzten Jahres falsche Entscheidungen getroffen haben,
die jetzt zu korrigieren sind. Diesen Mut haben Sie nicht.
Sie eiern herum.
({0})
- Können Sie das bitte wiederholen?
({1})
- „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“,
hat einmal ein deutscher Politiker gesagt.
Herr Brüderle, meine Damen und Herren von der Koalition, ich sage in aller Deutlichkeit, dass das, was die
Süddeutsche Zeitung heute berichtet hat, der Wahrheit
entspricht: Sie, Herr Brüderle, haben an dem Tag, an
dem Frau Merkel das Moratorium verkündet hat, das
Ganze in internen Runden gegenüber der deutschen
Wirtschaft als irrationales Wahlkampfmanöver bezeichnet. Sie können hier nicht so tun, als sei das ein Protokollfehler; das glaubt Ihnen kein Mensch.
Die Debatte heute hat gezeigt - im Unterschied zu
den Demutsschauspielereien der letzten Woche, die Sie
an den Tag gelegt haben -, dass Sie schon jetzt versuchen - die Rede von Herrn Obermeier war ein Beleg dafür -, die Ereignisse in Japan zu relativieren. Sie beachten nicht, dass es nicht nur die Vorfälle in Japan gab,
sondern auch die Vorfälle in Tschernobyl, 1979 auf
Three Mile Island bei Harrisburg, später in Forsmark
2007. Die Vorfälle ereigneten sich also auch in hochindustrialisierten Hightechländern wie Schweden.
Hubertus Heil ({2})
Meine Damen und Herren, Tatsache ist: Sie schaffen
es nicht, den Menschen in Deutschland ein X für ein U
vorzumachen. Sie können noch so sehr versuchen, sich
herauszureden: Sie waren es, die die Restlaufzeiten auch
alter, unsicherer Schrottreaktoren um acht Jahre verlängern wollten. Sie sollten einmal die Traute haben, hier
im Deutschen Bundestag zu bekennen: Ja, wir haben uns
geirrt. Dann kann man hier weiterreden.
({3})
Ich will eines zur Legendenbildung bei der CDU/
CSU sagen. Sie haben im Herbst letzten Jahres das außer
Kraft gesetzt, was die Bundesminister Jürgen Trittin und
Sigmar Gabriel auf den Weg gebracht haben: die Überarbeitung des kerntechnischen Regelwerks. Unser Ziel war
es, nicht nur den geordneten Ausstieg zu organisieren,
sondern auch die Sicherheitsanforderungen für die noch
im Netz befindlichen Reaktoren auf den Stand von Wissenschaft und Technik der Jetztzeit zu bringen und sie
nicht auf dem Stand der 60er- und frühen 70er-Jahre zu
belassen.
({4})
Es waren Bundesminister Röttgen und sein Abteilungsleiter, die dafür gesorgt haben, dass dieser Weg ausgesetzt wurde. Sie könnten das kerntechnische Regelwerk
sofort wieder in Kraft setzen, wenn Sie denn wollten.
({5})
Herr Brüderle, ich will mich mit den wirtschaftlichen
Auswirkungen Ihrer komplett gescheiterten Energiepolitik beschäftigen. Für uns alle müsste eigentlich das Ziel
sein, eine sichere, saubere, tragfähige und bezahlbare
Energieversorgung für unser Land, für den Industriestandort Deutschland, zu sichern. Das, was Sie im
Herbst mit der Laufzeitverlängerung, der Verlängerung
der Restlaufzeiten alter, abgeschriebener Atommeiler,
gemacht haben, hat nicht erst nach der Katastrophe in Japan zu Folgendem geführt: zu Investitionsstillstand und
Attentismus. Es ist Tatsache, dass Sie den Großkonflikt
wieder aufgerissen haben, der die Republik 30 oder
40 Jahre lang gespalten hat und den Rot-Grün befriedet
hat. Das hat dazu geführt, dass keiner mehr so richtig
wusste, wo es langgeht.
Die EVU, denen zuliebe Sie das gemacht haben,
wussten zwar, dass ihr Oligopol verfestigt wird, haben
aber kurzfristig den Fehler gemacht, die Dollarzeichen
in den Augen wichtiger zu nehmen als die langfristige
Entwicklung. Aber auch diese Unternehmen mussten damit rechnen, dass es Klagen vonseiten des Bundesrates
und der Fraktionen dieses Hauses geben würde, mit dem
Ergebnis, dass keiner genau weiß, was läuft. Keiner
weiß, wie 2013 die Bundestagswahlen ausgehen.
Herr Kollege Heil, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Otto?
Wenn ich meinen Gedanken noch beenden darf, sehr
wohl, Herr Otto.
Das wird Ihnen nicht gelingen. Herr Otto wird gleich
Ihre Redezeit verlängern, die demnächst abläuft.
Dann dringend Herr Otto, bitte schön.
({0})
Ich verlängere gern Ihre Redezeit, Herr Kollege Heil.
Helfen Sie mir bei Ihrer Argumentation, die lautet,
die Ereignisse in Japan hätten erwiesen, dass das Energiekonzept dieser Bundesregierung falsch sei und dass
wir allein Fehler gemacht hätten. Das ist das Mantra Ihrer Rede.
Erklären Sie mir bitte Folgendes: Wenn wir die Laufzeitverlängerung nicht beschlossen hätten, wären dann
die sieben Meiler, die wir jetzt abgeschaltet haben, im
Rahmen des Konzepts, das Sie vorher verabschiedet hatten, vom Netz, ja oder nein?
Erklären Sie mir bitte vor diesem Hintergrund: Was
hat die Katastrophe in Japan, die wir sehr ernst nehmen,
mit der Laufzeitverlängerung, die wir im Herbst beschlossen haben, zu tun? Entweder erkennen wir, dass
alle Kernkraftwerke unsicher sind. Dann müssen sie unabhängig vom Zeitpunkt, zu dem sie errichtet worden
sind, vom Netz genommen werden. Wenn aber die Meiler sicher sind und die Sicherheitsüberprüfung tatsächlich keine neuen Erkenntnisse liefert, frage ich Sie: Wo
ist der Zusammenhang zwischen Japan und der Verlängerung der Laufzeiten?
({0})
- Das ist eine konkrete Frage, die auch beantwortet wird.
Damit kein Missverständnis aufkommt, Herr Kollege
Heil, sage ich: Japan gibt uns Anlass zum Nachdenken.
({1})
Aber das hat doch nichts mit der Laufzeitverlängerung
zu tun, verdammt noch einmal.
({2})
Wenn unsere Kernkraftwerke aufgrund neuer Erkenntnisse unsicher sind, sind sie abzuschalten. Das hat
nichts mit der Frage des Energiekonzeptes zu tun.
({3})
Diese Logik erschließt sich mir nicht. Vielleicht können
Sie mir dabei etwas nachhelfen.
Geschätzter Kollege Otto, ich bedanke mich ganz
herzlich für diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheit gibt, Aufklärung in Ihren Reihen zu leisten und mit
einigen Mythen aufzuräumen, die bewusst verbreitet
werden.
Erstens. Die Laufzeitverlängerung ist natürlich eine
Risikoverlängerung erster Güte; das ist gar keine Frage.
Sie haben die Laufzeiten der alten Reaktoren, die Sie in
Ihrem Moratorium nun für drei Monate vom Netz nehmen wollen, um sage und schreibe acht Jahre pro Reaktor verlängert. Sie haben also Druckwasserreaktoren der
alten Baulinien aus den 70er-Jahren verlängert.
Gleichzeitig hat Ihr Bundesumweltminister, der eigentlich auch für Reaktorsicherheit zuständig ist,
({0})
auf Druck der Atomlobbyisten im Zusammenhang mit
der Laufzeitverlängerung das kerntechnische Regelwerk, das die Standards für die Sicherheit von Atomkraftwerken und für ihren Betrieb festlegt, abgelehnt und
damit die Regelung der Betriebsgenehmigung vom
Tisch gewischt.
Sie haben nichts für die Sicherheit getan, sondern das
waren Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel. Sie haben sie
mit diesem Atomkonsens vom Tisch gewischt. Deshalb
müssen Sie sich Folgendes zurechnen lassen: Wir hätten
die sieben Altmeiler und das Kraftwerk Krümmel vom
Netz genommen. Heute sehen Sie, dass das richtig und
notwendig ist.
Herr Staatssekretär, Sie müssen die Frage beantworten, ob Sie das eigentlich dauerhaft oder nur für drei Monate machen wollen. Das könnten Sie der deutschen Öffentlichkeit sagen.
({1})
Herr Otto, Sie müssen zweitens zur Kenntnis nehmen:
Wir haben mit dem Energiekonsens den geordneten Ausstieg aus der Atomkraft organisiert, und wir haben die
Regeln für den Betrieb von Kernkraftwerken verschärft.
Sie haben die Regeln vom Tisch genommen, die
schon für Probebetrieb, Aufsicht und Genehmigung galten. Sie haben gleichzeitig - Sie müssen begründen, warum Sie das getan haben - die Restlaufzeiten für alte, abgeschriebene Atommeiler verlängert.
Sie können sich dabei noch so sehr herausreden, aber
die deutsche Öffentlichkeit wird Ihnen diesen Eiertanz
nicht abnehmen. Deshalb biete ich Ihnen Folgendes an
- wir kennen uns aus anderer Zusammenarbeit, Herr
Otto, und schätzen uns durchaus -: Für dieses Land ist
ein Energiekonsens notwendig, der über mehrere Legislaturperioden und Regierungswechsel halten sollte. Das
bieten wir Ihnen mit den heutigen Anträgen unter zwei
Prämissen an.
Erstens. Wir müssen zum geordneten Ausstieg aus
der Atomkraft auf klarer Rechtsgrundlage und nicht mit
windiger §-19-Begründung
({2})
zurückfinden. Deshalb: zurück zum rot-grünen Atomkonsens!
Mit Blick auf den Atomkonsens müssen wir sagen,
wo wir hinwollen, nicht nur, wo wir herausmüssen. Dabei geht es um Energieeffizienz, Energiesparen, moderne
Energieproduktion und erneuerbare Energien.
Herr Otto, die Vertreter Ihrer Fraktion und Sie als
Staatssekretär versuchen immer, die Grünen und andere
so ein bisschen in die Ecke zu stellen - Herr Brüderle hat
das auch mit der SPD versucht, ohne dass er dafür einen
Nachweis erbringen konnte -, indem Sie sagen, sie seien
gegen Pumpspeicherkraftwerke und Netzausbau. Herr
Brüderle, ich empfehle Ihnen: Reden Sie einmal mit dem
Landtagskandidaten der FDP aus dem Hotzenwald in
Baden-Württemberg, der auch gegen dieses Pumpspeicherkraftwerk ist. Reden Sie mit CDU- und FDP-Kommunalpolitikern, die gegen den Netzausbau sind. So billig will ich es mir gar nicht machen. Aber ich verstehe
eines nicht: Warum können Sie nicht begreifen, dass die
Akzeptanz des Projektes, das wir gemeinsam wollen - es
geht um den Ausbau von Hochspannungsleitungen und
Verteilernetzen -, steigen würde, wenn die Menschen die
Sicherheit hätten, dass das zum geordneten Ausstieg aus
der Atomkraft führt? Dann hätten auch die Befürworter
des Ausbaus bessere Argumente. Dass Sie diesen Zusammenhang nicht erkennen, halte ich für kurzsichtig.
({3})
Herr Otto, ich gebe Ihnen noch ein Argument mit auf
den Weg - Sie sind wie ich Wirtschaftspolitiker; in einzelnen Bereichen sind wir unterschiedlicher Auffassung -:
Wie Sie diese Planungsunsicherheit hinsichtlich der notwendigen Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik
und erneuerbare Energien herbeiführen konnten, das
werden Sie sich anrechnen lassen müssen. Ich sage es
noch einmal: Kehren Sie zurück auf den Weg der Vernunft! Nichts Halbgares und keine Volten schlagen vor
Landtagswahlen! Wir brauchen mehr Glaubwürdigkeit
und einen geordneten Ausstieg aus der Atomkraft. Wir
brauchen ein neues Energiekonzept, das Investitionen in
moderne Kraftwerkstechnik und erneuerbare Energien
vorsieht. Das wäre Wirtschaftspolitik aus einem Guss.
Das wäre etwas anderes als der Dilettantismus und die
Klientelpolitik, die Sie hier an den Tag gelegt haben,
Herr Otto. Sie können sich wieder setzen.
({4})
- Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.
({5})
Hubertus Heil ({6})
An dieser Stelle geht es um die Sache, lieber Herr Kollege. Das, was passiert ist, ist viel zu ernst, als dass Sie
das hier einfach so abtun könnten. 68 Prozent der Menschen in Deutschland würden keinen Pfifferling darauf
setzen, dass Sie es mit diesem ominösen Moratorium
ernst meinen.
Wegen der Rechtsgrundlage sollten Sie einmal in das
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
schauen. Den Artikel „Par ordre du mutti“,
({7})
per Anweisung der Bundeskanzlerin, finden Sie dort
nicht. Die Energieversorgungsunternehmen bereiten die
Klagen schon vor, die sie nach der Landtagswahl gegen
das einbringen werden, was Sie jetzt rechtswidrig machen. Deshalb sage ich: Schaffen Sie eine klare Rechtsgrundlage für den geordneten Ausstieg. Wir legen heute
den Entwurf eines Ausstiegsgesetzes vor. Helfen Sie mit,
damit wir in Deutschland die modernste Energieversorgung bekommen, mit erneuerbaren Energien, mit effizienten Kraftwerken und mit Energiesparen.
Herr Kollege Heil.
Sauber, sicher und bezahlbar - dafür stehen wir.
Chaos ist Ihre Sache.
Herzlichen Dank.
({0})
Die Kollegin Marie-Luise Dött hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im
Lichte der schlimmen Ereignisse in Japan führen wir
eine sehr intensive Diskussion über die Zukunft der
Energieversorgung in Deutschland; das ist richtig. Die
Ereignisse in Japan lassen ein Weiter-so nicht zu.
({0})
Aber was passiert jetzt in Deutschland? Wir erleben
eine hemmungslose Instrumentalisierung der Ereignisse
in Japan durch die Opposition für die Durchsetzung ihrer
ideologiegetriebenen Energiepolitik.
({1})
Wir erleben eine bewusste Verunsicherung der Bürger
unseres Landes, um alte Feindbilder und überholte Politikkonzepte von Rot-Grün zu neuem Leben zu erwecken.
({2})
Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist
nicht akzeptabel.
({3})
Es besteht keine Gefahr für die Bürger in unserem Land.
Unsere Kernkraftwerke sind sicher.
({4})
Ihre Methode - gute Kernkraftwerke unter Rot-Grün,
schlechte unter Schwarz-Gelb; gute Castortransporte unter Rot-Grün, schlechte unter Schwarz-Gelb - ist billig
und erzeugt bei den Bürgern nur Kopfschütteln.
({5})
Kommen Sie den Bürgern jetzt doch nicht mit dem
Spruch, dass Sie alles schon immer gewusst haben. Sie
haben in Ihrer Regierungszeit kein Kraftwerk wegen Sicherheitsbedenken abgeschaltet.
({6})
Wären die Kraftwerke nicht sicher gewesen, wären Sie
verpflichtet gewesen, die Anlagen abzuschalten.
({7})
Sie haben es nicht getan. Sie haben das Gegenteil gemacht: Sie haben Ihren Ausstiegsbeschluss damals dadurch erkauft, dass Sie auf zusätzliche Investitionen in
die Sicherheit der Kraftwerke schriftlich verzichtet haben.
({8})
Sie haben geredet, aber nicht gehandelt. So sieht rotgrüne Sicherheitskultur aus.
({9})
Frau Dött, möchten Sie Herrn Kelber die Gelegenheit
zu einer Zwischenfrage geben?
Nein, vielen Dank. - Sosehr uns alle die Bilder aus
Japan bewegen: Kehren Sie zu einer sachlichen Diskussion zurück! Das, was in Japan passiert ist, kann und
wird für uns nicht folgenlos bleiben.
({0})
Wir müssen - hören Sie zu! - neu bewerten und mit ergänzenden Maßnahmen prüfen. Genau das tun wir jetzt.
Wir werden die Sicherheitsannahmen zu Erdbebengefahren, zu den Auswirkungen von Hochwasserereignissen,
zu möglichen Auswirkungen des Klimawandels, zu terroristischen Angriffen, zu Cyberattacken und zu möglichen Gefahren von Flugzeugabstürzen genau prüfen.
Wir werden insbesondere auch die Wirkungen eines
möglichen Zusammentreffens verschiedener Schadensereignisse prüfen. Und wir werden die technische
Situation in den Kraftwerken genau analysieren - zum
Beispiel wie die Strom- und Notstromversorgung sowie
die externe Infrastruktur ausgelegt sind - und prüfen,
wie robust sie bei Schadensereignissen sind. Gründlichkeit in der Analyse und Konsequenz im Handeln - das
ist jetzt gefordert. Auf beides können sich die Bürger
verlassen. Die Sicherheit der Kraftwerke hat höchste Priorität.
Genau weil das so ist, haben wir sofort gehandelt. Wir
haben aus Vorsorgegründen die älteren Kraftwerke vom
Netz genommen.
({1})
Sie werden nicht wieder ans Netz gehen, bis wir genau
wissen, ob sie neuen, noch strengeren Sicherheitskriterien gerecht werden.
({2})
Wenn Kraftwerke diese neuen, noch strengeren Kriterien
nicht erfüllen, müssen sie nachgerüstet werden, oder sie
gehen nicht wieder ans Netz.
({3})
Das gilt natürlich auch für die Kraftwerke, die nach 1980
ans Netz gegangen sind. Auch diese Kraftwerke werden
nach den gleichen Kriterien geprüft.
({4})
So sieht verantwortlicher Umgang mit Kernenergie aus.
({5})
Die in Deutschland in den nächsten drei Monaten
stattfindenden Sicherheitsüberprüfungen aller deutschen
Kraftwerke sind ein wichtiger Schritt. Aber die Sicherheit der Kernkraft ist gerade auch eine europäische Aufgabe. Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen in
Brüssel reichen nicht aus. Die Teilnahme aller Staaten
und die Prüfung nach einheitlichen, strengen Kriterien
sind erforderlich. Die Bundeskanzlerin wird dieses
Thema mit Nachdruck in Brüssel verfolgen. Sie hat auch
dabei unsere volle Unterstützung.
Die ergebnisoffene Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke kann dazu führen, dass wir unser
Energiekonzept nachjustieren müssen.
({6})
An dem zentralen Ansatz unseres Konzepts, den Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien möglichst schnell zu vollziehen, wird nicht gerüttelt. Im
Gegenteil: Wir werden diesen Übergang weiter beschleunigen.
({7})
Wir werden den dafür erforderlichen Ausbau der Netze
und Speicherkapazitäten beschleunigen. Wir werden gerade auch bei der Erhöhung der Energieeffizienz für
schnelle Fortschritte sorgen. Dafür werden wir in den
nächsten Wochen und Monaten die Weichen stellen und
sehr konkrete Vorhaben auf den Weg bringen. Ein Beispiel dafür ist das bereits vorgelegte Eckpunktepapier für
ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren von den Grünen
- „Atomzeitalter beenden - Energiewende jetzt“ -, geht
mit manchen Vorschlägen durchaus in die richtige Richtung. Aber Sie laufen nicht nur mit dem Titel des Antrags den Ereignissen hinterher;
({8})
die Energiewende läuft bereits, und wir werden sie in
den nächsten Monaten noch beschleunigen.
({9})
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie laufen mit
Ihrem schnell zusammengezimmerten Gesetzentwurf
zur Stilllegung von Atomkraftwerken den Grünen genauso hilflos hinterher wie den Linken beim Mindestlohn.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn
Sie es mit der Energiewende ernst meinen, dann wird es
endlich Zeit, dass Sie sich daran beteiligen. Hören Sie
auf, in Berlin lauthals die Energiewende zu fordern und
sich dann vor Ort bei jedem Streit in die Büsche zu
schlagen
({10})
und jeder Bürgerinitiative gegen den Netzausbau nach
dem Mund zu reden. Es wird Zeit, dass Sie für die notwendigen Stromtrassen werben, statt vor Ort Bürgerinitiativen dagegen zu initiieren.
({11})
Stellen Sie sich nicht scheinheilig hinter Forderungen
nach Erdverkabelung.
({12})
Reden Sie mit den Menschen über die Kosten und reden
Sie mit ihnen über die Auswirkungen hinsichtlich Bodenversiegelung und Landschaftsbild. Wo sind denn da
Ihr ökologisches Gewissen, Frau Höhn, und Ihr umweltpolitischer Sachverstand?
({13})
Sagen Sie den Bürgern endlich ehrlich, dass Sonne und
Wind den Strom nicht umsonst liefern, dass erneuerbare
Energien zwar richtig, aber noch teuer sind.
({14})
Reden Sie nicht vormittags über die Notwendigkeit der
Speicherung der erneuerbaren Energien, wenn Sie am
Nachmittag zur Demonstration gegen neue Pumpspeicherkraftwerke gehen.
Frau Dött.
Führen Sie mit uns und den Bürgern endlich eine ehrliche Diskussion darüber, wie der Wirtschaftsstandort
Deutschland mit einem verlässlichen, bezahlbaren und
klimaverträglichen Energiemix gesichert und gestärkt
wird.
({0})
Ich komme zu meinem letzten Satz. Treten Sie endlich für einen gesellschaftlichen Konsens des Anpackens
ein und organisieren Sie nicht ständig den des Stillstands.
({1})
Zu einer Kurzintervention der Kollege Kelber.
Frau Kollegin Dött, Sie müssen mit sich selber ausmachen, ob Sie es in Ordnung finden, als letzte Rednerin
in einer Debatte auf kein einziges Argument Ihrer Vorrednerinnen und Vorredner einzugehen, sondern stoisch
eine Rede abzulesen, die Beschimpfungen der anderen
enthält. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Aber eines ist nicht in Ordnung - das kann jeder, der
uns zuhört oder das Protokoll liest, selbst überprüfen -:
Der Vertrag des Jahres 2000, der zum Atomkonsens geführt hat, ist öffentlich nachzulesen. Er ist auch nicht geheim ausgehandelt worden. Er war von vornherein vonseiten der Regierung öffentlich gemacht worden; auch
das ist ein Unterschied zu Ihnen. Sie haben daraus zitiert
und behaupten, dass der Satz, man wolle die Sicherheitsphilosophie für Atomkraftwerke beibehalten, belegt,
dass Rot-Grün auf zusätzliche Sicherheitsauflagen verzichtet hatte. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich nicht den
nächsten Absatz gelesen haben. Vielleicht haben Sie einfach nur etwas abgelesen, das Ihnen andere aufgeschrieben haben.
Im nächsten Absatz wird die Pflicht zu periodischen
Sicherheitsüberprüfungen von Atomkraftwerken erstmals in Deutschland eingeführt; dies findet sich dann
auch im entsprechenden Gesetz. Das ist das, was Sie
jetzt tun. Bei diesen periodischen Sicherheitsüberprüfungen - es sollen übrigens nicht in drei Monaten
17 Atomkraftwerke überprüft werden, sondern man soll
sich ein bis zwei Jahre in allen Details um ein einziges
kümmern - werden alle Sicherheitsaspekte betrachtet.
Dann wird das anhand des seit 1973, seit dem KalkarUrteil, verfassungsrechtlich festgelegten Prinzips
„Nachrüstung nach dem Stand von Wissenschaft und
Technik“ nachvollzogen. Haben Sie diesen Absatz gelesen? Hören Sie jetzt endlich auf, die Unwahrheit - eine
bewusste Unwahrheit kann man mit vier Buchstaben
auch anders bezeichnen - zu wiederholen!
({0})
Frau Dött zur Reaktion.
({0})
Dann habe ich noch eine Kurzintervention des Kollegen
Lenkert.
Herr Kelber, vielen Dank, dass Sie besonders darauf
hingewiesen haben, dass es wichtig ist, sich diese Abschnitte sehr genau anzuschauen.
({0})
Sie haben angesprochen, dass ich als letzte Rednerin
verschiedene Punkte thematisiert habe. Es hat mir besonders viel Freude gemacht, als letzte Rednerin noch
einmal zusammenfassen, um welche Debatte es hier
überhaupt geht
({1})
und mit welcher Thematik wir uns hier beschäftigen.
Zurzeit ist es so, Herr Kelber, dass wir aufgrund der
schrecklichen Ereignisse in Japan, des Erdbebens und
des Tsunami, neue Erkenntnisse haben und einiges
wahrscheinlich neu beurteilen müssen. Dies wollen wir
auf unsere Sicherheitsvorstellungen hinsichtlich unserer
Kraftwerke anwenden.
({2})
Danach wollen wir entscheiden, was gemacht werden
muss, damit wir weiterhin sagen können: Unsere Kraftwerke sind sicher.
Wenn es aufgrund irgendwelcher Nachrüstungen, von
denen wir jetzt noch nichts wissen, so wäre, dass sich
das Ganze nicht rechnet und die Kraftwerke vom Netz
gehen müssten, dann würde dies in der Konsequenz bedeuten, dass wir andere Voraussetzungen unserem Energiekonzept zugrunde legen müssten, wenn es darum
geht, das Zeitalter der erneuerbaren Energien zu erreichen. Diese anderen Voraussetzungen müssten dann bewertet werden. Man müsste sich, da Kernkraftwerke
CO2-frei sind, beispielsweise fragen: Wie können wir
unsere Klimaziele erreichen? Können wir Kernkraftwerke einfach ersetzen? Dazu habe ich von Ihnen nur
sehr wenig gehört.
Sie wollen auch aus der Nutzung der Kohle aussteigen. Wir brauchen aber eine grundlastfähige Energie, um
in Deutschland Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
All die Fragen, die damit verbunden sind, werden wir
nach dem Moratorium, nachdem wir die Überprüfung
durchgeführt haben, beantworten und dann sehr schnell
handeln. Denn die Ereignisse in Japan und die schrecklichen Bilder haben uns vor Augen geführt, dass wir sehr
schnell - so schnell es möglich ist - aussteigen sollten.
Das werden wir verwirklichen.
({3})
Herr Lenkert, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Dött, ich habe ein
paar Fragen zu Ihrer Rede. Sie machten indirekt darauf
aufmerksam, dass erneuerbare Energie viel mehr Geld
kostet. Sie sprachen ohnehin nur von Kosten. Wir haben
gestern im Umweltausschuss - Sie waren anwesend über den Leitfaden für erneuerbare Energien diskutiert.
Darin wurde die Feststellung getroffen, dass bei Investitionen von 800 Milliarden Euro bis zum Jahr 2050 im
Vergleich zur jetzigen Energiepolitik ein zusätzlicher
Gewinn von 660 Milliarden Euro zu erwarten ist. Da
stellt sich mir die Frage: Warum gehen wir hier nicht
schneller vor? Dies entspricht in zehn Jahren übrigens
Investitionen von etwa 200 Milliarden Euro. Das war Ihnen die Bankenrettung in nur zwei Jahren wert. Für eine
sichere Zukunft wäre das angebracht.
Meine zweite Frage betrifft ebenfalls das Thema
Preise. Herr Kurth von der Bundesnetzagentur stellte
fest, dass die Strompreise in diesem Jahr um 0,5 bis
1 Cent pro Kilowattstunde hätten gesenkt werden können, weil die Spotpreise an der Leipziger Strombörse um
über 2 Cent gesunken sind. Die EEG-Umlage stieg um
1,5 Cent. Es kam aber flächendeckend zu Preiserhöhungen, und zwar mit der Begründung: EEG-Umlage. Sind
nicht auch Sie der Meinung, dass wir an dieser Stelle
eine staatliche Preisaufsicht benötigen, um die Gewinnmacherei im Schatten der erneuerbaren Energien mit der
Behauptung, erneuerbare Energien seien an allem
schuld, zu begrenzen?
Als Letztes zu Ihrer Aussage, dass der Klimaschutz
von der Opposition nicht ernst genommen würde. Gestern lagen im Umweltausschuss drei Anträge der Opposition vor, die darauf zielten, verbindliche Klimaschutzziele für die Bundesrepublik und die EU festzuschreiben.
Alle drei haben FDP und CDU/CSU abgelehnt.
Frau Dött.
Herr Lenkert, ich habe gesagt, dass die erneuerbaren
Energien noch teuer sind. Sie wissen selbst: Wenn man
investiert, kostet das eine ganze Menge. Es gibt Investitionszyklen. Investitionen bringen erst dann etwas, wenn
sie abgeschrieben sind. Bei erneuerbaren Energien brauchen wir ein ganz anderes Netz, um die Energie zum
Bürger, vor allen Dingen aber zum Mittelstand und zur
Industrie zu liefern. Von daher habe ich gesagt: noch.
Wir werden das machen. Wir müssen aber die Preise im
Auge behalten.
Wie Sie wissen, werden zurzeit Umfragen durchgeführt, in denen die Bürger gefragt werden: Wie viel mehr
wären Sie zu zahlen bereit, wenn wir aus der Kernkraft
aussteigen würden? Im Schnitt würden die Bürger im
Jahr etwa 15 Euro mehr für Strom zahlen. Es geht aber
nicht nur um den Endverbraucher, um den Bürger, sondern es geht auch um die Frage: Behalten wir unsere Industrie in Deutschland? Wenn man kein ausgewogenes
Energiekonzept hat, stellt sich auch die Frage: Behalte
ich die Arbeitsplätze in Deutschland oder nicht?
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5181, 17/5202, 17/5179, 17/5180
und 17/5182 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie
in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 d. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Drucksache 17/5148, den Gesetzentwurf auf Drucksache
17/3182 abzulehnen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, bitte ich um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. Dagegen
haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die Fraktion der
SPD hat sich enthalten. Eine dritte Beratung entfällt
dementsprechend.
Tagesordnungspunkt 4 c. Wir setzen die Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/5148
fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3649 mit dem Titel
„Die Energieversorgung in kommunaler Hand“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und
FDP. Dagegen hat die SPD gestimmt. Linke und
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3671 mit dem Titel „Energienetze in die öffentliche Hand - Kommunalisierung der Energieversorgung erleichtern - Transparenz
und demokratische Kontrolle stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Die übrigen Fraktionen haben dafür gestimmt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5183 mit dem Titel „Keine Hermesbürgschaften für Atomtechnologien“. Wer stimmt für den
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist bei Zustimmung der Oppositionsfraktionen
abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen waren dagegen.
({0})
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 33 a bis f sowie
33 h bis k und 24 sowie Zusatzpunkt 8 a und b auf:
33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften über den Wertersatz bei
Widerruf von Fernabsatzverträgen und über
verbundene Verträge
- Drucksache 17/5097 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Februar 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Güterstand der
Wahl-Zugewinngemeinschaft
- Drucksache 17/5126 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksachen 17/5127, 17/5201 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 9. April 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Commonwealth der Bahamas über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen durch
Informationsaustausch
- Drucksache 17/5128 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Juli 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum
Monaco über die Unterstützung in Steuer- und
Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/5129 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 27. Mai 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Kaimaninseln über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen
durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/5130 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({6}), Gisela Piltz, Manuel
Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem
Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophen11310
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
schutz und humanitärer Hilfe
({7})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen
Union
Katastrophenabwehr in Europa effektiv gestalten
- Drucksache 17/5194 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Arbeitnehmerfreizügigkeit sozial gestalten
- Drucksache 17/5177 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Alternativen zur öffentlichen Ausschreibung
für Leistungen der Integrationsfachdienste ermöglichen
- Drucksache 17/5205 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleiches Rentenrecht in Ost und West
- Drucksache 17/5207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Innenausschuss
24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Ottmar Schreiner, Anette Kramme,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wirkungsvolle Sanktionen zur Stärkung von
Europäischen Betriebsräten umsetzen
- Drucksache 17/5184 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Barnett, Andrea Wicklein, Manfred Nink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ Finanzierung langfristig sichern
- Drucksache 17/5185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Herbert Behrens, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutz vor militärischem Fluglärm
- Drucksache 17/5206 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({14})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Hierbei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell
wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 34 a bis q.
Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 20. August 2009 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Schweizerischen Eidgenossenschaft über
die Wehrpflicht der Doppelstaater/Doppelbürger
- Drucksache 17/4810 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({15})
- Drucksache 17/5068 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers ({16})
Fritz Rudolf Körper
Elke Hoff
Paul Schäfer ({17})
Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5068, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4810
anzunehmen. Wer möchte dem Gesetzentwurf zustimmen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Enthalten hat sich die Fraktion
Die Linke. Die übrigen Fraktionen haben dafür gestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem zustimmen möchte,
den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom
16. April 2009 über die Änderungen des Übereinkommens vom 5. September 1998 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Republik Polen
über das Multinationale Korps Nordost
- Drucksache 17/4809 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({18})
- Drucksache 17/5084 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers ({19})
Elke Hoff
Paul Schäfer ({20})
Omid Nouripour
Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5084, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4809
anzunehmen. Hier gibt es nur zwei Lesungen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt.
Tagesordnungspunkt 34 c:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Beschleunigung der Zahlung von Entschädigungsleistungen bei der Anrechnung des
Lastenausgleichs und zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes ({21})
- Drucksache 17/4807 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22})
- Drucksache 17/5086 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Petra Hinz ({23})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({24})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/5087 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({25})
Otto Fricke
Roland Claus
Alexander Bonde
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5086, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4807 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Das ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher
bitte auf? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 1. Juli 2010 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen
- Drucksache 17/4806 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({26})
- Drucksache 17/5186 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Thomas Gambke
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5186, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4806 anzunehmen. Wer möchte für den Gesetzentwurf
stimmen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer ist dafür und steht daher
bitte auf? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmverhältnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({27})
Nr. 4/2009 und zur Neuordnung bestehender
Aus- und Durchführungsbestimmungen auf
dem Gebiet des internationalen Unterhaltsverfahrensrechts
- Drucksache 17/4887 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({28})
- Drucksache 17/5240 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sonja Steffen
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5240, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4887 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer möchte dem
Gesetzentwurf zustimmen? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Erheben mögen sich bitte diejenigen, die zustimmen wollen. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter
Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 17/4144 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({29})
- Drucksache 17/5169 Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5169, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4144 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, mögen bitte die Hand heben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dafür ist, erhebe sich bitte. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die vorläufige Durchführung unmittelbar
geltender Vorschriften der Europäischen Union
über die Zulassung oder Genehmigung des Inverkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln
- Drucksache 17/4985 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({30})
- Drucksache 17/5199 Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Gustav Herzog
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Friedrich Ostendorff
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5199, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/4985 anzunehmen.
Wer möchte dafür stimmen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung
der übrigen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmverhältnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({31}) zu
dem
Vorschlag für einen Beschluss des Rates über
den Abschluss des Übereinkommens über die
internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen durch die Europäische Gemeinschaft
KOM({32}) 373 endg.; Ratsdok. 12265/09
- Drucksachen 17/136 Nr. A.29, 17/5241 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Stephan Thomae
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5241, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen und Die Linke, dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt, enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({33}) zu
dem
Bericht der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen
Anwendung der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte
des geistigen Eigentums
({34})
({35})
KOM({36}) 779 endg.: Ratsdok. 5140/11
- Drucksachen 17/4768 Nr. A.4, 17/5242 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5242, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Dafür haben die Koalitionsfraktionen und
die SPD-Fraktion gestimmt, dagegen hat Bündnis 90/
Die Grünen gestimmt, Die Linke hat sich enthalten.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 234 zu Petitionen
- Drucksache 17/5059 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 235 zu Petitionen
- Drucksache 17/5060 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 236 zu Petitionen
- Drucksache 17/5061 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD.
Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 34 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 237 zu Petitionen
- Drucksache 17/5062 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({41})
Sammelübersicht 238 zu Petitionen
- Drucksache 17/5063 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, die übrigen Fraktionen dafür.
Tagesordnungspunkt 34 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42})
Sammelübersicht 239 zu Petitionen
- Drucksache 17/5064 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt, die
übrigen Fraktionen waren dafür.
Tagesordnungspunkt 34 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43})
Sammelübersicht 240 zu Petitionen
- Drucksache 17/5065 11314
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Gegenstimmen von Linken und Bündnis 90/Die Grünen.
Die übrigen Fraktionen haben zugestimmt.
Tagesordnungspunkt 34 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44})
Sammelübersicht 241 zu Petitionen
- Drucksache 17/5066 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP. Die Fraktionen
SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen
gestimmt.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 28 a und b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes
- Drucksache 17/4803 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({45})
- Drucksache 17/5249 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Sönke Rix
Heidrun Dittrich
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({46})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Bernschneider, Heinz Golombeck, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Bürgerschaftliches Engagement
der jungen Generation anerkennen und fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf,
Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Stärkung der Jugendfreiwilligendienste Platzangebot ausbauen, Qualität erhöhen,
Rechtssicherheit schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix,
Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen nutzen - Jugendfreiwilligendienste
stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Koch,
Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen
statt Bundesfreiwilligendienst einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt
auf den Weg bringen - Quantität, Qualität
und Attraktivität steigern
- Drucksachen 17/4692, 17/2117, 17/3429, 17/4845,
17/3436, 17/5249 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Sönke Rix
Heidrun Dittrich
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({47})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein denkwürdiger Tag. Wir fassen heute
Beschlüsse von historischer Tragweite. Nach über 50 Jahren beschließen wir das Ende der Pflichtdienste in
Deutschland. Den liebgewordenen Zivi und den liebgewordenen Grundwehrdienstleistenden gibt es ab 1. Juli
nicht mehr. Die Einberufung zum Wehrdienst und damit
die Einberufung zum Zivildienst werden wir heute aussetzen.
In wenigen Tagen, am 11. April, begehen wir mit einem Festakt 50 Jahre Zivildienst. Im April 1961 haben
die ersten anerkannten Kriegsdienstverweigerer ihren
Ersatzdienst angetreten. Bis heute haben über 2,5 Millionen junge Männer diesen Dienst geleistet, zuletzt jährlich 90 000. Der Festakt wird eine Art Beerdigung, aber
es wird eine fröhliche Beerdigung. Wir trauern zwar um
den Zivildienst, aber wir freuen uns auf die neuen Freiwilligendienste und den Bundesfreiwilligendienst.
Gerade auch wegen der großen Bedeutung, die der Zivildienst erlangt hat, stellt uns seine Aussetzung vor eine
große Herausforderung. Herausforderungen sind immer
auch Chancen. Eine solche haben wir mit dem neuen
Bundesfreiwilligendienst ergriffen. Mit diesem Dienst
ist in kurzer Zeit etwas Großes und Gutes geschaffen
worden; das ist das Fazit der Sachverständigenanhörung.
({0})
Wir ermöglichen damit freiwilliges Engagement in einer
sehr großen Breite in Deutschland: im sozialen Bereich,
in den Bereichen Ökologie, Kultur und Sport, Integration und im Zivil- und Katastrophenschutz. Wir ermöglichen es, dass sich künftig Menschen jeden Alters im
Bundesfreiwilligendienst engagieren können. Den jungen Männern wird künftig der Wehrersatzdienst nicht
mehr abverlangt, aber sie dürfen sich freiwillig engagieren. Das tut ihnen gut und der Gesellschaft.
Die Opposition trägt jetzt aus meiner Sicht etwas
kleinkariert und wenig konstruktiv Kritik vor. Ihre Kritik
ist deshalb nicht konstruktiv, weil Sie keine Lösungswege aufzeigen. Es gibt zum Beispiel ein Nebeneinander
von Bundesfreiwilligendienst und Jugendfreiwilligendiensten. Wir sind uns einig, dass wir beide langfristig
zusammenführen wollen. Ein einheitlicher Dienst stößt
heute aber an verfassungsrechtliche Grenzen. Es ist nicht
möglich, den Ländern einfach 350 Millionen Euro zu
überweisen, indem wir ihnen zum Beispiel die Einnahmen durch einen Umsatzsteuerpunkt abtreten, weil die
Länder dann beim Einsatz dieser Gelder völlig frei sind.
Kinderbetreuung, Schulen, Hochschulen, Forschung,
Polizei, Schuldenabbau - es gibt viele sinnvolle Aufgaben, für die die Länder das Geld einsetzen könnten; nur
ein Bruchteil würde bei den Freiwilligendiensten ankommen. Eine Verfassungsänderung in diesem einen
Punkt ist wenig realistisch.
Die Lösung ist die Schaffung eines Bundesfreiwilligendienstes bei gleichzeitigem Ausbau und besserer Förderung der bestehenden Jugendfreiwilligendienste. Die
Stärke der Freiwilligendienste war schon immer ihre
Vielfalt. So bunt wie unsere Gesellschaft sind auch die
Freiwilligendienste.
Festzuhalten bleibt auch, dass wir noch nie so viel
Geld für die Freiwilligendienste in Deutschland zur Verfügung gestellt haben. Auch die bestehenden Freiwilligendienste profitieren von dieser Regelung. Bisher haben wir den Ländern eine Förderung von 72 Euro pro
Monat für ein Freiwilliges Soziales Jahr gezahlt; künftig
sind es 200 Euro pro Monat. Zusätzlich gibt es - auch
das ist neu - 50 Euro bei besonderem pädagogischen Betreuungsbedarf.
({1})
Das Koppelungsmodell verhindert, dass sich der Bundesfreiwilligendienst zulasten der bestehenden Dienste
etabliert. Insgesamt werden vom Bund künftig 350 Millionen Euro eingesetzt. Die Länder bezahlen 12 Millionen Euro; den Löwenanteil davon tragen BadenWürttemberg und Bayern. 8 Millionen Euro kommen
aus dem Europäischen Sozialfonds.
Zum Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben möchte ich anmerken, dass künftig nur
noch ein Teil der heutigen Mitarbeiter für den neuen
Bundesfreiwilligendienst benötigt wird und in den
nächsten Monaten und Jahren Veränderungen möglich
und auch nötig sind. So wollen wir die administrativen
Aufgaben im Zusammenhang mit der Familienpflegezeit
vom BAZ erledigen lassen und nach außen vergebene
Aufgaben auf das BAZ zurückübertragen.
Positiv ist in der Anhörung die vorgesehene Regelung
für die älteren Freiwilligen aufgenommen worden. Über
27-Jährige müssen mindestens 20 Stunden pro Woche
leisten. Wir grenzen den Bundesfreiwilligendienst damit
klar von anderen Ehrenämtern ab und verhindern, dass
das Ehrenamt in der Breite verstaatlicht wird.
Wir wollen beim Kindergeld noch eine Veränderung
vornehmen. Ich denke, wir sind uns einig, dass auch der
Bundesfreiwilligendienst zu einer Kindergeldberechtigung führen sollte. Die Kindergeldfrage soll in einem
Steuergesetz, zum Beispiel im Steuervereinfachungsgesetz, geregelt werden. Der Betrag von 550 Euro plus
50 Euro bei besonderem pädagogischen Betreuungsbedarf müsste möglicherweise noch etwas reduziert werden; aber dafür erhielten die kindergeldberechtigten
Freiwilligen weiter Kindergeld.
Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ziel, 35 000 Jugendfreiwillige und 35 000 Bundesfreiwilligendienstleistende pro Jahr zu gewinnen, erreichen können, wenn
auch vielleicht nicht gleich zum 1. Juli. Aber auch bisher
war der Dienstantritt beim Jugendfreiwilligendienst in
der Regel nicht der 1. Juli, sondern der 1. September.
Wir haben in letzter Zeit zudem eine hohe Bereitschaft bei Zivildienstleistenden erlebt, den Zivildienst
freiwillig zu verlängern. Auch diesbezüglich hat die Opposition seinerzeit viel Kritik vorgetragen. Diese Regelung hat sich aber bestens bewährt. Sie werden sehen,
dass auch der Bundesfreiwilligendienst angenommen
und funktionieren wird. Es spricht einiges dafür, dass
sich die Menschen in unserem Land für einen Bundesfreiwilligendienst entscheiden werden.
Richtig ist aber auch, dass wir den Zivildienst nicht
vollkommen ersetzen können. Das ist auch nicht die
Aufgabe des Bundesfreiwilligendienstes. Einige Stellen
werden künftig nicht mehr zu besetzen sein, zum Beispiel die als Pförtner in einer Einrichtung. Es ist für
junge Menschen schlechterdings keine Herausforderung,
einen solchen Dienst zu leisten. Dagegen werden wahrscheinlich Stellen in Pflegeeinrichtungen stark nachgefragt werden.
Der Bundesfreiwilligendienst wird uns den Abschied
vom liebgewonnenen Zivildienst erleichtern. Mit dem
neuen Bundesfreiwilligendienst haben wir in kurzer Zeit
etwas Großes und Gutes geschaffen. Dank möchte ich
der Ministerin und dem Ministerium sagen. Dank auch
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sowie den Verbänden für die eigentlich recht konstruktive Diskussion
des Entwurfes.
({2})
Die Kritik der Opposition werden wir ertragen. Ich bin
sicher: Die Praxis wird die Kritik widerlegen.
Herzlichen Dank.
({3})
Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Weil der Dank meines Vorredners nicht nur an die Kollegen der Regierungsfraktion, sondern auch an die anderen
Kollegen so schön war, möchte ich auch Ihnen von
Schwarz-Gelb danken, dass Sie den Mut haben, die
Wehrpflicht auszusetzen, und damit, wie Sie gesagt haben, ein liebgewonnenes Kind - Sie haben das sicherlich
mehr liebgewonnen als wir - gegen ein neues Modell,
auf das ich gleich in meiner Rede eingehen werden, eintauschen. Dafür gebührt Ihnen Dank, aus welchen Gründen auch immer Sie das getan haben. Dieser Mut ist auf
jeden Fall einen Dank wert.
({0})
Wir reden heute zum x-ten Mal - schon das ist etwas
Tolles; darüber kann man froh sein - über das Thema
Freiwilligendienste. Es ist schön, dass wir den Wegfall
des Zivildienstes zum Anlass nehmen, bei den Jugendfreiwilligendiensten etwas zu verbessern; das finde ich
in Ordnung. Aber nun komme ich auf den Gesetzentwurf
zu sprechen, der heute verabschiedet wird.
Nach relativ kurzer Zeit der Diskussion - es war ein
ziemlich sportliches Tempo - soll nun zum 1. Juli dieses
Jahres der Bundesfreiwilligendienst umgesetzt werden.
Sie haben gesagt, angesichts der Anhörung und der Gespräche mit den Vertretern der Fachverbände und den
Fachexperten sei alles quasi im Lot und in Ordnung. Das
liegt in der Natur der Sache. Ich habe auch andere, kritische Stimmen gehört, insbesondere bei der Anhörung.
Kritisiert wurde unter anderem die staatliche Steuerung
eines Freiwilligendienstes. Kritisiert wurde auch die
Doppelstruktur. Kritisiert wurde die Regelung im Bundesfreiwilligendienstgesetz betreffend das Kindergeld.
Sicherlich ist es positiv, dass die Freiwilligendienste für
alle Generationen offen stehen sollen. Nichtsdestotrotz
wurde kritisch darauf hingewiesen, dass Jung und Alt
unterschiedliche Ansprechpartner in den Seminaren und
unterschiedliche Seminarformen brauchen. Es wurde
auch die Aufrechterhaltung des - so heißt es noch Bundesamtes für den Zivildienst kritisiert. Gefordert
wurde eine Organisation für Freiwilligendienste auf der
Basis der Zivilgesellschaft. Es wurden des Weiteren eine
wissenschaftliche Begleitung und einheitliche Strukturen gefordert. Es war zwar die Rede von mittelfristigen
und langfristigen Übergängen. Aber eine einheitliche
Struktur wurde von der überwiegenden Anzahl der Experten gefordert, genauso wie eine Regelung der Kindergeldfrage.
Unsere Kritik deckt sich mit diesen Kritikpunkten.
Wir hatten von Ihnen ein Gesamtkonzept erwartet. Es
kann nicht nur darum gehen, die Lücke, die durch den
Wegfall des Zivildienstes entsteht, mit dem Bundesfreiwilligendienst zu schließen. Im Rahmen eines Gesamtkonzeptes hätten die Fragen beantwortet werden müssen: Wie können wir das bürgerschaftliche Engagement
insgesamt stärken, um den Wegfall des Zivildienstes aufzufangen? Wie können wir einige Tätigkeiten von Zivildienstleistenden in sozialversicherungspflichtige Jobs
überführen? Diese Debatte hat nicht stattgefunden. Es
gibt zwar die Ankündigung, die Mittel für den Bereich
des FSJ aufzustocken. Aber es sind noch keine entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen
worden. Es hat auch noch keine intensiven Gespräche
mit Verbänden und Kommunen darüber gegeben, wie
man die Rahmenbedingungen und die Anerkennung bei
FSJ und FÖJ verbessern kann. Das alles fehlt. Das ist
leider enttäuschend.
({1})
Natürlich besteht die Gefahr einer Doppelstruktur. Es
gibt unterschiedliche Ansätze. Vonseiten der Regierung
und der schwarz-gelben Koalition wird immer wieder
betont, ein junger Freiwilliger solle gar nicht merken,
welchen Dienst er leistet. Das ist ein richtiger Ansatz.
Ich finde das auch gut. Sie haben dankenswerterweise
die Kritik von Verbänden und Opposition aufgegriffen.
Das war am Anfang nicht so. Sie haben in diesem Bereich etwas verändert. Aber es gibt noch Unterschiede
und eine unterschiedliche Förderung durch den Bund. Es
gibt auch Unterschiede bei der Ausgestaltung der Kindergeldregelung, genauso wie bei der pädagogischen Begleitung und der Anerkennung der Plätze.
Auch das ist noch ein Wunsch, den wir gehabt hätten.
Sie, Herr Grübel, sagen zwar, der Markt werde entscheiden, welche Plätze attraktiv sind - der Posten des Pförtners im Seniorenheim ist sicher nicht so attraktiv wie der
desjenigen, der mit Kindergartenkindern einen Platz gestalten kann -; aber es wäre die Aufgabe bei solch einem
Gesetz gewesen, diese Dinge zu überprüfen. Wir können
nicht darauf warten, dass der Markt das regelt. Ich hätte
mir gewünscht, dass wir alle Zivildienstplätze überprüfen, bevor sie Bundesfreiwilligenplätze werden.
({2})
Wir haben dankend zur Kenntnis genommen, dass Sie
erkannt haben, dass beim Kindergeld eine Regelung getroffen werden muss, aber wir beschließen das Gesetz
jetzt. Da reicht die Ankündigung nicht aus, dass die unterschiedliche Regelung des Kindergeldes im Jugendfreiwilligendienst und im Bundesfreiwilligendienst irgendwann durch die Steuergesetzgebung erfolgt. Wir
würden das gerne jetzt klären; denn der Bundesfreiwilligendienst wird zum 1. Juli umgesetzt. Deshalb hätten
wir jetzt gerne Antworten und nicht nur eine Ankündigung.
({3})
Ich möchte gerne auf die Widersprüche, die es gab,
eingehen. In der Anhörung wurde erwähnt, dass die Freiwilligendienste quasi auf Pflichtstrukturen stoßen. Das
liegt zum einen an der automatischen Anerkennung der
Plätze, die ich gerade kritisiert habe, aber auch daran,
dass wir die Verwaltung, die dem Zivildienst zugrunde
lag, nutzen. Wir hätten Einsparungen vornehmen können. In Richtung FDP will ich sagen - Graf Strachwitz
hat das sehr gut auf den Punkt gebracht -: Es ist nicht
unbedingt im Sinne von jungen Menschen, ein staatliches Dienstverhältnis einzugehen, wenn man sich für
eine besondere Form von bürgerschaftlichem Engagement entscheidet. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie
diese Kritik annehmen.
({4})
Wir brauchen eine dauerhafte finanzielle und rechtliche Voraussetzung, um FSJ und FÖJ zu stärken, und
nicht nur eine Ankündigung der Mittelerhöhung. Wir
brauchen ein Jugendfreiwilligenstatusgesetz. Wir brauchen keine unterschiedlichen Rechtsformen für unterschiedliche Freiwilligendienste. Wir brauchen noch in
dieser Legislaturperiode eine Überprüfung des Gesetzes;
denn ich gehe davon aus, dass Sie es heute mit Mehrheit
beschließen werden. Wir brauchen ein ganzheitliches
Konzept zur Stärkung der Freiwilligendienste und des
bürgerlichen Engagements, das gemeinsam mit den Ländern abgestimmt werden muss. Dann vermeiden wir
Doppelstrukturen.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die FDP hat Miriam Gruß das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede damit beginnen, den Jungen Liberalen im Namen der FDPFraktion zu danken, die vor 20 Jahren den wegweisenden Beschluss getroffen haben, die Wehrpflicht auszusetzen.
({0})
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen dieser Koalition, die dieses jetzt im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit umsetzen und damit die Konsequenzen gezogen haben. Wir legen hiermit eine beachtliche Reform
vor, die die Freiwilligentätigkeit auf ganz neue Beine
stellt, Bewährtes übernimmt, aber auch Neues schafft.
Ich glaube, dass die Freiwilligentätigkeit in Deutschland
im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit einen
ganz starken Impuls von dieser Koalition bekommt.
({1})
Die Daten und Fakten sind schon oft genannt worden.
Ich will aber noch einmal betonen, dass ich es für richtig
und wichtig erachte, dass die Freiwilligentätigkeit für
Mann und Frau geöffnet wird, dass sich alle Altersgruppen einbringen können und dass wir eine breite Varianz
an Möglichkeiten, sich einzubringen, haben, so etwa in
den Bereichen Sport, Bildung und, was uns als FDPFraktion besonders wichtig war, im Bereich Integration;
denn auch hier gibt es viele Bemühungen vor Ort. Die
sollen anerkannt werden. Durch die neuen Strukturen
sollen dafür Möglichkeiten eröffnet werden.
({2})
Der Wille ist ungebrochen da. Über ein Drittel aller
Deutschen engagieren sich bereits jetzt ehrenamtlich.
Von denjenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ abgeschlossen
haben, könnten sich über 70 Prozent vorstellen, sich weiterhin zu engagieren, und nahezu 100 Prozent würden es
weiterempfehlen. Das heißt, die Deutschen wollen sich
freiwillig engagieren, und sie tun es auch. Deswegen
wird mir nicht angst und bange bei der Frage, ob wir die
35 000 Plätze besetzen können. Junge Menschen wollen
sich engagieren. Sie sehen dadurch die Chance, neue
Einblicke zu gewinnen, ihren Horizont zu erweitern,
sich, je nachdem, wie viel Zeit sie einbringen wollen, ein
Jahr oder länger, auch Themenfeldern zu öffnen, die sie
aus der Schule vielleicht so nicht kannten, sich vielleicht
im Hinblick auf den zukünftigen Berufsweg zu orientieren. Wir haben damit die Chance für die Gesellschaft,
dass Freiwilligkeit das Miteinander fördert und alle Generationen zusammenführt.
Ich bin der Meinung: Es ist eine sehr gute Reform. Ich
möchte mich dafür noch einmal ganz herzlich bedanken.
Im Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit ist das
ein tolles Signal dieser Koalition.
Vielen Dank.
({3})
Harald Koch hat das Wort für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wie Herr Grübel vorhin sagte, wird
der Bundesfreiwilligendienst eine kurze Halbwertszeit
haben. In der Anhörung bemängelten mehrere Sachverständige die Doppelstrukturen zwischen existierenden
Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilligendienst und meinten, mittelfristig sei eine einheitliche
Struktur durch Zusammenführung der Dienste nötig. Der
Bundesfreiwilligendienst, so wie er geplant ist, wird
schnell wieder Geschichte sein.
Kurzfristig können nun aber gemeinwohlorientierte
Einrichtungen wegen einer Bevorteilung des staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienstes in Existenznöte
geraten. Bei ihnen wird die Nachfrage nach Jugendfreiwilligendienstplätzen zurückgehen. Für die Linke ist in11318
des klar: Es darf keine Freiwilligendienste erster und
zweiter Klasse geben.
({0})
Zudem ist erstaunlich, dass die FDP als vermeintliche
Partei des Bürokratieabbaus diesen Doppelstrukturen
und diesem Bürokratiemonster - so muss man es ja bezeichnen - mucksmäuschenstill zustimmt.
({1})
Die Anhörung hat gangbare Alternativen aufgezeigt.
({2})
Es wäre etwas anderes möglich gewesen.
Meine Damen und Herren der schwarz-gelben Koalition, hätten Sie auf die Linke gehört,
({3})
hätten Sie diese Probleme von vornherein verhindern
können. Die Wehrpflicht gehört nicht nur ausgesetzt,
sondern ganz abgeschafft.
({4})
Dann braucht man auch keinen Platzhalter für einen Zivildienst zu schaffen, der - das ist sicher - nicht mehr
zurückkommt.
Die durch die Aussetzung der Wehrpflicht und damit
des Zivildienstes entstehenden Lücken im sozialen Bereich müssen ohne Zweifel geschlossen werden. Aber
wir bezweifeln, dass der Weg, den Sie einschlagen, der
richtige ist. Vielmehr müssen neue, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden - für qualifizierte Beschäftigte und mit tariflichem Lohn oder wenigstens Mindestlohn.
({5})
Jugendfreiwilligendienste haben nur flankierenden Charakter. Grundsätzlich dürfen junge wie alte Menschen
nicht Lückenbüßer in einem von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, zu verantwortenden
System des stetigen Sozialabbaus sein.
Die Linke will lieber die rechtlichen Grundlagen
schaffen, um bestehende Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen zu können, anstatt einen Bundesfreiwilligendienst einzuführen; denn Jugendfreiwilligendienste
als Bildungs- und Lernorte zwischen Schule und Beruf
haben eine wichtige individuelle und gesellschaftliche
Funktion. Es wird immer in Abrede gestellt, dass wir das
anerkennen. Auch deshalb haben wir unseren Antrag gestellt. Die Dienste unterstützen bei der Suche nach persönlicher, gesellschaftlicher und beruflicher Orientierung. Sie verschaffen vielfältige Kompetenzen. Sie
sensibilisieren für Probleme und ermutigen zur Partizipation an der Gesellschaft. So gesehen sind Jugendfreiwilligendienste bereits Lernorte für Demokratie und Solidarität. Das - nicht irgendwelche halbgaren Paralellstrukturen - muss gestärkt werden.
({6})
Wir fordern in unserem Antrag eindeutige Mindeststandards für die Durchführung von Jugendfreiwilligendiensten. Diese Dienste müssen klar von Zwangsdiensten wie dem Zivildienst, von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sowie von Ausbildung abgegrenzt werden. Sie sollten nur Menschen bis 27 Jahren
offenstehen, auch um die Abgrenzung zu den Freiwilligendiensten aller Generationen zu festigen.
Wer es mit einem Lern- und Bildungsdienst ernst
meint, muss auch Mindeststandards in der inhaltlichen
Ausgestaltung schaffen. Ich spreche nicht von Festlegungen zu der Zahl von Seminartagen, sondern von Inhalten, die in diesem Bundesfreiwilligendienst konkret
vermittelt werden sollen. Dies fehlt im Gesetzentwurf
völlig. Das ist wieder einmal typisch: das eine sagen, das
andere tun.
Typisch ist auch, von der Attraktivität des Bundesfreiwilligendienstes zu reden und dann nur eine Obergrenze
für Aufwandsentschädigungen einzuziehen. Die Linke
fordert, dass eine angemessene Aufwandsentschädigung
gezahlt wird.
({7})
Die im Gesetzentwurf vorgesehene freie Verhandelbarkeit geht im Zweifel immer zulasten der jungen Menschen. Das zeigt die praktische Erfahrung. Wir brauchen
daher dringend eine Untergrenze für das Taschengeld.
Alle jungen Leute müssen sich einen solchen Freiwilligendienst auch leisten können.
Der Linken ist weiterhin wichtig, dass Jugendfreiwilligendienste ausschließlich und dauerhaft arbeitsmarktneutral sind. Junge Menschen dürfen auch nur in gemeinwohlorientierten Bereichen eingesetzt werden. Der
bisherige Zivildienst hat die dauerhafte Arbeitsmarkneutralität nicht gewährleisten können. Die dort Tätigen
wurden immer seltener für zusätzliche Arbeiten eingesetzt. Deshalb will die Linke, dass die Arbeitsmarktneutralität regelmäßig, effizient und streng bei Trägern und
Einsatzstellen geprüft wird. Wir stellen uns klar gegen
jegliche Verdrängung betrieblicher Ausbildungsplätze
sowie sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse.
({8})
Es müssen ferner bei jedem Träger Mitbestimmungsstrukturen für die Jugendlichen geschaffen werden. Es
geht um echte Mitbestimmung und nicht nur um die
Wahl von Vertretern. Auch die inhaltliche Ausrichtung
muss mitbestimmt werden können.
Es ist aus linker Sicht dringend nötig, die Jugendfreiwilligendienste für jugendliche Migrantinnen und Migranten, für Menschen mit Behinderungen sowie für sozial Benachteiligte zu öffnen. Das halten wir für sehr
wichtig.
({9})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
der Bundesfreiwilligendienst ist unnötig. Er ist derzeit
Ihr einziges Aushängeschild im Bereich der Jugendpolitik.
({10})
Auf zentrale Fragen von jungen Menschen wie auf Fragen der Jugendarbeitslosigkeit finden Sie keine Antworten. Stattdessen werden auch die Jugendfreiwilligendienste seit Jahren durch permanente Mittelkürzungen
im Bundeshaushalt bei den Jugendverbänden geschwächt.
Das ist wirklich erbärmlich. Der Bundesfreiwilligendienst wird gesicherte Zukunftschancen für junge Menschen nicht ersetzen.
Kurzum: Schaffen Sie die Wehrpflicht ab!
({11})
Schaffen Sie reguläre, qualifizierte Arbeitsplätze im sozialen Bereich!
({12})
Schaffen Sie noch bessere Jugendfreiwilligendienste als
soziales Plus! Nehmen Sie sich der Jugendpolitik als Zukunftspolitik ernsthaft an!
Danke schön.
({13})
Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Regierung hat uns Grüne ganz klar an ihrer Seite,
wenn es darum geht, bürgerschaftliches Engagement und
eine Kultur für Freiwilligkeit zu stärken. Sie müssen es
aber auch tatsächlich tun. Der Bundesfreiwilligendienst
ist das unausgegorene Ergebnis einer beispiellosen Hauruckaktion.
({0})
Hatten Kanzlerin Merkel und die Herren Seehofer
und Guttenberg die Wehrpflicht vor einem Jahr noch
zum konservativen Marken- und Identitätskern erklärt,
haben sie diesen mittlerweile über Bord geworfen. Das
ist gut, und das war auch mehr als überfällig. Für den
Ausstieg aus der Wehrpflicht haben wir Grüne 30 Jahre
lang geworben; das steht quasi in unserer grünen Geburtsurkunde.
({1})
Bis zum Jahr 2005 haben wir bei der SPD leider auf Granit gebissen. Das kann man auch so deutlich sagen. Weil
wir Grünen die Wehrpflicht für so überflüssig halten, tragen wir die Aussetzung als historischen Schritt mit.
Schlecht an Ihrem Vorgehen ist allerdings die dilettantische und sprunghafte Umsetzung. Sie hätten einmal
überlegen müssen, welche Konsequenzen auf uns zukommen, wenn Wehrpflicht und Zivildienst fallen. Die
Bundesregierung handelt an dieser Stelle leichtfertig,
weil die Folgewirkungen nicht genug durchdacht worden sind.
Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer
für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgsmodell sein. Wer den Zivildienst beendet, muss die Pflegemisere und den Fachkräftemangel im Sozialbereich
dringend bekämpfen. Das hat Minister Rösler ganz klar
vernachlässigt.
({2})
Wer aus den Pflichtdiensten aussteigt, muss für
150 000 junge Männer zusätzlich einen Ausbildungsund Studienplatz bereitstellen; sonst droht eine Generation Warteschleife. Ministerin Schavan hat das lange
übersehen und dann ausgesessen.
Wer Freiwilligendienste ausbauen will, der muss erst
einmal den ersten Schritt tun, nämlich ein Freiwilligendienstestatusgesetz machen und sich um eine weitere
Stärkung der Zivilgesellschaft kümmern. Mit dem jetzt
vorgelegten Gesetzentwurf tut Frau Schröder das glatte
Gegenteil.
({3})
- Das sage ich Ihnen jetzt gerne.
Der erste zentrale Kritikpunkt ist, dass der Bundesfreiwilligendienst zu ineffizienten Doppelstrukturen und
einer Ungleichbehandlung der bestehenden Freiwilligendienste führt.
({4})
Die Grundkonstruktion ist einfach falsch: Auf der einen
Seite haben wir die zivilgesellschaftlichen Freiwilligendienste vor Ort und auf der anderen Seite einen Bundesstaatsdienst. Auch Sie haben ja in Ihrer Rede hier eingeräumt, dass man langfristig eine Lösung aus einem Guss
benötigt und dass eine Zusammenführung notwendig ist.
({5})
Das zeigt doch, dass auch Sie mit dieser Konstruktion
nicht gut leben können. Es ist ein Kardinalfehler, dass
Schwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiter
Klasse schaffen will.
({6})
Sie sprechen immer von gleich guten Bedingungen
für alle Freiwilligen und Dienststellen. Das kommt aber
nur in Ihren Sonntagsreden vor, nicht aber in Ihrem Gesetz. Damit wird eine Chance vertan; denn es ist überhaupt nicht akzeptabel, dass der Bundesdienst höher gefördert wird als das bewährte Freiwillige Soziale Jahr
und das Freiwillige Ökologische Jahr.
Es wird sich auch in Form geringerer Nachfrage nach
dem Bundesdienst rächen, dass die Eltern von Bundesdienstleistenden künftig den Kindergeldanspruch verlieren. Hier sparen Sie nicht nur an der falschen Stelle. Mit
der Gewährung von Kindergeld hätten Sie wirklich mit
der oft beschworenen Anerkennungskultur Ernst machen
können. Das tun Sie nicht. Sie setzen vielmehr Fehlanreize, die Freiwillige, Träger und Dienststellen ausbaden
müssen.
({7})
Ein gelungener Systemwechsel vom Pflichtdienst zu
Freiwilligendiensten hätte ein Gesamtkonzept gebraucht. Dieses aufzustellen, hat Ministerin Schröder
versäumt. Sie hätte eine breite gesellschaftliche Debatte
unter Einbeziehung aller Beteiligten initiieren müssen.
Dazu hätte sie sich auch mehrere Monate Zeit lassen
können. Aber der selbst verursachte Zeitdruck innerhalb
der Koalition hat dazu geführt, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure überrumpelt wurden, dass der vor uns liegende Gesetzentwurf unausgereift und ein fraktionsübergreifender Konsens verhindert worden ist.
Wir befürchten Nachteile für die Erfolgsmodelle FSJ
und FÖJ. Sie bekommen künftig Konkurrenz durch diesen Bundesdienst. Langfristig drohen die zivilgesellschaftlichen Freiwilligendienste verdrängt zu werden.
Diese Sorge muss man ernst nehmen. Das Bundesministerium hat zwar mit den Trägern ein Kopplungsmodell
verabredet, das die Zahl der Bundesplätze an die FSJund FÖJ-Plätze bindet. Sie verweigern aber, dies auch in
Ihr Gesetz hineinzuschreiben. Wenn dieses informelle
Kopplungsmodell nicht mehr gilt, stellt sich schon die
Frage: Was passiert eigentlich mit den bewährten Jugendfreiwilligendiensten? Da ist Skepsis angebracht.
({8})
Ihr Bundesdienst tritt das Träger- und Subsidiaritätsprinzip mit Füßen. Freiwilligendienste sollten von der
Zivilgesellschaft, von den Trägern, von den kleinen Einrichtungen, von Verbänden und Vereinen organisiert
werden, weil es sich eben um eine besondere Form des
bürgerschaftlichen Engagements handelt.
({9})
Sie schaffen aber einen Bundesdienst, der sogar ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet. Das
geht nicht nur am Ziel vorbei, sondern auch an der Lebensrealität der jungen Generation.
({10})
Sie haben völlig recht: Auch ältere Menschen brauchen passgenaue Engagementmöglichkeiten. Dazu ist
der Bundesdienst jedoch aus unserer Sicht der falsche
Weg. Es gab einen erfolgreichen Freiwilligendienst aller
Generationen. Hier hätte man ein Nachfolgeprogramm
auf den Weg bringen können. Aber wenn Sie jetzt die
20-Stunden-Regel für ältere Freiwillige festschreiben,
stellt sich schon die Frage: Welche Auswirkungen hat
das auf die Arbeitsmarktneutralität?
({11})
Diese Arbeitsmarktneutralität, die schon beim Zivildienst nicht eingehalten wurde - sonst wäre die Aufregung gar nicht so groß -, wird hier jetzt womöglich erst
recht nicht eingehalten. Deshalb muss man sich das immer wieder anschauen.
Ein ganz zentraler Kritikpunkt lautet: Statt Bürokratieabbau betreibt Schwarz-Gelb nichts anderes als Bestandsschutz für das Bundesamt für den Zivildienst. Dabei hat das BAZ mit dem Ausstieg aus dem Zivildienst
seine Kernaufgabe schlichtweg verloren.
Es ist ein Treppenwitz, dass die Koalition nicht einmal mehr schlankere Strukturen anpeilt, obwohl die
Ministerin das auch immer wieder angekündigt hat, sondern dem BAZ jetzt reihenweise Aufgaben zuweist und
zuschaufelt. Das ist das Gegenteil von Bürokratieabbau.
Mich würde es gar nicht wundern, wenn CDU und FDP
in zwei Jahren nach noch mehr Personal für das Bundesamt rufen.
({12})
Alles in allem sind wir der Überzeugung, dass die
Bundesregierung die Chance verspielt, mit der Zivilgesellschaft eine nachhaltige Ausbauoffensive für Freiwilligendienste auf den Weg zu bringen. Wir Grüne streiten
weiter dafür, Quantität, Qualität und Attraktivität der
Freiwilligendienste zu stärken und insgesamt bessere
Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement
zu fördern. Anstatt eine neue Bundesbürokratie aufzubauen, sollten wir die Mittel tatsächlich auf die Förderung von Freiwilligkeit konzentrieren. Weil Sie das nicht
tun, lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
({13})
Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tu was für dein Land, tu was für dich - wer das von junDr. Peter Tauber
gen Menschen fordert, der muss in der Tat die richtigen
Rahmenbedingungen dafür schaffen. Genau das tun wir
mit dem Bundesfreiwilligendienst und mit der Stärkung
der Jugendfreiwilligendienste. Unser Antrag liegt Ihnen
vor.
Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag gemeinsam vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zu
stärken. Was haben wir getan? Wir haben zunächst einmal die Deckelung der Platzförderung aufgehoben. Jeder
Platz im Jugendfreiwilligendienst wird künftig gefördert. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwar
schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Inzwischen
werden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligendienst dreimal so hoch sein wie noch zu Beginn der Legislaturperiode. Wir haben eine Sonderregelung eingeführt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf
besser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereiche
über das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige
Ökologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausgebaut. Künftig können Jugendliche sich auch in der Politik, im Sport, in der Kultur, in der Bildung und in der Integration mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihren
Ideen einbringen. Das ist eine gute Sache.
Für diesen Bereich stellen wir insgesamt 350 Millionen Euro zur Verfügung. Ich glaube, man kann mit Fug
und Recht behaupten: Das ist die große gesellschaftspolitische Entscheidung, das große gesellschaftspolitische Projekt dieser Legislaturperiode. Ich danke der
Ministerin, dass sie nicht mit dem Geld aus dem Zivildienst einen Beitrag zum Sparpaket geleistet hat, sodass
wir das heute auf den Weg bringen können.
({0})
Es ist aber natürlich schwierig - damit wende ich
mich an den Kollegen Gehring und auch an den Kollegen Rix -, wenn man einen solchen fundamentalen
Wechsel vornimmt. Da bleiben Fragen offen. Auch
heute sind sie noch offen. Der Kollege Grübel hat das
Kindergeld angesprochen. Man kann auch die Umsatzsteuerbefreiung nennen. Wir haben dort Hausaufgaben
zu erledigen. Natürlich müssen wir hier nicht nach unten
nivellieren, sondern wir müssen das Ganze evaluieren,
um am Ende besser zu werden.
In meiner letzten Rede habe ich Sie eingeladen, dabei
mitzumachen. Beim Kollegen Rix habe ich den Eindruck, dass er sich ein bisschen auf uns zubewegt und
den Weg mitgeht.
({1})
Beim Kollegen Gehring habe ich den Eindruck, dass er
am Ende ein wenig in die Sprachmuster zurückfällt, die
wir am Anfang der Debatte hatten.
Das finde ich sehr schade; denn man kann konstatieren, dass wir jetzt zwei Säulen haben, die entgegen Ihrer
Unkenrufe gleichberechtigt nebeneinanderstehen.
({2})
- Doch, das stimmt. Behaupten Sie nicht das Falsche,
Herr Gehring. Sie können es nachlesen. Wir haben darüber diskutiert. Sie behaupten es einfach nur. Den Gegenbeweis sind Sie hier vorne eben schuldig geblieben.
({3})
Diese beiden Säulen haben wir, weil die Länder sich
in der Kompetenzfrage nicht bewegen und der Bund sich
auch nicht aus der Verantwortung, die er übernommen
hat, zurückziehen will. Es ist auch gut, dass wir hier mit
zwei Säulen ein Angebot für junge Menschen machen,
die sich freiwillig engagieren wollen. Es bleibt dabei:
Wir wollen das Ganze so organisieren, dass es keinen
Unterschied für die Jugendlichen in den Freiwilligendiensten und im BFD gibt, egal in welcher dieser beiden
Säulen sie sich bewegen. Die Hausaufgaben, die wir
nach wie vor zu erledigen haben, habe ich angesprochen.
Dabei bleibt es auch; das ist keine Frage.
Es gibt aber noch einige andere Dinge zu tun: Stichwort „Anerkennungskultur“.
({4})
Natürlich müssen wir uns noch intensiv Gedanken darüber machen, was nicht nur wir als Politik, sondern auch
die Träger, die Einrichtungen, die Kommunen sowie die
Länder dazu beitragen können, damit es sich für junge
Menschen - neben der Erfahrung, die sie sammeln lohnt, einen solchen Dienst zu tun. Ich glaube allerdings,
dass wir dabei nicht nur über einen konkreten Nutzen reden müssen, sondern es auch um die Frage der Wertschätzung geht.
({5})
- Frau Präsidentin, ich glaube, der Kollege möchte eine
Frage stellen.
Möchten Sie denn die Frage zulassen und damit Ihre
Redezeit unendlich verlängern?
Ich würde die Frage zulassen.
Bitte schön, Herr Gehring.
Ich rede nicht „unendlich“. Keine Sorge!
({0})
Bitte schön, Herr Kollege.
Ich höre in den Debatten des letzten Dreivierteljahres
- eigentlich seit vielen Jahren -, dass man etwas für die
Anerkennungskultur tun muss. Ich würde gerne wissen
- vielleicht können Sie ein bisschen für die Regierung
sprechen; Frau Schröder ist zumindest anwesend -:
({0})
Gibt es in der Kultusministerkonferenz, in der Jugendministerkonferenz oder in den ganzen Bund-Länder-Vereinbarungen konkrete Verabredungen zur Verbesserung
der Anerkennungskultur? Wie ist denn da der Fahrplan?
Die Bundesebene ist da doch ganz klar in der Initiatorenrolle.
Lieber Kollege, herzlichen Dank für die Frage. Sie
wissen - ich hoffe, dass Sie es wissen -, dass die Ministerin bei dieser Frage bereits initiativ ist: Es gibt einen
Gesprächskreis in ihrem Hause, in dem genau diese
Frage mit den Ländern und Kommunen erörtert wird.
({0})
Sie wissen auch, dass es unheimlich schwierig ist, vonseiten des Bundes in gewisse Kompetenzen einzugreifen. Ich nenne das Beispiel einer Anerkennung in Form
zusätzlicher Wartesemester: Das können wir in diesem
Hause, selbst wenn wir es wollten, nicht regeln; dazu
brauchen wir in der Tat die Kultusministerkonferenz und
die Länder.
({1})
Man kann andere Dinge hinzunehmen: die Frage, ob
Freiwillige das, was sie in ihrem Freiwilligendienst leisten, bei einer möglichen Berufsqualifizierung anerkannt
bekommen. Auch das können wir nicht in jedem Fall in
diesem Haus regeln. Wir brauchen ein Miteinander. Wir
beginnen jetzt;
({2})
es geht, wie gesagt, um einen Prozess. Es wäre schön,
wenn Sie da mitgehen würden.
({3})
Herzlichen Dank, Sie dürfen sich gerne wieder setzen. Frau Präsidentin, keine Sorge, ich werde nicht ohne
Ende weiterreden.
Ich glaube, dass man das Ganze schön mit einem Zitat
von Konrad Adenauer zusammenfassen kann. Er hat einmal gesagt, dass jeder einzelne Bürger das Gefühl und
das Bewusstsein haben muss, dass er selbst Mitträger
des Staates ist. Er müsse erkennen und wissen, dass es
ein gemeinsames Interesse gibt, das beachtet werden
muss, und dass das in seinem eigenen, ureigensten Interesse geschieht.
Was heißt das? Wenn man das ernst nimmt, dann
muss man jungen Menschen in dieser Gesellschaft die
Chance geben, Verantwortung zu übernehmen. Genau
das wollen wir mit den Jugendfreiwilligendiensten und
dem Bundesfreiwilligendienst erreichen. Denn wir können nicht von der jungen Generation erwarten, dass sie
irgendwann Verantwortung für Deutschland übernimmt,
wenn sie vorher keine Gelegenheit hatte, sich selbst und
ihre Fähigkeiten zu erproben. Deswegen bleibt es richtig, dass wir diesen Weg gehen.
Wir brauchen auch künftig den Thorsten, der bei der
Caritas alte Menschen pflegt. Wir brauchen die LisaMarie, die in einer Jugendwohngruppe der Diakonie mit
sozial benachteiligten jungen Menschen arbeitet, die
Melanie in der Schutzstation Wattenmeer, die Vogelzählungen vornimmt und Wattexkursionen durchführt, den
Giovanni im Sportverein,
({4})
die Heike bei der Hausaufgabenbetreuung des Fördervereins der örtlichen Schule, den Murat im kommunalen Integrationsprojekt, die Sabine bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die ein Jahr in Israel
verbringt - 800 junge Menschen aus Deutschland machen das gerade -, auch den Lars, der freiwillig Wehrdienst leistet und sagt:
({5})
„Bevor ich in den Hörsaal gehe, trete ich auf dem Appellplatz an und gehe über die Hindernisbahn.“ All das
gehört zusammen. Wir müssen jungen Menschen die
Chance geben, Verantwortung für unser Land zu übernehmen. Wenn das freiwillig geschieht, ist das eine wunderbare Sache.
({6})
Ich habe Sie schon letztes Mal eingeladen, mitzumachen. Sie haben jederzeit die Chance dazu; die Türen
stehen offen. Vielleicht nutzen Sie sie das nächste Mal.
Darüber würde ich mich sehr freuen.
Herzlichen Dank.
({7})
Rolf Schwanitz hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Drei Feststellungen sind mir heute bei der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfes wichtig.
Erste Feststellung. Der Gesetzentwurf ist keine Errungenschaft, schon gar keine alternativlose Errungenschaft, sondern das Ergebnis einer Notoperation; Sie ziehen das im Schnellverfahren durch das Parlament.
({0})
Der Anlass für diese Notoperation ist natürlich die überstürzte Aussetzung der Wehrpflicht, die Sie vorgenommen haben. Genauso, wie Sie die Strukturen im Bundeswehrbereich überstürzt auf die neue Situation einstellen,
tun Sie das angesichts des Wegfalls des Zivildienstes
auch bei der sozialen Infrastruktur.
Sie sind übrigens an dieser Stelle realistisch. Das
merke ich, wenn ich in den Text des Gesetzes schaue.
Denn der Gesetzentwurf besagt, es gehe um die Minimierung der negativen Effekte. Also bitte schön: Backen
Sie kleine Brötchen. Das ist nicht die soziale Errungenschaft, sondern der Versuch der Nothilfe aufgrund eines
Dilemmas, das Sie selbst geschaffen haben, meine Damen und Herren.
({1})
Zweite Feststellung. Anstatt auf wirkliche Reformen
zu setzen und den Freiwilligendienst sowie die bewährten Strukturen zu stärken, sind Sie auf ein altes Staatsdenken zurückgefallen und haben nun einen neuen, zusätzlichen staatlichen Freiwilligendienst etabliert - mit
allen Nachteilen und Folgen, die hier schon diskutiert
worden sind.
Wir haben Ihnen frühzeitig gesagt: Nehmen Sie das
freiwerdende Geld - das ist für einen Haushälter nicht
selbstverständlich - und weisen Sie große Teile davon
dem Freiwilligendienst an.
({2})
Denn wir wissen: Dort ist die Nachfrage faktisch dreimal
so groß wie das bisherige Angebot.
Sie, Frau Ministerin, haben bei dieser Ausgangssituation diese Option nach meiner Überzeugung niemals
ernsthaft erwogen.
({3})
Sie haben zwei Gegenargumente gebracht, zu denen ich
etwas sagen möchte.
Das erste Gegenargument hieß, es gebe ein Gebot der
institutionellen Vorsorge. Das heißt, für den plötzlichen
Fall, dass die Wehrpflicht wieder aktiviert wird, müsse
man die staatlichen Strukturen vorhalten. - Ich bin gespannt, ob im Herbst, wenn das Standortkonzept für die
Bundeswehr im Deutschen Bundestag diskutiert wird,
die Kasernen in Zellophan gepackt und vorgehalten werden, meine Damen und Herren.
({4})
Eigentlich dürfte man solche schlichten Argumente vonseiten der Bundesregierung gar nicht mehr zulassen.
Das zweite Argument, das Sie gebracht haben, war, es
fehle beim Freiwilligendienst die Finanzierungskompetenz des Bundes. Deswegen dürfe man nicht über das
heutige Maß hinausgehen und finanziell fördern. Mittlerweile ist diese These mindestens zweifach widerlegt
worden. Das geschah zum einen durch die heutige Lage
selbst. Die Länder geben ausweislich ihrer eigenen Zahlen rund 20 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilligendienste aus.
({5})
Übrigens stammt der größte Teil davon aus ESF-Mitteln
und nicht einmal aus originären Landesmitteln.
({6})
Schon 2011, also in diesem Jahr, stehen diesen
20 Millionen Euro 50 Millionen Euro an Förderung durch
den Bund gegenüber.
({7})
Es gibt sogar vier Länder, die dafür noch nicht einmal eigene Landesmittel zur Verfügung stellen.
({8})
Also tun Sie doch nicht so, als sei das ein verfassungswidriger Zustand, meine Damen und Herren.
({9})
Völlig absurd wird diese Frage beim Blick auf das
nächste Jahr 2012. Dann werden Sie - das kritisieren wir
nicht - 100 Millionen Euro zur Förderung der Freiwilligendienste ausgeben. Das ist das Fünffache der Ländermittel - ich rechne die ESF-Mittel hinzu - oder das
Zehnfache der Ländermittel ohne die ESF-Mittel.
({10})
Also hören Sie auf mit solch künstlichen Argumenten, es
gebe keine Finanzierungskompetenz des Bundes. Es gibt
keine Legimitation für Doppelstrukturen. Das ist die Situation.
({11})
Dritte Feststellung. Sie haben nicht nur im Zusammenhang mit dem Wegfall des Zivildienstes die Situation schlecht vorbereitet, sondern Sie haben auch in Ihrem eigenen Haus die Hausaufgaben nicht gemacht.
({12})
Damit meine ich natürlich das Bundesamt für den Zivildienst. Sie haben erst einmal auf den windigen Vorschlag von Frau von der Leyen gesetzt, dass dort das Bildungspaket für Familien mit Kinderzuschlag verwaltet
werden sollte. Ich weiß gar nicht, wie Beamte aus Köln
den Musikunterricht im Erzgebirge hätten kontrollieren
sollen.
({13})
Ich bin froh, dass der Bundesrat diesen Unsinn verhindert hat, meine Damen und Herren.
({14})
Nachdem sich diese Situation jetzt erledigt hat, sagen
Sie: Wir ziehen von Trägern, von Fachleuten, von Experten vor allen Dingen als Regiefunktion Programmsteuerungselemente zurück in das Amt. Mit dieser Tätigkeit sollen 120 Beamte in Lohn und Brot kommen.
Dabei wird auch Expertise verloren gehen.
({15})
Auch darüber müssen wir zu gegebener Zeit noch einmal
reden.
Am schlimmsten allerdings finde ich, dass rund
30 Prozent der Beschäftigten des Bundesamtes, also
etwa 200 Planstellen, bis zum heutigen Zeitpunkt noch
nicht wissen, mit welcher Aufgabe sie künftig ausgestattet werden sollen.
({16})
Ich bedanke mich bei allen Fraktionen, dass gestern
der Haushaltsausschuss Folgendes gesagt hat: Hier muss
ein Personalkonzept auf den Tisch, das muss im Parlament beraten werden. - Denn diese Unsicherheit ist gegenüber den Beschäftigten und gegenüber dem Steuerzahler völlig unzumutbar.
({17})
Sie starten jetzt eine Öffentlichkeitskampagne. In den
Ausschreibungsunterlagen zu dieser Öffentlichkeitskampagne habe ich einen schönen Satz gefunden, den ich zitieren möchte. Dort heißt es:
Die Kampagne
- es geht um den Bundesfreiwilligendienst soll darüber hinaus deutlich machen, dass das
BMFSFJ kompetent, verantwortlich und erfolgversprechend auf die Aussetzung der Wehrpflicht reagiert hat, und die positive Rolle von Bundesfamilienministerin Schröder kommunizieren.
({18})
Echte Reformpolitik hätte diese Schminke nicht nötig
gehabt.
({19})
Mehr Mut zu echter Reformpolitik und weniger Engagement für die Fassade, das hätte dem Freiwilligendienst
gutgetan und auch Ihnen persönlich.
Herzlichen Dank.
({20})
Florian Bernschneider hat jetzt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde es interessant, mit welcher Doppelzüngigkeit die Opposition hier argumentiert. Auf der einen
Seite regen Sie sich darüber auf, wie groß der staatliche
Einfluss auf den Bundesfreiwilligendienst ist, und betonen, wie schlimm es ist, dass der Staat jetzt auf die Zivilgesellschaft Einfluss nimmt. Auf der anderen Seite haben Sie jede Menge Forderungen, was wir noch alles
gesetzlich regeln müssen, damit die Zivilgesellschaft das
ja nicht selbst regelt.
