Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie
herzlich zu unserer 98. Plenarsitzung.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Wahl eines Vizepräsidenten sowie
um die Beratung des Antrags der Bundesregierung zur
Beteiligung deutscher Streitkräfte am AWACS-Einsatz
in Afghanistan zu erweitern. Nach der Regierungsbefragung und der Fragestunde ist später am Nachmittag eine
von der Fraktion Die Linke beantragte Aktuelle Stunde
zu den Anforderungen für Sicherheitsüberprüfungen bei
deutschen Atomkraftwerken vorgesehen. Sind Sie mit
den vorgesehenen Ergänzungen und Änderungen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten
- Drucksache 17/5168 Die Kollegin Gerda Hasselfeldt hat ihr Amt als Vizepräsidentin niedergelegt. Sie weiß, dass ich das bedauere; aber das hat sie offenkundig nicht hinreichend beeindruckt. Ich nutze die Gelegenheit gerne, ihr nicht nur
im Namen der übrigen Mitglieder des Präsidiums, sondern sicher auch in Ihrer aller Namen herzlichen Dank
für ihre langjährige Amtsführung als Mitglied des Präsidiums auszusprechen.
({0})
Liebe Frau Hasselfeldt, ich bin nicht völlig sicher, ob
es im neuen Amt so schön wird, wie es im alten war.
({1})
Umso herzlicher sind meine guten Wünsche für die
übernommene neue Aufgabe.
({2})
Als Nachfolger schlägt die Fraktion der CDU/CSU
den Abgeordneten Eduard Oswald als Stellvertreter des
Präsidenten vor. Werden weitere Vorschläge gemacht? Das ist offenbar nicht der Fall.
Dann darf ich jetzt einige Hinweise zum Ablauf der
Wahl geben. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit
der Mitglieder des Bundestages erhält. Für die Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis, den Sie, soweit
noch nicht geschehen, den Stimmkartenfächern in der
Lobby entnehmen können. Die blaue Stimmkarte sowie
der Wahlumschlag werden von den Schriftführerinnen
und Schriftführern an den Ausgabetischen vor den Wahlkabinen ausgegeben. Sie dürfen Ihre Stimmkarte nur in
der Wahlkabine ankreuzen und müssen die Stimmkarte
ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Umschlag legen. Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei
„ja“ oder „nein“ oder „enthalte mich“. Stimmkarten, die
kein Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder
Zusätze enthalten, sind ungültig.
Bevor Sie die Stimmkarte in die Wahlurne werfen,
müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihren
blauen Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahlausweises dient zugleich als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl. Kontrollieren Sie daher bitte, ob der
Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die drei Wahlurnen
sind neben den Sitzreihen der Bundesregierung und des
Bundesrates sowie vor dem Rednerpult aufgestellt; das
haben wir oft genug geübt. Um einen reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewährleisten, bitte ich Sie, von Ihren
Plätzen aus über die seitlichen Zugänge und möglichst
nicht durch den Mittelgang zu den Ausgabetischen zu
gehen.
Ich darf nun darum bitten, dass die Schriftführerinnen
und Schriftführer die vorgesehenen Plätze einnehmen. Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer an den
vorgesehenen Plätzen? - Das ist offensichtlich der Fall.
Ich eröffne den Wahlgang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe den
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses werden wir die
Sitzung für einige Minuten unterbrechen.
({3})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Neh-
men Sie bitte Platz.
Ich komme zurück zum Zusatzpunkt 1 und gebe Ih-
nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der Wahl eines Vizepräsidenten
bekannt: abgegebene Stimmen 570. Alle abgegebenen
Stimmen waren gültig. Mit Ja haben gestimmt 504 Mit-
glieder des Deutschen Bundestages.1)
({0})
Mit Nein haben 39 Mitglieder gestimmt. 27 Kolleginnen
und Kollegen haben sich der Stimme enthalten. Damit
ist der Kollege Eduard Oswald mit der erforderlichen
Mehrheit zum Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages gewählt.
Ich darf Sie fragen, Herr Kollege Oswald: Nehmen
Sie die Wahl an?
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
nehme die Wahl an und bedanke mich sehr herzlich für
das Vertrauen.
({0})
Lieber Kollege Oswald, bevor Sie jetzt eine beachtlich große Zahl von einzelnen Glückwünschen entgegennehmen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie die durch
mich stellvertretend für alle Mitglieder des Hauses zum
Ausdruck gebrachten guten Wünsche für das neue Amt
entgegennähmen. Wir freuen uns auf gute Zusammenarbeit. Ich wünsche Ihnen für dieses ebenso schöne wie
anspruchsvolle Amt Erfolg und Gottes Segen. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Meine Damen und Herren, im Interesse einer Beherrschung der Abwicklung der weiteren Tagesordnungspunkte bin ich allen Kolleginnen und Kollegen dankbar,
die sich entschlossen haben, ihre persönlichen Glückwünsche irgendwann im weiteren Verlauf des Tages dem
Kollegen Oswald zu überbringen.
({1})
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Man kann das notfalls auch schriftlich erledigen. Deswegen möchte ich hiermit diesen Teil der Gratulationscour
gerne für beendet erklären und unseren nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 2:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz
von NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({2}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({3}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1943 ({4}) vom 13. Oktober 2010 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/5190 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Wir
können ganz offenkundig so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Am 17. März hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1973
beschlossen. Sie ist nach der Entscheidung in New York
geltendes, verbindliches Völkerrecht. Wir unterstützen
die Ziele dieser Resolution, aber bei den Mitteln ist die
Bundesregierung zu einer anderen Bewertung gekommen als die Mehrheit des Sicherheitsrats. In einer
schwierigen Abwägung der Risiken, auch der Eskalationsrisiken, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass
wir uns nicht mit der Bundeswehr an diesem Einsatz beteiligen werden. Die Bundeswehr wird nicht nach Libyen geschickt. Das heißt nicht, dass wir neutral wären.
Wir teilen das Ziel des Schutzes der Zivilbevölkerung
und natürlich auch das Ziel, dass dem Diktator Einhalt
geboten werden muss.
({0})
Wir respektieren die Entscheidung der internationalen
Staatengemeinschaft, und ich wiederhole: Sie ist geltendes Recht. Wir wollen dementsprechend auch ihren Erfolg. Deswegen hat die Bundesregierung beschlossen,
unsere Verbündeten zu entlasten, ohne dass wir uns
selbst mit der Bundeswehr in Libyen militärisch engagieren.
({1})
Die internationale Gemeinschaft ist in Afghanistan
seit dem Strategiewechsel des vergangenen Jahres auf
dem richtigen Weg. Wir haben auf den AfghanistanKonferenzen in London und in Kabul und dann auf der
Tagung in Lissabon einen Strategiewechsel beschlossen.
Wir setzen auf eine politische Lösung.
Bei all den schrecklichen Rückschlägen, die wir sehen, dürfen aber auch Fortschritte nicht übersehen werden. Gestern hat Staatspräsident Hamid Karzai drei Provinzen und vier Städte genannt, die für den Beginn des
Übergabeprozesses reif sind. Darunter ist Masar-iScharif im deutschen Verantwortungsbereich im Norden.
Das zeigt den Erfolg des Strategiewechsels in Afghanistan, für den die Bundesregierung von Anfang an geworben hat. Die Abzugsperspektive ist sichtbar geworden.
Wir sind und bleiben der Überzeugung: Der Einsatz in
Afghanistan ist richtig, aber es ist auch richtig, dass der
Prozess der Übergabe der Verantwortung gestern begonnen hat.
({2})
Dass die Afghanen mehr und mehr in der Lage sind,
für die eigene Sicherheit zu sorgen, ist auch ein Erfolg
der neuen Schwerpunkte, die auf Aussöhnung, Eingliederung und Wiederaufbau gesetzt sind. Es ist ein Erfolg
der Ausbilder unserer Polizei aus Bund und Ländern, es
ist ein Erfolg der Bundeswehrausbilder. Man kann sagen: Die Ausbildung durch die internationale Gemeinschaft und uns Deutsche wirkt. Der zivile Aufbau
kommt voran. Die Menschen sehen mehr und mehr eine
echte Zukunftsperspektive für sich und ihre Familien.
Ich unterstreiche erneut: Die Rückschläge werden
nicht übersehen. Die Opfer, die wir oft genug zu beklagen haben, werden nicht vergessen werden. Darüber besteht überhaupt kein Zweifel. Deswegen werde ich auch
diese Debatte nutzen, an dieser Stelle all den Frauen und
Männern, die in Afghanistan für unsere Freiheit und unsere Sicherheit eintreten, ob in Uniform oder nicht, ein
Dankeschön im Namen der Bundesregierung und, dessen bin ich sicher, auch im Namen des Deutschen Bundestages zu sagen.