({0})
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Zivilgesellschaft weiß viel
besser, wie der Unterricht pädagogisch zu gestalten ist.
Das können wir in einem Gesetz gar nicht so gut regeln.
({1})
Seit August 2010 debattieren wir hier im Parlament
über die Pläne der Koalition aus Union und FDP zur
Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch über die
Aussetzung des Zivildienstes. Schon im Juni 2010 hat
die Ministerin im Ausschuss angekündigt, eine Erhebung durchzuführen, welche Folgen die Aussetzung der
Wehrpflicht für den Zivildienst hat.
({2})
Ich glaube, dass Sie sich jetzt schon ein halbes Jahr lang
darüber ärgern, dass es nun Union und FDP sind, die diesen wichtigen Schritt unternehmen. Das kann ich zwar
gut verstehen, aber heute, ein halbes Jahr später, kann
mir niemand erzählen, dass diese Lesung für ihn überraschend kommt. Sie können nicht sagen, dass die Beratungen im Schweinsgalopp stattgefunden hätten.
({3})
Union und FDP haben das vergangene halbe Jahr genutzt, um offene Fragen gemeinsam zu klären. Es ging
dabei um offene Fragen, die wir uns gestellt haben, und
um offene Fragen, die Sie gestellt haben. Zum Beispiel
ging es um die Frage, wie wir verhindern können, dass
der Bundesfreiwilligendienst - das wurde auch heute oft
angesprochen - die Existenz der bestehenden Freiwilligendienste FSJ und FÖJ gefährdet. Wir legen Ihnen
heute eine Antwort auf diese Frage vor: Das Kopplungsmodell und die Stärkung der Jugendfreiwilligendienste
sorgen dafür. Beide Säulen sind nur dann stark, wenn
beide Bereiche miteinander und nicht gegeneinander arbeiten.
Wir haben das vergangene halbe Jahr auch genutzt,
um die Sonntagsreden, die wir im Zusammenhang mit
den Jugendfreiwilligendiensten alle - das sage ich ganz
offen - viel zu oft gehalten haben, endlich in konkrete
Punkte zu überführen. In Ihren Anträgen heißt es ganz
abstrakt: Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste neuen
Zielgruppen eröffnen. Wir machen Ihnen jetzt endlich
einen konkreten Vorschlag, wie das aussehen kann:
50 Euro mehr zusätzliche Bildungsförderung für Jugendliche mit besonderem pädagogischen Förderbedarf.
({4})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein. - Wir haben das vergangene halbe Jahr aber
auch genutzt, um ein paar Realitäten anzuerkennen, zum
Beispiel, dass für FSJ und FÖJ die Länder zuständig sind
und der Bund nur einen relativ geringen Spielraum hat.
Diesen Spielraum nutzen wir jetzt. Statt mit 72 Euro
werden FSJ-Plätze künftig mit 200 Euro monatlich gefördert.
SPD und Grüne gehen auf diese Realitäten in ihren
Reden selten ein. Sie haben die Realität aber längst erkannt. Das sieht man, wenn man ihre Anträge liest. SPD
und Grüne fordern in keinem Satz, die Pauschalen bzw.
die Bildungsförderung, die wir bei FSJ und FÖJ vorsehen, auf über 200 Euro anzuheben. Anscheinend ist Ihnen also bewusst, dass der Bund viel mehr gar nicht machen kann. Die Linken hingegen fordern mehr als
200 Euro. Das habe ich in Ihrem Antrag gelesen. Allerdings müssen auch Sie anerkennen, dass wir dafür nicht
zuständig sind.
({0})
Das ist wie immer: Wenn linke Politik auf die Realität
trifft, funktioniert das nicht richtig.
({1})
Das sieht man in den Ländern, in denen Sie mitregieren.
Schauen Sie einmal in die Länder - ich sage das, weil
das erwähnt wurde -, in denen die Linke die Verantwortung für die Freiwilligendienste trägt. Schauen Sie einmal, was die Linke in diesen Ländern für die Freiwilligendienste tut, nämlich relativ wenig.
({2})
Es passiert selten - auch das muss man einmal festhalten -, dass die Forderungen der Opposition hinter denen der Regierung zurückbleiben. Die SPD fordert
30 000 Freiwilligendienstplätze. Die Grünen fordern
eine Verdoppelung der Freiwilligendienstplätze. Wir legen Ihnen heute ein Konzept vor, mit dem eine Verdreifachung der Freiwilligendienstplätze in Deutschland
möglich ist. Das geht natürlich nur, weil wir mit der
zweiten Säule, nämlich dem Bundesfreiwilligendienst,
eine Möglichkeit geschaffen haben, die Fördermöglichkeiten des Bundes voll auszureizen.
Deswegen lasse ich mir von Ihnen nicht länger erzählen, wir hätten kein Gesamtkonzept vorgelegt. Wie ist
denn Ihr Gesamtkonzept? Ein Blick in den Antrag der
Grünen gibt darüber gut Auskunft. Darin steht: Wir wollen uns jetzt mit Bund, Ländern und Trägern zusammensetzen und am Kaffeetisch darüber beraten, wie dieses
Gesamtkonzept aussehen soll.
({3})
- Sehr geehrter Herr Kollege, das alles ist schön und
richtig. Aber das ist doch genau das, was Sie hier fordern. Sie fordern jetzt runde Tische, um zu klären, wie es
weitergehen soll.
Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: Am 1. Juli setzen wir die Wehrpflicht aus. Ich finde es toll, dass die
Grünen zustimmen, und ich finde das sehr vernünftig.
Aber es ist doch nicht vernünftig, sich jetzt zwei, drei
Jahre lang an runde Tische zurückzuziehen
({4})
und mit den Ländern darüber zu streiten, wer für die
Freiwilligendienste überhaupt zuständig ist.
Möchten Sie denn eine Frage der Kollegin Malczak
zulassen?
Nein.
({0})
Ihre Begründung, warum Sie den Bundesfreiwilligendienst, die Doppelstrukturen so strikt ablehnen, ist aller
Ehren wert. Ich finde es vernünftig, dass Sie sagen, Sie
hätten das lieber in einer Säule. Auch wir hätten das lieber in einer Säule. Ich versuche Ihnen gerade zu erklären, dass das wegen der Zuständigkeiten von Bund und
Ländern nur schwer möglich ist. Aber was ich so absurd
finde, ist, dass Sie diese Doppelstruktur nach wie vor als
eines Ihrer Hauptargumente dafür verkaufen, warum Sie
dem Bundesfreiwilligendienst nicht zustimmen können.
Was hatten wir denn bis jetzt? Es gab den Zivildienst
und die Freiwilligendienste.
({1})
Waren das keine Doppelstrukturen, die da über Jahre
hinweg bestanden haben?
({2})
War es nicht ungerecht, dass ein Freiwilliger weniger bekommen hat als ein Zivildienstleistender, obwohl sie die
gleichen Aufgaben hatten?
({3})
Sie haben die Ungerechtigkeit mit der 14-c-Regelung
noch einmal gesteigert, indem sogar innerhalb der Frei11326
willigendienste junge Frauen Nachteile gegenüber jungen Männern hatten.
({4})
Ich gebe zu: Auch uns gelingt es mit diesem Modell
nicht, das in eine Struktur zu packen. Aber das ist nichts
Neues; das habe ich Ihnen gerade gesagt. Die Doppelstrukturen gab es schon in der Vergangenheit. Aber wir
beseitigen wenigstens die Ungerechtigkeiten. Sie konnten in der Vergangenheit sehr wohl ruhig damit schlafen,
beides zu haben, nämlich Ungerechtigkeiten und Doppelstrukturen. Deswegen: Nehmen Sie das nicht länger
als vorgeschobenes Argument!
({5})
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zu dem Antrag der Linken sagen. Ich habe heute Frau Dittrich als
ausgewiesene Expertin der Linken für bürgerschaftliches
Engagement vermisst. Aber auch der andere Redner hat
deutlich gemacht, dass bei den Linken einiges durcheinandergeht, wenn es um bürgerschaftliches Engagement
geht. Das merkt man allein daran, dass das Thema Mindestlohn beim bürgerschaftlichen Engagement immer
eine herausragende Rolle bei Ihnen spielt.
({6})
Bei Ihnen geht auch jetzt wieder etwas durcheinander.
({7})
In der Nr. 1 g Ihres Antrags führen Sie aus, dass der Bezug des Kindergeldes um die Zeit des Jugendfreiwilligendienstes verlängert werden soll. Das ist Ihre Forderung.
Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.
Ja.
({0})
Diese Forderung ist völlig unnötig; denn das ist schon
lange der Fall. Aber ich weiß, was Sie damit meinen,
und es ist lieb gemeint. Darauf sind viele Kollegen eingegangen. Es geht darum, das Kindergeld im Bundesfreiwilligendienst einzuführen. Das sollte Ihnen erst einmal bewusst sein.
Herr Kollege.
Das müssen wir noch schaffen; das ist wichtig.
Die FDP-Fraktion fordert die Bundesregierung auf,
hier noch ein besseres Konzept nachzuliefern. Dazu finden zurzeit schon Gespräche statt.
Herr Kollege.
Ich bin zuversichtlich, dass das funktioniert, Frau Präsidentin, und komme jetzt zum Ende.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Malczak.
Sehr geehrter Herr Kollege Bernschneider, Sie selbst
haben angekündigt, jetzt würden noch im Nachhinein
Gespräche stattfinden, also doch auch bei Ihnen runde
Tische. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, das zu machen, bevor das Gesetz heute hier verabschiedet wird.
Der Kollege Gehring hat vorhin klargemacht: Uns geht
es nicht um runde Tische, sondern es gibt bestimmte
Gremien wie den Bundesrat, die Kultusministerkonferenz und die Jugendministerkonferenz.
Ich möchte Ihnen nur eine kurze Frage stellen: Meinen Sie nicht, dass Sie die Zeit im Zusammenhang mit
der Verkürzung des Wehrdienstes und des Zivildienstes
auf sechs Monate, die jetzt wieder hinfällig ist, vielleicht
besser dafür hätten verwenden sollen, die entscheidenden Gremien vorher einzubinden? So müssten Sie nicht
schon heute ankündigen, dass die Gespräche im Nachhinein folgen und dass dann Nachbesserungen kommen.
({0})
Herr Bernschneider, bitte.
Frau Kollegin, darauf möchte ich gerne antworten.
Sie wissen: Manchmal ist es eben so, dass erst der eine
einen kleinen Schritt gehen muss, um dann gemeinsam
einen großen Schritt zu gehen. So war das bei der FDP
und der Union. Sie wissen, dass sich die FDP von Anfang an gewünscht hat, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir
konnten dann die Union im Laufe der Verhandlungen davon überzeugen, dass es tatsächlich sinnvoll ist, darauf
zu verzichten.
Ich finde das gar nicht schlimm. Sie sollten sich eher
fragen, warum Sie es in Ihrer Regierungszeit niemals geschafft haben, die SPD zu überzeugen. Von daher,
glaube ich, ist dies kein Grund, die FDP anzugreifen. Ich
finde, wir haben tolle Arbeit geleistet. Die Liberalen haben es geschafft, den Koalitionspartner davon zu überzeugen, die Wehrpflicht auszusetzen. Davon könnten Sie
sich eine große Scheibe abschneiden.
({0})
Norbert Geis hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Natürlich ist die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes eine Reaktion auf die Aussetzung der
Wehrpflicht und damit verbunden des Zivildienstes. Was
ist daran falsch? Die Aussetzung der Wehrpflicht und
damit verbunden die Aussetzung des Zivildienstes markieren einen der größten Veränderungsprozesse der letzten 20 Jahre. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Bundeswehr, sondern vor allem auch auf die soziale Struktur
unserer Gesellschaft.
Der Staatsbürger in Uniform war, wie das Gelöbnis es
sagt - Hunderttausende von Jugendlichen haben dieses
Gelöbnis abgelegt -, bereit, seinem Land zu dienen und
das Recht und die Freiheit seines Volkes tapfer zu verteidigen. Das sind die Worte in dem Gelöbnis. Dem Zivildienst lag eine ähnliche Aufgabe zugrunde. Der Zivildienst hat den Jugendlichen wohl zum ersten Mal in
seinem Leben mit der Not und der Bedürftigkeit in unserer Gesellschaft konfrontiert. Der Jugendliche hat da seinen Beitrag geleistet. Das dürfen wir heute nicht vergessen. Der Zivildienst und die Wehrpflicht haben 50 Jahre
lang in unserer Gesellschaft segensreich gewirkt und haben mit einen großen Anteil daran, dass sich die Jugendlichen am Ende in einer ganz großen Zahl mit unserer
freiheitlichen Gesellschaftsordnung, mit unserem Rechtsstaat identifiziert haben. Das war eine große Leistung.
({0})
Den Gedanken, dass man eine gewisse Zeit seines Lebens dem Gemeinwesen widmet, greift der Bundesfreiwilligendienst auf; diesen haben zuvor auch schon die
Jugendfreiwilligendienste aufgegriffen. Ich halte es für
ausgezeichnet, dass wir die Linie, die in unserer Gesellschaft entstanden ist, durch den Bundesfreiwilligendienst fortsetzen.
Die Abschaffung des Zivildienstes - das ist heute
schon gesagt worden - reißt natürlich eine Lücke in unsere Gesellschaft. Gerade weil wir eine älter werdende
Gesellschaft sind und gerade weil viele Menschen in hohem Alter pflegebedürftig sind, große Bedürftigkeit haben, war es gut und richtig - das haben uns alle Verbände
gesagt -, dass wir Zivildienstleistende hatten. Diese Zivildienstleistenden haben zusammen mit den Verbänden,
den großen Verbänden wie Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und anderen Wohlfahrtsverbänden, aber auch
zusammen mit kleineren Gruppierungen einen großen
Dienst an der Gesellschaft erbracht. Diesen Dienst soll
nun der Bundesfreiwilligendienst fortsetzen. Was ist daran falsch?
Es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes. Das bestätigen die
Zusage und die Anerkennung der großen Verbände, die
ich eben genannt habe. Sie alle freuen sich und sind
dankbar, dass der Bund einen solchen neuen Dienst errichtet. Wir sollten den Bundesfreiwilligendienst so sehen, wie er gesehen werden muss.
({1})
Er ist eine Chance, und zwar nicht nur für Jugendliche,
sondern auch für Erwachsene - auch für Rentner -, die
bereit sind, einen Teil ihres Lebens der Gesellschaft zu
opfern. Das ist, glaube ich, eine gute Seite innerhalb unserer Gesellschaft; das wird auch nicht geringer.
({2})
Herr Geis, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dittrich von der Linken zulassen?
Ja, bitte.
({0})
Bitte schön.
Herr Geis, Sie können sich sicherlich an die Sachverständigenanhörung zum Bundesfreiwilligendienst erinnern. Sie haben gerade gesagt: Der Zivildienst, der jetzt
wegfallen wird, wird eine große Lücke reißen. Können
Sie uns im Parlament vielleicht erklären, wie das Fehlen
des Zivildienstes, der arbeitsmarktneutral gewesen sein
soll, eine große Lücke reißen wird? Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Wie kann es sein, dass auch der
Bundesfreiwilligendienst arbeitsmarktneutral sein wird?
Könnten Sie das bitte einmal erklären? Dann wären wir
hier im Parlament - auch die jungen Menschen auf der
Zuschauertribüne - vielleicht etwas weiter.
Ich glaube nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst
eine Konkurrenz zum Ehrenamt darstellt. Ich glaube
auch nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine Konkurrenz zu den Jugendfreiwilligendiensten oder den Beschäftigten darstellt.
({0})
- Er ist ganz anders strukturiert.
({1})
Für die Beschäftigten ist es der Beruf, dem diese Menschen nachgehen. Der Bundesfreiwilligendienst sieht
eine Dauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr vor, und
die Entlohnung ist niedrig. Wir wissen, dass Kleidung
und Wohnraum gestellt und auch ein Taschengeld gezahlt
werden kann. Das alles kann für den Beschäftigten im
Gesamtrahmen der sozialen Fürsorge in unserem Land
aber kein Ersatz sein. - Sie dürfen sich wieder setzen.
({2})
Nein, das können Sie nicht.
Ja, das ist nicht möglich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube
fest, dass der Sozialstaat ohne die Freiwilligendienste
und ohne die vielen bürgerschaftlichen Engagements
- dazu zähle ich auch die Caritas, natürlich auch die Diakonie und die Arbeiterwohlfahrt - nicht aufrechterhalten
werden kann. Eine der wichtigen Voraussetzungen dafür,
dass er aufrechterhalten werden kann, ist, dass wir Freiwillige finden, die bereit sind, in diesen Organisationen
tätig zu sein.
Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb die Freiwilligen eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft
spielen können. Durch die Freiwilligen entsteht eine
neue Bindungskraft innerhalb der Gesellschaft. Dadurch,
dass die Menschen aufeinander zugehen, sich gegenseitig und den Bedürftigen helfen, entsteht Bindung innerhalb der Gesellschaft.
Dass es Freiwilligendienste gibt - ob kleinere Organisationen, größere Gruppierungen oder große wie den Caritasverband -, beweist, dass es innerhalb der Gesellschaft eine Kraft gibt, die nicht dem Staat zugeordnet
werden kann, die aber auch nicht dem durch Konkurrenz
und Wettbewerb gekennzeichneten Markt zugeordnet
werden kann, sondern einen selbstständigen Raum ausfüllt. Das ist das, was vorhin genannt worden ist. Es geht
darum, Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen. Das ist das Potenzial, das wir im Freiwilligendienst sehen. Er ist eine Art Partizipation an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, an dem Leben der
Gesellschaft. Zwischen Staat und Markt entsteht eine
dritte Säule: die Säule der freiwilligen Betätigung der
Menschen, der Freiwilligkeit und des bürgerschaftlichen
Engagements.
Ich halte dies für sehr wichtig. Ich bin der Bundesregierung und der Frau Ministerin außerordentlich dankbar, dass wir den Ansatz, für den Zivildienst nun den
Bundesfreiwilligendienst einzuführen, gefunden haben.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Klaus Riegert hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aus Sicht des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement bin ich froh, dass die ganze Debatte von der
gemeinsamen Sorge und dem Willen getragen war, einen
Konsens zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zu erzielen. Dafür möchte ich herzlich danken.
({0})
In der Tat stehen wir vor einer historischen Zäsur. Wir
gehen nämlich vom Zivildienst, von einem Zwang, hin
zur Freiwilligkeit. Ich glaube, dies ist ein entscheidender
Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Die Demokratie
lebt bekanntlich von Voraussetzungen, die sie selbst
nicht schaffen kann. Deshalb müssen wir auf Freiheit,
Beteiligung und Teilhabe achten und uns Gedanken machen, wie wir junge Menschen motivieren, sich einzubringen und im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes,
der nicht wie der Zivildienst Zwang ist, sondern freiwillig, Dienst für die Gesellschaft zu tun.
Dabei müssen wir individuelle Aspekte wie die soziale Situation oder die Flexibilität des Engagements generationsübergreifend beachten, damit das Angebot bei
Berufseinsteigern, Menschen in Übergängen, Schülern,
Studenten, Vorruheständlern und benachteiligten Menschen ankommt. Für den Dienst als Bildungsinstrument
braucht man im Hinblick auf die Freiwilligkeit besondere Motivation. Forscher würden sagen: Motivation ist
entweder intrinsisch oder extrinsisch. - Jetzt sehe ich in
ein paar verdutzte Gesichter. Da man in Debatten auch
etwas lernen soll,
({1})
habe ich die entsprechende Wikipedia-Definition mitgebracht.
({2})
Der Begriff intrinsische Motivation bezeichnet das
Bestreben, etwas um seiner selbst willen zu tun
({3}).
Bei der extrinsischen Motivation steht dagegen der
Wunsch im Vordergrund, bestimmte Leistungen zu
erbringen, weil man sich davon einen Vorteil ({4}) verspricht oder Nachteile ({5})
vermeiden möchte. Die neuere Motivationsforschung unterscheidet zwischen zwei intrinsischen
und drei extrinsischen Quellen der Motivation.
So weit Wikipedia. - Diese Vielfalt, auf den kurzen
Nenner gebracht, sollten wir zulassen, und wir sollten
neben dem neuen Bundesfreiwilligendienst auch die bisherigen Dienste würdigen. Deshalb, glaube ich, ist an
dieser Stelle ein herzlicher Dank an die engagierten jungen Menschen, Männer und Frauen, im FSJ, im FÖJ, in
den Auslandsdiensten und in „weltwärts“ angebracht.
({6})
Dazu müssen wir Angebote machen; das wurde ja
schon hinreichend diskutiert. Wir müssen auch neue Einsatzfelder generieren und dafür werben und hier eine
neue Kultur der Freiwilligkeit - wie es die Frau Bundesministerin genannt hat - herstellen. Die Rahmenbedingungen dafür sind sehr wichtig. Das haben wir ja jetzt
die ganze Zeit diskutiert. Ich glaube, außer dem, was wir
hier diskutieren, geht es auch darum, dass wir junge
Leute für diesen Dienst begeistern. Wir müssen ein positives Klima schaffen, damit die jungen Leute, Frauen
und Männer, sich freiwillig für den Dienst bewerben.
Herr Kollege, Herr Koch würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne.
Bitte schön.
({0})
Werter Herr Kollege, eigentlich wollte ich die Frage
schon den Vorrednern aus Ihrer Fraktion stellen. Sie haben sich jetzt auch auf die freiwillig Dienstleistenden,
FSJ und FÖJ, berufen und haben gesagt, diese würden
diesen Dienst angeblich begrüßen. Es gibt einen Rat der
Sprecherinnen und Sprecher der Schleswig-Holsteiner
FSJler und FÖJler, der über 1 000 der freiwillig Dienenden vertritt und ein Papier erarbeitet hat. Dieses ist im
März unter dem Titel - ich halte es einmal hoch - „Was
für einen Freiwilligendienst wollen wir haben?“ verabschiedet worden. Ich zitiere einmal daraus und möchte
dann kurz Ihre Position dazu hören.
Der Bundesfreiwilligendienst ist die unnötige Einrichtung einer Doppelstruktur, die für Verwirrung
der jungen Menschen sorgt, die sich engagieren
wollen.
Ich will nur sagen: Berufen Sie sich also bitte nicht
auf die freiwillig Dienstleistenden in den Freiwilligendiensten.
({0})
Lieber Herr Kollege, da haben wir - wie die Debatte
gezeigt hat - ein rechtliches Problem. Da waren wir ja
unterschiedlicher Meinung. Auch der Kollege Schwanitz
hat da die Verfassungslage einmal kurz übergangen.
({0})
Im Bereich des Zivildienstes geht es nicht um eine Abschaffung, sondern um eine Aussetzung. Auch bei Aussetzung des Wehrdienstes wollen wir für die Zukunft die
notwendigen Rechtsgrundlagen behalten, um auf eine
Sicherheitslage vorbereitet zu sein, die eine Wiedereinrichtung des Wehrdienstes, was wir uns alle nicht wünschen - wir gehen auch nicht davon aus, dass das der
Fall sein wird -, nötig macht. Aufgrund der Verfassungslage war es zwingend notwendig, den Gesetzentwurf so
zu gestalten, wie er vorliegt.
Wenn Sie noch ein bisschen gewartet hätten, dann
hätten Sie gemerkt, dass ich in meinem Schlusswort versuchen wollte, die Brücke in die Zukunft zu schlagen.
({1})
Wenn man ein neues Instrument wie den Bundesfreiwilligendienst schafft und aus Zwang Freiwilligkeit
macht - darüber habe ich ja schon gesprochen -, dann
muss man die Instrumente natürlich auch ausprobieren.
Es ist die Frage, ob man sich zuerst an den runden Tisch
setzen sollte oder anschließend, wenn man dann aufgrund eines Gesetzes weiß, worüber man spricht. Der
Kollege Rix hat es sehr vernünftig formuliert, indem er
gesagt hat, dass man evaluieren muss. Das heißt, man
muss sich natürlich anschauen: Wie funktioniert das Gesetz? Wie kann man es weiterentwickeln, um es dann in
eine gute Zukunft zu führen?
Wenn irgendwann einmal der Tag kommt, an dem das
aufgrund der Verfassungslage zulässig ist, dann kann
man die Freiwilligendienste auch vereinen.
({2})
Momentan haben wir aber eine andere Gesetzeslage.
Deswegen haben wir das so beschlossen.
({3})
- Wenn Sie etwas wissen wollen, dann müssen Sie eine
Zwischenfrage stellen, sonst geht das von meiner Zeit
ab.
({4})
Ich nehme den Faden wieder auf und knüpfe an meine
Rede an.
Wir müssen diesen Bundesfreiwilligendienst positiv
begleiten, wir müssen junge Menschen für diesen Dienst
begeistern, und wir müssen die Einsatzstellen auffordern, den Dienst so auszugestalten, dass er attraktiv wird
und sich junge Menschen dadurch anerkannt fühlen.
Ich glaube - der Kollege Markus Grübel hat das ja
schon gesagt -, dass wir heute einen historischen Tag haben. Nach 50 Jahren Zivildienst haben wir heute nämlich
die Stunde null des Bundesfreiwilligendienstes. Es freut
mich, dass ich als letzter Redner sozusagen den Segen
für dieses Gesetz geben darf.
({5})
Ob es eine Mehrheit gibt, müssen Sie jetzt bestimmen.
Ich wünsche mir 50 gute Jahre für den Bundesfreiwilligendienst.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5249, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/4803 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in der Schlussabstimmung mit
dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5255. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist bei Zustimmung durch die SPD-Fraktion und die
Fraktion Die Linke, bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen und bei Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 28 b. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4692 mit
dem Titel „Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Bürgerschaftliches Engagement der jungen Generation anerkennen und fördern“. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Antrag bei Zustimmung durch die Koalitions- und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/2117 mit dem Titel „Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Platzangebot ausbauen, Qualität erhöhen, Rechtssicherheit schaffen“. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür haben CDU/CSU und FDP gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Dagegen gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/3429 mit dem Titel „Chancen nutzen - Jugendfreiwilligendienste stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Dafür haben gestimmt CDU/CSU und FDP. Dagegen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4845 mit dem Titel „Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt
Bundesfreiwilligendienst einführen“. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen. Dagegen gestimmt hat die Linke. Enthalten hat
sich die SPD-Fraktion.
Schließlich und letztlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/3436 mit dem Titel „Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt auf den Weg bringen Quantität, Qualität und Attraktivität steigern“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, Gegenstimmen der SPD und Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt 6:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beschäftigte am Aufschwung beteiligen Staatlich begünstigtes Lohndumping aufgeben
- Drucksache 17/4877 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Hierfür ist eine Dreiviertelstunde Debatte
vorgesehen. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben in Deutschland ein zentrales Problem, über das im Regelfall sehr wenig geredet wird:
({0})
Wir haben in Deutschland seit dem Jahr 2000 eine
Lohnsenkung zu verzeichnen. Der durchschnittliche Beschäftigte verdient heute preisbereinigt ungefähr 3 bis
4 Prozent weniger als im Jahr 2000, und dies in einem
Land, in dem wir eine ganz beständige Steigerung der
Produktivität haben, wo also eine deutlich stärkere Beteiligung an der Entwicklung der Ökonomie möglich
wäre. Das ist ein grandioser Skandal.
({1})
Wenn man dann noch berücksichtigt, dass jüngst der
Wirtschaftsaufschwung zu dramatischen Steigerungen
der Unternehmensgewinne geführt hat und die Bundesregierung mit Bundeskanzlerin Merkel und Minister
Brüderle beständig den Aufschwung bejubelt, dann
muss man sagen: Sie bejubeln einen Aufschwung der
Profite; es ist aber kein Aufschwung, der bei der breiten
Masse der Bevölkerung ankommt. Bei der breiten Masse
der Bevölkerung herrschen nach wie vor Stagnation,
Lohndumping und Sozialdumping vor.
In der jüngsten Zeit erleben wir, dass die Regierung
den Beschäftigten im Aufschwung sogar noch zuruft:
Eure Löhne können ruhig ein bisschen erhöht werden. Das ist heuchlerisch und zynisch; denn dass es diese Entwicklung überhaupt gegeben hat, hängt damit zusammen, dass durch die Veränderungen am Arbeitsmarkt
und die Agenda 2010 die Durchsetzungsmöglichkeiten
und Kampfbedingungen für die Gewerkschaften dramatisch verschlechtert worden sind.
({2})
Zu den Punkten, die zuallererst zu nennen sind, gehört die Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen,
Leiharbeit und Minijobs. Es ist doch völlig klar, dass es
in einem Tarifbereich, in dem ein großer Teil der Beschäftigten nur befristet oder in Leiharbeit tätig ist, für
die Gewerkschaften außerordentlich schwierig ist, Tarifrunden durchzuführen und Druck auf die Arbeitgeber
auszuüben.
Ich habe es selbst erlebt. In den 80er-Jahren waren die
Verhältnisse noch anders. Damals herrschte noch eine
andere Ordnung am Arbeitsmarkt, und es war sehr wohl
möglich, in Tarif- und Streikauseinandersetzungen nachhaltig Druck auszuüben und den Beschäftigten einen
halbwegs angemessenen Anteil am wirtschaftlichen
Fortschritt zu sichern.
Diese Bedingungen sind durch politisches Wollen gerade in den letzten zehn Jahren, begonnen mit der
Agenda 2010 durch Rot-Grün und massiv unterstützt
und fortgesetzt durch Schwarz-Gelb, unterhöhlt worden.
Deshalb haben wir die miserable Lohnentwicklung zu
verzeichnen, von der ich eben bereits gesprochen habe.
Hinzu kommt, dass in dieser Entwicklung mit den
Hartz-IV-Gesetzen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber
Erwerbslosen eingeführt worden sind. Diese Sanktionsmöglichkeiten bedeuten, dass einem Erwerbslosen zugemutet werden kann, für 2,50 Euro pro Stunde Klos zu
putzen oder für 3,80 Euro pro Stunde den Hof zu kehren,
und zwar vollkommen unabhängig davon, was der Betroffene oder die Betroffene in der Vergangenheit an
Qualifikationen und beruflicher Erfahrung erworben hat.
Erstens ist das zynisch und eine sozialpolitische Katastrophe. Zweitens hat es aber auch ganz verheerende
Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten von Gewerkschaften, weil sich mittlerweile im Kreise der noch
Beschäftigten natürlich herumgesprochen hat, was einem droht, wenn man Arbeitslosengeld II bezieht. Dies
hat eine ungeheuer disziplinierende Wirkung. Nicht nur
weil es unsozial ist, sondern auch wegen dieser disziplinierenden Wirkung gehört Hartz IV abgeschafft. Das ist
völlig klar.
({3})
Um wieder bessere Lohnentwicklungen durchsetzbar
zu machen, wollen wir die gesamte Agenda 2010 rückabwickeln.
({4})
Solange man das nicht macht, wird Deutschland weiterhin ein Land des Lohndumpings und des Sozialdumpings sein und wird es weiterhin eine schlechte Entwicklung der Löhne geben.
Eine Notmaßnahme, die unmittelbar ansteht, ist die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes mit der
Perspektive von 10 Euro. Das ist das Mindeste. Aber wir
brauchen vor allen Dingen wieder eine Ordnung am Arbeitsmarkt. Dazu gehören weitere Etappen wie die Beschränkung von Befristungsmöglichkeiten; Befristungen
dürfen nur in äußersten Notfällen zulässig sein.
Wir brauchen außerdem eine Entwicklung, die dem
Unwesen der Leiharbeit begegnet. Im Musterländle Baden-Württemberg, wo ich herkomme, ist bei den Beschäftigten vom Wirtschaftsaufschwung nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. 80 Prozent der neu geschaffenen
Arbeitsplätze sind Arbeitsplätze in der Leiharbeitsbranche, die alle deutlich schlechter bezahlt sind als die
Stammbelegschaft. Deswegen brauchen wir mindestens
die Einführung von Equal Pay. Obendrauf wollen wir
absichern, dass in diesem Bereich zusätzliche Prämien
gezahlt werden.
({5})
Die einzige Partei, die konsequent für diese Linie
steht - die überhaupt erst wegen der Politik der vier
Hartz-IV-Parteien entstanden ist -, ist die Linke.
Danke schön.
({6})
Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter
Herr Kollege Schlecht, Sie begannen Ihren Vortrag mit
dem Hinweis, es gebe ein Problem in diesem Land. Nach
Ihrem Vortrag stimme ich Ihnen zu, und ich nenne das
Problem beim Namen: Es sind die Linken.
({0})
Allein mit dem Ruf nach immer mehr Wohltaten, die
angeblich nichts kosten, ist diesem Land sicherlich nicht
gedient. Entscheidend ist, was man daraus macht. Denken Sie nur an das Märchen Tischlein deck dich der Gebrüder Grimm: Auf Zuruf wird aufgetafelt, ohne dass jemand zahlt.
An genau dieses Märchen erinnert mich Ihr Antrag.
Es handelt sich dabei - vom gesetzlichen Mindestlohn
bis hin zum bedingungslosen Grundeinkommen - um
ein Wünsch-dir-Was der Sozialpolitik. Es gibt nur ein
einziges Problem: Im wahren Leben deckt sich kein
Tisch von selbst, und irgendjemand zahlt immer die Zeche.
({1})
In Ihrem Falle wären das übrigens die Langzeitarbeitslosen, die Geringqualifizierten sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die mit ihrem Einkommen die
Wohltaten finanzieren sollen, die Sie ausschütten wollen.
Ich will nur auf einige Punkte aus Ihrem Antrag eingehen, zunächst auf Ihre Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro.
({2})
Das hört sich zunächst einmal verlockend an. Die bittere
Wahrheit ist aber: Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu
niedrig ist, hilft niemandem.
({3})
Ein gesetzlicher Mindestlohn, der zu hoch ist, kostet Arbeitsplätze, denn die Firmen, die keine höheren Gehälter
zahlen können, müssen Mitarbeiter entlassen. Das sind
die Gesetze der Ökonomie, über die auch die Linken
sich nicht hinwegsetzen können.
({4})
Ein einheitlicher Mindestlohn nimmt übrigens auch
keine Rücksicht auf Branchen oder Regionen. In Grenzgebieten geht der Kunde ins Ausland, wenn es in
Deutschland zu teuer ist, zum Beispiel nach Polen. Dort
gibt es tatsächlich einen Mindestlohn, aber dieser beträgt
1,85 Euro.
Ein gesetzlicher Mindestlohn schadet vor allem den
Schwächsten. Als Erste entlassen werden nämlich die
Menschen ohne Schulausbildung und die Menschen
ohne Ausbildung. Das schadet im Ergebnis auch dem
Beitragszahler; denn die Finanzierung von Arbeitslosigkeit ist immer sehr viel teurer als staatliche Zuzahlungen
zum Lohn.
Alle diese Effekte sind durch Studien belegt. Selbst
die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem
Ergebnis: „Ein genereller Mindestlohn - ohne jede Differenzierung - scheint nicht sinnvoll.“ Man höre! Wir
wissen um diese Probleme, und deshalb lehnen wir einen
gesetzlichen Mindestlohn ab. Wir wollen, dass jeder eine
Chance auf Arbeit hat, insbesondere die Schwächeren.
Wir wollen, dass Familien ein Mindesteinkommen haben. Das geht übrigens nicht mit einem einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro; denn die
Leistungen, die eine Familie schon heute im Rahmen des
Transfereinkommens, zum Beispiel in Form von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, erhält, sind höher als
dieser Mindestlohn.
({5})
Es geht aber mit einer Kombination aus fairen Löhnen
und ergänzenden staatlichen Leistungen. Wir wollen übrigens auch, dass die Menschen, die arbeiten, mehr haben als die Menschen, die nicht arbeiten. Das ist ein berechtigtes Interesse.
({6})
Wir wollen Mindestlöhne, aber tarifliche Branchenmindestlöhne, damit die Tarifparteien ihre Souveränität erhalten und unterschiedliche Branchenbedingungen berücksichtigt werden. So viel zum ersten Beispiel aus
Ihrem Antrag.
Das zweite Beispiel aus Ihrem Antrag, meine Damen
und Herren von der Linken. Sie fordern, dass Arbeitslose
nur die Arbeit annehmen müssen, bei der eine Entlohnung wie zuvor stattfindet. Das klingt auf den ersten
Blick charmant. Das wird zum Beispiel die zwischenzeitlich arbeitslosen Bankmanager der Hypo Real Estate
erfreuen. Bei einem Jahreseinkommen in Höhe von circa
200 000 Euro aufwärts werden diese auf dem normalen
Arbeitsmarkt kaum jemanden finden, der sie beschäftigen könnte. In diesem Fall lässt sich sagen: Willkommen
in der Arbeitslosigkeit, finanziert von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, vergoldet mit einer Abfindung
und abgesegnet von Ihnen, meine Damen und Herren
von der Linken!
({7})
Beispiel drei. Sie fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen anstelle des Arbeitslosengeldes II.
({8})
Egal wie man sich verhält: Der Steuerzahler zückt das
Portemonnaie. Ich frage Sie: Wer ist denn der SteuerzahGitta Connemann
ler in Deutschland? Das sind die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die jeden Tag zur Arbeit gehen und mit
zum Teil kleinen Einkommen diesen Staat finanzieren.
Das sind nicht nur die großen Bosse, sondern auch die
Verkäuferin, der Maurer oder der Arbeiter am Band. Genau um deren Steuerzahlungen geht es: Deren Steuergelder schütten Sie aus. Ich wünschte mir, dass Sie damit
vorsichtiger umgingen.
({9})
Summa summarum kostet Ihr Wunschzettel zig Milliarden Euro. Das ist so unseriös,
({10})
dass Ihnen inzwischen alle Ihre Finanzpolitiker von der
Stange gehen, zum Beispiel Ihr ehemaliger Genosse
Ronald Weckesser.
({11})
Er wurde gefragt, was er denn von diesen Ihren Forderungen halte. Er stellte fest:
Es werden Dinge versprochen, die nicht einmal
dann eingehalten werden könnten, wenn wir die
Wahl gewännen. … Das weiß jeder.
Aber die Parteikonzeption laute, Forderungen müssten
nicht realisierbar sein, sondern nur andere in Zugzwang
bringen. Kurzum: Sie verfolgen ausschließlich eine
Tischleindeckdich-Politik der leeren Versprechen.
Das erleben übrigens besonders schmerzlich die Menschen, die in Ländern leben, in denen die Linken mitregieren, zum Beispiel in Berlin,
({12})
insbesondere die Familien, die Kinder und die Jugendlichen, auf deren Rücken gespart wurde. Die Liste der
Grausamkeiten von Rot-Rot ist lang. Ich möchte nur einige wenige nennen: Kürzung der Sozialhilfe- und Pflegeleistungen um fast 50 Millionen Euro, Kürzung des
Blindengeldes, Kürzungen der Leistungen für Seniorenarbeit, Selbsthilfegruppen und Ehrenamt um mehr als
50 Prozent. Das wurde im sogenannten LIGA-Vertrag
ausgestaltet. Dafür wurden im letzten Jahr die Gaspreise
zum wiederholten Mal erhöht. Nicht erhöht wurden über
viele Jahre die Bezüge der Beschäftigten im öffentlichen
Dienst. Erst im letzten Jahr hat es eine Erhöhung gegeben. Aber der Rückstand zu den anderen Ländern ist erheblich.
Das zeigt einmal mehr: Dort, wo Sie regieren, tun Sie
in keiner Weise das, was Sie einfordern. Sie dreschen
Phrasen; aber Sie lassen keine Taten folgen. Die Arbeitnehmer, von denen ich gesprochen habe, können über
den Titel Ihres Antrags „Beschäftigte am Aufschwung
beteiligen“ nur lachen, meine Damen und Herren von
der Linken.
({13})
Mein Fazit ist: Dort, wo die Linken regieren, geht es
den Menschen schlechter.
({14})
Ihre Politikmodelle helfen niemandem. Deshalb werden
wir Ihren Antrag ablehnen.
({15})
Der Kollege Josip Juratovic hat das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie in Ihrem
Allerweltsantrag kurz vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz alle Forderungen
platzieren, die Sie in Ihren alten Anträgen gefunden haben. Die Überschrift von Ihrem Antrag ist gut gewählt;
aber der Inhalt ist sehr mager.
({0})
Ein Beispiel für Ihre realitätsfernen Forderungen ist,
dass in der Zukunft wir Politiker die Mindestlohnhöhe
festlegen sollen. Ich sage Ihnen: Das kann nicht funktionieren.
({1})
Wir brauchen stattdessen einen flächendeckenden Anfangsmindestlohn von 8,50 Euro,
({2})
der bereits gesellschaftlich mit den Gewerkschaften abgestimmt ist. Dann brauchen wir eine Mindestlohnkommission,
({3})
in der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Wissenschaftler
analysieren, wie sich Produktivität, Lohnzuwächse,
Wachstum und Inflation entwickeln, und danach die
Höhe des Mindestlohns festlegen.
({4})
Ein zweites Beispiel für Ihre Allerweltsforderungen
ist der Antistreikparagraf. Das ist wirklich nicht das Problem, das den Gewerkschaften aktuell unter den Nägeln
brennt. Wir brauchen keine populistischen Allerweltsforderungen, sondern realitätsbezogene Lösungen, und
zwar für alle Menschen in unserem Land.
({5})
Ich habe den Eindruck, dass die Realität in der Welt
draußen hier im Parlament - sowohl von links als auch
von rechts - verdrängt wird.
({6})
Union und FDP sehen nicht die massiven Verwerfungen
im Niedriglohnsektor, und die Linke verkämpft sich für
alte Klamotten wie den Antistreikparagrafen. Die tatsächlichen Probleme der arbeitenden Menschen und der
anständigen Unternehmer werden viel zu wenig wahrgenommen.
Leiharbeit ist nur ein Beispiel dafür, dass sich die
Funktionsweise unserer Wirtschaft in den vergangenen
Jahren dramatisch verändert hat. Leiharbeit ist heute Teil
der Mischkalkulation in den Betrieben. Billige Leiharbeiter werden in der betriebswirtschaftlichen Logik in
den Unternehmensprofit von vornherein einkalkuliert.
Das zeigt, dass Leiharbeit nicht mehr, wie sie gedacht
war, nur Auftragsspitzen abdeckt. Das ist ein klarer
Missbrauch von Leiharbeit.
({7})
Es wird noch schlimmer: Leiharbeit wird in den Bilanzen nicht wie Personalkosten behandelt, sondern als
Sonderaufwendung, genau wie der Einkauf von Schrauben und Toilettenpapier. Das ist menschenunwürdig.
({8})
Lassen Sie mich auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Leiharbeit eingehen.
Erstens. Leiharbeit schafft Kinderarmut. Frau
Connemann, wenn Sie hier von Kinderarmut sprechen,
dann sollten Sie zuerst die Niedriglöhne der Eltern als
Ursache von Kinderarmut bekämpfen.
({9})
Zweitens. Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn
wir Niedriglöhne staatlich subventionieren. Rund 92 000
Leiharbeiter erhalten so wenig Lohn, dass sie ihr Einkommen durch Sozialhilfe aufstocken müssen. Das kostet den Steuerzahler 700 Millionen Euro im Jahr.
Drittens. Die Leiharbeit von heute schafft die Armutsrentner von morgen. Leiharbeiter brauchen über 70 Beitragsjahre, um eine Rente in der Höhe der Grundsicherung zu erhalten. Kein Leiharbeiter kann sich eine
Riester-Rente leisten.
Viertens. Leiharbeiter werden gesellschaftlich stigmatisiert. Sie erhalten keine Kredite. Eine Familiengründung können sie sich finanziell nicht leisten. Kolleginnen und Kollegen, in was für einem Land leben wir,
wenn eine Familiengründung inzwischen zum Luxus geworden ist?
({10})
Fünftens. Leiharbeit schafft eine Entsolidarisierung
im Betrieb. Man kann in Betrieben oft sehen, dass die
rechte Autotür von einem festangestellten Mitarbeiter
eingebaut wird und die linke Autotür von einem Leiharbeiter, der bestenfalls 70 Prozent des Lohns des festangestellten bekommt. Es kann doch nicht sein, dass die
Arbeiter für exakt die gleichen Handgriffe unterschiedlich entlohnt werden.
({11})
Das dient nicht gerade dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb müssen wir verhindern, dass die Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden.
({12})
Wir müssen verhindern, dass Leiharbeiter als Dank für
ihre Flexibilität und ihren Lohnverzicht in einer Krise als
Allererste entlassen werden.
({13})
Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet von einem
knallharten Wettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Produktionskostensenkung beruht. Der erste
Teil dieser Kostensenkung ist die schon angesprochene
Mischkalkulation in den Unternehmen. Es wird genau
ausgerechnet, was wie viel kosten darf, und dann wird
Druck auf die einzelnen Unternehmensteile ausgeübt,
insbesondere auch auf Zulieferer und Leiharbeiter. Das
geht so weit, dass man bereits mit Zahlungsverzögerungen bei den Zulieferern von bis zu sechs Monaten kalkuliert.
Der zweite Teil dieser Kostensenkung ist die Leistungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz. Gerade ältere
Arbeitnehmer müssen oft olympiareife Leistungen vollbringen. Daher gibt es bei den Arbeitnehmern eine steigende Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine
steigende Zahl psychischer Erkrankungen.
Unsere Wirtschaft handelt rein wachstums- und profitorientiert. Es gibt nur noch die reine Betriebswirtschaft. Die Volkswirtschaft hat niemand mehr im Blick.
Das geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Viele der Gründer unserer Nachkriegswirtschaft
sind heute entsetzt darüber, was ihre Enkel aus der sozialen Marktwirtschaft gemacht haben.
In meinen zahllosen Gesprächen erfahre ich, dass
viele Menschen ratlos sind, wenn sie diese einseitige
Orientierung der Wirtschaft spüren. Angesichts dessen
müssen wir gemeinsam mit Gewerkschaften, Unternehmen, Kirchen und vielen weiteren Menschen aus der Zivilgesellschaft überlegen, wie wir unsere Wirtschaftsund Arbeitswelt organisieren. Aber wir dürfen nicht nur
nachdenken, sondern wir müssen auch politisch handeln.
Dass die Bundeskanzlerin bei jedem Problem nach einer
Kommission, einem Moratorium oder nach den Sozialpartnern ruft und dann alles für alternativlos erklärt, ist
ein Zeichen von Orientierungslosigkeit und Ratlosigkeit
dieser Regierung.
({14})
Kolleginnen und Kollegen, wir müssen zeigen: Wir
wissen, wie die Realität draußen aussieht, und wir haben
die Vernunft und das Verantwortungsbewusstsein, daraus politische Handlungen abzuleiten und die politischen Rahmenbedingungen entsprechend zu setzen.
Meine Damen und Herren der Regierungsparteien,
nicht nur reden, sondern endlich auch handeln!
({15})
Ein flächendeckender Mindestlohn und das Prinzip
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, was so viele Probleme lösen würde und gesellschaftlich unumstritten ist,
könnten sofort eingeführt werden.
({16})
Wir brauchen eine Kultur des Anstands in der Arbeitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft. Kolleginnen und
Kollegen, ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass es
viele gute Unternehmer gibt, die von der marktradikalen
Logik dazu gezwungen werden, ihren Betrieb durch
schlechte Löhne über Wasser zu halten. Wir müssen
diese Arbeitgeber durch einen allgemeinen flächendeckenden Mindestlohn und durch das Prinzip „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ vor Lohndumping schützen.
({17})
Unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt darf eben nicht
nur auf Profitmaximierung ausgerichtet sein, sondern sie
muss auch eine Antwort auf die Frage geben können:
Wie wollen wir in der Zukunft leben? Arbeit ist ein entscheidender Bestandteil des Lebens, weil Arbeit Sinn
stiftet. Jeder Mensch will gebraucht werden. Wir brauchen Respekt und Wertschätzung der Arbeit. Arbeit
muss sich außerdem daran messen lassen, ob sie zu mehr
Lebensqualität für alle Menschen beiträgt.
Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit
sind Werte und Tugenden, die unsere Wirtschaft so groß
und erfolgreich gemacht haben. Wir alle, auch die Unternehmer, müssen daher zurück zu den Werten und Tugenden.
Meine Damen und Herren, am Sonntag hat man in
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz eine Chance,
der Erreichung dieser Ziele näherzukommen.
({18})
Auch in unserem Musterländle ist jeder zweite Job, der
nach der Krise entstanden ist, in der Leiharbeit angesiedelt.
({19})
Der wirtschaftliche Erfolg spielt sich auch hier auf dem
Rücken der Leiharbeiter ab. Wenn Baden-Württemberg
wieder das Land der Pioniere werden will, brauchen wir
durch faire Arbeitsbedingungen motivierte Arbeitnehmer.
({20})
Ein erster Schritt ist die Verabschiedung des von der
SPD geforderten Tariftreuegesetzes. Öffentliche Aufträge
sollten nur an gute Arbeitgeber vergeben werden. Ich
denke, der Staat sollte als Auftraggeber mit gutem Beispiel vorangehen.
({21})
Die Menschen in Baden-Württemberg brauchen nach
57 Jahren endlich wieder verantwortungsvolle und realitätsnahe Politik mit Empathie und Vernunft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({22})
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb spricht für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit den Anträgen der Linken ist es so: Die Überschriften
wechseln; der Inhalt ist immer der gleiche. Auch das,
was heute vorliegt, enthält wieder viel Bekanntes, Herr
Kollege Schlecht. Das einzig Neue - das will ich immerhin festhalten - scheint Ihr Vorschlag zu § 146 SGB III
zu sein, den Sie irgendwo aus der Schublade gezogen
haben. Allerdings ist mir der aktuelle Hintergrund nicht
ganz schlüssig.
({0})
- In den 80er-Jahren war die Neutralitätspflicht der Bundesanstalt für Arbeit noch ein Problem. - Ich kann mich
aber nicht daran erinnern, dass die Bundesagentur für
Arbeit in den letzten Tarifauseinandersetzungen sich für
die eine oder andere Richtung eingesetzt hat, was dazu
hätte animieren können, Ihren Antrag entsprechend zu
gestalten. Vielleicht wollen Sie nur ein bisschen variieren; das wäre lobenswert. Sie sollten mehr nachdenken.
Dann fällt Ihnen vielleicht noch etwas Besseres ein.
({1})
Da aufgrund der ständigen Wiederholungen eigentlich alles schon besprochen worden ist, will ich gezielt
ein paar Aspekte aus Ihrer Rede aufgreifen. Sie machen
einen Denkfehler, Herr Kollege Schlecht. Sie gehen da11336
von aus, der durchschnittliche Beschäftigte verdiene seit
dem Jahr 2000 weniger. Den durchschnittlichen Beschäftigten gibt es aber nicht, sondern es gibt Beschäftigte mit
jeweils individuellem Entgelt. Ich bezweifle Ihre These,
dass es in den vergangenen zehn Jahren bei dem einzelnen Arbeitnehmer tatsächlich zu Lohnkürzungen gekommen ist.
Es ist Folgendes passiert - das führt zu dem Ergebnis,
das Sie angesprochen haben -:
Wenn man in einer Volkswirtschaft einen Niedriglohnsektor einrichtet, so wie es Rot-Grün mit den Arbeitsmarktreformen der Jahre 2004 und 2005 getan hat,
dann muss das Durchschnittseinkommen dieser Volkswirtschaft notwendigerweise sinken. Das ist der erste Effekt.
Der zweite Effekt ist: In einer Aufschwungphase, in
der viele Menschen mit einer geringeren Qualifikation
die Chance bekommen, sich zusätzlich am volkswirtschaftlichen Leistungsprozess zu beteiligen, sinken die
durchschnittlichen Löhne. In der Krise halten die Unternehmen diejenigen Beschäftigten, die besonders qualifiziert sind und die über ein hohes Einkommen verfügen,
während die Geringqualifizierten, die herangezogen werden, um das Leistungsvermögen des Unternehmens in
Phasen hoher Auslastung zu erhöhen, entlassen werden.
Dies erklärt den Befund, den Sie festgestellt haben.
Aus meiner Sicht wäre es jedoch falsch, daraus zu
schließen, dass in den vergangenen zehn Jahren in den
Unternehmen in Deutschland flächendeckend Lohndrückerei stattgefunden hat. Im Gegenteil, die Chancen der
Arbeitnehmer haben sich durch die demografische Entwicklung und zusätzlich durch den wirtschaftlichen Aufschwung verbessert; in Verhandlungen mit den Arbeitgebern haben sie eine bessere Position als zuvor. Dies wird
sich in den nächsten Jahren noch deutlicher zeigen.
Außerdem stellen Sie immer wieder fest, die Zeitarbeit und die befristete Beschäftigung seien der Standard
bei der Schaffung neuer Arbeitsverhältnisse. Auch da
muss man sagen - zu diesem Ergebnis können auch Sie,
Herr Kollege Schlecht, durch Nachdenken kommen -,
dass es ganz normal ist, dass die Unternehmen nach der
schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik an den Aufbau neuer Beschäftigung zunächst vorsichtig herangehen, auch was
die Nutzung solcher Instrumente angeht.
Wir wissen aus dem letzten Konjunkturzyklus, dass
flexible Beschäftigungsverhältnisse sehr schnell in dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse und insbesondere in
Vollzeitstellen umgewandelt worden sind. Man kann sicherlich zu Recht erwarten, dass das auch jetzt wieder
passieren wird. Die Unternehmer sind gut beraten, wenn
sie qualifizierte Arbeitnehmer an das eigene Unternehmen binden, weil der Arbeitsmarkt in Deutschland in
zwei bis drei Jahren gerade in Bezug auf solche Arbeitnehmer leergefegt sein wird.
Das waren die Anmerkungen, die ich machen wollte;
mehr war heute nicht drin. Kollege Kober wird sicherlich noch wichtige Beiträge leisten. Zum Thema Zeitarbeit will ich in der Debatte, die in circa zwei Stunden in
diesem Hause zu führen sein wird, gerne mehr sagen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schlecht
das Wort.
Herr Kolb, da Sie mich in Ihrer Rede angesprochen
hatten, möchte ich Ihnen noch einmal sagen: An den empirischen Daten kommen Sie nicht vorbei. Entsprechende Daten gibt es ja nicht nur von Eurostat und
AMECO, sondern auch von der Internationalen Arbeitsorganisation und anderen. Daraus ergibt sich völlig eindeutig, dass die Realeinkommen in Deutschland in den
letzten zehn Jahren preisbereinigt im Durchschnitt - ich
habe gar nicht vom durchschnittlichen Beschäftigten gesprochen ({0})
um 3 bis 4 Prozent gesunken sind.
Das Skandalöse ist - das regt zumindest mich auf, Sie
anscheinend nicht -, dass eine solche Entwicklung nur in
Deutschland zu verzeichnen ist. In allen anderen Ländern sind die Realeinkommen in den letzten zehn Jahren
mehr oder minder deutlich angestiegen. Nach uns kommen gleich Belgien und Österreich mit plus 6 Prozent,
Frankreich mit plus 10 Prozent, die Niederlande mit plus
15 Prozent. Nur Deutschland liegt bei einer Größenordnung von minus 3 bis minus 4 Prozent, obwohl es doch
eines der wirtschaftlich stärksten Länder in Europa ist.
Das ist der eigentliche Skandal. Daran kommen Sie nicht
vorbei.
Hinter dieser Durchschnittsbildung verbergen sich natürlich Bereiche, in denen es noch dramatisch schlechter
läuft. Das liegt daran, dass von Rot-Grün im letzten Jahrzehnt - Schröder war immer stolz darauf - sehr erfolgreich
ein Hunger- und Niedriglohnsektor ausgebaut worden ist.
Infolgedessen gibt es Beschäftigte, deren derzeitige Einkommen gegenüber den Einkommen von vor zehn Jahren
um 10, 20 oder 30 Prozent gesunken sind. Es gibt sicherlich auch einige Wirtschaftsbranchen, in denen es für Einzelne günstiger gelaufen ist, sodass deren Einkommen gestiegen sind.
Das Problem der Lohnsenkung ist nicht nur ein Problem im Dienstleistungsbereich; Lohnsenkungsprozesse
gibt es vielmehr längst auch in Bereichen, in denen qualifizierte Beschäftigte arbeiten. In der derzeit laufenden
Tarifrunde für Journalisten in der Zeitungsbranche wird
von den Verlegern gefordert, die Gehälter für neu einzustellende Journalisten um sage und schreibe 25 Prozent
abzusenken. Der Background dafür, dass mit Verve solche frechen Forderungen aufgestellt werden, ist, dass
auch in Zeitungsredaktionen mittlerweile in zunehmendem Maße eine Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen
eingetreten ist,
({1})
dass immer mehr auf Leiharbeiter zurückgegriffen wird,
dass immer mehr befristet eingestellt wird und dass in
immer stärkerem Maße Freie eingesetzt werden. Das ist
wirklich ein Skandal.
Herr Kollege, Sie hatten nicht das Wort zu einer zweiten Rede, sondern nur zu einer Kurzintervention.
({0})
Möchten Sie erwidern, Herr Kolb?
Nein, Herr Kollege Schlecht, das kann man nicht sagen. Ich stehe mitten im Leben. Ich glaube, dass ich eine
sehr gute und auch nahe Anschauung dessen habe, was
in den Betrieben tatsächlich passiert.
Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe, und das, was
Sie soeben ergänzend vorgetragen haben, ändert daran
nichts. Bei einer Durchschnittsbetrachtung - es ist
gleichgültig, ob man den durchschnittlich Beschäftigten
oder das Durchschnittseinkommen zugrunde legt - zeigt
sich: Die Einführung eines Niedriglohnsektors führt immer dazu, dass die Durchschnittswerte sinken.
Es ist nicht die FDP gewesen, die den Niedriglohnsektor erfunden und gesetzlich verankert hat; vielmehr
haben dafür seinerzeit die Kollegen von SPD und Grünen gesorgt.
({0})
- Nein.
Ich kann Ihnen sagen, warum der Effekt in Deutschland besonders stark ist. Deutschland hatte im Gegensatz
zu vielen anderen Ländern in Europa keinen Niedriglohnsektor, mit dem Ergebnis, dass wir 2004/2005 unter
der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder mehr als 5 Millionen Arbeitslose hatten. Da es sich dabei überwiegend
um geringqualifizierte Beschäftigte handelte, hatte
Gerhard Schröder damals folgende Idee: Wenn wir diese
Menschen in Arbeit bringen wollen, müssen wir Arbeitsverhältnisse schaffen, bei denen der Lohn, der dort zu
Buche steht, auch mit einer geringeren Wertschöpfung
erarbeitet werden kann. Bezogen auf das zurückliegende
Jahrzehnt ist dieser Effekt in Deutschland deswegen besonders ausgeprägt.
Man kann das alles also erklären. Ich habe es Ihnen
bewusst erläutert, damit Sie bei Ihrem nächsten Antrag
vielleicht von neuen Erkenntnissen und Analysen ausgehen.
({1})
Sie haben gesagt, die Beschäftigten seien am Aufschwung zu beteiligen. Ich möchte feststellen: Uns geht
es in der Tat darum, die Menschen am Aufschwung zu
beteiligen. Wir haben die Menschen am Aufschwung beteiligt: die große Zahl derjenigen, die neue Beschäftigungsverhältnisse gefunden haben und die aus der Kurzarbeit in ein normales Beschäftigungsverhältnis zurückgekehrt sind.
Wir haben selbst vorgeschlagen - Sie haben den Wirtschaftsminister zitiert -, dass die Tarifpartner Spielräume nutzen sollen. Es ist nicht unsere Aufgabe, sondern die der Tarifpartner, die vorhandenen Spielräume
zu nutzen. Das werden sie verantwortungsvoll tun. Ich
bin ein großer Anhänger und Verfechter des Prinzips der
Tarifautonomie. Die Politik sollte sich in die Tariffindung meines Erachtens nicht einmischen, sondern sie
sollte den Tarifpartnern als denjenigen, die sich vor Ort
auskennen, das Geschäft überlassen. Damit sind wir in
der Vergangenheit gut gefahren und werden es auch in
Zukunft tun.
Frau Präsidentin, danke dafür, dass Sie mich durch
Klopfen auf das Ende meiner Redezeit hingewiesen haben.
Ich habe jetzt einen rhythmischen Hinweis gegeben.
Das geht offensichtlich auch.
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linken behandelt
viele richtige und wichtige Themen, die wir hier im Bundestag bereits häufig debattiert haben. Es ist bekannt,
dass wir viele der genannten Forderungen unterstützen
und dazu schon zahlreiche Anträge gestellt haben.
Insgesamt sieht dieser Antrag aber schon ein bisschen
nach Wahlkampfhilfe für die Linke in Baden-Württemberg aus.
({0})
Mir soll es aber recht sein. Ich rede gerne zu diesen Themen; denn sie sind mir ein Anliegen.
Wichtig sind mir diese Themen auch - Herr Kolb, Sie
sprechen es immer wieder an -, weil wir Grünen sehr
wohl wissen, dass die Politik unter Rot-Grün zu Fehlentwicklungen beigetragen hat, die korrigiert werden müssen. Entscheidend ist, dass wir die Augen nicht verschließen. Schon lange wollen und fordern wir an verschiedenen Stellen Korrekturen.
({1})
Die Arbeitswelt wird zunehmend atypisch: Prekäre
Beschäftigung nimmt zu. Viele Menschen erleben tagtäglich eine Arbeitswelt, die aufreibender und unsicherer
wird, und viel zu viele Menschen arbeiten und können
dennoch nicht von ihren Löhnen leben. Die Koalition
ignoriert diese Realität.
Ich habe ebenfalls das Zitat von Minister Brüderle gelesen: „Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige
Lohnerhöhungen möglich.“ Als ich das las, dachte ich
- es kommt selten vor -: Recht hat er. Wenn sich die Bundesregierung für Lohnerhöhungen, ausgehandelt durch
die Tarifparteien, ausspricht, muss sie aber auch selber
ihre Möglichkeit nutzen und Verantwortung übernehmen. Konkret bedeutet das, dass sie für entsprechende
politische Rahmenbedingungen sorgen muss, damit prekär Beschäftigte, die eben nicht von tariflichen Lohnerhöhungen profitieren, endlich Löhne erhalten, von denen
sie auch leben können.
({2})
Die Bundesregierung und insbesondere die FDP stehen aber bei allen notwendigen Maßnahmen auf der
Bremse. Das geht zulasten der Beschäftigten und der
Ärmsten in unserer Gesellschaft.
({3})
Wir unterstützen zwar nicht alle, aber etliche Forderungen in diesem Antrag, und zwar ohne Wenn und
Aber.
({4})
Wir brauchen eine Regulierung in der Leiharbeit, Änderungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz, Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen und ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften.
Wir brauchen insbesondere - das steht nicht im Antrag
der Linken - eine Reform bei den Minijobs. Davon würden vor allem Frauen profitieren.
({5})
Wir fordern auch eine Grundsicherung, die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe ermöglicht.
Dazu gehört auch unser Antrag, in dem wir ein Sanktionsmoratorium fordern.
Der zentrale und wichtigste Punkt ist aber ein gesetzlicher Mindestlohn. Ich wünsche mir noch immer, dass
wir, die Opposition, dabei an einem Strang ziehen. Das
entscheidende Thema ist momentan nicht die Höhe des
Mindestlohns; entscheidend ist, dass überhaupt ein Mindestlohn eingeführt wird.
({6})
- Herr Kolb, wir haben da immer eine sehr klare Meinung.
Ich kann in Richtung der Koalitionsfraktionen nur sagen: Stellen Sie sich endlich ernsthaft dem Thema Mindestlohn; denn alle Menschen haben das Recht, für ihre
Arbeit gerecht und fair entlohnt zu werden.
({7})
Wir begründen höhere Löhne aus der Perspektive der
Beschäftigten. Sie müssen diese Begründung aber nicht
teilen; Mindestlöhne und die konsequente Regulierung
der Leiharbeit könnten auch mit Ihrer wirtschaftspolitischen Programmatik begründet werden, auch mit der
wettbewerbspolitischen Tradition der FDP; denn Dumpinglöhne führen zu einer Wettbewerbsverzerrung zulasten der tariftreuen Betriebe, die vom Markt verdrängt
werden, wenn sie faire Löhne zahlen.
Sie haben sich auch den Subventionsabbau auf die
Fahnen geschrieben. Mit Mindestlöhnen und allgemeinverbindlich erklärten Tariflöhnen über dem Niveau des
Arbeitslosengeldes II wäre endlich Schluss mit der staatlichen Subventionierung beispielsweise bei der Leiharbeit.
({8})
Vor allem könnten Sie auch bei der Haushaltskonsolidierung punkten, weil höhere Löhne auch zu höheren Einnahmen führen, die Sozialversicherungen stabilisieren
und die Sozialleistungen mindern. Alles zusammen
würde Ihrer Programmatik voll und ganz entsprechen.
({9})
Programmatik hin oder her: Schlussendlich geht es
um Gerechtigkeit. Die Politik darf sich nicht einer alternativen Zwangsläufigkeit eines freien Marktes unterordnen. Die Gesellschaft und die Menschen sind nicht ausschließlich Teil der Wirtschaft, sondern die Wirtschaft ist
Teil der Gesellschaft. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Politik. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Margot Käßmann enden:
Die Schwächsten sind der Maßstab für die Gerechtigkeit.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Fraktion Die Linke legt heute wieder ein Sammelsurium
der bekannten Vorschläge vor, um damit Wahlkampf zu
betreiben; das ist offensichtlich, aber das wird Ihnen
nicht gelingen. Ich bin überzeugt, dass die Programmpunkte, die im Antrag vorgestellt werden, zum einen bei
den Bürgerinnen und Bürgern nicht verfangen und dass
zum anderen ihre Umsetzung für den hiesigen Arbeitsmarkt und die Menschen in Deutschland sehr schlecht
wäre.
Es werden immer die falschen Vergleiche gezogen.
Herr Schlecht, Sie haben hier einen sehr langfristigen
Vergleich der Situation im Jahr 2002 mit der jetzigen Situation angestellt. Sie entwerfen das Bild einer Gesellschaft des Jammerns; das trifft in keiner Weise zu. Sie
sollten sich mehr in der Realität bewegen. Es ist festzustellen, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern seit langem nicht mehr so gut gegangen ist wie unter der Regierungsverantwortung der CDU/CSU.
({0})
In den vergangenen 18 Monaten ist es noch besser geworden;
({1})
denn die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland - unter
Rot-Grün waren etwa 5 Millionen Arbeitslose zu beklagen - ist auf 3 Millionen gesunken; das heißt, 2 Millionen zuvor arbeitslose Menschen haben eine Arbeit gefunden. Das ist letztendlich die Grundlage dafür, ein
eigenständiges Leben zu führen.
({2})
Das ist aber nicht im Sinne der Linken in unserem
Lande. Sie fordern hier, die Zumutbarkeitsregeln, die
Rot-Grün richtigerweise geändert hat - ich möchte das
anerkennen -, aufzubohren, sodass es beispielsweise für
jemanden, der früher als Architekt beschäftigt war, nicht
mehr zumutbar wäre, einen Job als Bauaufseher anzunehmen. Das wird in Ihrem Antrag begründet. Wir sehen
das anders. Wichtig ist, dass jeder eine zumutbare Arbeit
annimmt, weil das letztlich entscheidend dafür ist, am
Arbeitsprozess teilnehmen zu können.
Man wundert sich schon, wenn man an Folgendes
denkt: Ihre Vergangenheit liegt in der PDS und im Sozialismus der DDR. Dort gab es eine disziplinierende
Pflicht, nämlich die Arbeitspflicht, werter Herr Kollege
Schlecht,
({3})
und keine sogenannte disziplinierende Wirkung unter
dem Gesichtspunkt: Wenn ich arbeite, habe ich auch
mehr zum Leben. - Das ist nämlich ein gewaltiger Unterschied. In der damaligen DDR musste man arbeiten;
trotzdem hat man schlecht verdient. Auch das ist Realität.
({4})
Das wollen Sie offensichtlich hiermit erreichen.
({5})
Ich bin natürlich auch über Behauptungen verwundert, dass es den Arbeitnehmern nicht besser gehen
würde. Die Lohnsteigerungen in den Jahren 2008, 2009
und 2010 waren moderat, aber die Preissteigerungsrate
lag noch darunter. Somit gab es ein Einkommensplus für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist letztlich entscheidend.
Wir sind aus dem Tal der Tränen, das Rot-Grün mit
der damaligen Politik geschaffen hat und das durch massive Arbeitslosigkeit in Deutschland gekennzeichnet
war, herausgekommen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie unsere Wirtschaftsbetriebe haben
letztlich aufgrund der Regierungsverantwortung von
CDU/CSU und FDP Kraft geschöpft.
({6})
Das wird auch weiterhin so sein. Damit werden die Menschen eine richtige Grundlage für Beschäftigung haben.
({7})
Lassen Sie uns noch einmal die Debatte von heute
Vormittag zu Gemüte führen. Da hat die versammelte
Linke in diesem Haus aufgrund der schrecklichen Ereignisse in Japan gefordert, sofort aus der Nutzung der
Kernkraft auszusteigen. Auch das bedeutet mehr Arbeitslosigkeit in unserem Land, und zwar von gutbezahlten Kräften.
({8})
- Natürlich! Die Menschen in den Kraftwerksbetrieben
wollen arbeiten und nicht mit Sozialplänen abgespeist
werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Das muss man einmal deutlich sagen.
({10})
Sie nehmen letztlich keine Rücksicht auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Linken wollen nur
einen Beitrag zur Deindustrialisierung des Landes leisten.
({11})
Ihre Forderung, dass Siemens keine Kraftwerkstechnik
mehr exportieren solle, stellt nur ein Arbeitsplatzprogramm für die französische, für die amerikanische, für
die chinesische, für die japanische Industrie sowie möglicherweise für die Exporteure aus Russland dar. Auf deren Technik möchte ich mich nicht verlassen. Da ist es
mir lieber, wenn unser Land funktionierende Sicherheitstechnik exportiert
({12})
und wenn die entsprechenden Arbeitsplätze in unserem
Land gesichert sind, meine Damen und Herren.
({13})
Um diese Frage geht es auch am Sonntag bei den
Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in BadenWürttemberg.
({14})
Wer für Arbeitsplätze ist, tut gut daran, die CDU zu unterstützen.
({15})
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Die Schlusssequenz wird als Wahlkampfspot gesondert gesendet.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Kober
für die FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Schlecht, Sie haben Ihre Rede mit der
Aussage begonnen, Deutschland habe ein zentrales Problem. Dem möchte ich entgegenhalten: Deutschland hat
vor allen Dingen einen zentralen Vorteil, eine zentrale
Kraft mit einer zentralen Idee: Das ist die Politik der
christlich-liberalen Koalition. So erfolgreich ist bisher
noch keine Koalition in diesem Land gewesen.
({0})
In die Regierungszeit dieser Bundesregierung fiel die
geringste Arbeitslosigkeit seit 1991. Sie werden anmerken, das sei nicht allein die Tat dieser Regierung. Völlig
richtig: Das ist die Tat vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie vieler innovations- und investitionsfreudiger Unternehmer.
({1})
Es müsste Ihnen doch zu denken geben, dass diejenigen
Länder am erfolgreichsten sind, und zwar insbesondere
hinsichtlich Arbeitsplätze, Wohlstand und Kaufkraft,
({2})
in denen Schwarz-Gelb am längsten zusammen regiert
und in denen seit langer Zeit eine christlich-liberale Politik gemacht wird.
({3})
Das ist beispielsweise in Baden-Württemberg der Fall.
Die durchschnittliche Kaufkraft in Baden-Württemberg
liegt 7 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Dafür gibt
es einen Grund. Das fällt nicht vom Himmel.
Wir müssen die Voraussetzungen für Investitionen
schaffen. Wir müssen das für Investitionen notwendige
Vertrauen aufbauen, und wir müssen in die Bildung investieren. Deswegen ist es ein Kernanliegen dieser Bundesregierung, die Bildungsausgaben des Bundes zu erhöhen. Sie sollen bis zum Jahr 2013 um 12 Milliarden
Euro erhöht werden.
({4})
In Baden-Württemberg hatten wir schon im Jahr 2006
die höchsten Bildungsausgaben eines westdeutschen
Flächenlandes: 5 000 Euro pro Kind. Wir haben im Rahmen einer Bildungs- und Qualitätsoffensive weitere
528 Millionen Euro investiert.
({5})
Ich kann Ihnen sagen: Das ist die richtige Politik.
Diese Politik hilft den Menschen. Sie sorgt dafür, dass
die Menschen aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt
erwirtschaften und auf eigenen Beinen stehen können.
({6})
Da die Schwächsten in dieser Gesellschaft angesprochen wurden, möchte ich sagen, dass diese Bundesregierung dafür gesorgt hat, dass wir in Bildung und bessere
Teilhabechancen von jungen Menschen investieren.
({7})
Gerade die Schwächsten der Gesellschaft profitieren davon. Wir haben das Bildungspaket auf den Weg gebracht
und unterstützen damit die Menschen, die Sie vergessen
haben. Wir bringen 740 Millionen Euro auf, um gerade
die Kinder von Langzeitarbeitslosen, von Wohngeldempfängern und Empfängern des Kinderzuschlags zu
unterstützen.
({8})
All das ist Ausweis einer verantwortungsvollen Politik,
({9})
die Wohlstand und Teilhabechancen für die Menschen
schafft.
Vielen Dank.
({10})
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Peter
Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zu einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft gehören in der Tat gute Löhne für gute Arbeit.
({0})
In einer sozialen Marktwirtschaft werden die Löhne deswegen in freier Verhandlung zwischen Gewerkschaften
und Arbeitgeberverbänden festgelegt, geschützt durch
die Tarifautonomie, die in unserem Grundgesetz festgeschrieben ist. Es gibt keinen besseren Weg zu guten Löhnen als den über die Tarifautonomie.
({1})
Wenn wir die vergangenen drei Jahre betrachten, in
denen die Bundesrepublik Deutschland die schwerste
Wirtschaftskrise seit ihrem Bestehen durchgemacht hat,
müssen wir feststellen, dass die Tarifpartner, also die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände, in hohem
Maße verantwortlich gehandelt haben. Sie haben beispielsweise in der Krise Tarifverträge abgeschlossen, in
denen die Beschäftigungssicherung an Nummer eins
stand und damit Vorrang hatte, während man bei den
Lohnforderungen sehr bescheiden war.
Auf der anderen Seite gilt: Jetzt, in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, muss es auch möglich sein,
entsprechende Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu realisieren. Genau das haben
der Bundeswirtschaftsminister und die Bundeskanzlerin
gesagt. Sie haben recht damit. Die Tarifautonomie hat
uns geholfen, aus der Krise herauszukommen. Jetzt hilft
sie, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am
Aufschwung teilhaben können. Das ist richtig.
({2})
Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund, die Tarifautonomie in Deutschland schlechtzureden. Im Gegenteil:
Sie hat sich bewährt, sie ist erfolgreich, und sie wird
auch in Zukunft erfolgreich sein.
({3})
Richtig ist aber auch, dass es Bereiche gibt, in denen
sie nicht funktioniert.
({4})
Lohndumping passt nun einmal nicht zu sozialer Marktwirtschaft.
({5})
Deshalb ist in solchen Fällen staatliches Handeln notwendig.
({6})
Das ist der Grund dafür, dass CDU, CSU und FDP in der
Regierung Helmut Kohl unter Federführung von Norbert
Blüm das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffen haben. Das ist auch der Grund dafür, dass wir in der Großen Koalition zusammen mit den Sozialdemokraten das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz novelliert haben. Wir wollten Folgendes möglich machen: Dort, wo es notwendig ist, sollen branchenbezogene Mindestlöhne vereinbart werden
können.
Jetzt schauen wir uns einmal die Bilanz an: Wir haben
mittlerweile in acht Branchen Mindestlöhne. Fünf dieser
Mindestlöhne sind unter der Regierung von CDU/CSU
und FDP eingeführt worden.
({7})
Nur ein einziger Mindestlohn ist aufgrund des Gesetzes
aus der Regierungszeit der CDU/CSU von Rot-Grün
festgelegt worden.
({8})
Die Schlussfolgerung lautet also: Mindestlöhne gibt es
dann, wenn CDU/CSU und FDP regieren, und sie gibt es
praktisch nie, wenn Rot-Grün regiert.
({9})
Genauso geht es weiter. Noch heute werden wir hier
im Deutschen Bundestag das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz novellieren und damit ermöglichen, dass für die
Zeitarbeit ein Mindestlohn, eine untere Lohngrenze,
festgelegt werden kann. Heute ist also ein Tag, an dem
wir die Grundlage für einen weiteren Mindestlohn, nämlich in der Zeitarbeit, schaffen.
({10})
Am vergangenen Freitag hat der Gemeinsame Tarifausschuss einen Mindestlohn für das Wach- und Sicherheitsgewerbe festgelegt. Jetzt ist der Weg frei, dass auch
dieser Mindestlohn durch die Bundesministerin für Arbeit und Soziales per Rechtsverordnung festgelegt werden kann.
Ich wiederhole: Es ist notwendig, dass der Staat dort,
wo die Tariffindung nicht mehr funktioniert, hilft und
Lohndumping entgegenwirkt. Wir handeln, indem wir
branchenbezogene Mindestlöhne einführen.
({11})
Peter Weiß ({12})
Diese Mindestlöhne sind zum größten Teil in Zeiten, in
denen CDU/CSU und FDP regiert haben, festgelegt worden, bzw. sie werden jetzt neu festgelegt. Damit ist eigentlich klar, wer entgegen aller Verdächtigungen und
aller Polemik der eigentliche Begründer von Mindestlöhnen in Deutschland ist, nämlich die christlich-liberale
Koalition.
({13})
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass
diese Debatte offensichtlich wegen der Wahlen am kommenden Sonntag in Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg beantragt worden ist.
Herr Kollege Weiß, ich muss Sie darauf aufmerksam
machen, dass Sie wegen der zu Ende gegangenen Redezeit zu den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz leider nichts Sachdienliches mehr vortragen
können.
({0})
Herr Präsident, es bedarf in der Tat nur noch einer
einzigen Bemerkung. Baden-Württemberg ist mit
5 Prozent Wirtschaftswachstum und der niedrigsten Arbeitslosigkeit das Spitzenland in Deutschland. Deswegen haben tüchtige Bürgerinnen und Bürger eine tüchtige Regierung aus CDU und FDP verdient, die diesen
Kurs fortsetzt.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4877 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011
({0})
- Drucksache 17/4821 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({1})
- Drucksache 17/5239 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({2})
Elke Hoff
Paul Schäfer ({3})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/5243 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Johannes Kahrs
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie je ein Entschließungsantrag der
Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas
de Maizière.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz, das heute abschließend beraten wird, setzen
wir die Verpflichtung zum Grundwehrdienst zum 1. Juli
dieses Jahres aus. Zugleich führen wir einen freiwilligen
Wehrdienst ein. Beides sind zentrale Elemente auf dem
Weg zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Ich wiederhole: Wir reden nicht nur über die Aussetzung der Wehrpflicht, wir reden gleichzeitig über die Einführung eines
neuen freiwilligen Wehrdienstes.
Unser Land braucht Streitkräfte, die modern, leistungsstark, wirksam, international geachtet und im
Bündnis verankert sowie nachhaltig finanzierbar sind.
Unser Land braucht Streitkräfte, die auf die gegenwärtige Situation reagieren können und ausreichend vorbereitet und flexibel sind, sich an neue Herausforderungen
anzupassen.
({0})
Das ist der Grund, warum eine Neuausrichtung der Bundeswehr erforderlich ist.
Ich habe bei meinem Amtsantritt - dieser war erst vor
drei Wochen - gesagt, dass ich mir die Zeit nehme, die ich
brauche. Das heißt nicht, dass ich Entscheidungen auf die
lange Bank schiebe oder schieben kann. Bis Juni dieses
Jahres möchte ich die grundlegenden Festlegungen über
die Zahl der Soldaten, über das Fähigkeitsprofil und über
die groben Strukturen der Bundeswehr treffen. Auch die
Entscheidung über das Ministerium und die Entscheidung über die zivile Wehrverwaltung gehören dazu. Alle
diese Entscheidungen müssen in einem Zusammenhang
getroffen, in einem Zusammenhang begründet und in einem Zusammenhang umgesetzt werden. Das habe ich
vor.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
({1})
Die Entscheidung, die Verpflichtung zum Grundwehrdienst auszusetzen, ist richtig, und sie ist nicht mehr
infrage zu stellen.
({2})
Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspolitisch nicht mehr begründen, und sie ist zweitens militärisch nicht mehr erforderlich.
({3})
Eine umfassende Wehrgerechtigkeit wäre drittens auch
nicht mehr gewährleistet. Es gibt keinen Weg zurück.
Ich sage das nicht mit Freude. Denn die Aussetzung der
Wehrpflicht heute ist kein Freudenakt. Es ist eine notwendige, aber mich nicht fröhlich stimmende Entscheidung.
Entscheidend sind heute nicht mehr hohe Zahlen von
Soldaten, sondern professionelle Streitkräfte, die unter
schwierigen und anspruchsvollen Bedingungen rasch
und erfolgreich im Inland und im Ausland im Rahmen
der verfassungsrechtlichen Grundlagen zum Einsatz gebracht werden können.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden,
tritt an die Stelle des verpflichtenden Grundwehrdienstes
ein neuer freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten
für junge Frauen und Männer. Weder die verfassungsrechtliche noch die einfachgesetzliche Grundlage der
Wehrpflicht werden gänzlich abgeschafft. Nicht zuletzt
ist dies eine Rückversicherung mit Blick auf die sich in
der Zukunft möglicherweise ändernden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen.
Mit dem freiwilligen Wehrdienst verdeutlichen wir
zugleich, dass junge Frauen und Männer Dienst in der
Bundeswehr im Sinne eines staatsbürgerlichen Engagements leisten können, ohne sich gleich länger als Soldat
auf Zeit verpflichten zu müssen. Das ist ganz ohne Frage
ein Einschnitt. Niemand kann Ihnen heute mit Sicherheit
sagen, wie viele Freiwillige am 1. Juli zu uns kommen
werden.
Es gibt viele Spekulationen über die Zahlen; dabei
wird hinsichtlich der Kurzzeitfreiwilligen und Grundwehrdienstleistenden viel durcheinandergeworfen. Ich
kann das nicht im Einzelnen bewerten. Ich finde es nicht
verwunderlich, dass es keine klare Auskunft über die
Zahlen gibt; schließlich verabschieden wir erst heute
diesen Gesetzentwurf. Ich werde keine Zahl nennen, wie
viele wohl am 1. Juli den neuen freiwilligen Wehrdienst
antreten werden. Ich freue mich über jede und über jeden, der kommt.
({4})
Die Frage, ob dieses Gesetz ein Erfolg wird, entscheidet sich erst im Laufe der Jahre, nicht im ersten Quartal
dieses Jahres.
({5})
Ich halte es für selbstverständlich, dass gesetzgeberische
Entscheidungen - auch diese - auf ihre Praktikabilität
und gesellschaftliche Akzeptanz überprüft werden. Ich
schlage Ihnen deshalb vor, dass wir schon nach dem ersten Jahr eine Evaluierung dieses Gesetzes und des freiwilligen Wehrdienstes durchführen. Dazu werde ich dem
Deutschen Bundestag gern einen Bericht vorlegen. Dann
können wir sehen, welche Erfahrungen wir damit gemacht haben und wo wir im Einzelnen nachsteuern müssen.
Meine Damen und Herren, wir setzen natürlich verstärkt auf Nachwuchswerbung. Wir müssen sicherstellen, dass wir die Besten und die Fähigsten für den neuen
freiwilligen Wehrdienst gewinnen, und zwar solche
Frauen und Männer, die als Soldaten auch eine ethische
Verpflichtung empfinden; ich komme gleich darauf zurück.
Deswegen - aber nicht nur deswegen - auch ein Wort
an die jungen Frauen. Bisher haben wir um junge Frauen
als länger dienende Zeitsoldaten geworben, nicht als
Grundwehrdienstleistende. Das wird sich jetzt ändern.
Es ist nicht nur aus Gründen der Demografie und eines
Ergänzungsbedarfs, sondern es liegt auch im Sinne der
Streitkräfte, dass wir mit dieser tollen Generation junger
Frauen so umgehen und um sie so werben, dass wir viele
von ihnen für die Streitkräfte gewinnen. Ich würde mich
freuen, wenn Sie alle dabei mithelfen.
({6})
Der deutlich verbesserte Wehrsold für den freiwilligen Wehrdienst und die Verpflichtungsprämien für Soldaten auf Zeit senden starke Signale. Ich freue mich sehr
über den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen,
der vorsieht, dass man bestimmte Zahlungen wegen der
längeren Beratungsfrist des Bundesrates schon vor Inkrafttreten des Gesetzes leisten kann. Das wäre für uns
eine gute Grundlage, um kurzfristig zu handeln.
Wir streben bessere Unterbringungsstandards für
Mannschaften und nach Möglichkeit heimatnahe Verwendungen an. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Fortgeltung der Steuerfreiheit der Geld- und Sachbezüge, der
kostenlosen Familienheimfahrten sowie der Regelungen
des Arbeitsplatzschutzgesetzes, all das sind weitere Elemente einer attraktiven Ausgestaltung des freiwilligen
Wehrdienstes.
({7})
Darüber hinaus wollen wir im Rahmen der Berufsförderung die Möglichkeiten der Teilnahme an Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen erweitern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte einen
Satz aus dem Entschließungsantrag der SPD vortragen,
den ich mir gerne zu eigen machen möchte - ich zitiere -:
Wer freiwillig Wehrdienst leistet, muss besser gestellt werden als derjenige, der keinen Freiwilligendienst versieht.
({8})
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Verteidigung
Damit bin ich voll einverstanden. Ich werde Sie daran
erinnern. Wenn wir mit SPD-Wissenschaftsministern
über Wartezeiten und Ähnliches reden, dann hoffe ich
auf Ihre Unterstützung.
({9})
- Vielen Dank.
Nur wenn wir den Dienst attraktiv ausgestalten, sichern wir die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Das alles ist notwendig und unverzichtbar. Aber
- das soll im Rahmen dieser Rede mein letzter Gedanke
sein - neben den rein materiellen Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität darf ein Aspekt nicht vernachlässigt
werden: Jeder, der sich für einen Dienst in den Streitkräften entscheidet, ob als freiwillig Wehrdienstleistender
bzw. als Berufs- oder als Zeitsoldat, muss Anerkennung
für seinen freiwilligen Dienst erfahren. Wer ausschließlich wegen des Geldes zur Bundeswehr kommt, ist vielleicht genau derjenige, den wir nicht haben wollen.