({3})
Meine Damen und Herren, deshalb bleibt es auch bei
unserem Ziel, dass wir bis zum Jahr 2014 die endgültige
Übergabe der Verantwortung schaffen wollen. Aber wir
halten hier fest: Wir müssen auch danach noch unsere
Verantwortung für Frieden und Entwicklung in Afghanistan kennen und uns weiter engagieren.
Zehn Jahre nachdem der Afghanistan-Einsatz begonnen wurde, ist durch die gestrige Übergabe der ersten
Verantwortung ein wichtiger Fortschritt gemacht worden. Ich sage aber ausdrücklich: Wir wollen eine Übergabe der Verantwortung in Verantwortung. Ein kopfloser
Abzug ist nicht das Richtige. Deswegen werden wir dies
auch nicht dem Deutschen Bundestag vorschlagen.
Der AWACS-Einsatz ist aus unserer Sicht militärisch
notwendig. Er ist übrigens auch schon auf Antrag der
vorherigen Bundesregierung seinerzeit vom Deutschen
Bundestag beschlossen worden. Er lief dann aus, weil
objektive Rechtskriterien - Überflugrechte und Weiteres
mehr - nicht erfüllt waren. Deshalb hat die Bundesregierung entschieden, dass gewissermaßen ein leeres Mandat
nicht erneut beantragt wird, sondern erst dann ein Mandat beantragt wird, wenn die Lage tatsächlich den Erfordernissen entspricht.
Der AWACS-Einsatz ist militärisch notwendig, weil
er die Operation der NATO unterstützt und die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten sowie der afghanischen Bevölkerung erhöht. AWACS liefern zuverlässige
Lagebilder und unterstützen auch die medizinische Luftrettung. Der AWACS-Einsatz ist zivil notwendig, weil er
die Sicherheit der zivilen Luftfahrt schützt. Afghanistan
liegt auf der Flugroute von Südostasien nach Europa.
AWACS verbessern die Flugsicherheit auch für Linienund Frachtflüge. Der AWACS-Einsatz ist außerdem
Ausdruck unserer Bündnissolidarität und unserer Solidarität mit dem afghanischen Volk. Dass wir selbstverständlich unverändert daran arbeiten, dass die Afghanen
mittelfristig selbst den eigenen Luftraum auch technisch
kontrollieren können, das unterstreiche ich hier noch
einmal nachdrücklich.
Meine Damen und Herren, als die Verlängerung des
Bundestagsmandats Anfang des Jahres anstand, hatte die
Bundesregierung auf die Beantragung des Einsatzes von
AWACS verzichtet, weil wir den Schwerpunkt unserer
Kräfte in Abstimmung mit General David Petraeus auf
die Ausbildung gelegt haben. Zugleich versicherten die
militärischen Experten der NATO, der AWACS-Einsatz
sei auch ohne deutsche Soldaten möglich. Im Dezember
hat die Bundesregierung gesagt: Solange die NATO
ohne uns die AWACS betreiben kann, brauchen wir kein
Mandat. - Jetzt sage ich: Die Lage in Libyen hat auch
die Lage insgesamt verändert.
Ich weise darauf hin, dass wir die Obergrenze für die
Zahl der Soldatinnen und Soldaten unverändert lassen.
An der Obergrenze, die der Deutsche Bundestag beschlossen hat, wird nichts verändert. Es bleibt bei den
bereits vom Deutschen Bundestag beschlossenen
5 350 Soldatinnen und Soldaten als Obergrenze. Die
deutschen AWACS-Besatzungen werden auf die Obergrenze angerechnet. Die Bundesregierung wird auf die
flexible Reserve nur im Rahmen dieser Obergrenze zurückgreifen.
Die Bundesregierung bleibt zuversichtlich, im Zuge
der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz
der Bundeswehr ab 2011 reduzieren zu können. Dabei
sind wir auf einem guten Weg. Wir bitten Sie, diesen
Weg der Übergabe der Verantwortung in diesem Haus
gemeinsam mit der Bundesregierung zu gehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gernot Erler für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies ist in erster Linie eine Afghanistan-Debatte. Leider
hatten wir in den vergangenen Jahren viele solcher Debatten, dabei aber selten Gelegenheit, über gute Nachrichten zu sprechen. Heute ist das jedoch der Fall.
Die SPD-Fraktion begrüßt ausdrücklich die gestrige
Erklärung von Präsident Karzai mit der Benennung von
sieben Provinzen und Städten, in denen ab Juli dieses
Jahres die Transition starten soll, also die Verantwortungsübergabe an die afghanische Polizei und die afghanischen Streitkräfte. Genannt werden die Provinz Kabul
mit Ausnahme des Bezirks Surobi, die Provinzen
Pandschschir und Bamiyan sowie die Provinzhauptstädte Masar-i-Scharif, Mehtar Lam, Lashkar Gah und
ein Großteil von Herat.