({10})
Ausschließlich mit finanziellen Anreizen und Vergünstigungen werden wir den freiwilligen Wehrdienst
nicht lebensfähig erhalten und der Bundeswehr nicht
helfen. Ein Soldat muss sich darauf verlassen können,
dass sein Dienst als das angesehen und geachtet wird,
was er ist: als ein Dienst an unserer Gesellschaft, als ein
ehrenvoller Dienst für unser Land, auf den der Soldat
stolz ist und auf den unser Land stolz ist.
Wenn es gelingt, dafür ein größeres Bewusstsein zu
schaffen - das geht mit keiner Werbekampagne und auch
nicht über Nacht, sondern nur im Rahmen eines Prozesses, den wir in unserer Gesellschaft anstoßen müssen und sichtbar zu machen, was Soldaten heute und morgen
für unser Land leisten, dann können wir zuversichtlich
sein, dass auch künftig der Dienst in der Bundeswehr,
auch der freiwillige Wehrdienst in der Bundeswehr, zum
Wohle und Nutzen von uns allen ist. Ich bitte Sie auf diesem Weg herzlich um Unterstützung.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Bartels für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist dies ein Thema, bei dem hier im Bundestag
sicherheitspolitische Gemeinsamkeiten sichtbar werden
können. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass die
bisherige Ausgestaltung der Wehrpflicht nicht mehr haltbar ist. Wenn fast die Hälfte eines Jahrgangs als untauglich ausgemustert wird, damit das Verfassungsgebot der
Wehrgerechtigkeit nicht zu eklatant verletzt wird, dann
ist das nicht mehr haltbar und muss geändert werden.
Wenn aus einem Jahrgang von 400 000 jungen Männern
nur noch 50 000 im Jahr zu einem praktikumsartigen
Grundwehrdienst eingezogen werden, dann ist es mit der
allgemeinen Pflicht zum Dienen nicht mehr weit her.
Deshalb haben wir Sozialdemokraten bereits in der
letzten Wahlperiode den Übergang zu einem freiwilligen
Wehrdienst vorgeschlagen. Dass Sie von der Regierungskoalition nun auf diese Idee eingehen, begrüßen
wir ausdrücklich. Unser Konzept orientiert sich an den
positiven Erfahrungen mit den FWDL, den 25 000 freiwillig länger Wehrdienstleistenden in der Bundeswehr.
Auch hier sehe ich einen gemeinsamen Ansatz von Regierung und SPD.
Um Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, nun aber nicht durch zu viele Gemeinsamkeiten
zu irritieren, will ich einiges zu Ihrem Umgang mit dem
Thema Wehrpflicht in den vergangenen Monaten sagen:
Dass Ihr damaliger Verteidigungsminister erst theatralisch beteuern musste, mit ihm sei die Abschaffung der
Wehrpflicht nicht zu machen, um dann Monate später
genau dies in die Wege zu leiten, entbehrt nicht gerade
einer gewissen persönlichen Konsequenz. Das haben wir
bei ihm öfter erlebt; sei es drum. Aber die Verkürzung
der Grundwehrdienstzeit von neun auf sechs Monate,
wie es Ihr Kompromiss im Koalitionsvertrag vorsah, war
nun wirklich eine Veralberung Ihres eigenen sicherheitspolitischen Sachverstandes und eine Veralberung der
Bundeswehr.
({0})
W6, das nützt und nutzte niemandem: den Wehrpflichtigen nicht, der Truppe nicht, nicht einmal der Koalition.
Herr Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Aber gern.
({0})
Verehrter Herr Kollege, da Sie die Haltung der Union
angesprochen haben, möchte ich fragen: Wie war es in
Ihrer Partei? Sie waren schließlich in einer Koalition mit
den Grünen. Ich erinnere daran, dass die Grünen, ähnlich
wie die FDP, für die Aussetzung der Wehrpflicht waren.
({0})
Die Grünen konnten es nicht durchsetzen. Wir haben es
in dieser Koalition durchgesetzt. Wie war da die Haltung
der Sozialdemokraten? Erinnere ich mich richtig, dass
Ihre Verteidigungsminister gesagt haben: Mit uns ist das
nicht zu machen?
Genau. Deshalb sind wir dabei geblieben.
({0})
- Ja, das hätte eine Frage an die Grünen sein können.
Wir hatten kein Problem damit, dass wir als Befürworter
der Wehrpflicht in der Koalition mit den Grünen bei der
Wehrpflicht geblieben sind. In der letzten Wahlperiode
hätte es die Möglichkeit gegeben, mit der Union zu etwas Neuem zu kommen. Das ist offenbar nur unter Ihrem Einfluss möglich gewesen.
({1})
W6 war ein Kompromiss, der eigentlich eine Winwin-Situation hätte werden sollen. Wenn man Kompromisse eingeht, sollten eigentlich beide Seiten gewinnen.
In diesem Fall haben beide verloren.
Wir Sozialdemokraten werden Ihrem Wehrrechtsänderungsgesetz heute nicht zustimmen, weil die Rahmenbedingungen noch völlig unklar sind.
({2})
Wir kennen die Struktur der künftigen Bundeswehr
nicht. Was sollen die Freiwilligen dort tun? Wir kennen
das notwendige Programm zur Steigerung der Attraktivität nicht. Das wird Geld kosten. Wird der Freiwilligendienst daran scheitern? Wir wissen nicht, wie Sie künftig
für diesen und für die anderen Freiwilligendienste werben wollen. Wollen Sie das überhaupt? Von nichts
kommt nichts. Schauen Sie sich einmal Ihre ersten Freiwilligenzahlen an. Das ist niederschmetternd. Der Minister sprach heute von einer Evaluation, mithilfe derer
nach dem ersten Jahr geschaut werden soll, ob das alles
überhaupt funktioniert. Im Hinblick darauf stelle ich
fest: Ihr Wehrrechtsänderungsgesetz ist ein weiteres Experiment mit der Wehrpflicht mit dem Ziel der Abschaffung. Ich bin etwas unsicher, ob das mit den Koalitionsfraktionen so vereinbart war. Wir haben das bisher an
keiner Stelle so gehört.
({3})
Ein Wehrrechtsänderungsgesetz für ein Jahr: herzlichen
Glückwunsch!
Was uns als Opposition heute am meisten irritiert hat,
ist der völlig wurschtige Umgang der Regierung mit geltenden Gesetzen. Ich hoffe, wir sind uns hier im Parlament einig, dass die Wehrpflicht noch gilt. Etwas Neues
gilt erst dann, wenn wir hier im Deutschen Bundestag
ein neues Gesetz beschlossen haben; darüber reden wir
gerade. Aber Ihr fabelhafter Minister a. D. hat die Reform einfach vorgezogen - ganz ohne gesetzliche Grundlage.
Ich lese Ihnen vor, was die Kreiswehrersatzämter in
den ersten Tagen dieses Jahres 160 000 wehrpflichtigen
jungen Männern per Brief mitgeteilt haben:
Die Bundesregierung hat beschlossen, ab dem
1. Juli 2011 die Einberufung zum Grundwehrdienst
auszusetzen.
Und weiter:
Im Vorgriff auf die geplante gesetzliche Regelung
besteht ({4}) die Möglichkeit, ab dem 1. März 2011
- das war schon freiwilligen Wehrdienst zu leisten.
Ich frage Sie, Herr Minister de Maizière: Wozu beraten wir hier eigentlich noch einen Gesetzentwurf, wenn
die Regierung der Auffassung ist, es gehe auch ohne?
({5})
Wieso machen Sie als Koalitionsfraktionen sich noch die
Mühe, Änderungsanträge zum Gesetzentwurf der Regierung einzubringen? Die Regierung bewegt sich bei ihrem Umgang mit dem Parlament hart am Rande der
Rechtsstaatlichkeit.
({6})
Das erleben wir bei der Wehrpflicht und genauso bei der
Rücknahme der von Ihnen durchgesetzten gesetzlichen
Regelungen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke. Es erfolgt einfach eine Rücknahme per Pressekonferenz.
Sie sollten ernsthaft zur verfassungsmäßigen Praxis
zurückkehren. Gesetze verpflichten die Exekutive. Gesetze ernst zu nehmen, ist keine freiwillige Leistung der
Regierung, sondern ihre Pflicht - auch beim Übergang
zum freiwilligen Wehrdienst.
({7})
Ihre Reform des Wehrrechts findet nicht isoliert statt,
sondern sie ist Teil einer weiteren Verkleinerung der
Bundeswehr, um Geld zu sparen. Das Prinzip, auch beim
Militär sparsam zu haushalten, gehört wohl zu den Gemeinsamkeiten hier im Parlament.
({8})
Es waren christdemokratische und sozialdemokratische
Verteidigungsminister, die unsere Bundeswehr nach dem
Ende des Kalten Krieges umgebaut und ihren Umfang
von über 600 000 Soldaten bei der Vereinigung auf heute
250 000 reduziert haben. Seit vielen Jahren ist die Bundeswehr eine Armee im Einsatz. Sie hat sich bewährt,
und sie bewährt sich heute - auch in schwierigen Missionen.
Gerade in der heutigen Lage sollten wir mit beliebig
anmutenden Sparvorgaben aber vorsichtig sein. Wir wissen nicht, was die nächsten Jahre bringen. Wer hätte vor
drei Monaten mit dieser Freiheitsbewegung in der arabischen Welt gerechnet? Wer war 2001 auf den 11. Sep11346
tember vorbereitet? Wie lange im Voraus wussten wir,
wann der Kalte Krieg zu Ende geht? Was zeigen die aktuellen Katastrophen in Japan mit Blick auf unsere Fähigkeit, schnell große Personalkörper für den Katastrophenschutz zu mobilisieren?
Ich will nicht Kassandra spielen,
({9})
aber, Herr Minister de Maizière, lassen Sie uns vorsichtig dabei sein, Fähigkeiten allzu leichtfertig aus der
Hand zu geben. Es kann einen raschen politischen Wandel geben - zum Guten und zum weniger Guten. Wir
sollten deshalb nicht allzu schnell in die Lage kommen,
sagen zu müssen: Die Bundeswehr kann das nicht mehr.
Herr Schockenhoff hat in dieser Woche die Libyen-Politik des Außenministers damit begründet. Das ist nicht
gut, und das stimmt in der gegenwärtigen Lage übrigens
auch nicht. Deshalb wäre es besser, wenn wir uns einig
wären, dass es keine Bundeswehrreform nach Kassenlage geben darf.
Der ausgeplante Umfang von 185 000 Soldaten muss
jetzt stehen. Zerschlagen Sie nicht diese Minimalstruktur!
({10})
Es muss struktursicher sein, dass 15 000 Soldaten freiwillige Wehrdienstleistende sind; das darf keine variable
Größe sein, die in den Haushaltslöchern der Zukunft verschwindet.
({11})
Lassen Sie uns bitte so viel Gemeinsamkeit herstellen, dass nicht jede neue Regierung eine neue Bundeswehrreform anfangen muss.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Erdel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich danke dem Bundesverteidigungsminister
für seine klaren Worte heute an uns alle; denn er hat damit einen ganz klaren Weg und ein ganz klares Ziel vorgezeichnet. Er hat uns mitgeteilt, wie er sich vorstellt,
diese Strukturreform anzugehen. Das heißt, er schießt
nicht aus der Hüfte. So ähnlich kommen mir aber Ihre
Vorschläge vor, Herr Kollege Bartels. Nein, es gibt ein
klares Konzept, einen klaren Masterplan dafür, wie diese
Strukturreform stattfinden soll.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf geben wir den Startschuss
für die vielleicht umfassendste Strukturreform, die diese
Bundeswehr bisher erlebt hat, indem wir die Wehrpflicht
jetzt aussetzen. Dadurch wird uns aber auch die Möglichkeit eröffnet, künftig Reservisten einzuziehen und im
Falle eines Falles auch eine Rekonstitution zu vollziehen.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, den Millionen von
Wehrpflichtigen meinen Dank auszudrücken, die in den
letzten 56 Jahren Dienst für Deutschland und in der sicherheitspolitischen Lagebeurteilung der frühen Jahrzehnte auch einen wichtigen Dienst für die Sicherheit
Europas geleistet haben.
({1})
Ich möchte mich aber auch bei den vielen Freiwilligen bedanken. Denn wenn wir wie heute über die Aussetzung der Wehrpflicht diskutieren, dann erwecken wir
immer den Eindruck, als würde die Bundeswehr nur aus
Wehrpflichtigen bestehen. 190 000 Soldaten der Bundeswehr sind Zeit- und Berufssoldaten. Auch das müssen
wir berücksichtigen.
Seit einigen Jahrzehnten zeichnet sich ein Prozess hin
zu einer Professionalisierung ab. Die Waffensysteme
und Verfahren werden komplexer und machen eine längere Stehzeit notwendig. Deswegen und auch vor dem
Hintergrund einer ständigen sicherheitspolitischen Lagebeurteilung ist es notwendig, die Bundeswehr zu professionalisieren, und den finalen Schritt zur Professionalisierung gehen wir mit dem Aussetzen der Wehrpflicht.
({2})
In den vergangenen Jahrzehnten war es einfach, die
sicherheitspolitische Lage Deutschlands zu beurteilen.
Wir lebten in schwierigen Zeiten. Eine undurchdringbare
Grenze zog sich mitten durch unser Land, und es gab
zwei Blöcke.
Jetzt zeigt sich, dass die Volatilität in der politischen
Lagebeurteilung zunimmt. Ich will nur ein Beispiel nennen. Die Frauen und Männer, die Ende der 40er-Jahre
unser Grundgesetz verfasst haben, haben sich sicherlich
nicht vorstellen können, dass wir uns im Jahr 2010 mit
Piraterie beschäftigen müssen, ein Phänomen, das in den
letzten zehn Jahren aufgetaucht ist und uns auch sicherheitspolitisch beschäftigt.
Wenn wir nur noch 17 Prozent eines Jahrgangs unserer jungen Männer als Wehrpflichtige zur Bundeswehr
holen, dann kann nicht mehr von Gerechtigkeit gegenüber diesen jungen Männern gesprochen werden.
({3})
In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder
die Gefahr beschworen, dass ein Staat im Staat entsteht.
Ich sehe diese Gefahr nicht.
({4})
Unsere Zeit- und Berufssoldaten sind bereits jetzt integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie genießen hohes Ansehen.
({5})
Sie tragen Verantwortung in Vereinen und Kirchen und
sind kommunalpolitische Mandatsträger. Auch unter uns
sind einige Berufssoldaten, die sich politisch engagieren.
Deswegen ist dieser Vorwurf absurd und eine Unverschämtheit gegenüber unseren Zeit- und Berufssoldaten.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich
freue mich, dass wir im Gegensatz zu der Diskussion
von vor vier Wochen heute eine sehr sachliche Diskussion führen. Gehen Sie diesen Weg mit! Denn im Wesentlichen sehe ich bei allen Ihren Vorschlägen ein gemeinsames Ziel: die Bundeswehr zu reformieren. Gehen
wir es an!
Abschließend wünsche ich Ihnen, Herr Minister, viel
Tatkraft für das klare Konzept, das Sie geschildert haben. Die Unterstützung der FDP-Fraktion ist Ihnen dabei
sicher.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass ab
Juli die Wehrpflicht für die jungen Männer ausgesetzt
wird, ist, finde ich, durchaus ein Grund zur Freude, Herr
Minister. Keine Wehrüberwachung, Gewissenserklärung
und ungewollte Zäsuren der Lebensplanungen mehr: Das
ist durchaus gut, vor allem für die Betroffenen oder potenziell Betroffenen.
Die Freude wird allerdings dadurch getrübt, dass Sie
diesen Schritt nur halbherzig und inkonsequent gehen.
Spätestens seit dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation
ist die sicherheitspolitische Begründung für den Pflichtdienst an der Waffe entfallen. Wenn man sagt, dass es
auf absehbare Zeit keine konkrete militärische Bedrohung gibt, wäre es konsequent gewesen, die Wehrpflicht
nicht nur auszusetzen, mit der Option, dies schnell wieder rückgängig machen zu können, sondern sie abzuschaffen. Daran halten wir fest.
({0})
Zu dieser Zäsur hat sich die Regierung leider nicht
durchringen können, weil Sie offensichtlich von der
Sorge getrieben sind, ob Sie noch genug junge Leute für
die Truppe bekommen. Daher führen Sie jetzt im Rahmen des - auch das ist interessant - Wehrpflichtgesetzes
eine neue Statusgruppe ein, die sogenannten freiwillig
Wehrdienstleistenden.
Sie suggerieren dabei, es handele sich um einen Freiwilligendienst wie andere auch. Es gibt dann aber offensichtlich zwei Arten von Freiwilligen: einerseits die
Idealisten, die im Freiwilligen Sozialen Jahr engagiert
sind, und andererseits die freiwillig Wehrdienstleistenden, die de facto doch berufstätig sind und für die man
einen materiellen Anreiz schaffen muss.
Das führt dazu, dass diejenigen, die beispielsweise
ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, mit einem
Drittel der Summe derjenigen nach Hause gehen, die den
neuen Wehrdienst leisten. Es handelt sich exakt um die
Differenz zwischen 400 Euro und 1 200 Euro. Das finden wir nicht nur ungerecht, sondern das finden wir inakzeptabel. Da gehen wir nicht mit.
({1})
Andererseits nehmen Sie eine scharfe Differenzierung
zwischen den Quasisoldaten und den Soldaten auf Zeit
vor. Gegenüber Letzteren sind die neuen freiwillig
Wehrdienstleistenden nämlich benachteiligt. Diese Diskriminierung erklärt sich ganz einfach daraus, dass man
bei den Mannschaftsdienstgraden weiter sparen will und
froh ist, Leute zu haben, die für kleines Geld arbeiten,
die man aber dennoch in die Auslandseinsätze schicken
kann. Denn spätestens nach zwölf Monaten - so steht es
in Ihrem Gesetzentwurf - muss man eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, dass man bereit ist, in
Auslandseinsätze zu gehen. Auch das gefällt uns ganz
und gar nicht.
({2})
Es scheint im Übrigen noch gar nicht klar zu sein, wie
viele Nachwuchssoldaten gebraucht werden. Der Generalinspekteur hielt im letzten Sommer 7 500 für ausreichend, der Exminister zu Guttenberg auch. Jetzt sind wir
bei 15 000. Die Zahl hängt natürlich vom Gesamtumfang der Streitkräfte ab. Auch dieser ist nicht festgelegt,
ist unklar. Das zeigt, wie konfus Ihr Herangehen ist.
({3})
Auch andere Einzelheiten des Gesetzes sind unverdaulich. Ich nenne nur zwei Beispiele. Die Meldestellen
müssen unaufgefordert die Daten aller Jungen und Mädchen an die Bundeswehr schicken. Das ist mit den Datenschutzbestimmungen nicht in Einklang zu bringen,
und das ist eine nicht zu vertretende Privilegierung der
Bundeswehr gegenüber anderen Arbeitgebern.
({4})
Außerdem fehlt in dem Gesetzentwurf eine klare Vorgabe, dass Minderjährige nicht angeworben werden sollen. Die UN-Vereinbarungen zu Kinderrechten und Kindersoldaten sehen einen anderen Umgang vor.
Auch diese beiden Punkte sind für uns maßgebliche
Gründe, weshalb wir nicht zustimmen werden.
Paul Schäfer ({5})
({6})
Sie legen einen Gesetzentwurf vor, der mit heißer Nadel gestrickt und in vielerlei Hinsicht misslungen ist.
Das hat den einen Grund, dass die öffentlichen Kassen
wegen Ihrer Bankenrettung klamm sind, Sie aber zugleich eine Effizienzsteigerung bei der Einsatzarmee
wollen, die Geld kostet. Nur deshalb hat insbesondere
Ihr Vorgänger, Herr de Maizière, die Aussetzung der
Wehrpflicht vorangetrieben, und nur deshalb gibt es
diese Eile.
Dabei ist ein Murksgesetz herausgekommen, und
Murksgesetzen stimmen wir nicht zu.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluss ein paar
grundsätzliche Anmerkungen: Manche sagen, der Wegfall der Wehrpflicht verändere das innere Gefüge der
Streitkräfte und ihre Stellung in der Gesellschaft erheblich. An dieser These könnte etwas dran sein. Wenn die
alte Klammer von Staatsbürger, Landesverteidigung und
Wehrform, die eigentlich schon länger nicht mehr existiert, jetzt vollends aufgelöst wird, dann könnte das mit
einem beträchtlichen Risiko verbunden sein.
({8})
- Das wird doch durchaus diskutiert. Davor können Sie
doch nicht die Augen verschließen. Die Gefahr, dass wir
es irgendwann mit einer professionalisierten Kaste von
mobilen Einsatzsoldaten zu tun haben werden, für die
sich die Gesellschaft nicht mehr sonderlich interessiert,
ist doch gegeben. Da muss man gegensteuern. Das ist die
Aufgabe.
({9})
Entscheidend dafür ist aber nicht in erster Linie die
Wehrform, sondern das sind der Auftrag der Streitkräfte
und der Stellenwert, den die sogenannte Innere Führung
in der Praxis hat. Dieser Maßstab muss für die Bundeswehrreform gelten, die mit diesem Gesetzentwurf auf
den Weg gebracht werden soll.
Herr Minister, diese Reform muss vom Kopf auf die
Füße gestellt werden. Dazu gehört an erster Stelle, zu definieren, wofür wir die Bundeswehr überhaupt noch
brauchen.
({10})
Dafür brauchen wir eine gründliche und kritische Bestandsaufnahme der Auslandseinsätze der vergangenen
20 Jahre. Es ist ein Grundfehler, die Dinge jetzt auf die
Erhöhung der Einsatzeffizienz zu verkürzen. Der Afghanistan-Krieg ist keine Blaupause. Er darf keine Blaupause sein. Er ist ein abschreckendes Beispiel. Deshalb
sagt die Linke: Diese Kriegseinsätze wollen wir nicht,
und wir wollen auch keine Reform, die sie effektivieren
soll.
({11})
Die Mehrheit der Bevölkerung will das auch nicht.
Wahrscheinlich wäre es gut, wenn die Menschen zumindest die Möglichkeit hätten, sich direkter an solchen Entscheidungen der Politik zu beteiligen. Darüber sollte
man nachdenken.
Vollends abenteuerlich wird es - wir reden ja über
eine Gesamtreform der Bundeswehr -, wenn Sie jetzt
auch noch über neue Aufträge für die Soldatinnen und
Soldaten nachdenken. Sie sollen jetzt auch noch unser
wirtschaftliches Interesse an billigen Ressourcen und
Rohstoffen durchsetzen. Es muss definitiv klargestellt
werden: Landesverteidigung ja, Wirtschaftskriege nein. Basta.
({12})
Es bleibt mit Blick auf die Veränderungen der inneren
Verfassung der Bundeswehr richtig, den Staatsbürger in
Uniform mehr in das Zentrum zu rücken. Das war in einem bestimmten historischen Einschnitt schon einmal
notwendig, nämlich 1969/70, als es darum ging, den
überkommenen Traditionalismus aus der Wehrmacht zu
überwinden. Damals ging es um Modernisierung. In dieser Hinsicht ist einiges gelungen, was wir auch klugen
Soldaten verdanken. Einer davon trägt den Namen
Ulrich de Maizière.
Jetzt geht es darum, unter veränderten Umständen den
Anspruch auf größtmögliche Zivilität in den Streitkräften einzulösen und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform zu erneuern und mit Leben zu erfüllen. Das ist bislang nur bruchstückhaft umgesetzt, wenn überhaupt. Das
ist eine Aufgabe, der sich der neue Verteidigungsminister durchaus energisch stellen sollte.
Das Gesetz, das heute verabschiedet werden soll, ist
ein schlechter Auftakt für die Bundeswehrreform. Die
Minister haben gesagt, sie wollten sich Zeit zum Nachdenken lassen. Sie sollten über eine Bundeswehr nachdenken, die bezahlbar ist, die den veränderten sicherheitspolitischen Erfordernissen entspricht und die
deshalb nach unserer Überzeugung erheblich kleiner und
defensiv ausgerichtet sein sollte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister de Maizière, ich wünsche Ihnen für die Ausübung Ihres neuen Amtes viel Glück und Erfolg. Ihr
Vorgänger hat Ihnen mit der Bundeswehrreform eine
große Herausforderung vermacht. Allerdings hat er Ihnen auch das ganze Chaos vererbt, das er angerichtet hat.
Wenn man sich die Reform als ein Haus vorstellt,
kommt einem das Bild einer Baustelle in den Sinn, auf
der nichts an Ort und Stelle ist. Die Baupläne sind nur
grobe Skizzen, und die Handwerker wissen noch nicht
einmal, wie viele Quadratmeter das Gebäude schließlich
haben soll.
({0})
Herr Verteidigungsminister, Sie müssen sich heute noch
nicht die volle Verantwortung für die bisherigen Fehler
zu eigen machen. Doch Sie und Ihre Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie schon bei der Schaffung des krummen und schiefen Rohbaus dabei waren.
In der Expertenanhörung in der vergangenen Woche
wurden nicht nur die zahlreichen Fehler im Wehrrechtsänderungsgesetz thematisiert. Ein ganz grundlegender
Mangel dieses Reformschritts kam wiederholt zur Sprache. Die Bundesregierung hat darauf verzichtet, vor der
Reform über heutige und zukünftige Aufgaben, Fähigkeiten und Grenzen der Bundeswehr zu sprechen.
({1})
Das Fundament der Baustelle Bundeswehrreform ist
noch viel zu schwach. Nicht zuletzt wurde in der Anhörung aber auch deutlich, dass etliche Rahmenbedingungen für die Aussetzung der Wehrpflicht noch gar nicht
geklärt sind. Attraktivität des Dienstes, Nachwuchsgewinnung, Ausbildung und Verwendung der freiwillig
Wehrdienstleistenden sind Stichworte für ungelöste Probleme. Wir brauchen hier schnell Antworten. Trotzdem
wird mit der Verabschiedung dieses Gesetzes heute ein
notwendiger und historischer Schritt vollzogen.
Wir Grüne haben seit Jahren eine Bundeswehr ohne
Wehrpflicht gefordert, und wir hatten und haben dafür
gute Gründe. Die allgemeine Wehrpflicht war sicherheitspolitisch schon lange nicht mehr begründbar. Der
erhebliche Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männer
ist nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Doch die Union
und auch die SPD haben viel zu lange an dieser überkommenen Wehrform festgehalten.
({2})
Weniger als die Hälfte aller jungen Männer eines Jahrgangs hat zuletzt Wehr- oder Zivildienst geleistet. Die
Wehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch ungerechtfertigt. Sie war auch höchst ungerecht.
({3})
Wirklich bitter ist aber, dass Sie so unendlich viel Zeit
und Ressourcen für nichts verplempert haben. Noch im
April 2010 haben wir Grüne im Bundestag einen Antrag
gestellt, in dem wir von der Bundesregierung gefordert
haben, ein schlüssiges, tragfähiges sicherheitspolitisches
Konzept vorzulegen, mit dem die Bundeswehr ihren
Auftrag ohne Rückgriff auf die Wehrpflicht erfüllen
kann. In der namentlichen Abstimmung haben Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, diesen Antrag abgelehnt. Damals dachte ich, Sie würden krampfhaft an der Wehrpflicht als Relikt des Kalten Krieges
festhalten. Heute beschleicht mich manchmal der ungute
Verdacht, dass sich Ihre Stimmen vor allem gegen die
Forderung gerichtet haben, ein Konzept zu entwickeln.
({4})
Denn rund acht Monate später hat das Kabinett die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen, ohne Konzept.
Sie haben auch viel Zeit und viele Mittel für die sinnlose, wirklich völlig vernunftwidrige Verkürzung des
Wehrdienstes auf sechs Monate verschwendet. Aus finanziellen Gründen musste die Wehrpflicht dann doch
weichen. Auf einmal fiel auch Ihnen ein, dass die Wehrpflicht sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar ist.
Dann musste alles ganz schnell gehen. Heute beraten wir
deshalb über ein unausgegorenes Gesetz. Das zeigen
auch die zahlreichen Korrekturen der Koalitionsfraktionen an dem ersten Entwurf. Diese Änderungen beseitigen zwar einige Fehler, aber viele Kritikpunkte bleiben.
Da wäre zum Beispiel die fehlende Altersgrenze für
den freiwilligen Wehrdienst. Der Entwurf schließt den
Dienst Minderjähriger nicht ausdrücklich aus, auch
wenn bestimmte Grenzen gezogen werden. Deutschland
kämpft international aber gegen den Einsatz und die Rekrutierung von Kindersoldaten. Wir haben das Zusatzprotokoll der UN-Kinderrechtskonvention über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten 2004
ratifiziert. Dieses Engagement ist nur glaubwürdig und
kann nur glaubwürdig sein, wenn wir bei unserer eigenen Armee konsequent sind.
({5})
Deshalb fordern wir in unserem Änderungsantrag den
Bundestag dazu auf, beim Kampf gegen den Einsatz von
Kindersoldaten in der Bundeswehr Konsequenz zu zeigen.
Frau Kollegin, darf der Kollege Koppelin eine Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
Bitte, gerne.
Danke, Frau Kollegin. - Ich habe schon sehr früh, seit
ich im Bundestag bin, die Freiwilligenarmee gefordert.
Wäre es nicht viel besser - man kann manches kritisieren; das billige ich Ihnen zu -, an einem solchen Tag zufrieden zu sein - das gilt für Ihre Partei wie für meine -,
dass wir uns endlich durchgesetzt haben, dass wir die
Freiwilligenarmee bekommen und dass die Wehrpflicht
ausgesetzt wird? Das ist doch ein großer Erfolg, bei allen
Schwierigkeiten, die es noch geben wird.
Vielen Dank dafür, dass ich Sie noch etwas fragen
darf. Können Sie in Richtung SPD sagen, wie es damals
in Ihrer Koalition war und warum Sie sich nicht durchsetzen konnten?
({0})
Ich weiß, dass in der Weizsäcker-Kommission diskutiert wurde, den Wehrdienst auf sechs Monate zu verkürzen. Damals fand man das aber unsinnig, sodass man es
nicht getan hat. Glauben Sie mir: Ich würde tausendmal
lieber unter Rot-Grün mit der SPD, die damals leider
noch nicht so weit war, die Aussetzung der Wehrpflicht
beschließen als heute mit Ihnen.
({0})
Wieder zurück zum Gesetz. Ein weiterer problematischer Punkt ist die Erhebung personenbezogener Daten
der 17-Jährigen bei den Meldebehörden und die Speicherung dieser Daten für ein Jahr. Die massenhafte Datensammlung soll zum Zwecke der Werbung für den
freiwilligen Wehrdienst eingeführt werden. Dieser Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung minderjähriger Frauen und Männer ist unverhältnismäßig. Ich
wundere mich schon sehr, dass die FDP dem zustimmt.
Sonst schreiben Sie sich den Datenschutz doch auch
groß auf Ihre Fahne.
({1})
In dem zweiten Punkt unseres Änderungsantrags - dem
können Sie zustimmen - fordern wir den Verzicht auf
diese Datensammlung.
Der Zeitdruck, die Fehler, das Chaos - auf der Baustelle der Bundeswehrreform wurden die ersten Elemente des neuen Hauses errichtet. Aber nicht nur das
Fundament ist rissig, auch die Wände sind bisher noch
sehr wacklig. Leidtragende dieses Pfuschs am Bau sind
am Ende die Soldatinnen und Soldaten, die zivilen Bundeswehrangehörigen und die betroffenen jungen Menschen. Herr Minister, wir werden weiterhin sehr kritisch
begleiten, wie es mit der Reform weitergeht, und wir
hoffen, dass Sie als neuer Bauherr systematischer und
gründlicher sind als Ihr Vorgänger. Es müssen dringend
Nachbesserungen zu diesem Gesetz vorgenommen werden. Deshalb freue ich mich auch über die angekündigte
Evaluation. Mit der Zustimmung zu unserem Änderungsantrag könnte der Bundestag heute schon zwei Probleme abräumen.
Der Abschied von der Wehrpflichtarmee war aber
längst überfällig und ist in der Sache völlig richtig. Darum werden wir diesem Gesetz heute trotzdem zustimmen.
({2})
Viele der Vorschläge, die wir Grünen seit Jahren auf den
Tisch gelegt haben, werden in der Reformdebatte diskutiert und begrüßt. Wir haben nicht nur die Abschaffung
der Wehrpflicht, sondern auch eine Verkleinerung der
Armee insgesamt, andere Strukturen und eine andere
Beschaffungspolitik gefordert. Aber wenn die nächsten
Reformschritte genauso stümperhaft erfolgen, können
wir das nicht noch einmal unterstützen. Eine derart mangelhafte Ausfertigung und Umsetzung werden wir nicht
noch ein weiteres Mal mittragen, selbst wenn dann die
Vorschläge in der Sache richtig sein mögen.
({3})
- Sie können das auch ohne uns Grüne machen. Es mag
Ihnen egal sein, ob Ihre Vorschläge vom Parlament mitgetragen werden oder nicht.
({4})
Aber wir halten eine breite parlamentarische Unterstützung für die Reform der Parlamentsarmee für notwendig.
({5})
Denn sie ist eine Voraussetzung für die so oft angemahnte gesellschaftliche Unterstützung. Wir fordern die
Bundesregierung daher eindringlich dazu auf, bei den
weiteren Reformschritten eine größere Sorgfalt an den
Tag zu legen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Ingo Gädechens für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat hat
die eingeleitete Reform unserer Bundeswehr eine besondere Dimension, weil mit der Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht nicht nur eine tiefgreifende Zäsur in unseren Streitkräften vorgenommen wird, sondern weil wir
damit auch auf ein Element in unserer Gesellschaft verzichten, das deutlich gemacht hat: Dieser Staat gibt dir
nicht nur etwas, sondern er verlangt auch etwas. Er verlangte von gemusterten Männern, dass sie bereit waren,
ihre Wehrpflicht abzuleisten. Das Signal in die Gesellschaft war klar und deutlich: Man muss bereit sein, diesem Staat zu dienen, ihn notfalls zu verteidigen, damit
nicht nur die Demokratie geschützt wird, sondern auch
die Gesellschaft solidarisch und mit dem notwendigen
Zusammenhalt existieren kann.
Nun gibt es einige Kollegen im Saal, die über ihre eigenen Erfahrungen im bisherigen Wehr- oder Zivildienst
berichten könnten. Ich denke, es waren meist wichtige
Erfahrungen und erlebnisreiche Zeiten, die viele hier autorisieren, ein fachkundiges Urteil über die bisherige
Form des Wehrdienstes abzugeben.
({0})
Bei mir persönlich ist es noch ein wenig anders. Wer
wie ich über Jahrzehnte als Berufssoldat in der Bundeswehr gedient hat - als Truppenfachlehrer und Ausbilder,
als Vorgesetzter und Dienststellenleiter -, hat bei jedem
Stellenwechsel besonders auf die neuen Wehrpflichtigen
geblickt und geachtet. In den Jahrzehnten durfte ich eine
große Menge an Erfahrungen mit der Wehrpflicht sammeln. Es war stets hochinteressant, zu sehen, wie aus
den jungen Männern, aus den Grundwehrdienstleistenden, die oftmals unterschiedliche Bildungsabschlüsse
hatten und aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und
Gegenden Deutschlands kamen, echte Kameraden wurden. Es waren Männer, denen am Anfang manchmal ein
wenig Rücksichtnahme und Toleranz fehlte und die
Schwierigkeiten hatten, sich in die Kameradschaft einzuordnen. Dennoch wurden die meisten wichtige Leistungsträger, auf die man sich selbst in schwierigsten Situationen verlassen konnte. Natürlich gab es hin und
wieder auch andere. Trotzdem bleibt resümierend als Ergebnis, dass der Wehrdienst für viele Männer oft eine
sehr wichtige Lebenserfahrung war, die ihnen geholfen
hat, als Persönlichkeit zu reifen, um im weiteren Leben
erfolgreich zu sein.
Die Bundeswehr im Bündnis war über Jahrzehnte
nicht nur Garant der äußeren Sicherheit, sondern durch
die Wehrpflicht auch so etwas wie die Schule der Nation. So gesehen oder, besser gesagt, nur so gesehen
müssten wir alles daransetzen, die Wehrpflicht in ihrer
bisherigen Form zu erhalten. Die Welt um uns herum
- wir hörten es bereits - hat sich aber dramatisch verändert. Die Sicherheitslage heute ist eine völlig andere als
vor 25 Jahren. Aus einer reinen Verteidigungsarmee
wurde die Armee der Einheit. Der oftmals steinige Weg
führte weiter bis zu einer Einsatzarmee mit schwierigsten Auslandseinsätzen. Dieser Weg war häufig nicht nur
holprig, sondern zog sich über mehrere Reformen und
Reförmchen über einen längeren Zeitraum hin und hat
unseren Soldatinnen und Soldaten in vielerlei Hinsicht
sehr viel abverlangt.
Viel Zeit hat sich die Politik bei ihren Entscheidungen
genommen, besonders viel unter einem Verteidigungsminister Scharping und leider auch unter Peter Struck.
Nun beklagt die Opposition schon wieder, es gehe alles
viel zu schnell. Herr Schäfer sagt, das Gesetz sei mit der
heißen Nadel gestrickt; man hätte viele Dinge lieber parallel beraten. Im Verteidigungsausschuss beklagte insbesondere die SPD, man hätte sich lieber noch ein wenig
mehr Zeit genommen.
Diese Regierungskoalition aber handelt. Sie handelt
mit Bedacht, aber schnell, weil unsere Soldatinnen und
Soldaten reformgebeutelt sind.
({1})
Die Bundeswehr braucht und will auch endlich Klarheit.
Sie will endlich Entscheidungen, die zu Planungssicherheit führen, zu Sicherheit bei den Dienstposten, Sicherheit für das eigene Fortkommen innerhalb oder auch außerhalb der Bundeswehr bis hin zur Sicherheit bei der
Frage: Welche Standorte bleiben erhalten? Welche stehen zukünftig nicht mehr zur Verfügung?
({2})
In den vergangenen Jahrzehnten war aufgrund der sicherheitspolitischen Lage die allgemeine Wehrpflicht die
richtige Wehrform. Deshalb danke ich meinen Kameradinnen und Kameraden sowie allen Ausbilderinnen und
Ausbildern, die in meist vorbildlicher Weise und unter
Berücksichtigung des Prinzips der Inneren Führung
junge Männer ausgebildet haben.
({3})
Eine gewaltige Zahl: Rund 7,5 Millionen Wehrpflichtige haben gelobt, der Bundesrepublik Deutschland treu
zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen
Volkes tapfer zu verteidigen. Dafür möchte ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion allen ehemaligen und auch
den noch diensttuenden Wehrpflichtigen herzlichen Dank
sagen.
({4})
Heute und für die Zukunft brauchen wir eine angepasste Form des Dienstes in unserer Bundeswehr, eine
Armee im Einsatz. Was der Einsatz einer Armee wirklich bedeutet, erleben wir besonders schmerzlich in Afghanistan oder auch teilweise auf See im Kampf gegen
Piraterie.
Wir brauchen nicht nur das bestmögliche Gerät und
modernste Ausrüstung, sondern wir brauchen auch ein
Wehrrecht, das Klarheit schafft und die Menschen rekrutiert, die sich einer manchmal gefährlichen, aber stets
fordernden Aufgabe stellen wollen.
Hierzu bietet die Koalition in dem vorgelegten Gesetzentwurf ein neues angepasstes Angebot, das einen freiwilligen 12- bis 23-monatigen Wehrdienst vorsieht. Darüber hinaus kann der Weg vom Soldaten auf Zeit zum
Berufssoldaten führen, so wie es ihn bereits heute gibt.
Der bisher vorhandene Werbeeffekt durch die allgemeine Wehrpflicht wird mit ausgesetzt, geht also verloren. Deshalb müssen wir zwangsläufig attraktivitätssteigernde Maßnahmen einleiten, die neben Berufsförderung verstärkt Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen ins Gesamtportfolio aufnehmen. Auch hier reagiert
die Koalition konsequent und bringt ein Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität auf den Weg. Kreiswehrersatzämter und Zentren für Nachwuchsgewinnung
müssen schnellstmöglich so aufgestellt werden, dass Einstellungen mit klaren Aussagen und Vorgaben erfolgen
können.
Der Umstrukturierungsprozess hin zur Freiwilligenarmee wird all diejenigen, die es gut mit der Bundeswehr
meinen, auch weiterhin fordern. Die Regierungskoalition arbeitet intensiv an der Beantwortung vieler Fragen.
Uns geht es neben einer vernünftigen Struktur um die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerechte Be11352
soldung, um eine gute sanitätsärztliche Versorgung, um
Fürsorge und um Verpflegung bis hin zur Einsatzvorund -nachsorge.
Meine Damen und Herren, die Wehrpflicht war ein
bedeutendes Element in der damals noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Sie auszusetzen, fällt vielen
nicht leicht - der Minister sagte es bereits - und hat zu
intensiven, aber auch zielführenden Diskussionen geführt.
Der Bundestag hat gerade in sicherheitspolitischen
Fragen und in Fragen der Bundeswehr nach einem größtmöglichen Konsens gesucht und ihn auch sehr oft gefunden. Ich denke - das richte ich an die Kolleginnen und
Kollegen der SPD -, man sollte dieser Tradition folgen.
Ich bitte um Zustimmung zum Wehrrechtsänderungsgesetz.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussetzung der Wehrpflicht ist ein großer politischer, aber
auch gesellschaftlicher Schritt in Deutschland. Er markiert das Ende einer langen Tradition.
Die Aussetzung der Wehrpflicht ist richtig. Die Verpflichtung junger Männer zum Grundwehrdienst ist
heute sicherheitspolitisch nicht mehr gerechtfertigt. Mittlerweile besteht hierüber im Parlament Konsens über die
Parteigrenzen hinweg. Ich denke, es ist gut, dass wir uns
im Grundsatz gemeinsam auf diesen Weg machen.
({0})
Die Aussetzung der Wehrpflicht stellt uns aber auch
vor eine neue, vor eine gravierende Herausforderung.
Eine Institution wie die Bundeswehr, die sich bisher darauf verlassen konnte, einen Großteil des geeigneten
Nachwuchses aus den eigenen Reihen zu rekrutieren,
muss sich nun dem freien Wettbewerb stellen. Jede
Schulabgängerin und jeder Schulabgänger steht vor der
Frage: Wie geht es weiter? In diesem Moment muss die
Bundeswehr eine ernsthafte Alternative sein, eine Alternative, die Möglichkeiten bietet und Chancen eröffnet.
Sehr geehrte Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ich will es Ihnen in aller Deutlichkeit sagen:
Hier haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
({1})
Sie haben die Wehrpflicht verkürzt, und nun setzen Sie
sie aus - und das alles in einem unwahrscheinlichen
Tempo. Dabei haben Sie es schlichtweg verpasst, die
Bundeswehr attraktiver zu machen und so aufzustellen,
dass sie auf dem freien Markt ausreichend geeigneten
Nachwuchs finden kann.
Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind erst seit wenigen
Wochen im Amt. Sie persönlich können nichts für den
Scherbenhaufen, den man Ihnen hinterlassen hat; andere
nennen es ein „gut bestelltes Haus“. Aber die Zeit
drängt. Wir müssen den Themenkomplex Nachwuchsgewinnung und Attraktivitätssteigerung jetzt zügig angehen. Sie haben eine enorme Kraftanstrengung vor sich.
Ich will Ihnen ausdrücklich danken für die ersten Gespräche, die die SPD gemeinsam mit Ihnen führen
konnte, und will Ihnen unsere ehrliche Unterstützung anbieten, wenn es in den kommenden Wochen darum geht,
das Versäumte nachzuholen und die Attraktivität der
Bundeswehr zu steigern.
({2})
Es sollte in unser aller Interesse sein, dass wir diese
Reform zustande bekommen. Die Umwandlung der
Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee ist ein zentraler
Pfeiler dieser Reform. Er wird maßgeblich über ihren
Erfolg entscheiden. Die Erhöhung der Attraktivität, die
Intensivierung der Nachwuchsgewinnung und die konzeptionelle Planung, wie wir die besten Hände und die
besten Köpfe in unsere Armee bekommen können, muss
integraler Bestandteil jeglicher Reformbemühungen in
den kommenden Wochen sein. Um es klar zu sagen: Es
kann keine Reform der Bundeswehr ohne eine signifikante Erhöhung der Attraktivität geben.
Herr Minister, Sie haben recht, wenn Sie sagen, die
Steigerung der Attraktivität ist keine reine Frage des
Haushalts. Es geht hier auch um Ansehen, es geht um gesellschaftlichen Stellenwert, und es geht auch um Überzeugungen und Idealismus. Aber Attraktivität ist auch
eine monetäre Frage. Deshalb wird es uns nur mit schönen Slogans, mit schönen Bildern und mit Anzeigenkampagnen nicht gelingen, ausreichend Nachwuchs für
die Bundeswehr zu gewinnen. Eine Bundeswehrreform,
die getrieben ist vom strategischen Parameter der Haushaltskonsolidierung, wird nicht gelingen. Die Abschaffung der Wehrpflicht wird gerade am Anfang - das haben die Experten bestätigt - nicht kostenneutral sein. Es
muss also darum gehen, neue Anreize zu setzen. Herr
Minister, ich habe die Hoffnung, dass Sie Ihre guten Beziehungen zum Finanzminister im Sinne der Truppe nutzen werden.
Bei der Frage der Attraktivität dürfen wir aber nicht
außer Acht lassen, dass sie ebenso wichtig ist für unsere
Soldatinnen und Soldaten, die heute schon als Berufsund Zeitsoldaten tätig sind. Sie sind wichtige Multiplikatoren für die Gewinnung von Nachwuchs. Sie berichten
von ihren Erfahrungen in der Truppe und von der Wertschätzung, die ihnen entgegengebracht wird. Lassen Sie
es mich auch an dieser Stelle anmerken: Die weitere
Kürzung des Weihnachtsgeldes war im Übrigen kein
Zeichen der Wertschätzung und auch kein positives Signal für die Nachwuchsgewinnung.
({3})
Wenn es uns nicht gelingt, bessere Perspektiven zu
schaffen, etwa indem wir Angebote zur Ausbildung,
Weiterbildung und zum Studium erhöhen, indem wir
auch die Bundeswehruniversitäten öffnen, dann wird die
Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns nicht
gelingt, die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, etwa
durch ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder
auch durch eine Neuregelung beim Trennungsgeld und
der Umzugskostenvergütung, zu erreichen, dann wird
die Bundeswehr nicht attraktiver werden. Wenn es uns
nicht gelingt, Laufbahnen anders zu planen und Beförderungsstaus abzubauen, wird die Bundeswehr nicht attraktiver werden.
Ich bin mir sicher, Sie werden genauso wie wir bei
Truppenbesuchen auf diese Punkte angesprochen. Die
Soldaten und Soldatinnen haben sehr konkrete Vorstellungen, wie man den Dienst attraktiver gestalten kann.
Ich finde, an der Stelle sollten wir als Parlamentarier einfach einmal genauer zuhören und die Sorgen und Wünsche der Soldaten auch ernst nehmen.
Bei allem haushaltspolitischen Spagat, den wir zu bewältigen haben, ist festzuhalten: Soldatinnen und Soldaten und auch die Zivilbeschäftigten verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Gerade die letzten Wochen
haben uns doch gelehrt, wie schnell sich die weltpolitische Lage verändern kann. Ich hoffe, uns allen ist noch
einmal bewusst geworden, dass es gut ist, zu wissen,
dass wir uns auf eine gut aufgestellte, eine hochmotivierte und gut ausgebildete Bundeswehr in jedem Fall
verlassen können.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Aussetzung der
Wehrpflicht verändert die Bundeswehr maßgeblich. Wir
alle tragen Verantwortung, dass diese Reform gelingt.
Als die Kanzlerin auf der Kommandeurstagung in Dresden im letzten Jahr den Soldaten euphorisch zurief, sie
wünsche gemäß dem Motto „No risk, no fun“ viel Spaß
bei der Veränderung, da war ich schon verwundert. Ich
wünsche uns allen in den kommenden Monaten den notwendigen Ernst, wenn wir die Herausforderungen, die
vor uns liegen, gemeinsam angehen.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({4})
Das Wort hat der Kollege Christoph Schnurr von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bartels, Sie sind zu Beginn Ihrer Ausführungen
wieder auf die Frage eingegangen, warum diese Koalition den Wehrdienst von neun Monaten auf sechs Monate reduziert hat. Ich will Sie gleich am Anfang daran
erinnern, dass wir über diese Frage, diese Entscheidung
und diesen Beschluss der Koalition in diesem Hohen
Hause bereits im Sommer des letzten Jahres mehrfach
ausführlich diskutiert haben, und zwar nicht nur im Verteidigungsausschuss, sondern auch im Plenum. Heute
geht es nicht um die Frage, ob wir einen sechsmonatigen
Wehrdienst haben, sondern um die Entscheidung - und
das ist eine historische Entscheidung -, ob wir die Wehrpflicht aussetzen.
({0})
Der Minister hat heute gesprochen. Er hat angekündigt, dass er Ende des Jahres eine Evaluierung vornehmen möchte und einmal zurückblicken will, wie viele
junge Frauen und Männer denn den Dienst bei der Bundeswehr auf freiwilliger Basis aufnehmen möchten. Und
die SPD spricht schon wieder davon, dass die Koalitionsfraktionen Experimente auf Kosten der Wehrpflichtigen machten!
({1})
- Nein, das ist eben nicht so. Wir wollen zurückblicken.
Es ist doch richtig, dass man auch einmal zurückblickt,
um dann zu sehen, welche weiteren Maßnahmen man
einführen und welche Änderungen man vielleicht vornehmen kann, und zwar nicht im Hinblick auf die Aussetzung der Wehrpflicht, sondern in Bezug auf die Steigerung der Attraktivität
({2})
und das Bekanntmachen des ehrenamtlichen Engagements, um die Kultur des freiwilligen Dienstes in diesem
Land vielleicht weiter zu fördern.
Herr Minister, dabei haben Sie unsere volle Unterstützung. Ich begrüße diese Ankündigung am heutigen Tage
ausdrücklich.
({3})
Liebe Kollegen, das Wehrrechtsänderungsgesetz wird
hier am heutigen Tag nicht nur besprochen und debattiert, sondern auch verabschiedet. Das ist ein historischer
Schritt. Wir entscheiden heute über ein maßgebliches
Momentum im Hinblick auf die Strukturreform, über die
Aussetzung der Wehrpflicht.
Die Wehrpflicht ist ein massiver Eingriff in die
Grundrechte junger Männer. Deshalb muss die Begründung für diesen Eingriff in die Freiheit junger Menschen
kontinuierlich überprüft werden. Diese Evaluierung
wurde vorgenommen.
Die FDP - das ist bekannt und kein Geheimnis - fordert die Aussetzung der Wehrpflicht seit Jahren, und
zwar nicht aus finanziellen Gründen, sondern aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Wir brauchen in Zukunft
keine großen Streitkräfte, sondern eine hochprofessionelle, flexible, gut ausgebildete und gut ausgerüstete
Bundeswehr.
Die Union hat intensive Beratungen über diese Frage
angestellt. Die Kollegen der Union - ich zolle ihnen
meinen Respekt - sind zu einem Entschluss gekommen,
der es heute ermöglicht, die Wehrpflicht auszusetzen.
Die Bundeswehr wird mit diesem Gesetz auf die Freiwilligkeit und nicht mehr auf die Pflicht setzen. Das hat
selbstverständlich auch für uns als Deutscher Bundestag
Konsequenzen. Natürlich muss die Bundeswehr als Arbeitgeber noch attraktiver werden. Die Frage des Maßnahmenkatalogs werden wir daher weiter thematisieren
und behandeln. Es sind erste Maßnahmen vorgeschlagen
worden. Diese Maßnahmen sind aber erst der Anfang
und sicherlich nicht das Ende, um die Bundeswehr noch
attraktiver zu gestalten.
({4})
Die Ausstattung und Ausrüstung der Bundeswehr, die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Infrastruktur
der Standorte, die Versetzungshäufigkeit, finanzielle Anreize sowie die Ausbildung und Fortbildungsmaßnahmen sind weitere Aspekte, die in diesem Zusammenhang
berücksichtigt werden müssen und auch berücksichtigt
werden.
Wir brauchen aber auch eine Kultur der Freiwilligkeit. Dazu ist vieles gesagt worden. Diese Prozesse sollten und werden wir weiter begleiten.
Zum Schluss möchte ich Ihnen nicht nur empfehlen,
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen,
sondern auch der Grünenfraktion meinen Dank dafür
ausdrücken, dass sie unserem Gesetzentwurf - ein historischer Schritt in der Bundeswehrreform, aber auch ein
historischer Schritt, wenn man sich die Geschichte der
Bundeswehr ansieht - heute hier zustimmt.
({5})
- Das ist keine Koalitionsverhandlung, Frau Kollegin.
Wenn Teile der Opposition der richtigen Entscheidung
der Koalition zustimmen, darf ich sie an dieser Stelle
doch auch einmal loben, glaube ich.
({6})
Die Bundeswehr ist gut aufgestellt. In Zukunft werden wir den Weg in die richtige Richtung gehen.
Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem heutigen Beschluss wird die allgemeine Wehrpflicht nach 55 Jahren ausgesetzt. Es ist ein historischer
Tag in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf der einen
Seite entfällt damit für zukünftige Generationen junger
Männer die Pflicht, einen Wehr- oder Ersatzdienst zu
leisten. Sie gewinnen dadurch Lebenszeit, die sie zum
Beispiel für ihr berufliches Fortkommen einsetzen können. Auf der anderen Seite bedeutet der Wegfall für die
Bundeswehr, dass sie sich neu organisieren und vor allem ihre Nachwuchswerbung auf neue Beine stellen
muss.
Von den Befürwortern der Wehrpflicht wurde immer
hochgehalten, dass gerade die Wehrpflicht dafür sorgt,
dass sich die Bundeswehr nicht von der Gesellschaft abkoppelt und keine militärische Sonderkultur entsteht,
sondern sich der soziale und weltanschauliche Pluralismus in unserem Land auch in unserer Armee wiederfindet. Zentrales Leitbild dafür ist der Staatsbürger in Uniform; das gilt weiterhin, dafür braucht man am Ende
keine Wehrpflicht. Aber ohne Wehrpflicht müssen wir
ein noch stärkeres Augenmerk darauf richten.
Wir, der Deutsche Bundestag, entsenden unsere Soldaten, unsere Parlamentsarmee in Einsätze auf der ganzen Welt. Sie sind dort oftmals schwierigen Konfliktsituationen ausgesetzt, die im äußersten Fall auch den
Einsatz von Waffengewalt erfordern. Wir müssen uns
dann darauf verlassen können, dass ihr Handeln ethischen Maßstäben genügt und die Soldaten vorbildliche
Botschafter unseres Landes, unserer Demokratie und unserer Werteordnung sind.
({0})
Meine Damen und Herren, wir stellen diese Anforderungen nicht an andere Freiwilligendienste. Ich betone
das deswegen, weil vonseiten der Opposition immer
wieder gefragt wurde, warum denn der freiwillige Wehrdienst bevorzugt behandelt werde und nicht mit anderen
Freiwilligendiensten gleichgestellt sei. Der Dienst an der
Waffe ist eben nicht mit anderen Diensten vergleichbar,
die für unser Land genauso wichtig sind, aber einen fundamental anderen Charakter haben.
Bei der Bundeswehr gibt es ein überragendes Interesse daran, dass wir junge Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft erreichen und für einen Dienst gewinnen. Frau Kollegin Malczak, „erreichen“ heißt in
diesem Zusammenhang auch, dass wir sie anschreiben
können müssen. Deswegen ist es gerechtfertigt, dass die
Werbung für den freiwilligen Wehrdienst einen Sonderstatus hat.
({1})
- Kollege Gehring, Sie haben jetzt nicht zugehört. Der
Dienst an der Waffe ist eben nicht mit anderen Freiwilligendiensten vergleichbar. Die anderen Freiwilligendienste sind genauso wichtig, aber bei der Bundeswehr
- ich sage es noch einmal, weil es wichtig ist - haben wir
ein Interesse daran, dass sie einen Querschnitt der Bevölkerung abbildet.
({2})
Dies ist bei anderen Freiwilligendiensten nicht der Fall.
Meine Damen und Herren, wenn wir in diesem Zusammenhang von der Steigerung der Attraktivität des
Dienstes sprechen, darf das nicht nur mehr Geld bedeuten. Die finanziellen Aspekte sind wichtig - das gebe ich
zu -; aber es ist mindestens genauso wichtig, dass gerade
wir als Parlamentarier den Soldaten vermitteln, welche
zentrale Rolle wir ihnen als Botschafter unserer Demokratie und unserer Werteordnung beimessen, dass es eine
besondere Ehre ist, unser Land im Ausland vertreten zu
dürfen.
({3})
Sie haben recht: Das vermittelt man nicht mit großen
Anzeigen. Wir müssen vielmehr den Soldaten Wertschätzung entgegenbringen, in Debatten wie heute, in öffentlichen Äußerungen und im persönlichen Gespräch.
({4})
Das ist der zentrale Beitrag, den wir als Parlamentarier
zur Steigerung der Attraktivität und des Ansehens des
Dienstes und damit für die Zukunft der Bundeswehr leisten können und müssen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung wehrrechtlicher Vorschriften 2011.
Uns liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31
der Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll neh-
men.1)
Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5239, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4821 in
der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab-
stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag von
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5244? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan-
trag ist bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen ab-
gelehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und von
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-
Fraktion und der Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? -
1) Anlage 2
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU
und FDP auf Drucksache 17/5245. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD und der Linken angenommen.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5246. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag der
SPD-Fraktion ist bei Zustimmung der SPD-Fraktion mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5247. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen sowie der SPD-Fraktion bei
Zustimmung der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5248. Wer stimmt dafür? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Renate Künast, Jürgen Trittin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für die Umsetzung der Gleichstellung von
Sinti und Roma in Deutschland und Europa
- Drucksache 17/5191 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Katrin Göring-Eckardt von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
erinnern uns alle noch an die eindringliche und berüh11356
rende Rede von Zoni Weisz am 27. Januar in diesem
Hause an dieser Stelle. Wir hatten damals zum ersten
Mal einen Vertreter der Sinti und Roma eingeladen, bei
der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zu sprechen.
Ich will ihn mit folgendem Appell aus seiner Rede zitieren:
Wir sind doch Europäer und müssen dieselben
Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten.
Im Protokoll auf der Homepage des Deutschen Bundestages steht, dass Zoni Weisz dies unter Beifall des gesamten Plenums gesagt hat.
({0})
Leider ist aus dem gemeinsamen Applaus von damals
kein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen hervorgegangen. Auf die Gründe, warum es dazu nicht kam, will ich
hier jetzt nicht eingehen, weil es um die Sache geht.
Dennoch sage ich: Ich hoffe, dass wir noch eine Chance
in den Beratungen haben.
({1})
Wie können wir den Forderungen an uns, die Zoni
Weisz in seiner Rede formuliert hat, politisch gerecht
werden? Zunächst sicherlich, indem wir die historische
Perspektive betrachten. Wir müssen uns darüber klar
sein, dass Sinti und Roma Teil Europas, Teil Deutschlands sind. Wir müssen daran erinnern, dass sie in der
Geschichte immer wieder Opfer von Verfolgung und
Diskriminierung wurden, was in der Vernichtungspolitik
der Nazis seinen Höhepunkt, seinen Extrempunkt fand.
Etwa eine halbe Million Sinti und Roma sind ihr zum
Opfer gefallen. Daraus erwächst für Deutschland eine
mehr als besondere historische und selbstverständlich
auch moralische Verantwortung.
({2})
Auch heute werden Sinti und Roma Opfer aggressiver
Diskriminierung. In diesen Tagen erreichen uns wieder
erschreckende Berichte aus Ungarn, wo die Bürgerwehr
der rechtsextremen Jobbik-Partei über Wochen hinweg
Roma terrorisiert hat. Sie hat ausdrücklich angekündigt,
dass sie dies auch weiterhin tun will. Es heißt sogar: unter Duldung der örtlichen Polizei. Offenbar, so ist zu erfahren, plant diese Organisation weitere Aktionen. Zum
Glück gibt es in Ungarn Menschenrechtsorganisationen,
die dagegen protestieren. Auch die Roma selbst haben
zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Trotzdem ist es
offenbar so, dass die Hasstiraden, die den Roma entgegengeschleudert werden, in Ungarn von vielen gesellschaftlichen Schichten vertreten und akzeptiert werden,
dass ihnen nicht widerstanden wird. Die Roma brauchen
unsere Unterstützung, sie brauchen unsere Solidarität,
genau wie die Menschenrechtsorganisationen, die dagegen aufstehen.
({3})
Natürlich reicht es nicht, nach Ungarn zu schauen. Es
ist auch notwendig, auf uns selbst zu blicken, auf das eigene Land, in dem nach wie vor Vorurteile gegen Sinti
und Roma, Klischees und manches, was nicht gerade auf
gelungene Integration hindeutet, wahrgenommen werden
können. Wie kann sich die besondere deutsche Verantwortung jenseits des Applauses von damals und anderer
symbolischer Gesten zeigen? In unserem Antrag sagen
wir, worum es konkret gehen muss: um die Lebenssituation der größten in Europa lebenden ethnischen Minderheit. Diese müssen wir verbessern. Deutschland muss
sich deswegen auf europäischer Ebene dafür einsetzen,
dass der neue Aktionsrahmen zur Integration von Roma
rasch entwickelt wird. Deutschland muss darauf hinwirken, dass das Rahmenübereinkommen des Europarates
zum Schutz nationaler Minderheiten in allen Ländern
- in wirklich allen Ländern -, die diesem Übereinkommen beigetreten sind, angewandt wird.
Die ungarische Ratspräsidentschaft hat Anfang dieses
Jahres angekündigt, die Integration der Roma zu einem
Schwerpunkt ihrer Arbeit zu machen. Die Situation in
Ungarn habe ich eingangs beschrieben. Lassen Sie mich
an dieser Stelle eines deutlich sagen: So wichtig der europäische Rahmen, die europäische Programme und Initiativen, die in dem Antrag genannt werden, auch immer
sind, Europa darf kein Alibi sein. Nein, wir haben auch
in Deutschland eine Verantwortung. Auch hier müssen
wir sie zeigen. Die besondere Verantwortung Deutschlands muss sich da zeigen, wo es um konkrete Menschen
geht.
({4})
Deswegen können wir nicht das aussparen, was die
Bundesregierung im April 2010 beschlossen hat, das
Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo. Wir alle wissen, dass im Kosovo Kapazitäten zur Aufnahme, erst
recht zur Integration, an allen Ecken und Enden fehlen.
Wir haben in einem Antrag schon damals das sofortige
Ende der Zwangsrückführungen gefordert. Das tun wir
jetzt wieder und fordern die Bundesregierung auf, sich
gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der
Abschiebung von Roma in das Kosovo einzusetzen.
({5})
Es ist unerträglich, wenn Kinder, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, in ein Land geschickt
werden, das im Grunde kein Ort für sie ist, in dem sie
keine Perspektive, keinen anständigen Wohnraum und
auch keine echte Chance auf Bildung haben.
„Besondere Verantwortung Deutschlands“ heißt auch,
ganz praktisch zu handeln, auch innerhalb Europas. Warum gab es eigentlich keine laute Empörung der Bundesregierung, als Frankreich im vergangenen Sommer
Roma mit drastischen Maßnahmen abschob? Da darf
Außenpolitik nicht aufhören. Da muss sie gerade erst anfangen, wenn sie glaubwürdig sein soll.
({6})
Ich möchte zum Schluss noch einen Satz von Zoni
Weisz zitieren. Er sagte:
Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das
durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und
verfolgt worden ist, heute - im 21. Jahrhundert immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen
Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird.
Das müssen wir ändern. Darum unser Antrag.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa“ so lautet der Titel des Antrags der Grünen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass wir einen ganz großen Teil
dessen, was wir am 27. Januar hier miteinander erlebt
haben, noch in Erinnerung haben - nicht nur den Applaus, sondern auch die Bewegtheit - und dass wir uns
auch über die moralische und geschichtliche Verantwortung einig sind. Deshalb bin ich froh darüber, dass ich an
der Stelle den Staffelstab aufnehmen kann.
Sie haben die historische Perspektive genannt, Frau
Kollegin. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Zoni Weisz an
dem Gedenktag zum ersten Mal aus dieser Perspektive
gesprochen, uns dadurch bereichert und diese Farbe in
die Diskussion eingebracht hat. Für mich persönlich war
das sehr bewegend, weil ich selbst - und auch meine
Frau - sehr viele verschiedenste Erlebnisse und Begegnungen mit Mitgliedern dieser Gruppe hatte.
Es ist richtig: Es ist eine der größten Gruppen, die
noch dazu vernachlässigt wurde, was ihre Wahrnehmung
als Geschädigte angeht, als Opfer der NS-Zeit: Es waren
500 000. Oft wurde über viele andere Gruppen geredet.
Heute gehören in Europa 10 bis 12 Millionen Menschen dieser größten ethnischen Minderheit an; wir haben das gerade gehört. Inzwischen gibt es eine klare Benennung: Das ist die Gruppe der Roma. Die Identität
bestimmt sich nicht nur aus dem Roma-Sein, sondern
auch aus der regionalen und nationalen Kultur, aus der
sie stammen.
Besonders im Süden Europas - von der Europäischen
Grundrechteagentur wurden immer wieder einige Länder
genannt - sind Diskriminierungen vorgekommen, die
nicht unbedingt struktureller Art waren. Zwar gab es Ermahnungen, aber die Diskriminierungen geschahen oft in
dem Alltagsmiteinander. Es gab Segregation anstatt Integration sowie eine Ghettoisierung und erschwerte Bildungszugänge. Das lag nicht nur an den Personen selbst,
sondern oft auch an den Strukturen, auch an uns.
Menschenhandel wird an der Stelle immer angeführt.
In einigen Regionen Europas stammen 80 Prozent derer,
die mit Menschenhandel, Zwangsarbeit, sexueller Ausbeutung und Bettelei von Kindern zu tun haben, aus dieser Personengruppe. Das darf nicht sein. Das dürfen wir
nicht einfach so hinnehmen.
2006 haben 76 Prozent der Roma in Deutschland Diskriminierungen am Arbeitsplatz erlebt; so ist ihre Aussage. Das ist als solches nicht sofort ein Problem des
Rechts; da ist auch ein Teil subjektiv. Aber das dürfen
wir so nicht stehen lassen. Darum müssen wir uns kümmern; denn das darf in unserem Land nicht so sein und
bleiben. Deshalb ist für mich der Gedanke klar: Wehret
den Anfängen des Antiziganismus.
Gut, dass wir es hier noch einmal vor Augen geführt
bekommen haben. Danke auch ein Stück weit dafür, dass
Zoni Weisz hier reden durfte, dass dies angestoßen und
von Ihnen angenommen wurde. Sie sind uns ein Stück
vorausgegangen; denn auch wir haben einen Antrag in
der Pipeline. Wir möchten gerne in dieser Frage ins Gespräch kommen. Vielleicht gibt es da eine Chance.
Ich werde jetzt nicht umfassend über den rechtlichen
Status referieren. In Europa gibt es die Grundrechtecharta, auf die sich jeder EU-Bürger berufen kann.
Helmut Schmidt hat 1982 gesagt, dass das Völkermord
war. Helmut Kohl hat das später ebenfalls betont, auch
hier vor dem Hohen Haus.
Inzwischen gibt es Rahmenabkommen. Wir haben
das Jahrzehnt der Integration der Roma. Das muss man
natürlich umsetzen. Deshalb bin ich froh, dass es uns
präsent gemacht wurde. Auch wir, ich persönlich und
meine ganze Fraktion, sind sehr dankbar, dass die Ratspräsidentschaft Ungarns der europäischen Roma-Strategie auf der Tagesordnung Priorität einräumt. Das begrüßen wir, und das werden wir unterstützen. Sie werden
das auch in unserem Antrag, der Ihnen bald vorliegen
wird, sehen.
({0})
Auf den Unterschied werden meine Kollegen, die
gleich reden - unter anderem ein Kollege aus dem Innenausschuss; ich bin kein Jurist -, genauer eingehen.
Sie sagen, dass Sie der faktischen Ausgrenzung und
Stigmatisierung durch die Asylpolitik entgegentreten
möchten. Ja, es gibt hohe Vertreter, die das stützen. Auch
uns in Deutschland werden Vorwürfe gemacht. Navi
Pillay hat deutlich gesagt, dass auch wir hier daran zu arbeiten haben. Sie fordern eine Aussetzung des Rücknahmeabkommens. Wir sagen, dass man damit letztlich
auch die Bekämpfung der illegalen Migration untergräbt; das sollte man nicht tun. Wir möchten das Asylrecht als solches nicht aussetzen. Wir finden, das ist kein
Mittel zum Minderheitenschutz.
Die Forderungen, die wir stellen werden - ich möchte
unserem Antrag nicht vorgreifen -, sind zu großen Teilen identisch mit denen in Ihrem Antrag. Darüber bin ich
sehr froh. Sie fordern zum Beispiel das Eintreten gegen
jede Form von Antiziganismus in Politik und Zivilgesellschaft.
({1})
- Ich werde Ihnen bei Gelegenheit sagen, wann genau
wir ihn einbringen.
({2})
Ich sage bewusst: Darauf müssen wir nicht nur als Politiker, sondern auch als Einzelne Wert legen. Wir müssen
es benennen, und wir müssen die Menschen auffordern,
Sinti und Roma in ihrem Umfeld zu begegnen.
Wir müssen EU-weit an einer Verbesserung der Situation mitwirken. Wir müssen für Chancengleichheit eintreten. Wir müssen natürlich auch kritische Gespräche
mit den Roma führen. Mögliche Themen sind die Rechte
der Frauen und manche ihrer Vorbehalte gegen Schulbesuche. Wir müssen die europäische Ratspräsidentschaft
in ihrer Einstellung, die Roma-Strategie prioritär zu behandeln, unterstützen. Bei den EU-Staaten, die das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten noch nicht anerkannt haben, müssen
wir dafür werben. Wir müssen die eingesetzte Task
Force unterstützen. Wir wünschen uns natürlich eine
Einbeziehung der Vertreter der Roma in alle Gespräche,
die es dazu gibt.
Danke für die Initiative. Danke für den 27. Januar
2011 - die Gedenkveranstaltung hat mich sehr bewegt -,
danke Zoni Weisz für den Anstoß zum Nachdenken über
dieses Thema und danke, dass dieser Anstoß angenommen wurde. Ich bin gespannt, wie wir weiter damit verfahren.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin
Kerstin Griese.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns alle hat die Rede von Zoni Weisz am Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus, am 27. Januar, hier
in diesem Haus sehr beeindruckt und betroffen gemacht.
Er hat davon berichtet, wie er als siebenjähriger Junge
seine Familie verloren hat, die in den Zug nach Auschwitz getrieben worden war. Meine beiden Vorredner haben schon gesagt, dass es das erste Mal war, dass ein
Vertreter der Opfergruppe der Sinti und Roma an diesem
Gedenktag hier gesprochen hat und damit ein deutliches
Zeichen gesetzt hat, dass wir an diese viel zu lange vergessene Opfergruppe, an die vielen Sinti und Roma, die
in ganzen Familien in die Lager der Nazis eingeliefert
worden sind, endlich mehr und auch würdig erinnern
müssen.
Ich habe oft mit Menschen gesprochen, die die KZ
überlebt haben. Sie haben gesagt, dass sie zum ersten
Mal Kinder in den Lagern gesehen haben, als die Sinti
und Roma dorthin verschleppt worden waren. Hunderttausende wurden ermordet, wurden entrechtet und wurden ihres kulturellen Erbes beraubt. Gerade deshalb ist
es so wichtig, dass wir in Verantwortung vor unserer Geschichte jeder Diskriminierung der heute in Deutschland
und in Europa lebenden Sinti und Roma entgegentreten,
und zwar nicht nur an Gedenktagen und in Erinnerungsreden, sondern auch in unserer alltäglichen Politik.
({0})
Was uns bei der Rede von Zoni Weisz am 27. Januar,
glaube ich, alle besonders betroffen gemacht hat, waren
seine historischen und aktuellen Bezüge: der Verweis auf
die jahrhundertelange Tradition der Ausgrenzung von
Sinti und Roma, aber eben auch der Verweis auf die
Kontinuitäten nach 1945, als bei den Behörden weiterhin
mit den Akten der Nazis gearbeitet wurde, wenn es um
Sinti und Roma ging. Er hat uns Beispiele vor Augen geführt, wie heute in Rumänien und Bulgarien Roma diskriminiert werden, wie in Ungarn Rechtsextremisten Juden, Sinti und Roma überfallen.
Wir haben es eben schon gehört: Mit etwa
12 Millionen Menschen sind die Roma die größte Minderheit in Europa. Das Europäische Parlament hat schon
2008 beschlossen, eine europäische Strategie für die
Roma zu entwickeln. Wir erwarten dafür in den nächsten
Wochen einen neuen EU-Rahmen. Wir setzen uns dafür
ein - ich will das ausdrücklich unterstützen -, dass die
Anstrengungen der EU verstärkt werden. Noch mehr setzen wir uns dafür ein, dass sich auch die Mitgliedstaaten
daran halten. Auf europäischer Ebene sind hierzu schon
einige gute Beschlüsse gefasst worden.
Sie erinnern sich sicherlich daran, dass die EU-Justizkommissarin Frau Reding im letzten September den
französischen Präsidenten wegen der Gruppenabschiebung von Roma aus Frankreich scharf kritisieren musste
und eine Klage der EU-Kommission wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft oder Rasse angedroht hat. Die EU hat hierzu also schon eine sehr eindeutige Position.
Wir begrüßen es sehr, dass sich die ungarische Ratspräsidentschaft vorgenommen hat, bald, noch in den
nächsten Wochen, die Anstrengungen auf europäischer
Ebene zur Integration der Roma zu verstärken. Dies soll
auch Teil der Strategie „Europa 2020“ werden. Denn
nachhaltiges Wachstum heißt auch, dass man alle Bevölkerungsgruppen teilhaben lässt: an Bildung, an Gesundheit, an Integration und auch an guten Wohnmöglichkeiten. Wir erwarten, dass gerade zu diesen Themen, zu
Bildung, Gesundheit und Wohnen, in der EU-Strategie
deutliche Worte gefunden werden. Dazu muss auch gehören, dass die Sinti und Roma an der Entwicklung dieser
Strategie von Anfang an beteiligt werden und dass transparent überprüft wird, welche Fortschritte es gibt.
Es ist in dieser Debatte schon zu Recht gesagt worden: Wir schauen nicht nur nach Europa, sondern auch
darauf, was bei uns los ist. Es gibt noch immer offene
und subtile Diskriminierung. In einer aktuellen Studie
mit dem Titel „Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen
und Diskriminierung“ wurde untersucht, inwieweit
Menschen, die eigentlich, rein rechtlich, gleichberechtigt
sind, diskriminiert werden und inwieweit in ihnen andere oder Fremde gesehen werden. Das Erschreckende
ist, dass dabei herausgekommen ist, dass Sinti und Roma
in der Unbeliebtheitsskala mit 79 Prozent Spitzenreiter
im Spektrum der Menschenfeindlichkeit waren. Es wurden viele Beispiele gefunden - in Aschermittwochsreden, bei der Arbeitssuche, bei der Wohnungssuche und
im öffentlichen Leben -, die belegen, dass Sinti und
Roma diskriminiert werden.
Auch dies ist schon erwähnt worden: Ein besonderes
Problem ist die Abschiebung von Roma aus Deutschland
in den Kosovo, weil sie dort häufig diskriminiert werden, keine Gesundheits- und Sozialleistungen bekommen und keine Chance auf Bildung und Arbeit erhalten.
Das ist besonders dann problematisch, wenn es sich um
Familien mit Kindern handelt, die entweder hier geboren
oder aufgewachsen sind, oder wenn es sich um alte, pflegebedürftige oder traumatisierte Menschen handelt. Wir
wissen aus Berichten von Vertretern internationaler Organisationen und deutscher Sozialverbände, die vor einem Jahr mit einer Delegation im Kosovo waren, dass
abgeschobene Familien von Roma dort auch direkte Gewalt erlebt haben.
({1})
Deshalb appelliere ich mit Nachdruck an die Innenminister aller Länder, die Ermessensspielräume in Einzelfallprüfungen großzügiger zu nutzen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir vonseiten der
SPD-Fraktion sind der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
sehr dankbar für die Initiative zu diesem Antrag; streckenweise haben wir sogar schon ein bisschen gemeinsam daran gearbeitet. Auch nach Ihrer Rede, Kollege
Heinrich, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir es in den
Ausschussberatungen schaffen können, einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten. Wir brauchen eine Positionierung, die im Deutschen Bundestag eine Mehrheit findet,
damit wir aus der Rede von Zoni Weisz vom 27. Januar
dieses Jahres Lehren ziehen und real und konkret etwas
für die Sinti und Roma erreichen können.
Wir sollten den Appell, dass ein Volk, das über Jahrhunderte diskriminiert und verfolgt worden ist, nun eine
bessere Zukunft braucht, wirklich ernst nehmen. Deshalb mein Appell gerade an die Koalitionsfraktionen:
Lassen Sie uns versuchen, einen gemeinsamen Beschluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen,
in dem die Grundüberzeugung zum Ausdruck kommt,
dass wir mehr tun müssen, um der Diskriminierung von
Sinti und Roma bei uns und in Europa entgegenzuwirken
und das Problem der menschlichen Schicksale, die bei
einer Abschiebung drohen, so zu lösen, dass wir unserem Anspruch an ein humanes Miteinander in Europa
gerecht werden!
Heute Morgen ist schon viel über Europa diskutiert
worden. Zu einem Europa der Zukunft und zu einer Strategie für ein Europa 2020 gehört neben der wirtschaftlichen Gemeinschaft auch eine Gemeinschaft sozialer, humanitärer und demokratischer Standards, in der
Minderheiten gewürdigt werden und bessere Chancen
bekommen. Deshalb meine Bitte - die Sachlichkeit der
Debatte, aber auch die Gemeinsamkeit, mit der wir uns
auf die Rede vom 27. Januar dieses Jahres beziehen,
stimmen mich ein wenig hoffnungsfroh -: Lassen Sie
uns real etwas zur Verbesserung der Situation der Menschen unternehmen!
Vielen Dank.
({3})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Serkan
Tören.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Situation der Roma und Sinti in Deutschland und Europa
greifen wir ein wichtiges Thema auf. Denn eines gehört
zu den ganz traurigen Kapiteln der europäischen Historie: die Geschichte der Roma in Europa, die über Jahrzehnte hinweg mit Unterdrückung, Diskriminierung und
Ausgrenzung verbunden war. Der schlimmste Abschnitt
war zweifelsfrei ihre Verfolgung während der Zeit des
Dritten Reiches, einer Zeit, der mehrere Hunderttausend
Menschen zum Opfer gefallen sind. Am Gedenktag für
die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2011
hier im Deutschen Bundestag hat Zoni Weisz uns allen
seine Empfindungen sehr eindrucksvoll geschildert.
Wenn man die verschiedenen Staaten Europas betrachtet, kann man eines festhalten: Die gegenwärtige
Situation der Roma stellt sich doch sehr unterschiedlich
dar. Nehmen wir etwa viele Staaten Mittel- und Osteuropas! Dort leben heute die meisten Roma. Die Probleme
der betroffenen Menschen sind in diesen Staaten am
deutlichsten zu erkennen. Es geht dabei um schlechte
Wohnverhältnisse, hohe Arbeitslosigkeit und mangelnde
Bildungschancen. Noch gravierender ist jedoch die soziale Situation. Diese ist oft durch Ausgrenzung und Isolation geprägt.
Dass die Kinder der Roma in gesonderten Klassen getrennt von den anderen Kindern unterrichtet werden, ist
mit den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates
nicht vereinbar.
({0})
Wenn die Wohnungen der Roma in räumlich getrennten
Gebieten oder Stadtvierteln liegen, dann zementieren
sich Integrationsprobleme; dann existiert ein Klima, das
von gegenseitigen Vorurteilen und Missverständnissen
geprägt ist. Diesen Teufelskreis der sozialen Ausgrenzung zu durchbrechen und die Roma besser zu integrieren, ist eine Herausforderung, die viele europäische
Staaten noch nicht ausreichend bewältigt haben.
Eines gehört ebenfalls zur Wahrheit: Auch innerhalb
der Gemeinschaften der Sinti und Roma muss zum Teil
ein Umdenken stattfinden. Verbesserte Rahmenbedingungen haben keinen positiven Effekt, wenn sie von den
betroffenen Volksgruppen nicht als Chance begriffen
werden. Ein verbesserter Zugang zu Bildung ist unbedingt notwendig. Die Eltern müssen ihre Kinder dann
aber auch zur Schule schicken.
({1})
Die Gleichstellung von Sinti und Roma in allen gesellschaftlichen Bereichen ist absolut wünschenswert. Solange aber innerhalb der Familien der Sinti und Roma
Frauen zum Teil unterdrückt werden, häuslicher Gewalt
ausgesetzt sind und ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht
wahrnehmen können, kann eine tatsächliche Gleichstellung von Frauen auch nicht erfolgen.
({2})
Wir beraten heute den Antrag der Fraktion der Grünen für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und
Roma in Deutschland und Europa. Als christlich-liberale
Koalition werden wir in Kürze einen eigenen, sehr viel
ausgewogeneren und sachorientierten Antrag zur Situation der Sinti und Roma in Europa in den Deutschen
Bundestag einbringen.
Herr Kollege Tören, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Winkler?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich hatte mich bereits
vor zwei Sätzen zu einer Zwischenfrage gemeldet, als
Sie den Schulbesuch und die Eltern, die ihre Kinder
nicht zur Schule schicken, angesprochen haben.
Ohne Schärfe in die Debatte bringen zu wollen,
möchte ich darauf hinweisen, dass wir letztes Jahr mit einer Delegation des Innenausschusses im Kosovo waren.
Dort wurde uns berichtet, dass die aus Deutschland in
den Kosovo abgeschobenen Kinder der Sinti und Roma
in der Regel nicht Serbisch und Albanisch sprechen können, da sie in Deutschland aufgewachsen sind. Diese
Kinder sprechen zu Hause Romanes, Deutsch oder eine
andere Sprache. In der Regel sprechen sie aber nicht die
Mehrheitssprache der jeweiligen Gegend im Kosovo. Es
ist also nicht gewährleistet - das wurde flächendeckend
berichtet -, dass die Kinder, die wir dorthin abschieben,
überhaupt beschult werden können, wenn sie von ihren
Eltern in die Schule geschickt werden. Entweder sitzen
sie dort und können dem Unterricht nicht folgen oder sie
gehen logischerweise irgendwann einfach nicht mehr
hin, weil ihnen nicht geholfen wird.
Sie hatten einen Fall geschildert. Ich wollte Sie
schlicht und ergreifend bitten, diese Umstände im Rahmen ihrer Beratungen über den zu erwartenden Antrag
zu berücksichtigen. Es ist vielleicht nicht der Hauptpunkt. Denn es gibt nicht nur Probleme mit der Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder wirklich beschulen zu lassen. Es gibt auch Probleme bei denjenigen, die von
Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden. Es
gibt von staatlicher Seite kein Angebot einer entsprechenden Beschulung. Wir sollten zumindest im Hinblick
auf die Fälle, für die wir mittelbar verantwortlich sind,
weil wir die betreffenden Personen abgeschoben haben,
in Zukunft darauf achten, dass dieses Problem in Gesprächen mit der Regierung des Kosovo angesprochen
wird. Ich möchte Sie mit dieser Zwischenbemerkung bitten, dies zu berücksichtigen. Vielleicht können Sie kurz
dazu Stellung nehmen.
Mit Sicherheit werden wir uns diese Thematik bei der
Antragsberatung innerhalb der Koalition näher anschauen; das ist ganz klar. Ich habe hier auf einen anderen Sachverhalt aufmerksam gemacht, den es durchaus
gibt - an dieser Stelle dürfen wir uns auch nicht verschließen oder ein Thema tabuisieren -: Es geht darum,
dass Eltern in der Community ihre Kinder bewusst nicht
zur Schule schicken. Das ist ein weiter verbreitetes Phänomen als das, das Sie beschrieben haben. Insofern ist
unser Hauptanliegen, uns erst einmal darum zu kümmern. Das andere Thema werden wir uns in der weiteren
Antragsberatung natürlich auch anschauen, Herr Kollege
Winkler.
({0})
Als christlich-liberale Koalition werden wir in Kürze
einen eigenen, sehr viel ausgewogeneren und sachorientierten Antrag zu der Situation der Roma und Sinti in
Europa in den Deutschen Bundestag einbringen; ich
sagte es bereits. Wir möchten damit Folgendes zum Ausdruck bringen: Uns ist das Thema sehr wichtig, und wir
wollen eine Verbesserung der Situation der Roma und
Sinti.
In dem Antrag der Grünen werden die aktuellen Bemühungen der Bundesregierung in keinster Weise erwähnt, beispielsweise die aktive Arbeit in internationalen
Foren wie der OSZE oder die Arbeit im Europarat, der
die Integration der Roma und Sinti in Europa auf vielfältige Weise fördert. Auch unterstützt die Bundesregierung
seit vielen Jahren zahlreiche Menschenrechtsprojekte zur
Unterstützung der Roma und Sinti im Rahmen des EUStabilitätspaktes für Südosteuropa bzw. des regionalen
Kooperationsrates für Südosteuropa. Die Bundesregierung arbeitet eng mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und
Roma im Beirat der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zusammen.
Als FDP-Bundestagsfraktion freuen wir uns, dass sich
die Bundesregierung weiterhin zur Verbesserung der
Menschenrechtslage der Roma und Sinti einbringt. Was
uns als FDP besonders wichtig ist: Wir bekämpfen explizit den Menschenhandel, welcher unter Roma und Sinti
aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation vermehrt auftritt. Die Bundesregierung fördert auch EUweite Kampagnen wie „Dosta!“ zur Verbesserung der
Lage der Roma und Sinti und zum Abbau von Vorurteilen und Ausgrenzung. Die Bundesregierung unterstützt
das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher
Sinti und Roma in Heidelberg, welches Forschungsarbeiten und Promotionen in diesem Bereich ideell und
materiell ermöglicht. Als christlich-liberale Koalition
möchten wir in dem Zusammenhang insbesondere die
ungarische EU-Ratspräsidentschaft auffordern: Setzen
Sie den eingeschlagenen Weg zur Umsetzung einer umfassenden Roma-Strategie weiter fort.
All dies werden wir auch in unserem eigenen Koalitionsantrag zur Situation der Roma und Sinti thematisieren. Damit arbeiten wir effektiv auf eine Verbesserung
der Lebenssituation der Roma und Sinti in Europa hin.
All diese von mir erwähnten Bemühungen der Bundesregierung kommen in dem Antrag der Grünen leider kaum
vor.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einige Worte zu
dem Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo sagen. Die
Forderungen der Grünen nach einem generellen Abschiebestopp bzw. nach einer Aussetzung des Rücknahmeabkommens mit dem Kosovo sind aus meiner Sicht
sehr problematisch und zu kurz gedacht. Die schwierige
soziale und wirtschaftliche Lage von Roma und Sinti alleine kann kein generelles Abschiebehindernis darstellen. Grundsätzlich möchte ich sagen: Ein Abschiebestopp ist und bleibt ein Notfallinstrument für akute
Krisenentwicklungen, also nur eine Ultima Ratio.
Als christlich-liberale Koalition verfolgen wir das
Ziel: Die Situation der Roma und Sinti in Europa muss
verbessert werden. Als FDP-Bundestagsfraktion nehmen
wir uns dieser Herausforderung an, und wir werden in
Kürze zusammen mit dem Koalitionspartner einen abgerundeten und in sich stimmigen Antrag vorlegen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Dezember vorigen Jahres wurde hier in Berlin der Europäische Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma verliehen.
In ihrer Laudatio verwies Frau Professor Dr. Rita
Süssmuth auf die zahlreichen Diskriminierungen von
Sinti und Roma europaweit, und sie mahnte:
Es geht nicht um Minderheitenrechte, sondern um
Menschenrechte.
({0})
Diesen Gedanken möchte ich hier gerne einführen.
Wenn wir über die Gleichstellung von Sinti und Roma
in Deutschland und Europa diskutieren, dann reden wir
nicht primär über Sinti und Roma, sondern debattieren
vielmehr über Bürgerrechte und Menschenrechte in
Deutschland und in der Europäischen Union. Hier gibt
es eklatante Defizite.
Vor knapp einem Jahr war ich in Ungarn - ebenso wie
DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger und Romani Rose,
der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und
Roma. Neonazis hatten ein Haus in Brand gesteckt. Als
der Familienvater mit seinem fünfjährigen Sohn dem Inferno entkommen wollte, wurden sie beide erschossen,
weil sie Roma waren.
In Italien und Frankreich wurden Sinti und Roma isoliert oder des Landes verwiesen. Auch in der Slowakei,
in Bulgarien und Rumänien werden Sinti und Roma teils
wie Aussätzige behandelt. Sie sind de jure EU-Bürgerinnen und Bürger. De facto aber werden sie pauschal ausgegrenzt.
Das sind die Aufgaben, über die wir heute reden. Ich
bin dankbar, dass Bündnis 90/Die Grünen einen so weitgefassten Antrag vorgelegt haben.
In meinem Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf in Berlin
gibt es eine Gedenkstätte. In Berlin fanden 1936 Olympische Spiele statt. Die Reichshauptstadt sollte von Zigeunern gesäubert werden. Die meisten Sinti und Roma,
die damals in Marzahn interniert waren, wurden später
im KZ in den Gaskammern ermordet. Wir haben kein
Recht, diese Geschichte zu vergessen, aber wir haben die
gemeinsame Pflicht, neuen Anfängen zu wehren.
({1})
Dabei spreche ich nicht nur von der extremen Rechten.
Ausgrenzung beginnt oft in der Mitte der Gesellschaft.
Sinti und Roma werden noch immer oder schon wieder diskriminiert: bei der Bildung, bei der Gesundheit,
beim Arbeiten, beim Wohnen, sozial, kulturell, rechtlich.
Darauf macht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
aufmerksam. Die Linke unterstützt ihn weitgehend.
Überfällig ist auch, dass die EU eine gemeinsame
Strategie zur Verbesserung der Lage der Roma verabschieden will. Aber dieses EU-Papier entlässt keinen
Staat aus seiner nationalen Verantwortung, auch Deutschland nicht.
({2})
Das ist der Kern, über den wir zu diskutieren haben.
Es wurde schon angesprochen: Die Bundesrepublik
Deutschland will weiterhin hier lebende und Schutz suchende Sinti und Roma in den Kosovo abschieben. Dort
sind sie dem Ungewissen und Schlimmerem ausgeliefert. Die Linke hält das im doppelten Sinn für unmoralisch: gegenüber der Geschichte und gegenüber den
Menschen, die davon betroffen sind.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss ganz persönlich eine
Bitte äußern: Die heutige Debatte ist bei allen Differenzen - vielleicht gibt es kleine Unterschiede - sehr verantwortungsvoll geführt worden und war von Vorhaben
geprägt, die aus allen Fraktionen vorgetragen wurden.
Lassen Sie die Debatte am heutigen Nachmittag und die
folgende Beratung, in der auch die Anträge der anderen
Fraktionen diskutiert werden, nicht folgenlos bleiben. Es
geht nicht darum, dass wir diesen Antrag unverändert
beschließen, sondern darum, dass wir uns um die Bürger- und Menschenrechte auch dieser Bürgerinnen und
Bürger der Europäischen Union kümmern und ihnen helfen, diese Rechte wahrzunehmen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin dem Präsidium des Deutschen Bundestages
ausdrücklich dankbar, dass am 27. Januar dieses Jahres
Zoni Weisz die Rede zur Erinnerung an die Befreiung
der Insassen der KZ gehalten hat. Es war eine eindringliche und anrührende Rede, die unter die Haut gegangen
ist. Er hat nicht nur erinnert, sondern gemahnt. Er hat
uns gemahnt, dass es auch heute noch schwierige Situationen für die Sinti und Roma in Europa gibt.
Ja, es ist richtig, dass die Situation der Roma immer
noch nicht in allen europäischen Ländern befriedigend
ist. Sie ist außerordentlich problematisch und zum Teil
prekär. Die Achtung und der Schutz von Minderheiten
zählen zu den Kopenhagener Kriterien, die alle Staaten
erfüllen müssten, bevor sie der Europäischen Union beitreten können. Aber wie in einigen anderen Bereichen
auch ist man in den jüngsten Beitrittsverfahren in der
Frage der Roma sehr leichtfertig über gravierende Defizite, die es bis zum heutigen Tage gibt, hinweggegangen.
So müssen wir leider bis heute feststellen, dass es in Europa in einzelnen Ländern nach wie vor nicht nur eine banale Diskriminierung und Benachteiligung dieser Volksgruppe gibt. Hier ist in erster Linie die Europäische
Union gefragt. Ich bin Ungarn ausdrücklich dafür dankbar, dass es in seiner Ratspräsidentschaft das Schicksal
und die Situation der Roma dieses Jahr zu einem zentralen Thema gemacht hat, und das vor dem Hintergrund,
dass es in Ungarn selbst problematische Situationen gibt.
Hier in Deutschland gibt es weder eine staatliche Diskriminierung noch eine Ausgrenzung dieser Volksgruppe aus dem Schul- oder Gesundheitsbereich. Aber
es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur freundschaftliche Gefühle für diese Menschen; das ist jedem in diesem
Hause vermutlich klar.
Wichtig ist - darauf müssen wir immer wieder hinweisen -, dass die rechtmäßig in Deutschland lebenden
Sinti und Roma alle Möglichkeiten der Teilhabe haben.
({0})
Aber diese Möglichkeiten werden leider nicht ausreichend genutzt. Nicht ohne Grund hat der Deutsche Bundestag 2007 festgestellt - die Kollegin Graf wird sich an
den von der Großen Koalition eingebrachten Antrag erinnern -, dass bei den Bemühungen, die soziale Situation
von Roma zu verbessern, auch die Hürden in der RomaGesellschaft überwunden werden müssen. In vielen Familien, so haben wir festgestellt, bestehen Vorbehalte
hinsichtlich eines Schulbesuchs der Kinder. Bildung
wird dort nicht als Chance verstanden, obwohl sie eines
der wichtigsten Instrumente darstellt, dem Teufelskreis
aus Armut und Arbeitslosigkeit zu entkommen.
({1})
- Das hat der Deutsche Bundestag beschlossen. Das ist
der Text des Beschlusses. - Mitunter werden Kinder von
ihren Eltern von der Schule genommen, um zum Unterhalt der Familie beizutragen oder bereits in jungem Alter
verheiratet zu werden. Jungen und Mädchen werden innerhalb der Roma-Gesellschaft oft ungleich behandelt,
sodass der Anteil der Roma-Frauen ohne Schulbildung
jenen der Männer übersteigt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das sind
Dinge, die den Kindern aus solchen Familien den Weg in
eine gute Zukunft versperren. Wir müssen in Gesprächen
mit den Repräsentanten der Roma für diese Probleme
sensibilisieren und deutlich machen: Ihr müsst eure Kinder in die Schule schicken. Ihr dürft eure Frauen nicht
verprügeln. Ihr dürft die Mädchen nicht zwangsverheiraten. - Diese Dinge versperren den Menschen den Weg in
das Miteinander in unserer Gesellschaft.
({2})
Deshalb haben wir seinerzeit die Bundesregierung aufgefordert, in Gesprächen mit Vertretern der Roma in
Deutschland und in anderen europäischen Ländern daErika Steinbach
rauf hinzuwirken, dass sie sich innerhalb ihrer Gemeinschaft dafür engagieren, diese Defizite zu beheben. Seitens der Bundesregierung gibt es viel Unterstützung für
diese Volksgruppe. Die Bundesregierung unterstützt den
Zentralrat der Sinti und Roma, und es gibt inzwischen
- was ich sehr begrüße - eine Gedenkstätte, die daran erinnert, was den Sinti und Roma im Dritten Reich widerfahren ist. Wir sollten aus unserer deutschen Warte heraus in Gesprächen mit Vertretern dieser Volksgruppen
sehr deutlich machen, dass wir ihr Schicksal kennen und
an ihrer Seite stehen. Wir müssen sie aber auch animieren, Teil unserer Gesellschaft zu werden.
Herr Weisz ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es
einem Roma gelingen kann, nicht nur Teil der Gesellschaft zu werden, sondern auch eine herausgehobene
Position zu erringen und ein höchst respektables Amt zu
bekleiden. Er hat uns mit seiner Rede bewegt und auf
das Schicksal der Roma aufmerksam gemacht.
({3})
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass wir noch eine
ganze Menge gemeinsamer Arbeit vor uns haben.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
wenigen Tagen hat das Europäische Parlament eine Resolution zur Lage der Roma verabschiedet, und heute
sprechen wir im Bundestag über einen Antrag der Grünen zur Umsetzung der Gleichstellung der Roma in Europa. Ich denke, das ist eine Konsequenz aus dem, was
uns Zoni Weisz im Januar mitgegeben hat.
Der Antrag der Grünen nimmt Bezug auf seine Rede
- diese habe ich als erschütternd und zutiefst berührend
in Erinnerung - zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Zoni Weisz hat vor uns allen nicht nur
seine schrecklichen Erlebnisse als Kind während des Nationalsozialismus geschildert - ich kann mich gut daran
erinnern, wie er geschildert hat, dass er seine Angehörigen im Zug hat wegfahren sehen und sie nie wiedergesehen hat -, sondern er ist auch auf die heutige Lebenssituation vieler Sinti und Roma in Europa, insbesondere
in den osteuropäischen Ländern, eingegangen. Er hat
diese Situation als menschenunwürdig beschrieben. Sinti
und Roma werden ausgegrenzt, systematisch schlechtergestellt, leben oft in Gettos und werden bei Gelegenheit
schnell des Landes verwiesen.
Ich selbst war einige Male in osteuropäischen Ländern und habe dort auch Roma-Siedlungen besucht. Ich
habe vorgefunden: Es gibt keine Stromversorgung und
nur eine schlechte Trinkwasserversorgung. Die Abwasserentsorgung ist teilweise ebenfalls sehr schlecht. Die
Sinti und Roma, mit denen ich gesprochen habe, haben
zudem über behördliche Willkür geklagt. Die Gesundheitsversorgung ist miserabel. Frauen und Kinder werden Opfer von Menschenhandel. Das ist in menschenrechtlicher Hinsicht eine unmögliche Situation. Daher
kann ich die Mahnung von Zoni Weisz nur unterstützen:
Verschließen wir nicht die Augen vor der oft menschenunwürdigen Lebenssituation vieler Roma in Europa!
({0})
Es ist nicht das erste Mal - Frau Steinbach hat das angesprochen -, dass wir dieses Thema aufnehmen. Der
Antrag der ehemaligen Großen Koalition ist uns allen
vielleicht noch in Erinnerung. Roma, Sinti, Gitanos und
Manouches bilden zusammen die größte ethnische Minderheit Europas. Sie werden - das muss man ganz klar
ansprechen - nicht nur in Osteuropa diskriminiert, sondern zum Beispiel auch in Deutschland, wo neben den
70 000 Sinti und Roma mit deutschem Pass viele aus
Osteuropa leben. Das Leben für diese Bevölkerungsgruppe ist oft nicht einfach; denn auch bei uns sind Vorurteile prävalent. Frau Steinbach und Herr Tören, ich
möchte keine Schärfe in die Debatte bringen, aber manches, was Sie vorgetragen haben, war doch sehr pauschal.
({1})
Nicht jeder Roma wendet Gewalt in der Familie an.
Auch Bildungsferne kann man nicht generell der ganzen
Volksgruppe zur Last legen.
({2})
Sinti und Roma werden leider häufig Opfer von rassistisch motivierter Gewalt. In Deutschland besuchen
Sinti- und Roma-Kinder trotz Normalbegabung überproportional häufig Förderschulen. Sinti und Roma sind
auch kaum in politischen Vertretungen und Institutionen
vertreten.
Ich finde es gut, dass sich die ungarische Ratspräsidentschaft trotz der Aktionen der Rechtsextremisten in
Ungarn dieses Themas annimmt und versucht, eine soziale Integration der Roma in Europa zu befördern. Das
Europäische Parlament hat eine Entschließung verabschiedet, in der auf die wachsende Stigmatisierung sowie den aufkommenden Antiziganismus im politischen
Diskurs und in der breiten Öffentlichkeit hingewiesen
wird. Zudem wird in dieser Entschließung die Rückführung von Roma in mehreren Mitgliedstaaten als „fragwürdig“ bezeichnet.
Seit 2008 schieben Frankreich und Italien Roma massiv in den Kosovo ab. Mit dem deutsch-kosovarischen
Rücknahmeabkommen vom April 2010 ist auch bei uns
faktisch der Weg frei für die Abschiebung von circa
11 700 Roma.
({3})
Nach einer UNICEF-Studie sind - das wurde vom Kollegen Winkler schon angesprochen - die Hälfte davon
Angelika Graf ({4})
Minderjährige, von denen zwei Drittel in Deutschland
geboren wurden, die hier sozialisiert sind und Deutschland als ihre Heimat sehen. Die Studie fand heraus, dass
drei von vier abgeschobenen Kindern in dem Land, in
das sie verbracht werden, nicht mehr in die Schule gehen, weil die Familien dort zu arm und ohne Beschäftigung sind, Sprachbarrieren haben - wenn sie hier bei uns
aufgewachsen sind, können sie die Sprache des Landes
nicht, in das sie verbracht werden - oder ihnen Papiere
fehlen. Deshalb ist es richtig, dass SPD-geführte Bundesländer besonders sensibel mit den Rückführungen
umgehen und umfassende individuelle Einzelfallprüfungen durchführen. Nordrhein-Westfalen führt beispielsweise keine Kinder, ältere oder pflegebedürftige Menschen zurück.
Ich darf Sie daran erinnern, dass unser ehemaliger
CDU-Kollege Professor Dr. Christian Schwarz-Schilling,
der ehemalige Hohe Repräsentant der internationalen
Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina und hochgeschätzte Menschenrechtsverteidiger, mit Blick auf die
Situation der Kinder die Abschiebung der Roma verurteilt und sie als historisch verantwortungslos bezeichnet.
Ich denke, wir sollten die Mahnungen von Zoni Weisz
aufnehmen und mit und für Sinti und Roma europaweit
Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben entwickeln. Deswegen habe ich mich sehr über Ihren Beitrag
gefreut, Herr Kollege Heinrich. Ich habe die Hoffnung,
dass wir aus dem, was Sie hier vorgetragen haben, wirkliche Perspektiven entwickeln, wie wir in diesem Haus
zu einer Lösung dieses Problems kommen. Ich würde es
sehr begrüßen.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Michael Frieser von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Als Nürnberger Abgeordneter ist man mit
den Themen Alltagsdiskriminierung und Intoleranz historisch auf besondere Art und Weise verknüpft. Das gilt
ganz besonders für die Diskriminierung von Sinti und
Roma. Der Verweis auf die schändlichen Nürnberger
Rassegesetze darf hier nicht fehlen. Sie wissen, dass von
diesem unsäglichen Blutschutzgesetz von 1936 auch
Sinti und Roma betroffen waren. Am ehemaligen Standort des Nürnberger Industrie- und Kulturvereins erinnert
heute ein Gedenkstein daran. Wir müssen uns immer
wieder dieses Unrechts bewusst werden, damit wir für
die Zukunft daraus Lehren ziehen können. Ich bin stolz,
dass es zur Gründung des Landesverbandes Bayern der
Deutschen Sinti und Roma in Nürnberg kam. Ich honoriere vor allem den Beitrag, den Sinti und Roma zur Gedenkstättenarbeit in Nürnberg leisten.
({0})
Wir tun uns dennoch mit dem vorliegenden Antrag - es
ist bereits erwähnt worden, dass die CDU/CSU und die
FDP einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema vorlegen werden - etwas zu leicht. Der Antiziganismus - ich
verweise noch einmal auf die Nürnberger Geschichte ist ein Thema, mit dem wir uns inhaltlich auseinandersetzen müssen. Er hat offenbar in Europa Wurzeln, die
nur ganz schwer auszureißen sind. Da gilt es nach unserer Auffassung anzusetzen. Es gibt nach wie vor eine
Vielzahl von Klischees und sehr viel Unwissenheit über
die Lebensweise der Sinti und Roma. Die Klischees und
Vorurteile werden gerne kultiviert und führen wie alle
Vorurteile und Klischees zu sozialer Ausgrenzung. Deshalb ist es notwendig, dass wir uns mit diesem Thema
beschäftigen. Wir werden das mittels eines Antrags tun.
Ich will aber deutlich sagen, warum wir dem Antrag
des Bündnisses 90/Die Grünen heute nicht zustimmen
können. Er suggeriert, es gebe gezielte Abschiebungen
in das Kosovo. Frau Kollegin Graf, wer das Rückführungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit
den Abschiebungen von Frankreich gleichstellt, neigt
schon sehr zu Pauschalisierungen, um es vorsichtig auszudrücken.
({1})
Sie tun Ihrem Anliegen damit keinen Gefallen.
Worum geht es? Es geht darum, dass in erster Linie
die manchmal wirklich bedauerlichen wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse des Heimatlandes nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass wir es mit zwei verschiedenen Problemen zu tun haben. Das eine ist die soziale Situation der Sinti und Roma hier in Deutschland
und in Europa, wo sie als Flüchtlinge Zuflucht gefunden
haben; das andere ist das Asylrecht. In ihrem Antrag versuchen die Grünen - es tut mir leid, wenn ich das sagen
muss -, gewollt oder ungewollt, beides über einen
Kamm zu scheren.
({2})
Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass das deutsche
Asylrecht auch in dieser Frage anzuwenden ist. Wir
müssen letztendlich darauf Rücksicht nehmen, dass die
völkerrechtliche Praxis, was die Anwendung des Asylrechts und die Anerkennung des Flüchtlingsstatus anbetrifft, zu wahren ist.
Herr Kollege Frieser, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Gern. Wenn ich den Gedanken noch schnell zu Ende
bringen darf, stehe ich für die Beantwortung einer Zwischenfrage selbstverständlich zur Verfügung.
Ich will noch einmal darauf abzielen, dass es einen
deutlichen Unterschied gibt. Auf der einen Seite steht
der ehrenwerte Ansatz: Wir müssen sozialer Benachteiligung, Ausgrenzung überall dort begegnen bzw. sie verhindern und abstellen, wo wir sie antreffen. Aber auf der
anderen Seite müssen wir auch das, was wir an asylrechtlichen Grundlagen und an rechtmäßigen, legalen
Formen der Rückführung haben, beachten.
Herr Kollege, bitte schön.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Danke, Herr Kollege. - Geben Sie mir recht darin,
dass die Sinti und Roma, die sich derzeit in Deutschland
aufhalten und jetzt von der Abschiebung oder Rückführung bedroht sind, aus ihrem Heimatland, nämlich dem
Kosovo, nicht aus ökonomischen Gründen weggegangen
sind, sondern deshalb, weil man sie nach der Befreiung
des Kosovo dort systematisch verfolgt hat, weil man ihre
Häuser angesteckt hat und weil sie um ihr Leben fürchten mussten? Bei mir hier im Deutschen Bundestag sind
danach mehrere Delegationen angekommen, die diese
Leute vertreten haben bzw. selber aus dem Kosovo kamen und mir im Einzelnen berichtet haben, welcher
scheußlichen Verfolgung sie im Kosovo ausgesetzt waren, weswegen sie dann in die Nachbarländer gegangen
sind, aber auch nach Deutschland, insbesondere übrigens
nach Bayern; gerade in der Nähe von München sind sie
heute ansässig. Wenn man diese Leute jetzt gegen ihren
Willen mit Gewalt wieder dahin zurückbringt, müssen
sie berechtigterweise befürchten, dass die Verfolgung,
derentwegen sie dort weggegangen sind, sie erneut trifft.
({0})
Herr Kollege Ströbele, die Antwort auf diese Frage
soll zeigen, dass es um zwei unterschiedliche Problembereiche geht. Das eine ist die durchaus nachvollziehbare Situation, was den Aufenthalt anbetrifft. Das andere
ist die Frage der Rückführung. Ich gebe Ihnen in diesem
Punkt natürlich recht: Viele von ihnen sind nicht freiwillig von dort weggegangen; das steckt ja in dem Begriff
der Vertreibung. Für uns ergibt sich nach den asylrechtlichen Grundsätzen und der völkerrechtlichen Praxis eine
entscheidende Frage: Ist durch die geänderte Situation in
der Heimat eine Rückkehr möglich?
Am Schluss dieser Rede darf ich mir erlauben, noch
einen Gedanken vorzutragen. Gerade dieser Punkt macht
mich etwas ratlos: Vollenden wir damit nicht sogar das,
was einmal verbrecherisch begann? Menschen werden
aus ihrer Heimat vertrieben, müssen an einen Ort, an den
sie vielleicht nicht wollten. Die entscheidende Frage ist
- so verstehe ich die völkerrechtliche Praxis -, dass wir
alles tun müssen, um ihnen die Rückkehr wieder zu ermöglichen. Also ist doch unsere Unterstützung in erster
Linie dort gefragt. Das ist, glaube ich, der Punkt. Wir
dürfen das, was einmal durch Unrecht eingetreten ist,
nicht sozusagen historisch auch noch legitimieren. Deshalb sind es zwei verschiedene Dinge. Das eine ist, hier
alles zu tun, um eine soziale Teilhabe zu ermöglichen;
das andere ist, dort, wo es rechtlich zulässig und notwendig ist, Menschen wieder in eine Situation zurückzuführen, die ihnen angestammt ist und aus der sie eigentlich
kommen. So verstehe ich den politischen Auftrag.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5191 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von
Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung
- Drucksache 17/4804 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann,
Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strikten Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung
- Drucksache 17/3752 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/5238 Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Krellmann
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
dagegen Widerspruch? - Das scheint nicht der Fall zu
sein. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zahlen stimmen. Wir haben ein glänzendes Wachstum von
3,6 Prozent. Wir haben 41 Millionen Menschen in Ar11366
beit; das ist ein Rekordwert. Wir sind zuversichtlich,
dass die Arbeitslosigkeit 2011 im Jahresschnitt unter der
3-Millionen-Grenze sein wird.
Ja, die Zahlen stimmen. Dennoch glauben viele Menschen in unserem Land, dass etwas nicht stimmt. Unter
dem Druck des globalen Wettbewerbs drohen unfaire
Arbeitsbedingungen am unteren Rand des Arbeitsmarktes Fuß zu fassen. Es sind insbesondere Vorfälle aus dem
Bereich der Zeitarbeit gewesen, die den Menschen diesen Eindruck vermittelt haben. Einige haben Schlupflöcher ausgenutzt, um die Stammbelegschaft systematisch
schlechterzustellen. Das ist weder der Sinn von Zeitarbeit noch die Intention des Gesetzes. Wer seiner Belegschaft kündigt, um sie für die gleiche Arbeit zu schlechteren Löhnen als Zeitarbeiter wieder einzustellen, der
kündigt den fairen Umgang miteinander auf.
({0})
Das wollen wir nicht tolerieren. Deshalb schließen wir
mit diesem Gesetz die Gesetzeslücke.
Wir wissen, dass wir die Zeitarbeit brauchen. Zeitarbeit kann für Geringqualifizierte eine wichtige Alternative zur Arbeitslosigkeit sein. Wir wissen, dass zwei
Drittel der Menschen, die bei einer Zeitarbeitsfirma anfangen, vorher nicht beschäftigt waren. Jeder Dritte hat
keinen Berufsabschluss. Sie haben als Zeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer volle Arbeitnehmerrechte:
Kündigungsschutz, Urlaubsanspruch, und sie sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auf der anderen
Seite gibt die Zeitarbeit Unternehmen die Möglichkeit,
ihren Personalbedarf flexibel zu decken. Sie gibt ihnen
Beweglichkeit für Auftragsspitzen oder besondere Projekte. Wir sind uns deshalb einig, dass wir aus diesen
Gründen die Zeitarbeit brauchen. Das ist auch einer der
Gründe, warum vor gut acht Jahren SPD und Grüne die
Zeitarbeit flexibilisiert haben. Wir sind nach wie vor der
Überzeugung, dass der Grundgedanke richtig ist, dadurch Menschen in Arbeit zu bringen, weil Arbeit immer
besser als Arbeitslosigkeit ist.
({1})
Meine Damen und Herren, wir stehen heute eher vor
einer anderen Herausforderung. Es geht einerseits darum, die Flexibilität zu erhalten, und andererseits darum,
die Fairness in der Zeitarbeit zu sichern. Hierzu trägt
auch die europäische Leiharbeitsrichtlinie bei, die wir
vollständig, eins zu eins, umsetzen. Am 1. Mai werden
wir unseren Arbeitsmarkt vollständig öffnen, auch für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den acht
neuen EU-Mitgliedstaaten. Sie sind willkommen auf unserem Arbeitsmarkt. Was wir aber nicht wollen, ist, den
Arbeitsmarkt für ausländische Billiglöhne öffnen. Deshalb habe ich mich immer klar für eine Lohnuntergrenze
in der Leiharbeit ausgesprochen.
({2})
Wir ziehen jetzt in der Leih- und Zeitarbeit eine gesetzliche Lohnuntergrenze ein, die auf Vorschlag der Tarifpartner durch Rechtsverordnung festgelegt wird.
({3})
Es wird eine Lohnuntergrenze für die Verleihzeit und
für die verleihfreie Zeit geben. Sie wird für Inländer und
für Ausländer gelten. Ferner haben wir uns darauf verständigt, dass der Zoll die Einhaltung der Lohnuntergrenze kontrolliert. Hier wird der gleiche Mechanismus
wie bei der Kontrolle der Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz greifen. Das geht aber nur
mit einer sorgfältigen Abgrenzung der Prüfzuständigkeiten und der Kontrollbefugnisse der Bundesagentur für
Arbeit einerseits und der Zollbehörden andererseits. Wir
brauchen dazu die erforderliche Zeit.
Sie alle wissen, meine Damen und Herren, dass die
entsprechenden Regelungen in Vorbereitung sind und
dass sie rechtzeitig eine Kontrolle der künftigen Lohnuntergrenze gewährleisten.
Abschließend möchte ich noch etwas zum Thema
Equal Pay sagen. Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen für die gleiche Leistung in demselben Betrieb dauerhaft ungleich bezahlt werden.
({4})
Im Gesetz steht: Es gilt Equal Pay,
({5})
gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Leiharbeitern und
Stammbelegschaft, es sei denn, die Tarifparteien einigen
sich auf eine abweichende Lösung. Ich weiß sehr wohl,
dass es einen unseligen Tarifparteienwettbewerb nach unten gegeben hat. Das war übel. Das hat dem Ansehen der
Zeitarbeit richtig geschadet.
({6})
Ein Gerichtsurteil hat hier jetzt eine Zäsur gesetzt; das ist
richtig. Für uns bleibt es aber unstreitig, dass die Tarifautonomie erst einmal Vorrang hat.
({7})
Erst wenn sie versagt, muss der Staat eingreifen.
({8})
Deshalb erwarten wir jetzt, dass die Sozialpartner ihre
Freiräume nutzen und sich mit Augenmaß auf eine Annäherung an Equal Pay verständigen.
({9})
Wenn die Tarifparteien innerhalb eines Jahres keine
Tariflösung finden, dann
({10})
werden wir eine Kommission einsetzen,
({11})
die an ihrer statt die Regeln für Equal Pay auslotet und
dem Gesetzgeber einen Vorschlag unterbreiten muss.
({12})
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass die Tarifautonomie ein schützenswertes
Instrument ist. Es ist aber eben auch unsere gemeinsame
Aufgabe, sicherzustellen, dass der Sozialstaat wirkt. Das
gelingt meines Erachtens am besten in einem breiten
Konsens und nicht im Streit. Heute gehen wir einen ersten und wichtigen Schritt in diese Richtung.
Danke.
({13})
Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundesministerin, diese Beratung bietet vielleicht
die Gelegenheit, einmal grundsätzlich darüber zu reden,
was der eigentliche Sinn und Zweck von Arbeitnehmerüberlassung, also von Zeit- und Leiharbeit, überhaupt
ist.
({0})
Schon hier gibt es einen Widerspruch zu dem, was Sie,
Frau Ministerin, eben gesagt haben. Wir sind nicht der
Meinung, dass das, was wünschenswert wäre und was
Sie hier in leuchtenden Farben beschrieben haben, tatsächlich eingetreten ist. Die Daten geben nämlich nicht
her, dass Zeit- und Leiharbeit im Wesentlichen eine Art
arbeitsmarktpolitisches Instrument ist, um Menschen in
Arbeit zu führen. Nach Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist ein sogenannter Klebeeffekt, also die Tatsache, dass Menschen über Zeit- und
Leiharbeit tatsächlich in feste Beschäftigung bzw. ordentliche Arbeit kommen, nur in 7 Prozent der Fälle festzustellen.
Gleichwohl kann man aus wirtschaftspolitischer Sicht
argumentieren, dass Zeit- und Leiharbeit als Flexibilitätsinstrument sinnvoll für die Abdeckung von Auftragsspitzen von Unternehmen sein kann. In diesem Sinne
sind die Gewerkschaften und auch wir Sozialdemokraten
nicht der Meinung, dass man Zeit- und Leiharbeit verbieten sollte. Als Instrument zur Abdeckung von Auftragsspitzen der Unternehmen ist sie akzeptabel. Frau
Ministerin, es darf aber nicht sein, dass Zeit- und Leiharbeit in Deutschland weiter als Instrument des Lohndumpings und damit zum Lohndrücken missbraucht wird.
Das ist aber leider Realität in diesem Lande.
({1})
Sie hatten wenig Redezeit, ich habe auch wenig Redezeit, aber die Höflichkeit hätte es geboten, Frau Ministerin, dass Sie, als Sie eben über die Einführung eines
Mindestlohnes in Form einer absoluten Lohnuntergrenze
gesprochen haben, gesagt hätten, dass diese Regelung,
die von Ihnen ursprünglich nicht im Gesetz vorgesehen
war, aber durch die Annahme der Beschlussempfehlungen des Ausschusses quasi dem Gesetzeswerk als Omnibus aufgesetzt wird, Ihnen in zähen Verhandlungen in
der Nacht vor allen Dingen gegen den Widerstand der
FDP abgerungen werden musste.
({2})
Wir Sozialdemokraten haben also in diesen Verhandlungen dafür gesorgt, dass vor Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai 2011 zumindest ein Mindestlohn als gesetzliche Lohnuntergrenze eingeführt wird.
Wir haben dafür gesorgt, nicht Sie - mit Copyright, Frau
Dr. von der Leyen, sollten Sie sich an dieser Stelle auskennen -; das zu erwähnen, wäre ein Akt der Höflichkeit
gewesen.
Gleichwohl kann ich nicht feststellen, dass dieser Gesetzentwurf zureichend ist, um das zu erreichen, was offensichtlich beabsichtigt ist, nämlich den Missbrauch
von Zeit- und Leiharbeit zu bekämpfen.
({3})
- Entschuldigen Sie, Herr Kollege. Ich weiß nicht, ob
Sie sich mit diesem Thema irgendwann einmal beschäftigt haben oder hier nur rumkrakeelen wollen. Die Wahrheit ist: Zeit- und Leiharbeit wird in diesem Land massiv
missbraucht.
({4})
Frau von der Leyen, an einem der Abende, an denen
wir keine Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses
hatten, hatte ich noch den Nachtrhythmus drauf und
konnte nicht richtig schlafen, weil wir sonst immer miteinander verhandelt haben. In dieser Nacht hatte ich die
Gelegenheit, einmal das Nachtmagazin der ARD zu sehen. Dort wurde die Situation sehr gut beschrieben. Es
gab ein Interview mit zwei Beschäftigten: der eine
Stammbelegschaftskollege, der andere Leiharbeitnehmer;
beide in einem Hamburger Unternehmen tätig; beide die
gleiche Qualifikation; beide die gleiche Tätigkeit. Der
eine Unterschied war, dass der Kollege Leiharbeiter weniger Urlaub hat als der Stammbelegschaftsbeschäftigte.
Der wesentliche Unterschied war, dass er trotz gleicher
Tätigkeit 900 Euro weniger bekommt. Das nehmen Menschen als entwürdigend wahr, wenn sie es zu erleben haben.
Aber auch der Stammbelegschaftskollege war nicht
glücklich über die Situation, weil er trotz Ihres PlaceboGesetzes nach wie vor damit rechnen muss, dass er zukünftig durch jemanden ersetzt wird, der schlechter bezahlt wird. Genau an dieser Stelle versagt Ihr Gesetz.
({5})
Hubertus Heil ({6})
Ihr wohlfeiler Hinweis auf eine Tarifautonomie, die in
diesem Bereich eben nicht mehr funktioniert, ist eine
Ablenkung davon. Zu Recht zitieren Sie, dass das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz bis dato im Prinzip den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kennt. Sie
verschweigen aber, dass das nicht die Regel ist, Frau
Ministerin. Sie verschweigen das. Und Sie wissen ganz
genau - da können Sie sich auch nicht herausstehlen -,
dass wir dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit nicht
effektiv begegnen können, wenn wir nicht den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ als Gesetzgeber
im Gesetz scharfschalten.
Ich nehme es als ein Stück Heuchelei wahr, wenn die
für Arbeit und Sozialordnung zuständige Ministerin ankündigt - ich darf das zitieren, was Sie eben gesagt haben -: Wir schauen uns ein Jahr lang noch einmal an, ob
sich etwas bewegt, und drohen damit, nach einem Jahr
eine Kommission einzusetzen. - Was für eine Ankündigung! Diejenigen, die Zeit- und Leiharbeit missbrauchen, zittern wirklich davor, dass Sie eine Kommission
einsetzen.
Frau Ministerin, die Wahrheit ist: Wir hätten längst in
den Verhandlungen - ich glaube, sogar mit Ihnen - eine
bessere Lösung erzielt, was den Grundsatz „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ betrifft, wenn Sie nicht in Geiselhaft eines Koalitionspartners namens FDP wären, der
nicht einmal nach neun Monaten gleichen Lohn für gleiche Arbeit wollte, sondern sich dafür eingesetzt hat, dass
selbst nach neun Monaten dauerhaft nur der Grundlohn
gleich ist, nicht aber die Zuschläge. Sie, die FDP und die
CDU/CSU, verhindern den Kampf gegen den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit.
({7})
Deshalb, meine Damen und Herren, kann ich nur sagen: Dieses Gesetz beinhaltet zwar einen großen Fortschritt, was die Lohnuntergrenze betrifft. Deshalb werden wir dem Antrag ganz folgerichtig zustimmen. Wir
haben das zusammen mit den Grünen in den Verhandlungen durchgesetzt. Ich halte dies für eine gute Nachricht. Das ist überfällig. Es ist notwendig, dass wir vor
dem 1. Mai zumindest zu einem Mindestlohn in dieser
Branche kommen. Zureichend ist es aber nicht.
Wenn man dem Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit
effektiv begegnen will, sind einige weitere Dinge notwendig, Frau Ministerin. Das können Sie unserem Entschließungsantrag entnehmen. Wir wollen die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte ausweiten, was den
Einsatz von Zeit- und Leiharbeit betrifft. Warum verweigern Sie das eigentlich? Wir wollen gleiche Teilhabe der
Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer beim
Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen, beispielsweise
Kinderbetreuung, Gemeinschaftsverpflegung und Beförderungsmitteln. Wir wollen die konzerninterne Verleihe
an dieser Stelle einschränken. Das halte ich für dringend
notwendig. Wir wollen vor allen Dingen, dass es keine
Verträge von Fall zu Fall gibt - Stichwort: Synchronisationsverbot.
({8})
Wir wollen auch eine zeitliche Befristung auf ein Jahr,
was den Einsatz von Zeit- und Leiharbeitern betrifft.
Das Wichtigste ist aber - und das ist der Geist der
EU-Richtlinie zur Leiharbeit, die bis zum 5. Dezember
dieses Jahres umzusetzen ist -, dass wir uneingeschränkt
den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
durchsetzen wollen. Mindestlohn ist das eine. Wir sind
stolz darauf, dass wir Ihnen das abringen konnten.
({9})
Das reicht aber nicht, weil „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ das ist, was die Menschen brauchen.
Herr Heil.
Ich sage Ihnen: Wer den Menschen das verweigert,
der hat keine Ahnung von der Lebensrealität dieser Menschen. Es ist unwürdig, was Sie hier abziehen. Deshalb
werden wir diesem Gesetzentwurf so nicht zustimmen
können.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Heil, ich schätze Sie eigentlich sehr; aber
ich finde das, was Sie hier tun, nicht konsequent. Wenn
Sie mit uns der Meinung sind, dass wir hier - insbesondere was den Antrag anbelangt - in die richtige Richtung
gehen, dann sollten Sie auch die Größe aufbringen, diesen Schritt am Ende komplett mitzugehen, das heißt,
dem Gesetz insgesamt zuzustimmen.
({0})
Das fände ich richtig. Schade, dass Sie das verweigern
wollen.
({1})
So viel zum Thema „Konsens und gemeinsames Bemühen“.
Ich will für uns, die FDP, erstens festhalten: Die Zeitarbeit ist für uns ein wichtiges Instrument zur Gewährleistung von Flexibilität am Arbeitsmarkt. Wir wollen
Zeitarbeit erhalten und auch künftig am deutschen Arbeitsmarkt gangbar machen.
({2})
Wir haben aber immer gesagt: Wir wollen keinen Missbrauch der Zeitarbeit. Wir treten Tendenzen, Stammbelegschaften durch Zeitarbeiter zu ersetzen, deutlich entgegen. Deswegen haben Kollege Schiewerling und ich
sehr frühzeitig, zu Beginn letzten Jahres, gesagt: Wir
werden mit einer Drehtürklausel genau dies verhindern,
nämlich dass Belegschaften entlassen und über Zeitarbeitsunternehmen zurückgeholt werden. Wir sind auch
der Meinung: Zeitarbeit darf kein Mittel zur Lohndifferenzierung nach unten sein; auch das wollen wir definitiv nicht.
({3})
Deswegen sind wir in den Verhandlungen konkrete
Schritte gegangen. Herr Kollege Heil, die Verhandlungen waren nicht einfach - das will ich festhalten -; aber
wir sollten hier keine Legendenbildung betreiben. Wir
haben gemeinsam eine Lohnuntergrenze verabredet, die
am Ende auf Ihren Wunsch hin - das will ich hier bestätigen - als absolute Lohnuntergrenze ausgestaltet wurde.
Wir sind diesen Schritt auch deswegen mitgegangen,
weil sich durch die Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit
- Sie können es auch Mindestlohn nennen - in Deutschland de facto nichts ändern wird; denn die Tarifautonomie funktioniert in diesem Bereich. Es ist der Bereich
mit der mit Abstand höchsten Tarifbindung: 98 Prozent
der Arbeitsverhältnisse sind tarifgebunden, entweder direkt durch Tarifmitgliedschaft oder durch Bezugnahme
auf Tarifverträge. Es wird sich für die deutschen Zeitarbeitsunternehmen und die bei ihnen angestellten deutschen Zeitarbeiter de facto nichts ändern. Aber es gibt
einen Schutz gegen die erwarteten und - vor allen Dingen von Ihnen - befürchteten Verwerfungen am Arbeitsmarkt aufgrund der Freizügigkeit ab dem 1. Mai; diesen
Schritt gehen wir mit.
Zweitens. Die FDP-Fraktion hat sehr früh auf das
Thema Equal Pay hingewiesen.
({4})
Wenn Sie sich erinnern: Im Sommer letzten Jahres - da
waren Sie noch sehr mit der Diskussion über Mindestlohn und Freizügigkeit beschäftigt ({5})
haben wir gesagt, dass die Durchsetzung von Equal Pay
eigentlich kein Problem ist. Man muss sagen - Herr
Heil, ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen -: Bei
den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss und in der
Arbeitsgruppe hat nicht die SPD Angebote gemacht,
sondern die Koalition. Wenn Sie sich erinnern, von wem
jeweils die Angebote vorgetragen wurden, werden Sie
das bestätigen müssen.
({6})
Wir wollten das Thema angehen - das haben wir gesagt -; aber dabei wollten wir eine Auffanglinie schaffen, damit die Tarifpartner im Vorfeld tätig werden.
Nach langen Verhandlungen mussten wir am Ende feststellen: „We agree to disagree.“ Wir sind nicht auf einen
Nenner gekommen. Jetzt machen wir genau das, was wir
anfangs vorhatten: Wir fordern die Tarifpartner auf, im
Vorfeld tätig zu werden und ausdifferenziert - Branche
für Branche, entsprechend den jeweiligen Bedingungen aufzuzeigen, was hier Equal Pay bedeutet und welche
Frist angemessen ist. Wir wollen - da stehen wir weiterhin bereit - eine Auffanglinie schaffen und sagen: Am
Ende, nach einer bestimmten Frist, muss immer klar
sein, dass Equal Pay gezahlt wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ich gestatte sie. Sie kommt gerade noch rechtzeitig
in der Redezeit. Danke, Herr Heil.
({0})
Herr Heil, bitte schön.
Ich mache das gerne. Das ist eine Art Wiedergutmachung: Ihr Kollege Otto hat mir vorhin in der Energiedebatte zu etwas mehr Redezeit verholfen.
Herr Kolb, ich habe in diesem Zusammenhang zwei
ernsthafte Fragen, verbunden mit der Bitte um präzise
Antworten.
({0})
Es geht mir um Klarstellungen zu den Verhandlungen,
damit da keine Legendenbildung stattfindet.
Erstens. Ist es richtig, dass Sie in den Verhandlungen
erreichen wollten, dass es in den ersten neun Monaten
einer Beschäftigung keinen gesetzlich vorgeschriebenen
gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, und Sie diese Zeit
pauschal als Einarbeitungszeit definiert haben? Ist es
richtig, dass Sie erst nach neun Monaten Beschäftigungszeit den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ uneingeschränkt per Gesetz durchsetzen wollten,
wissend, dass über 50 Prozent der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer weniger als drei Monate in einem Unternehmen beschäftigt sind?
Zweitens. Ist es richtig, dass Sie unter „Equal Pay“
nicht das verstehen, was heute übrigens im Gesetz steht,
nämlich dass es sich auf wesentliche Arbeitsbedingungen inklusive Arbeitsentgelt bezieht? Stimmt es, dass
Sie den Gesetzentwurf einfach umdrehen wollten und
auch nach neun Monaten Beschäftigungszeit kein Equal
Hubertus Heil ({1})
Pay in dem Sinne zulassen wollten, wie es jetzt im Gesetz steht, sondern nur bezogen auf den Grundlohn, dass
Sie also die Zuschläge herausrechnen wollten?
Können Sie mir das bitte bestätigen, um zu unterstreichen, warum wir „agree to disagree“, weil wir faule Kompromisse zulasten der Arbeitnehmer nicht mitmachen
wollen?
Herr Kollege Heil, ich bedanke mich für die Frage
und die Gelegenheit, zu präzisieren.
({0})
Wir haben uns in den Verhandlungen - wenn Sie Zahlen nennen, kann ich das umgekehrt auch tun - aus sehr
unterschiedlichen Ecken aufeinander zubewegt. Es ist
richtig, dass die Koalition zunächst ein Angebot über
zwölf Monate gemacht hat. Es ist richtig - das darf ich
auch sagen -, dass Sie vom allerersten Tag an weniger
wollten und das in einer sehr forschen Art und Weise
vorgetragen haben. Es ist richtig, dass wir uns im Laufe
der Verhandlungen aufeinander zubewegt haben.
Wenn ich das recht erinnere, standen wir, bevor wir
festgestellt haben, dass wir nicht übereinkommen, bei
neun und Sie bei drei Monaten. Von den jeweiligen
Startpunkten aus betrachtet ergibt sich ungefähr eine
gleiche Entfernung. An dieser Stelle haben wir nicht
weiter verhandelt, weil man gesehen hat, dass es keinen
Sinn macht, und weil wir eine andere Wahrnehmung hatten.
Ich habe das in den Verhandlungen als „masochistischen Ansatz“ bezeichnet; denn nach Ihnen ist es nur
gut, wenn es wehtut. Wir haben gesagt: Wir wollen
schon das Signal an die Zeitarbeitsunternehmen senden:
Ihr könnt nicht ewig so weitermachen.
({1})
Aber das muss nicht dazu führen, dass Arbeitsverhältnisse bedroht werden.
Dabei sind wir nicht übereingekommen. Jetzt werden
wir erleben - da bin ich mir sicher; die Signale haben
wir jedenfalls -, dass sich die Zeitarbeitsunternehmen
und die Einsatzbranchen Gedanken machen werden
- das ist übrigens keine unverbindliche Ankündigung und wir innerhalb der nächsten zwölf Monate - ({2})
- Sie bekommen auch die zweite Frage beantwortet,
wenn der Präsident zustimmt.
Jeder kann Fragen stellen, wie er will, und jeder kann
antworten, wie er will. So ist es.
({0})
Aus meiner Sicht, Herr Kollege Heil, gehört auch das
dazu, was ich jetzt noch gesagt habe.
Was die konkrete Ausgestaltung der Frage nach Equal
Pay - dabei gibt es in der Tat eine Bandbreite - anbelangt, haben die Verhandlungen in einer Arbeitsgruppe
stattgefunden. Sie haben verwirrende Ergebnisse geliefert. Es hieß zunächst, man habe sich auch über Fragen
verständigt wie: Was heißt Equal Pay?
({0})
Dann hieß es, der Kollege Heil habe den Konsens in
dieser Unterarbeitsgruppe wieder aufgekündigt, sodass
ich mich außerstande sehe, zu bestätigen, dass wir uns
auf irgendetwas an dieser Stelle hätten verständigen können. Sie wollten das selbst nicht; das muss man auch sagen.
({1})
Sie waren da vielleicht ein Stück weit ferngesteuert.
({2})
Ich habe durchaus Verständnis für Dinge, die im Hintergrund von Verhandlungen ablaufen.
Ich kann nur sagen: Die Koalition hat sich wirklich
fair und nach Kräften bemüht, die Zeitarbeit zu modernisieren und die Fehler, die Sie bei den Hartz-Gesetzen gemacht haben - so muss ich Sie verstehen, Herr Heil -,
ein Stück weit zurückzunehmen,
({3})
aber dabei das Instrument der Zeitarbeit nicht kaputtzumachen.
({4})
In diesem Sinne werden wir uns mit Interesse anschauen, wie es weitergeht. Wir stehen dazu, dass auch
der zweite Teil, die Umsetzung der Kontrolle, noch
kommt.
({5})
Da dürfen Sie sich auf uns als Verhandlungspartner verlassen.
Wir werden auch weiterhin dafür garantieren, dass es
einen Missbrauch der Zeitarbeit in Deutschland mit uns
nicht geben wird.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde
es immer nett, wenn Sie sich streiten. Sie sollten weitermachen. Das ist interessant.
({0})
Wir nehmen heute circa einer Million Menschen das
Menschenrecht auf gleiches Geld für gleiche Arbeit. Ich
zitiere aus Art. 23 der Erklärung der Menschenrechte:
Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen
Lohn für gleiche Arbeit.
({1})
Früher war Leiharbeit dafür da, Auftragsspitzen abzufangen. Die Hartz-Gesetze von Rot-Grün haben es ermöglicht, dass die Leiharbeit inzwischen zum Billiglohnsektor geworden ist.
Die Zeche zahlen die Leiharbeiternehmer.
({2})
In meinem Wahlkreis gibt es einen Leiharbeitnehmer,
der fünf Jahre unter dem Leiharbeitstarifvertrag des
Christlichen Gewerkschaftsbundes arbeiten musste. Dieser ist jetzt ungültig. Deshalb steht ihm der gleiche Lohn
wie einem Stammbeschäftigten zu. Für ihn heißt das in
Zahlen: Er ist in fünf Jahren um 28 000 Euro betrogen
worden.
Leiharbeit ist und bleibt ein milliardenschweres Geschäft, das auf dem Rücken der Beschäftigten betrieben
wird. Wer profitiert davon? Einerseits profitieren die Firmen, die Leiharbeiter einsetzen. Sie senken ihre Lohnkosten und entledigen sich der Verantwortung für ihre
Beschäftigten. Andererseits profitiert die Leiharbeitsbranche. Allein der Marktführer Randstad konnte seinen
Umsatz von 2002 bis 2010 verdreifachen. Die Bosse bei
Randstad freuen sich mittlerweile über einen fetten Umsatz in Höhe von 1,7 Milliarden Euro im Jahr. Gleichzeitig ist für viele Leiharbeitnehmer der Monat zu lang, um
von dem Geld leben zu können.
Die schwarz-gelbe Regierung entscheidet gegen die
Mehrheit der Deutschen. Eine Umfrage der Wochenzeitung Die Zeit ergab, dass 91 Prozent der Deutschen für
Equal Pay in der Leiharbeit sind. Doch was macht die
Bundesregierung? Statt endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit einzuführen, beschließt sie einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche. Zu einem Mindestlohn
in der Leiharbeitsbranche sagt die Linke Nein. Wir brauchen keinen Mindestlohn, wir brauchen Equal Pay,
({3})
weil der Mindestlohn dazu führt, dass die Leiharbeiter
weiterhin weniger verdienen als die Stammbelegschaft.
({4})
- Da bin ich aber noch nicht. Ich bin noch bei der Arbeit.
In der Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsen
beispielsweise verdient man in der untersten Entgeltgruppe 13,77 Euro. Da der Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche im Westen 7,60 Euro beträgt, verdient ein
Leiharbeitnehmer etwa 45 Prozent weniger als ein
Stammbeschäftigter. Der Mindestlohn darf nur in der verleihfreien Zeit gelten. Für die Arbeit gilt: Gleiches Geld
für gleiche Arbeit.
({5})
Als Zweites regelt die Bundesregierung den Drehtüreffekt. Sie verhindert zwar, dass eine Firma ihre Beschäftigten zu einem schlechteren Entgelt über eine eigene Leiharbeitsfirma beschäftigen darf. Wenn diese
Personen allerdings sechs Monate arbeitslos oder woanders beschäftigt waren, ist das wieder möglich. Wo ist
die Verbesserung? Die Umgehung ist vorprogrammiert.
Es liegt auf der Hand, was man machen muss, um die
Beschäftigten wieder einstellen zu können.
Die Bundesregierung behauptet zudem, mit ihrem
Gesetz über Leiharbeit schaffe sie einen Mindestlohn,
der nicht unterschritten werden kann. Das ist schlicht
nicht wahr. Auch hier ein Beispiel: Adecco, eine der
größten Leiharbeitsfirmen weltweit, zeigt, wie es geht.
Bereits jetzt müssen Beschäftigte neue Arbeitsverträge
unterschreiben. Der Unterschied war für sie kaum zu
merken. Statt Adecco GmbH stand Adecco Outsourcing
GmbH im Arbeitsvertrag. Was hat sich geändert? Die
Kolleginnen und Kollegen sind keine Leiharbeitnehmer
mehr. Adecco hat sie in die konzerneigene Werkvertragsfirma ausgegliedert, und für Werkvertragsbeschäftigte gilt der Mindestlohn nicht. So einfach ist das.
({6})
Für die Kolleginnen und Kollegen heißt das, dass
selbst die schlechten Bedingungen, die wir hier beschließen sollen, schon jetzt unterlaufen werden. Das Gesetz
der Bundesregierung ist Murks.
({7})
Leiharbeit darf nur dafür da sein, Auftragsspitzen aufzufangen.
Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir mit der Lohndrückerei Schluss machen. Die Linke sagt: Gleiches
Geld für gleiche Arbeit. Wenn Sie das Wohl der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer im Auge haben,
müssen Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen, damit
sich endlich etwas bewegt und wir diese unsozialen Bedingungen endlich abschaffen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere Position in Sachen Leiharbeit ist bekannt. Unsere
zentralen Forderungen sind die konsequente Anwendung
von Equal Pay, eine Flexibilitätsprämie für Leiharbeitskräfte in Höhe von 10 Prozent und die Wiedereinführung
des Synchronisationsverbots. Wir meinen, nur eine konsequente Regulierung stoppt den Missbrauch in der
Leiharbeit.
({0})
- Herr Kolb, stellen Sie doch eine Frage.
Nicht nur die Interessen der Wirtschaft und der Leiharbeitsbranche dürfen im Mittelpunkt stehen, sondern
die Politik muss auch den Beschäftigten in der Leiharbeit gerecht werden. Sie haben einen berechtigten Anspruch auf die gleichen Arbeitnehmerrechte, auf faire
Löhne und gute Arbeitsbedingungen wie alle anderen
Beschäftigten auch.
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?
Aber natürlich.
Bitte schön, Herr Kolb.
({0})
Das soll jetzt ausgleichende Gerechtigkeit sein. - Ich
möchte nur auf Verantwortlichkeiten hinweisen. Ich erinnere mich noch - ich bin lange genug im Deutschen
Bundestag -, dass Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen als
besonders wichtig erkannt hatte, dass die Zeitarbeit gerade auch Menschen mit geringerer Qualifikation die
Möglichkeit zur Integration in den Arbeitsmarkt eröffnet. Ist es nicht ein bisschen so, dass Sie hier wie der
weibliche Zauberlehrling stehen? Ich glaube, die Geister, die Sie riefen, werden Ihnen jetzt zu viel. Sie machen
jetzt die Drehung zurück. Das, was Sie jetzt verändern
wollen und als Ihre Vorschläge präsentiert haben, ist
doch das glatte Gegenteil dessen, was Sie in der Regierungsverantwortung 2004/2005 damals gemacht haben.
Können Sie mir das bestätigen?
({0})
Kollege Kolb, ich bestätige Ihnen, dass wir unsere
Meinung geändert haben.
({0})
Es wäre schön, wenn auch die FDP das hin und wieder
einmal täte.
({1})
Denn Politik muss meiner Meinung nach schlichtweg
auch schauen, wie Gesetze wirken und welche Entwicklungen und Fehlentwicklungen es gibt. Wir haben immer
gesagt: Wir haben andere Erwartungen gehabt. Ich
nenne zum Beispiel den Klebeeffekt, der nicht eingetreten ist. Wir haben nicht damit gerechnet, dass beispielsweise die Christlichen Gewerkschaften
({2})
so in diese Branche gehen und einen solchen Lohndruck
machen, wie sie es getan haben.
({3})
- Herr Kolb, ich bin jetzt dran. - Wenn Fehlentwicklungen zu sehen sind, dann muss die Politik Verantwortung
übernehmen. Dann muss man auch die Größe haben, zu
sagen: Da sind Dinge gelaufen, die wir so nicht haben
wollten. - Deswegen muss man dann Maßnahmen ergreifen, damit die Fehlentwicklungen wieder gestoppt
werden. Das finde ich überhaupt nicht schlimm, sondern
richtig.
({4})
Ich wünsche mir, dass das auch die FDP irgendwann einmal macht.
({5})
Ich habe gerade von den gleichen Rechten der Beschäftigten geredet. Wir meinen, dass der Gesetzentwurf
dem nicht gerecht wird. Einzig und allein die Lohnuntergrenze ist ein richtiger und vor allem auch ein notwendiger Schritt. Dieser Lohnuntergrenze werden wir nachher
zustimmen. Der Gesetzentwurf in Gänze aber ist und
bleibt eine Minimalreform, der wir nicht zustimmen
werden; denn Sie werden Ihrer Verantwortung den Leiharbeitskräften gegenüber nicht gerecht.
({6})
Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, Sie suggerieren
immer wieder, die Leiharbeitsbranche sei eine Branche
wie alle anderen auch. Fakt ist aber: In keiner anderen
Branche müssen so viele Beschäftigte aufstockendes
Arbeitslosengeld II beantragen. Schon heute muss der
Staat circa eine halbe Milliarde Euro pro Jahr an Transferleistungen für Leiharbeitskräfte ausgeben. Darin sind
die langfristigen Kosten von Leiharbeitskarrieren noch
gar nicht enthalten; denn die niedrigen Rentenansprüche
führen die Menschen direkt in die Altersarmut. Keine
andere Branche wird in diesem Umfang staatlich subventioniert.
Sie betonen auch immer, dass der Großteil der Leiharbeitskräfte vorher arbeitslos war. Das ist richtig, aber es
ist auf gar keinen Fall eine Rechtfertigung für die Leiharbeit. Natürlich kündigt kein Mensch sein festes Arbeitsverhältnis, um in der Leiharbeit für kurze Zeit und
unter schlechteren Arbeitsbedingungen weniger zu verdienen. Deutlich wird aber, dass der Beschäftigungsaufbau stark in die Leiharbeit geht und Stammbelegschaften
schleichend ersetzt werden.
Auch der sogenannte Klebeeffekt ist ein Mythos. Gerade einmal 7 Prozent der Leiharbeitskräfte werden in
reguläre Beschäftigungen übernommen. Diese Bilanz ist
unterirdisch und zeigt, dass die Leiharbeit als arbeitsmarktpolitisches Instrument nicht funktioniert. Das wird
von dieser Regierung wohl auch nicht gewollt; denn die
Unternehmen profitieren doppelt: Sie erhalten Flexibilität und billige Arbeitskräfte. Die Leiharbeitskräfte hingegen leiden unter einer doppelten Belastung: Sie verdienen weniger und haben keinen sicheren Job. Das ist
ungerecht und nicht fair.
Die heutige Entscheidung zur Leiharbeit im Bundestag ist also wichtig. Es geht darum, ob wir den Umbau in
der Arbeitswelt hin zu noch mehr prekärer Beschäftigung befördern oder stoppen. Wir Grünen entscheiden
uns für eine soziale Arbeitswelt. Sozial ist, was gute Arbeit schafft.
({7})
Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, lange haben wir
auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung warten
müssen. Jetzt aber geht es ganz schnell. Am Montag
fand die Anhörung statt, und heute, drei Tage später,
wird das Verfahren schon abgeschlossen. Dies geschieht,
wie ich finde, trotz dieses wichtigen Themas auch noch
zu einer sehr späten Tageszeit.
({8})
In der Anhörung wurden vielfältige Bedenken von Experten geäußert. Sie ignorieren komplett die Gewerkschaften und vor allem auch Teile der Wissenschaft. Das
hat uns aber nicht überrascht.
Gestern in der Ausschusssitzung haben wir auf unsere
Maximalforderungen verzichtet und versucht, mit konkreten Änderungsanträgen einige wenige Verbesserungen des Gesetzentwurfs zu erreichen. Wir haben beispielsweise beantragt, dass die Auszubildenden in die
Drehtürklausel einbezogen werden, dass Betriebsräte
mehr Rechte erhalten und dass Leiharbeitskräfte nicht in
bestreikten Betrieben eingesetzt werden dürfen. Vor allem haben wir auch beantragt, dass die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge gestrichen und der
Zugang zur betrieblichen Weiterbildung erleichtert wird,
damit der Gesetzentwurf zumindest der EU-Richtlinie
über Leiharbeit gerecht wird. Leider hatten wir keinen
Erfolg. Nicht einmal über diese Minimalforderungen haben Sie ernsthaft diskutiert.
Der Gesetzentwurf bleibt also nahezu bedeutungslos
für die Beschäftigten. Die Interessen der Leiharbeitsbranche und der Wirtschaft bedienen Sie aber. Das kann
ich nur Klientelpolitik pur nennen. Vor allem spalten Sie
die Gesellschaft mit dem unregulierten Anstieg der Leiharbeit weiter, und zwar nicht nur in Arm und Reich, sondern auch in regulär und prekär Beschäftigte. Soziale
Gerechtigkeit und verantwortungsbewusste Politik sehen
anders aus.
Vielen Dank.
({9})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Schiewerling
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Arbeitnehmerüberlassung hat eine lange Geschichte.
Sie hat nicht erst im Jahre 2001 begonnen; es gab sie davor auch schon. Durch Hartz I wurde allerdings bewirkt,
dass sie sich von einem arbeitsmarktpolitischen Instrument zu einer Branche entwickelt hat. Dies geschah,
weil die Rahmenbedingungen durch die damalige Gesetzgebung unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Situation, der steigenden Arbeitslosigkeit und der schwierigen Entwicklung in den Sozialsystemen verändert
wurden. Dadurch sollte wesentlich mehr Flexibilität in
diesen Bereichen entstehen.
Mittlerweile gibt es circa 1 600 Zeitarbeitsfirmen. In
der Tat gibt es in 98 Prozent dieser Firmen einen Tarifvertrag; die allermeisten dieser Tarifverträge wurden mit
DGB-Gewerkschaften abgeschlossen.
({0})
Ich verurteile das überhaupt nicht. Vom Grundsatz her
gilt Equal Pay. Ich kenne die Geschichte sehr genau.
({1})
Wenn wir wollen, dass Equal Pay in der Zeitarbeitsbranche gilt, dann brauchen wir in dieser Branche ab 2013
einfach keine Tarifverträge mehr abzuschließen. Dadurch würden wir völlig problemlos Equal Pay für alle
erreichen.
({2})
Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege. - Mich würde interessieren, wie Sie auf 98 Prozent kommen. Es gibt ja ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das festgestellt hat, dass bestimmte Gewerkschaften überhaupt nicht tariffähig sind. Sie nennen sich zwar
christlich, sind meiner Auffassung nach aber weder
christlich noch Gewerkschaften. Deren Tarifverträge
sind von Anfang an nichtig und ungültig. Wie bewerten
Sie diese Tatsache? Welche Vorstellungen haben Sie, um
dem Wildwuchs, dass Arbeitgeber mit bestimmten Gewerkschaften Tarifverträge abschließen, die gar nicht im
Interesse der Beschäftigten sind, und dass Gewerkschaften auf Veranlassung von Arbeitgebern gegründet werden, nur um Dumpinglöhne in ihren Betrieben aufrechtzuerhalten, entgegenzutreten?
Bei uns im Münsterland arbeiten Beschäftigte in der
Leiharbeitsbranche für 5,60 Euro pro Stunde. Jeden
Donnerstagabend gibt es extra verlängerte Öffnungszeiten bei der GAB, bei den Argen, damit die Leute dort ergänzendes ALG II beantragen können. Halten Sie das
tatsächlich für würdige Arbeitsbedingungen? Ich glaube,
hier müssen Sie noch ordentlich nachlegen und noch einmal genau überprüfen, wie die Situation bei uns im
Münsterland tatsächlich ist.
Liebe Frau Kollegin Vogler, die Situation ist auch im
Münsterland sehr differenziert zu beurteilen.
Erstens. Tarifverträge werden von Gewerkschaften
geschlossen, egal in welchem Bereich. Die 98-prozentige Tarifbindung haben wir. Ein Teil der Tarifverträge
wurde als nicht gültig eingestuft - dennoch gibt es zur
Stunde Tarifverträge -; ich gehe davon aus, dass dies im
Nachhinein geregelt und nachgeholt wird. Es bestehen
sicherlich Probleme. Sie haben aber nichts mit Grundsatzfragen im Hinblick auf Tarifverträge zu tun, sondern
betreffen gewerkschaftliche Entscheidungen in einem
ganz bestimmten Bereich.
Zweitens. Ich will Ihnen gerne sagen, dass auch ich
einen Stundenlohn von 5,40 Euro nicht gut finde. Sehen
Sie: Deswegen schaffen wir mit diesem Gesetz die Voraussetzungen für eine Lohnuntergrenze. Wir wollen solche Löhne verhindern.
({0})
Ich hoffe sehr, dass Sie dem zustimmen.
({1})
Drittens möchte ich Ihnen in diesem Zusammenhang
sagen: Ich halte es schon für notwendig, die Zeitarbeitsbranche sehr differenziert zu betrachten. Es geht nämlich
nicht nur um Stundenlöhne von 5,40 Euro; dieses Beispiel, das eine bestimmte Branche, nämlich ungelernte
Arbeitskräfte, betrifft, haben Sie gerade genannt. Vielmehr ist das Tarifsystem in der Zeitarbeitsbranche sehr
ausdifferenziert. Im Münsterland, aus dem wir beide
kommen, gibt es auch Zeitarbeitsfirmen, die ihren Mitarbeitern 16 Euro die Stunde zahlen.
({2})
Ich kenne Industriebetriebe, die Wert darauf legen, dass
vom ersten Tag an Equal Pay gilt. Diese Betriebe kennen
auch Sie. Ich glaube, dass es notwendig ist, von dem gesamten Kübel der Verwerfungen, den Sie über der Zeitarbeit ausgießen, ein wenig Abstand zu nehmen, die
Dinge sehr differenziert zu betrachten und genau zu
überprüfen, an welchen Ecken wir Veränderungen benötigen. Genau das tun wir.
({3})
Ich glaube allerdings, dass es in den vergangenen Jahren - das gestehe ich gerne zu, und deswegen handeln
wir heute - zu Verwerfungen gekommen ist, weil Betriebe ihre Betriebskonzeption darauf abgestellt haben,
mit möglichst niedrigen Löhnen und durch Ausgliederungen in eigene Zeitarbeitsfirmen geschäftsfähig zu
sein.
({4})
Dies steht in deutlichem Widerspruch zur sozialen
Marktwirtschaft, zur sozialen Verantwortung und zum
Handeln eines ehrbaren Kaufmanns, der nicht nur Umsätze, sondern auch seine Mitarbeiter im Blick haben
muss.
({5})
Mit dem heute vorliegenden Gesetz führen wir mit
der sogenannten Drehtürklausel eine Regelung ein, die
dem einen Riegel vorschiebt. Außerdem verhindern wir
Verwerfungen im Bereich der Zeitarbeit, zu denen es
aufgrund der Herstellung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU ab dem 1. Mai dieses Jahres
kommen könnte. Darüber hinaus schaffen wir für die
Verleihzeiten und die verleihfreien Zeiten eine Lohnuntergrenze, die wie ein Mindestlohn wirkt. Im Übrigen
werden wir mit diesem Gesetz die europarechtskonformen Regelungen umsetzen.
({6})
3 Prozent aller Beschäftigten sind in Deutschland in
einer Zeitarbeitsbranche tätig. Nicht ganz Deutschland
arbeitet in Zeitarbeit, sondern nur 3 Prozent aller Beschäftigten.
({7})
Das sind - zugegebenermaßen - 1 Million Menschen.
Die Branche erlebt einen deutlichen Aufschwung. In der
Aufschwungphase geht es Betrieben darum, Auftragsspitzen aufzufangen - ich erlebe das immer wieder - und
flexibel auf den Personalbedarf der Wirtschaft zu reagieren. Ich sage sehr deutlich: Das gelingt, auch dank der
guten Zusammenarbeit mit den Regionalagenturen vor
Ort. Davon profitieren übrigens nicht nur alle Zeitarbeitsfirmen, die wir kennen, sondern auch eine Zeitarbeitsfirma, an der der DGB beteiligt ist.
Es zeigt sich, dass Betriebe zurzeit mit Festanstellungen zögern; ich halte das für falsch. Sie vergeben eher
zeitlich begrenzte Verträge. Das ist für unsere gesellschaftliche Entwicklung hochgefährlich, weil sich junge
Menschen, die keinen Dauerarbeitsplatz bekommen,
nicht für Kinder und Familie entscheiden. Wir sind dabei, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.
Wir haben die Verwerfungen, die es im Augenblick
gibt, im Blick; das gilt auch für andere Bereiche. Ich
frage mich, ob es notwendig ist, jemanden länger als
zwölf Monate an einen Betrieb zu verleihen. Ich glaube,
dass das nichts mehr mit Zeitarbeit zu tun hat, sondern
ein Regelarbeitsverhältnis ist. Wir sollten das gut im
Blick behalten.
Ich will auch deutlich sagen, dass es Zeitarbeit nicht
nur in der Wirtschaft gibt. Es gibt sie leider auch im
kommunalen Bereich und in Wohlfahrtsverbänden, und
zwar in einer Form, wie ich sie nicht vermutet hätte.
Leiharbeit kommt insbesondere im Bereich der Pflege
vor. Die Arbeiterwohlfahrt in Essen zum Beispiel hat zu
meinem großen Erstaunen ein komplettes Geschäftsmodell entwickelt.
({8})
Sehr deutlich möchte ich sagen, dass ich den Klebeeffekt durch Vermittlung nicht geringschätze. Die Werte
schwanken übrigens, Frau Kollegin Krellmann, zwischen 8 und 15 Prozent;
({9})
das ist nicht genau festgelegt. Diesen Klebeeffekt gibt es
aber. Ich begrüße das außerordentlich. Hier macht sich
die Zeitarbeit als eine Brücke zur dauerhaften Beschäftigung sehr positiv bemerkbar.
({10})
Bei aller Diskussion dürfen wir eines nicht übersehen:
Der Aufschwung, den wir in der Wirtschaft erleben, ist
auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Weniger Menschen
sind im Bereich der Kurzarbeit tätig. Wir haben einen
deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Es ist zu
einem nach einer solchen Krisensituation nie gekannten
Aufschwung im Bereich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gekommen.
({11})
Ich möchte Ihnen abschließend zwei Dinge sagen:
Erstens. Ich würde der Opposition raten, in ihrer Wortwahl zum Thema Zeitarbeit etwas sorgsamer zu sein.
Die Menschen, die dort arbeiten, möchten auf das, was
sie leisten, stolz sein.
({12})
Sie haben Respekt für die Arbeitsleistung, die sie erbringen, verdient.
({13})
Kollege Schiewerling, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - Zweitens. Ich glaube, dass
wir mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, einen
wichtigen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit und zu mehr
Regelungen in diesem Bereich machen. Das ist nicht nur
für die Beschäftigten, sondern auch für die Akzeptanz
der Branche und damit für die Betriebe wichtig.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Kramme für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen, vor allem liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Unionsparteien und der FDP, ich frage mich immer
Folgendes: Liegt bei Ihnen Sarkasmus oder Zynismus
vor? Ist es schlichtweg der Balken im Auge, wenn Sie
über die Zustände in der Leiharbeit reden?
({0})
Ich kann nur sagen: Ich nehme ein komplette Realitätsverkehrung wahr.
({1})
Ihr Gesetzentwurf ist löchrig wie ein Schweizer Käse.
Man kann auch sagen, er sieht aus wie ein Sack voller
Kartoffeln, in dem es nur eine einzige genießbare Kartoffel gibt.
Wir alle wissen, dass es zwei Kernprobleme im Bereich der Leiharbeit gibt. Das eine Problem ist: Die Leiharbeit ist eine Niedriglohntätigkeit. Viele Menschen, die
in der Leiharbeit beschäftigt sind, bekommen nicht nur
Niedriglöhne, sondern Armutslöhne. Das andere Problem ist: Immer mehr Menschen sind in der Leiharbeit
beschäftigt. Das liegt daran, dass Stammarbeitnehmer
durch Leiharbeitskräfte substituiert werden. Das macht
uns große Sorgen. Denn Menschen in der Leiharbeit sind
über die Armutslöhne, mit denen sie auskommen müssen, sozial nur unzureichend abgesichert. Vor allem be11376
reitet es große Sorgen, wenn man sich ausrechnet, was
diese Menschen eines Tages an Rente bekommen werden. Es ist volkswirtschaftlich auch äußerst unökonomisch, über SGB II Jahr für Jahr 500 Millionen Euro an
Aufstockungsleistungen zuzuzahlen und damit Dumpingunternehmen in dieser Republik letztlich finanziell
zu unterstützen.
Wenn Sie einen Gesetzentwurf zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorlegen, könnte man denken, dass
Sie damit die Kernprobleme der Leiharbeit angehen und
auf die Realität eingehen. Das ist aber leider nicht zu beobachten.
Sie legen hier eine winzige Regelung vor, mit der gegen die sogenannte Drehtürmethode vorgegangen werden soll. Was ist diese Drehtürmethode? Dabei geht es
darum, dass Arbeitnehmer zunächst in einem Stammunternehmen beschäftigt waren, dort entlassen worden
sind oder mit der Arbeit aufgehört haben, weil sie nur einen befristeten Arbeitsvertrag hatten, danach in einem
Leiharbeitsunternehmen auftauchen und am gleichen
Arbeitsplatz weiterarbeiten.
({2})
Es ist richtig: Das ist ein Problem, das gelöst werden
muss. In der Gesamtproblematik der Leiharbeit in das
aber eine Marginalie.
Die Regelung kann durch Arbeitgeber auch ganz
leicht umgangen werden, indem sie mit dem Leiharbeitsunternehmen einfach absprechen: Schickt mir andere
Leiharbeitnehmer. - Dann muss kein Equal Pay gelten,
wie es vorgesehen ist. Man kann auch mit einem komplett fremden Unternehmen der Leiharbeit zusammenarbeiten, zu dem es nie Kontakte oder Berührungspunkte
gegeben hat.
Sie schreiben in dem Gesetzentwurf weiter: Leiharbeit soll nur noch vorübergehend sein. - Damit reagieren
Sie auf die EU-Leiharbeitsrichtlinie. Europäische Richtlinien sind aber so auszulegen, dass sie effektiv sind. Das
tun Sie an dieser Stelle nicht, sondern Sie sagen: Vorübergehend ist alles, was irgendwann einmal ein Ende
hat.
({3})
Zu solch einem Ende kann es aber natürlich auch erst in
10 oder 15 Jahren kommen.
({4})
Dabei hat sich der europäische Gesetzgeber durchaus etwas dabei überlegt, zu sagen, dass Leiharbeit nur vorübergehend geleistet werden soll.
Es geht hierbei darum, dass Dauerarbeitsplätze in
Stammunternehmen vorhanden sein sollen, dass die Beschäftigung primär dort stattfinden soll, zu guten Konditionen, und dass die Leiharbeit ihre Probleme hat, weshalb mit ihr nur Auftragsspitzen abgedeckt und Vertretungsregelungen umgesetzt werden sollen.
Ein weiteres Problem lösen Sie ebenfalls nicht. Damit
liegt ein gravierender Verstoß gegen die EU-Leiharbeitsrichtlinie vor. Danach sind Abweichungen vom Grundsatz Equal Pay nur dann gestattet, wenn es Regelungen
zur Sicherung des Gesamtschutzniveaus der Leiharbeitnehmer gibt. Hier haben Sie jegliche Regelung unterlassen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen drei Dinge:
Erstens. Wir brauchen Equal Pay und Equal Treatment, um die Verdrängung von Stammarbeitnehmern zu
verhindern.
Zweitens. Wir brauchen eine Höchstüberlassungsdauer, um ebenfalls zu verhindern, dass dieser Verdrängungswettbewerb stattfindet.
Drittens. Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist für uns: Es muss ein Synchronisierungsverbot geben, weil wir in der Realität immer mehr festgestellt haben, dass Leiharbeitsverträge mit Arbeitnehmern parallel zum Auftrag des Entleihunternehmens
abgeschlossen werden. Das kann und darf nicht sein.
Eine allerletzte Konstellation sei an dieser Stelle genannt: Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte
schaden nie. Betriebsräte können gut und flexibel mit
Leiharbeit umgehen, wenn sie auch Rechte haben, um
auf die spezifische Situation im Unternehmen einzugehen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Vogel hat für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben eben ja schon darüber geredet: Als Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, die
Zeitarbeit flexibilisiert haben
({0})
- ich habe mir vom Kollegen Kolb umfangreich berichten lassen, lieber Toni Schaaf -, hatten Sie doch in Wahrheit - wenn Sie ehrlich sind, dann geben Sie das zu zwei Ziele im Blick: Sie hatten einerseits natürlich ein
Flexibilitätsinstrument für die Unternehmen im Blick,
andererseits aber doch auch - zumindest hoffe ich das
für Sie - den Einstieg für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt.
Jetzt sagen Sie: Es hat Fehlentwicklungen gegeben;
die wollen wir korrigieren. Ich frage Sie: Was sind denn
diese Fehlentwicklungen? Ist es eine Fehlentwicklung,
dass zwei Drittel der Arbeitslosen, die in der Zeitarbeit
tätig sind, darüber den Einstieg in den Arbeitsmarkt finden? Ist es eine Fehlentwicklung, dass drei Viertel davon
dauerhaft im Arbeitsmarkt bleiben und dass 40 Prozent
der Unqualifizierten, die in der Zeitarbeit beschäftigt
sind, darüber in den Arbeitsmarkt kommen?
Johannes Vogel ({1})
({2})
Wenn das so ist, dann kann ich für die christlich-liberale
Koalition nur sagen: Wir sagen, das ist eine Errungenschaft und keine Fehlentwicklung. Diese wollen wir erhalten.
({3})
Aber vielleicht meinen Sie mit der Fehlentwicklung
etwas anderes. Vielleicht meinen Sie Ereignisse in der
Art von schwarzen Schafen, die die Zeitarbeit missbrauchen, wie wir es bei Schlecker und bei der Arbeiterwohlfahrt im Ruhrgebiet erlebt haben. Schönen Gruß an die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da könnten Sie
positiv Einfluss nehmen.
Wenn Sie das meinen, dann frage ich mich, warum
Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Genau das
führen wir nämlich ein: eine Anti-Schlecker-Klausel und
einen Mindestlohn mit Blick auf die ausländischen Zeitarbeitsunternehmen.
({4})
Wenn das die Fehlentwicklungen sind, dann könnten Sie
zustimmen. Ich habe heute von Ihnen keinen Grund gehört, dem Gesetzentwurf in irgendeinem Punkt nicht zuzustimmen. Ich habe das Gefühl, Sie meinen es mit der
Korrektur von Fehlentwicklungen nicht richtig ernst,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Auch wir
meinen, dass es bei der Zeitarbeit noch einen Punkt gibt,
der korrigiert werden muss, damit die Zeitarbeit nicht
nur ein Steg in den Arbeitsmarkt ist, sondern eine Brücke. Dabei geht es um das Equal Pay. Das haben wir selber thematisiert.
({6})
- Ja, lieber Kollege Heil. - Wir wissen, dass es mit dem
Equal Pay nicht ganz einfach ist. Es kann auch, zum Beispiel wenn man es ab dem ersten Tag vorsieht, wie Sie es
wollen, negative Effekte haben. Ich zitiere kurz, was
Herr Walwei vom IAB in der Anhörung gesagt hat. Es
ist übrigens interessant, dass in der Anhörung, von der
auch Sie heute häufig gesprochen haben, kein einziger
Kollege von Ihnen, liebe Opposition, auch nur eine einzige Frage an die anerkannt unabhängigen Akteure BA
und IAB gestellt hat. Sie haben nur die von Ihnen selbst
bestellten Sachverständigen befragt.
({7})
Deswegen zitiere ich, was Herr Walwei gesagt hat:
Bei Equal Treatment muss man ganz klar sagen,
dass dies ab dem ersten Tag und ohne Ausnahme
die Zeitarbeit erheblich verteuern würde. Die Inanspruchnahme ginge dann definitiv zurück. Da muss
man ganz klar sagen, dass damit dann Zugangshürden für wettbewerbsschwächere Arbeitnehmer
wachsen würden. Es käme im Grunde zur Rache
des Gutgemeinten.
Das wollen wir nicht. Wir wollen das auch für die Geringerqualifizierten erhalten. Deshalb sagen wir: Die Tarifpartner regeln das Equal Pay.
Liebe Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben ebenso
wie ein anderer Kollege von Heuchelei gesprochen und
gesagt, dass das Aufgabe der Politik sei. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir wollen den Tarifpartnern nicht die Brosamen überlassen, die übrigbleiben, nachdem die Politik alles geregelt hat. Wir vertrauen
den Tarifpartnern, dass sie eine gute Lösung finden werden.
({8})
Nur dann, wenn sie nicht handeln, werden wir nach einem Jahr tätig.
In diesem Sinne ist festzustellen: In der Frage des
Equal Pay wird es entweder eine guten Lösung der Tarifpartner oder durch die Kommission geben, die wir nach
einem Jahr einsetzen.
({9})
Alle anderen Probleme, die Sie beklagen, die die Zeitarbeit aber nicht kaputtmachen würden, sind gelöst. In diesem Sinne kann ich nicht erkennen, warum Sie dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Ich kann nur erkennen, dass Sie viel Schauspiel betreiben und wir uns um die Probleme der Menschen
kümmern.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Lehrieder hat für die Unionsfraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! In der Diskussion wurde bereits einiges
ausgeführt. Wir führen die zweite und dritte Beratung
des Gesetzentwurfs durch, der den Missbrauch bei der
Zeitarbeit unterbinden soll.
Lieber Kollege Hubertus Heil, wir haben lange verhandelt. Es wäre gut, wenn Sie als SPD das Ergebnis der
Verhandlungen mittragen könnten.
({0})
Wir haben vieles mit in den Gesetzentwurf hineinverhandeln können. Wir haben uns sehr viel Mühe mit Ihnen gegeben. Es wäre schön, wenn Sie das ganze Paket
mitschultern könnten.
({1})
Kollege Vogel hat gerade die Anhörung angesprochen, die am Montag stattgefunden hat. Auf meine
Frage, ob durch die Zeitarbeit eine Verdrängung regulärer Arbeitsverhältnisse in nennenswertem Umfang erfolgt, hat der Sachverständige Walwei ausgeführt, dass
das nach seiner Erkenntnis gerade nicht der Fall ist.
Denn, wie Sie selber gesagt haben, Herr Heil, haben
viele Leiharbeitnehmer nach einer kurzen Frist das Unternehmen verlassen. Insofern kommt es nicht zu einer
spürbaren Verdrängung aus regulären Beschäftigungsverhältnissen.
Wir haben auch festgestellt, dass durch die von Ihnen
vorgegebene gesetzliche Regelung Möglichkeiten zum
Missbrauch gegeben waren. Der Gesetzentwurf sieht
deshalb Regelungen vor, um die Fälle von Scheinzeitarbeit zu vermeiden, in denen den Arbeitnehmern gekündigt wurde, um sie dann als Zeitarbeitnehmer zu
schlechteren Bedingungen und Löhnen wieder im ehemaligen Unternehmen zu beschäftigen. Auf die Drehtürklausel wurde bereits zu Beginn der Debatte von unserer
Ministerin hingewiesen.
Wer Zeitarbeit auf diese Weise missbraucht, um Arbeitslöhne zu drücken, der untergräbt ein an sich gutes
Instrument der Arbeitsmarktpolitik und verkennt den
Sinn der Zeitarbeit.
({2})
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird nun
sichergestellt, dass ein solcher Missbrauchsmechanismus
nicht mehr möglich ist. Zugleich wird damit die EULeiharbeitsrichtlinie des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 19. November 2008 in nationales Recht
umgesetzt. Wir gewährleisten damit, dass die Zeitarbeit
nicht mehr als Drehtür zur Absenkung von Arbeitslöhnen und Arbeitsbedingungen genutzt werden kann. Wir
leisten damit einen notwendigen und wichtigen Beitrag
zur Verbesserung eines für den Arbeitsmarkt bewährten
Instruments.
Selbstverständlich ist es wünschenswert, feste Anstellungen bzw. unbefristete Arbeitsverträge auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Das ist bei über 95 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in unserem Land auch der Fall.
Unser Ziel ist es aber, allen arbeitsfähigen Menschen die
Möglichkeit zu bieten, einer Arbeit nachzugehen.
({3})
Arbeit zu haben, ist besser als gar keine Arbeit. Die
Zeitarbeit ist daher auch ein Sprungbrett in eine feste Beschäftigung. Sie ist die Chance für jeden, der Arbeit
sucht; Kollege Vogel hat auf diesen Aspekt bereits hingewiesen.
Der Leiharbeit haben wir es zu verdanken, dass gerade in den Krisenzeiten der letzten Jahre Geringqualifizierte und Arbeitslose eine Chance auf Beschäftigung
hatten. Etwa ein Drittel der Arbeitnehmer in einem Zeitarbeitsverhältnis hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, und zwei Drittel hatten vor ihrer Anstellung keine
Arbeit.
({4})
Die Flexibilität der Zeitarbeit machte es möglich, den
konjunkturellen Aufschwung schneller in Beschäftigung
umzusetzen.
({5})
Sicherlich - das soll nicht in Abrede gestellt werden ist in der Zeitarbeitsbranche, die sich von einem Arbeitsmarktinstrument zu einem Wirtschaftszweig entwickelt
hat, einiges unglücklich gelaufen. Schlupflöcher, die auf
Kosten der Arbeitnehmer ausgenutzt wurden, werden
mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nun geschlossen. Folgende Kernpunkte sind darin enthalten.
Erstens erfolgt eine Ausdehnung der Erlaubnispflicht
der Arbeitnehmerüberlassung auch auf solche Überlassungen, mit denen keine Gewinnerzielungsabsicht verbunden ist, sowie auf solche, die nicht auf Dauer angelegt sind.
Zweitens wird in Zukunft verhindert, dass zuvor arbeitslose Leiharbeitnehmer für einen Zeitraum von bis
zu sechs Wochen von einem Unternehmen zu einem
Nettogehalt beschäftigt werden, das dem zuletzt gezahlten Arbeitslosengeld entspricht.
Drittens wird den Zeitarbeitnehmern nun das Recht
eingeräumt, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen
oder -diensten zu erhalten.
Last, but not least - viertens - geht der Entleiher die
Verpflichtung ein, Leiharbeitnehmer über freie Stellen
im Unternehmen in Kenntnis zu setzen.
Ein weiterer zentraler Punkt ist die Festlegung einer
absoluten Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit. Eine solche haben wir in Höhe von 7,60 Euro für die alten und
6,65 Euro für die neuen Bundesländern eingeführt.
Erlauben Sie mir, am Ende meiner Redezeit noch einmal auf das viel gerühmte Equal Pay einzugehen. Lieber
Herr Kollege Heil, Equal Pay soll im Laufe der nächsten
Monaten insbesondere bei auslaufenden Tarifverträgen
von den Tarifvertragsparteien diskutiert bzw. in TarifverPaul Lehrieder
träge hinein verhandelt werden, die wir dann mit den Arbeitgeberverbänden und mit den Gewerkschaften für allgemeinverbindlich erklären können.
Die Forderungen der SPD zeigen, dass ihr sehr viele
Gewerkschafter davongelaufen sind. Wir halten es für
sinnvoll, dass die Tarifvertragsparteien, denen wir ein
großes Vertrauen entgegenbringen, innerhalb des nächsten Jahres - auf diesen Zeitraum hat die Frau Ministerin
hingewiesen - Regelungen anstreben, die wir dann überprüfen werden und übernehmen können. Das ist allemal
gescheiter, als sich aus der Hüfte heraus auf eine Begrenzung der Verleihdauer auf einen Zeitraum zwischen drei
und neun Monaten - Kollege Heil und Kollege Kolb hatten davon gesprochen - zu entscheiden.
Lassen Sie uns das prüfen. Es wird ja auch in Zukunft
Handlungsbedarf geben. Lassen Sie uns dieses an sich
vernünftige Instrument weiterentwickeln.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5238, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/4804 in der Ausschussfassung mit
den in der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben
anzunehmen.
Die Fraktion der SPD hat getrennte Abstimmung über
die Maßgaben beantragt.
Ich rufe daher zunächst die in der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben auf. Ich bitte diejenigen, die
diesen zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind die in
der Beschlussempfehlung genannten Maßgaben mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich lasse jetzt über die übrigen Teile des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4804 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind
auch die übrigen Teile des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Der Gesetzentwurf ist somit in allen Teilen in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Wir stimmen zuerst über den Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5253 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5254. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.
Wir kommen zu dem von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur strikten Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5238, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/
3752 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zusatzpunkt 9 auf:
10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Mit Transparenz und parlamentarischer Beteiligung gegen die Ausweitung von Rüstungsexporten
- Drucksache 17/5054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({2})
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Hans-Christian Ströbele, Agnes Malczak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Genehmigung für Waffenexporte bei Unzuverlässigkeit konsequent aussetzen
- Drucksache 17/5204 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich bitte diejenigen, die an dieser Aussprache teilhaben wollen, sich einen Platz im Plenum zu suchen, und
diejenigen, die eine Aussprache zu anderen Themen führen wollen, das Plenum zu verlassen. - Frau Ministerin
von der Leyen, ist es möglich, dass wir mit den Beratungen fortfahren?
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul für die SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist der Grund für unseren Antrag und für einen Neuanfang? Wir teilen die Einschätzung der evangelischen
und der katholischen Kirche, die uns in der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung auffordern, in
der Rüstungs- und Waffenexportpolitik Deutschlands einen Neuanfang mit Transparenz und parlamentarischer
Beteiligung zu machen. Vor dem Hintergrund meiner
elfjährigen Mitgliedschaft im Bundessicherheitsrat - das
Entwicklungsministerium ist seit 1998 dort Mitglied unterstütze ich diesen notwendigen Neuanfang aus tiefer
eigener Überzeugung und Erfahrung. Ich meine das
durchaus selbstkritisch.
({0})
Welche konkreten Gründe gibt es aktuell? Durch die
Umstrukturierung der Bundeswehr verfügen die deutschen Streitkräfte zukünftig über Waffen und Rüstungsgüter, die nicht mehr benötigt werden. Die Gefahr ist
groß, dass diese Waffen weltweit und damit auch in Krisengebiete exportiert werden. Deutschland darf aber
nicht dazu beitragen, dass damit Konflikte in anderen
Regionen angeheizt werden. Das hätte entsetzliche Konsequenzen für das Leben von Menschen.
({1})
Entsprechende Entwicklungen bei der Umstrukturierung von Armeen gibt es in vielen Industrieländern.
Auch deshalb ist es notwendig, dass der gemeinsame
Standpunkt der Europäischen Union zu Rüstungsausgaben aus dem Jahr 2008 endlich von allen EU-Ländern,
auch von Deutschland, in einer rechtlich bindenden
Form gefasst wird; denn mit diesen acht Kriterien werden Festlegungen für eine restriktive Waffen- und Rüstungsexportpolitik in der Europäischen Union insgesamt
getroffen. Dazu gehören unter anderem die Einhaltung
der internationalen Verpflichtungen des Empfängerlandes, die Achtung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch das Empfängerland, die Frage,
ob das betreffende Land in einer Region mit bewaffneten
Konflikten oder in einer Spannungsregion liegt, und die
Frage, wie sich ein solches Empfängerland gegenüber
der internationalen Gemeinschaft verhält.
Rot-Grün hat, beginnend im Jahr 1999 und dann im
Jahr 2000, sehr restriktive politische Grundsätze für den
Waffen- und Rüstungsexport erarbeitet, die für das Verhalten der Bundesregierung prägend sein sollten, und
man hat sie so ausgestaltet, dass in Länder außerhalb der
NATO bzw. in der NATO gleichgestellte Staaten nur in
begründeten Einzelfällen geliefert werden kann. Ich sage
aber auch: Es bestand und es besteht immer die Gefahr
der unterschiedlichen Interpretation, ob bei konkreten
Entscheidungen die politischen Grundsätze eingehalten
wurden bzw. werden oder nicht.
Der zweite Grund, warum es notwendig ist, jetzt entsprechende Initiativen zu ergreifen, ist folgender: Die
schwarz-gelbe Bundesregierung hat angekündigt, dass
sie von einer restriktiven zu einer verantwortungsbewussten Exportpolitik übergehen will.
({2})
Das lässt Schlimmes vermuten, zumal die europäische
Rüstungslobby auf die Lockerung der Bestimmungen für
den Rüstungsexport drängt.
Der dritte Punkt ist - ich glaube, da sind wir uns alle
einig -:
({3})
Die Erfahrungen vieler europäischer Länder, Frankreichs, Italiens, Spaniens, Großbritanniens und auch
Deutschlands, mit Waffen- und Rüstungsexporten unter
dem Zeichen geostrategischer Stabilität an nordafrikanische Länder und Länder des Nahen Ostens in den letzten
Jahren und zum Teil Jahrzehnten zeigen, wie notwendig
Transparenz sowohl in unserem Land als auch in anderen europäischen Ländern für derartige Exportentscheidungen ist. Wären diese Verhaltensweisen früher öffentlich diskutiert worden, hätten viele Entscheidungen
keinen Bestand gehabt.
Wir alle haben gelernt - das ist hoffentlich ein Ergebnis dieser Debatte -: Waffenlieferungen in Länder, die
nicht der Demokratie verpflichtet sind, darf es nicht geben.
({4})
Es ist natürlich wichtig, dass man Waffenembargos beschließt. Aber sie werden doch immer erst beschlossen,
wenn die Krisensituation schon eingetreten ist. Anschließend wird oft genug Business as usual betrieben.
Eine solche Praxis muss ein Ende haben.
({5})
Wir fordern deshalb eine restriktive Genehmigungspraxis, die eine Kultur der Zurückhaltung erkennen lässt
und die rüstungspolitischen Grundsätze nicht durch die
Hintertür einer europäischen Harmonisierung verwässert. Wir fordern, nicht Lobbyinteressen zu bedienen, indem Exportrichtlinien aufgeweicht werden, sondern Ansätze der Konversion wiederzubeleben, um die zivile
Produktion deutscher Unternehmen, die neben Rüstungsgütern in vielen Fällen auch zivile Produkte herstellen, zu stärken.
Gerade jetzt, da Deutschland als nicht ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt worden ist, forHeidemarie Wieczorek-Zeul
dern wir die Bundesregierung auf, die Verhandlungen
für ein weltweites Waffenhandelsabkommen im Jahr
2012 zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen und
dabei vor allen Dingen abrüstungspolitisch engagierte
Nichtregierungsorganisationen in die Beratungen einzubeziehen. Ziel des Abkommens muss es sein, eine möglichst große Zahl von Staaten - ich verweise auf China,
Russland und die USA - auf grundlegende Prinzipien
zur Begrenzung und Kontrolle der Rüstungstransfers zu
verpflichten und völkerrechtlich bindende Richtlinien
für alle Rüstungsexporte zu entwickeln.
Die Zahl der Exportgenehmigungen für sogenannte
kleine und leichte Waffen, also für Massenvernichtungswaffen in Zeitlupe, wie sie Kofi Annan genannt hat,
muss endlich drastisch reduziert werden. Hier müssen
entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden.
Der Kern unseres Antrags - da bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen um Unterstützung -, besteht aber darin, dass wir den Vorschlag der Gemeinsamen Konferenz
Kirche und Entwicklung für eine stärkere parlamentarische Beteiligung bei Rüstungs- und Waffenexportentscheidungen aufgreifen. Wir formulieren in unserem Antrag:
Ein geeignetes Instrument dafür
- für die frühzeitige Einbeziehung des Deutschen Bundestages in den Entscheidungsprozess könnten vertrauliche Beratungen im Unterausschuss des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages für „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ sein …
Wir gehen davon aus, dass die Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, und zwar in allen Fraktionen, ein
Interesse daran haben, die Beteiligung des Deutschen
Bundestages zu stärken, und bieten deshalb ausdrücklich
an, einen interfraktionellen Antrag zu erarbeiten, mit
dem Ziel, diese Rechte des Deutschen Bundestages zu
erweitern. Schweden zum Beispiel hat einen solchen
Prozess der parlamentarischen Beteiligung.
Zum Schluss. Die nordafrikanischen Länder brauchen
Chancen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Perspektiven für die Jugendlichen, die aufbegehren. Sie
müssen ihre Militärausgaben drosseln und die Mittel für
Bildung, Arbeit und zivile Entwicklung einsetzen. Insgesamt befanden sich laut dem Bonner International Center
for Conversion im Jahr 2009 elf Länder der Region
Nordafrika/Naher Osten unter den Ländern mit den
höchsten Militarisierungsgraden. Das wichtigste Bollwerk gegen mögliche islamistische Gewalt ist aber die
Unterstützung von Demokratie und Zukunftsperspektiven in diesen Ländern; es ist nicht die Lieferung von
Waffen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Der Kollege Fritz hat nun für die Unionsfraktion das
Wort.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik und muss Friedenspolitik sein. Daran gibt es
seit der Gründung dieser Republik keinen Zweifel. Was
Rüstungsexportpolitik angeht, liebe Frau Kollegin
Wieczorek-Zeul, haben wir in diesem Parlament eine
lange gemeinsame Praxis. Das hängt auch damit zusammen, dass das Verhalten nach Änderung von Mehrheiten
in der Regel nicht kurzfristig geändert wurde. Aus dem
Wort „verantwortungsvoll“ zu schließen, unsere Politik
sei nicht mehr restriktiv, passt, finde ich, überhaupt nicht
in die Diskussion in diesem Hause zu dem komplizierten
Thema Rüstungsexport.
Sie wissen ganz genau, dass durch den Lissabon-Vertrag, durch den Binnenmarkt vieles, von dem wir früher
ausgegangen sind, von der Praktikabilität des Umgangs
und der Kooperation innerhalb der Europäischen Union
her nicht mehr passt. Deshalb gibt es Bedarf, da etwas zu
ändern, und das soll gemacht werden.
Reden Sie doch bitte nicht klein, was stets das Ziel
der Bundesregierungen und vor allen Dingen des Bundestages war! Es waren immer Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, die das vorangetrieben haben, indem
sie gesagt haben: Lasst uns eine gemeinsame europäische Exportkontrollpolitik betreiben, weil sie, wenn der
Standard höher wird, auf jeden Fall insgesamt bessere
Ergebnisse zeitigt als viele nationale Ansätze mit den
Zwängen, die Sie dargestellt haben. Insofern kann ich
das, was Sie hier vorgetragen haben, nicht ganz verstehen.
Ich kenne logischerweise all die Themen und Papiere,
auf die Sie sich beziehen. Ich sage hier nur: Der Antrag,
den Sie eingebracht haben, über den zu reden wir Gelegenheit haben werden, enthält, was Veränderungen angeht, etwa hinsichtlich der parlamentarischen Beteiligung, keine neuen Vorschläge. Das diskutieren wir seit
20 Jahren.
({0})
- Jetzt passen Sie einmal auf.
Der Vorschlag, das Parlament, das ich als den wichtigsten Kontrolleur ansehe, was Rüstungsexportpolitik
angeht, zumindest teilweise zur Genehmigungsbehörde
zu machen, hat zwei Seiten, die man ernsthaft betrachten
muss. Das Beispiel Schweden repräsentiert eine Seite.
Die dortige Praxis habe ich mir schon vor Jahren ganz
genau angesehen und immer wieder mit Kollegen diskutiert.
Bedenken Sie einmal Folgendes: In deutschen Großstädten wurde sehr ausgiebig über die Einrichtung von
Vergabeausschüssen in Form von politischen Gremien
diskutiert, die die Aufträge für die Stadt verteilen. Wenn
Sie sich heute umschauen, dann stellen Sie fest, dass es
nicht mehr viele davon gibt. Es ist nämlich nicht gut, die
Dinge zu vermischen. Außerdem ist die Anfälligkeit,
etwa für Korruption, viel zu groß, wenn man die Dinge
nicht auseinanderhält. Wir sind bereit, ernsthaft darüber
zu reden; schließlich gibt es gute Argumente für beide
Positionen. Denken Sie aber daran, dass das kein Thema
ist, das man von Anfang an für zentral erklären muss,
nur weil es starke Kräfte gibt, die das fordern.
Wir haben in diesem Bereich eine Trennung zwischen
Exekutive und Legislative. In diesem Fall geht es um
exekutives Handeln. Es geht nicht nur um die Genehmigung von wenigen Großaufträgen. Dem Bundestag ist
im Übrigen noch nie verweigert worden, rechtzeitig informiert zu werden. Jeder Kollege, der sich darum kümmerte, konnte sich informieren und kann das auch heute
noch. Es geht um Folgendes: Zur Bundesverwaltung gehört das Bundesausfuhramt und das Zollkriminalinstitut.
Die Kontrollfähigkeiten des Zolls sind - das wissen Sie
aufgrund Ihrer früheren Mitwirkung ganz genau - immer
stärker geworden. Das führt dazu, dass Unternehmen
häufiger eine Unbedenklichkeitserklärung beantragen.
Dadurch ist die Anzahl der Genehmigungen dieser Anträge enorm gewachsen. Es gibt in diesem Bereich eine
große Sensibilität, auch der Unternehmen. Niemand will
sich in die kriminelle Ecke stellen. Das ist auch gut so.
Das alles jetzt in die Verantwortung des Bundestags zu
stellen, das ist keine positive Entwicklung. Damit sind
auch Schwierigkeiten verbunden.
Meine Redezeit ist seltsamerweise fast vorüber.
({1})
- So ist das manchmal, wenn man sich nicht an das Konzept hält.
Die Praxis der Kontrolle, an der Sie beteiligt waren,
Frau Wieczorek-Zeul, führt dazu, dass wir ganz viele delikate Probleme haben, bei denen es berechtigte Einwände gibt. Auch heute kann blockiert werden. Die Auseinandersetzungen wegen Genehmigungsverfahren, die
sich über Jahre hinziehen, sind nicht beliebt. Ich bin dennoch für restriktive Verfahren, weil die Folgen falscher
Entscheidungen immer bedacht werden müssen.
Zu den anderen Themen will ich jetzt nichts sagen.
Ich will nur noch anführen, dass Siegfried Lenz in seiner
Novelle Schweigeminute, die der eine oder andere vielleicht gelesen hat, den schönen Satz geschrieben hat:
Was wir verschweigen … ist mitunter folgenreicher
als das, was wir sagen.
Das gilt auch für dieses Thema. Deshalb sind wir für
Transparenz, für Kontrolle und für eindeutige, klare Verfahren.
({2})
Wenn Sie mit uns darüber reden möchten, was man besser machen kann, sind wir dabei. Populistischen Forderungen stimmen wir aber nicht zu.
Danke.
({3})
Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
in den letzten Wochen mehrfach gehört, dass Deutschland eine strenge Rüstungsexportkontrolle habe. Das ist
wirklich eine Legende.
({0})
Damit müssen wir endlich einmal aufräumen.
({1})
Denn wenn es eine strenge Exportkontrolle gäbe, dann
wäre Deutschland doch nicht weltweit die Nummer drei
der waffenexportierenden Länder, dann hätte Deutschland auch keine Waffen an Libyen, an Ägypten, an
Saudi-Arabien und all die anderen Länder geliefert, für
die jetzt plötzlich ein Waffenembargo gilt und gegen die
der Westen möglicherweise Krieg führt. Ich möchte das
einmal an drei Beispielen aufzeigen:
Erstens. Was passiert eigentlich mit den Waffen, wenn
sie erst einmal exportiert worden sind? Das weiß kein
Mensch. Das muss man sich einmal vorstellen. Es ist ausreichend, wenn eine Waffenschmiede wie Heckler &
Koch, die Maschinenpistolen herstellt, ein Schreiben vorlegt, in dem zum Beispiel Mexiko versichert: Ja, die Maschinenpistolen, die wir kaufen, bleiben bei uns im Land.
Wir liefern sie nicht weiter. - Danach kontrolliert das nie
wieder jemand. Angesichts dessen sage ich immer: Jede
Frittenbude in Deutschland wird besser kontrolliert als
Waffenexporte. Wenn ich in Hamburg eine Frittenbude
aufmache, dann reicht es nicht aus, dass ich am Anfang
ein Schreiben schicke, in dem ich bestätige: Ja, ich mache
jeden Tag sauber und wechsle jede Woche das Öl. - Da
kommen natürlich regelmäßig Kontrolleure und kontrollieren das. Bei den Waffenexporten ist das nicht der Fall.
Das führt dazu, dass deutsche Waffen bei allen Kriegen in der Welt auftauchen. In Mexiko hat zum Beispiel
Heckler & Koch jetzt ein Strafverfahren am Hals, weil
deutsche Gewehre plötzlich in Provinzen auftauchen, für
die ein Embargo gilt. Beim Krieg in Georgien sind plötzlich Sondereinheiten mit deutschen G36-Sturmgewehren
aufgetaucht. Diese Gewehre hätten dort gar nicht sein
dürfen; dafür gab es nie eine Genehmigung. Oder denken Sie an den Sohn von Gaddafi, der neulich in Tripolis
mit einem deutschen Sturmgewehr vom Typ G36 wedelte. Das hätte nie dort sein dürfen. Wenn man nicht
kontrolliert, wo die Waffen in den einzelnen Ländern
verbleiben, dann kommt es natürlich dazu, dass sie wild
in die ganze Welt exportiert werden.
({2})
Man sollte sich einmal anschauen, was die Amerikaner machen. Die Amerikaner haben eine entsprechende
Endverbleibskontrolle. Sie schicken gerne einmal Kontrolleure ins Land, die nachschauen, ob die Waffen wirklich da geblieben sind, wohin sie geliefert wurden. Das
ist doch das Mindeste, was Deutschland machen könnte.
({3})
Zweitens: die Frage der Menschenrechte. Es war hier
mehrfach die Rede von den Rüstungsexportrichtlinien
der Bundesregierung. Diese können Sie getrost in die
Tonne drücken; sie sind völlig unverbindlich. Es gibt in
Deutschland kein Verbot des Exports von Waffen in
menschenrechtsverletzende Staaten. Das muss man ein
für alle Mal klarstellen. Es handelt sich um eine unverbindliche Richtlinie. Es wird nämlich abgewogen zwischen den Fragen, wie viel Geld verdient wird, wie
wichtig ein Land in politischer Hinsicht ist und wie es
mit der Einhaltung der Menschenrechte im betreffenden
Land aussieht. Die Menschenrechte fallen am Ende immer hinten herunter. Anders kann man doch gar nicht erklären, dass nach Saudi-Arabien Tausende von Sturmgewehren geliefert werden,
({4})
obwohl die Bundesregierung selber in ihrem Menschenrechtsbericht schreibt, dass dort dauerhaft schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden.
Es reicht insofern nicht aus, auf die Menschenrechte
hinzuweisen, sondern eine rechtsverbindliche Regelung
muss her.
({5})
Ich bin dafür, dass als minimaler Standard festgelegt
wird, dass in ein Land, in dem es nach dem Menschenrechtsbericht der Bundesregierung dauerhaft schwere
Menschenrechtsverletzungen gibt, keine Waffen mehr
exportiert werden dürfen. - Punkt! Hier darf dann keine
Abwägung mehr vorgenommen werden.
({6})
Drittens: die Frage der Transparenz. Man muss sich
einmal vorstellen, dass wir und die Öffentlichkeit zum
Beispiel von einer Lieferung von Panzern nach Chile,
die die Bundesregierung genehmigt, erst anderthalb
Jahre später erfahren. Das darf doch wohl nicht wahr
sein. Das Mindeste ist - das finde ich auch richtig -, dass
wir vorab informiert werden, welche Anträge vorliegen
und was wann wohin gehen soll, damit wir gegebenenfalls einschreiten können. Heute kann niemand mehr die
Waffen, die nach Libyen gegangen sind, zurückholen.
Erst vor einigen Wochen haben wir erfahren, wie viele
Waffen im Jahr 2009 dorthin exportiert wurden. Für das
Jahr 2010 liegen uns ja noch gar keine Daten vor.
Schließlich unterstütze ich die Forderung der SPD,
dass die Exporte von Kleinwaffen drastisch reduziert
werden. Das aber einfach nur in den Raum zu stellen, ändert nichts. Die SPD und die Grünen haben diese Forderung schon 1998 erhoben; hinterher sind die Exporte von
Kleinwaffen aber gestiegen. Hier müssen Sie klare Grenzen ziehen. Es müssen Verbote erlassen werden, dass in
bestimmte Regionen und Staaten, die Menschenrechte
verletzen, oder wohin auch immer Waffen geliefert werden.
Ich bin im Übrigen der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte.
({7})
Mit einer vernünftigen Endverbleibskontrolle, die mit
Transparenz, klaren Menschenrechtskriterien und dem
Verbot des Exports von Kleinwaffen einhergeht, könnte
ein Anfang gemacht werden. Darauf könnte man sich
jetzt schon verständigen; das fände ich gut. In ein paar
Jahren kommt es dann zu einem Totalverbot.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Lindner für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Es
ist schade, dass wir am letzten Freitag nicht die - in der
Qualität ganz anderen - Anträge der SPD und der Grünen beraten haben. Das hätte uns deutlich mehr gebracht,
als sich ausschließlich mit dem populistischen Klientelantrag der Linken zu beschäftigen. Der Antrag der Linken hat nur dazu gedient, in irgendwelchen Antifa-Veröffentlichungen zu zeigen, dass schon etwas läuft und
wer hier gut und böse ist.
({0})
Das war doch der einzige Zweck. Die heutige Debatte
hätte also schon früher stattfinden können.
Frau Wieczorek-Zeul, was Sie hier vorgelegt haben,
ist zwar seriöser, ich wage aber, zu bezweifeln, dass Ihre
Fraktion Ihnen und damit sich einen Gefallen damit getan hat, Sie hier als Rednerin vorzuschicken.
Letzte Woche gab es den neuesten Rüstungsexportbericht. Wenn man die Zahlen darin liest, fällt einem auf,
dass zwischen dem Jahr 2003 und heute ein Gesamtvolumen an Kriegswaffenexporten aus Deutschland pro Jahr
im Wert von etwa 1,3 Milliarden Euro zu verzeichnen ist.
Das sind, um einmal die Größenordnung klarzustellen,
etwa 0,15 Prozent des Gesamtexports. Ein Jahr sticht dabei heraus, nämlich das Jahr 2005. Damals waren nicht
nur Sie als Entwicklungshilfeministerin, sondern auch
Außenminister Joseph Fischer im Bundessicherheitsrat
vertreten. In diesem Jahr wurden Kriegswaffen mit einem
Wert von 1,63 Milliarden Euro exportiert. Das machte
0,26 Prozent des Gesamtexports aus.
({1})
Jetzt könnten wir natürlich denken, dass es sich dabei
vielleicht um besondere Exporte in verbündete NATOStaaten handelte. Wenn man sich das Ganze etwas ge11384
Dr. Martin Lindner ({2})
nauer anschaut, kommt man zu dem Ergebnis, dass von
den 1,6 Milliarden Euro Exporte im Wert von 911 Millionen Euro in Entwicklungsländer gingen, für die Sie
zuständig waren, Frau Wieczorek-Zeul.
({3})
Dennoch sagten Sie uns gerade: Waffenlieferungen in
Länder, die nicht der Demokratie verpflichtet sind, sind
zu untersagen.
({4})
- Entschuldigung, Sie waren die dienstälteste Ministerin, als Schwarz-Rot abgewählt wurde. Sie waren jahrelang zuständig. Kaum sind Sie aus dem Amt, erzählen
Sie uns hier etwas vom Pferd und sagen, was einzuschränken sei.
({5})
Das ist doch wirklich nicht glaubwürdig.
({6})
Genau in dem Jahr, in dem Rot-Grün hauptverantwortlich war, stieg die Anzahl der Kriegswaffenexporte.
Jetzt werden wieder Kriegswaffen im Wert von etwa
1,3 Milliarden Euro exportiert.
Kriegswaffenexport ist in seinem Wesen kein Problem des Kleinwaffenexports. Kleinwaffen sind sozusagen Stangenware auf diesem Markt. Diese Länder, auch
Saudi-Arabien, können sie überall kaufen. Das große
Problem und die ernsthafte Herausforderung sind hochtechnologische Waffensysteme. Wenn Sie dieses Thema
beleuchten, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass eine besondere Herausforderung darin besteht, dass die Absatzmärkte innerhalb der NATO und innerhalb der EU in den
Jahren des Kalten Krieges deutlich größer waren. Gott
sei Dank haben wir mittlerweile eine andere Sicherheitslage. Daher sind die entsprechenden Unternehmen jetzt
in der Bedrängnis, nur noch wesentlich geringere Stückzahlen verkaufen zu können, was die Stückpreise erhöht.
Allerdings haben die Staaten der Europäischen Union
feste Budgets, was zusätzlichen Druck bedeutet.
Die einzig sinnvolle Forderung, die wir in diesem Bereich aufstellen müssen, lautet doch, dass es innerhalb
der Europäischen Union nicht nur, was die Rüstungsunternehmen angeht, sondern auch, was die Rüstungsbudgets betrifft, zu einer Harmonisierung und Integration
kommt. Nur dann können die Stückzahlen innerhalb unserer Wertegemeinschaft so erhöht werden, dass der ökonomische Druck, Exporte in Länder außerhalb der EU zu
tätigen, nicht mehr in der Weise besteht wie im Moment.
Die Forderung lautet also, die Rüstungsprogramme innerhalb der Europäischen Union zu harmonisieren.
({7})
Ein weiteres Thema ist Dual Use. Dazu habe ich am
vergangenen Freitag ebenfalls schon etwas gesagt. Auch
hier ist es doch nicht so, wie Sie suggerieren: dass die
deutschen Unternehmen diejenigen sind, die andere an
den Rand drängen. Vielmehr machen zahlreiche Konkurrenzunternehmen aus anderen Ländern der Europäischen Union regelrecht Werbung: Kauft diese Produkte
nicht bei deutschen Unternehmen, sondern kauft sie bei
uns. Wir haben zwar möglicherweise schlechtere Produkte, aber bis die deutschen Anbieter ihre Exportgenehmigung bekommen, habt ihr schon längst, was ihr
braucht. - Das ist doch die Realität.
Wir müssen überlegen, wie wir zu schnellen Verfahren kommen, die natürlich auch zu einer Ablehnung eines Antrags führen können. Um dies zu erreichen, kann
das Ziel sinnvollerweise nur eine Harmonisierung europäischer Anforderungen an die Exportbestimmungen für
Dual-Use-Produkte sein.
({8})
Nur dann, wenn wir gleichgerichtete Vorschriften haben,
besteht kein Konkurrenzverhältnis mehr innerhalb der
Europäischen Union und innerhalb der NATO.
({9})
Meine Damen und Herren, der Kollege Fritz hat
schon das meiste zu der Forderung nach einer Vorabbefassung des Deutschen Bundestages gesagt. Wir haben
eine Exekutive und eine Legislative. Wir tun uns keinen
Gefallen - ich habe dasselbe gesagt, als ich in einem anderen Parlament Oppositionspolitiker war -, wenn wir
als Parlament bei klassischen Angelegenheiten der Exekutive unsere Finger im Spiel haben. Wir haben gar nicht
die Kompetenz und die Mitarbeiter dafür.
({10})
- Herr van Aken, Sie natürlich schon. Sie haben Mitarbeiter dafür; Sie haben Tausende von Beamten in Ihrer
Fraktion, die einzelne Rüstungsexportgenehmigungsanträge prüfen können. - Das glauben Sie doch wohl selber
nicht. Das ist doch völliger Blödsinn; Sie betreiben hier
nur Populismus. Wenn Sie sich ernsthaft damit beschäftigen, kommen Sie nicht zu dem Ergebnis, dass der
Deutsche Bundestag eine Rüstungsexportkontrollbehörde werden kann; das ist ausgeschlossen. Der Geheimschutz und Nachrichtendienste wie der BND sind in diesem Bereich beteiligt.
({11})
Man kann das doch nicht im Deutschen Bundestag machen.
Im Übrigen kommt es oft zu der Situation, dass es im
Zuge eines solchen Genehmigungsverfahrens zu einer
Rücknahme des Antrags kommt; mit dieser Möglichkeit
kann man dem Unternehmen eine öffentliche Darstellung ersparen. So handelt man sinnvoll. Diese Bundesregierung und diese Koalition werden dieses Thema genauso verantwortlich wie die Vorgängerregierungen
handhaben.
({12})
Dr. Martin Lindner ({13})
Wir werden in einem Spannungsfeld von berechtigten
Interessen unserer Industrie und Sicherheitsinteressen
eine vernünftige Abwägung treffen. Ich habe auch angesichts der beteiligten Minister überhaupt keine Sorge,
dass hier planlos die Schleusen geöffnet werden. Alle
Damen und Herren, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigen, handeln verantwortungsvoll; sie ist bei ihnen in
guten Händen.
({14})
Herzlichen Dank.
({15})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gestern haben wir in den Ausschüssen über
den Rüstungsexportbericht debattiert, aber leider nicht
über den von 2010, sondern über den von 2009. Es ist
wieder einmal über ein Jahr ins Land gegangen; die im
Berichtszeitraum gelieferten Waffen sind längst im Einsatz.
2009 wurden Exporte im Wert von mehr als
5 Milliarden Euro genehmigt. Dabei wurde nicht nur an
verbündete Demokratien geliefert: Der Wert der genehmigten Kriegswaffenausfuhren an Drittstaaten war mehr
als doppelt so hoch wie der Wert der Ausfuhren an EUund NATO-Staaten. Dabei darf nach der Rüstungsexportrichtlinie der Bundesregierung eigentlich nur in Ausnahmefällen an Drittstaaten geliefert werden. Diese Entwicklung ist ganz klar gesetzeswidrig.
({0})
Darüber hinaus ist die Berücksichtigung menschenrechtlicher Standards in dieser Richtlinie festgeschrieben. Dennoch wurde an Mubarak, Gaddafi und andere
Despoten geliefert.
({1})
Saudi-Arabien hat gleich eine ganze Waffenfabrik bekommen.
Das Problem liegt auf der Hand: Die Bundesregierung unterliegt in diesen Bereichen weder einer parlamentarischen noch einer gerichtlichen Kontrolle. Sie
trifft ihre Exportentscheidungen in geheim tagenden
Gremien, ohne sich dafür irgendwo rechtfertigen zu
müssen.
({2})
Sie fühlt sich zur Auskunft über einzelne Ausfuhrgenehmigungen und deren Begründung nicht verpflichtet.
({3})
Die Lobby der Menschenrechte kann mit den Wirtschaftsinteressen hier gar nicht mithalten. Der Kollege
Lindner hat uns schon letzte Woche eindrücklich vor
Augen geführt, was die Koalition von einer restriktiven
Exportpolitik hält, als er hier zum Thema Rüstungsexporte ein flammendes Bekenntnis zur Exportnation
Deutschland abgegeben hat.
Die SPD erhebt in ihrem Antrag die berechtigte Forderung nach Transparenz und parlamentarischer Beteiligung. Im Kern der Forderung steht die frühzeitige
Einbindung des Deutschen Bundestages in die Genehmigungsverfahren. Diese Forderung teilen wir Grünen, da
die Bundesregierung nur so gezwungen werden kann,
ihre Entscheidungsgründe offenzulegen.
Richtig ist auch die Forderung, die Konversion von
Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie zu unterstützen;
denn gerade der europäische Markt wird aufgrund der
Sparmaßnahmen künftig nicht mehr wie im bisherigen
Umfange für die Abnahme von Rüstungsgütern zur Verfügung stehen. Die Rüstungsexportrichtlinie ist eindeutig: „Beschäftigungspolitische Gründe“ dürfen bei der
Genehmigung „keine ausschlaggebende Rolle spielen“;
der Rüstungsexport in Drittstaaten darf „nicht zum Aufbau zusätzlicher, exportspezifischer Kapazitäten führen“.
Auch wenn wir den Antrag der SPD grundsätzlich unterstützen, habe ich einige Verbesserungsvorschläge. Zunächst einmal greift der Titel des Antrags zu kurz. Wir
sind nicht nur dafür, „die Ausweitung von Rüstungsexporten“ zu stoppen; es geht uns darum, den Umfang der
Rüstungsexporte zu verringern.
({4})
Zu diesem Zweck wäre es hilfreich, die Rüstungsexportrichtlinie und den EU-Kodex für Waffenausfuhren in das
Außenwirtschaftsgesetz zu integrieren, um den Normen
damit eine höhere Verbindlichkeit zu verschaffen.
Wir sind außerdem für die konsequente Übertragung
der Federführung vom Wirtschaftsministerium an das
Auswärtige Amt, wo die Einschätzung von Krisenregionen und Menschenrechtslagen deutlich besser aufgehoben sein dürfte.
Zuletzt noch einige Worte zu Heckler & Koch: Da wir
bereits am 10. Februar über den Antrag der Linken debattiert haben, mache ich es kurz. Das Unternehmen
steht im Verdacht, Waffen nach Mexiko geliefert zu haben, und zwar in Provinzen, in die es nicht hätte liefern
dürfen. Die Bundesregierung hat deswegen die Genehmigung der Ausfuhranträge nach Mexiko ausgesetzt. Da
der Verdacht der Unzuverlässigkeit aber gerade nicht das
Empfängerland, sondern das exportierende Unternehmen betrifft, reicht es nicht, die Aussetzung auf Mexiko
zu beschränken.
({5})
Leider musste die Fraktion der Linken unbedingt
noch die Forderung nach einem Totalverbot aller Waffenexporte anhängen und dazu das Grundgesetz bemühen.
({6})
Wahrscheinlich wollen Sie einfach nicht, dass wir Ihren
Anträgen zustimmen. Aber bei uns ist es anders: Wir
freuen uns über Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als nächster Redner
hat unser Kollege Dr. Reinhard Brandl von der Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich wundere mich schon darüber, welche
Debatte wir heute führen und - genauer gesagt - was die
SPD heute hier fordert.
({0})
Der Wunsch, dem Parlament ein Mitspracherecht bei
Rüstungsexporten einzuräumen, ist nicht wirklich neu.
Am 19. Oktober 2000 hat zum Beispiel die damalige
PDS einen Antrag ins Parlament eingebracht, in dem sie
genau das fordert. Meine Damen und Herren von der
SPD, ich erspare es Ihnen, jetzt darzulegen, mit welcher
Begründung die Redner der SPD dies damals abgelehnt
haben.
({1})
Ich könnte die SPD-Reden von damals heute fast selbst
halten.
Meine Damen und Herren, Sie waren danach noch
neun Jahre an der Regierung beteiligt. Warum haben Sie
denn in dieser Zeit keine Parlamentsbeteiligung eingeführt?
({2})
Zumindest mit Blick auf die Zeit bis 2005 können Sie
wohl nicht sagen, dass es an uns gelegen habe.
({3})
Ich vermute, dass es nicht an den Grünen lag, sondern
daran, dass Sie selbst es nicht als sinnvoll erachtet haben. Da hatten Sie recht: Wir sind als Parlament keine
Genehmigungsbehörde.
({4})
Das ist klassische Aufgabe von Verwaltung und Regierung. Der Kollege Fritz hat es vorhin ausgeführt.
Aber wir üben parlamentarische Kontrolle aus. Diese
Aufgabe müssen wir ernst nehmen. Ich bin zum Beispiel
in dem Punkt, den Sie in Ihrem Antrag aufführen, nämlich dass die Rüstungsexportberichte schneller vorgelegt
werden müssen, völlig Ihrer Meinung. Frau Kollegin
Keul hat es ebenfalls angesprochen.
({5})
Aber warum Sie jetzt plötzlich bei der Frage der Parlamentsbeteiligung auf die Position der Linken umschwenken, ist mir nicht erklärbar.
({6})
- Diese Position haben Sie übernommen. Ich möchte
über die Gründe nicht spekulieren; das ist Ihre Sache.
Mich stört aber, dass Sie in Ihrem Antrag unterschwellig den Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung bei der Genehmigung von Exportgeschäften seit
Ihrem Ausscheiden aus der Regierung plötzlich verantwortungslos handelt.
({7})
Das ist nicht gerechtfertigt; das wissen Sie auch. Deswegen verwenden Sie in Ihrem Antrag vorsichtshalber auch
nur Formulierungen wie „es könnte sein“, „es besteht die
Gefahr, dass … “ und „das kann dazu führen“.
Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, dass die
Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus
Ihrer rot-grünen Regierungszeit und der Gemeinsame
Standpunkt der Europäischen Union aus 2008 unverändert Grundlage für Genehmigungen sind. Die christlichliberale Koalition hat daran nichts geändert.
Die Entscheidungen über Ausfuhranträge erfolgen
einzelfallbezogen unter besonderer Berücksichtigung
der außenpolitischen Position und der Menschenrechtslage im Empfängerland. Genehmigungen werden nur erteilt, wenn zuvor der Endverbleib im Endempfängerland
sichergestellt ist. Auch an diesem Verfahren haben wir
nichts geändert. Die Kriterien, die in Ihrer Regierungszeit galten, gelten auch heute noch.
Kollege Dr. Reinhard Brandl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ja, ich gestatte sie.
Dann hat der Kollege Ströbele jetzt Gelegenheit, eine
Zwischenfrage zu stellen.
Danke, Herr Präsident. - Sie haben mich aufmerken
lassen, als Sie gesagt haben, der Endverbleib werde sichergestellt. Wie wird er sichergestellt? Was sagen Sie
dazu, dass die Regierung des Landes, in das geliefert
wird - das gilt zum Beispiel im Fall von Mexiko -, nicht
einmal darüber informiert wird, dass es eine Einschränkung gibt? Wie soll angesichts dessen der Endverbleib
sichergestellt werden? Können Sie mir das erklären?
Es ist richtig, dass es Fälle wie den gibt, den Sie ansprechen. Wir erfahren davon manchmal aus der Presse.
Auch ich habe mich geärgert, als ich Gaddafi gesehen
habe oder als gemeldet wurde, dass Heckler & Koch
Waffen in eine Unruheprovinz geliefert haben soll.
({0})
Der Punkt ist: Das müssen wir aufklären. Im Fall von
Heckler & Koch sind Gerichte dafür zuständig. Diese
Ermittlungen warten wir ab.
Jedes Jahr werden viele Anträge gestellt. Ich glaube,
es sind 16 000 Anträge. Das ist eine große Zahl.
({1})
Wenn es in Einzelfällen zu Problemen kommt, dann
muss man daraus lernen. Das ist ja richtig.
({2})
Vielen Dank für die Zwischenfrage, Herr Kollege.
Es gibt einen zweiten Punkt in Ihrem Antrag, der
mich stört. Sie stellen sehr undifferenziert jede mögliche
Ausweitung von Rüstungsexporten als Gefahr für den
Frieden dar. Es findet sich zum Beispiel kein Hinweis
darauf, dass der größte Teil der tatsächlich ausgeführten
Kriegswaffen in NATO-, der NATO gleichgestellte oder
EU-Länder geht. 2009 waren es 76 Prozent. Da stellt
sich die Frage, wie Sie es grundsätzlich mit der deutschen Rüstungsindustrie halten. Mich stört die Doppelzüngigkeit, mit der hier manchmal gesprochen wird. Wir
fordern hier immer wieder - diesbezüglich gibt es einen
breiten Konsens -, dass die Bundeswehr für ihre Aufgaben bestmöglich ausgerüstet wird. Ich bin froh, dass wir
wesentliche Kompetenzen dafür in unserem eigenen
Land haben. Das liegt in unserem ureigenen sicherheitspolitischen Interesse.
Es versteht wirklich jeder, dass man mit dem Export
von Rüstungsgütern sehr sensibel umgehen muss. In
Deutschland haben wir ein Genehmigungs- und Kontrollverfahren dafür gefunden. Das haben Sie in Ihrer
Regierungszeit praktiziert, und wir haben es fortgeführt.
Deshalb ist es unfair, eine ganze Branche und damit die
Arbeit vieler Tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
in den Betrieben pauschal zu verurteilen, als unethisch
zu bezeichnen und diese Menschen damit in eine bestimmte Ecke zu stellen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege
Jan van Aken.
Ich möchte nur kurz auf die Debatte, die wir in der
letzten Woche hier geführt haben, zurückkommen. Herr
Fritz, ich habe Sie in der letzten Woche an dieser Stelle
einen Rüstungslobbyisten genannt.
({0})
Das würde ich gerne zurücknehmen, weil ich noch nicht
weiß, ob Sie ein Rüstungslobbyist sind oder nicht. Ich
weiß das von einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion. Herr
Kauder zum Beispiel vertritt gerne Heckler & Koch als
Anwalt. Von Ihnen weiß ich das aber nicht. Deswegen
entschuldige ich mich an dieser Stelle für diesen Vorwurf.
({1})
Kollege Fritz, wollen Sie antworten?
Ich nehme das gerne entgegen, Herr Präsident.
Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Daher
schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5054 und 17/5204 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die
Fraktionen der Sozialdemokraten und des Bünd-
nisses 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
abstimmen, also Federführung beim Auswärtigen Aus-
schuss.
Wer stimmt für diese Überweisungsvorschläge? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Überwei-
sungsvorschläge sind abgelehnt.
Jetzt lasse ich über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
nämlich Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
Vizepräsident Eduard Oswald
und Technologie. Wer stimmt für diese Überweisungs-
vorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Überweisungsvorschläge sind angenommen. Damit
liegt die Federführung zu beiden Vorlagen beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze
- Drucksache 17/5178 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Krankenhausinfektionen vermeiden - Tödliche und gefährliche Keime bekämpfen
- Drucksache 17/4489 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prävention von Krankenhausinfektionen verbessern
- Drucksache 17/5203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat zunächst Bundesminister Dr. Philipp
Rösler.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Schätzungen zufolge
gibt es jährlich 400 000 bis 600 000 sogenannte Krankenhausinfektionen und aufgrund solcher Infektionen
jährlich circa 7 500 bis 15 000 tote Menschen in Deutschland. Es trifft dann meist die Älteren, die Schwachen und
im wahrsten Sinne des Wortes die Kranken im System.
All diese Menschen haben keine Lobby. Sie haben keine
Interessenvertreter - mit einer Ausnahme: Diejenigen,
die genau die Interessen dieser Menschen vertreten, sind
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages; denn die
Initiative zu diesem Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes stammt aus den Reihen der Abgeordneten von CDU/CSU und FDP.
Das gemeinsame Ziel ist es, mit den vorhandenen guten Instrumenten - auch mit den Instrumenten, die die
Vorgängerregierungen geschaffen haben - die Menschen
in Deutschland künftig vor solchen Krankenhausinfektionen besser schützen zu können, als dies bisher der Fall
ist.
({0})
Ein Problem bei diesen Infektionen ist nicht allein
ihre hohe Zahl, sondern der Anteil an resistenten Erregern. Fachleute beziffern den Anteil der Krankenhausinfektionen in Deutschland aufgrund dieser Erreger auf bis
zu 20 Prozent. In den Niederlanden - zum Vergleich beträgt dieser Anteil gerade einmal 1 Prozent.
Man kann solche Resistenzen durch den richtigen
Einsatz von antibiotischen Medikamenten verhindern.
Deswegen sieht dieses Gesetz die Einrichtung einer
„Kommission Antiinfektiva, Resistenz und Therapie“
am Robert Koch-Institut vor. Das ist eine wissenschaftliche Kommission, die Leitlinien für den richtigen Gebrauch von Antibiotika entwickeln soll. Denn uns geht
es nicht nur darum, Infektionen, die es gibt, zu bekämpfen, sondern auch darum, Infektionen durch einen besseren und optimalen Einsatz von Antibiotika von vornherein zu verhindern.
({1})
Die Existenz solcher Gesetze allein reicht aus unserer
Sicht nicht aus. Zum Teil gibt es zwar schon gute Empfehlungen; die Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie ist
hier nur ein Beispiel. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass solche Gesetze dann in der Praxis umgesetzt
werden.
Am Robert Koch-Institut gibt es bereits eine Kommission; sie heißt „Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention“, kurz: KRINKO. Diese
Kommission hat schon längst Empfehlungen entwickelt,
wie beispielsweise die Prozesse in den Kliniken, aber
auch die baulichen Maßnahmen daraufhin ausgerichtet
werden können, um die Anzahl von Krankenhausinfektionen künftig zu reduzieren oder sie gar ganz zu vermeiden.
Das Problem ist nur, dass solche Vorschläge bisher
nur empfehlenden Charakter haben. Mit diesem Gesetz
bekommen diese Fachempfehlungen eine höhere Verbindlichkeit. Wir stellen damit sicher, dass es nicht nur
gute Gesetze und nicht nur gute Vorgaben gibt, sondern
dass diese Vorgaben im klinischen Alltag auch umgesetzt werden. So können die Menschen vor Krankenhausinfektionen besser geschützt werden.
({2})
Erreichen wollen wir dies, indem wir den Ländern die
Möglichkeit geben, ohne ein eigenes Landeshygienegesetz eine Hygieneverordnung auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes des Bundes auf den Weg zu bringen.
Bisher gibt es nur sieben Bundesländer, die eine solche
eigene Hygieneverordnung haben. Wir wollen nicht nur,
dass mehr Länder Hygieneverordnungen auf den Weg
bringen und dass sie dies schneller tun, sondern wir wollen auch möglichst einheitliche Standards. Nach diesem
Gesetzestext wäre die Einheitlichkeit dadurch gegeben,
dass immer dann davon auszugehen ist, dass man den
Stand der Wissenschaft eingehalten hat, wenn man die
Empfehlungen der KRINKO befolgt. Damit stellen wir
beide Ziele sicher: mehr und schneller erlassene Hygieneverordnungen auf Landesebene und gleichzeitig eine
Vereinheitlichung. Erreger machen nicht an Landesgrenzen halt. Deswegen hat es Sinn, die Schutzmaßnahmen
nicht an Landesgrenzen auszurichten, sondern möglichst
bundeseinheitlich auszugestalten.
Ebenso wollen wir dafür sorgen, dass die Ergebnisse
solcher Maßnahmen künftig gemessen werden können
und diese Ergebnisse veröffentlicht werden, damit die
Menschen ein Stück weit selbst einen Einblick in die
Hygienesituation in den jeweiligen medizinischen Einrichtungen bekommen. Auch das kann bewirken, dass
der Anreiz für die Kliniken größer wird, selber für bessere Hygienemaßnahmen zu sorgen.
Ebenso möchten wir, dass die Menschen, die heute
mit resistenten Erregern befallen sind, schon im ambulanten und nicht erst im stationären Bereich als Hochrisikopatient erkannt werden und dass sie, noch bevor sie mit
solchen hochresistenten Stämmen stationär im Krankenhaus aufgenommen werden, davon befreit, also saniert
werden. Dadurch wird verhindert, dass sich solche Erreger in den Kliniken verbreiten. Wir wollen die betroffenen Menschen, wie gesagt, von vornherein im ambulanten Bereich von diesen Erregern befreien und damit
einen höheren Schutzgrad in den Kliniken erreichen.
({3})
Insgesamt können wir feststellen, dass es schon heute
durchaus gute Maßnahmen gibt, zum Beispiel die „Aktion Saubere Hände“, die ganz konkret in den klinischen
Alltag integriert werden können. Wir brauchen aber weitere Instrumente; wir haben einige vorgeschlagen. Fachleute gehen davon aus, dass man die Zahl der Infektionen durch bessere Hygienemaßnahmen langfristig um 20
bis 30 Prozent senken kann. Es sollte unser gemeinsames Ziel sein, die Zahl der Krankenhausinfektionen zum
Schutz der Patientinnen und Patienten zu senken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als Nächste hat das Wort unsere Kollegin Bärbel Bas
von der Fraktion der Sozialdemokraten.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist in der Tat ein äußerst wichtiges Thema. Das Robert
Koch-Institut - dessen Namensgeber hat nicht grundlos
einen Nobelpreis für seine Forschung in dem Bereich bekommen und gilt heute als Vorreiter für die moderne
Krankenhaushygiene - setzt Standards und gibt Empfehlungen. Aber das Problem, das wir in der Tat haben - das
haben Sie richtig beschrieben, Herr Minister -, ist, dass
diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden; sonst
müssten wir uns heute hier im Hause nicht über dieses
Thema unterhalten.
Ich glaube, wir brauchen uns nicht über die Zahl, wie
viele Menschen sich infizieren, zu streiten. Jeder Einzelne ist einer zu viel. Wer mit Menschen gesprochen
hat, die Angehörige durch solch eine Infektion im Krankenhaus verloren haben, weiß das. Diese Infektionen
können auch Amputationen zur Folge haben. Der Leidensweg für die Betroffenen ist lang. Zu dem Leid des
Einzelnen kommen die hohen Kosten der Behandlung
solcher Infektionen hinzu.
Was müssen wir tun? Wie können wir eine Lösung
finden? Ich weiß, dass ein Argument ist, dass wir auf der
Bundesebene nicht viel tun können, weil die Krankenhäuser Länderangelegenheit sind. Wir sollten uns, wenn
wir Ihren Gesetzentwurf betrachten, fragen, ob wir alle
nicht mutiger sein sollten. Es gibt schon jetzt über alle
Fraktionen hinweg weitaus bessere Vorschläge, die Krankenhaushygiene zu verbessern. Ich weiß, dass selbst die
Kollegen Ihrer eigenen Fraktion deutlich weitreichendere Vorschläge gemacht haben, als man sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf findet. Das finde ich bemerkenswert.
Sie haben zum Beispiel gesagt, dass die Länder die
Verordnung jetzt umsetzen sollen; bisher hätten das nur
sechs oder sieben Länder getan. Das ist richtig; aber
dann müssen Sie, finde ich, den Ländern eine Frist setzen. Es bringt nichts, dies auf den Sankt-NimmerleinsTag zu vertagen. Die Länder sollten nicht wieder unendlich viel Zeit haben, um etwas für die Krankenhaushygiene zu tun.
Kollege Spahn und ich sind beide aus NRW. Es gibt
dort ein bemerkenswertes Projekt, bei dem es ein Screening von Risikopatienten direkt bei der Aufnahme im
Krankenhaus gibt. Dieses anerkannte Projekt hat schon
tolle Erfolge erzielt. Ich verstehe nicht, warum so etwas
nicht als Standard in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen
wird.
({0})
Ich denke, es ist eine wichtige Entscheidung, Risikopatienten direkt bei Aufnahme zu screenen. Die Daten
und Zahlen, die wir dabei gewinnen, müssen ausgewertet und transparent gemacht werden. Vor allen Dingen ist
es wichtig, sie der Forschung zur Verfügung zu stellen,
damit herausgefunden werden kann, warum es zu diesen
Infektionen kommt.
Außerdem brauchen wir deutlich mehr Fachpersonal;
das werden auch meine Kollegen sicherlich noch ansprechen. Wir haben auf diesem Gebiet schon Know-how
verloren, und zwar massiv. Selbst wenn wir jetzt auf
Bundesebene die Forderung aufstellen, dass es ab einer
Krankenhausgröße von 300 oder 400 Betten in jedem
Krankenhaus Hygienefachärzte gibt, müssen wir feststellen: Wir können diese Forderung nicht erfüllen, weil
das nötige Hygienefachpersonal nicht vorhanden ist.
Dennoch finde ich, dass eine solche Regelung, bezogen
auf eine bestimmte Bettenanzahl oder Fallzahl, auf jeden
Fall als Standard in dieses Gesetz gehört. Ich glaube,
Ihre FDP-Kollegen haben eine Größenordnung von
30 000 Fällen vorgeschlagen. Diese Regelung sollte man
in das Gesetz aufnehmen. Man darf nicht so vage bleiben.
({1})
Ein weiterer Aspekt ist - ich habe das mit Spannung
gelesen; deswegen will ich darauf zu sprechen kommen -:
Sie sagen, dass ambulant tätige, niedergelassene Ärzte
Sanierungen durchführen und dafür eine Abrechnungsziffer bekommen sollen. Ich persönlich halte das - abgesehen davon, dass es vielleicht Geldverschwendung ist medizinisch bzw. aus hygienischen Gründen nicht für
sinnvoll.
Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Ein Patient wird,
eine Woche oder 14 Tage nachdem er beim Arzt war, ins
Krankenhaus aufgenommen. In der Zwischenzeit war er
vielleicht im Pflegeheim oder zu Hause und hat sich den
Keim schon wieder irgendwo anders eingefangen. Ich
finde, es ist medizinisch sinnvoller, in ein Aufnahmescreening in einer stationären Einrichtung zu investieren,
als es im ambulanten Bereich durchführen zu lassen. Ich
glaube, es bringt uns in Sachen Hygiene überhaupt nicht
weiter, das Aufnahmescreening weiterhin niedergelassenen Ärzten zu überlassen. Das macht für mich in medizinischer und hygienischer Hinsicht keinen Sinn.
({2})
Wir brauchen Eingangsscreenings im Hinblick auf
Risikogruppen. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Ihren Blick nach NRW zu richten, sich mit dem Projekt,
von dem ich sprach, zu beschäftigen und sich die entsprechenden Zahlen anzuschauen. Es wurde in diesen
Bereich investiert. Es ist nachgewiesen, dass sich Investitionen in die Krankenhaushygiene im Verhältnis
1 zu 10 rechnen. Ich finde, das ist bemerkenswert und
auf Bundesebene nachahmenswert.
Ich kann Sie nur auffordern, alle Vorschläge, die auf
dem Tisch liegen - seien sie von den Linken, seien es
unsere Vorschläge zum Hygienepersonal, seien sie von
Ihrer eigenen Fraktion -, ernst zu nehmen und diesen
Gesetzentwurf deutlich zu verbessern. Wir brauchen
eine Verbesserung im Bereich der Hygiene, damit die
Menschen, wenn sie ins Krankenhaus kommen, keine
Angst mehr haben müssen, dass sie sich möglicherweise
infizieren und das Krankenhaus noch kränker verlassen,
als sie es waren, bevor sie ins Krankenhaus kamen.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. - Als Nächster hat
unser Kollege Lothar Riebsamen von der Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ob im Krankenhaus, in der Praxis, im Pflegeheim - geschwächte Menschen geben sich überall, wo
sie unterwegs sind, jeden Tag millionenfach die berühmte Klinke in die Hand. Nun möchte ich nicht behaupten, dass die Türklinken in diesem Zusammenhang
das größte Problem sind. Aber in der Tat - der Herr
Minister hat es erwähnt - ist die Zahl der Krankenhausinfektionen und vor allem die Zahl derjenigen, die daran
sterben, allzu hoch. Diese Zahl ist sogar höher als die der
Verkehrstoten, die wir in diesem Land jedes Jahr zu verzeichnen haben. Es ist daher richtig, dies zu ändern.
Heute ist somit ein guter Tag für die Patientinnen und
Patienten in unserem Land.
({0})
Ich denke, es ist nicht nur ein guter Tag, sondern auch
ein gutes Jahr für die Patientinnen und Patienten. Denn
wir bringen nicht nur diesen Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Infektionsschutzgesetzes in den Bundestag ein, sondern wir werden ihm auch ein Patientenschutzgesetz folgen lassen, um die flächendeckende Versorgung mit Ärzten im Land sicherzustellen. Außerdem
werden wir, ebenfalls noch in diesem Jahr, ein Patientenrechtegesetz erarbeiten, mit dem wir dafür sorgen werden, dass sich Patienten und Leistungserbringer mehr
auf Augenhöhe begegnen.
({1})
Im europäischen bzw. im internationalen Vergleich
stehen wir übrigens gar nicht so schlecht da. Es gibt Länder, in denen die Infektionsraten noch höher sind als in
Deutschland. Allerdings gibt es auch Länder, die deutlich geringere Infektionsraten zu verzeichnen haben. Wir
müssen und wollen uns an den Ländern orientieren, die
es bisher besser machen als wir.
({2})
Die Problematik liegt vor allem darin, dass viele Infektionen durch zunehmend resistente Keime entstehen,
die dann nur schwer therapierbar sind und eine sehr
lange Behandlungsdauer erfordern. Es kommt hinzu,
dass unsere Gesellschaft älter wird. Älter werdende Patienten sind natürlich noch anfälliger.
Deswegen werden wir drei Wege gehen, um zu einer
Verbesserung der Situation zu kommen: Erstens. Wir
werden mit diesem Gesetz die Hygienequalität unmittelbar in den Einrichtungen verbessern. Zweitens. Wir werden für einen sachgerechteren Einsatz von Antibiotika
sorgen, um Resistenzen zu minimieren. Drittens. Wir
werden sektorübergreifend für mehr Prävention sorgen.
({3})
Ich komme zu meinem ersten Punkt: die Verbesserung der Hygienequalität. Dazu brauchen wir alle Bundesländer im Boot.
({4})
Wir haben es gehört: Es sind bisher sieben Bundesländer
im Boot. Baden-Württemberg gehört seit dem 1. Januar
2011 dazu. 7 Bundesländer von 16 haben eine Hygieneverordnung erlassen. Daran mag man erkennen, dass die
Priorität noch nicht in allen Ländern an der gleichen
Stelle gesetzt wird. Wir werden die Länder daher motivieren, im föderativen Wettbewerb zu handeln. Wir werden aber auch für Wettbewerb um Qualität innerhalb der
Einrichtungen sorgen.
Es ist richtig, den Richtlinien zur Krankenhaushygiene, die es beim Robert Koch-Institut bereits gibt, Gesetzes-charakter zu verleihen, um ihnen mehr juristisches
Gewicht zu geben. Es muss klar sein, dass die Einhaltung des Standes der Technik und der Wissenschaft zukünftig verpflichtend sein muss. Ein Baustein dafür wird
ein Mehr an Qualitätssicherung und Transparenz sein.
Dafür ist es notwendig, Indikatoren zu schaffen, die eine
Vergleichbarkeit ermöglichen.
Wir werden den Gemeinsamen Bundesausschuss auffordern, den Kliniken, den Einrichtungen und uns entsprechende Indikatoren vorzugeben. Die Risikolage ist
von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich. Es
reicht nicht aus, schlicht und ergreifend Informationen
über die Anzahl der Infektionen ans Schwarze Brett zu
tackern oder im Internet zu veröffentlichen. Wir brauchen Vergleichbarkeit. Es muss für jeden nachvollziehbar sein - auch für die Patientinnen und Patienten -, ob
es sich um eine vermeidbare Infektion handelt. Kolibakterien haben beispielsweise nichts in einem Hüftgelenk
zu suchen.
({5})
Es muss für jeden nachvollziehbar sein, ob es sich um einen deutlich komplexeren Sachverhalt handelt.
({6})
Es nützt herzlich wenig, Pläne zu machen, wenn diese
Pläne nicht umgesetzt werden. Deswegen werden wir
auch Vorgaben zur Umsetzung machen. Ich habe am
Wochenende mit einem Architekten geredet, der den
Auftrag hat, einen OP-Saal zu sanieren, auch in hygienischer Hinsicht. Er hat mir erzählt, dass während seiner
ersten Aufnahme der Situation ein leitender Mitarbeiter
mit einem Tablett voller Wurstbrötchen durch den aseptischen Bereich des OPs gewandelt ist. Da nützen Hygienerichtlinien natürlich nichts.
({7})
Da nützen auch große bauliche Maßnahmen nichts. Der
Faktor Mensch spielt eine große Rolle. Deswegen
kommt den Führungskräften in den Häusern eine besondere Verantwortung zu. Sie dürfen es nicht ignorieren,
wenn im nachgeordneten Bereich Fehler gemacht wurden. Mit diesem Gesetz werden die Leiter der Einrichtungen zukünftig in Haftung genommen, wenn unsere
Vorgaben nicht eingehalten werden.
({8})
Ein zweiter Punkt ist der gezieltere Einsatz von Antibiotika, um Resistenzen zu minimieren. Wir werden eine
neue Kommission einrichten, die sich mit antiinfektiver
Resistenz und Therapie beschäftigt. Die erarbeiteten
Standards werden Gesetzescharakter und dadurch ein
größeres juristisches Gewicht erhalten. Der Gemeinsame
Bundesausschuss wird verpflichtet, diese Indikatoren
auf der Grundlage der etablierten Systeme - Erfassung,
Auswertung und Rückkopplung - für einen rationalen
Einsatz zu erarbeiten, damit Antibiotika nur dort eingesetzt werden, wo es tatsächlich auch angezeigt ist.
Ein dritter Punkt ist die sektorübergreifende Prävention. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf entsprechende Anreize schaffen und die vertragsärztliche Vergütung verändern. Das Screenen von Risikopatienten,
zum Beispiel vor planbaren Operationen, und das Sanieren wird vergütet, um das Risiko innerhalb der Kliniken
und auch sektorübergreifend - wie gesagt: Der Erreger
kann vom Krankenhaus ins Pflegeheim oder in die Praxis transportiert werden - zu reduzieren.
Mit der Änderung dieses Infektionsschutzgesetzes
werden wir eine deutliche Verbesserung für die Patienten
in Bezug auf ihr Leid erlangen,
({9})
aber wir werden auch ein deutliches Mehr an Wirtschaftlichkeit für die Krankenhäuser und auch für die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt erreichen.
({10})
Freilich sind Vorleistungen der Einrichtungen notwendig, und es gibt eine große Anzahl von Krankenhäusern, die Risikopatienten vor geplanten Operationen
auch bisher schon screenen und isolieren, wenn dies notwendig ist. Dies hat sich bewährt. Diese Krankenhäuser
haben kapiert, dass es sich rechnet. Sie haben kapiert,
dass man zuerst zwar Geld in die Hand nehmen muss, es
zum Schluss aber günstiger und wirtschaftlicher für sie
ist, das Screening durchzuführen.
Zukünftig haben wir hinsichtlich der Qualität ein
Mehr an Wettbewerb in unseren Einrichtungen, und wir
haben zukünftig mehr Transparenz in den Einrichtungen.
Dadurch erreichen wir mehr Sicherheit für die Patientinnen und Patienten.
Deswegen gibt es mit diesem Gesetzentwurf, mit der
Vermeidung von Infektionen, nur Gewinner. Die größten
Gewinner sind die Patienten in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({11})
Als Nächster hat unser Kollege Harald Weinberg von
der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dieser Gesetzentwurf zur Krankenhaushygiene kommt zu spät.
({0})
Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Linksfraktion,
meine Fraktion, hat bereits 2009 einen Antrag zur Bekämpfung von Krankenhausinfektionen vorgelegt. Das
Robert Koch-Institut hat gute Richtlinien erlassen. Die
Niederlande und andere Staaten zeigen, wie die Zahl der
Krankenhausinfektionen durch konsequente Hygienestandards wirksam gesenkt werden kann.
Während die schwarz-gelbe Koalition durch die
Schweinegrippe zu großem Aktionismus befeuert
wurde, sah die Bundesregierung beim Thema Krankenhaushygiene jahrelang weg. Tausende Menschenleben
hätten gerettet werden können, wenn früher effektive
Maßnahmen ergriffen worden wären.
({1})
An Krankenhausinfektionen sterben in Deutschland
mehr Menschen als an den Folgen von Verkehrsunfällen,
illegalen Drogen, Aids und Selbsttötungen zusammengenommen. Sogar der Bund spricht in seiner Gesundheitsberichterstattung von bis zu 40 000 Toten jedes
Jahr. Das sind bis zu 100 Tote jeden Tag. Dieser Zustand
war und ist durch nichts zu rechtfertigen.
({2})
Hinter diesen Zahlen verbergen sich tragische Einzelschicksale. Insbesondere Patienten mit einem relativ
schwachen Immunsystem sind betroffen, also Neugeborene und ältere Menschen. Im epidemiologischen Bericht der EU über Infektionskrankheiten von 2010 wird
die Zunahme von Krankenhausinfektionen noch vor der
Bedrohung durch pandemische Influenza und HIV als
größte Gefahr eingeordnet. Verlaufen diese Infektionen
nicht tödlich, können sie trotzdem schwerwiegende
Schädigungen an verschiedenen Organen hervorrufen.
Bleibende Behinderungen und Amputationen können die
Folge sein.
Wirksame Maßnahmen für die Verbesserung der
Krankenhaushygiene sind also mehr als überfällig:
Erstens. Die von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut aufgestellten Richtlinien müssen flächendeckend
umgesetzt werden.
({3})
Zweitens. Es ist eine grundsätzliche Meldepflicht für
Infektionen mit multiresistenten Keimen und ein verbindliches Screening bei der Aufnahme in stationäre
Einrichtungen einzuführen.
({4})
Drittens. An allen Krankenhäusern müssen Fachärztinnen und Fachärzte für Hygiene und Hygienefachkräfte die Einhaltung von Hygienestandards sicherstellen. Wir brauchen bundeseinheitliche wirksame
Sanktionen für den Fall, dass dagegen verstoßen wird.
({5})
Viertens. Durch die Vergütungsregelungen und Investitionszuschläge für Krankenhäuser müssen Anreize für
die Einhaltung von Hygienestandards geboten werden.
Fünftens. Es müssen entsprechende Fachkräfte ausgebildet werden, weil es bis jetzt so wenige gibt.
Sechstens. Der massenhafte Einsatz von Antibiotika
in der kommerziellen Tierhaltung und auch die übermäßige Anwendung beim Menschen haben zu einer dramatischen Zunahme von multiresistenten Keimen geführt.
Der Antibiotikaeinsatz ist daher auf das medizinisch notwendige Maß zu beschränken.
({6})
All dies haben wir schon mit unserem Antrag von
2009 gefordert. Unseren damaligen Antrag lehnte die
Union übrigens mit der Begründung ab, die Bundesregierung sei, soweit ihre Zuständigkeit das zulasse, bereits tätig geworden. Es gebe mit dem Infektionsschutzgesetz und den Krankenhaushygieneverordnungen schon
effektive Regelungen zur Prävention. Deswegen hat die
Union damals den Antrag abgelehnt.
Die FDP, damals Oppositionsfraktion, meinte, dass
für die Einhaltung hygienischer Standards in erster Linie
die Krankenhäuser selbst die Verantwortung trügen. Die
Bundesregierung dürfe hierfür nicht verantwortlich gemacht werden. Deswegen hat sie damals dem Antrag
nicht zugestimmt. - Auf einmal geht es doch.
({7})
Nachdem die Presse häufiger über skandalöse Zustände und Tote in Krankenhäusern berichtet hat, konnten Sie die Suche nach einer Lösung für das Problem offensichtlich nicht weiter auf die lange Bank schieben. Es
bewegt auch die Bürgerinnen und Bürger: Allein in der
letzten und in der aktuellen Wahlperiode sind
20 Petitionen, also Eingaben und Beschwerden von Betroffenen und Bürgern, zum Thema Krankenhaushygiene beim Deutschen Bundestag eingegangen.
In diesen Tagen fühle ich mich an die Geschichte von
Ignaz Semmelweis erinnert. Das war ein ungarischösterreichischer Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts
- also vor 150 Jahren - das verstärkte Auftreten von
Kindbettfieber in Krankenhäusern mit Gebärstationen
auf mangelnde Handhygiene bei den Ärzten und dem
Personal zurückgeführt hat.
Seine Erkenntnisse wurden von der Mehrheit seiner
Fachkollegen damals als spekulativer Unfug abgelehnt,
weil sie nicht zur herrschenden Lehrmeinung passten.
Semmelweis starb im Irrenhaus, und es gab Gerüchte,
die besagen, er sei von seinen eigenen Ärztekollegen
dorthin abgeschoben worden, weil er zu unbequem war.
({8})
Seine Erkenntnisse zur Krankenhaus- und Handhygiene setzten sich erst zwei Ärztegenerationen später zu
Anfang des 20. Jahrhunderts durch. Es ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit, dass sich die Betroffenen darauf
verlassen können müssen, sich im Krankenhaus nicht
neue, weitere und schwerwiegende Krankheiten zuzuziehen. Es ist zu hoffen, dass es nicht zwei Generationen
dauert, bis das der Fall ist.
({9})
Nun bewegt sich die Regierung endlich in die richtige
Richtung. Der vorliegende Gesetzentwurf der Regierung
bleibt aber hinter dem zurück, was möglich und notwendig ist, um Deutschland in Sachen Krankenhaushygiene
in die europäische Spitzengruppe zu führen. Wir werden
in den weiteren Beratungen darauf drängen, dass die erforderlichen Verbesserungen vorgenommen werden.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Als Nächste hat unsere
Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Bitte, Frau Kollegin.
Danke schön. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Ganz so martialisch
wie mein Vorredner will ich nicht an das Thema herangehen. Es ist zwar leicht, am Ende eines Erkenntnisprozesses zu sagen: „Wir haben es schon immer besser gewusst; jetzt kommt zum Glück die Erkenntnis zum
Tragen“,
({0})
aber ich glaube, man muss ein bisschen fairer damit umgehen.
({1})
- Wie gnädig.
In der Tat liegt ein Gesetzentwurf zur Verbesserung
der Krankenhaushygiene vor, dessen Inhalt noch vor
zwei Jahren vom größeren Teil dieses Hauses abgelehnt
worden ist. Das sehe ich genauso. Man sieht, dass es einen längeren Erkenntnisprozess gegeben hat, der zu der
Einsicht geführt hat, dass wir nicht weiter nur auf freiwillige Maßnahmen und das Engagement der Länder
und Kommunen bei der Hygieneüberwachung setzen
können, sondern auf allen Ebenen konsequent arbeiten
müssen. So lässt sich die Vorgeschichte beschreiben.
Es ist zwar nicht verkehrt, auf die verschiedenen freiwilligen Instrumente einzugehen. Diese nutzen wir auch
in vielen anderen Bereichen. Man muss aber deutlich sagen, dass der Erkenntnisgewinn zu lange gedauert hat.
Ich selber komme aus Münster. Dort kann man erleben, dass konsequentes Handeln und ein strikter Hygiene- und Präventionsplan dazu führen, dass die Infektionsraten in den Krankenhäusern massiv gesenkt
werden können, nämlich auf ungefähr 1 Prozent wie in
den Niederlanden.
Als Münsteranerin weiß ich auch, dass man, wenn
man einen Unfall hat und in ein grenznahes Krankenhaus kommt, als Risikopatient gilt, weil wir - jedenfalls
bislang - so schlechte Hygienestandards haben. Das alles ist ernst zu nehmen und ein Hinweis darauf, dass wir
große Defizite haben.
Der Gesetzentwurf versucht, einige Problemfaktoren
anzugehen, und zwar vor allen Dingen mit Regelungen,
die über die Länderverordnungen zum Tragen kommen
sollen. Ein Defizit ist aber, dass Sie die Dinge, die man
im Bundesinfektionsschutzgesetz regeln könnte, nicht
auch dort regeln, zum Beispiel das Instrument des Screenings, das sich in den Niederlanden so gut bewährt hat.
Warum gibt es dazu keine gesetzliche Vorgabe im Bundesinfektionsschutzgesetz? Das leuchtet mir nicht ein.
Eine solche Vorgabe würde dazu führen, dass wir bundesweit einen bestimmten Standard hätten, der überall
- sowohl in Krankenhäusern als auch in anderen Einrichtungen - einzuhalten wäre.
({2})
Diesen wichtigen Schritt könnte man gehen. Es ist nicht
nachvollziehbar, dass Sie dieses Problem, obwohl wir
eine Bundeskompetenz dafür haben, nicht auf Bundesebene angehen.
Die Niederlande profitieren davon, dass sie seit Jahrzehnten eine sehr restriktive Antibiotikastrategie haben.
Was machen wir? Wir setzen erneut eine Kommission
ein. Es gab ja schon eine Vorläuferkommission; ich
konnte bei meiner Recherche allerdings keinerlei Ergebnisse oder Zwischenberichte finden. Die neue Kommission soll jetzt zwar verbindliche Empfehlungen abgeben,
aber das wird dauern. Wir brauchen einen ganz konkreten Plan, um in der ambulanten medizinischen Versorgung wirklich zu einem viel restriktiveren Antibiotikaeinsatz zu kommen.
Wir wissen alle, dass eine neue und sehr gefährliche
Quelle von MRSA die Landwirtschaft, die Tierzucht, ist.
Was ist diesbezüglich vorgesehen? Dieser gesamte Bereich ist in dem Gesetzentwurf komplett ausgeklammert
worden. Es gibt keine gezielten Maßnahmen für die Beschäftigten in der Landwirtschaft. Ich habe keinen einzigen Ansatz in diesem Papier dazu gefunden, was wir in
landwirtschaftlich geprägten Regionen ganz gezielt machen müssen, um zu weiteren Fortschritten zu kommen.
({3})
Da besteht ein massiver Nachbesserungsbedarf.
Der Gesetzentwurf liefert aber eine gute Vorlage, um
im Sinne des Patientenschutzes voranzukommen. Ich
bitte aber darum, zusätzlich die Frage eines neuen EBM
noch einmal genauer zu betrachten. Es geht nicht darum,
Anreize zu schaffen. Es geht darum, wirksame Instrumente wie das Screening sehr zielgerichtet einzusetzen,
und zwar nicht als zusätzliche Einkommensmöglichkeit
für Ärzte, sondern um im Übergang zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sowohl Risiken auszuschließen als auch die Sanierung von MRSA zu gewährleisten.
Heute liegt tatsächlich ein Vorschlag für einen Schritt
in Richtung Patientenschutz auf dem Tisch. Wir müssen
allerdings zusehen, dass er auch wirklich stringent und
tatkräftig umgesetzt wird.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster hat unser
Kollege Lars Lindemann von der Fraktion der FDP das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Weinberg, die Regierung hat nichts auf die lange Bank
geschoben, wie Sie ganz am Anfang behauptet haben.
Wir haben uns zu Beginn der Legislaturperiode sehr bemüht, das Thema aufzugreifen. Es hat zwar eine gewisse
Zeit gedauert, bis wir zu diesem Entwurf gekommen
sind. Aber das Thema stand von Anfang auf der Agenda.
({0})
Das Eingeständnis des Zurückbleibens hinter eigentlich als selbstverständlich empfundenen Hygienestandards im Gesundheits- und Pflegebereich in Deutschland
ist nicht angenehm. Es ist auch keine annehmbare Botschaft für die Patientinnen und Patienten in unserem
Land. Darüber sind wir uns alle einig; das brauchen wir,
denke ich, hier nicht weiter zu erörtern.
Unser Problem liegt darin, dass es viele unterschiedliche Versorgungseinrichtungen in diesem Land gibt, die
mit großer Selbstverständlichkeit Hervorragendes auf
dem Gebiet der Hygiene leisten, jedoch nicht alle so erfolgreich sind, wie wir uns das wünschen und vorstellen.
Daran müssen wir miteinander arbeiten.
Dies erkennend, geht es in dem von der Koalition vorgelegten Gesetzentwurf nicht in erster Linie darum, das
Verhalten Einzelner zu pönalisieren oder öffentlich zu
sanktionieren, sondern darum, die systemischen Unzulänglichkeiten - so will ich das nennen - herauszuarbeiten und diesen dann mit gesetzgeberischem Handeln entgegenzuwirken.
({1})
Wir haben festzustellen, dass jedes Jahr in Deutschland Tausende Menschen an Infektionen, die sie sich in
verschiedenen Versorgungsbereichen zuziehen, erkranken und schlimmstenfalls auch sterben. Das Risiko im
Vergleich zum Straßenverkehr ist hier bereits mehrfach
beschrieben worden. Diese Auffassung teilen wir. Wir
haben in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die
Zahl schwer behandelbarer Infektionen, ausgelöst durch
mehrfach resistente Erreger, seit Jahren zunimmt.
Ebenso ist festzustellen, dass ein übermäßiger und undifferenzierter Einsatz von Antibiotika - auch in der Tierzucht - ganz wesentlich zu Entstehung und Vermehrung
neuer resistenter Keime beigetragen hat. Schließlich haben wir festzustellen, dass es regional gut funktionierende Netzwerke gibt, die sich der Problemlage angenommen haben, jedoch leider nicht flächendeckend.
Die Analyse des Vorgehens anderer Länder, aber auch
der Ergebnisse einiger Modellprojekte - auch aus Ihrem
Heimatort, Frau Klein-Schmeink - zeigt, dass es Ansätze gibt, die man verfolgen kann. Die Schlussfolgerungen, die wir daraus gezogen haben, sind in den Gesetzentwurf aufgenommen worden.
({2})
Durch Verbesserung der Hygienequalität und Veränderung des Einsatzes von Antibiotika lassen sich tausendfaches Leid vermeiden und erhebliche Kosten sparen; darauf ist schon hingewiesen worden. Die
Ersparnisse werden weit über den Aufwendungen liegen, die die Umsetzung des Gesetzes nach sich ziehen
wird. Es ist deshalb richtig, dass nun alle Bundesländer
verpflichtet werden, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes Hygieneverordnungen zu erlassen, die
sodann beispielsweise die erforderliche Ausstattung mit
Hygienefachkräften in den adressierten Einrichtungen
verbindlich vorschreiben. Es ist richtig, dass die Empfehlungen des RKI in Sachen Hygiene für die Adressaten einen verbindlichen Charakter erhalten. Es ist zudem
zielführend, dass neben der Kommission für die Erarbeitung von Hygienerichtlinien eine Kommission, die den
Ursachenzusammenhang zwischen der Art und Weise
der Verordnung von Antibiotika und der Entstehung von
Resistenzen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, einberufen wird.
Es ist richtig, dass die Verantwortlichen in den adressierten Einrichtungen verpflichtet werden, den Stand der
medizinischen Wissenschaft hinsichtlich Hygiene und
auch der Verordnung von Antibiotika einzuhalten haben,
der sich dann in den jeweils aktuellen Empfehlungen der
Kommissionen ausdrückt. Es ist richtig, dass den Leitern
der adressierten Einrichtungen verpflichtend aufgegeben
wird, das Auftreten von nosokomialen Infektionen bei
Häufungen dem zuständigen Gesundheitsamt zu melden
und über die Landesbehörden auch dem RKI mitzuteilen.
({3})
Mit den vorgesehenen Vergütungsregeln werden die
Voraussetzungen für ein verbessertes Screening und die
Sanierung der betroffenen Patienten geschaffen. Ich bin
auf Ihrer Seite, dass wir da mehr tun können. Darüber
werden wir noch Gespräche führen.
Zudem wird es Vorgaben zur sektorenübergreifenden
Qualitätssicherung geben, die, wenn die Indikatoren gefunden und veröffentlicht sind, zu einem qualitätsfördernden Wettbewerb führen werden.
Zum Schluss. Ich freue mich über die sachorientierten
Vorschläge und inhaltliche Unterstützung durch die Opposition. Sie hat konkrete Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie wir gemeinsam an einer Verbesserung arbeiten können. Ich bin zuversichtlich - und ich
werbe ausdrücklich bei Ihnen, meine Damen und Herren
der SPD -, dass wir uns in den anstehenden Berichterstattergesprächen über das eine oder andere auseinandersetzen können und dass es uns gelingt, unserem gemeinsamen Ziel der Reduzierung von Infektionsraten zum
Schutz aller Betroffenen ein Stück weit näherzukommen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Lindemann. - Nächste auf
meiner Rednerliste ist unsere Frau Kollegin Dr. Marlies
Volkmer von der Fraktion der SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns hat sicherlich schon von solchen tragischen Ereignissen gehört: Jemand geht wegen einer
Routineuntersuchung ins Krankenhaus und verstirbt dort
an einer Sepsis. Oder ein Mensch muss nach einem Unfall künstlich beatmet werden und bekommt dann im
Krankenhaus eine schwere Lungenentzündung, auf die
kein Antibiotikum anspricht.
Das sind leider keine bedauernswerten Einzelfälle,
sondern das ist hunderttausendfache Realität in deutschen Krankenhäusern. Wir haben leider auch 7 500 bis
15 000 Todesfälle wegen Krankenhausinfektionen in
Deutschland.
({0})
Diese Zahl zeigt schon ein Problem: Wir wissen überhaupt nicht, wie viele Krankenhausinfektionen wir genau haben. Erstens werden nicht alle Fälle diagnostiziert,
zweitens werden nicht alle Fälle gemeldet, und drittens
werden die gemeldeten Fälle nicht zusammengeführt.
Das ist ein unhaltbarer Zustand.
({1})
Wir brauchen eine Bewusstseinsänderung und eine
Verhaltensänderung, und zwar sowohl in den Einrichtungen des Gesundheitswesens als auch in der Politik. Es
darf nicht so sein, dass Hygiene das fünfte Rad am Wagen ist; denn ohne einen guten Hygienestandard gibt es
keine sichere und erfolgreiche Behandlung der Patienten. Auf eine sichere Behandlung haben Patientinnen
und Patienten jedoch einen Anspruch.
({2})
Daher ist es auch so wichtig, dass wir in den Universitäten wieder flächendeckend Lehrstühle für Hygiene haben.
({3})
Als ich studiert habe, gab es diese noch. Ich habe in meinem Staatsexamen noch eine Prüfung in Hygiene ablegen müssen. Das halte ich auch für richtig.
({4})
Nun geht die Bundesregierung das Problem der Krankenhaushygiene mit einem Gesetzentwurf an, aber es ist
- das ist schon gesagt worden - ein äußerst zaghafter
Entwurf.
({5})
Ein Beispiel sind die Antibiotikaresistenzen. Die Ursachen für Antibiotikaresistenzen sind komplex. Eine Ursache führt der Gesetzentwurf ausdrücklich auf. Es ist
die unsachgemäße Verordnung von Antibiotika, und
zwar sowohl für Menschen als auch für Nutztiere. Doch
statt eine Strategie vorzustellen, wie man damit sinnvoll
umgehen kann, gründet die Bundesregierung eine neue
Kommission,
({6})
zusätzlich zur bereits bestehenden Kommission für
Krankenhaushygiene und Infektionsprävention. Aber
was passiert denn, wenn die Leiter von medizinischen
Einrichtungen den Empfehlungen solcher Kommissionen nicht folgen? Nichts passiert. Wir brauchen aber für
solche Fälle Sanktionsmöglichkeiten, zum Beispiel in
Form von Vergütungsabschlägen, die Krankenhäuser allethalben dann hinnehmen müssen.
Ein Thema, das Sie bei der Erstellung des Gesetzentwurfes überhaupt nicht auf dem Radarschirm hatten, ist
die unzureichende Personalausstattung der Kliniken.
({7})
Je größer der Zeitdruck, desto flüchtiger wird zum Beispiel die Händedesinfektion ausfallen. Das ist nun einmal eine ganz einfache und wirkungsvolle Methode in
der Hygiene. Ein Vergleich zwischen Deutschland und
den Niederlanden ist aufschlussreich. In einer deutschen
Intensivstation versorgt eine Pflegekraft drei Patienten,
in den Niederlanden ist das Verhältnis nahezu eins zu
eins. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wenn Sie weiter auf Kosten der Beschäftigten in den
Krankenhäusern sparen, wie mit der letzten Gesundheitsreform geschehen, wird sich der Zeitdruck in den
Krankenhäusern weiter erhöhen. Das steht einem konsequenten Hygienemanagement und einer Senkung der Infektionsraten absolut entgegen.
({8})
Das ist aber das Letzte, was wir gebrauchen können;
denn es darf nicht sein, dass jemand wegen einer Krankenhausinfektion kränker aus dem Krankenhaus herauskommt, als er hineingegangen ist.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Volkmer. - Jetzt hat
als Nächster unser Kollege Erwin Rüddel für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! 2011 wird das Jahr der Patientinnen und Patienten.
({0})
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt daher insbesondere den
vorliegenden Gesetzentwurf. Ich freue mich über die
durchaus positive Bewertung dieses Gesetzentwurfs
durch die Opposition. Ich denke, wir werden bei diesem
Gesetz zu einer konstruktiven Zusammenarbeit finden.
Mit dem Gesetz werden die Voraussetzungen geschaffen, um die Hygienequalität in Krankenhäusern und bei
medizinischen Behandlungen durchgreifend zu verbessern sowie die Infektionsrate durch Krankenhauskeime
deutlich zu reduzieren.
In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Meldungen über infektionsbedingte Todesfälle, die mit
Recht Unruhe und Sorgen in der Bevölkerung ausgelöst
haben. Nach vorsichtiger Schätzung von Experten sind
in Deutschland durch Infektionen in Kliniken, die auf
mangelnde Hygiene zurückzuführen sind, jährlich zwischen 7 500 und 15 000 Todesfälle zu beklagen. Darüber
hinaus erkranken jedes Jahr schätzungsweise rund
400 000 bis 600 000 Patientinnen und Patienten an Infektionen, die im Zusammenhang mit einer medizinischen Maßnahme stehen. Nach anderen Schätzungen
muss sogar von noch höheren Fallzahlen ausgegangen
werden.
Unabhängig davon, welcher Einschätzung wir jeweils
Glauben schenken und mehr Plausibilität zubilligen wollen: Es besteht in jedem Fall ein dringender Handlungsbedarf. Jede zusätzliche Infektion bedeutet persönliches
Leid.
({1})
Durch das Gesetz werden die Bundesländer verpflichtet, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes Verordnungen zur Infektionshygiene und zur Prävention
von resistenten Krankheitserregern in medizinischen
Einrichtungen zu erlassen. Durch einheitliche Standards
und Qualitätsberichte sowie durch zusätzlichen Expertenrat und Präventionsmaßnahmen nach dem Stand der
medizinischen Wissenschaft lassen sich - das sagen
Fachleute - rund 30 Prozent der Infektionen mit Klinikkeimen vermeiden.
Hinzu kommt, dass wir Anreizsysteme für die niedergelassenen Ärzte schaffen wollen, die bereits im Vorfeld
verhindern sollen, dass gefährliche Keime überhaupt in
die Krankenhäuser gelangen.
({2})
Ein Auslöser der öffentlichen Diskussion über mangelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern waren
zweifellos die beklagenswerten Vorfälle im vorigen
Sommer auf der Intensivstation der Universitätsklinik
Mainz. Auch wenn sich zwischenzeitlich herausgestellt
hat, dass diese nicht die Folge mangelnder Hygiene, sondern einer Vergiftung aufgrund einer verseuchten Infusionslösung waren, hätte dies für das zuständige Gesundheitsministerium in Mainz Veranlassung sein können,
eine eigene Hygieneverordnung für die Ärzte und Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz zu erlassen, wozu die Gesetzeslage dem Land durchaus Handhabe gegeben hätte.
({3})
Die verantwortliche Ministerin in Mainz, Frau Dreyer,
hat dies allerdings versäumt,
({4})
und das steht leider auch beispielhaft für Defizite und
Versäumnisse der Gesundheitspolitik in RheinlandPfalz.
({5})
Auch deshalb ist es gut und richtig, dass nun der Bund
die Initiative ergreift und wir den vorliegenden Gesetzentwurf beraten. Für uns ist dabei entscheidend, dass
Hygienepersonal in die Krankenhäuser kommt, dass die
Hygieneleitlinien des Robert-Koch-Instituts verbindlich
werden und dass es jährliche Qualitätsberichte gibt.
Nicht recht verständlich ist mir in diesem Zusammenhang die Kritik der Deutschen Krankenhausgesellschaft
an unserem Vorhaben. Der Kampf gegen mangelnde
Sauberkeit, unzureichende Reinigung oder verschmutztes Operationsgerät in unseren Krankenhäusern sollte
eine bare Selbstverständlichkeit sein.
Ja, es stimmt: Wir wollen, dass Hygienebeauftragte
und zusätzliche Ärzte neu eingestellt werden, damit in
deutschen Krankenhäusern das Augenmerk verstärkt auf
Sauberkeit und Hygiene gelegt wird. Das wird Geld kosten. Auf der anderen Seite aber werden diese Mehrkosten dadurch mehr als ausgeglichen, dass Infektionen mit
all ihren entsprechenden Folgekosten in großer Zahl vermieden werden.
Der GKV-Spitzenverband hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Krankenhäuser allein in diesem Jahr
1,9 Milliarden Euro zusätzlich von den Beitragszahlern
erhalten. Mit diesem Geld sollte sich einiges bewirken
lassen, um die hygienische Situation in unseren Kliniken
zu verbessern.
({6})
Der Gemeinsame Bundesausschuss wird dazu geeignete
Standards und Vergleichsmarken entwickeln, die für die
Qualitätsberichte der Krankenhäuser als Richtschnur
dienen werden.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf
sind wir auf dem richtigen Weg. Wir unterstützen den
Gesundheitsminister in seinem Bestreben, auf diese
Weise unser Gesundheitswesen zu stärken. Wir werden
deshalb gemeinsam - dabei schließe ich die Opposition
mit ein - für eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung zur Verbesserung der Hygiene in Krankenhäusern
und anderen medizinischen Einrichtungen sorgen.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Rüddel. - Mir liegen
keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/5178, 17/4489 und 17/5203 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Es spricht
niemand dagegen. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ({0})
- Drucksache 17/648 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Neškoviæ, Jan Korte,
Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum Verbot der Verdachtskündigung und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen bei Bagatelldelikten
- Drucksache 17/649 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 17/4281 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Beate Müller-Gemmeke, Ingrid Hönlinger,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ungerechtigkeiten bei Bagatellkündigungen
korrigieren - Pflicht zur Abmahnung einfüh-
ren
- Drucksachen 17/1986, 17/4281 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
Interfraktionell ist vereinbart, die Reden zu Proto-
koll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden folgender
Kolleginnen und Kollegen - ich lasse die Fraktionsbe-
zeichnung jetzt weg und erwähne nur die Namen -: Kol-
legin Gitta Connemann, Kollege Ottmar Schreiner1),
Kollegin Gabriele Molitor,
({3})
Kollegin Sabine Zimmermann, Kollegin Ingrid
Hönlinger, Kollege Ulrich Lange und Kollege Johannes
Vogel. Die Reden sind somit zu Protokoll genommen.2)
Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur
Erweiterung des Kündigungsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ({4}). Der
Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4281, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/648 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthal-
tungen? - Der Gesetzentwurf ist in der zweiten Beratung
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-
nung die weitere Beratung.
Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 12 a. Wir
kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke zum Verbot der Verdachtskündigung
und der Erweiterung der Kündigungsvoraussetzungen
bei Bagatelldelikten. Der Ausschuss für Arbeit und So-
ziales empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/4281, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/649 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 12 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ungerechtigkei-
ten bei Bagatellkündigungen korrigieren - Pflicht zur
Abmahnung einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/4281, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1986 abzulehnen. Wer stimmt
1) Der Redebeitrag lag zu Redaktionsschluss nicht vor und wird zu ei-
nem späteren Zeitpunkt abgedruckt.
2) Anlage 3
Vizepräsident Eduard Oswald
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist somit angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Marlene Mortler, Klaus Brähmig, Josef Göppel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Jens Ackermann, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tourismus und Landschaftspflege verknüpfen
- Gemeinsam die Entwicklung ländlicher
Räume stärken
- Drucksachen 17/2478, 17/5117 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Horst Meierhofer
Kornelia Möller
Markus Tressel
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu
Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kollege Horst
Meierhofer,
({6})
Kollege Heinz Paula, Kollegin Marlene Mortler,
({7})
Kollege Dr. Ilja Seifert, Kollege Markus Tressel, Kol-
lege Klaus Brähmig und Kollege Dr. Edmund Geisen.1)
({8})
Der Beifall zeigt, dass alle einverstanden sind, dass die
Reden zu Protokoll genommen werden.
({9})
- Okay, den Eindruck habe ich auch gehabt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen
CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Tourismus und
Landschaftspflege verknüpfen - Gemeinsam die Ent-
wicklung ländlicher Räume stärken“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/5117, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/2478 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
1) Anlage 4
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und Leistungseinschränkungen im Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch abschaffen
- Drucksache 17/5174 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. Bitte
schön, Frau Kollegin.
({11})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 9. Februar 2010 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass
die Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig sind und
dass das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum für Hilfebedürftige dem Grunde nach unverfügbar ist. Dieses Urteil ging zurück auf eine Klage von
Thomas Kallay. Nur wenige Tage nach dem Urteil
drohte das zuständige Jobcenter Frau Kallay unter windigen Vorwänden eine 100-prozentige Sanktion an. 100prozentige Sanktion meint den kompletten Entzug der
Hartz-IV-Leistung.
({0})
Das muss man sich einmal vergegenwärtigen: Da
macht ein Erwerbsloser von seinen rechtsstaatlichen
Rechten Gebrauch, klagt, bekommt Recht, aber kurz darauf droht seiner Frau der komplette Entzug des ohnehin
niedrigen Hartz-IV-Regelsatzes. Hier deutet sich doch
an, dass Sanktionen disziplinierend eingesetzt werden
und die Wehrhaftigkeit von Betroffenen untergraben sollen. Deswegen gehören sie abgeschafft.
({1})
Zum Glück kannte die Familie einige Abgeordnete. Als
es Nachfragen aus ganz unterschiedlichen politischen
Richtungen gab, wurde diese Androhung auch zurückgezogen.
Doch nicht jeder, der von Sanktionen betroffen ist, hat
dieses Glück. Jährlich werden mehr als 700 000 Sanktionen
verhängt. Eine Sanktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die ohnehin niedrigen Regelleistungen gekürzt
werden. Die Wirkung dieser Sanktionen ist verheerend.
Zum einen widersprechen sie dem Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum, zum anderen führen sie
bei den Betroffenen zu Existenzangst, ja, zu richtiger
existenzieller Not. Um das noch einmal zu verdeutlichen:
Jeden Monat sind im Durchschnitt 12 000 Menschen vom
kompletten Entzug der Hartz-IV-Leistungen betroffen.
Ja, selbst Schwangere werden mit dem kompletten Entzug der Leistungen bedroht, wenn sie nicht jeden 1-EuroJob, nicht jedes Jobangebot annehmen.
({2})
Die Betroffenen werden durch diese Sanktionsmöglichkeit wehrlos gegenüber ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen.
Ich habe von einem Fall gehört, bei dem eine Frau in
einem Bewerbungsgespräch nur kritisch die Höhe des
angebotenen Lohnes, der übrigens sehr niedrig war, hinterfragt hat. Daraufhin ist sie nicht eingestellt worden. Es
wurde ein Vermerk angefertigt, dass dort kritisch nachgefragt worden ist, und ihre Unterlagen wurden mit diesem Vermerk an die Bundesagentur zurückgeschickt.
({3})
Ihr wurde sofort der Regelsatz gekürzt mit dem Hinweis
darauf, das sei ein Fall von fehlender Mitwirkung.
Hinzu kommen enorm hohe Fehlerquoten. 37 Prozent
aller Widersprüche gegen Sanktionen ist in Gänze stattgegeben worden. Das heißt, dass diesen Leuten nachweislich zu Unrecht das Existenzminimum vorenthalten
wurde. Ich möchte Sie einmal erleben, wenn Ihnen über
Monate hinweg die Diäten einfach nicht überwiesen
werden.
({4})
Hier reden wir über Menschen, die wirklich kaum ein finanzielles Polster haben.
({5})
Das zentrale Argument der schwarz-gelben Bundesregierung lautet - Zitat -:
… Sanktionen dienen dazu, die Besetzung von Arbeitsplätzen zu unterstützen …
Schauen wir uns doch einmal das Verhältnis von offenen Stellen zu Erwerbslosen an. Wenn wir die offiziellen
Statistiken betrachten und nur die offensichtlichsten
Tricks bei der Berechnung von Arbeitslosen herausnehmen, erhalten wir folgendes Ergebnis: Auf eine offene
Stelle kommen zehn Erwerbslose. Egal wie sehr sie sich
bemühen, müssen von diesen zehn also neun leer ausgehen. Das ist nüchterne Mathematik.
Das heißt, das Problem ist nicht die angebliche Arbeitsunwilligkeit; das Problem ist, dass es diese Gesellschaft nicht schafft, die vorhandene Erwerbsarbeit
gerecht zu verteilen, zum Beispiel durch Arbeitszeitverkürzung.
({6})
Die Linke fordert deswegen: Weg mit den Sanktionen. Wir fordern, die vorhandene Erwerbsarbeit durch
Arbeitszeitverkürzung gerechter zu verteilen.
Ja, wir lehnen Zwang zur Arbeit genauso ab wie Erwerbslosigkeit wider Willen; denn beides widerspricht
unserem Verständnis von einer freiheitlichen und einer
humanistischen Gesellschaft.
Insofern möchte ich mit dem Zitat des Humanisten
Erich Fromm enden. Er sagte,
daß der Mensch unter allen Umständen das Recht
hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und
Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung
usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das
unter keinen Umständen eingeschränkt werden
darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft „von Nutzen ist“.
So weit der Humanist Erich Fromm.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Als Nächster hat unser
Kollege Dr. Carsten Linnemann von der Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kipping,
herzlichen Dank für die Einführung. In der Tat machen
Sie den Vorschlag, die Sanktionen abzuschaffen, sodass
die Menschen, die von der Solidargemeinschaft Unterstützung bekommen, am Ende keiner Kontrolle mehr unterliegen.
({0})
Die Frage ist: Macht das Sinn? Diese Frage muss man
sich stellen. Wir verneinen das, und ich will es Ihnen
auch begründen.
Zunächst einmal müssen wir uns fragen: Welche
Gruppen werden von der Solidargemeinschaft unterstützt?
Zum einen ist das die Gruppe der Menschen, die am
Rande der Gesellschaft stehen. Dabei handelt es sich um
Menschen, die sich nicht selber helfen können. Sie können nicht, wie Röpke sagt, wenn sie Hilfe suchen, ihren
rechten Arm nehmen. Das sind Menschen, die unsere
Unterstützung brauchen - wie geistig Behinderte, körperlich Behinderte und andere. Diese Menschen brauchen Solidarität, und zwar nicht nur die normale Solidarität, sondern die bedingungslose Solidarität.
({1})
Zum anderen gibt es die Menschen, über die Sie sprechen, nämlich die SGB-II-Empfänger. Das sind Langzeitarbeitslose, die von der Solidargemeinschaft unter11400
stützt werden, also von den Menschen, die mit ihren
Einkommensteuern und Umsatzsteuern das soziale Netz
in Deutschland finanzieren. Das kann man ja einmal aussprechen. Auch die Langzeitarbeitslosen brauchen unsere Solidarität - aber nicht bedingungslos. Das ist der
Unterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik.
({2})
Jetzt habe ich so viel über Solidarität gesprochen.
Was steckt hinter Solidarität? Das Ganze ist nichts anderes als eine Vertragsvereinbarung zwischen Menschen,
die in das System einzahlen, also die Solidargemeinschaft, und Menschen, die das Geld abrufen und gleichzeitig eine Gegenleistung erbringen. Es ist also nichts
anderes - Herr Zimmer, Sie haben es letztens gesagt als das Prinzip der Reziprozität. Das heißt, Solidarität ist
keine Einbahnstraße, sondern beruht auf dem Prinzip der
Gegenseitigkeit.
Für diese Gegenseitigkeit bedarf es Schranken. Diese
Schranken sind wichtig, damit -
Schnaufen Sie einmal schnell durch. Es gibt den
Wunsch nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zulassen?
Ja, gerne.
Jetzt ist die Zwischenfrage unserer Kollegin gerne erlaubt.
Ich habe vernommen, dass Sie annehmen, dass Menschen, die keiner Berufstätigkeit nachgehen, keine für
die Gesellschaft nützliche Arbeit verrichten.
({0})
Ich kenne jede Menge Mütter, die ihre Kinder erziehen.
Ich kenne jede Menge Menschen, die Steuern zahlen,
weil sie Lebensmittel, Kleidung und alle Sachen, die sie
für ihren alltäglichen Bedarf benötigen, einkaufen und
natürlich wie jeder andere auch Mehrwertsteuer zahlen.
Natürlich tragen sie zur Solidargemeinschaft bei. Wieso
diskreditieren Sie hier Menschen, bloß weil sie vom Arbeitsprozess ausgeschlossen sind? Was meinen Sie, wie
viele dieser Menschen sich in dieser Zeit gegen Atomkraft oder für sehr viele andere Sachen engagieren, die
ohne bürgerschaftliches Engagement überhaupt nicht
mehr laufen würden, weil so viel weggekürzt worden
ist?
({1})
Ich habe eben versucht, zu erklären, was die Solidargemeinschaft ist. Das sind in erster Linie die Menschen,
die in Deutschland arbeiten gehen, Einkommensteuer
und andere Dinge zahlen. Natürlich gehören auch die
Menschen dazu, die einkaufen gehen und mit der Mehrwertsteuer einen Beitrag leisten; aber in erster Linie sind
es die Menschen, die den Kuchen, der in Deutschland
verteilt wird, erst erwirtschaften. Das ist so. Damit habe
ich nichts Falsches gesagt, sondern nur das, was Realität
ist.
({0})
Lassen Sie mich zu den Schranken zurückkommen.
Wir brauchen Schranken, damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert, damit wir ein gutes Zusammenleben in der Gesellschaft haben.
({1})
Lassen Sie mich an dieser Stelle, weil anscheinend kaum
noch jemand zuhört - Sie haben eben auch nicht zugehört, sonst hätten Sie die Frage nicht gestellt -,
({2})
in die Wirtschaftsgeschichte einsteigen. Ich bin Fan von
Adam Smith, dem alten Schotten, der gesagt hat: Es bedarf verschiedener Schranken, damit das Zusammenleben funktioniert. In der Familie gibt es eine natürliche
Schranke, weil der eine für den anderen einsteht: Wenn
mein Bruder einen Platten hat, helfe ich ihm; da brauchen wir keine Gesetze.
({3})
Eine Ebene höher finden wir die Schranke in der Dorfgemeinschaft, im Vereinsleben - Adam Smith bezeichnet
sie als die „Schranke der Ethik“ -: Man tut etwas oder
tut es nicht; man läuft nicht nackt über den Sportplatz,
weil man das einfach nicht tut.
Wenn diese Schranken nicht funktionieren, dann
kommen gesetzliche Schranken zum Einsatz, damit das
Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert. Bei Hartz IV
machen wir nichts anderes:
({4})
Damit das Prinzip der Gegenseitigkeit funktioniert,
brauchen wir Schranken. Sanktionen sind hier ein Instrument. Wir nutzen dieses Instrument, damit das, was die
Solidargemeinschaft einzahlt, sachgerecht verwendet
wird. Ich bin sicher, dass das System der Sanktionen
funktioniert.
Frau Kipping, Sie haben absolute Zahlen genannt; das
ist clever. Man muss aber sagen, dass die Quote der
Fälle, in denen es zu Sanktionen kommt, in den verschiedenen Bundesländern zwischen 2 und 4 Prozent liegt.
Das System funktioniert. Insofern räume ich Ihrem Antrag wenig Chancen ein. Wir können gerne im Ausschuss darüber reden; aber wir werden diesen Antrag
nicht unterstützen.
Ich bedanke mich, wünsche Ihnen einen schönen
Abend und zu dieser Zeit auch eine geruhsame Nacht.
({5})
Vielen Dank für die höfliche Schlussformel. - Als
Nächste hat unsere Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von
der Fraktion der SPD das Wort.
Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linken! Sie beklagen in Ihrem Antrag Sanktionen
und Leistungseinschränkungen bei Hartz IV und in der
Sozialhilfe. Es ist richtig: In beiden Gesetzen sind entsprechende Möglichkeiten verankert. Ich stimme Ihnen
zu: Gerade vor dem Hintergrund des Urteils der obersten
Verfassungsrichter zur Grundsicherung vom Februar
2010 gehören Sanktionen und Leistungskürzungen auf
den Prüfstand. Deshalb haben wir bereits am 30. November 2010 einen Entschließungsantrag zu diesem
Thema eingebracht.
Die Erfahrungen mit dem Instrument der Sanktionen
im Sozialgesetzbuch II zeigen, dass diese in der Regel
stark überschätzt werden. Die bessere Alternative zu
Sanktionen ist die intensive Betreuung und Unterstützung von langzeitarbeitslosen Menschen durch deren
Fallmanager.
({0})
Eines wissen wir genau: Die große Mehrheit der Arbeitsuchenden will arbeiten und wäre froh, wenn ein
passender Arbeitsplatz zur Verfügung stünde.
({1})
Unser Anliegen muss deshalb sein, so viel Unterstützung
zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt wie irgend
möglich zu leisten. Leider geht die schwarz-gelbe Bundesregierung den genau entgegengesetzten Weg. Sie
kürzt ausgerechnet bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik
massiv. Im Vergleich der Jahre 2010 und 2011 wurde der
Mittelansatz von 6,6 Milliarden Euro auf 5,3 Milliarden
Euro eingedampft. Das bedeutet durchschnittliche Budgetkürzungen um 21 Prozent gegenüber 2010.
({2})
Einige Jobcenter wie zum Beispiel das in meinem Wahlkreis sind noch härter betroffen und müssen mit bis zu
30 Prozent weniger auskommen. Das, meine Damen und
Herren, ist der falsche Weg.
({3})
Fördern kostet erst einmal Geld. Doch es rechnet sich
mittel- und langfristig auf jeden Fall. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, sprechen in Ihrem Antrag
die jugendlichen Arbeitslosengeld-II-Bezieher unter
25 Jahren an. Nach einer aktuellen Bertelsmann-Studie
haben 58 400 Jugendliche im Jahr 2009 die Schule ohne
Abschluss verlassen. Das entspricht einer Abbrecherquote von 7 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist
viel zu hoch.
({4})
Wir wissen: Ein fehlender Schulabschluss oder eine
abgebrochene Berufsausbildung stellen besonders
schwere Vermittlungshemmnisse dar. Deshalb muss es
unser Ziel sein, Jugendliche auf ihrem Weg ins Berufsleben mit aller Kraft zu unterstützen und zu begleiten.
({5})
Wir von der SPD haben hierfür 2008 einen Rechtsanspruch auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses
geschaffen und den Ausbildungsbonus auf den Weg gebracht. Bis zum September 2010 haben mehr als 40 000
Altbewerberinnen und Altbewerber durch den Ausbildungsbonus eine echte Berufseinstiegschance erhalten.
Das, meine Damen und Herren, ist eine gute Investition
in die Zukunft.
({6})
Es ist unfassbar, dass ausgerechnet dieses wichtige
Förderinstrument von Ministerin von der Leyen nicht
verlängert wurde.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns steht ganz
klar das Fördern im Vordergrund. Sanktionen dürfen niemals Schikane oder Demütigung, sondern lediglich ein
letztes Druckmittel sein.
Wir müssen uns die Sanktionsmöglichkeiten sehr genau anschauen. Gänzlich auf sie zu verzichten, halte ich
für falsch; denn wir brauchen auch ein Instrument zur
Durchsetzung von Zielvereinbarungen bei der Eingliederung und zum Schutz vor Missbrauch.
Wie sieht es nun in der Sozialhilfe aus? Sie ist das unterste Auffangnetz für besonders hilfebedürftige Menschen. Deshalb müssen wir hierbei ganz besonders darauf achten, dass das Existenzminimum abgesichert ist
und nicht unterschritten wird.
Es gibt zwei „Sanktionsparagrafen“ in der Sozialhilfe,
die §§ 26 und 39 SGB XII. In § 39 heißt es:
Lehnen Leistungsberechtigte entgegen ihrer Verpflichtung die Aufnahme einer Tätigkeit oder die
Teilnahme an einer erforderlichen Vorbereitung ab,
vermindert sich der maßgebende Regelsatz in einer
ersten Stufe um bis zu 25 vom Hundert, bei wiederholter Ablehnung in weiteren Stufen um jeweils bis
zu 25 vom Hundert. Die Leistungsberechtigten sind
vorher entsprechend zu belehren.
Ich habe im Sozialamt meines Wahlkreises nachgefragt, wann und wie oft diese Möglichkeit der Leistungskürzung eingesetzt wird. Die Antwort lautete: nie.
Nach der Reform der Grundsicherung 2005 unter
Rot-Grün sind alle Leistungsempfänger, die mehr als
drei Stunden täglich arbeiten können, aus der Sozialhilfe
herausgenommen und in Hartz IV überführt worden.
Das bedeutet, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen,
überhaupt nicht erwerbstätig sein können. Deshalb ist es
richtig, diesen Paragrafen infrage zu stellen. Wenn er
keine Bedeutung mehr hat, sollten wir ihn streichen.
Anders verhält es sich mit § 26, in dem es heißt:
Die Leistung soll bis auf das zum Lebensunterhalt
Unerlässliche eingeschränkt werden
1. bei Leistungsberechtigten, die nach Vollendung
des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen vermindert haben in der Absicht, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistung herbeizuführen,
2. bei Leistungsberechtigten, die trotz Belehrung
ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen.
So weit wie möglich ist zu verhüten, dass die unterhaltsberechtigten Angehörigen oder andere mit ihnen in Haushaltsgemeinschaft lebende Leistungsberechtigte durch die Einschränkung der Leistung
mitbetroffen werden.
Dieser Paragraf kommt zumindest in meinem Wahlkreis so gut wie nie zur Anwendung. Die wenigen Fälle
betreffen Rückforderungen von zu viel ausbezahlter Sozialhilfe. Es werde in jedem Einzelfall sehr genau geprüft - das erfuhr ich von dem Sozialamt in meinem
Wahlkreis -, ob eine Rückzahlung überhaupt möglich sei
und inwieweit Angehörige möglicherweise unter einer
Leistungskürzung zu leiden hätten. Wenn eine Rückzahlung unzumutbar sei, werde darauf verzichtet.
Auch wenn Leistungsmissbrauch nur selten vorkommt, halte ich es für richtig, diese Sanktionsmöglichkeit zum Schutz der Solidargemeinschaft aufrechtzuerhalten.
({8})
Menschen, die Sozialleistungen widerrechtlich in Anspruch nehmen, müssen mit Konsequenzen rechnen. Das
gilt für die Sozialhilfe und gleichermaßen für Hartz IV.
In § 1 des Sozialgesetzbuches XII steht als erster Satz,
und zwar nicht erst seit dem Urteilsspruch der Bundesverfassungsrichter vom letzten Jahr:
Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.
Diesen Leitsatz müssen wir natürlich insbesondere im
Hinblick auf Leistungskürzungen sehr genau im Auge haben. Das Gesetz sieht deshalb vor, dass Leistungen nicht
beliebig, sondern nur bis auf das Unerlässliche gekürzt
werden dürfen. Das bedeutet, das materielle Existenzminimum darf nicht angetastet werden. Einschränkungen
sind nur im Bereich des soziokulturellen Existenzminimums möglich. Dies steht aus meiner Sicht nicht im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 9. Februar 2010. Die Bundesrichter räumen einen
gewissen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der
Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums ein. Sie
sagen sehr deutlich, dass der Gestaltungsspielraum bei
den Leistungen zur Sicherung der physischen Existenz
sehr eng begrenzt ist und er nur etwas größer ist, wenn es
um Art und Umfang der Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben geht.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit bei diesem so wichtigen Thema.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. - Als Nächster spricht für die FDP-Fraktion Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Sozialstaat hat zwei Seiten. Auf der einen Seite gibt es
diejenigen, die auf die Leistungen des Sozialstaates angewiesen sind, und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die mit ihrer Hände oder ihrer Köpfe Arbeit das
erwirtschaften, was der Sozialstaat als Leistung denjenigen zur Verfügung stellt, die auf Leistung angewiesen
sind. Beiden Seiten muss die Politik gerecht werden.
Deshalb ist das Sozialgesetzbuch II - das sind die sogenannten Hartz-IV-Gesetze - geprägt vom Prinzip des
Förderns auf der einen und des Forderns auf der anderen
Seite.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Menschen
schulden sie sich gegenseitig. Beide Seiten sind sich Solidarität schuldig. Deshalb geht kein Weg daran vorbei,
dass die einen Steuern zahlen, durch die die Sozialleistungen finanziert werden, und zugleich die anderen das
ihnen Mögliche tun, um aus ihrer Notsituation herauszukommen.
({0})
Im Bereich des Förderns hat diese Regierung schon
einiges unternommen, um gerade bei diesem Aspekt zu
Verbesserungen zu kommen. Mit der Jobcenterreform
haben wir sichergestellt, dass die Betreuung der Menschen weiterhin vernünftig und kompetent aus einer
Hand erfolgt. Zudem haben wir den Schlüssel für die
Betreuung durch die Jobcenter im Rahmen des SGB II
auf 1: 75 für die unter 25-Jährigen und auf 1: 150 für die
über 25-Jährigen gesenkt. Damit möchten wir sicherstellen, dass die Mitarbeiter der Jobcenter gezielt auf die
spezifischen Probleme der Arbeitsuchenden eingehen
und sie besser bei der Arbeitsaufnahme unterstützen
können.
Wir werden in den kommenden Wochen mit der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente sicherstellen, dass diese Instrumente in Zukunft gezielter und wirkungsvoller zum Wohle der Arbeitsuchenden eingesetzt
werden können.
({1})
Doch zum Aspekt des Förderns gehört auch der
Grundsatz des Forderns.
({2})
Aus diesem Grund werden Eingliederungsvereinbarungen abgeschlossen. Darin enthalten sind genau die Maßnahmen, die nach Ansicht des Jobcenters hilfreich für die
Arbeitsaufnahme sind. Ich finde, es ist nicht verwerflich,
wenn wir im Rahmen der Eingliederungsvereinbarungen
den Menschen gegenüber Erwartungen formulieren, wie
zum Beispiel Terminen im Jobcenter nachzukommen,
eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen zu schreiben
oder notwendige Fortbildungen zu besuchen. Natürlich
wäre es uns am liebsten, wenn keine Sanktionen ausgesprochen werden müssten, weil wir keine Probleme bei
der Aktivierung hätten und die Menschen immer sehr einfach einen Job finden würden. Es stellt sich aber die
Frage, wie wir als Gesellschaft damit umgehen, wenn jemand diese Hilfe bewusst oder vielleicht auch unbewusst
nicht in Anspruch nimmt, aber dennoch die Unterstützung der Solidargemeinschaft erwartet.
Der Antrag der Linken schlägt vor, in diesem Fall
komplett darauf zu verzichten, Sanktionen auszusprechen. Doch was wäre die Folge eines solchen Verzichts?
Er würde sicherlich nicht mehr Menschen in Arbeit bringen. Aussagen von Mitarbeitern der Jobcenter verdeutlichen uns, dass für viele Menschen, gerade für junge
Menschen, solch eine Sanktion unter Umständen ein
hilfreicher Schuss vor den Bug sein kann.
Ohne Sanktionen gäbe es keine Unterscheidung zwischen denjenigen, die sich bemühen - egal ob die Bemühungen erfolgreich oder erfolglos sind -, und denjenigen, die keinerlei Anstrengungen unternehmen. Dies
halte ich für ungerecht, und es trägt auch nicht zur Motivation der Arbeitsuchenden bei.
Zudem müssen wir die Frage stellen, welche Akzeptanz die Grundsicherung für Arbeitsuchende bei den Erwerbstätigen, also denjenigen, die die Grundsicherung
durch ihre Arbeit finanzieren, hätte, wenn es keine Notwendigkeit zur Eigeninitiative gäbe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
zeichnen gerne ein Bild, das zeigen soll, dass so gut wie
jeder Bezieher von Arbeitslosengeld II von Sanktionen
betroffen wäre. Aber tatsächlich betrifft das nur einen
ganz geringen Teil der Arbeitsuchenden. Laut einer Studie des IAB betrug die Quote der tatsächlich mit Sanktionen belegten Personen im Jahr 2010 nur 3,7 Prozent.
({3})
Das zeigt, wie hoch die Motivation der Arbeitsuchenden
ist. Das zeigt auch, wie hoch die Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern ist, wenn
es um die Unterstützung der Arbeitsuchenden geht.
({4})
Ich kann Ihnen versichern, dass es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern sicherlich nicht
leichtfällt, in Einzelfällen Sanktionen auszusprechen.
Wir sollten nicht so tun, als würden die Jobcenter Sanktionen aus Jux und Tollerei verhängen. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall und wird den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in den Jobcentern nicht gerecht.
Was werden wir machen? Wir werden mit Sicherheit
auf die Ausbildung und die Stärkung der Kompetenz der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern setzen, gerade in der nahen Zukunft. Aber es wäre auch
schon heute ungerecht, es diesen Personen gegenüber so
darzustellen, als würden sie Sanktionen aus Jux und Tollerei aussprechen.
({5})
Menschen in Deutschland haben ein Recht auf Solidarität durch die Gesellschaft, aber dafür kann die Gesellschaft auch eine Gegenleistung erwarten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. - Als Nächster
käme, wenn er die Rede nicht zu Protokoll gegeben
hätte, der Kollege Markus Kurth von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Die Rede ist damit zu Protokoll
genommen.
({0})
Jetzt ist - er steht schon da - der Kollege Paul
Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU aufgerufen.
({1})
Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident Edi
Oswald, ich darf Ihnen an dieser Stelle - trotz vorgerückter Stunde - zu Ihrem noch heute aufgenommenen
und souverän ausgeübten Amt recht herzlich gratulieren
und wünsche Ihnen viel Vergnügen an dem Amt.
({0})
Die Ovationen werden zu jeder Zeit entgegengenommen. Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin
Kipping hat vorhin in ihrer Rede hier ausgeführt, die Erwerbsarbeit gerechter zu verteilen sei Aufgabe staatlichen Handelns. Von zehn Arbeitslosen bekommt nur einer den Job, sagte sie. Das traurige Beispiel der
Schwangeren, die sich um jeden Job bemühen muss,
rührt einen direkt zu Tränen.
({0})
Frau Kollegin Kipping, Sie wissen genauso gut wie ich,
dass die Vermittlung nur in zumutbare Beschäftigungs11404
verhältnisse erfolgt. Das heißt, eine Hochschwangere
wird kaum in eine körperlich anspruchsvolle Tätigkeit
vermittelt werden können.
({1})
Der Staat weist Arbeit nicht zu; der Staat bietet Arbeit
an. Wenn aber die Arbeit aus Gründen, die die Allgemeinheit nicht tolerieren kann, nicht angenommen wird,
dann gebietet es die Sachwalterstellung der Behörden für
die kargen öffentlichen Mittel, dass man sie effizient einsetzt. Das steht ausdrücklich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010.
({2})
Wir sind nicht diejenigen, die Arbeit verteilen. Sie haben gerade das Recht auf Arbeit angesprochen. Liebe
Frau Kollegin Kipping, aus Sozialromantik heraus werden Sie wahrscheinlich die DDR im Auge gehabt haben.
({3})
In der DDR hat es ein Recht auf Arbeit gegeben; es hat
aber auch eine Pflicht zur Arbeit gegeben. Sagen Sie mir
doch einmal, wie sich ein Bürger in der DDR hätte sanktionslos durch das System mogeln können, wenn es eine
für ihn zumutbare Tätigkeit gab.
({4})
- Darüber freue ich mich. - Frau Kollegin Kipping, wir
leben im Hier und Heute. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde ausgeführt - ich darf mit Erlaubnis
des geschätzten Herrn Präsidenten zitieren -:
Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf
diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines
menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich
sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum
durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die
sowohl die physische Existenz des Menschen, also
Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung,
Hygiene und Gesundheit …, als auch die Sicherung
der Möglichkeit … zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst …
({5})
Die Verfassung gebietet also nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen, so das Bundesverfassungsgericht am 7. Juli 2010.
Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz greift nur dann, wenn andere
Mittel zur Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums nicht zur Verfügung stehen. Wenn
einem Menschen diese Mittel fehlen, weil er sie weder
aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist
der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der
Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, die Menschenwürde zu schützen. Zunächst ist also vorrangig, dass das
Erwerbseinkommen bzw. der Lebensunterhalt mit eigenen Mitteln gesichert wird. Erst dann können wir staatliche Mittel, Mittel, die wir anderen Bürgern durch Steuern von ihrem Erwerbseinkommen weggenommen
haben, an die Bedürftigen ausreichen.
({6})
Liebe Frau Kipping, zu Ihrer wohlgefälligen Aufklärung: Unser Sozialstaatsprinzip ist keine Kuh, die im
Himmel frisst, aber auf Erden Milch geben kann. Das
heißt, wir müssen das, was wir verteilen, irgendjemandem vorher abnehmen. Wir müssen es erwirtschaften.
Wir können nur das ausgeben, was wir eingenommen
haben. Deshalb ist Sozialpolitik auch immer Wirtschaftspolitik. Wir haben vorhin - da waren Sie leider,
sicherlich wegen wichtiger Termine, verhindert - eine
wunderbare Debatte zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geführt. In dieser Debatte hat Ihre Kollegin
Krellmann ausgeführt: Die Linkspartei ist gegen einen
Mindestlohn in der Leiharbeit. - Das möchte ich in dieser Debatte wiederholen, weil es eine ungeheuerliche
Aussage ist.
({7})
Ich nehme das zur Kenntnis. Jetzt steht es zweimal im
Protokoll des Bundestages. Nehmen Sie das heute
Abend mit nach Hause. Freuen Sie sich: Die Linkspartei
war heute gegen Mindestlohn.
Danke schön.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen
Birkwald das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte nur ganz
kurz klarstellen, dass Sie vorhin wohl leider nicht richtig
zugehört haben, Herr Kollege. Wir haben gesagt, dass
wir für Equal Pay in der Leiharbeit eintreten, weil für
uns das Prinzip gelten muss: Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit. Nur deshalb haben wir gesagt, dass in der Leiharbeit ein Mindestlohn nicht die Lösung ist. Wir wollen,
dass Arbeit gleich bezahlt wird.
({0})
Vielen Dank. - Herr Kollege Lehrieder, Sie stehen bereits. Das heißt, Sie wollen antworten?
Wenn ich darf, Herr Präsident, sehr gerne. - Lieber
Kollege Birkwald, es gibt zwei Komponenten - das wissen Sie so gut wie ich, auch aus unserer Diskussion im
Ausschuss -: die Verleihzeit und die verleihfreie Zeit.
({0})
Wir wollen - anders als Ihre Partei - die Arbeitnehmer
auch in der Nichtverleihzeit durch einen Mindestlohn in
der Leiharbeit schützen. Das haben wir gegen Ihren erklärten Willen getan. Diejenigen, die die Arbeitnehmer
richtig schützen, sitzen auf dieser Seite des Hauses und
nicht auf Ihrer.
Danke schön.
({1})
Ich sehe keine weiteren Wünsche nach einer Kurzin-
tervention. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5174 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Das ist also
der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d
sowie Zusatzpunkt 10 auf:
13 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Die arabische Welt - Region im Aufbruch,
Partner im Wandel
- Drucksache 17/5193 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller ({0}), Ute
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine neue Politik gegenüber den Ländern
Nordafrikas und des Nahen Ostens
- Drucksache 17/5192 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser,
Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Reformprozesse in Nordafrika und Nahost
umfassend fördern
- Drucksachen 17/4849, 17/5146 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({2})
Marina Schuster
Kerstin Müller ({3})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Solidarität mit den Demokratiebewegungen in
den arabischen Ländern - Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren
- Drucksachen 17/4671, 17/5147 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Marina Schuster
Kerstin Müller ({5})
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Paul Schäfer ({6}), Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Libyen-Krieg sofort beenden
- Drucksache 17/5173 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Kollege Dr. Rainer Stinner für die Fraktion der FDP. Bitte schön, Kollege Dr. Stinner.
({7})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Herr Präsident, auch ich freue mich, dass ich
heute, an Ihrem ersten Arbeitstag, unter Ihnen reden
darf.
({0})
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Erfolg und freue mich
auf vergnügliche gemeinsame Stunden hier im Deutschen Bundestag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann zunächst
feststellen, dass wir uns im Deutschen Bundestag von
ganz links bis ganz rechts zur Überraschung vieler in der
Öffentlichkeit völlig einig sind. Wir sind uns einig, dass
sich deutsche Soldaten nicht am militärischen Einsatz im
Libanon beteiligen sollen.
({1})
- Entschuldigung, in Libyen. Aber was den Libanon betrifft, sind wir uns hoffentlich auch einig.
({2})
Diese Einigkeit geht in der Öffentlichkeit weitestgehend unter, weil sie von dem Streit darüber, wie wir zu
dieser Entscheidung gekommen sind, überlagert wird.
Diese Einigkeit wird auch von einigen Mitgliedern dieses Hauses durchbrochen. Frau Wieczorek-Zeul zum
Beispiel hat sich anders geäußert. Da befindet sie sich in
guter Gesellschaft mit Peter Scholl-Latour. Die beiden,
das Traumpaar deutscher Außen- und Sicherheitspolitik,
({3})
sind in dieser Frage nämlich derselben Meinung.
({4})
Man kann über den Weg zu dieser Entscheidungsfindung sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein. Die
Bundesregierung hat sich entschlossen, sich im UN-Sicherheitsrat zu enthalten, weil sie nicht möchte, dass sich
Deutschland militärisch beteiligt. Die Grünen sind anderer Meinung; das kann man so sagen. Ich glaube aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenn
die Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat Ja gesagt und
sich anschließend genauso verhalten hätte, wie Sie es ja
wollen - wenn sie also entschieden hätte, dass sich
Deutschland nicht militärisch beteiligt -, würden wir
eine ähnliche Diskussion über die deutsche Beteiligung
führen. Das kommt auf dasselbe heraus.
({5})
Meine Damen und Herren, es wird vielfach vergessen, dass die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates
aus mehreren Teilen besteht und dass in nur einem Teil
von militärischen Maßnahmen die Rede ist, nämlich in
den Absätzen 4, 5 und 6. Darüber hinaus sind in dieser
Resolution weitere Maßnahmen beschrieben, an denen
sich die Bundesregierung natürlich außerordentlich
gerne beteiligt, zum Beispiel an Boykotten, Sanktionen
etc.
({6})
Leider erleben wir in diesen Tagen, dass sich in anderen Ländern ähnliche Szenen abzuspielen beginnen, wie
wir sie auch in Libyen beobachten können. In meiner
letzten Rede habe ich auf die Situation in Bahrain hingewiesen. Heute erleben wir dramatische Zustände in Syrien. Ich möchte all diejenigen in diesem Hause und
draußen im Lande, die der Meinung sind, man solle
diese Situation mal eben mit Militär bereinigen, fragen:
Sind Sie der Meinung, dass der Einsatz militärischer
Mittel auch in Syrien richtig wäre, wenn sich die Entwicklung dort, was wir nicht hoffen, fortsetzen sollte?
Ich glaube, wenn wir das zu Ende denken, kommen wir
zu der Überzeugung, dass dieses Vorgehen insgesamt
sehr fragwürdig ist.
({7})
Allerdings stehen wir vor dem Hauptproblem, dass
die arabische Welt, um die es primär geht, nach wie vor
ein völlig konfuses Bild abgibt; das muss ich so deutlich
sagen. Der Widerspruch besteht darin, dass Katar auf der
einen Seite angekündigt hat, sich an der Aktion in Libyen zu beteiligen - das ist bis heute nicht geschehen -,
andererseits aber bereit ist, Truppen in sein Nachbarund Bruderland Bahrain zu schicken, um dort den Widerstand und die Freiheitsbewegungen niederzuhalten
und eventuell niederzuknüppeln. Die arabische Welt
muss sich fragen lassen, auf welchem Weg sie eigentlich
ist.
Ich befürchte nach wie vor, dass, nachdem die Kampagne seit sechs Tagen läuft, zunehmend der Eindruck
erweckt wird, es handele sich ein weiteres Mal um eine
reine Aktion westlicher Staaten, die „natürlich“ nur ihre
Ölinteressen vertreten und deshalb dort aktiv werden.
Ich fordere die arabische Welt daher von hier aus auf, ihren Beitrag zur Friedens- und Freiheitsbewegung in diesen Ländern zu leisten.
Es liegen zur heutigen Debatte Anträge von allen
Fraktionen vor. Ich möchte kurz auf diese Anträge eingehen. Ich bin doch sehr erstaunt, dass heute, am
24. März dieses Jahres, sowohl von der Linkspartei als
auch von der SPD Anträge vorliegen, die ich nur mit
dem Wort „antiquarisch“ bezeichnen kann. Wir stehen
heute, am 24. März 2011, unter dem Eindruck von Libyen. Da kann doch die Linke nicht einen Antrag vom
8. Februar 2011 einbringen, in dem der Rücktritt von
Mubarak gefordert wird.
({8})
Glauben Sie wirklich, dass wir Sie dabei ernst nehmen? Wir haben unseren Antrag an die aktuelle Situation angepasst und ihn gestern eingebracht. Die Grünen
haben das genauso getan. Doch auch die SPD ist nicht
viel besser dran als die Linkspartei: Ihr Antrag ist vom
22. Februar 2011. Es steht viel Richtiges und Gutes darin; das will ich gar nicht bestreiten. Aber auch Sie sind
in Ihrem Antrag nicht auf die Situation in Libyen eingegangen.
Wir werden die Anträge ablehnen, weil wir einen umfassenden und, wie ich finde, abgewogenen Antrag vorgelegt haben, der mit der zugegebenermaßen schwierigen Positionierung Deutschlands - das will ich gar nicht
bestreiten - sauber und ehrlich umgeht. Ich glaube, dass
es richtig ist, diesen Antrag heute im Deutschen Bundestag zu verabschieden. Auf diese Weise können wir gemeinsam einen Beitrag leisten, um die schwierige Situation in der arabischen Welt einer Besserung zuzuführen.
Ich habe die Hoffnung, dass es in einigen Ländern bald
aufwärts geht - das kann Tunesien oder Ägypten sein und dass der Diktator Gaddafi bald abdankt und seine
Untaten nicht weiter treiben kann. Ich hoffe, dass nicht
noch weitere Länder mit kriegerischen Auseinandersetzungen überzogen werden. Das ist unsere Hoffnung. Unser Beitrag, den wir leisten können, umfasst Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit. Das wollen wir gerne
tun. Wir wollen das Mögliche beitragen, damit sich die
Situation in dieser Region verbessert und sie pazifiziert
wird. Wir wollen einen Beitrag zur Stabilisierung der
Region leisten. Das ist Aufgabe Deutschlands und Europas. Dieser Aufgabe wollen wir gerne nachkommen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Dr. Rainer Stinner. - Jetzt unser
Kollege Günter Gloser für die Fraktion der Sozialdemokraten.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Ich freue mich natürlich
auch, dass ich vor einem schwäbischen Präsidenten stehen darf.
Bayerisch-schwäbisch!
Bayerisch-schwäbisch. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute zu später Stunde über die Lage
im Norden Afrikas und im Nahen Osten. Nach zunächst
hoffnungsvollen Entwicklungen in Tunesien und in
Ägypten bedrücken uns gegenwärtig der blutige Bürgerkrieg, aber auch das menschenverachtende Vorgehen
Gaddafis und seiner Anhänger gegen die Freiheitsbewegung in Libyen umso mehr. Auch wenn es zu später
Stunde ist: Ich finde es gut, dass wir darüber debattieren.
Lieber Herr Kollege Stinner, auch wenn es spät ist, hätte
ich mir gewünscht, dass Sie in der Lage gewesen wären,
in Ihren Aussagen etwas zu differenzieren.
({0})
Nicht nur die Lage in Libyen bedrückt uns. Auch das
Verhalten der Bundesregierung in der Weltgemeinschaft
zur Libyen-Frage ist deprimierend und lässt leider nicht
den Rückschluss zu, es sei vom Ende her gedacht, so wie
es der Bundesaußenminister heute in einem Zeitungsbeitrag zu suggerieren versucht hat. Ich will jetzt gar nicht
so sehr auf die neutrale Position im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen abheben. Ich gebe Ihnen völlig
Recht: Es ist das Recht jedes Abgeordneten und jeder
Abgeordneten, eine eigene Position zu finden. Es handelt sich hierbei um eine schwierige Frage. Aber wo
bleibt gegenwärtig eigentlich die politische Initiative der
Bundesregierung zur Deeskalation der Situation? Man
kann doch wirklich niemandem mehr erklären, weshalb
sich die Bundesmarine bei Vorliegen eines Mandates der
Vereinten Nationen nicht an der Unterbindung von Waffenlieferungen an Gaddafi im Mittelmeer beteiligen soll.
Dabei wurde das doch seit Wochen von Außenminister
Westerwelle gefordert: Embargos, Embargos, Embargos.
Jetzt aber hält man sich zurück. Ich verstehe das nicht.
Das hat alles nichts damit zu tun, dass man vom Ende
her denkt. Wer das tut, der muss dringend die Waffenzufuhr in diesem Konflikt unterbinden. Man kann auch
nicht einfach sagen: Es gibt aber noch eine andere
Grenze, die zum afrikanischen Kontinent. - So viel Geografiekenntnisse haben wir auch noch. Aber das eine
schließt das andere nicht aus.
Ich denke, die Welt schüttelt teilweise den Kopf über
Deutschland, genauer gesagt über den Außenminister
und die Kanzlerin. Denn der Außenminister hat vor wenigen Wochen - da hat er auch die Unterstützung dieses
Hauses gefunden - noch gesagt: Wir wollen den ersten
Schritt gehen. - Das ist auch passiert.
Aber was ist dann eigentlich passiert? Nichts ist passiert. Er hat nur gesagt: Ich bin beeindruckt und entsetzt
aufgrund der schrecklichen Bilder aus Tripolis und ganz
Libyen. Jetzt müssen wir kluge Antworten finden.
Gaddafi muss weg. - Wo bleiben die klugen Antworten?
Wie soll er weggehen? Nicht einmal in dem Mandat der
Vereinten Nationen ist ein Regimewechsel vorgesehen.
Ich sage es noch einmal: Das ist ein sehr starker Schlingerkurs. Eine Sinuskurve ist dagegen geradlinig.
Einige Worte auch zu Syrien. Die Nachrichten, die
uns heute von dort erreichen, sind erschütternd. Es ist
von zahlreichen Toten die Rede; die Angaben schwanken zwischen 37 und 100. Das ist sehr betrüblich. Ich
kann nur auch von dieser Stelle aus die Verurteilung
noch einmal wiederholen und an das syrische Regime
appellieren, sich mit den legitimen Forderungen der Bevölkerung nach demokratischen Reformen, der Wahrung
der Menschenrechte und Meinungsfreiheit in angemessener Weise auseinanderzusetzen und die Anwendung
roher Waffengewalt sofort einzustellen. Die syrische
Führung sollte sich an den positiven und nicht an den negativen Beispielen der jüngsten Zeit dafür, wie man einen Umbruch organisieren und was man zulassen kann,
orientieren.
Es gibt aber auch positive Entwicklungen in der Region. So ist das Referendum in Ägypten ein Hoffnungszeichen für Demokratie. Natürlich gibt es hier auch noch
viele Gefahren. Eine Gefahr besteht darin, dass alte Eliten noch immer so fest im Sattel sitzen, dass sie am Ende
auch im neuen System die Oberhand behalten. Dadurch
würden die friedlichen Revolutionäre vom Tahrir-Platz
um die Früchte ihres mutigen Einsatzes betrogen. Das
darf nicht passieren. Deshalb müssen wir auf einen
Wahltermin in angemessener Frist, auf die sofortige
Freilassung aller politischen Gefangenen und auf die international überprüfbare Einhaltung der Menschenrechte
drängen.
Nach Jahrzehnten des Ausnahmezustandes sind das
keine kleinen Schritte; es sind gewaltige Änderungen,
die noch dazu von den Militärs angestoßen werden müssen, die ja jetzt die Macht haben. Ohne den anhaltenden
Druck der ägyptischen Öffentlichkeit und ohne den entscheidenden Einsatz der internationalen Partner Ägyptens wird das nicht funktionieren.
In Tunesien wurde die Freiheit gewonnen und der
Diktator gestürzt. Das Land steht aber vor ähnlichen
Problemen, wie uns eine Delegation der Schwesterpartei
der SPD in diesen Tagen bei ihrem Besuch erläutert hat:
Eine junge Bevölkerung, die im Gegensatz zur Bevölkerung in manchem Nachbarland mehrheitlich sogar hervorragend ausgebildet ist, sucht nicht nur nach Freiheit
und Würde, sondern auch nach einer beruflichen und sozialen Perspektive.
Freiheitsdividende heißt für diese Menschen, dass sie
an einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben können. Dafür müssen die richtigen Reformen eingeleitet werden. Dafür muss aber auch die Europäische
Union die richtigen Schritte tun. Die Festung Europa - in
Anführungszeichen - muss für Waren - auch für Agrarerzeugnisse - und in begrenztem Ausmaß auch für Arbeitskräfte geöffnet werden.
({1})
Eine wirkliche Mobilitätspartnerschaft mit Ländern wie
Tunesien ist auch in unserem Interesse; denn ich denke,
wenn Fachkräfte aus Tunesien für einige Jahre in
Deutschland arbeiten und danach bei der Existenzgründung im eigenen Land unterstützt werden, dann kommt
das auch der deutschen Wirtschaft zugute.
Ich will in diesem Zusammenhang Algerien und Marokko aber nicht vergessen. Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung hat Algerien schon länger die Chance
gehabt, die Erlöse aus dem Öl- und Gasgeschäft endlich
für die wirtschaftliche Entwicklung und für die politische und soziale Teilhabe einzusetzen. Dies wäre im Interesse der vielen jungen Menschen, aber auch der Zukunft des Landes.
Positiv ist zu vermerken, dass König Mohammed VI.
weitere Reformen in Marokko angekündigt hat, dem
Parlament und der Regierung mehr Rechte zukommen
lassen möchte und dem Menschenrechtsrat Unabhängigkeit garantiert. Dabei darf es aber nicht bleiben. Der Abbau der sozialen Ungleichheiten im Lande muss dringend forciert werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschließend einige Sätze zu den vorliegenden Anträgen:
In fast allen Reden und Antragstexten ist zu vernehmen, dass sich Europa eine historische Chance bietet,
Demokratie und Freiheit in der arabischen Welt zu unterstützen. Fast nie wird aber der notwendige Schluss daraus gezogen, dass unsere Reaktion auf diese Chance
nicht kleinteilig und leisetreterisch sein darf, sondern
dass sie klar und deutlich sein muss.
Mit einer Fortschreibung der bisher schon betriebenen europäischen Nachbarschaftspolitik unter den strikten Vorgaben durch den bisherigen Finanzrahmen allein
werden wir der Situation der Region jedenfalls nicht gerecht. Insofern sind auch die insgesamt guten Vorschläge
der Europäischen Kommission und die Beschlüsse des
Europäischen Rates zur Mittelmeerpolitik nicht ausreichend.
Denn es geht nicht nur um ein bisschen mehr Konditionierung von Hilfeleistungen. Es muss um einen wirklichen Pakt für Demokratie und Entwicklung im Mittelmeerraum gehen. Das große Wort Marshallplan habe ich
selbst in diesem Zusammenhang benutzt. Auch wenn
historische Vergleiche gelegentlich hinken, stehe ich zu
diesem Wort; denn es zeigt die Dimension dieser Aufgabe.
Wir dürfen jetzt den alten Fehler nicht wiederholen,
Demokratie nur im Norden Afrikas zu fördern und in anderen arabischen Ländern nur auf Sicherheit und vermeintliche Stabilität durch die gegenwärtigen Regierungen zu setzen. Wir werden hier neue Konzepte brauchen,
und wir werden sie - das sage ich in aller Klarheit nicht im Rahmen der bisherigen Haushaltsansätze umsetzen können.
Im Antrag der Koalition zur heutigen Debatte heißt es
auf der fünften Seite:
Der Bundestag begrüßt ausdrücklich die führende
Rolle, die die Bundesregierung in den vergangenen
Wochen gespielt hat.
Ich schlage Ihnen vor, den Text der Regierungsfraktionen folgendermaßen zu ändern: Der Deutsche Bundestag
hätte es begrüßt, wenn die Bundesregierung eine führende Rolle gespielt hätte.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Günter Gloser für die Fraktion
der Sozialdemokraten.
Der Nächste auf meiner Rednerliste ist unser Kollege
Joachim Hörster für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
mit der Erwartung in diese Debatte gegangen, dass es
uns um die Frage geht, wie wir mithelfen und mitsteuern
können, dass die Umwälzungen, die sich in dem einen
oder anderen arabischen Land andeuten, befördert werden und in die richtige Richtung laufen. Das Verjagen
des Autokraten ist das eine; das Installieren einer demokratischen Ordnung ist das andere.
Noch kann man nicht erkennen, dass in einem einzigen der Staaten, in denen gegenwärtig Auflehnung gegen die Regierungen und die Machthaber stattfindet,
Positionen bezogen würden, die mit unseren demokratischen Grundsätzen übereinstimmen. Deswegen ist es,
glaube ich, wichtig, dass wir uns von vornherein darüber
im Klaren sind, dass wir nicht global von einer arabischen Welt oder von Nordafrika sprechen können, Kollege Gloser, weil die Staaten Nordafrikas weder in der
Vergangenheit in der Lage waren noch in der Zukunft in
der Lage zu sein scheinen, die Arabische MaghrebUnion tatsächlich mit Leben zu füllen und sich wechselseitig zu stützen. Die Staaten Nordafrikas könnten ganz
alleine über alle Mittel verfügen, um ihr Land aufzubauen, ihrer Jugend eine Ausbildung zu gewähren und
Arbeitsplätze für sie mitzufinanzieren. Wir müssen darauf achten, dass auch in der arabischen Welt eine Perspektive in den Ländern selbst entsteht, die dieses wollen.
Ich erinnere mich an eine Veranstaltung im Deutschen
Bundestag, Herr Kollege Gloser. Ich war damals Vorsitzender der deutsch-arabischen Parlamentariergruppe;
Sie waren Vorsitzender der deutsch-maghrebinischen
Parlamentariergruppe, und der Kollege Ernst Hinsken
war Vorsitzender der deutsch-ägyptischen Parlamentariergruppe. Die „Tage der Arabischen Welt“ fanden
vom 1. bis 3. Dezember 2004 statt und waren eine einmalige Angelegenheit. So etwas hat es weder davor noch
danach in vergleichbarer Weise gegeben. Wir hatten über
180 Gäste aus 18 arabischen Ländern, die wir zum Teil
selbst ausgesucht haben. Die Hierarchien standen nicht
im Vordergrund. Amru Mussa war unter den Rednern.
Der frühere Bundeskanzler Schröder hat teilgenommen,
und Bundestagspräsident Thierse hat die Veranstaltung
mit eröffnet. Wir haben damals als Bundestag insgesamt
versucht, losgelöst von unseren politischen Positionen
einen einheitlichen Einfluss auf die arabischen Länder
auszuüben und deutlich zu machen, wie man vorgehen
könnte.
Vielleicht wäre die jetzige Situation geeignet, dass
wir als Deutscher Bundestag an die neuen Kräfte in den
betreffenden Ländern herantreten und mit ihnen darüber
diskutieren, was sie vorhaben und welche Ziele sie verfolgen.
({0})
Jede neue Verfassung, die jetzt entsteht, muss auch einmal daraufhin geprüft werden, ob damit auch das, was
wir unter Demokratie verstehen, zustande kommt. Wir
Europäer neigen dazu, immer gleich Schuldbekenntnisse
abzugeben, wenn es darum geht, wie wir mit unseren
Nachbarn umgehen.
Der Barcelona-Prozess aus dem Jahre 1995 war allerdings ein genialer Vorgang. Im Barcelona-Prozess waren
drei Körbe vorgesehen: eine Kooperation im Bereich der
Sicherheit, eine Kooperation im Bereich des Handels
und der Ausbau der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft ist genau der Bereich, in dem die politischen Parteien und die Nichtregierungsorganisationen auftreten
und in dem die Wissenschaft und die Medien frei agieren
können. In einer ganzen Reihe von Ländern ist auch Positives geschehen. Die Entwicklung in Tunesien wäre
ohne den Barcelona-Prozess nicht vorstellbar gewesen;
denn der Barcelona-Prozess hat dazu geführt, dass die
Analphabetenrate in Tunesien außerordentlich gering ist,
dass der Mittelstand größer ist als in jedem anderen arabischen Land und dass eine sehr starke Vernetzung mit
Europa - auch in Form persönlicher Kontakte - vorhanden war.
Auch wenn man es jetzt Mittelmeerunion oder wie
auch immer nennt, sollte man dieses Modell nicht einfach zu den Akten legen, weil es uns ermöglicht hat, mit
unseren Nachbarn in der arabischen Welt in organisierter
Weise zu kooperieren.
({1})
Dass der Palästina-Konflikt die Sache am Ende zum
Erliegen gebracht hat, ist sehr bedauerlich. Ich will aber
- weil Sie, Herr Kollege Gloser, eben Syrien angesprochen haben - auch daran erinnern, dass Syrien das erste
arabische Land war, das auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, um an dem BarcelonaProzess teilnehmen zu können. Es gibt also verschiedene
Optionen.
Der Bundesaußenminister und die Bundeskanzlerin
haben recht, wenn sie sagen, dass die arabischen Länder
- die Bevölkerungen in den arabischen Ländern - selbst
definieren müssen, was sie wollen. Das wird nicht von
heute auf morgen gehen; das braucht Zeit.
Eine der Klagen, die zum Beispiel gegen den Reformprozess und die Verfassungsänderungen in Ägypten vorgebracht werden, ist die, dass es nur zwei Organisationen gibt, die in der Lage sind, innerhalb so kurzer
Fristen Parteistrukturen aufzubauen und sich Wahlen zu
stellen. Die eine ist die frühere Regierungspartei, die andere sind die Muslimbrüder. Alle anderen aus dem bürgerlichen, zivilen Bereich haben keine echten Chancen.
Das sind Dinge, über die wir nachdenken müssen.
Das Anstreben der Demokratie und freier Wahlen ist
richtig. Wir sollten diese Bestrebungen überall unterstützen. Aber wir sollten bei der Unterstützung von freien
Wahlen darauf achten, dass Gruppierungen gewählt werden, die auch bereit sind, wieder von der Macht zu lassen, falls die Mehrheiten einmal anders ausfallen.
({2})
Wenn diese Selbstverständlichkeit implementiert werden
kann, dann haben wir den Wechsel erreicht.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Joachim Hörster.
Jetzt spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Sevim Dağdelen.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die Frage, ob die deutschen Waffenlieferungen an Libyen, also an Ihren Gaddafi, nicht
falsch gewesen wären, besaß der Vorsitzende der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, gestern im
deutschen Fernsehen die Dreistigkeit, zu antworten:
Ja, es ist immer ein Fehler, in solche Systeme Waffen zu liefern.
Hier im Deutschen Bundestag findet man in Ihrem Antrag kein Wort dazu. Deshalb nehmen wir der Koalition
ihre plötzliche Unterstützung für die Demokratiebewegungen in der arabischen Welt nicht ab.
({0})
Sevim Daðdelen
Während wir hier debattieren, werden Menschen in
der arabischen Welt ermordet. Die Diktatoren benutzen
deutsche Waffen, die unter Ihrer Regierung und unter
Schwarz-Rot, aber auch schon unter Rot-Grün geliefert
wurden. Nun versuchen Sie, die Öffentlichkeit massiv zu
täuschen und die Wirklichkeit zu verbiegen. Doch genauso wie bei Ihrem Atommoratorium: Dieses Tricksen,
Tarnen und Täuschen wird nicht aufgehen.
({1})
Sie liefern weiter Waffen in Länder, wo Parteien verboten sind, wo von Opposition, Koalitions-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit keine Rede sein kann, wo
Tausende Menschen ohne Anklage in Haft sind und gefoltert werden, wo Frauenrechte mit Füßen getreten werden, wo Demonstrationen mit tödlicher Gewalt aufgelöst
werden, und all das mit Ihrer Hilfe und Unterstützung.
Wozu all die Waffen dienen, die allein 2009 an Bahrain,
Katar, Oman, Saudi-Arabien, die Emirate und den Irak,
aber auch an Syrien, Marokko, Libyen, Kuwait, Jordanien, Algerien und Tunesien im Wert von fast 1 Milliarde Euro geliefert wurden, war stets klar: zur Kontrolle und Unterdrückung der Bevölkerung.
({2})
- Da lachen Sie! Ich finde das ganz schön zynisch. - Mit
diesen Waffen, deutschem Tränengas, deutschen Wasserwerfern und Ihrer Ausbildungs- und Ausstattungshilfe
für Polizei und Militär dieser Regime werden nun die
Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern blutig niedergeschlagen. Solange Sie das tun, sind Sie vollkommen unglaubwürdig.
({3})
In den Anträgen der Koalition wie der SPD findet
sich konsequenterweise kein einziges Wort dazu. Man
muss deshalb schlussfolgern: Es geht Ihnen um ein Weiter-so. Sie wollen die Demokratie in den arabischen Ländern nicht fördern. Sie wollen hingegen die Diktaturen
dort weiterhin stützen. Erst als Ben Ali und Mubarak fielen, stoppten Sie Ihre Rüstungsexporte. Die Parteien Ben
Alis und Mubaraks hatten bis zuletzt Platz an der Seite
der SPD in der Sozialistischen Internationalen. Angesichts dieses fortgesetzten Desasters sagt die Linke: Beenden Sie endlich Ihre Unterstützung von Diktatoren!
Sie dürfen sich nicht weiter zum Erfüllungsgehilfen der
deutschen Rüstungslobby machen. Der Bundestag muss
endlich die Außenpolitik wieder selbst in die Hand nehmen.
({4})
Noch ein Wort an die Grünen. In Ihrem Antrag wird
die Bombardierung Libyens regelrecht begrüßt. Sie feiern sogar die Zusage der Teilnahme der beiden monarchistischen Diktaturen Katar und Vereinigte Arabische
Emirate an den Luftangriffen auf Libyen. Das ist einfach
skandalös.
({5})
Man findet im Forderungsteil Ihres Antrages kein einziges Wort zu Saudi-Arabien. Man möchte fast meinen:
Grüne haben einen Stillhaltepakt mit den Monarchodiktaturen in der arabischen Welt.
({6})
Ist es Ihnen mit Jugoslawien, mit Ihrer indirekten Beteiligung am Krieg gegen den Irak, mit dem nunmehr neun
Jahre dauernden Afghanistan-Krieg nicht genug? Wie
viele Tote muss es noch geben? Sagen Sie endlich einmal Nein zu einem Krieg, nur ein einziges Mal, bitte
schön!
({7})
Leider hat die Linke auch hier ein Alleinstellungsmerkmal. Sie ist die einzige Partei im Deutschen Bundestag, die für eine friedliche Außenpolitik streitet. Sie
ist die einzige Partei, die keine Waffen an Diktatoren liefern will. Sie ist die einzige Partei, für die Krieg kein
Mittel der Politik ist, sondern die gravierendste Menschenrechtsverletzung.
Ich sage es noch einmal: Wenn Sie die Demokratiebewegungen in der arabischen Welt unterstützen wollen,
dann bedarf es einer radikalen Wende. Eine Wende können Sie erreichen, wenn Deutschland autoritären Regimen keine Waffen mehr liefert, mit denen diese Regime
ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger ermorden.
({8})
Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, mit dem wir
uns mit den Menschen in der arabischen Welt solidarisieren und die Unterstützung der autoritären Regime beenden wollen.
({9})
Als Nächste hat unsere Kollegin Kerstin Müller für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Die Grünen sollen die einzige monarchistische Partei
Deutschlands sein? Das hat uns noch niemand vorgeworfen.
({0})
Ich kann das leider nicht ernst nehmen, Frau Dağdelen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind seit drei Monaten Zeugen von Veränderungen in der
arabischen Welt, die so niemand vorhergesehen hat und
mit denen so kaum jemand gerechnet hat. Es ist sehr bedauerlich, dass die Europäer nicht gemeinsam und multilateral auf diese großen Herausforderungen reagieren,
sondern dass bei ihnen leider nationale Alleingänge das
Bild bestimmen.
Damit meine ich nicht nur Libyen; wir haben auch andere Fehler der EU und der Außenbeauftragten erlebt.
Wenn das so bleibt, dann wird das - davon bin ich überzeugt - langfristig verheerende Konsequenzen haben.
Kerstin Müller ({1})
Daher ist es zunächst einmal absolut erforderlich, dass
Europa zu einer gemeinsamen Politik gegenüber den
Ländern der arabischen Welt findet. Sonst wird unser
politischer Einfluss in der Zukunft gegen null gehen, und
die Menschen werden sich von Europa abwenden, weil
sie sich im Stich gelassen fühlen.
({2})
Die erste Konsequenz muss sein, dass wir mit der
Politik der doppelten Standards in der deutschen und europäischen Außenpolitik Schluss machen. Das heißt,
dass wir Bilanz ziehen und klar sagen, dass es falsch
war, auf Stabilität durch Despoten zu setzen, anstatt Demokratie und Menschenrechte zu fördern. Das war ein
Irrweg. Das heißt auch - das sage ich sehr deutlich -,
dass Rüstungsexporte in solche Länder künftig unterbleiben müssen.
({3})
Europa darf - auch das muss auf den Prüfstand keine Budgethilfe mehr leisten, ohne sie an die Umsetzung von demokratischen und rechtsstaatlichen Reformen zu knüpfen. Wir brauchen darüber in Europa und
auch in der Kommission endlich eine Debatte.
({4})
Ich teile die Ansicht von Herrn Gloser, dass wir unsere Märkte für Produkte aus der Region öffnen müssen.
Das ist absolut wichtig; denn die jungen Menschen sind
nicht nur für politische Rechte auf die Straße gegangen,
sondern auch für ökonomische Perspektiven, aus sozialökonomischen Gründen. Deshalb ist es absolut wichtig,
wie sich Europa in dieser Hinsicht verhalten wird.
Schließlich muss die Mittelmeerunion endlich beerdigt werden. Herr Hörster, Sie sprachen von der Mittelmeerunion und dem Barcelona-Prozess. Wir stimmen
dem zu, was im Koalitionsantrag steht. Es muss darum
gehen, die von Sarkozy initiierte Mittelmeerunion zu beerdigen und die europäische Nachbarschaftspolitik zu
überarbeiten und auszuweiten.
({5})
Ich fand die Vorschläge des Außenministers gar nicht
so schlecht. Ich habe nur die Befürchtung, dass nach
dem diplomatischen Desaster in der Libyen-Frage unsere Durchschlagskraft in Europa nicht mehr sehr groß
sein wird. Warum sollten Frankreich oder andere Südländer unseren Vorschlägen folgen, nachdem wir einen
nationalen Alleingang gemacht haben? Ich glaube, das
Vorgehen Deutschlands hat Europa in dieser extrem
wichtigen Frage gespalten und unsere Glaubwürdigkeit
bei der UNO beschädigt.
({6})
Darunter werden wir noch lange leiden; davon bin ich
überzeugt. Man kann bezüglich der Motive und des
Vorgehens von Sarkozy Zweifel haben, aber er ist jetzt
erst einmal gestärkt. Wir wurden leider auch noch von
Gaddafi gelobt; das ist einfach eine Katastrophe.
Natürlich hat man eine schwierige Abwägung zu treffen. Außer bei der Fraktion Die Linke sind in allen Fraktionen Abwägungen vorgenommen worden.
({7})
- Sie haben gerade gesagt, dass Sie keine schwierigen
Abwägungen treffen, weil Sie sowieso wissen, wie Sie
abstimmen werden. - In den anderen Fraktionen ist das
anders gewesen. Die meisten treffen ihre Entscheidung
nach schwierigen Abwägungen. Es besteht ein Eskalationsrisiko, und es gibt keine chirurgischen Eingriffe.
Natürlich ist auch die Durchsetzung der Flugverbotszone
eine militärische Intervention, und es ist bitter: Wenn das
Militär eingreift, dann hat die Politik bereits versagt.
Jahrelang hat die Politik, auch Frankreich, Gaddafi hofiert, Libyen aufgerüstet und sich einen Terroristen herangezogen. Dennoch kommen viele in meiner Fraktion
bei dieser Abwägung zu dem Schluss: Ohne den Beschluss des Sicherheitsrates und das schnelle Eingreifen
wären Tausende in Bengasi und Misurata schon tot. Deshalb ist der Sicherheitsratsbeschluss, die Resolution
1973, konsequent und richtig. Er war notwendig und
richtig, und er ist ein Ausdruck der Responsibility to
protect, zu der sich die gesamte internationale Gemeinschaft verpflichtet hat.
({8})
Selbst wenn bei dieser Abwägung die Risiken überwiegen, hätte man im Sicherheitsrat mit Ja stimmen und
erklären können, dass man nicht bereit ist, alle Maßnahmen mitzutragen. Ich finde es nicht einsichtig, dass man
jetzt zur eigenen politischen Entlastung AWACS-Flugzeuge im Luftraum von Afghanistan zur Verfügung
stellt. Das ist ein schlechter Deal. Herr Stinner, Sie haben gesagt, man wolle sich an allen anderen Maßnahmen
der Resoultion beteiligen. Warum beteiligt man sich zum
Beispiel nicht an der Durchsetzung des Waffenembargos?
({9})
Ich finde schwer verständlich, warum wir hier nicht die
Anfrage der Bundesregierung bekommen, ob wir uns an
der maritimen Absicherung des Waffenembargos beteiligen, und dass wir stattdessen morgen im Eilverfahren
über Afghanistan reden, obwohl es keine Eilbedürftigkeit in dieser Sache gibt.
Ich glaube, im Ergebnis war das eine schwerwiegende
Fehlentscheidung der deutschen Diplomatie, an der wir
leider noch lange zu knabbern haben werden und die
auch Auswirkungen auf unser Standing in der arabischen
Welt haben wird.
Vielen Dank.
({10})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Thomas Silberhorn für die Fraktion CDU/CSU das Wort.
Bitte schön, Kollege Thomas Silberhorn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Edi,
({0})
zu dieser späten Stunde vor nahezu leeren Zuschauerrängen zu reden,
({1})
zählt nicht gerade zu meinen liebsten Vergnügungen,
aber erstmals unter deiner Präsidentschaft vortragen zu
dürfen, beflügelt mich.
({2})
Wir warten die Rede mal ab.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Tunesien und Ägypten steht nun Libyen im Zentrum eines
epochalen Wandels, der sich derzeit im Nahen Osten und
in Nordafrika vollzieht. Die Sehnsucht der überwiegend
jungen Bevölkerungen nach Freiheit, nach politischer
Teilhabe ist unwiderruflich geweckt. Die Veränderungen, deren Zeugen wir derzeit sind, können das Tor zu
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu Menschenrechten und individueller Freiheit öffnen.
Der Wandel wird sich aber nicht automatisch und
nicht linear vollziehen, also nicht so, dass ohne großes
Zutun ein Regime nach dem anderen geradezu wie von
selbst fallen würde. Die Reformbewegungen werden
vielmehr Rückschläge zu verkraften haben, und sie werden harte Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Doch
die Chancen stehen gut, dass das Streben nach einer
neuen und besseren Zukunft letztlich die Beharrungskräfte der alten Ordnungen überwindet.
Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist,
dass die Reformbewegung in Tunesien deutlich auf Distanz zum Vorgängerregime ging und rasch nach Ägypten
übergeschwappt ist. Viel wird jetzt davon abhängen, ob
freie und faire Wahlen in diesen Ländern gelingen. Wenn
dort ein friedlicher Übergang zu Demokratie und Freiheit stattfindet, dann wird das der Reformbewegung in
der gesamten Region Dynamik verleihen; das wird sich
auch auf andere Staaten ausweiten. Tunesien und Ägypten können damit zu Schrittmachern in ihrer Region werden. Deswegen wird nicht umsonst die Entwicklung gerade in diesen Staaten im übrigen Nahen Osten mit
besonderer Aufmerksamkeit verfolgt.
Es ist bemerkenswert, welche weitreichenden Veränderungen in relativ kurzer Zeit stattgefunden haben. Man
kann diese Entwicklung auch als eine schrittweise Eskalation lesen. Während in Tunesien der Umsturz noch
weitgehend friedlich verlaufen ist und es in Ägypten nur
kurze Zeit zu gewaltsamen Übergriffen kam, mobilisiert
in Libyen das Regime Gaddafi jetzt alle Kräfte und führt
nachgerade einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung.
Die größte Gefahr für den arabischen Aufstand ist, dass
Machthaber die Augen vor der Realität verschließen,
nicht erkennen, dass ihre Zeit abgelaufen ist, und mit roher Gewalt um sich schlagen. Deshalb ist es notwendig,
dass die internationale Gemeinschaft unzweideutig zum
Ausdruck bringt, dass sie das nicht toleriert und dass Regime, die gegen die eigene Bevölkerung Gewalt anwenden, ihre Legitimation verlieren.
({0})
Welchen Beitrag können wir für das Gelingen der
Neuordnung in Nordafrika und im Nahen Osten leisten?
Militärische Mittel dürfen nur bei schwersten Menschenrechtsverletzungen oder Völkermord in Betracht kommen. Wo sie eingesetzt werden, muss die Gefahr einer
Eskalation eingedämmt werden. Wer sich militärisch engagiert, muss sich klar darüber sein, was das politische
Ziel ist und wie der Einsatz beendet werden soll. Deswegen war es mit Blick auf Libyen richtig, dass Deutschland die politischen Ziele der UN-Resolution 1973 unterstützt, aber sich nicht an Militäraktionen beteiligt.
Wir haben bei Sanktionen eine internationale Führungsrolle gespielt. Die Vereinten Nationen und die Europäische Union gehen gezielt gegen Personen und Institutionen vor. Es entfaltet Wirkung, den Zugang zu
Finanzquellen abzuschneiden und zu verhindern, dass
international platzierte gewaltige Vermögen von den jeweiligen Machthabern dazu genutzt werden, Angriffe
gegen die eigene Bevölkerung zu finanzieren.
Die Europäische Union hat gestern die vierte Sanktionsrunde gegen das Gaddafi-Regime verhängt. Insbesondere ist zu begrüßen, dass darin Sanktionen gegen
fünf Tochtergesellschaften der nationalen Ölgesellschaft
Libyens enthalten sind. Das bedeutet faktisch ein Ölembargo, für das sich die Bundesregierung in der Europäischen Union mit Nachdruck eingesetzt hat.
({1})
Meine Damen und Herren, von zentraler Bedeutung
für den Wandel in Nordafrika und im Nahen Osten sind
die Unterstützung beim Übergang zur Demokratie, die
Mobilisierung reformorientierter Kräfte in Staat und Gesellschaft sowie die Hilfe bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Die wirtschaftlichen Faktoren, nämlich die
Lebensmittelpreise, haben eine zentrale Rolle bei diesen
Umbrüchen gespielt. Deswegen ist die Neuordnung der
Region auch und gerade eine ökonomische Frage. Nur
dann, wenn es den Reformkräften gelingt, für bessere
Lebensverhältnisse zu sorgen, wird der Übergang zur
Demokratie dauerhaft über den notwendigen Rückhalt in
der Bevölkerung verfügen.
Die Bundesregierung leistet auf vielfältige Weise
Hilfe. Insbesondere die Transformationspartnerschaft,
die Tunesien und Ägypten angeboten worden ist, ist ein
wichtiger Ansatz, der Vorbild sein kann für andere Staaten in der Region. Diese Maßnahmen stehen allen Partnern in der Europäischen Union offen. Ich denke,
Deutschland hat damit angemessen und schnell auf die
Erfordernisse vor Ort reagiert.
({2})
Für die Entwicklung der Region ist die Hilfe beim
Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen
natürlich ebenso wichtig. Ich will darauf hinweisen, dass
sowohl die politischen Stiftungen als auch die kirchlichen Hilfswerke dabei eine unverzichtbare Rolle spielen. Sie sind bereits seit vielen Jahren und Jahrzehnten
vor Ort unterwegs und haben Kontakte geknüpft auch zu
Kräften, die jetzt diese Reformbewegungen mittragen.
Das zeigt, dass sich das Engagement gerade unserer
politischen Stiftungen langfristig auszahlt.
Bei aller Unterstützung, die von außen geleistet werden kann: Im Kern muss die Kraft für den Wandel von
Innen kommen. Die Bevölkerungen der arabischen Staaten müssen ihren eigenen Weg finden. Wir können im
Rahmen unserer Möglichkeiten dort helfen, wo wir um
Unterstützung gebeten werden. Wir leisten, was möglich
ist, damit sich die Chance auf Demokratie und Freiheit
entfaltet, damit der Wandel in der arabischen Welt gelingt.
Vielen Dank.
({3})
Das ist der Beifall für den letzten Redner gewesen.
Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/5193 mit dem Titel „Die arabische Welt - Region im
Aufbruch, Partner im Wandel“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? Der Antrag ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5192
mit dem Titel „Für eine neue Politik gegenüber den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5146, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/4849 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Solidarität mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern - Beendigung der
deutschen Unterstützung von Diktatoren“: Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5147, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/4671 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/5173 mit dem Titel „Libyen-Krieg
sofort beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen stärken
- Drucksache 17/5195 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Monika Grütters, Dr. Reinhard Brandl, René Röspel,
Dr. Martin Neumann,
({0})
Dr. Petra Sitte, Krista Sager.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5195 an den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt
Absatzförderungsfonds der deutschen Land-
und Ernährungswirtschaft und der Anstalt
Absatzförderungsfonds der deutschen Forst-
und Holzwirtschaft
- Drucksache 17/4558 -
1) Anlage 6
Vizepräsident Eduard Oswald
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1})
- Drucksache 17/5167 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. ({2})
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Marlene Mortler, Dr. Wilhelm Priesmeier,
Dr. Christel Happach-Kasan,
({3})
Dr. Kirsten Tackmann,
({4})
Friedrich Ostendorff.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/5167, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/4558 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/5096 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Armin
Schuster, Dr. Eva Högl, Gisela Piltz,
({6})
1) Anlage 7
Frank Tempel,
({7})
Dr. Konstantin von Notz.
Der europäische Einigungsprozess hat unter anderem
zu einem Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen unter den Schengen-Partnern geführt. Bürgerinnen
und Bürger können sich heute weitgehend unbeschränkt
innerhalb der EU bewegen; Waren und Dienstleistungen
sind nahezu grenzenlos unterwegs. Diese positive Entwicklung hat Europa insgesamt gestärkt. Allerdings nutzen diese Freiheiten auch die Straftäter, die nicht an den
Grenzen haltmachen. Die neuen, illegalen Möglichkeiten für Kriminelle, europäisch vernetzt vorzugehen, dürfen wir bei allen Fortschritten auf keinen Fall unterschätzen. Daher zählt es zu den elementaren Aufgaben
der Europäischen Union, ihren Bürgern die Freiheit, die
Sicherheit und das Recht zu gewährleisten.
Vor diesem Hintergrund müssen wir wirksame Instrumente zur gemeinsamen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung schaffen und weiterentwickeln. Unsere Aufgabe
ist es, den europäischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden auch nach Wegfall der Grenzkontrollen eine
effektive und effiziente Aufgabenerledigung zu ermöglichen.
Hierfür ist der erleichterte Informationsaustausch
zwischen den Behörden in Europa eine entscheidende
Ausgleichsmaßnahme für eine wirksame Strafverfolgung
und Gefahrenabwehr. Es gilt: Nur wer hinreichend informiert ist, kann die richtigen Maßnahmen ergreifen.
Und hinreichend informiert heißt beim heutigen Täterverhalten, oft auch über Grenzen hinweg, also europäisch informiert zu sein.
Genau das ist das Ziel des vorgelegten Gesetzentwurfes: Anlass für das Vorhaben ist der Rahmenbeschluss
2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Europäischen Union. Diese sogenannte schwedische
Initiative soll nunmehr in innerstaatliches Recht umgesetzt werden.
Hierdurch sind Änderungen im Bundeskriminalamtgesetz, im Bundespolizeigesetz, im Gesetz über die internationale Rechtshilfe, in der Strafprozessordnung, im
Zollfahndungsdienstgesetz und im Zollverwaltungsgesetz, in der Abgabenordnung, im Gesetz zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit und schließlich im SGB X notwendig.
Für den Austausch von Informationen zwischen den
Mitgliedstaaten dürfen künftig keine strengeren Regelungen gelten als innerhalb eines Mitgliedstaates. Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz ist der zentrale Aspekt
des Vorhabens und orientiert sich an den rechtlichen
Möglichkeiten des Informationsgeberlandes. Eine Datenübermittlung von Berlin nach Malmö soll also künftig
unter den grundsätzlich gleichen gesetzlichen Voraussetzungen erfolgen können wie von Berlin nach Lörrach.
Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz schafft eine völlig
Armin Schuster ({0})
neue Qualität bei der innereuropäischen Zusammenarbeit.
Weiterhin darf künftig die Beantwortung von Ersuchen aus dem europäischen Ausland nur noch bei Vorliegen konkreter Ausnahmetatbestände verweigert werden. Danach ist beispielsweise eine Übermittlung von
personenbezogenen Daten unzulässig, wenn hierdurch
wesentliche deutsche Sicherheitsinteressen des Bundes
oder der Länder gefährdet würden.
Schließlich gilt es, bei dem gesamten Vorhaben noch
einen weiteren Aspekt zu beachten: den Datenschutz.
Immerhin geht es hier um den grenzüberschreitenden
Austausch von personenbezogenen Daten. Aus diesem
Grund muss der Datenschutz durchgängig Beachtung
finden. Dies ist ein zentrales Anliegen der Bundesregierung. Es wird auf gar keinen Fall so sein, dass unsere
hohen innerstaatlichen Datenschutzstandards im Zuge
einer Übermittlung an einen anderen europäischen Mitgliedstaat gesenkt werden.
Der vorgelegte Gesetzentwurf erfüllt diese Vorgabe
umfassend. Insbesondere unterliegen die Daten nach
der Übermittlung einer besonderen Zweckbindung. Der
Gesetzentwurf macht klar, dass die Daten nur für die
Zwecke, für die sie übermittelt wurden, genutzt werden
dürfen. Von dieser strengen Zweckbindung darf nur abgewichen werden, wenn es um die Abwehr einer gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit geht. Diese enge Ausnahmeregelung ist
angemessen.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird
Deutschland seinen europäischen Verpflichtungen aus
dem Rahmenbeschluss nachkommen. Darüber hinaus
wird der Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden in Europa erheblich erleichtert. Letzteres ist ausdrücklich im Interesse Deutschlands. Daher
ist diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Kriminalität ist kein nationales Problem und macht
vor Ländergrenzen nicht halt. Menschenhandel, Terrorismus oder Korruption sind internationale und damit
länderübergreifende Straftaten, denen auch nur länderübergreifend effektiv begegnet werden kann.
Ein flexibler und zuverlässiger Austausch von strafverfolgungsrelevanten Informationen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Art. 87 Abs. 1,
Abs. 2 a AEUV, ist aus diesem Grund ein wichtiger Baustein bei der wirksamen Bekämpfung der internationalen
Kriminalität. Der Vertrag von Lissabon stärkt in dieser
Beziehung bereits die Rolle von Eurojust und Europol,
Art. 85 und Art. 88 AEUV, die die Mitgliedstaaten in ihrer Zusammenarbeit bei Ermittlungen, Strafverfolgungen und der Prävention und Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus unterstützen. Das ist ein wichtiger
Schritt auf dem Wege der Verbesserung der polizeilichen
und justiziellen Zusammenarbeit in der EU.
Darüber hinaus hat die Europäische Union mit dem
im Dezember 2009 verabschiedeten Stockholmer Programm eine ganzheitliche Strategie vorgelegt, die die
Prioritäten der EU für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für den Fünfjahreszeitraum von
2010 bis 2014 festlegt. Damit bildet sie den Rahmen für
zahlreiche politische Maßnahmen der Union auf Gebieten wie der Justiz, der öffentlichen Sicherheit, der Einwanderung und des Asyls. Hierbei ist es wichtig, die
richtige Balance zwischen sicherheitspolitischen Interessen und Freiheitsrechten zu wahren. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine Ausgewogenheit von Freiheit uns Sicherheit.
Mit dem Rahmenbeschluss 2006/960/JI aus dem
Jahre 2006 formulierte der Rat ein zentrales Ziel der
Europäischen Union. Es besteht darin, ihren Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten.
Nur durch eine engere Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten beim Austausch von
Informationen und Erkenntnissen über Straftaten und
kriminelle Aktivitäten kann eine effektive länderübergreifende Prävention und Strafverfolgung und damit ein
möglichst hoher Schutz für die Bürgerinnen und Bürger
in Europa gewährleistet werden. Jedem Mitgliedstaat
wurde die Möglichkeit eingeräumt, die für die Strafverfolgungsbehörden relevanten Daten anzufordern und
auf deren Ersuchen hin zu erhalten. Das ist ein wichtiger
Schritt hin zu einer wirksamen Bekämpfung von Kriminalität, den wir als SPD ausdrücklich unterstützen.
Zwei große Fortschritte beinhaltet der Rahmenbeschluss gegenüber den bisherigen Rechtshilfebestimmungen, auf die ich hinweisen möchte: Zum einen
schreibt er den sogenannten Gleichbehandlungsgrundsatz bzw. Grundsatz der Verfügbarkeit personenbezogener Informationen fest, der besagt, dass Informationen
den Strafverfolgungsbehörden aus anderen Ländern in
der gleichen Art und Weise zugänglich gemacht werden
müssen wie den inländischen Behörden. Zum anderen
enthält der Rahmenbeschluss Regelungen zu Beantwortungsfristen. So soll auf Ersuchen aus EU-Staaten in Eilfällen innerhalb von acht Stunden, in normalen Fällen
innerhalb von zwei Wochen geantwortet werden. Bislang
wurde der Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten durch rechtliche Hindernisse und komplizierte Verwaltungsstrukturen beeinträchtigt. Eine mehrmonatige Wartezeit, wie sie bisher nicht selten die Regel
war, wäre nunmehr ausgeschlossen. Mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Fristenregelung beschreiten die europäischen Staaten einen neuen und richtigen
Weg.
Leider hat es Deutschland bisher versäumt, den Rahmenbeschluss trotz Ablauf der Umsetzungsfrist in nationales Recht umzusetzen. Wir begrüßen daher, dass die
Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf vorgelegt
hat, um die notwendige Umsetzung in deutsches Recht
zu vollziehen. Mit dem Entwurf des Gesetzes über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union schlägt die
Bundesregierung Änderungen bei einer Reihe von Gesetzen vor, darunter das Gesetz über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen, das Bundeskriminalamtgesetz und das Bundespolizeigesetz.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die SPD unterstützt ausdrücklich den Rahmenbeschluss zur Erleichterung des Informationsaustausches
zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und damit auch die Umsetzung durch das geplante Gesetz. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass
nur verfügbare Daten übermittelt werden sollen, also die
Daten, die bei der ersuchten Behörde vorhanden sind
und die ohne Ergreifen von Zwangsmaßnahmen erhoben
worden sind. Eine Übermittlung von Daten, die erst
durch Zwangsmaßnahmen erhoben werden müssten,
wird nicht gestattet.
Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme vom
11. Februar 2011, dass der Begriff der „durch Zwangsmaßnahmen erlangten Erkenntnisse und Informationen“
legal definiert wird. Der Polizei wäre sonst der Datenabgleich als ein wichtiges Instrument im grenzüberschreitenden Austausch von Informationen genommen. Die
SPD hält genau wie die Bundesregierung eine Legaldefinition des Begriffes für nicht notwendig. Da ohnehin
nur Daten ausgetauscht werden können, die bereits vorhanden sind und aufgrund einschlägiger nationaler Vorschriften abgeglichen werden, spielt die Frage keine
Rolle, ob die Daten durch Zwangsmaßnahmen erlangt
werden können, da diese ohnehin einem Verwertungsverbot unterlägen.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
spielt bei der Weitergabe von Informationen der Datenschutz eine besonders große Rolle. Ein modernes europäisches Netzwerk zum Informationsaustausch bedarf
auch eines gewissenhaften einheitlichen Schutzes der zu
übertragenden Daten. Der Grundsatz der Verfügbarkeit
zielt darauf ab, die vorhandenen nationalstaatlichen
und gemeinschaftlichen europäischen Informationssysteme miteinander zu vernetzen, sodass die Daten für die
verschiedenen Sicherheitsbehörden abgerufen, gespeichert und übermittelt werden können, auch wenn sie nur
durch das Einverständnis des jeweiligen Mitgliedstaates
eingeholt werden dürfen. Eine wirksame Strafverfolgung
über Ländergrenzen hinweg zum Schutz kollektiver Sicherheitsinteressen darf den Individualschutz der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger nicht beeinträchtigen.
Es ist notwendig, jedem Missbrauch vorzubeugen und
den Grundrechteschutz, wie in Art. 16 AEUV sowie in
der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
und der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt, vollständig zu achten.
Meine Fraktion und ich begrüßen den Schritt der europäischen Staaten hin zu einer gegenseitigen Akzeptanz
von rechtlichen Strukturen und Entscheidungen sowie zu
einem umfassenden Informationsaustausch im Bereich
der Strafverfolgung. Der Umsetzung des Rahmenbeschlusses von 2006 gestehen wir dabei eine besondere
Rolle zu. Nach der Umsetzung in nationales Recht ist es
wichtig, den Austausch von Strafverfolgungsdaten zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu überwachen und
die Funktionalität und Wirksamkeit der Austauschnetzwerke kontinuierlich zu überprüfen. Wir unterstützen
eine intensive und weitgehende Zusammenarbeit der
Mitgliedstaaten untereinander und auf europäischer
Ebene - nicht nur im Bereich der Strafverfolgung, sondern auch darüber hinaus. Deshalb können wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen.
In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
von herausragender Bedeutung. Es ist daher notwendig,
innerhalb Europas die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu verbessern.
Dabei darf aber keiner der drei Aspekte - Freiheit,
Sicherheit und Recht - ins Hintertreffen geraten. Eine
Zusammenarbeit, die sich nur an der Sicherheit orientiert, dabei aber die Freiheit über Gebühr einschränkt
und dem Recht durch mangelnde rechtsstaatliche Sicherungen nicht ausreichend Rechnung trägt, genügte den
Anforderungen an eine vernünftige Politik in der dritten
Säule nicht.
Der unter der schwedischen Ratspräsidentschaft entwickelte Rahmenbeschluss folgt dem Gedanken eines
einheitlichen EU-weiten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dabei ist es grundsätzlich nachvollziehbar, dass in diesem kein Unterschied gemacht werden soll zwischen dem Datenaustausch der zuständigen
innerstaatlichen Behörden und den zuständigen Behörden anderer EU-Mitgliedstaaten. Dennoch muss natürlich berücksichtigt werden, dass ein einheitlicher Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht bedeutet und auch nicht bedeuten darf, dass Strafverfolgung
nicht mehr in nationaler Hoheit steht. Es ist daher richtig, dass eine nationale Behörde nicht über die Regeln,
die für die innerstaatliche Datenübermittlung gelten, hinaus verpflichtet ist, Behörden anderer Mitgliedstaaten
Daten zur Verfügung zu stellen. Damit wird gewährleistet, dass die deutschen Behörden unseren Standard wahren können, wenn Ersuchen bearbeitet werden.
Richtig und wichtig ist auch die Zweckbindung der
übermittelten Daten. Die strikte Zweckbindung und das
ausdrückliche Verbot, übermittelte Daten zu Beweiszwecken im Strafverfahren zu verwenden, sofern keine diesbezügliche ausdrückliche Zustimmung vorliegt, ist eine
zentrale rechtsstaatliche Absicherung.
Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger
Rechtsprechung deutlich gemacht, dass in der Übermittlung von Daten ein eigener Grundrechtseingriff zu sehen
ist, der dem Eingriff bei der Erhebung gleichzustellen
ist. Da es sich bei den hier infrage stehenden Daten um
sensible Daten handelt, muss ein hohes Niveau an Datenschutz sowie an Rechtsschutz gewährleistet sein. Zudem muss stets die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden.
Daher hat die FDP-Fraktion immer angemahnt, dass
derartige Daten nur dann übermittelt werden dürfen,
wenn die Schwere der Straftat, die in Rede steht, die Datenübermittlung verhältnismäßig macht. Insofern ist es
gut, dass die Datenübermittlung verweigert werden
kann, wenn die Straftat im Empfängerland mit einer
Freiheitsstrafe von einem Jahr oder weniger bedroht ist.
Wenngleich mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf
im Wesentlichen nur Anpassungen nationaler Rechtsvorschriften, die sich auf den Rahmenbeschluss bezieZu Protokoll gegebene Reden
hen, vorgenommen werden, dürfen wir nicht die Augen
davor verschließen, dass, wie die Bundesregierung in ihrer Begründung schreibt, „neue Maßstäbe“ bei der Datenübermittlung gesetzt werden. Diese Maßstäbe dürfen
aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion aber nicht nur
die Interessen der Strafverfolgungsbehörden sein, sondern müssen ebenso die Grundrechte, insbesondere den
Datenschutz und den Rechtsschutz, umfassen. Die
Schnelligkeit und Leichtigkeit der Datenübermittlung
muss durch strikte rechtsstaatliche Sicherungen flankiert sein.
Die Liberalen erkennen ausdrücklich die Bedeutung
der europäischen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung
von Kriminalität und Terrorismus an. Ebenso steht aber
die Achtung der Grundrechte für uns an vorderster
Stelle. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die
Gratwanderung deutlich, die bei der Abwägung von
Freiheit und Sicherheit stets gegeben ist. Aus Sicht der
FDP-Fraktion ist dies den federführenden Bundesministerien der Justiz und des Innern gelungen. Die FDPFraktion wird weiterhin sorgsam darauf achten, dass in
der EU bei allen Beschlüssen alle Aspekte der dritten
Säule gleichermaßen berücksichtigt werden.
Unbestritten gibt es die Notwendigkeit für einen besseren Austausch von Erkenntnissen zwischen den Strafbehörden der Mitgliedstaaten in der Europäischen
Union. Bei vielen Straftaten ist die grenzüberschreitende
Kriminalität zur Normalität geworden. Eine grenzübergreifende Ermittlungszusammenarbeit ist eher noch die
Ausnahme.
Bisher lief der zwischenstaatliche Datenaustausch
von Ermittlungsbehörden weitgehend über das Mittel
des Rechtshilfeersuchens. Lange Wartezeiten und ausbleibende Reaktionen auf Anfragen waren die Regel.
Das war ein äußerst unbefriedigender Zustand.
In den letzten Jahren hat sich in der EU der Ansatz
der „weitgehend diskriminierungsfreien Verfügbarkeit
von Daten“ durchgesetzt. Ermittelnde Behörden eines
Mitgliedstaates sollen grundsätzlich und zeitnah auf die
vorhandenen Ermittlungsdaten des anderen Mitgliedstaates zugreifen können. Für den Informationsaustausch mit dem EU-Ausland dürfen keine strengeren
Regelungen als für den Austausch von Strafverfolgungsdaten im Inland bestehen. Bis zum 26. August 2011 müssen die EU-Beschlüsse zum Datenabgleich, resultierend
aus dem „Ratsbeschluss zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität“, umgesetzt sein.
So weit, so gut. Der Prozess zur Schaffung der technischen und rechtlichen Voraussetzungen zum Austausch
von Strafverfolgungsdaten findet allerdings vor dem
Hintergrund eines nicht vorhandenen europäischen Datenschutzrechtes, eines national völlig unterschiedlichen
Datenschutzniveaus und teilweise unzureichender
Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards statt.
In der Europäischen Union existiert kein verbindlicher, einklagbarer Datenschutzstandard. Es existieren
jeweils bereichsspezifische Datenschutzbestimmungen
mit eher zweifelhaften Datenschutzniveaus, zum Beispiel
zu Europol, Schengen oder zum Prümer Ratsbeschluss.
Es gibt aber keine Anwendbarkeit des Strafrechtes auf
die Datenschutzrichtlinien und -vorschriften. Der einzig
geltende Rechtsakt ist das völlig veraltete völkerrechtliche „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der
automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten“
der Mitglieder des Europarates von 1981.
Der Mangel bei den Rechtsstaats- und Menschenrechtsstandards in einigen EU-Ländern zeigte sich beispielsweise beim sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Die vom BND-Untersuchungsausschuss benannten
Fälle bewiesen, dass grundlegende Rechtsstaats- und
Menschenrechtsstandards massiv verletzt wurden und
bei neuerlichen Terroranschlägen auch künftig wieder
verletzt werden dürften. So gab es in den Mitgliedstaaten
Polen, Litauen und Rumänien sogenannte Black Sites,
also inoffizielle Gefängnisse der CIA, in denen unter
Folterbedingungen inhaftierte Verdächtige bei ihren
Vernehmungen mit Informationen aus unter anderem in
Deutschland geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren konfrontiert wurden.
Die Umsetzung des Ratsbeschlusses durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung wird von der Linken
strikt abgelehnt. Der Ratsbeschluss zielt darauf, keinen
Unterschied mehr zwischen innerstaatlichen und europäischen Strafverfolgungsbehörden zu machen, wenn es
darum geht, bei den Strafverfolgungsbehörden vorhandene oder verfügbare Informationen zur Verfügung zu
stellen. Damit geht der Rechtsakt grundsätzlich über Regelungen zum Austausch von Informationen und Erkenntnissen zwischen Strafverfolgungsbehörden hinaus,
die auf Art. 39 des Schengener Durchführungsübereinkommens, SDÜ, beruhen. Art. 39 SDÜ verpflichtet die
Mitgliedstaaten zwar zu gegenseitiger Hilfe im Interesse
der vorbeugenden Bekämpfung und der Aufklärung von
strafbaren Handlungen, überlässt es jedoch dem nationalen Recht, die Art der Zusammenarbeit auszugestalten.
Nach dem Ratsbeschluss hingegen gibt es für die angefragten Mitgliedstaaten lediglich ein Rückweisungsrecht bei Informationen und Erkenntnissen, die durch
Zwangsmaßnahmen erlangt wurden, und wenn dies mit
dem nationalen Recht nicht vereinbar ist. Für eine derart weitgehende grenzüberschreitende Verfügbarkeit
strafrechtlicher Ermittlungsdaten fehlt es indes, wie gesagt, an der Grundvoraussetzung eines unabhängig von
einer Einzelfallprüfung vollzogenen Informationsaustausches: ein angemessener rechtstaatlicher, insbesondere datenschutzrechtlicher, Standard innerhalb der EU.
Es fehlen insbesondere klare Regelungen im Hinblick
auf den Zweck der Datenabfrage, den von der Datenverarbeitung betroffenen bzw. auszuschließenden Personenkreis, die Begrenzung der Übermittlung von DNADaten auf bestimmte Deliktbereiche, die Speicherfristen
der Daten im anfordernden Land sowie ein Weitergabeverbot an dritte Dienststellen und Drittstaaten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die unscharfe Trennung von Polizei, Geheimdiensten
und Militär in verschiedenen Mitgliedstaaten lässt erwarten, dass übermittelte Daten nach Belieben in deren
nationale Datenbanken eingespeist und nicht im Sinne
der deutschen Rechtsprechung verwendet werden. Weiterhin ist völlig unklar, wie die Einhaltung von datenschutzrechtlichen Fragen auf der europäischen und nationalen Ebene parlamentarisch überprüft werden kann.
Man muss es klar sagen: Der Austausch von Ermittlungsdaten zwischen den Mitgliedstaaten ohne ausreichende Rechtsgrundlage wird den Wert der so erlangten
Ermittlungsergebnisse vor Gericht reduzieren. Verurteilungen, zumindest vor deutschen Gerichten, werden unwahrscheinlich, wenn der Wert von Beweisen zweifelhaft
ist.
Der Bundesregierung muss man ins Stammbuch
schreiben, dass sie mit großem Fleiß die Umsetzung von
Beschlüssen der EU ins deutsche Recht betreibt, mit denen man die Befugnisse europäischer Sicherheitsbehörden massiv ausweitet. Zu vermuten ist gar, dass man über
den Umweg europäischer Verordnungen den hohen, vom
Bundesverfassungsgericht vorgegebenen, Datenschutzstandard aushebeln möchte. Sie rührt aber keinen Finger, wenn es um die Ausgestaltung eines europäischen
Datenschutzes geht, der die Bürgerinnen und Bürger vor
staatlichen Eingriffen in die Privatsphäre schützen soll.
Die Linke fordert eindringlich den Einsatz der Bundesregierung auf europäischer Ebene für die Sicherung individueller Rechte, Rechtsstaatlichkeit und datenschutzrechtlicher Standards nicht unter den vom
Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Niveaus!
Wir befinden uns im Jahr 2011, 15 Monate nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, nach dem nun
endlich das Europäische Parlament bei der europarechtlichen Regelung des Datenschutzes und des Austauschs personenbezogener Daten auch im Bereich des
Polizei- und Strafrechts entscheidend mitbestimmen
kann. Das ist wichtig und im Hinblick auf die anstehende Gesamtreform des EU-Datenschutzrahmens und
die datenschutzrechtlichen Herausforderungen eines
Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den
es rechtlich und politisch zu gestalten gilt, auch notwendig.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die
Vereinfachung des Austauschs von Informationen und
Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dient der
Umsetzung eines eher beunruhigenden Relikts aus alten
Zeiten, in denen EU-Recht noch hinter verschlossenen
Türen ohne effektive parlamentarische Kontrolle durch
das Europäische Parlament gemacht werden konnte,
wenn sich nur die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen und der jeweiligen Innenministerien der Mitgliedstaaten einig waren. Das Gesetz soll der Umsetzung
eines EU-Rahmenbeschlusses über die Vereinfachung
des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen
zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der sogenannten
schwedischen Initiative aus dem Jahr 2006, dienen.
Dass man die Umsetzungsfrist, die im Dezember 2008
auslief, seelenruhig und deutlich hat verstreichen lassen, kann ich angesichts der schwerwiegenden datenschutzrechtlichen Kritik, die am Konzept des Rahmenbeschlusses in den letzten Jahren immer wieder geübt
wurde, verstehen. Warum Deutschland ausgerechnet
jetzt den Rahmenbeschluss umsetzen soll, wo ein Bericht
der Kommission über dessen Umsetzung und die Reform
des EU-Datenschutzrahmens kurz bevorstehen, erschließt sich mir aber nicht. Die Erkenntnisse aus dem
Bericht der Kommission und aus den Fachdebatten zur
Reform des EU-Datenschutzrahmens sollten auf jeden
Fall gebührende Berücksichtigung finden.
Der Rahmenbeschluss und sein Umsetzungsgesetz
bezwecken den möglichst ungehinderten und beschleunigten Datenaustausch zwischen den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Der Datenaustausch ist grundsätzlich nicht auf bestimmte
Gefahrensituationen oder Verdachtstaten beschränkt.
Der Kreis der Behörden, die untereinander - offenbar
kreuz und quer - Daten austauschen sollen, ist sehr
groß: Jede Behörde, die befugt ist, Straftaten oder kriminelle Aktivitäten aufzudecken, zu verhüten, aufzuklären
und Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, kann Daten an
deutsche Behörden übermitteln oder Daten von deutschen Behörden anfragen. Es reicht, dass der betreffende Mitgliedstaat die Polizei-, Strafverfolgungs-,
Steuer-, Ausländer-, Gesundheits- oder sonstige Behörde gegenüber dem Rat der EU als zuständig benannt
hat. Die Möglichkeiten, die Übermittlung von Informationen auf Anfrage einer EU-ausländischen Behörde zu
verweigern, sind sehr eng. Die Übermittlung von Daten
von Stuttgart nach Györ oder Barcelona soll praktisch
so behandelt werden wie die Übermittlung von Daten
von Stuttgart nach Wiesbaden. Die Fristen für die Übermittlung sind zudem äußerst kurz. Zwischen acht Stunden und zwei Wochen hätte eine deutsche Behörde Zeit,
die Daten auf der Grundlage eines holzschnittartigen
Formblatts zu übermitteln. Auch spontane Übermittlungen zwischen den als zuständig benannten Behörden
verschiedener EU-Mitgliedstaaten zwischen Litauen
und Portugal soll es geben, wenn konkrete Gründe für
die Annahme bestehen, dass die Informationen für die
Prävention oder Verfolgung schwerer Straftaten nützlich
sein könnten.
Es verwundert unter diesen Voraussetzungen nicht,
dass sowohl Vertreter von Regierungen und Sicherheitsbehörden als auch Datenschützer davon ausgehen, dass
die Umsetzung der schwedischen Initiative zu einem
deutlichen Anstieg und zur Beschleunigung des Informationsaustausches in der EU führen wird.
Wir Grüne wollen ein starkes Europa, einen starken
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Aber
Sicherheit auf der einen Seite und Freiheit und Recht auf
der anderen Seite müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Eine „Securitization“ Europas unter
Preisgabe der Grundrechtserrungenschaften Deutschlands wollen wir nicht. Nach Lissabon wollen und müssen wir auch das EU-Grundrecht auf Datenschutz in
Zu Protokoll gegebene Reden
Art. 8 der nunmehr verbindlichen EU-Grundrechtecharta
in die Waagschale werfen.
Der alte Rahmenbeschluss über den Informationsaustausch zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden, den wir hier umsetzen sollen, basiert auf der Fiktion, dass die Datenschutzstandards in den EU-Staaten
in etwa vergleichbar sind. Träfe das zu, könnte man Daten zwischen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden innerhalb der EU tatsächlich weitgehend unbedenklich
austauschen. Dass aber ein EU-weit vergleichbares Datenschutzniveau im Sicherheitsbereich bedauerlicherweise noch längst nicht Wirklichkeit ist, sondern pure
Fiktion, bestreitet meines Wissens niemand. Wer es bestreitet, der sollte den datenschutzrechtlich völlig unzureichenden EU-Rahmenbeschluss zum Datenschutz aus
dem Jahr 2008 an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die Erhebung und Verarbeitung von
personenbezogenen Daten durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden messen. Er oder sie wird feststellen
müssen, dass nichts von diesen verfassungsrechtlichen
Vorgaben sich als EU-rechtliche Pflicht in dem Rahmenbeschluss wiederfindet. Die Mitgliedstaaten konnten
sich 2008 aus gutem Grund gar nicht auf die Normierung datenschutzrechtlicher Standards für die Datenverarbeitung durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden
auf nationaler Ebene einigen. Der Rahmenbeschluss beschränkt sich deshalb auf den Datenaustausch zwischen
den betreffenden Behörden der EU-Mitgliedstaaten. Das
kann schon deshalb keinen ausreichenden Datenschutz
garantieren, weil die übermittelten Daten im Empfängerland mit den dort erhobenen Daten zusammengeführt
werden. Auch die Rechte der Betroffenen werden durch
den Rahmenbeschluss Datenschutz nicht ausreichend
gewährleistet. Von einem vergleichbaren datenschutzrechtlichen Schutzniveau in der EU oder gar einer europarechtlich abgesicherten Harmonisierung des Datenschutzes im Bereich des Polizei- und Strafrechts kann
daher nicht die Rede sein.
Unter dieser Voraussetzung können wir nicht einfach
ein Gesetz verabschieden, das den praktisch ungehinderten und beschleunigten Datenaustausch mit einer
Unzahl von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden in
der ganzen EU ermöglicht.
So weit zu dem an sich schon beunruhigenden Konzept des Rahmenbeschlusses zum Informationsaustausch und seines Umsetzungsgesetzes. Lassen Sie mich
weitere konkrete Gründe nennen, warum wir diesen Gesetzentwurf einer gründlichen Prüfung unterziehen sollten.
Erstens fehlt es dem Gesetz an vielen Stellen an der
verfassungsrechtlich gebotenen Normenklarheit. Es benennt nicht die Behörden der EU-Mitgliedstaaten, in die
Daten übermittelt werden dürfen, sondern verweist
Rechtsanwenderinnen und -anwender sowie Richterinnen und Richter zu diesem Zweck auf eine Liste, die irgendwo beim Generalsekretariat des Rates liegen muss.
Das Umsetzungsgesetz benennt auch die Straftaten
nicht, in deren Zusammenhang Daten spontan in andere
Mitgliedstaaten übermittelt werden können, sondern
verweist diesbezüglich auf den Rahmenbeschluss zum
EU-Haftbefehl. Darüber hinaus begnügt sich das vorgeschlagene Umsetzungsgesetz mit einem vagen Verweis
auf Art. 6 des EU-Vertrages, um zu beschreiben, wann
die Übermittlung aus grundrechtlichen Erwägungen heraus unterbleiben muss.
Zweitens nützt das Umsetzungsgesetz die Umsetzungsspielräume nicht, die der EU-Rahmenbeschluss
den Mitgliedstaaten gewährt. So fehlt es zum Beispiel an
der Normierung einschränkender Modalitäten für Spontanübermittlungen. Es fehlt außerdem an begrenzenden
Regelungen über die Weitergabe der Daten an Drittstaaten außerhalb der EU. Als letztes Beispiel für die fehlende Nutzung des Umsetzungsspielraums zugunsten der
Grundrechte möchte ich anführen, dass das Umsetzungsgesetz keine inhaltlichen Anforderungen an die Ersuchen um Datenübermittlung an Drittstaaten enthält
und dadurch der Übermittlung von nichterforderlichen
Überschussinformationen Tür und Tor öffnet.
Drittens möchte ich darauf hinweisen, dass auch dieses Umsetzungsgesetz offenbar wieder zur Ausweitung
bundesdeutscher exekutiver Handlungsspielräume
durch die Hintertür genützt werden soll. Wie schon zahlreiche Umsetzungsgesetzentwürfe der Bundesregierung
zuvor enthält auch dieses Gesetz Rechtsverschärfungen,
die mit der EU-Vorlage, dem Rahmenbeschluss, gar
nichts zu tun haben. So soll zum Beispiel durch Änderungen im Bundespolizeigesetz und im BKA-Gesetz das Datenschutzniveau für die Datenübermittlung in Nicht-EUStaaten abgesenkt werden. Künftig können die „schutzwürdigen Interessen der betroffenen Personen … auch
dadurch gewahrt werden, dass der Empfängerstaat oder
die empfangende zwischen- oder überstaatliche Stelle
im Einzelfall einen angemessenen Schutz der übermittelten Daten garantiert“. Einzelfallregelungen entsprechen
nicht unseren rechtsstaatlichen und grundrechtlichen
Schutzstandards. Das lassen wir uns nicht so einfach unterjubeln, und das sollten auch Sie, meine Damen und
Herren von den Koalitionsfraktionen, nicht tun!
Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam und
in aller Ruhe, bestenfalls unter Hinzuziehung externen
Sachverstands, über diesen komplexen Gesetzentwurf
beraten und anschließend besonnen über das weitere
Vorgehen entscheiden. Lassen Sie uns den vielfältigen
Entwicklungen im Sicherheitsrecht Europas Rechnung
tragen, die sich seit dem Erlass des Rahmenbeschlusses
2006 vollzogen haben. Lassen Sie uns gemeinsam ein
klares Ja zu Europa formulieren, gleichzeitig aber unmissverständlich klarmachen, dass es mit uns keinen
Ausverkauf von Datenschutzstandards über die europäische Hintertür geben wird.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/5096 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/5053 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Ich lese die Namen der Kolleginnen und Kollegen vor, damit die Fraktionen wieder Beifall geben können: Ansgar Heveling,
({1})
René Röspel,
({2})
Stephan Thomae,
({3})
Dr. Petra Sitte,
({4})
Krista Sager.1) Sollten die Kolleginnen und Kollegen
nicht da sein, bitte ich, Ihnen mitzuteilen, dass sie hier
mit Beifall bedacht worden sind.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 sowie Zusatzpunkt 11 auf:
21 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Rainer Arnold, Sören Bartol, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur
Volksabstimmung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Stuttgart 21, Neubaustrecke Wendlin-
gen-Ulm und das Sparpaket der Bundesre-
gierung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Birgitt Bender,
1) Anlage 8
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sofortiger Baustopp für Stuttgart 21 und die
Neubaustrecke Wendlingen-Ulm
- Drucksachen 17/2933, 17/2914, 17/2893,
17/5172 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({6}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton
Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenter Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts Stuttgart 21
- Drucksachen 17/5041, 17/5236 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Stefan Kaufmann
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Stefan
Kaufmann, Ulrich Lange, Ute Kumpf, Werner
Simmling,
({7})
Sabine Leidig, Winfried Hermann.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
hat empfohlen, die Anträge von SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen, die im Wesentlichen einen Baustopp
zum Ziel haben, abzulehnen. Der Ausschuss hat weiterhin empfohlen, den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
zu einem „Transparenten Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojektes Stuttgart 21“ ebenfalls abzulehnen. Alle zur Debatte stehenden Anträge sind meiner
Ansicht nach mit dem Schlichterspruch des Schlichters
Dr. Heiner Geißler obsolet geworden, was ich im Einzelnen gerne erläutern möchte.
Zunächst zum Antrag der SPD. Nach dem Schlichterspruch hätte die SPD die Chance gehabt, ihren Zickzackkurs beim Thema Stuttgart 21 zu beenden. Diese
Chance hat sie offensichtlich aus wahltaktischen Gründen nicht genutzt. Der Schlichterspruch zu Stuttgart 21
betont, dass eine Volksabstimmung verfassungswidrig
wäre und daher nicht in Betracht kommt. Mit etwas Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, das dies offenbar auch
von SPD-Parteichef Siegmar Gabriel so gesehen wird.
Oder wie ist die Aussage zum Volksentscheid vom
10. März dieses Jahres in der “Südwestpresse“: „vielleicht braucht man das jetzt gar nicht mehr“ zu interpretieren? Leider wurde Herr Gabriel noch am selben Tag
vom SPD-Spitzenkandidaten und Möchtegern-Ministerpräsidenten Dr. Nils Schmid zurückgepfiffen. Herr
Schmid hält weiter an seiner merkwürdigen KonstrukDr. Stefan Kaufmann
tion eines verfassungswidrigen Volksentscheids fest. Ich
kann nur dringend abraten, einen solchen Volksentscheid zu initiieren. Die Äußerungen des Präsidenten
des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle sind
eindeutig. Ich zitiere ihn aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16. Oktober 2010:
Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernsthaftes Problem für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten dar. Irgendwann muss hier ein
Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn
die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden
haben.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Einen Volksentscheid wird es nicht geben. Der SPD rate ich davon
ab, ihren parteiinternen Streit in dieser Sache auf dem
Rücken der Baden-Württemberger auszutragen.
Zum Antrag der Linken möchte ich zwei Punkte betonen. Erstens hat die Schlichtung deutlich gemacht, dass
das Projekt Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn AG ist.
Zweitens haben unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften im Laufe der Schlichtung zudem bestätigt,
dass das Projekt ausreichend finanziert ist. Auch für die
Neubaustrecke, also das im Bundesverkehrswegeplan
enthaltene Teilprojekt, wurde die Wirtschaftlichkeit
nochmals bestätigt. Ihr Antrag ist daher folgerichtig abzulehnen.
Eine dem Wahlkampf in Baden-Württemberg geschuldete totale Realitätsverweigerung erleben wir derzeit
bei den Grünen. Sie haben die Faktenschlichtung gefordert, Sie haben die Person des Schlichters vorgeschlagen und Sie haben dem Verfahren zugestimmt. Da Ihnen
das Ergebnis nicht passt, vermitteln Sie nun den Eindruck, als hätte es den Schlichterspruch nie gegeben.
Darüber hinaus wollen Sie nun am Stresstest beteiligt
werden; dem dient der jüngste der Anträge. Diese Beteiligung ist im Schlichterspruch aber nicht vorgesehen.
Wie Sie wissen, wird die Bahn beginnend im April einen
Stresstest durchführen und die Ergebnisse durch das
schweizerische Sachverständigenbüro SMA überprüfen
lassen. So wurde es im Rahmen der Schlichtung vereinbart. Der Stresstest soll im Juni abgeschlossen sein.
Dies ist ein ebenso transparentes wie öffentliches Verfahren - so wie von Ihnen gefordert. Die Bahn wird den
Stresstest eben nicht hinter verschlossenen Türen durchführen. Die Öffentlichkeit wird über die Schritte des
Stresstests informiert, und die Bahn wird die Arbeit in einem Dialogforum zur Diskussion stellen.
Da Sie sich aber ungern an Vereinbarungen halten,
sind Sie sechs Tage vor der Wahl in Baden-Württemberg
noch einen Schritt weitergegangen und haben die Ergebnisse eines eigenen Stresstests präsentiert, bei dem
Stuttgart 21 - man glaubt es kaum - durchfällt. Bedauerlicherweise haben Sie niemanden, etwa von der Bahn
oder den Projektbefürwortern, an Ihrem eigenen kleinen
Stresstest beteiligt. Sie stellen nur immerzu Forderungen
an die anderen. Wohlgemerkt, die Bahn selbst benötigt
über ein halbes Jahr für das komplizierte Verfahren. Das
Vorhaben ist deshalb so zeitaufwändig, weil zunächst
alle für Stuttgart 21 geplanten Bahnanlagen - wie
Gleise, Weichen, Signale und Bahnsteige inklusive der
Eisenbahnstrecken rund um Stuttgart - erfasst werden
müssen. Die Ergebnisse aus 100 simulierten Betriebstagen bilden dann die Grundlage, um die Leistungskapazität beurteilen zu können. In den „Stuttgarter Nachrichten“ am Montag war zu lesen, dass Sie selbst
einräumen, dass nur die Bahn über die technischen
Möglichkeiten für eine Computersimulation verfügt;
dennoch sei Ihre stark vereinfachte Berechnung aussagekräftig.
Das ist doch hanebüchen! Ich sage Ihnen, für was Ihr
Aktionismus aussagekräftig ist: Es handelt sich um einen weiteren unredlichen, aber durchschaubaren Versuch, die Stuttgarter vor der Landtagswahl zu verunsichern und gegen die Zukunft aufzuwiegeln. Auf diese
billige Wahlkampfmasche werden die Bürgerinnen und
Bürger hoffentlich nicht hereinfallen. Seriös sind Ihre
Berechnungen einmal mehr nicht.
Zu Ihrem Antrag, der die Forderung nach einem sofortigen Baustopp enthält, möchte ich noch Folgendes
anmerken: Mit der Schlichtung wurden die von Ihnen
geforderten offenen Gespräche mit allen Beteiligten geführt. Der Bau wurde hierfür weitgehend unterbrochen.
Bis ins kleinste Detail wurden die in Ihrem Antrag geforderten unterschiedlichen Aspekte des Gesamtprojekts
offengelegt und intensiv diskutiert. Im Ergebnis sprach
sich der Schlichter Dr. Heiner Geißler klar für eine
Fortführung des Projekts und eine Weiterentwicklung zu
Stuttgart 21 Plus aus. Nehmen Sie diese Tatsache bitte
endlich zur Kenntnis.
Lassen Sie mich nochmals kurz die Chancen des Projekts für meine Heimatstadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg skizzieren: Mit Stuttgart 21 und der
Neubaustrecke Wendlingen-Ulm stärken wir nicht nur
den Fernverkehr, sondern insbesondere auch den Regionalverkehr in der Region Stuttgart und darüber hinaus.
Mit dem Fildertunnel wird die Region südlich von Stuttgart inklusive des Flughafens durch schnellere Verbindungen viel besser ans Nahverkehrsschienennetz angeschlossen. Mit der Neubaustrecke nach Ulm wird die
gesamte Region Oberschwaben optimal an die Landeshauptstadt Stuttgart angeschlossen. Mehrere durchgängige Regionalexpresslinien werden künftig neben U- und
S-Bahn eine dritte Netzspinne bilden. All dies wird in der
vom Autoverkehr sehr stark belasteten Region Stuttgart
entscheidend dazu beitragen, den Personenverkehr von
der Straße auf die Schiene zu verlagern. Die Neubaustrecke nach Ulm und der weitere Ausbau nach Augsburg bringen eine Entlastung der A 8, eine der am
stärksten frequentierten Autobahnen in Deutschland.
Dies sahen selbst die Grünen bis zum Jahr 2009 so. Eine
überzeugende Alternative zur Neubaustrecke haben sie
auch in der Schlichtung nicht vorgebracht. Die Variante
durchs dichtbesiedelte Neckartal wirft beispielsweise
die Frage nach der prinzipiellen Planfeststellungsfähigkeit auf. Unabhängig davon werden die Bewohner des
Neckartals die zusätzlichen Belastungen nicht widerstandslos hinnehmen. Die geplante Neubaustrecke
Wendlingen-Ulm verläuft dagegen weitgehend durch
weniger dichtbesiedeltes Gebiet. Weil sie parallel zur
Autobahn gebaut wird, kann eine Zerschneidung der
Zu Protokoll gegebene Reden
Landschaft verhindert werden. Auch der Bau der Neubaustrecke hat im Übrigen schon begonnen. Lassen Sie
uns diese Strecke zügig vorantreiben.
Zum Schluss möchte ich noch auf die städtebaulichen
Vorteile für Stuttgart selbst eingehen. Ich halte es für
richtig, dass die freiwerdenden Flächen dauerhaft dem
Versuch von Grundstücksspekulationen entzogen werden. Eine umfassende Bürgerbeteiligung zur Gestaltung
hat bereits begonnen. Es wird ein neues lebendiges
Wohnquartier und eine Erweiterung des Schlossgartens
um mindestens 20 Hektar geben. An den Nahverkehr
wird das Quartier bestens angeschlossen. Schon heute
sind die Vorarbeiten für neue U-Bahnlinien sichtbar.
Insgesamt überwiegen also die verkehrlichen und die
städtebaulichen Vorteile des Projekts deutlich. Die
Schlichtung hat erfreulicherweise auch dazu beigetragen, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sowohl in Baden-Württemberg als auch in der Region
Stuttgart das Projekt inzwischen befürwortet, wie die repräsentativen Umfragen zeigen.
Ich darf Sie daher bitten, den Beschlussempfehlungen
des Ausschusses zu folgen und alle vier heute zur Diskussion stehenden Anträge abzulehnen.
Stuttgart 21 ist nicht nur für die baden-württembergische Landeshauptstadt, sondern für ganz Deutschland
ein Leuchtturmprojekt. Es ist richtig, und es ist wichtig.
Genauso richtig ist aber auch, dass im Vorfeld viel zu
wenig auf die Bevölkerung eingegangen, die Bevölkerung bei diesem Großprojekt nicht mitgenommen wurde.
Es ist das herausragende Verdienst von Heiner
Geißler, dass es zu einer Befriedung, ja zu einer Versöhnung innerhalb der zerstrittenen Bevölkerung kam und
eine Lösung gefunden wurde, obwohl kaum jemand eine
Lösungsmöglichkeit sah. Insbesondere die Grünen hatten nicht damit gerechnet, dass es zu einer Lösung kam,
und nur sehr wenige Grüne, wie der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer, waren Demokraten genug, um das
Schlichtungsergebnis zu akzeptieren.
Die Grünen hatten auf eine weitere Eskalation im Zusammenhang mit Stuttgart 21 gehofft, um weiter in der
Gunst der Wähler zu steigen. Anschließend machte sich
starke Enttäuschung breit, nicht weil die Bedeutung und
die Richtigkeit von Stuttgart 21 bestätigt wurden, sondern weil es keine spektakulären Demos mehr gab, auf
denen man sich als Aktivist gegen jeglichen Ausbau darstellen konnte. Deshalb werden jetzt Scheinanträge gestellt, um das Thema am Kochen zu halten. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie schüren innerhalb
der Stuttgarter Bevölkerung bewusst Ressentiments, um
die Spaltung in der Gesellschaft voranzutreiben, eine
Spaltung, die die Schlichtung zum Glück beendet hat.
Sie haben die von Ihnen geforderte Schlichtung durch
Heiner Geißler erhalten. Akzeptieren Sie endlich das Ergebnis, beenden Sie Ihre Hetzkampagnen!
In der öffentlichen Wirkung wurden immer nur die
Grünen als Gegner von Stuttgart 21 wahrgenommen.
Nur die Grünen haben davon profitiert; die SPD ist in
der Bedeutungslosigkeit versunken. Lange Zeit hat die
baden-württembergische SPD das Großprojekt mitgetragen. Als man sah, wie die Medien sich gegen das Projekt wandten, suchte man mit Händen und Füßen einen
Grund, ebenfalls gegen den neuen Bahnhof sein zu dürfen. Man forderte eine Volksabstimmung, wohl wissend,
dass das Land Baden-Württemberg gar nicht zuständig
ist, wohl wissend, dass die Mehrheit der BadenWürttemberger für Stuttgart 21 ist. Hauptsache war,
dass man endlich einen Grund gefunden hatte, zumindest für einen sofortigen Baustopp sein zu können. Sie
haben recht, wenn Sie in Ihrem Antrag sagen, dass große
Verkehrsinfrastrukturprojekte von der Unterstützung
unserer Gesellschaft leben. Deshalb fand die Schlichtung statt, bei der alle Argumente pro und kontra dargelegt wurden. Geben Sie der DB AG doch die Zeit, den in
der Schlichtung beschlossenen Stresstest durchzuführen
und die Leistungsfähigkeit des kommenden Tiefbahnhofes zu beweisen!
Wie nicht anders zu erwarten, wollten auch die Linken auf den Protestzug aufspringen. Der heute diskutierte Antrag zeigt, dass die Linken nicht bis zum Rand
ihres Tellers blicken können, geschweige denn darüber
hinaus. Es ist richtig, dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann; aber es gibt in unserem Lande Zukunftsprojekte, die notwendig für unsere Gesellschaft,
für unsere Wirtschaft, für unsere Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind. Dazu gehört der Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur. Wir müssen unsere Wirtschaft
am Laufen halten, wenn wir die sozialen Leistungen wie
Hartz IV bezahlen wollen; denn jede Wohltat, die verteilt
werden kann, muss erst verdient werden. Sie als Nachfolger der DDR-Diktatur wissen leider nicht, was
Vorsorge für die Zukunft bedeutet. Sie haben es innerhalb weniger Jahrzehnte geschafft, die Wirtschaft in
Ostdeutschland zugrunde zu richten, die Verkehrsinfrastruktur verrotten zu lassen. Dass Sie sich jetzt gegen
den Bau zukunftsorientierter Maßnahmen wie Stuttgart 21 und den Neubau der Strecke Wendlingen-Ulm
wenden, wundert eigentlich nicht wirklich.
Die Schlichtung hat den verkehrlichen Nutzen von
Stuttgart 21 bestätigt. Die dadurch bedingte höhere
Leistungsfähigkeit hat mehrere offensichtliche positive
Effekte:
Erstens Regionalverkehr: Der neue Durchgangsbahnhof wird in alle Richtungen verbunden. So ist kein
Zug mehr gezwungen, zu wenden, und kann direkt Kurs
auf seinen nächsten Haltebahnhof nehmen. Dadurch
wird die Reisezeit verkürzt.
Zweitens Fernverkehr: Stuttgart ist mit den Städten
Ulm, Augsburg und München über eine uralte Strecke
verbunden, auf der teilweise nur 70 Stundenkilometer
gefahren werden dürfen. Durch den Neubau der Strecke
Wendlingen-Ulm wird künftig eine Hochgeschwindigkeitstrasse geschaffen, mit der Folge, dass die Fahrzeit
von Stuttgart nach Ulm von 54 auf 28 Minuten nahezu
halbiert wird.
Drittens. Die Fahrzeit bis München wird von derzeit
über zweieinviertel Stunden - 139 Minuten - auf etwas
mehr als eineinhalb Stunden - 102 Minuten - reduziert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viertens Güterverkehr: Durch die Neubaustrecke
kommt es zu einer Entlastung der bestehenden Strecke,
sodass dort zusätzliche Kapazitäten entstehen.
Für die anwohnenden Schwaben wirkt sich der Ausbau auch direkt positiv aus. So kommt es zu einer deutlichen Verbesserung der Flughafenanbindung mit deutlicher Verkürzung der Reisezeiten aus den südlichen
Landesteilen:
Von Tübingen zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 64 auf 35 Minuten - 29 Minuten Zeitgewinn.
Von Reutlingen zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 75 auf 25 Minuten - 50 Minuten Zeitgewinn.
Von Nürtingen zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 68 auf 11 Minuten - 57 Minuten Zeitgewinn. Von
Horb zum Flughafen reduziert sich die Fahrzeit von 66
Minuten auf 33 Minuten - 33 Minuten Zeitgewinn.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposition, geben Sie Ihre Haltung als Dauerblockierer auf,
steigen Sie ein in den Zug der Zukunft, und unterstützen
Sie den Ausbau von Stuttgart 21 und der Strecke Wendlingen-Ulm! Die kommenden Generationen werden es
Ihnen danken.
Die heute zur Debatte stehenden Anträge sind in einer Phase entstanden, als die Stimmung in Stuttgart gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hochkochte, als ein
Teil der Bürgerschaft in Stuttgart sich aufgewühlt gegen
die Pläne von Stadt, Bahn und Land stellte und rebellierte, als die Politiker als „Lügenpack“, „Mafiosi“ und
„Kannibalen“ diffamiert wurden, als die politische Welt
vereinfacht wurde in „Ihr da oben“ und „Wir da unten“.
Die Gegner des Projektes Stuttgart 21 redeten über
die gewählten Vertreter in den Parlamenten im Bund, im
Land und in der Kommune, als seien wir alle Rosstäuscher und Berufsversager, die nichts Richtiges zustande
bringen. Politiker und Experten wurden in einen Sack
gesteckt, und es wurde kräftig draufgeschlagen. Stuttgart 21 wurde bundesweit zum Bürgerprotest schlechthin.
Angesichts dieser Entwicklung forderte die SPD im
Land wie im Bund einen Volksentscheid über Stuttgart 21
und die Zustimmung zum Projekt, da dieser aufgewühlte
Volkszorn nur auf diese Weise befriedet werden kann. Ein
ungewöhnlicher Vorschlag, da das Projekt in den vergangenen Jahren alle parlamentarischen Hürden genommen hatte; denn Stuttgart 21 wurde bereits über
zehn Jahre hinweg in den parlamentarischen Gremien
von Stadt, Land und Bund debattiert. Rund 60 Alternativen wurden beleuchtet und wieder verworfen, ehe am
Ende Stuttgart 21 als beste Variante übrig geblieben ist.
Die Eskalation im Sommer 2010 ist den politisch Verantwortlichen der Stadt Stuttgart und der schwarz-gelben Landesregierung zuzuschreiben - allen voran Oberbürgermeister Schuster und Ministerpräsident Mappus.
Aber auch die Bahn trägt Mitschuld daran, dass sich der
Protest gegen Stuttgart 21 aufschaukeln konnte. Sie sind
für den Kommunikations-GAU verantwortlich. Sie haben sich lange auf die Zuschauertribünen zurückgezogen und den Kritikern das Feld überlassen, nach dem
Muster: Wir haben ja die Beschlüsse, und das wird sich
schon alles beruhigen.
Mit einigen Aufklärungsveranstaltungen und Ausstellungen, so dachte man, seien die Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger genug informiert. Diese Einschätzung
war falsch. Es stellt sich aber auch die Frage, warum
sich dieser massive Protest erst im Sommer 2010, als die
Pläne längst beschlossen und bekannt waren, formierte?
Kam der Protest angesichts der anstehenden Landtagswahlen im März 2011 vielleicht einigen gerade recht?
Der Vorschlag eines Volksentscheides wurde im Landtag Baden-Württemberg mit den Stimmen von CDU, FDP
und Grünen abgelehnt. Stattdessen wurde die Schlichtung von Ministerpräsident Mappus als Lösungsweg präsentiert, als Notbremse nach dem indiskutablen und verheerenden Einsatz der Polizei am „schwarzen
Donnerstag“.
Die Schlichtung vor laufender Kamera trug zwar zur
Entgiftung der aufgeheizten Stimmung bei, aber nicht
zur Befriedung. Das Positive an dieser Form der Herstellung von Öffentlichkeit war: Ein Mythos wurde entzaubert. Es geht bei Stuttgart 21 nicht um Leben oder
Tod. Es geht um ein Infrastrukturprojekt, und es geht um
unterschiedliche Auffassungen, wie wir in Stuttgart und
Baden-Württemberg Stadtentwicklung und Mobilität
nachhaltig gestalten. Es geht darum, wie wir zukünftig
mehr Verkehr von der Straße auf ein modernes europäisches Schienenverbundnetz bringen, wie wir die Verkehrsträger besser miteinander vernetzen und wie wir
neugewonnene Fläche in Stuttgart zu einem hoffentlich
nachhaltigen Innenstadtquartier entwickeln. Wir, das
sind Stuttgart und Baden-Württemberg als leistungsstärkste Wirtschaftsregion Europas.
Bei der Schlichtung sind Details und Expertenwissen
zu einer höchstkomplexen Planung auf den Tisch gekommen, das öffentliche Interesse war riesengroß - Phoenix
verzeichnete einen Zuschauerrekord.
Heiner Geißler hat in seinem Schlichterspruch vom
30. November 2010 eine Reihe von Kritikpunkten der
Gegner aufgenommen, die bei der weiteren Planung und
Durchführung des Projekts Stuttgart 21 berücksichtigt
werden sollen. Schwachstellen wurden identifiziert, die
beseitigt werden sollen. Das Projekt Stuttgart 21 soll
baulich attraktiver, umweltfreundlicher, behindertenfreundlicher und sicherer gemacht werden. Im Klartext
heißt das, aus Stuttgart 21 wird Stuttgart 21 plus.
Zum zentralen Ergebnis der Stuttgart-21-Schlichtung
gehört der verordnete Stresstest. Die SPD unterstützt
den Stresstest. Mit dieser Computersimulation muss die
Deutsche Bahn die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs nachweisen. Sie muss zeigen, dass der im Bau befindliche Tiefbahnhof von Stuttgart 21 in der Spitzenstunde am Morgen bis zu 49 Züge abfertigen kann.
Beim Schlichterspruch und Stresstest dürfen Bahn,
Land und Stadt keine politischen Spielchen treiben.
Transparenz hat höchste Priorität.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Deutsche Bahn AG muss den Stresstest öffentlich
gestalten und im Dialog mit den Kritikern bleiben. Die
Bahn darf nicht den Eindruck erwecken, hinter verschlossenen Türen zu agieren.
Die Proteste halten trotz der Schlichtung an, zwar
weniger vehement, aber sie finden statt, montags und
samstags mit nachlassender Beteiligung. Daher halten
wir es nach wie vor für unumgänglich, unseren vorgeschlagen Weg einer Volksabstimmung zu gehen.
Wir alle sind gut beraten, neue Wege der Beteiligung
zu gehen und dafür die rechtlichen Grundlagen zu schaffen. Wir müssen Antworten auf die Frage geben, wie wir
künftig Bürgerbeteiligung bei Großprojekten gestalten.
Wir beschleunigen die Zustimmung zu Projekten
nicht, indem wir weniger Beteiligung möglich machen.
Zustimmung zu Großprojekten kann gewonnen werden,
wenn frühzeitig, umfassend und nachvollziehbar informiert wird, Beteiligungsformen neu entwikkelt und die
Vorschläge aus der Bürgerschaft aufgenommen werden.
Der Ausbau der Rheintalbahn und das Konzept „Baden 21“ der Bürgerinitiativen im Rheintal können hier
Vorbild sein.
Auch wir in den Parlamenten müssen unsere Hausaufgaben machen. Lassen wir bei den großen Verkehrsprojekten das populistische Süppchenkochen! Das Säen
von Misstrauen - so wie jüngst durch das Schnellgutachten der Grünen zum Stresstest - und das Surfen auf
der Skandalisierungswelle führen in die Irre und zerstören das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie.
Die Forderung der SPD nach einem Verzicht auf den
Weiterbau von Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstimmung war und ist richtig. Große Infrastrukturprojekte
brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach dem
27. März wird sich zeigen, wie der Volksentscheid auf
den Weg gebracht werden kann.
Wir, die SPD, stehen zu S 21 und auch zu S 21 plus.
Wir stehen als SPD aber auch dafür, dass ein derartig
wichtiges Projekt nicht über zehn Jahre hinweg unter
Polizeischutz gebaut wird. Der Schlichterspruch
braucht die demokratische Legitimation, und das geht
nur über einen Volksentscheid.
Eine im Sommer 2010 ziemlich angespannte Situation um das Projekt Stuttgart 21 wurde in einem modellhaften Schlichtungsverfahren zu einem für alle Beteiligten annehmbaren Ergebnis geführt. Allen voran gilt
unser Dank der hervorragenden Arbeit des Schlichters
Dr. Geißler. Alle am Schlichtungsverfahren beteiligten
Gruppen haben am 30. November 2010 den Schlichterspruch, der auch die Durchführung eines Stresstests fordert, akzeptiert. Während der Schlichtung wurde vereinbart, dass die DB AG den Stresstest unter Begutachtung
der Firma SMA durchführt. Auch damit haben sich alle
Beteiligten einverstanden erklärt. Die DB AG hat bereits frühzeitig mitgeteilt, dass der Stresstest nicht hinter
verschlossenen Türen stattfinden wird, wie die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag behauptet. Vielmehr werden die Zwischenergebnisse sowie die weitere
Realisierung des Projektes durch ein von der Landesregierung geschaffenes Dialogforum begleitet. Unter Leitung des Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt ({0}), Professor
Dr. Johann-Dietrich Wörner, wird der partnerschaftliche Dialog mit den Projektgegnern fortgesetzt. Mit dem
Forum wird eine Plattform geschaffen, die über den
Austausch hinaus Anregungen und Vorschläge bei der
weiteren Realisierung des Projekts erarbeitet und einbringt. So kann in verschiedenen Dialoggruppen, beispielsweise zur Baubegleitung oder zur Parkgestaltung,
die Umsetzung von Stuttgart 21 aktiv begleitet werden.
Wir sind somit auf einem guten und richtigem Weg.
Gleichwohl dürfen wir uns nicht zurücklehnen, sondern müssen die bei Stuttgart 21 aufgezeigten Defizite
im Planungsverfahren aktiv angehen. Wir brauchen bei
künftigen Großprojekten eine verbesserte Transparenz,
kürzere Planungsverfahren sowie zu einem früheren
Zeitpunkt mehr Bürgerbeteiligung. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben bereits in einem Positionspapier
„Beteiligung und Erneuerung - 16 Punkte zur Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung bei privaten
und öffentlichen Investitionen“ Wege aufgezeigt, wie das
Planungsrecht bürgerfreundlicher gestaltet werden kann,
ohne dabei auf die nötige Infrastruktur zu verzichten.
Denn wir brauchen auch in Zukunft staatliche Infrastrukturprojekte und große private Investitionsvorhaben
in Deutschland. Forschung und Entwicklung befördern
neue Technologien. Neue Technologien schaffen neue
Industrien, eine schnellere und bessere Bahn mit neuen
Schienenwegen und Bahnhöfen, klimafreundliche Energie nicht ohne neue Anlagen zur Energiegewinnung und
neue Leitungsnetze.
Wir müssen Bürokratie abbauen und Verfahren vereinfachen, um staatliche und private Investitionen zu beschleunigen und um zusätzliche Wachstumsimpulse zu
setzen. Zugleich müssen wir weiterhin hohe Umweltschutzstandards gewährleisten sowie mehr Transparenz
der Verfahren und mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen,
um die Akzeptanz für Großprojekte zu verbessern. In
diesem Sinne setzt die FDP-Bundestagsfraktion sich für
einen Paradigmenwechsel ein. Wir wollen einerseits die
Verfahren und Prozesse beschleunigen und andererseits
die Bürger stärker einbeziehen.
Information und Beteiligung ist kein Recht, das der
Staat seinen Bürgern gewährt, sondern das Grundprinzip einer freien und liberalen Bürgergesellschaft. Bürgerbeteiligung und Planungsbeschleunigung widersprechen sich dabei in einem Rechtsstaat nicht, sondern sie
ergänzen sich. Denn eine frühzeitige Bürgerbeteiligung
bedeutet auch stärkere Akzeptanz, reduziert damit die
Zahl der Klagen und beschleunigt am Ende das Verfahren. Dabei sind eine stärkere Nutzung neuer Medien,
beispielsweise E-Governance, anzustreben und die Öffnung des Planungsrechts für Mediationsverfahren sowie
eine stärkere Rolle von Bürgerentscheiden bei der Bestimmung der Eckpunkte des Planungsverfahrens hervorzuheben. Wir werden dem Deutschen Bundestag in
Kürze die entsprechenden Gesetzentwürfe vorlegen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zum notwendigen Ausstieg aus dem unterirdischen
Projekt Stuttgart 21 will ich nichts mehr sagen. Es ist
entlarvt, und die Gegenargumente sind publik - dank
der starken Protestbewegung.
Am vergangenen Samstag konnten alle, die es wollten, sehen und hören: Der Widerstand gegen Stuttgart 21 wird wieder stärker. Die Irritationen, die es im
Zusammenhang mit dem unverantwortlichen, einseitigen und anmaßenden Schlichterspruch von Heiner
Geißler gab, spielen kaum mehr eine Rolle. Es waren
wieder 50 000, die gegen dieses Projekt, das für die
Stadt und den Schienenverkehr zerstörerisch wirkt, auf
die Straße gingen.
Der Regisseur Volker Lösch hat dort in 600 Sekunden
60 Lügen vorgetragen, die zur Begründung von S 21 angeführt werden, und sie widerlegt. Und wie schon bei
vorhergehenden Kundgebungen skandierten die Leute:
„Lügenpack! Lügenpack!“ Das ist es, worüber ich reden will.
Selbstverständlich verwende ich nicht den Begriff
„Lügenpack“; aber sowohl die Bundeskanzlerin Frau
Merkel als auch der Verkehrsminister Herr Ramsauer
und der Ministerpräsident Herr Mappus verspielen in
eklatanter Weise politische Glaubwürdigkeit und fügen
damit der demokratischen Kultur Schaden zu. Das
dürfte das Parlament nicht geschehen lassen.
Zunächst zur Kanzlerin, die vor einigen Monaten vehement für das Projekt und gegen ein Bürgerbegehren
gesprochen hat, weil ansonsten die Vertrauenswürdigkeit Deutschlands bei Investoren und Wirtschaftspartnern leide. Dieselbe Frau Merkel hat gerade offenbart,
dass solche Schwarzmalerei mitnichten der Wahrheit
entspricht. Bis vor kurzem hat sie behauptet, dass Atomkraftwerke weiterlaufen müssen, weil sonst unsere Energieversorgung gefährdet sei. Nach dem Super-GAU von
Fukushima und vor den Landtagswahlen wurden jetzt
sieben alte Atomkraftwerke abgeschaltet. Es ist kein
Licht ausgegangen. Aber einigen ging ein Licht auf: Tatsächlich ist ein kompletter Ausstieg aus der Atomenergie
möglich. Aber das wurde bestritten, um den Energiekonzernen die Extraprofite von 1 Million Euro täglich aus
jedem abgeschriebenen AKW zu sichern.
Übrigens hängt auch die Deutsche Bahn AG in der
Atomseilschaft; sie ist an einem AKW beteiligt und fährt
erheblich mit Atomstrom. Wenn es die Bundeskanzlerin
ernst meinen würde mit ihrer neuen Atomkraftskepsis,
dann müsste sie dem einen Riegel vorschieben; immerhin handelt es sich hier um ein Unternehmen, das sich zu
100 Prozent in Bundeseigentum befindet. Die DB AG
muss sich komplett von der Atomenergie verabschieden
und auf regenerative Energien umsteigen! Zudem muss
der Chef von RWE, Jürgen Großmann, den der Verkehrsminister im Aufsichtsrat der DB AG platziert hat,
ausgetauscht werden.
Zweitens zu Bundesverkehrsminister Ramsauer: Er
verweist immer wieder auf die europäischen Güterströme und die großen Verkehrsachsen in Europa. Allerdings wissen wir inzwischen alle, dass die S-21-Neubaustrecke Wendlingen-Ulm mit 35 Promille steiler sein
wird als die Geislinger Steige und dass dort wohl gar
keine Güterzüge fahren werden. Im Rheintal dagegen
oder um Fulda herum müsste dringend ausgebaut werden, damit mehr Güterverkehr auf der Schiene rollen
kann - aber da fehlen die Investitionsmittel. Das heißt:
Die sündhaft teure Neubaustrecke nutzt dem Schienengüterverkehr rein gar nichts; im Gegenteil: Sie behindert die Verlagerung von der Straße auf die Schiene.
Aber warum hält Herr Ramsauer daran fest? Er forciert PPP-Projekte, bei denen Autobahnen mit Geldern
privater „Investoren“ finanziert und realisiert werden,
denen dann die Mauteinnahmen zufließen. Aktuell treibt
der Bundesverkehrsminister den sechsspurigen Ausbau
der Autobahn Augsburg-Ulm auf diese Weise voran,
nachdem der Abschnitt München-Augsburg bereits
durch PPP ausgebaut wurde. Als Nächstes wäre in dieser Logik der Autobahnausbau Ulm-Stuttgart dran.
Die „Schwäbische Zeitung“ schreibt am 3. Januar
2011:
Privatautobahn: Der Albaufstieg wird teuer. Nach
dem erfolgreichen Pilotprojekt München-Augsburg steht nun die Strecke nach Ulm auf dem Programm.
Und weiter heißt es zu den PPP-Autobahnprojekten:
Sicher ist: Ohne reichlich Lastwagen rechnet sich
die Sache nicht. Die Investoren reagieren höchst
hellhörig auf jeden Versuch, mehr Güter mit der
Bahn zu transportieren.
Es scheint, dass der Verkehrsminister lügt, wenn er
sagt, dass er die Schiene stärken will. In Wahrheit ist er
„ein Mann der Straße“, wie ihn die „Financial Times
Deutschland“ bei Amtsantritt vorstellte.
Schließlich noch ein Wort zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten: Herr Mappus kaufte mit viel
Steuergeld den Atomstromenergiekonzern EnBW. Dabei
spielt ein Mappus-Freund, der Investmentbanker Dirk
Notheis, eine wichtige Rolle. Derselbe Herr Notheis ist
eng mit dem Projekt der Bahnprivatisierung verbunden.
Dazu schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ am 14. Dezember 2010:
Mit einem Staatsauftrag, der Notheis besonders am
Herzen lag, war er … 2008 gescheitert: Unter dem
Code-Namen „Oktoberfest“ wollte der Badener ...
die Deutsche Bahn an die Börse bringen.
Eine äußerst unglaubwürdige Zickzackpolitik: Mappus
lässt Baden-Württemberg einen Energieriesen kaufen,
der sich besonders für Atomstrom engagiert. Der Vermittler des Geschäfts ist ein engagierter Bahnprivatisierer. Eine Woche vor der Wahl nimmt man einen Atommeiler vom Netz, der auch noch Atomstrom an die Bahn
lieferte. Und was würden Mappus und Merkel nach der
Wahl machen, wenn sie diese ohne allzu große Blessuren
überstehen sollten? Die Mehrheit der Bevölkerung weiß
darauf eine Antwort: Das Ganze ist lediglich ein Manöver - dann gingen die Atomkraftwerke wieder ans Netz.
Zu Protokoll gegebene Reden
Übrigens: Am meisten Beifall erhielt Volker Lösch
auf Lüge 59. Sie lautet: Mappus und Merkel behaupten,
der 27. März sei „die Volksabstimmung über S 21“.
Wahr ist, dass der Kampf - unabhängig vom Ausgang
der Wahl - weitergehen wird!
So wie der Laufzeitverlängerungsdeal nicht der Energiesicherheit diente, sondern den Stromkonzernen, die
mit jedem Tag, an dem ein abgeschriebenes AKW weiterläuft, 1 Million Euro machen, so dient Stuttgart 21
nicht einem besseren Bahnverkehr, sondern den Tunnelbohr-, Beton- und Immobilienkonzernen.
So wie die Bevölkerung bei der Atomkraft getäuscht
worden ist, wird sie bei S 21 belogen. So wie AKW dem
Ausbau erneuerbarer, dezentraler Energien entgegenstehen, steht S 21 dem Ausbau einer besseren Bahn im
Weg.
Es ist höchste Zeit für eine andere Politik: Atomkraftwerke abschalten - jetzt und für immer! Und: Stuttgart 21
abblasen und stattdessen bahnsinnige Alternativen bauen!
In der heutigen Debatte zum Umbau des Stuttgarter
Hauptbahnhofs reden wir zunächst über drei Oppositionsanträge vom September 2010, die sich alle, wenn
auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung, für einen sofortigen Baustopp des Projektes Stuttgart 21 und für
mehr Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerinnen
und Bürger einsetzen. Darüber hinaus diskutieren wir
einen aktuellen Antrag meiner Fraktion für einen transparenten Stresstest zur Leistungsfähigkeit des unterirdischen Bahnprojektes Stuttgart 21.
Anlass für die Anträge vom September letzten Jahres
waren die monatelangen Proteste und Großkundgebungen der Gegner des Projektes, die seit dem Abriss des
Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs täglich zu
Tausenden kreativ und friedlich gegen Stuttgart 21 demonstrierten. Sie stammen also aus der Zeit vor dem
Versuch der baden-württembergischen Landesregierung
am 30. September 2010, mit einem unverhältnismäßig
harten Polizeieinsatz das Projekt gewaltsam durchzusetzen, was zur Eskalation der Situation führte. Hunderte
Menschen, die in Stuttgart im Park friedlich gegen die
Baumfällarbeiten der Deutschen Bahn AG demonstrierten, wurden verletzt. Die politische Verantwortung dafür
tragen Ministerpräsident Mappus und Innenminister
Rech, nicht der Polizeipräsident; der trägt seine eigene
Verantwortung als Polizeichef.
Erst dieser Eklat, der in eine bundesweite Diskussion
über die unzureichende Beteiligung der Öffentlichkeit
bei Großprojekten und die Durchsetzung solcher Projekte gegen massiven Widerstand aus breiten Schichten
der Bevölkerung mündete, führte dazu, dass Gegner und
Befürworter des Projektes sich an einer Art rundem
Tisch unter Leitung von Heiner Geißler zur sogenannten
Faktenschlichtung trafen. Das führte zur Versachlichung der Diskussion und dazu, dass endlich deutlich
mehr - allerdings noch längst nicht alle - Fakten auf
den Tisch kamen, als sie den Parlamenten in Stadt, Land
und auf Bundesebene zuvor je zugänglich gemacht worden waren. Doch ein entscheidender Akteur saß nicht
mit am Tisch. Der Bund bzw. das Bundesverkehrsministerium hielt sich fein raus. Warum eigentlich?
Die Frage stellt sich vor allem, weil der Bund der
Hauptzahler für den Umbau des Bahnknotens Stuttgart 21 und für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ist.
Dies war ein großer Mangel des Verfahrens; denn so
fanden seine Interessen keinen Eingang in das Schlichtungsergebnis. Die Konsequenzen für den Bundeshaushalt insbesondere bei der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, die bereits heute eine Deckungslücke von 865
Millionen Euro aufweist, wurden nicht berücksichtigt,
obwohl Stuttgart 21 ohne die Neubaustrecke des Bundes
gar nicht funktioniert, sondern ohne Schienenanschluss
im Nichts stehen würde.
Dabei ist das Schlichtungsergebnis für Stuttgart 21
vernichtend gewesen, und der Bund als Eigentümer der
DB AG und verantwortliche Instanz für den Aus- und
Neubau des bundeseigenen Schienennetzes hätte davon
höchst alarmiert sein müssen, insbesondere was die
Wirtschaftlichkeit des Projektes betrifft. Denn der zentrale Satz im Schlichterspruch von Heiner Geißler lautete: „Ich kann den Bau des Tiefbahnhofs nur befürworten, wenn entscheidende Verbesserungen vorgenommen
werden.“
Mit anderen Worten, Stuttgart 21 in seiner alten Form
ist tot. Es weist eklatante Mängel im Betriebskonzept
auf, und der geplante unterirdische Engpass könnte nur
durch erhebliche, teure Nachbesserungen beseitigt werden. Damit sind neue Planfeststellungsverfahren nötig,
die einen erheblichen Zeitverzug und massive Kostensteigerungen bedeuten.
Dies bestätigt unser Misstrauen und die Forderung
unseres Antrages vom September 2010. Ein Baustopp ist
so lange zwingend erforderlich, bis die Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 überprüft
wurde. Erst danach kann eine Entscheidung über das
Projekt endgültig gefällt werden.
Doch wie sieht nun diese Überprüfung von Stuttgart 21
nach der Faktenschlichtung in Stuttgart aus? Heiner
Geißler hatte in seinem Schlichterspruch sehr deutlich
gemacht, dass der unterirdische Tunnelbahnhof nur als
Stuttgart 21 plus funktioniert. Deshalb forderte er unter
anderem die Erweiterung des Bahnhofs von ursprünglich acht geplanten Gleisen auf zehn Gleise sowie zahlreiche zusätzliche Baumaßnahmen an den Zulaufstrecken, und er forderte, dass die DB AG im Rahmen einer
Belastungssimulation eines sogenannten Stresstestes
den Nachweis erbringen müsse, dass Stuttgart 21 überhaupt in der Lage ist, in Spitzenbelastungszeiten die behaupteten 30 Prozent mehr an Kapazität gegenüber dem
bestehenden Kopfbahnhof zu erbringen.
Trotzdem behaupteten DB AG sowie das Land und
seine Partner schon unmittelbar nach der Schlichtung,
die von Geißler geforderten Nachbesserungen seien gar
nicht notwendig. Der Stresstest werde ergeben, dass man
so verfahren könne, wie ursprünglich geplant.
Das ist ja an sich schon bezeichnend, weil damit
quasi das Ergebnis schon vorher feststeht und man den
Zu Protokoll gegebene Reden
vielgelobten Schlichter Heiner Geißler Lügen straft, bevor der Stresstest überhaupt vollzogen wurde. Verwunderlich ist es jedoch nicht, wenn man weiß, dass die DB
AG den Stresstest hinter verschlossen Türen durchführt
und weder unabhängige Experten noch Kritiker des Aktionsbündnisses daran beteiligt werden sollen. Bei Stuttgart 21 soll genauso verfahren werden wie in den Jahren
zuvor. Die DB AG präsentiert Ergebnisse, die auf Zahlen, Daten und Fakten basieren, die nur der DB AG zugänglich sind und die der Eigentümer Bund und im Falle
von Stuttgart 21 auch die übrigen Projektpartner dann
so glauben müssen. Die angebotene Einsicht im Nachhinein ist keine echte Kontrolle, weil man nicht weiß, was
an Daten eingegeben wurde. Die öffentliche Kontrolle
unterbleibt, obwohl maßgeblich die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler für die Risiken und die damit verbundenen Kostensteigerungen aufkommen müssen. Stattdessen werden die Bürgerinnen und Bürger erneut damit
abgespeist, dass das Projekt durch parlamentarische
Beschlüsse legitimiert sei, obwohl diese auf der Grundlage fragwürdiger Informationen bzw. besser gesagt
Nichtinformationen zustande gekommen sind.
Das ist für uns in höchstem Maße unglaubwürdig,
und darauf wollten wir uns verlassen. Schließlich mussten wir in den letzten Jahren seit Gründung der DB-Aktiengesellschaft schon viele schlechte Erfahrungen mit
der Informationspolitik des DB-Konzerns sammeln.
Deshalb hat die grüne Landtagsfraktion in den letzten
Wochen eine eigene Studie zur Leistungsfähigkeit von
Stuttgart 21 in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist dramatischer als befürchtet. Stuttgart 21 erbringt nur dann
die Leistung, die der unsanierte Kopfbahnhof bereits
heute erbringen kann, wenn alle von Heiner Geißler aufgestellten Nachbesserungen vorgenommen werden, also
das sogenannte Stuttgart 21 plus vollständig umgesetzt
wird.
DB AG und das Land wollen also gegen allen gesunden Menschenverstand Milliarden sinnlos verschleudern für ein Projekt, das nichts anderes kann als der alte
Bahnhof, nur damit dieser unter der Erde verschwindet.
Und der Bund schaut tatenlos zu.
Und was sind die Konsequenzen? Es werden auf
Jahrzehnte große Teile der Haushaltsmittel für den
Schienenausbau für ein sinnloses Doppelprojekt verschwendet. Sie, liebe Regierungskoalitionäre, nehmen
damit wider besseres Wissen in Kauf, dass der Ausbau
von Projekten mit immenser verkehrlicher und volkswirtschaftlicher Bedeutung wie zum Beispiel der Ausbau
der Hafenhinterlandstrecken von den Nordseehäfen in
Richtung Südeuropa deshalb aufgeschoben werden
muss. Für die Folgen nämlich, dass die Güter dort nicht
rechtzeitig auf die klimafreundliche Schiene verlagert
werden können und ab 2017 vor dem dann hervorragend
ausgebauten Gotthardtunnel in der Schweiz im Stau stecken bleiben, sind Sie voll verantwortlich. Ebenso sind
Sie voll verantwortlich, wenn der erst vor wenigen Tagen hier im Hause versprochene anwohnerfreundliche
Ausbau der Rheintalbahn sich noch um Jahrzehnte verzögert, weil die Mittel sinnlos vergraben werden.
Das ist skandalös und verantwortungslos. Und deshalb kann ich Ihnen nur zurufen: Kommen Sie endlich
zur Vernunft, und stoppen Sie dieses unsägliche Projekt!
Investieren wir in einen zukunftsfähigen Schienenverkehr in Baden-Württemberg und in der ganzen Republik.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung auf Drucksache 17/5172. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/2933 mit dem Titel „Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2914 mit dem Titel „Stuttgart 21, Neubaustrecke
Wendlingen-Ulm und das Sparpaket der Bundesregierung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2893 mit dem Titel „Sofortiger Baustopp für
Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Zusatzpunkt 11. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Transparenter
Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojekts
Stuttgart 21“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5236, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/5041 abzulehnen. Wer ist für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Nicole Maisch, Markus
Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Fahrgastrechte im Fernbusverkehr
- Drucksache 17/5057 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Vizepräsident Eduard Oswald
Reden der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Vogel,
Ulrich Lange, Ulrike Gottschalck, Heinz Paula, Patrick
Döring,
({1})
Thomas Lutze, Dr. Anton Hofreiter.
Die auf der EU-Ebene beschlossene Verordnung zu
den Fahrgastrechten im Kraftomnibusverkehr regelt alle
nationalen und grenzüberschreitenden Linienverkehrsdienste im Langstreckenverkehr bei einer Entfernung ab
250 Kilometer. Sie tritt im Frühjahr 2013 in Kraft, und
die Nationalstaaten haben die Möglichkeit, eine Schonfrist von vier Jahren mit einer einmaligen Verlängerung,
also insgesamt acht Jahren, zu beschließen.
Folgende wesentliche Regelungen wurden im Vermittlungsausschuss auf europäischer Ebene vereinbart:
Verzögert sich die Abfahrt um mehr als 90 Minuten,
haben die Fahrgäste bei Fahrten mit planmäßiger
Dauer von über drei Stunden Anspruch auf Imbisse und
Erfrischungen. Im Fall einer Unterbrechung der Fahrt,
eines Unfalles oder bei Verspätungen, die eine Übernachtung erfordern, muss der Anbieter zusätzlich die
Hotelkosten für maximal zwei Übernachtungen von bis
zu 80 Euro pro Nacht aufkommen.
Wünscht ein Fahrgast, nach einer Reiseantrittsverspätung von 120 Minuten von der Reise zurückzutreten,
hat er das Recht auf die volle Fahrpreiserstattung.
Die Verordnung sieht zudem eine Entschädigung in
Höhe von 50 Prozent des Fahrpreises zusätzlich zur Erstattung des regulären Fahrpreises vor, wenn ein Anbieter nach einer Verspätung von zwei Stunden eine Fahrt
annulliert und diese auch nicht auf geänderter Streckenführung oder mit anderen Transportmitteln durchführen
kann.
Der Anbieter ist nur bei Naturkatastrophen oder extremen Wetterbedingungen, die eine sichere Weiterreise
unmöglich machen, hiervon befreit.
Für verlorene oder beschädigte Gepäckstücke sollen
Busunternehmen zukünftig mit bis zu 1 200 Euro haften,
es sei denn, die nationale Gesetzgebung sieht höhere
Entschädigungsleistungen vor. Des Weiteren ist eine
Haftungssumme von bis zu 220 000 Euro für Todesfälle
und Verletzungen von Fahrgästen vorgesehen.
Insgesamt wurde eine ausgewogene Lösung im Europäischen Parlament erzielt, die sowohl die Rechte der
Busreisenden schützt und dennoch die Existenz der zumeist kleinen und mittleren Busunternehmen sichert.
Der Geltungsbereich der Verordnung umfasst zwar
nur die Touren mit einer Gesamtlänge ab 250 Kilometer,
aber auch Passagiere, die nicht die gesamte Strecke mitfahren, genießen den Schutz der Verordnung und haben
somit ein Recht auf Schadenersatz.
Dies gilt auch bei Annullierungen von Reisen, Überbuchungen oder Verspätungen. Hier muss der Veranstalter zwingend eine andere Lösung zur Fortsetzung der
Reise anbieten oder den Fahrgast auf andere Weise entschädigen.
Eigentlich muss man den Fernbusverkehr nicht für
die Fahrgäste attraktiv machen, denn er ist es bereits.
Die Fahrgäste haben keinerlei Gepäcktransfersorgen,
und sie kommen für deutlich weniger Geld von A nach B
als mit anderen Verkehrsmitteln.
Die Fahrgastrechteverordnung ist unter Mitwirkung
aller Beteiligten rechtmäßig zustande gekommen. Bei
dem Vermittlungsverfahren auf EU-Ebene wurden bereits circa 50 Änderungen zum Entwurf des Rates mitgeteilt und teilweise übernommen. Unter anderem wurde
der Geltungsbereich von 500 auf 250 Kilometer abgesenkt, und statt der zunächst vorgesehenen drei grundlegenden Fahrgastrechte sind nun zwölf aufgeführt.
Die Grünen hatten während des gesamten - seit 2005
währenden - Prozesses die Gelegenheit, sich einzubringen und ihre Argumente vorzubringen.
Die Verordnung sieht nicht ohne Grund davon ab,
alle Fahrgastrechte auf alle Streckenlängen auszuweiten. Von „Rechtlosigkeit“ der Buspassagiere kann keine
Rede sein. Bestimmte Basisrechte - auf Information bzw.
auf Hilfeleistung nach Unfällen - gelten auch unabhängig von der Streckenlänge.
Würden die von den Grünen gemachten Vorschläge
so verwirklicht, hätte dies zur Folge, dass der Fernbusverkehr so teuer wäre, dass kaum ein Fahrgast ihn bezahlen könnte bzw. wollte, und das wäre dann erst recht
kein verantwortungsvolles Handeln im Interesse der
Verbraucher.
Im Übrigen arbeiten die Unternehmen bereits jetzt
sehr gut mit der im Antrag erwähnten Schlichtungsstelle
für den öffentlichen Personenverkehr e. V. ({0}) zusammen. Aus deren Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die
Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist.
Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen hier nur vier
den Busverkehr. Dies ist nicht Ausfluss fehlender Fahrgastrechte, sondern eher die Folge großer Fahrgastnähe.
Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes
Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, sodass diese ihn weiterempfehlen und wiederkommen.
Außerdem dürfte die von den Grünen darüber hinaus
geforderte verpflichtende Beteiligung an einer Schlichtungsstelle zwar unter gewissen Voraussetzungen rechtlich möglich sein. Doch muss dazu deutlich gesagt werden, dass bereits heute, unabhängig vom Verkehrsmittel,
der Zugang zur Schlichtungsstelle gewährleistet ist. Außerdem wird durch einen Schlichterspruch nicht das
Recht ausgeschlossen werden, auch ein rechtsbindendes
Urteil vor einem staatlichen Gericht erstreiten zu dürfen.
Ich bin der Meinung, dass es jetzt erst einmal gilt, die
Regelungen in der Praxis zu beobachten, um dann bei
Bedarf weitere Maßnahmen zu ergreifen.
Ich wünsche den Ausschussmitgliedern intensive und
konstruktive Diskussionen.
Der Schutz der Verbraucher ist ein wichtiges Recht in
Deutschland. Auch der Fahrgast muss geschützt werden,
egal ob er mit dem Zug, dem Flugzeug oder dem Bus unterwegs ist. Mit ihrem Antrag auf Fahrgastrechte im
Busverkehr suggerieren die Grünen unter dem Deckmantel des Verbraucherschutzes, dass Buspassagiere,
die weniger als 250 km reisen, in Deutschland nahezu
rechtlos seien. Dies ist aber nicht der Fall. Auch diese
Busfahrgäste haben viele Rechte, beispielsweise das
Verbot der Diskriminierung von Fahrgästen aufgrund
ihrer Nationalität; das Verbot der Diskriminierung von
Personen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität sowie finanzielle Entschädigungen bei Verlust
oder Beschädigung ihrer Mobilitätshilfen infolge eines
Unfalls; Mindestvorschriften für die Information aller
Fahrgäste vor und während der Fahrt sowie allgemeine
Unterrichtung über ihre Rechte an den Busbahnhöfen
und über das Internet; Einrichtung eines Verfahrens für
die Bearbeitung von Fahrgastbeschwerden; die Benennung unabhängiger nationaler Stellen in allen Mitgliedstaaten mit dem Auftrag, die Verordnung durchzusetzen
und Verstöße gegebenenfalls zu ahnden.
Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf
die vorhergehende Anfrage der Grünen auf den bestehenden Rechtsschutz für die Buspassagiere hingewiesen. Sowohl im Busreiseverkehr als auch im Linienverkehr liegen die Rechte der Fahrgäste und die Haftung
der Unternehmen an der europäischen Spitze.
Wir stehen der europarechtlichen Regelung von
Fahrgastrechten auch im grenzüberschreitenden Busfernlinienverkehr positiv gegenüber. Dieser kann jedoch
nicht eins zu eins auf den Nah- und Regionalverkehr
übertragen werden. Denn während nach Kommissionsangaben im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr
jährlich europaweit 72,8 Millionen Busfahrgäste befördert werden, waren es 2008 allein im ÖPNV in Deutschland 5,4 Milliarden Busfahrgäste. Dies stellt für die
praktischen, wirtschaftlichen und verwaltungsbezogenen Folgen europaweit verbindlicher individueller
Fahrgastrechte eine völlig andere Dimension dar.
Der Antrag der Grünen ist nicht fachdienlich. Er wird
zu keinen besseren Busverbindungen führen, sondern im
Gegenteil, er würde, wenn er denn durchkäme, zu weniger Wettbewerb und damit zu weniger Verbindungen bei
wesentlich höheren Fahrpreisen führen. Dies wollen wir
nicht. Dies ist mit uns nicht zu machen!
Verspätungen - egal ob in der Bahn, im Flieger, im eigenen Auto oder mit dem Bus - sind immer unangenehm.
Aber wir müssen natürlich im Falle einer Verspätung
fragen: Wer hat die Zeitverzögerung verursacht, wer ist
schuld? Wenn ein Stau aufgrund eines Unfalls entsteht,
wenn der Busfahrer bei plötzlich auftauchendem Nebel
oder Blitzeis seine Geschwindigkeit halbieren muss,
kann da der Busunternehmer mit allen Folgekosten in
Regress genommen werden?
Im Gegensatz zu den Bahnen fahren die Busse auf öffentlichen Straßen und nicht auf Sondertrassen. Verspätungen im Busverkehr gehen in der Regel auf Straßenund Witterungsverhältnisse zurück. Der Busfernverkehr
ist also in besonderer Weise von Straßenzustand, Verkehrsfluss und Witterung abhängig. Daher ist eine übermäßige Haftung für Verspätungsschäden äußerst problematisch, weil die Verspätungen in der Regel auf
Umständen beruhen, die vom Busunternehmer nicht beeinflussbar sind.
Die Vorstellung der Grünen vom Busverkehr gehen
an der Realität vorbei. So soll die diskriminierungsfreie
Beförderung von Rollstuhlfahrern, seheingeschränkten
und mobilitätseingeschränkten Personen zwingend vorgeschrieben werden. Aber nicht jeder Bus hat eine Hubeinrichtung, um einem Schwerstbehinderten den Einstieg zu ermöglichen. Das haben nur wenige Busse.
Wollen Sie alle anderen vom Wettbewerb ausschließen?
Die besten Rechte auf dem Papier nützen nichts,
wenn sie praxisfern sind. Ein Kardinalfehler bei Ihnen
von den Grünen ist, dass Sie bei Ihren Überlegungen
nicht die Unternehmer mit ins Boot nehmen. Wie bei
Stuttgart 21 der Fehler gemacht wurde, die Bevölkerung
nicht in die Planungen einzubeziehen, ignorieren Sie die
berechtigten Belange der mittelständigen Busunternehmer und stellen Ihre Forderungen realitätsfremd vom
fernen Schreibtisch aus.
Zu Ihrer Forderung, eine verpflichtende Beteiligung
von Busfernreiseunternehmen an der Schlichtungsstelle
für den öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, vorzusehen, möchte ich Ihnen sagen, dass die Busunternehmen
schon lange sehr gut mit der SÖP zusammenarbeiten. Es
muss nicht alles juristisch vorgeschrieben werden. Haben Sie etwas Vertrauen in unsere soziale Marktwirtschaft. Auch im Busverkehr werden sich langfristig die
kundenfreundlichen Busunternehmen durchsetzen.
Aus dem söp-Jahresbericht 2010 geht hervor, dass die
Zahl der Beschwerdefälle im Busbereich marginal ist.
Von 1 611 abgeschlossenen Fällen betrafen 1 509 die
Bahn, 98 den Flugverkehr und 4 den Busverkehr. Dies
ist nicht ein Anzeichen für fehlende Fahrgastrechte, sondern für große Fahrgastnähe und Kundenzufriedenheit.
Jeder professionelle Busunternehmer hat ein ureigenes
Interesse daran, seine Fahrgäste zufriedenzustellen, sodass diese wiederkommen und ihn weiterempfehlen.
Fahrgastrechte auch im Buslinienverkehr sind wichtig. Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Übertriebene Forderungen führen nur zu weniger Wettbewerb, geringerem Angebot und hohen Fahrpreisen. Das
ist nicht im Sinne der Verbraucher und der Fahrgäste.
Treten Sie ein in einen konstruktiven Dialog mit den betroffenen Unternehmen, um einen für alle Seiten akzeptablen Kompromiss zu finden.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
sind gesetzlich verankerte Rechte für Verbraucherinnen
und Verbraucher, die wirksam durchgesetzt werden, sehr
wichtig. Wir wollen, dass Kundinnen und Kunden
grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe mit Anbietern von
Dienstleistungen und Produkten am Markt teilnehmen
und agieren können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Im Bereich der Fahrgastrechte hat die sozialdemokratische Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries,
in der Großen Koalition das Fahrgastrechtegesetz
durchgesetzt. Es trat am 29. Juli 2009 in Kraft.
Mit diesem Gesetz wurden die deutschen eisenbahnrechtlichen Vorschriften an die Verordnung ({0})
Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr angepasst. Mit
diesem Gesetz wurden die Rechte der Fahrgäste maßgeblich verbessert und gegenüber den europäischen
Vorgaben erheblich erweitert. Bahnkundinnen und
Bahnkunden erhalten ab einer Verspätung von 60 Minuten einen Anspruch auf Erstattung von 25 Prozent des
Fahrpreises. Bei einer Verspätung ab 120 Minuten erhalten sie dank dieses Gesetzes einen Anspruch auf Erstattung von 50 Prozent des Fahrpreises.
Ein sehr wichtiger weiterer Schwerpunkt dieses Gesetzes ist die Möglichkeit für den Fahrgast, eine Schlichtungsstelle anzurufen, wenn es zu Streitfällen mit einem
Eisenbahnunternehmen kommt.
Mit dem Gesetz von Brigitte Zypries ist die sogenannte Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V., abgekürzt söp, gegründet worden. Diese
Schlichtungsstelle hat mittlerweile sehr erfolgreiche Arbeit geleistet und sich eine parteiübergreifende Anerkennung erworben, parteiübergreifend sowohl im poltischen
Spektrum als auch bei Fahrgästen und Verkehrsunternehmen. Die söp kann immerhin eine Schlichtungsquote
von 91 Prozent aufweisen. Und das heißt, dass bei
91 Prozent der Fälle, die von der söp bearbeitet worden
sind, beide Streitparteien den Schlichterspruch der söp
angenommen haben. Oftmals konnte durch einen solchen
Schlichterspruch sogar das Vertrauensverhältnis zwischen Fahrgast und Verkehrsunternehmen wiederhergestellt werden.
Aus vielen Informationsquellen weiß ich, dass dieses
System gut gelingt. Die Passagiere kommen an die Entschädigungen, die ihnen zustehen, ohne vorher zeit-,
nerven- und kostenaufwendig vor deutschen Gerichten
zu klagen, was bei einem Streitwert zwischen 50 und
100 Euro und darunter oftmals nicht wirklich ernsthaft
in Betracht gezogen wird. Unter dem Dach dieser
Schlichtungsstelle beteiligen sich heute mehr als
120 Verkehrsunternehmen im Sektor Bahn, Bus, Schiff,
ÖPNV und teilweise auch im Flugbereich freiwillig am
Schlichtungsverfahren.
Dieser Ansatz der verkehrsträgerübergreifenden
Schlichtung schafft Kundenfreundlichkeit, Stärkung der
Verbraucherrechte und gleiche Augenhöhe von Kunden
und Dienstleistern, die in vielen anderen Bereichen nicht
vorhanden ist. Deshalb setzen wir Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten uns für eine möglichst breite Beteiligung der Verkehrsunternehmen am Schlichtungsverfahren unter dem Dach der söp ein.
Wir unterstützen den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, „Stärkung der Fahrgastrechte im
Fernbusverkehr“, auch in dem Punkt, die verpflichtende
Beteiligung von Busfernreiseunternehmen an der
Schlichtungsstelle söp vorzusehen, wenngleich wir wissen, dass eine verpflichtende Beteiligung bei einem
Schlichtungsverfahren einen Widerspruch in sich selbst
darstellt. Wir hoffen jedoch, durch solch eine pointierte
Formulierung einen Prozess voranzutreiben, um mehr
Verkehrsunternehmen dazu zu bringen, sich der söp anzuschließen.
Denn es ist uns doch allen klar, dass ohne die freiwillige Mitarbeit der Verkehrsunternehmen eine Schlichtung nicht möglich sein kann. Es liegt auch in der Natur
eines Schlichterspruchs, dass er nur erfolgreich ist,
wenn sich beide Streitparteien daran freiwillig gebunden fühlen. Außerdem kommt die Schlichtung immer erst
dann zum Einsatz, wenn der oder die Reisende von dem
betroffenen Verkehrsunternehmen keine befriedigende
Antwort erhalten hat. Die Befürchtung mancher Verkehrsunternehmen, vom Staat in ein Schlichtungsverfahren gezwungen zu werden, entbehrt einer realen
Grundlage. Vielmehr gibt es gute Gründe auch für Verkehrsunternehmen, sich freiwillig einem verkehrsübergreifenden Schlichtungsverfahren anzuschließen.
Brigitte Zypries hat mit dem von ihr durchgesetzten
Fahrgastrechtegesetz für den Bereich Bahn auch die
Rechte von behinderten Personen und Personen mit eingeschränkter Mobilität sehr gestärkt. Das Gesetz
schreibt vor, dass Bahnhöfe, Bahnsteige, Fahrzeuge und
sonstige Einrichtungen für Personen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich sein müssen. Wir begrüßen den
Vorstoß der Grünen, mit ihrem vorliegenden Antrag zu
fordern, diese Rechte auch auf den Bereich Bus auszudehnen.
Gerade angesichts der Aktivitäten der Bundesregierung, mit dem seit Januar vorliegenden Referentenentwurf zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle das
Fernverkehrsmonopol der Bahn aufzugeben und ab
2012 einen Fernbusverkehr in Deutschland zulassen zu
wollen, kommt der Stärkung der Fahrgastrechte im Busbereich eine besondere Bedeutung zu.
Der Entwurf zur Personenbeförderungsgesetz-Novelle der Bundesregierung wird mehr Fahrgäste von der
Schiene auf den Bus umleiten. Die Möglichkeit, Sozialund Qualitätsstandards vorzugeben, wird durch den Gesetzentwurf ausgehebelt. Eine nichtregulierte Freigabe
des Fernlinienbusverkehrs ohne Mautpflicht und Fahrgastrechte ermöglicht den Fernlinienbussen niedrige
Preise, die dem Schienenverkehr Fahrgastverluste und
Streckenstilllegungen bescheren werden. Will man wirklich gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Fernbus
und Fernzug, muss man auch für beide Verkehrsmittel
gleiche Fahrgastrechte vorschreiben.
Schließlich beinhaltet der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt. Ohne
eine Durchsetzung der Verbraucherrechte im Busfernverkehr ab dem ersten Kilometer, wie es die Grünen in
dem vorliegenden Antrag fordern, würden nach der aktuell vereinbarten EU-Verordnung über die Fahrgastrechte im Omnibusverkehr die Fahrgastrechte erst nach
der Überschreitung einer Reisedistanz von 250 Kilometern gelten. Das heißt, dass für Busse von Aachen nach
Trier, von Luxemburg nach Saarbrücken oder von Berlin
Zu Protokoll gegebene Reden
nach Stettin keinerlei Entschädigungsregeln gelten würden, würden wir die kürzlich verabschiedete EU-Verordnung eins zu eins in Deutschland umsetzen. Das können
wir nicht akzeptieren.
Es ist uns bewusst, dass die Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem vorliegenden Antrag über
den gegenwärtigen Status quo der vorhandenen Fahrgastrechte hinausgehen, auch über den Status quo der
Fahrgastrechte, die wir für den Bahnbereich durch das
Fahrgastrechtegesetz von Brigitte Zypries erreicht haben. Die Grünen fordern Entschädigungsansprüche bereits ab 30 Minuten Verspätung und nicht erst ab 60 Minuten, wie es das Fahrgastrechtegesetz vorsieht. Eine
Forderung des vorliegenden Antrags lautet ebenfalls,
ein verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau
für Fahrgäste zu erreichen. Sollen beide Forderungen,
Entschädigungsansprüche ab 30 Minuten Verspätung
für Busreisende und verkehrsträgerübergreifendes
Schutzniveau für alle Fahrgäste, gleichzeitig umgesetzt
werden, müssten auch die Fahrgastrechte für Bahnkunden entsprechend weiter ausgebaut werden.
Wir setzen uns für umfassende Rechte für Fahrgäste
ein; deshalb können wir auch den vorliegenden Antrag
unterstützen. Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang
aber auch, dass wir nicht an jeder einzelnen Forderung
des vorliegenden Antrags mit aller Macht festhalten
werden. Wir können die Stoßrichtung des vorliegenden
Antrags unterstützen; allerdings werden nicht alle Forderungen dieses Antrags von uns als unabdingbar betrachtet. Über die eine oder andere Forderung werden
wir sicherlich noch einmal vertieft diskutieren.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns für die Stärkung der Rechte der Fahrgäste ein,
haben in Regierungsverantwortung zur Stärkung der
Fahrgäste einiges erreicht und freuen uns, wenn wir, wie
der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
zeigt, in diesem Bereich einen Bündnispartner gefunden
haben.
Ich gehe davon aus, dass wir alle eine Stärkung der
Fahrgastrechte im Fernbusverkehr wollen.
Am 15. Februar dieses Jahres hat das EU-Parlament
die Verordnung über Fahrgastrechte im Busverkehr angenommen. Nach Stärkung der Fahrgast- und Passagierrechte im Luft-, Eisenbahn- und Schiffsverkehr regelt diese Verordnung erstmalig Fahrgastrechte auch für
den Busverkehr. Dies ist lobenswert!
Allerdings gehen diese Rechte nicht weit genug. Dass
Fahrgastrechte erst ab 250 Kilometer gelten sollen, ist
nicht hinnehmbar. Dass Menschen mit Behinderungen
keine verbindliche Assistenz zusteht, ist beschämend.
Extreme Wetterbedingungen und damit auch höhere Gewalt sind nicht genauer definiert und hinterlassen damit
einige Schlupflöcher.
Daher begrüßen wir den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen. Besonders begrüßen wir Verbraucherpolitiker,
dass sie die Fahrgastrechte im Busfernverkehr auf nationaler Ebene stärken wollen.
Wenngleich wir einer Änderung des Personenbeförderungsgesetzes aus bekannten Gründen nicht zustimmen wollen, wird es wohl, sobald die Gesetzesänderung
durch ist, auf deutschen Straßen zu wesentlich mehr
Busfernverkehr kommen. Da müssen wir vorsorgen!
Verbraucherrechte ab dem ersten Kilometer durchsetzen zu wollen, ist sinnvoll, sofern es sich dabei um
Fernverkehr handelt. Entschädigungsansprüche bei
Verspätungen zu fordern, um ein verkehrsübergreifend
gleiches Schutzniveau zu erreichen, ist ebenfalls sinnvoll. Allerdings sollte hier genau überlegt werden, ob
man dann nicht auch die Fahrgastrechte verkehrsübergreifend anpasst. Das heißt im Klartext: Entschädigung
ab 60 Minuten Verspätung. So ist es auch bei der Bahn
geregelt. Diese Position haben wir bereits in der vergangenen Wahlperiode vertreten, und dabei bleiben wir!
Die Forderung, Schadenersatzansprüche auf den tatsächlich entstandenen Folgeschaden zu gewährleisten,
betrachten wir eher mit Skepsis. Soll ein Busunternehmen wirklich für ein Musicalticket in Hamburg aufkommen, wenn der Bus aus Berlin sich verspätet hat?
Das Recht auf Nutzung anderer Verkehrsmittel ohne
zusätzliche Kosten dürfte selbstverständlich sein. Dies
unterstützen wir natürlich.
Ebenso selbstverständlich muss eine diskriminierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, Seh- und
Mobilitätseingeschränkten sein. Darüber diskutieren
wir nicht.
Eine Beteiligung der Reise- und Fernbusunternehmen an der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr e. V. fordern wir genauso wie Bündnis 90/
Die Grünen. An dieser Stelle sei eine kurze Aufforderung
an die Fluggesellschaften erlaubt, sich ebenfalls an dieser Möglichkeit einer außergerichtlichen Schlichtung zu
beteiligen. Auch das fordern wir seit langem mit Nachdruck.
Bereits in dem Antrag „Reisende besser schützen“
haben wir Informations- und Vermittlungszentren an allen Verkehrsknotenpunkten als kritisch und nicht durchführbar angesehen. Wenn Sie das Gleiche nun auch in
Ihrem Antrag zu Fahrgastrechten im Omnibusfernverkehr fordern, halten wir das wiederum für nicht durchführbar. Gegen eine Evaluierung und Erfassung mit Verspätung oder nicht beförderter Personen im Busverkehr
haben wir nichts einzuwenden. Diese Forderung dürfte
aber so lange vernachlässigbar sein, bis das Personenbeförderungsgesetz geändert ist. Es ist seit Jahren ein
Grundanliegen der SPD-Fraktion, die Rechte der Verbraucher zu stärken; viele Initiativen wurden bereits ergriffen.
Das Anliegen des Antrages ist richtig. Ich halte eine
Zustimmung aller Fraktionen für wünschenswert.
Nach langen und zähen Verhandlungen einigten sich
das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten vor
wenigen Monaten auf die Einführung weitreichender
und europaweit einheitlicher Fahrgastrechte im BusverZu Protokoll gegebene Reden
kehr. Ebenso wie im Luft- und Eisenbahnverkehr gelten
ab dem Frühjahr 2013 auch für Fahrgäste im nationalen
sowie internationalen Buslinienfernverkehr gleiche Haftungsregeln und Entschädigungsansprüche. Darüber
hinaus werden mit der neuen Verordnung, die in allen
Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht darstellt,
Mindestvorschriften für die Information aller Fahrgäste
vor und während der Reise verankert. Menschen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität soll zusätzliche Unterstützung zukommen. Das sind Ansätze, die ich
sehr begrüße.
Mit der neuen Verordnung wird das europäische Regelwerk schließlich für die Nutzer aller Verkehrsarten
vervollständigt. Doch wie bei so manchem, was aus
Brüssel kommen, steckt auch hier der Teufel im Detail.
Lassen Sie mich nur auf zwei kleine, jedoch nicht minder
wichtige Punkte eingehen:
Der erste Punkt ist das Subsidiaritätsprinzip. Bei grenzüberschreitenden Linienverkehren scheint es durchaus
sinnvoll, ja sogar wünschenswert, europaweit einheitliche Mindeststandards bei den Fahrgastrechten festzulegen. Doch im grenzüberschreitenden Fernbusverkehr
werden in Europa jährlich nur 72,8 Millionen Fahrgäste
befördert. Im deutschen ÖPNV waren es im Jahr 2008
hingegen über 5,3 Milliarden Fahrgäste, die den Bus
wählten. Um die Größenordnung noch einmal zu verdeutlichen: Der gesamte grenzüberschreitende Buslinienfernverkehr in der Europäischen Gemeinschaft entspricht
gerade einmal 1,4 Prozent des deutschen Buslinienverkehrs im ÖPNV. Vor diesem Hintergrund erschließt es
sich mir nicht, warum inländische Busverkehre und insbesondere der öffentliche Personennahverkehr aus Brüssel reglementiert werden sollen.
Ferner sei angemerkt, dass die Organisation und Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs in
Deutschland gemäß Regionalisierungsgesetz immer
noch den Ländern obliegt. Und natürlich steht es den
nach Landesrecht zuständigen Aufgabenträgern frei, bei
der Umsetzung der Nahverkehrspläne auch über den in
der Verordnung gefundenen Kanon grundlegender Fahrgastrechte hinauszugehen.
Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion können kommunale Verkehre immer noch am besten dort geregelt
werden, wo sie auch stattfinden, nämlich vor Ort.
Der zweite Punkt, der von der FDP-Bundestagsfraktion stets wachsam und kritisch begleitet wird, ist die
Frage der Verhältnismäßigkeit. Im Rahmen der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes ist die christlich-liberale Koalition gerade dabei, den deutschen
Buslinienfernverkehr zu liberalisieren. Mit diesem ordnungspolitisch längst überfälligen Schritt bietet sich die
Chance, Angebot und Qualität des Fernverkehrs in
Deutschland spürbar zu verbessern. Bei der angestrebten Marktöffnung gibt es jedoch zahlreiche Punkte, die
beachtet werden müssen. Insbesondere dürfen wir den
vielen kleinen und mittelständischen Busunternehmern
durch die Auferlegung von Pflichten keine Kosten aufbürden, die für die Unternehmen nicht zu überwindende
Marktzutrittsschranken darstellen. Dessen ungeachtet
muss, um auch das mit aller Deutlichkeit zu sagen, der
Staat natürlich regulierend eingreifen, sollte nach der
Liberalisierung ein Marktversagen beobachtet werden.
Aber bitte nicht vorher!
Generell halte ich es daher für sinnvoll, zunächst die
Praxis der Verordnung zu beobachten und zu analysieren, ehe wir, wie in dem uns vorliegenden Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, über zusätzliche Maßnahmen diskutieren, die weit über die Forderungen der Europäischen Union hinausgehen.
Fahrgäste im Fernbusverkehr genießen weit weniger
Rechte als die Nutzerinnen und Nutzer anderer Verkehrsträger. Auch die jüngsten Festlegungen auf europäischer Ebene bleiben weit hinter dem Notwendigen
zurück. Der rechtliche Schutz für Reisende im Fernbusverkehr ist, verglichen mit den übrigen Verkehrsträgern,
der schlechteste. Besonders bei Verspätungen sind die
Regelungen völlig unzureichend.
Mit der Klausel von den „extremen Wetterbedingungen“ hat überdies dieselbe schwammige Formulierung
ihren Weg ins Regelwerk gefunden, die schon im Bereich
des Flugverkehrs fast ausschließlich zum Nachteil der
Kundinnen und Kunden ausgelegt wird. In einem solchen Fall gelten die Fahrgastrechte nicht.
Schätzungen zufolge werden 60 Prozent der Verkehrsnachfrage auf Fernbuslinien aus dem schienengebundenen Verkehr abgezogen. Deshalb ist es gerade im
Hinblick auf die Liberalisierung des Fernbusverkehrs
dringend geboten, auch die Anbieter von Busreisen
rechtlich in die Pflicht zu nehmen. Wettbewerbsvorteile
für den Reiseverkehr auf der Straße dürfen nicht über
die fehlenden Rechte der Fahrgäste gewonnen werden.
Der Fernbusreiseverkehr muss beim Schutz der Fahrgäste mindestens mit dem Bahnsektor gleichziehen.
Dass Menschen mit eingeschränkter Mobilität, wie
beispielsweise Rollstuhlfahrer, weiterhin von der Nutzung von Fernbuslinien ausgeschlossen werden können,
weil eine Beförderungspflicht und eine zwingende entsprechende technische Ausstattung der Fahrzeuge nicht
vorgesehen ist, ist schlicht eine Unverschämtheit. Die
Bundesregierung ist hier in der Pflicht, Art. 9 der UNBehindertenrechtskonvention Geltung zu verschaffen
und diskriminierende Barrieren auch im Busfernlinienverkehr abzuschaffen.
Der vorliegende Antrag der Grünen greift einige weitere wichtige Punkte zur Verbesserung der Rechtssituation von Fahrgästen im Fernlinienbusverkehr auf, von
denen die Linke einige unterstützen kann.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
Die Vorteile des Reisens mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind unbestritten. Vom Effizienzvorteil des öffentlichen Verkehrs profitieren Verbraucher und Umwelt
gleichermaßen. Weniger Energieverbrauch bedeutet weniger Mobilitätskosten, weniger Emissionen und weniger Umweltfolgekosten. Und nicht zu vergessen: Öffentliche Verkehrsmittel bieten Mobilität für alle, also auch
Zu Protokoll gegebene Reden
für Kinder, Ältere, mobilitätseingeschränkte Personen
und sozial Schwache.
Umso wichtiger ist es, den öffentlichen Verkehr attraktiver zu gestalten. Menschen steigen gern auf die öffentlichen Verkehrsmittel um, wenn das Angebot stimmt.
Überall dort, wo ein Angebot neu geschaffen oder nennenswert verbessert wurde, schnellen die Fahrgastzahlen in die Höhe. Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik muss
deshalb der Kunde stehen.
Das bedeutet: Wir brauchen hohe Pünktlichkeitsquoten und einen Taktfahrplan, der schnellstmögliche Verbindungen sicherstellt. Aber auch das Angebot an Beratung und der Service müssen stimmen. Reisen muss für
Eltern mit Kindern, Rollstuhlfahrer, geheingeschränkte
Personen und Reisende mit Gepäck komfortabel sein.
Deshalb ist eine durchgehend barrierefreie Bahninfrastruktur nicht nur für mobilitätseingeschränkte Personen wichtig.
Zudem brauchen wir verbindliche, leicht verständliche Fahrgastrechte. Denn Fahrgastrechte sind das A
und O für die Verbraucher. Gestärkte Fahrgastrechte bedeutet, auf Verspätungen rechtzeitig aufmerksam zu machen, entstandene Schäden in vollem Umfang zu ersetzen, Ausweichmöglichkeiten frei zur Verfügung zu
stellen sowie verbraucherfreundliche und barrierefreie
Informationspflichten zu Reiseverbindungen, Fahrplänen, voraussichtlichen Störungen und Verspätungen
vorzuschreiben. Fahrgäste dürfen nicht länger mit Minimalstandards abgespeist werden.
Doch genau das ist in Deutschland der Fall. Die europäischen Regelungen segmentieren nach Transportmitteln. Die im Februar erlassene Verordnung über
Fahrgastrechte im Busverkehr sollte Buspassagieren
mehr Rechte bei Verspätungen, Annullierungen oder
ähnlichen Ärgernissen zukommen lassen und die Standards denen im Bahnverkehr anpassen. Doch die Verordnung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Im Vergleich zu
den anderen Verkehrsträgern fallen die Rechte für Busreisende am schlechtesten aus.
Ein wirksamer Schutz der Passagiere im europäischen Busverkehr wird vor allem dadurch verhindert,
dass nennenswerte Fahrgastrechte erst bei einer Entfernung von über 250 Kilometern Anwendung finden. Damit gelten für den größten Teil aller Busfahrten in Europa effektiv keine umfassenden Fahrgastrechte.
Beschämend ist auch, dass die Rechte der Menschen mit
eingeschränkter Mobilität bescheiden sind: Verbindliche Ansprüche auf Unterstützung im Busverkehr wird es
nicht geben.
Schließlich wurde den Busunternehmen ein weiteres
Schlupfloch eröffnet: Im Falle „extremer Wetterbedingungen“ - die nicht genau bestimmt sind - werden die
Fahrgastrechte ausgesetzt. Schon bei der Umsetzung
der Fluggastrechte-Verordnung hat sich gezeigt, dass
diese Klausel eindeutig auf Kosten der Reisenden geht.
Das würde auch die Schaffung unabhängiger Schlichtungsstellen, die dringend geboten ist, nicht ausmerzen
können.
Hinzu kommt, dass durch die Ungleichbehandlung
der verschiedenen Verkehrsträger bestehende Wettbewerbsverzerrungen weiter verschärft werden. So zahlen
Eisenbahnen - im Gegensatz zu Bussen - nicht nur auf
jedem Streckenkilometer eine Maut in Form von Trassenpreisen; vielmehr gelten für die Bahn auch deutlich
stärkere Fahrgastrechte. Gerade vor dem Hintergrund
der in Deutschland anstehenden Liberalisierung des
Buslinienverkehrs ist eine solche künstliche Verzerrung
zwischen zwei konkurrierenden Verkehrsmitteln nicht
akzeptabel.
Eine unserer wichtigsten Forderungen ist daher, die
Verbraucherrechte im Busfernverkehr schon ab dem ersten Kilometer durchzusetzen und Entschädigungsansprüche ab 30 Minuten Verspätung vorzusehen, um ein
verkehrsträgerübergreifend gleiches Schutzniveau für
Fahrgäste zu erreichen.
Von entscheidender Bedeutung ist aber, die diskriminierungsfreie Beförderung von Rollstuhlfahrern, seheingeschränkten und mobilitätseingeschränkten Personen
zwingend vorzuschreiben. Die Bundesregierung verfügt
nach eigener Auskunft weder über aktuelle Informationen zur Barrierefreiheit von Fernbuslinien, noch beabsichtigt sie, die Genehmigung des innerstaatlichen Busfernlinienverkehrs an den Einsatz barrierefreier Busse
zu binden. Dieses Handeln widerspricht ganz klar Art. 9
und 20 der UN-Behindertenrechtskonvention. Zudem
verschärft es noch die Zugangsbedingungen für die öffentlichen Nah- und Fernlinienbusse insofern, als auch
zukünftig in neue Barrieren investiert werden kann.
Wir brauchen verkehrsübergreifende Regelungen, die
das Verbraucherschutzniveau für Kunden des öffentlichen Verkehrs bestimmen und gleichzeitig Unternehmen
Planungssicherheit in Bezug auf mögliche Ansprüche
von Kunden geben. Dies muss einerseits auf europäischer Ebene vorangetrieben werden; andererseits sind
verbraucherfreundlichere Strukturen im nationalen Rahmen durchzusetzen. Die Grünen werden deshalb einen
verkehrsträgerübergreifenden Antrag aufsetzen, in dem,
im Sinne der Verbraucherfreundlichkeit und Barrierefreiheit, Informationspflichten zu Reiseverbindung,
Fahrplänen, Fahrtverlauf, voraussichtlichen Störungen
und Verspätungen sowie der barrierefreie Zugang zu allen Verkehrsträgern festgeschrieben werden.
Auch die Einrichtung einer unabhängigen, verkehrsübergreifenden Schlichtungsstelle, wie sie CDU, CSU
und FDP in ihrem Koalitionsvertrag verankert haben,
aber bis heute nicht angegangen sind, ist für die Stärkung der Verbraucherrechte im öffentlichen Verkehr unabdingbar. Denn Rechte müssen auch durchgesetzt werden können. Sowohl für Unternehmen als auch für die
Reisenden hat sich dieses Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung bei Bahnreisen bewährt. Umso
wichtiger ist es, dieses Angebot für alle Verkehrskunden
bereitzustellen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5057 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein11434
Vizepräsident Eduard Oswald
verstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Karin Binder, Frank Tempel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei
massiv beschränken
- Drucksache 17/5055 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Günter
Baumann, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz,
({1})
Ulla Jelpke,
({2})
Wolfgang Wieland.
Ich möchte, bevor ich mich zu dem beschämenden
Antrag der Linkspartei äußere, unseren Bundespolizistinnen und Bundespolizisten meinen Dank für Ihr großes
Engagement zum Schutz der Bevölkerung aussprechen.
Ich nenne diesen Antrag beschämend; denn Sie, Mitglieder der Linken, unterstellen den Beamtinnen und Beamten, nicht nur den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen, sondern dies auch noch leichtfertig, expansiv und
unverhältnismäßig zu tun. Diesen Grundgedanken Ihres
Antrags weise ich entschieden zurück.
Die Zahl der im Einsatz verletzten Landes- und Bundespolizisten steigt von Jahr zu Jahr. Im Jahr 2010 wurden so viele Bundespolizisten wie noch nie angegriffen,
seit solche Attacken im Jahr 2000 erstmals statistisch
erfasst wurden. 2010 kam es zu über 2 000 Attacken gegen Bundespolizisten. Im Vergleich zu 2009 bedeutet
dies einen Anstieg von 33 Prozent.
Ich nenne hier nur einige Ereignisse: 1. Mai 2008,
Berlin: 103 verletzte Polizisten; 1. Mai 2009, Berlin: 479
verletzte Polizisten; 19. Februar 2011, Dresden: 82 verletzte Polizisten. Hier sprach die Gewerkschaft der Polizei von einer „Explosion der Gewalt durch linksextremistische Straftäter“ gegen die Polizei. Die Beamten wurden
unter anderem mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Flaschen beworfen.
Sicherlich demonstriert eine Vielzahl der Menschen
friedlich. Wie jedoch die eben genannten Zahlen zeigen,
ist die Gewaltbereitschaft einiger Demonstranten extrem gestiegen.
Die Anwendung von Pfefferspray ist im Gesetz über
den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes, UZwG, geregelt.
Bei der Anwendung von Zwangsmitteln - dies sind nach
Gesetz Hieb- und Schusswaffen, Reizstoffe und Explosivmittel - sind alle in Deutschland Polizeidienst verrichtenden Beamtinnen und Beamten streng an den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dieser
Grundsatz ist kein Novum, denn das UZwG trat im Jahr
1961 in Kraft. Sie fordern in Ihrem Antrag etwas, was
seit 50 Jahren Bestand hat. Deshalb ist der Antrag nichtig. Außerdem - das möchte ich hier noch einmal
betonen - steht es jedem, der den Einsatz eines Zwangsmittels gegen sich vermeiden möchte, frei, den Anweisungen der Polizei Folge zu leisten.
Es liegt doch in der Natur der Sache, dass Zwangsmittel eine Art von Wirkung entfalten müssen, da ansonsten der Vollzug der polizeilichen Anordnung gegen
den Widerstand nicht erfolgen könnte. Bei Einsatz der
Pfeffersprays besteht die Wirkung aus einer zeitlich begrenzten Reizung der Schleimhäute. Somit schließt der
Einsatz eines solchen Zwangsmittels die Lücke zwischen
einfacher körperlicher Gewalt und dem Einsatz von
Schusswaffen. Vor Einführung des Pfeffersprays bei den
Polizeien der Länder und der Bundespolizei wurden Studien zur Wirkung und zu eventuellen Gefahren von Pfefferspray durchgeführt.
Es ist kein Todesfall in Deutschland bekannt, bei dem
als Ursache der vorherige Gebrauch von Pfefferspray
nachgewiesen wurde. Auch die in Ihrem Antrag auftauchende amerikanische Bürgerrechtsbewegung ACLU
hat entgegen dem Bekunden der Linkspartei eben nicht
festgestellt, dass 26 Personen nach dem Einsatz von
Pfefferspray gestorben sind; vielmehr hat sie festgestellt, dass das Pfefferspray nicht die primäre Ursache
der der American Civil Liberties Union bekannten Todesfälle in Kalifornien zu sein scheint.
Außerdem möchte ich anmerken, dass ich es für sehr
bedenklich halte, wenn man sich für die Begründung des
Antrags auf ein „Gutachten“ stützt, das ein Mitglied der
eigenen Partei verfasst hat.
Es ist immer möglich, dass es bei der Anwendung von
Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt bei dem Betroffenen zu - möglichst vorübergehenden - Beeinträchtigungen kommt. Aber auch hier ist festzuhalten und nochmals zu verdeutlichen, dass Pfefferspray nur dann
eingesetzt wird, wenn mildere Zwangsmaßnahmen zur
Durchsetzung der polizeilichen Verfügung keinen Erfolg
haben. Und auch in diesem Fall wird der Einsatz grundsätzlich vorher angekündigt, um den Personen die Möglichkeit zu geben, dieses Ereignis durch ihre eigene Entscheidung noch abzuwenden.
Für die polizeiliche Aufgabenstellung ist der Einsatz
von Pfefferspray grundsätzlich völkerrechtlich zulässig.
Pfefferspray ist für den Polizeieinsatz ein geeignetes
Mittel. Technische Weiterentwicklungen machen heutzutage gezieltes Sprühen möglich; somit kann die Gefährdung unbeteiligter Dritter ausgeschlossen werden.
Folglich zielt auch die Gefährdung von unbeteiligten
Dritten bei Demonstrationen als Begründung des Antrags für ein Verbot von Pfefferspray ins Leere.
Ich möchte kurz resümieren: Pfefferspray ist ein zugelassener Reizstoff, es ist völkerrechtlich zulässig und
wird nur eingesetzt, wenn es erforderlich ist und eine geeignete sowie angemessene Maßnahme ist. Deshalb
bleibt hier nur eine Entscheidung zu treffen: Der Antrag
der Linken ist eindeutig abzulehnen.
Die Fraktion Die Linke spricht in ihrem Antrag eine
Problematik an, die in der Tat bei den geschilderten Ereignissen in Stuttgart im September des vergangenen
Jahres zutage getreten ist.
Wir alle haben wohl noch die erschreckenden Bilder
vor Augen, wie gegen überwiegend friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten mit unnötiger Härte vorgegangen wurde, wobei auch Pfefferspray zum Einsatz
kam. So gibt es Videos, in denen Beamte zu beobachten
sind, die ungezielt bzw. wahllos Pfefferspray einsetzen,
um Demonstrantinnen und Demonstranten zum Verlassen des Ortes zu veranlassen. Hierbei hätte auch einfache körperliche Gewalt, wie zum Beispiel das Wegtragen, als milderes Mittel gereicht.
Das baden-württembergische Polizeigesetz schreibt in
§ 52 Abs. 1 vor, dass das angewandte Mittel unmittelbaren Zwangs - und als solches ist der Einsatz von Pfefferspray zu bewerten - nach Art und Maß dem Verhalten,
dem Alter und dem Zustand des Betroffenen angemessen
sein muss. Wenn, wie in Stuttgart geschehen, auch eine
große Anzahl älterer Leute, junger Familien und Kinder
friedlich an einer solchen Versammlung teilnimmt, dann
ist es offenkundig, dass der Einsatz von Pfefferspray gegen diese Personen nicht verhältnismäßig ist.
Deshalb beantragte die SPD-Fraktion im Landtag
von Baden-Württemberg den Untersuchungsausschuss
„Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am 30. September
2010 im Stuttgarter Schlossgarten“, der die politische
Verantwortung für den harten Polizeieinsatz offenlegen
sollte. Diese Verantwortung trägt nach Ansicht der
SPD-Fraktion der Ministerpräsident Mappus, der bei
einer Vorbesprechung die Entscheidung an sich zog und
den Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray
billigte - so das Ergebnis des Untersuchungsausschusses.
Aus meiner polizeilichen Arbeit kenne ich den Einsatz
von Pfefferspray sehr wohl, allerdings immer nach dem
Grundsatz, einfache körperliche Gewalt dem Einsatz
schwerwiegenderer Hilfsmittel vorzuziehen. Vordringlich dient er im Rahmen des unmittelbaren Zwangs dazu,
Gefahren abzuwehren und den Schusswaffengebrauch
zu vermeiden. Diese Einsatzweise findet im Wesentlichen im Einzeldienst Anwendung und soll einen Störer
vorübergehend angriffsunfähig machen. Hierbei ist
selbstverständlich zu beachten, nicht auf die Augen des
Betroffenen zu zielen.
Die Fraktion Die Linke fordert in dem vorliegendem
Antrag, den Einsatz von Pfefferspray gegen Menschen
zu verbieten, die sich in Ansammlungen wie einer Demonstration oder bei einem Fußballspiel befinden. Das
halte ich für übertrieben und nicht zielführend. Schließlich erlaubt auch das Gesetz über den unmittelbaren
Zwang, UZwG Bund, in § 10 Abs. 2 den Schusswaffengebrauch gegen eine Menschenmenge. Der Einsatz von
Schusswaffen ist ein viel schärferes Mittel als der Einsatz von Pfefferspray und mit deutlich größerer Gefahr
für Leib und Leben verbunden. Deshalb muss es möglich
bleiben, unterhalb des Schusswaffengebrauchs über ein
polizeiliches Einsatzmittel zu verfügen.
Die Forderung nach einer massiven Einschränkung
geht zu weit. Bedingte Einschränkungen halte ich für
ausreichend. Diese sind aber in den Polizeigesetzen der
Länder bereits enthalten. Auf § 52 Abs. 1 Polizeigesetz
Baden-Württemberg wurde bereits hingewiesen.
Ferner ist im UZwG des Bundes und der Länder der
Einsatz von Zwangsmitteln detailliert geregelt und unterliegt stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,
der über allen polizeilichen Handlungen „schwebt“.
Verstöße gegen diese Bestimmungen bei Einsätzen der
Polizei sind natürlich zu verfolgen und müssen gegebenenfalls strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Ein Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem
hier vorgelegten Inhalt ist deshalb nicht erforderlich.
Es ist schon erstaunlich, dass die Fraktion Die Linke
in ihrem Antrag so tut, als lebten wir in einem Polizeistaat, in dem Polizisten wahllos und willkürlich den Tod
von Menschen hinnehmen, um sich das Leben leichtzumachen. Das finde ich schon ein starkes Stück!
Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland, seien
sie von der Bundespolizei oder von den Polizeien der
Länder, die sich im Prinzip jedes Wochenende bei Großveranstaltungen für die Gewährleistung der Sicherheit in
Gefahr begeben und die bei Demonstrationen oft genug
verletzt werden, sind doch nicht die, die sich vor allem
mit Rechtsbruch hervortun; im Gegenteil.
Aber auf einen Antrag der Linksfraktion, in dem klargestellt und auch eingefordert wird, dass vom Versammlungsrecht Gewalt nicht umfasst ist, können wir wahrscheinlich lange warten. Da wird mit zweierlei Maß
gemessen; im Grunde wird hier überhaupt ganz maßlos
argumentiert: Wenn Steine auf Polizisten geworfen werden, machen Sie die Augen zu und behaupten hinterher
noch, dass die armen Demonstranten bestimmt von der
bösen Polizei provoziert wurden. Wenn aber Polizistinnen und Polizisten gegen Randalierer vorgehen, dann
soll ihnen nach Meinung der Linken am besten nur noch
erlaubt sein, Rechtsbruch mit Streicheleinheiten zu bekämpfen. Das kann aber nicht funktionieren. Das ist mit
unserem Rechtsstaat auch nicht vereinbar.
Die Polizistinnen und Polizisten in Deutschland sind
an Recht und Gesetz gebunden, und Sie müssten eigentlich ganz genau wissen, wie eng und strikt das Regelwerk
ist, innerhalb dessen Einsätze der Polizei stattfinden. Immerhin regiert die Linkspartei ja bedauerlicherweise in
einigen Bundesländern und hat dort die Verantwortung
für die Polizei. Da frage ich mich: Darf die Polizei in
Berlin zum Beispiel bei Naziaufmärschen oder bei den
1.-Mai-Steinewerfern solche Teilnehmer von DemonstraZu Protokoll gegebene Reden
tionen, die das Recht brechen, nur durch exzessives Kuscheln dazu bewegen, sich an Recht und Gesetz zu halten? Nein, natürlich nicht. Die Polizei muss die
Möglichkeit haben, unseren Rechtsstaat zu schützen.
Ich erinnere daran, dass die Linke im Grunde möchte,
dass der Polizei vollkommen die Hände gebunden sind:
Wasserwerfer finden Sie schlecht, Wegtragen finden Sie
schlimm, Schlagstöcke dürfen nicht eingesetzt werden,
Schutzkleidung von Polizisten finden Sie provokant usw.
usf. Am Ende müssen Sie sich fragen, ob Sie überhaupt
wollen, dass es in einem Rechtsstaat eine Polizei gibt.
Es ist selbstverständlich richtig, dass innerhalb eines
klaren Regelwerks die Polizei notfalls auch mit unmittelbarem Zwang reagieren kann. Dabei muss die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols in unserem
Rechtsstaat natürlich immer an den Regeln der Verhältnismäßigkeit orientiert sein. Zudem muss jede Maßnahme - und das ist ja auch der Fall - nachprüfbar sein.
Die Linke will hier den Eindruck erwecken, dass genau diese Richtschnur fehlt. Dabei kann man über dieses
Thema ja durchaus ernsthaft und in Ruhe diskutieren.
Auch der Landtag in Baden-Württemberg befasst sich in
seinem Untersuchungsausschuss mit dem Einsatz von
Pfefferspray.
Natürlich muss jedes Einsatzmittel der Polizei immer
wieder auf seine Verhältnismäßigkeit überprüft werden.
Natürlich müssen auch neue Erkenntnisse in diese Bewertung einbezogen werden, vor allem wenn diese sich
auf gesundheitliche Gefahren beziehen.
Aber zu einer ernsthaften Befassung gehört auch,
dass man festhält, dass Pfefferspray nicht generell Menschen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Verletzung bringt. In aller Regel ist es vielmehr so, dass es
sich um ein Mittel handelt, das gerade ohne dauerhafte
Schädigung der Durchsetzung unmittelbaren Zwangs
dient. Das heißt nicht, dass man es nicht immer wieder
hinterfragen muss; auch das gehört selbstverständlich
in unserem Rechtsstaat dazu.
Eine ernsthafte Debatte darüber würde ich gerne führen. Aber auf dem Niveau, auf das die Linke sich hier begibt, ist das nicht möglich.
Die Fraktion Die Linke will den Einsatz von Pfefferspray durch die Bundespolizei massiv beschränken.
Denn Pfefferspray bzw. sein chemischer Ersatz ist eine
gefährliche, unter Umständen tödliche Waffe. Nicht von
ungefähr steht auf den Sprühgeräten, die man im Waffenladen kaufen kann, eindeutig, dass sie nur gegen
Tiere eingesetzt werden dürfen. Doch eine Ausnahme
gibt es: Die Polizei darf auch Menschen mit Pfefferspray besprühen.
Und da müssen wir leider feststellen, dass die Polizei
keineswegs nur in Fällen akuter Notwehr zum Pfefferspray greift. Vielmehr haben wir gerade im vorigen Jahr
gesehen, dass Pfefferspray zum ganz normalen Mittel eines Polizeieinsatzes geworden ist und flächendeckend
und massiv gegen Demonstranten, Fußballfans oder
Einzelpersonen eingesetzt wird.
Wie unverhältnismäßig diese Einsätze oftmals sind,
erwies sich zum Beispiel am 30. September vorigen Jahres in Stuttgart, als die Menschen, die gegen das Milliardengrab Stuttgart 21 protestiert haben, massiv mit Pfefferspray beschossen wurden. Noch schlimmer war es
dann beim Castortransport im November. Dort hat alleine die Bundespolizei fast 2 200 Sprühdosen verbraucht. Insgesamt waren Hunderte von Verletzten zu
beklagen. Die Fraktion Die Linke hält es für absolut unverantwortlich und undemokratisch, so mit Demonstranten umzuspringen.
Denn gerade beim Einsatz gegen größere Menschenmengen nehmen die Einsatzführungen und die politisch
Verantwortlichen zwangsläufig in Kauf, dass auch völlig
unbescholtene Bürger in Mitleidenschaft gezogen werden. Und wir reden hier nicht nur von Verletzten. Wir
können vielmehr von Glück reden, dass es bei diesen
Einsätzen keine Toten gegeben hat.
Denn Pfefferspray ist eben nicht das handliche, nützliche Allroundmittel, als das es benutzt wird. Vielmehr
ist Pfefferspray eine potenziell tödliche Waffe, der schon
Dutzende von Menschen zum Opfer gefallen sind. Das
ist wissenschaftlich längst erwiesen; nur hat bislang niemand die politische Schlussfolgerung daraus gezogen.
Dazu hat dieses Parlament nun durch unseren Antrag
die Gelegenheit.
Inwiefern ist Pfefferspray hochgefährlich? Man kann
generalisierend sagen: Kerngesunde Menschen können
das Reizgas mehr oder weniger wegstecken. Verletzungen an den Schleimhäuten, insbesondere an den Augen,
tragen auch sie davon; aber Langzeitschäden haben sie
meist nicht zu befürchten. Doch bei gesundheitlich vorbelasteten Menschen sieht das ganz anders aus: Wer
unter Asthma leidet, bestimmte Allergien hat, Psychopharmaka nehmen muss, dauerhaft Kokain oder Amphetamine konsumiert oder eine Herz-Kreislauf-Schwäche
hat, für den wird der Kontakt mit Pfefferspray extrem
gefährlich. Am schlimmsten sind dabei die möglichen
Reaktionen eines allergischen Schocks, die entstehen
können. In Stellungnahmen des US-Justizministeriums,
aber auch beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages ist nachzulesen, dass es dieses Risiko gibt. Alleine
in den letzten zwei Jahren waren in Deutschland mindestens fünf Todesopfer zu beklagen. Selbst die Bundesregierung sagt:
Bei bestimmungsgemäßer Exposition von gesunden
Personen sind in der Regel keine bleibenden gesundheitlichen Schäden zu erwarten.
Das hat sie auf eine Kleine Anfrage von uns geantwortet. Damit bestätigt sie verklausuliert, dass kranke
Personen sehr wohl gefährdet sind. Doch die tödlichen
Risiken und Nebenwirkungen bezeichnet sie zynisch als
„Einzelrisiken“. Die Linke meint allerdings: Ein Mittel,
das den Tod hervorrufen kann, darf, wenn überhaupt,
nur extrem zurückhaltend eingesetzt werden.
Niemand kann Situationen ausschließen, in denen
eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben existiert
Zu Protokoll gegebene Reden
und der Einsatz von Pfefferspray gegen einen Gewalttäter als akute Notwehr vertretbar erscheint. Viele Frauen
führen es mit sich, um sich gegen angreifende Männer
wehren zu können. Aber es darf einfach nicht sein, dass
solche Reizgase gegen Menschen eingesetzt werden, die
friedlich protestieren. Nehmen wir Stuttgart 21: Die
Räumung des Schlossparks ohne Pfefferspray hätte vielleicht ein paar Stunden länger gedauert. Aber was ist
schon die mögliche Verzögerung dieses unsinnigen Bauprojekts gegen das Risiko, durch wahllosen Pfeffersprayeinsatz schwerste Gesundheitsschäden zu verursachen? Denn es kann doch keiner ausschließen, dass
unter den Demonstranten etliche Menschen mit Asthma
oder Allergiker sind. Das Gleiche gilt für den Protest gegen den Castortransport. Auch der Einsatz gegen sogenannte Randalierer, die eventuell nur einfache Ruhestörungen verursachen, muss unterbunden werden. Denn
gerade weil solche Personen häufig Drogen konsumiert
haben, ist Pfefferspray für sie unvergleichlich viel gefährlicher.
Wir können mit unserem Antrag nur den Pfeffersprayeinsatz der Bundespolizei einschränken. Es ist für uns
ein Gebot der politischen Vernunft, aber auch schlicht
der Gesundheit, auf Länderebene nachzuziehen. Genauso wenig, wie man in Menschenmengen mit Schusswaffen hineinschießen darf, darf man sie mit Pfefferspray überziehen.
Seit Jahrzehnten gehören Reizstoffe wie Pfefferspray
zur gängigen Ausrüstung der Polizei. Eingeführt wurden
sie als das „mildere Mittel“. Wo früher Schlagstöcke
oder die Schusswaffe eingesetzt werden mussten, sollte
nun die Chemie die Ausübung des unmittelbaren Zwangs
auf schonendere Weise ermöglichen. Sei es bei Großein-
sätzen oder bei Festnahmen von Gewalttätigen, man
hoffte, mit CN/CS-Gas - vulgo: chemische Keule - Ver-
letzungen und Schlimmeres vermeiden zu können.
Wir mussten lernen: Auch CN/CS-Gas kann zu erheb-
lichen Verletzungen führen, von leichten Verätzungen
über ernsthafte Schäden an Augen und Schleimhäuten
bis hin zu schwersten Komplikationen bei bestimmten
Vorerkrankungen. Dabei trifft es nicht selten auch den,
der es einsetzt. Es ist also keine geeignete Waffe zum
Beispiel bei Gegenwind.
Das jetzt gebräuchliche Pfefferspray sollte alle diese
Probleme lösen. Aber dieser Wunsch ging nicht in Erfül-
lung. Denn auch bei den heute üblichen Reizstoffen
kommt es zu teils erheblichen Verletzungen, selbst wenn
sie gesunde Menschen treffen. Richtig gefährlich kann es
aber für Menschen mit Asthma oder bestimmten Aller-
gien sowie in Wechselwirkung mit Medikamenten oder
manchen Drogen werden. Dann drohen akute Atemnot
und Ersticken, Organschäden oder gar der Tod.
Das mag nicht häufig passieren; aber hier gilt: Jeder
Schwerverletzte ist einer zu viel, und Tote darf man
schon gar nicht in Kauf nehmen. Polizeiliche Mittel dür-
fen nicht schwere Verletzungen in Kauf nehmen; das ge-
bietet die Verhältnismäßigkeit. Das gilt bei der ganz
konkreten, auf eine bestimmte Person zielenden Aus-
übung von Zwang, und das gilt auch, wenn sich die Poli-
zei großen, aggressiven Gruppen gegenübersieht. Ge-
rade in diesem Fall ist nicht zu erkennen und nicht
vorher zu ermitteln, wer eine Allergie hat, wer von
Asthma betroffen ist oder wer bestimmte Krankheiten
hat. Besonders hier kommen die Risiken von Pfeffer-
spray also voll zum Tragen.
Verbieten klingt wie eine einfache Lösung. Wer das
fordert, muss schon sagen, welchen Ersatz er anbieten
kann. Durch die Menge jagende Reiterstaffeln können es
ja wohl nicht sein. Deshalb gilt: Wir brauchen aussage-
kräftige, ehrliche Studien zum Pfefferspray. Wir brau-
chen gegebenenfalls Alternativen. Pfefferspray ist offen-
bar nicht das erhoffte „mildere Allheilmittel“.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5055 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({0}), Inge Höger, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beachtung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes
bei dem Evakuierungseinsatz in Libyen
- Drucksache 17/5175 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Paul Schäfer ({1}), Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Stopp der Überwachung des libyschen Luftraums durch AWACS-Luftfahrzeuge
- Drucksache 17/5176 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael
Brand, Dr. Wolfgang Götzer, Lars Klingbeil, Dr. Rainer
Stinner,
({2})
Inge Höger,
({3})
Volker Beck.
Die Evakuierung deutscher und anderer Staatsangehöriger aus Libyen durch unsere Bundeswehr am
26. Februar 2011 war richtig und erfolgreich. Dafür
danken wir den Soldatinnen und Soldaten sehr. Die Evakuierung duldete angesichts einer humanitären Notlage
keinen Aufschub, zumal Gefahr im Verzug wahr.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden insgesamt 132 Personen mit zwei Bundeswehrflugzeugen vom Typ C-160 Transall evakuiert, darunter
22 deutsche Staatsbürger. An Bord waren laut Auskunft
der Bundesregierung - Bundestagsdrucksache 17/5002
vom 11. März 2011 - neben der Transall-Besatzung insgesamt 20 Soldaten der Bundeswehr, 8 Feldjäger und
12 Fallschirmjäger. In den Luftfahrzeugen wurden demnach Pistolen P8 und P7, Gewehre G3ZF, G36 sowie
MG3 mitgeführt.
Die Transportflugzeuge starteten und landeten auf
Kreta. Mit an Bord waren seinerzeit Sicherungskräfte;
als Landezone diente der im Osten Libyens gelegene
Flughafen Nafurah. Bereits am 22. und 23. Februar
hatte die Bundeswehr nach eigenen Angaben insgesamt
130 EU-Bürger ausgeflogen, darunter 103 Deutsche.
Neben Deutschland haben auch weitere Staaten wie
zum Beispiel die USA, China, die Türkei, Frankreich,
Großbritannien, Italien, Spanien, die Niederlande, Portugal Österreich, Rumänien und Bulgarien eigene
Staatsbürger evakuiert.
Weiter geht aus der Antwort der Bundesregierung
hervor, dass die an der Evakuierung deutscher Staatsbürger beteiligten Kräfte der Bundeswehr, die uns heute
hier im Hohen Hause beschäftigen, durch das Einsatzführungskommando geführt wurden und der Einsatz der
Kräfte auf Anforderung des Krisenstabes des Auswärtigen Amtes erfolgte.
Die Obleute der Fraktionen im Verteidigungsausschuss wurden beim Rückflug am 25. Februar nach der
Trauerfeier in Regen für die in Afghanistan getöteten
Soldaten von Herrn Generalinspekteur Wieker über die
bevorstehende Evakuierung unterrichtet, der SPD-Obmann telefonisch.
Nach erfolgreichem Einsatz wurden die Vorsitzenden
der Bundestagsfraktionen am 25. Februar spätabends
und am nächsten Tag von Außenminister Westerwelle telefonisch unterrichtet; die Vorsitzenden, stellvertretenden
Vorsitzenden und Obleute des Auswärtigen und Verteidigungsausschusses wurden am 26. Februar schriftlich
durch das Einsatzführungskommando der Bundeswehr
und im Verlauf des 27. Februar durch die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes und des BMVg telefonisch
über den Verlauf der durchgeführten Evakuierungen unterrichtet. Darüber hinaus erhielt der genannte Personenkreis am 4. März eine schriftliche Unterrichtung.
Der Bundestag ist vor Beginn und während des Einsatzes in geeigneter Weise unterrichtet worden.
Die beteiligten Soldaten waren nach Auskunft des
Verteidigungsministeriums angewiesen, die Waffen nur
zur Selbstverteidigung und Nothilfe sowie erforderlichenfalls zur Durchsetzung der Evakuierung einzusetzen.
Zur rechtlichen Bewertung ist die Feststellung von
erheblicher Bedeutung, dass seitens der Bundesregierung die klare Erwartung bestand, dass die mitgeführten
Waffen nicht würden eingesetzt werden müssen.
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz findet nur bei einem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland Anwendung. Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte ist
nicht anzunehmen, wenn eine Einbeziehung deutscher
Soldatinnen und Soldaten in eine bewaffnete Unternehmung nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und
den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen
nicht zu erwarten ist.
Dies war bei den in der Vorbemerkung der Bundesregierung und der Antwort auf die Frage 1 dargestellten
Flügen zur Evakuierung deutscher und Staatsbürger anderer Länder der Fall. Aufgrund der gegebenen Bedrohungslage bestand zum Zeitpunkt der entsprechenden
Entscheidungen die klare Erwartung, dass die eingesetzten Soldaten durch libysche Kräfte nicht bedroht sind,
ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen und mithin
nicht in eine bewaffnete Unternehmung einbezogen werden würden. In diesem Zusammenhang wird auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 7. Mai 2008 ({0}) verwiesen. Danach führt sogar erst die
qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen zur parlamentarischen Zustimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes deutscher Soldaten ({1}).
Dass der Deutsche Bundestag die Wahrung seiner
Rechte einfordert und auf deren Einhaltung pocht, ist
schlicht seine Pflicht. Daran darf es keinerlei Abstriche
geben.
Im vorliegenden Falle verweise ich auf die obige juristische Würdigung. Den Antrag der Fraktion Die
Linke lehnen wir ab.
Am 26. Februar dieses Jahres wurden 132 Personen,
die sich in einer äußerst schwierigen humanitären Lage
befanden, mit zwei geschützten Transall-Maschinen aus
dem Raum Nafura evakuiert und außer Landes gebracht.
Die Transall-Maschinen wurden von insgesamt 20 deutschen Soldaten begleitet, die zum Zwecke der Selbstverteidigung Waffen mit sich führten. Klare Erwartungshaltung von Beginn der Evakuierungsaktion an war, dass es
zu keinem Einsatz der mitgeführten Waffen kommen
werde.
Die Linke vertritt nun gemeinsam mit der SPD und den
Grünen die Auffassung, dass der Evakuierungseinsatz der
nachträglichen Genehmigung durch den Bundestag bedürfe, weil es sich um einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes handele.
Diese Auffassung ist rechtlich unzutreffend. Dass dies
durchaus auch der Linken bewusst ist, zeigt sich an der
relativ geduldigen Zurückhaltung, mit der die Fraktion
auf den angeblich rechtswidrigen Bundeswehreinsatz
reagiert hat. Möglicherweise möchte die Linke aber
auch angesichts bevorstehender Landtagswahlen einen
humanitären Rettungseinsatz nicht als rechtswidrig verurteilen.
Umso verwunderlicher ist jedoch die Kritik von den
Grünen und der SPD, sollten diese doch mittlerweile die
Voraussetzungen des Parlamentsvorbehalts kennen,
nachdem sie es waren, die im Jahr 2003 mit dem Einsatz
Zu Protokoll gegebene Reden
deutscher Soldaten in AWACS-Aufklärungsflugzeugen
über der Türkei gegen die Verfassung verstoßen haben.
Die Evakuierungsflüge vom 26. Februar dieses Jahres jedenfalls waren verfassungsrechtlich zulässig. Die
Einholung eines vorherigen oder nachträglichen Mandats des Bundestages nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz war und ist nicht erforderlich. Bei der Maßnahme handelte es sich um keinen Einsatz bewaffneter
Streitkräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG, da nach der
erfolgten Lageeinschätzung der Bundesregierung aus
Ex-ante-Sicht nicht zu erwarten war, dass die Soldaten
in bewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werden
würden.
Im Jahr 2008 stellte das Bundesverfassungsgericht in
seinem sogenannten AWACS-II-Urteil fest, dass dies
aber das entscheidende Merkmal ist. Im Urteil heißt es
dazu, dass ein Auslandseinsatz der Bundeswehr im
Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nur dann gegeben ist, wenn - unabhängig von der Bewaffnung der
entsandten Soldaten - „die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu
erwarten ist“. Die „bloße Möglichkeit“ - diese musste
bei der Luftevakuierung aus Nafura als Vorsichtsmaßnahme einkalkuliert werden und führte zu der Entsendung bewaffneter Soldaten - „reicht hierfür nicht aus“,
so Karlsruhe.
Sowohl das Bundesverteidigungsministerium als
auch das Auswärtige Amt gingen vor Beginn der Luftevakuierung davon aus, dass die entsandten deutschen
Soldaten ihre Waffen nicht einsetzen werden, denn es lag
keine konkrete Gefährdungslage vor. Weder das Wintershall-Lager in Nafura noch die zu evakuierenden Personen dort waren konkret bedroht. Allerdings befanden
sie sich in einer humanitären Notlage, da ihre Vorräte
zur Neige zu gehen drohten und es unmöglich war, das
Lager auf dem Landweg zu verlassen.
Im Übrigen wurde das Gaddafi-Regime über die Aktion vorab informiert. Die fehlende Reaktion konnte als
konkludente Zustimmung gewertet werden.
Auch die Tatsache, dass nur zwei leicht gesicherte
Flugzeuge und lediglich 20 leichtbewaffnete Soldaten
zur Evakuierung von immerhin 132 Menschen entsandt
wurden, zeigt, dass die Bundesregierung tatsächlich nie
von einer konkreten Bedrohungslage ausgegangen ist
und auch nicht ausgehen musste, sodass kein bewaffneter Einsatz im Sinne des § 2 Abs. 1 ParlBG vorlag.
Zu dem Antrag der Linken, der sich auf den AWACSEinsatz mit deutscher Beteiligung im Mittelmeerraum
bezieht, ist Folgendes zu sagen:
Nachdem sich die westliche Allianz nun auf eine
Schlüsselrolle der NATO im Libyen-Einsatz geeinigt hat,
wird die Bundesregierung 300 deutsche Soldaten, die
Besatzungsmitglieder von AWACS-Aufklärungsflugzeugen sind, nach Afghanistan schicken, um die NATOPartner im Libyen-Einsatz zu entlasten. Gleichzeitig
werden alle deutschen Soldaten vom NATO-Einsatz im
Mittelmeer abgezogen. Der Grund dafür ist, dass nicht
auszuschließen ist, dass Bilder der AWACS-Aufklärungsflugzeuge für einen operativen Einsatz verwendet
werden.
Es bestehen somit im Sinne des AWACS-II-Urteils aus
dem Jahr 2008 „greifbare tatsächliche Anhaltspunkte
für eine drohende Verstrickung“ der Soldaten, die derzeit im Rahmen von OAE im Mittelmeer tätig sind, „in
bewaffnete Auseinandersetzungen“, die in Umsetzung
der UN-Resolution zur Einhaltung der Flugverbotszone
geführt werden.
Nach diesem AWACS-II-Urteil ist ein Mandat des
Bundestages erforderlich, sobald solche „greifbaren
tatsächlichen Anhaltspunkte“ bestehen. Die Schiffe, die
sich im Rahmen von OAE im Mittelmeer befinden, werden aus demselben Grunde nationalem Kommando unterstellt und abgezogen.
Der Antrag der Linken ist damit gegenstandslos.
Die Frage, ob der Evakuierungseinsatz in Libyen
Ende Februar dieses Jahres unter das Parlamentsbeteiligungsgesetz fällt, lässt sich auf folgende Frage reduzieren: War zu erwarten, dass die Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen
werden oder nicht?
Wenn eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist, dann handelt es sich nach § 2
Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes um einen
Einsatz im Sinne desselben. Dies hätte zwar nicht zur
Konsequenz gehabt, dass das Parlament im Vorhinein
dem Einsatz zustimmen muss, denn nach § 5 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes ist eine nachträgliche Zustimmung des Deutschen Bundestages möglich.
Unter Abs. 1 steht dort:
Einsätze bei Gefahr im Verzug, die keinen Aufschub
dulden, bedürfen keiner vorherigen Zustimmung
des Bundestages. Gleiches gilt für Einsätze zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen,
solange durch die öffentliche Befassung des Bundestages das Leben der zu rettenden Menschen gefährdet würde.
Es besteht kein Zweifel, dass dieser Fall in Libyen
eingetreten war. Ich bin daher auch der Überzeugung,
dass die Bundesregierung klug und im Sinne aller gehandelt hat. Es war wichtig und notwendig, die Evakuierung durchzuführen. Wir alle haben uns bei denen zu bedanken, die diese Maßnahme durchgeführt haben.
Dass Absatz 2:
Der Bundestag ist vor Beginn und während des
Einsatzes in geeigneter Weise zu unterrichten.
ebenfalls erfüllt wurde, berichtete mir der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Mützenich.
Der letzte Absatz in § 5 regelt jedoch, wie im Nachgang mit dem Parlamentsvorbehalt umzugehen ist:
Der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz ist unverzüglich nachzuholen. Lehnt der Bundestag den Antrag ab, ist der Einsatz zu beenden.
Zu Protokoll gegebene Reden
War die Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung in Libyen also zu erwarten, so hätte die Bundesregierung zeitnah die Zustimmung des Parlaments beantragen müssen.
Wenn die Bundesregierung davon ausgegangen ist,
dass eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung nicht zu erwarten war, dann benötigt dieser Einsatz nach § 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nicht
die Zustimmung des Bundestages. Die Frage ist also:
Konnte die Bundesregierung davon ausgehen, dass
keine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu
erwarten war?
Die mediale Berichterstattung lässt diesen Schluss
nicht wirklich zu. Es war von bis zu 1 000 Soldaten im
Einsatz zu lesen. Sechs Transall-Maschinen, drei Schiffe
und zwei Fregatten waren im Einsatz. Die Berichterstattung darüber ließ den Schluss zu, dass der Einsatz als
äußerst riskant einzuschätzen war und daher auch
streng geheim durchgeführt wurde.
Was mich in diesem Zusammenhang jedoch mehr
überrascht als die mediale Berichterstattung, ist die Dokumentation des Einsatzes durch die Bundesregierung
selbst. Auf dem Internetauftritt des Bundesministeriums
der Verteidigung ist zum Einsatz - dort als Operation
Pegasus betitelt - unter anderem zu lesen:
Die Landung im völlig unüberschaubaren Krisengebiet war für die Soldaten nicht ohne Risiko. Es
bestand die Gefahr, dass der libysche Diktator,
Muammar al-Gaddafi, die besetzten Ölanlagen der
Stadt bombardieren und so auch die dort tätigen
Europäer gefährden könnte. Was die Soldaten nach
der Landung in einem vom Bürgerkrieg erfassten
Land erwartet, ist unklar.
Weiter schreibt das BMVg:
Über Angst sprechen die Soldaten nicht. Sie haben
Respekt vor ihrer Aufgabe, weil sie nie genau wissen, was auf sie zukommt. Die Stimmung könnte
plötzlich umschlagen, selbst Angriffe sind nicht
auszuschließen.
In einem Video auf der Seite beschreibt ein Soldat die
Gefahrenlage und die damit verbundenen Risiken. So
wurden die Soldaten darauf vorbereitet, dass in Libyen
möglicherweise Luftabwehrraketen eingesetzt werden
würden.
Dies alles lässt mich zu dem Schluss kommen, dass
sehr wohl das Risiko einer Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung bestand. Die Einschätzung der Lage
durch die Soldaten im Einsatz dürfte auch dem BMVg
und dem Auswärtigen Amt und somit der Bundesregierung vorgelegen haben und vorliegen. Es ist daher
meine Auffassung, dass nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz der Antrag auf Zustimmung zum Einsatz
durch die Bundesregierung unverzüglich nachzuholen
ist.
Im Jahr 1997 führte die Bundeswehr einen ähnlichen
Einsatz durch. Mit der Operation Libelle wurden deutsche Staatsbürger aus Albanien ausgeflogen. Ob die Gefahrenlage zu vergleichen ist, müssen Experten entscheiden; der Hintergrund des Einsatzes war jedoch
vergleichbar. Bei der Operation Libelle kam es zu einem
Schusswechsel auf dem Flugplatz, die Einbeziehung in
eine bewaffnete Unternehmung war also gegeben und
der Bundestag hat im Nachgang dem Einsatz zugestimmt. Ich halte es jedoch für sehr problematisch, die
Parlamentsbeteiligung davon abhängig zu machen, ob
es wirklich zu einem Beschuss kam oder ob nur die Gefahr dafür bestand.
Warum die Bundesregierung dem Antrag auf Zustimmung zum Einsatz nicht nachkommt und weiterhin auf
dem Standpunkt beharrt, dass es sich um einen humanitären Einsatz ohne Risiko einer Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung handelte, ist für mich daher unverständlich.
Erstens bin ich der festen Überzeugung, dass ein solcher nachträglicher Antrag im Deutschen Bundestag
eine breite Zustimmung finden würde. Es handelt sich
hierbei ja um einen Einsatz zur Evakuierung deutscher
und anderer europäischer Staatsbürger.
Zweitens müssen wir Politiker unseren Worten auch
Taten folgen lassen. Über alle Parteigrenzen hinweg
stellen wir immer wieder die Wichtigkeit und Besonderheit der Parlamentsarmee heraus. Zu Recht, denn sie
hat nicht nur ihre geschichtliche Existenzberechtigung,
sondern sie ist auch eine große Errungenschaft. Auch
wenn der Parlamentsvorbehalt oft gescholten wird, bin
ich der Überzeugung, dass die Streitkräfte der Zukunft
weiterhin vom Parlament kontrolliert werden müssen.
Nur so stellen wir sicher, dass ihr Einsatz durch demokratische Willensbildung zustande kommt. Anstatt dies
mit Leben zu füllen, versteckt sich die Regierung hinter
der Auslegung und der Interpretation von Paragrafen.
Ich bin der festen Überzeugung: Im Zweifel sollte sich
die Regierung parlamentsfreundlich verhalten.
Drittens geht es mir um die Glaubwürdigkeit von
Politik. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine
breite Unterstützung in der Öffentlichkeit haben, wenn
es darum geht, deutsche Staatsbürger aus Krisengebieten zu evakuieren. Wenn die Einschätzung des Auswärtigen Amts und des BMVg nun in diesem Fall ergeben,
dass für die Evakuierung bewaffnete Soldatinnen und
Soldaten im Einsatzgebiet vonnöten sind, dann steht ihnen das als verantwortliches Ressort zu. Wenn wir nun
aber auf der einen Seite stets betonen, dass in Deutschland das Parlament über den Einsatz von Soldaten im
Ausland entscheidet, auf der anderen Seite aber Bilder
von bewaffneten Soldaten in Libyen auftauchen und kein
Beschluss des Bundestages vorliegt bzw. beabsichtigt
ist, haben wir ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Die Anträge der Linken sind vollkommen überflüssig
und falsch. Wir brauchen zu diesem Thema nun wirklich
keinerlei Nachhilfe durch eine Fraktion, die sich bei
Klagen zu Bundeswehreinsätzen vor dem Bundesverfassungsgericht reihenweise schallende Ohrfeigen abgeholt hat. Nun wollen Sie Ihre absurde Rechtsauffassung,
mit der Sie in Karlsruhe ausnahmslos gescheitert sind,
Zu Protokoll gegebene Reden
hier im Bundestag anbringen, aber hier werden Sie genauso scheitern.
Selbstverständlich beachtet die Bundesregierung
peinlich genau das Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ein liberal geführtes Außenministerium ist die beste Gewähr
dafür. Wir Liberale haben nach dem rot-grünen AWACSEinsatz während des Irakkrieges eine Klage vor dem
Bundesverfassungsgericht eingereicht und, im Gegensatz zu den Kollegen der Linken, vollumfänglich Recht
bekommen.
An genau diesem Urteil orientiert sich auch das Handeln der Bundesregierung, und zwar in beiden Fällen: In
einem Antrag fordern Sie die schon erfolgte Beendigung
der Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten an dem
AWACS-Einsatz zur Überwachung des libyschen Luftraums. Die Bundesregierung hat dies in exakt dem Moment getan, als die Operation begann, eine bewaffnete
Unternehmung im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes zu werden. Das ist eine völlig konsequente, stringente und verfassungsgemäße Handlungsweise. Deshalb ist dieser Antrag überflüssig.
Ihr anderer Antrag, der die Nachmandatierung des
Evakuierungseinsatzes in Libyen fordert, ist schlicht und
ergreifend falsch. Aus der Urteilsbegründung zum
AWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibt
sich völlig unstreitig, dass der Evakuierungseinsatz in
Libyen eben kein bewaffneter Einsatz im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes war und deshalb auch nicht
vom Deutschen Bundestag mandatiert werden muss. Ich
empfehle Ihnen, dieses Urteil noch einmal gründlich zu
lesen. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seiner Begründung:
Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung
deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen besteht, wenn sie im Ausland Waffen mit
sich führen und ermächtigt sind, von ihnen Gebrauch zu machen. Denn es kann dadurch je nach
dem Verlauf des tatsächlichen Geschehens dazu
kommen, dass die Bewaffnung in die Anwendung
von Waffengewalt mündet. Solange es sich allerdings rechtlich nur um eine Ermächtigung zur
Selbstverteidigung handelt und der Einsatz selbst
einen nicht-militärischen Charakter hat, ist, wie der
Senat bereits festgestellt hat, die Schwelle der Zustimmungsbedürftigkeit nicht schon durch diese Ermächtigung erreicht.
Bei der Evakuierung hat es sich ohne jeden Zweifel
um einen Einsatz mit nichtmilitärischem Charakter in
diesem Sinne gehandelt. Dass die Bundesregierung eine
zusätzliche Sicherheitskomponente mit dem Recht zur
Selbstverteidigung mitgeschickt hat, spricht dem nicht
entgegen, wie das Gericht ausdrücklich feststellt. Wir
sollten auch wirklich nicht dazu kommen, der Bundesregierung Vorwürfe zu machen, wenn sie sich für noch so
unwahrscheinliche Eventualitäten vorbereitet.
Auch vor Ihrer weiteren Argumentation kann ich Sie nur
warnen: Sie sehen in der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden durch die Bundesregierung vor dem Einsatz einen Beweis dafür, dass es sich um einen zu mandatierenden
Einsatz handelt. Das ist natürlich völlig lächerlich. Ich
halte es für ausgesprochen angemessen, dass die Bundesregierung - unabhängig von irgendeiner rechtlichen Verpflichtung - das Parlament informiert, wenn sie deutsche
Staatsbürger aus einer Situation evakuiert, die alle Schlagzeilen des Tages bestimmt hat. Wollen Sie wirklich in einer
solchen Lage lieber nicht informiert werden? Das kann
doch nicht Ihr Ernst sein. Ich bedanke mich ganz ausdrücklich beim Auswärtigen Amt und bei Außenminister
Westerwelle für die konstruktive und offene Informationspolitik zu dieser Operation.
Die FDP-Fraktion lehnt also beide Anträge mit sehr
guten Gründen ab und empfiehlt der Fraktion der Linken, sich einmal zu den verfassungsrechtlichen Gegebenheiten von Bundeswehreinsätzen unterrichten zu lassen, aber bitte nicht durch die Rechtsvertreter, mit denen
Sie in der Vergangenheit in Karlsruhe ständig gescheitert sind.
Seit dem 19. März 2011 führt eine „Koalition der Willigen“ kriegerische Angriffe auf libysches Territorium
durch. Bei der Verabschiedung der Resolution 1973 des
UN-Sicherheitsrates, die als Legitimation für die Bombardierungen dient, hat sich die deutsche Regierung
enthalten. Sie hat ebenfalls klargemacht, dass sich
Deutschland nicht an dieser Operation beteiligen wird.
Die Linke begrüßt es, dass in diesem Fall deutsche Außenpolitik etwas besonnener ist, als wir es aus anderen
Krisengebieten dieser Welt kennen.
Allerdings war die deutsche Regierung gerade im Vorfeld der internationalen Angriffe auf Libyen keineswegs
militärisch abstinent. In der Operation Pegasus wurden
unter Beteiligung von bis zu 1 000 Bundeswehrsoldaten,
darunter schwer bewaffnete Sondereinheiten, Zivilisten
aus Libyen evakuiert. Die Marine hat mit drei Schiffen und
700 Soldaten 450 Menschen, die aus Libyen nach Tunesien
geflohen waren, nach Ägypten gebracht. Die „Tagesschau“ spekulierte damals, dass „die Guttenberg-geschüttelte Bundesregierung … schöne Fernsehbilder und
Schlagzeilen von geretteten Ägyptern auf einer deutschen
Fregatte“ benötigte, denn mit ein bis zwei zivilen Flugzeugen wäre der Transport in wesentlich kürzerer Zeit möglich
gewesen. Zudem waren mehr als 70 deutsche Soldaten als
Besatzungsmitglieder beteiligt an der Überwachung des
libyschen Luftraums im Vorfeld des Krieges, also bis zum
19. März, vielleicht sogar bis zum 22. März. Erst am
22. März hat die Bundesregierung ihre Beteiligung an
den entsprechenden Verbänden offiziell aufgekündigt.
Für zwei dieser Militäroperationen - für die Operation Pegasus und für die Überwachung des libyschen
Luftraums im Vorfeld des Krieges - wäre eine Mandatierung des Einsatzes durch den deutschen Bundestag notwendig gewesen. Leider hat die Bundesregierung weder
vor dem Einsatz den Bundestag beteiligt, noch hat sie
dies im Nachhinein getan. Hierdurch wurden und werden
gesetzlich garantierte Rechte der Parlamentarierinnen
und Parlamentarier missachtet. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz regelt ganz eindeutig, dass das Parlament - und nicht die Regierung - verantwortlich ist für
Zu Protokoll gegebene Reden
die Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte.
Brigadegeneral Volker Bescht machte in einem Interview in der Zeitschrift „Bundeswehr Aktuell“ ausführlich klar, dass keineswegs mit einem reibungslosen Verlauf der Operation zu rechnen war:
Die Gefahren stellten die Flugabwehrsysteme auf
libyscher Seite dar … Es stellte sich auch die
Frage, wer den Luftraum kontrolliert … Außerdem
war offen, wie sich die libysche Marine bei unserem
Eintritt in die Hoheitsgewässer verhalten wird.
Unklar war auch, welche Kräfte die Region kontrollieren, aus der evakuiert wurde. Folglich war es allein
eine Frage des Zufalls, dass die Mission tatsächlich
friedlich verlief. Es handelt sich also um eine bewaffnete
Unternehmung im Sinne des § 2 Abs. 2 Parlamentsbeteiligungsgesetz. Selbst wenn sich die Bundesregierung
hier auf Gefahr im Verzug beruft, müsste sie dem Bundestag im Nachhinein unverzüglich ein Mandat vorlegen. Dies ist jedoch nicht geschehen und nicht beabsichtigt. Wir müssen also feststellen: Die Bundesregierung
setzte 1 000 Soldaten in einem Kontext ein, in dem mit
bewaffneten Auseinandersetzungen zu rechnen war, und
behauptet dennoch, dass daran das Parlament nicht zu
beteiligen sei. Dies ist für die Linke völlig inakzeptabel.
Noch kühner wird die Argumentation der Regierung
bei der Überwachung des libyschen Luftraums durch
deutsche AWACS-Besatzungsmitglieder. Einerseits gab
Staatssekretär Christian Schmidt bei der gestrigen Fragestunde zu, dass auf Daten, die bei dieser NATO-Operation erhoben wurden, natürlich auch sämtliche NATOMitglieder Zugriff haben. Andererseits meint Staatsekretär Werner Hoyer, er könne ausschließen, dass dadurch
ein Beitrag für die „exekutiven Handlungen“ - so kann
man Bombardierung auch nennen - geleistet worden
wäre. Nach NATO-Angaben überwachten AWACS-Systeme seit dem 7. März rund um die Uhr den libyschen
Luftraum. Schmidt weiß aber nur von Überwachungsmaßnahmen ab dem 12. März. Schon längere Zeit vor
dem 19. März war absehbar, dass es zu einer internationalen Militärmission kommen würde, mit der eine Flugverbotszone über Libyen durchgesetzt werden sollte.
Trotzdem hatte die Bundesregierung keine Bedenken,
sich an einer Unternehmung zu beteiligen, bei der niemand ausschließen kann, dass sie eben doch der Vorbereitung kriegerischer Angriffe diente. In gewisser Weise
taten sowohl Staatssekretär Hoyer als auch sein Kollege
Schmidt in der gestrigen Fragestunde so, als wären sie
am 19. März völlig überrascht davon gewesen, dass Libyen angegriffen wurde und als hätte es erst ab diesem
Monat eine Veranlassung gegeben, die deutsche AWACSBesatzung abzuziehen. Es war jedoch schon Tage vorher
absehbar, dass hier eine militärische Eskalation bevorstand.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits am 7. Mai
2008 ein Präzedenzurteil gefällt, das sich auf einen vergleichbaren Fall bezog. Damals wurde festgestellt, dass
die Bundesregierung im Jahr 2003, im Vorfeld des Irakkrieges, ein Bundestagsmandat für den Einsatz von
AWACS-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung hätte
vorlegen müssen. Auch damals ging es „nur“ um die
Überwachung des Luftraums des NATO-Partners Türkei. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist immer dann ein Bundestagsmandat nötig, wenn „greifbare
tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen“, so die
Randnote 78 der Urteilsbegründung, vorliegen. Diese
Anhaltspunkte gab es während der gesamten Zeit der
Beteiligung deutscher Soldaten an der Überwachung
des libyschen Luftraums.
Alles in allem missachtet die Bundesregierung systematisch die Rechte des Parlaments. Die Absicht dahinter haben die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag längst aufgezeigt: Sie planen Änderungen des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes. Die Folge wäre, dass
die Kontrollrechte des Parlaments weiter eingeschränkt
werden, sodass in vielen Fällen nur noch ein kleines
ausgewähltes Kontrollgremium über die Realität der jeweiligen Militärschläge informiert wird und entscheidet.
Auf diesem Wege wird die Bundeswehr Stück für Stück
zur Regierungsarmee. Die Linke sagt zu dieser Entwicklung klar und entschieden Nein. Die Linke wird dafür
kämpfen, dass über deutsche Militärpolitik nicht hinter
verschlossenen Türen entschieden wird.
Es ist schon erstaunlich, dass die Bundesregierung ein
ums andere Mal Nachhilfe in Fragen der Parlamentsbeteiligung benötigt. Die Beteiligung des Parlaments ist
keine lästige Pflichtaufgabe, wie es die Bundesregierung
zu sehen scheint, sondern sie ist in einer Demokratie der
Ausdruck und die notwendige Folge der Gewaltenteilung. Dieses grundlegende rechtsstaatliche Prinzip aber
verletzt die Bundesregierung immer wieder aufs Neue.
Die Bundesregierung möchte die Evakuierungsmission Nafurah, auch bekannt als Operation Pegasus,
nicht nachträglich mandatieren. Der Bundesminister
des Auswärtigen vertritt in einem Schreiben an mich die
Auffassung, dass es sich bei der Evakuierungsmission
um einen humanitären Einsatz gehandelt habe, der nicht
mandatierungspflichtig sei. Der Einsatz sei mit der klaren Erwartung verbunden gewesen, dass die Soldaten
ihre Waffen nicht würden einsetzen müssen. Deswegen
müsse nicht gemäß § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes der Bundestag beteiligt werden; es greife
die Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 2.
Diese Rechtsauffassung ist falsch. Es war die Bundestagsfraktion der FDP, die im Jahr 2003 eine Organklage beim Bundesverfassungsgericht einreichte, weil
sie das Parlament im Zuge des damals beschlossenen
AWACS-Einsatzes im Irak-Konflikt nicht ausreichend
einbezogen gesehen hatte. Das Bundesverfassungsgericht gab der FDP-Fraktion in einem wegweisenden Urteil vom 7. Mai 2008 Recht. Nun will der Außenminister,
der damals einer der Kläger war, nichts mehr davon
wissen. Er missachtet die Rechte des Deutschen Bundestages, die Pflichten der Bundesregierung, und er missachtet auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
ein dem Parlamentsvorbehalt unterliegender Einsatz
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
bewaffneter Streitkräfte dann vorliegt, wenn deutsche
Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind. Eine Parlamentsbeteiligung sei
entgegen der engen Auffassung, die in dem damaligen
Verfahren von der Bundesregierung vertreten wurde,
nicht erst bei tatsächlicher Anwendung von bewaffneter
Gewalt notwendig. Andererseits lässt das Gericht die
bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, auch nicht
genügen. Es verlangt eine sogenannte qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen. Der Unterschied der qualifizierten Erwartung von der bloßen Möglichkeit bewaffneter
Auseinandersetzungen soll zum einen darin liegen, dass
es greifbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass
ein Einsatz nach seinem Zweck, den konkreten politischen und militärischen Umständen sowie den Einsatzbefugnissen in die Anwendung von Waffengewalt münden kann. Zum anderen sollen eine besondere Nähe der
Anwendung von Waffengewalt erforderlich und die Einbeziehung unmittelbar zu erwarten sein. Anhaltspunkte
für die drohende Einbeziehung deutscher Soldaten sieht
das Bundesverfassungsgericht gegeben, wenn diese im
Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von
ihnen Gebrauch zu machen.
Unter diese höchstrichterlichen Vorgaben muss jetzt
der tatsächliche Sachverhalt subsumiert werden. Man
sollte meinen, dass dies insbesondere für einen Juristen
wie den Bundesminister des Auswärtigen kein Problem
darstellt. Zur Sachverhaltsdarstellung empfiehlt sich ein
Blick auf die Homepage derer, die den Einsatz durchgeführt
haben: auf die Seite www.bundeswehr.de. Generalleutnant
Rainer Glatz, der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr und damit verantwortlich für den
Evakuierungseinsatz, wird dort mit folgenden Worten zitiert:
Wir haben Glück gehabt, denn diese Evakuierungsoperation war nicht unkritisch.
und weiter:
Mit ihrem Einsatz in einer durchaus unübersichtlichen Situation haben die Soldatinnen und Soldaten
Gefahr für Leib und Leben deutscher und ausländischer Staatsbürgerinnen und -bürger abgewendet.
Am Ende des Berichts heißt es:
Der stellvertretende Kommandeur der Division
Spezielle Operationen, Brigadegeneral Volker
Bescht, war der Führer des Einsatzverbandes vor
Ort und stellte fest, dass die Sicherheitslage zu keiner Zeit unterschätzt werden durfte. Obwohl beide
Flüge angemeldet waren, galt die Lage insgesamt
als kritisch.
Wenn die Bundeswehr selber angibt, sie habe Glück
gehabt und die Lage sei kritisch gewesen, wenn voll bewaffnete Fallschirmjäger und Feldjäger im Einsatz sind
und ein Verband aus knapp 1 000 Soldatinnen und Soldaten aufgestellt werden muss, dann bestand nicht einfach nur die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt,
sondern dann gab es die qualifizierte Erwartung, dass
der Einsatz in die Anwendung von Waffengewalt würde
münden können. Es handelte sich bei der Operation
Pegasus demnach um einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Sinne des § 2 Abs. 1 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes und eben nicht um einen Ausnahmetatbestand nach § 2 Abs. 2.
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Urteil
fest, dass angesichts der Funktion und Bedeutung des
wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts seine
Reichweite nicht restriktiv bestimmt werden dürfe. Vielmehr sei der Parlamentsvorbehalt im Zweifel parlamentsfreundlich auszulegen. Insbesondere könne das
Eingreifen des Parlamentsvorbehalts nicht von den politischen und militärischen Bewertungen und Prognosen
der Bundesregierung abhängig gemacht werden. Geht
es noch deutlicher?
Angesichts dieser klaren Rechtslage ist die Weigerung der Bundesregierung unverständlich. Noch unverständlicher wird sie, wenn man berücksichtigt, dass der
Bundesminister des Auswärtigen selber die Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestages vor dem Einsatz ausdrücklich gemäß § 5 Abs. 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes informierte. § 5 trägt die Überschrift
„Nachträgliche Zustimmung“. Wie kann der Minister
diese nachträgliche Zustimmung verweigern, wenn er
doch ausdrücklich nach dieser Vorschrift handelte?
Um eins klarzustellen: Meine Fraktion unterstützt
den Evakuierungseinsatz inhaltlich. Doch wir sorgen
uns angesichts solch rechtsstaatlicher Ignoranz um die
Rechte des Deutschen Bundestages. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz formuliert in § 5 Abs. 3 Satz 1 einen Imperativ: „Der Antrag auf Zustimmung ist unverzüglich
nachzuholen“. Insofern meint der Antrag der Fraktion
Die Linke das Richtige; doch eigentlich ist es nicht die
Aufgabe des Parlaments, die Bundesregierung zur Einhaltung ihrer genuinen Pflichten aufzufordern. Nichtsdestotrotz werden wir diesem Antrag zustimmen, auch
wenn dieses Verfahren eigentlich nicht vorgesehen ist.
Denn die eigentliche Konsequenz bei einer unterbliebenen Parlamentsbeteiligung ist der Weg nach Karlsruhe.
Wir behalten uns diesen erneuten Gang zum Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vor. Die Bundesregierung
allerdings sollte sich diese Peinlichkeit ersparen und
dem Deutschen Bundestag ein Mandat für den Evakuierungseinsatz in Nafurah vorlegen.
Den zweiten Antrag der Fraktion Die Linke werden
wir ablehnen. Wir finden es richtig, dass die Bundesregierung nicht ohne ein Mandat des Bundestages operieren möchte. Umso verwunderlicher ist es aber, dass die
Bundesregierung den Bundestag nicht bittet, die Umsetzung des Waffenembargos seeseitig vor der libyschen
Küste zu unterstützen. Wenn man dem libyschen Volk
helfen will, muss man dafür sorgen, dass keine Waffen
ins Land kommen. Die deutsche Marine war vor Ort. Mit
dem Abzug der Schiffe zerschlägt die Bundesregierung
weiteres Porzellan. Und wir fragen die Bundesregierung: Wo ist ihr Antrag?
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5175. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
({0})
Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/5176.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Sie werden es nicht glauben, aber es ist so: Wir sind
damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({1})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. März 2011, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche einen schönen Abend. Vielen herzlichen
Dank!
Die Sitzung ist geschlossen.