In Masar-i-Scharif befinden sich das zentrale Feldlager der deutschen Einsatzkräfte und das Nordkommando. Damit wird der Start der Transition auch im
deutschen Einsatzgebiet stattfinden. Das begrüßen wir
ebenfalls ausdrücklich.
Der gestern verkündeten Entscheidung ist eine sorgfältige Prüfung vorausgegangen. Die Ermutigung liegt
bereits darin, dass ein verabredetes Verfahren tatsächlich
im Zeitplan umgesetzt und nicht immer wieder aufgeschoben wird, wie wir das in der Vergangenheit schon
häufiger erlebt haben. Es passt gut dazu, dass wir in letzter Zeit öfter auch Informationen über Fortschritte bei
der Ausbildung sowohl von Polizei wie auch von Streitkräften bekommen haben. Beides, die Verantwortungsübergabe und der Fortschritt bei der Ausbildung, gehört
engstens zusammen. Erst der Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte ermöglicht den Inteqal-Prozess,
wie die Transition auf Paschtunisch genannt wird.
Natürlich wissen wir, dass der Härtetest in den drei
Provinzen und den vier Städten noch bevorsteht. Wir
wissen auch, dass es noch ein langer Weg sein wird, bis
alle Städte und alle Provinzen in die afghanische Sicherheitsverantwortung übergehen werden. Aber nach vielen
Rückschlägen signalisiert die Ankündigung von gestern
doch, dass es jetzt mit der Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie konkret wird und damit auch die Chancen wachsen, dass bis Ende des Jahres erste Kontingente
der Bundeswehr zurückgezogen werden können, ohne
dass dies zu einer Gefährdung im Lande führt. Das ist
gut. Ich freue mich, dass Sie das auch so sehen, Herr Außenminister. Für die SPD ist das ein wirklich wichtiger
Punkt. So steht es im Mandat vom Januar dieses Jahres.
Das erwartet auch die Öffentlichkeit.
Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir
hier über die Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von NATO-AWACS im Rahmen von ISAF zu beraten. Dieses Thema wurde nachträglich in die Tagesordnung dieser Woche hineingequetscht. Wir sind
gezwungen, über diesen Einsatz in Sondersitzungen der
Ausschüsse quasi im Schweinsgalopp bis zum Freitag
dieser Woche abschließend zu beraten. Ich finde, das ist
eine Zumutung,
({0})
zumal dies überhaupt nichts mit der Entwicklung in Afghanistan zu tun hat.
({1})
Es geht stattdessen um ein Problem in einer ganz anderen Weltgegend, das sich die Bundesregierung selber geschaffen hat - durch ihre Enthaltung bei dem UN-Beschluss zur Einrichtung einer Flugverbotszone und zum
Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen
({2})
sowie durch die politische Isolierung innerhalb der Europäischen Union, die sie damit verursacht hat.
({3})
Jetzt sucht sie händeringend nach Maßnahmen, die diese
politische Isolierung abschwächen oder wenigstens irgendwie hinter den Vorhang schieben.
Ein einseitiger und schnöder Abzug der deutschen
AWACS-Besatzungen im Rahmen der Operation Active
Endeavour über dem Mittelmeer hätte allerdings tatsächlich das fatale Bild des deutschen Sonderweges noch
verstärkt. Jetzt wird großzügig Tausch angeboten: Wir
ziehen aus dem Mittelmeer ab, gehen sofort nach Afghanistan und ermöglichen damit US-Kräften, ihrerseits nun
wieder nach Libyen zu gehen. - Aber jeder, der sich mit
der Materie auskennt, weiß, dass das nicht nur ein Nullsummenspiel ist, sondern dass das obendrein eine politische Mogelpackung ist.
({4})
Herr Außenminister, Sie haben eben selber erwähnt,
dass wir schon im Juli 2009 über einen AWACS-Einsatz
im Rahmen von ISAF eine Entscheidung getroffen haben, nämlich zugestimmt haben. Wegen des Streits mit
Paris und wegen der Überflugrechte ist es aber zu keiner
Umsetzung dieses Beschlusses gekommen. Nach einem
Jahr verfiel sozusagen das Haltbarkeitsdatum dieses
Mandats.
Als die Hindernisse endlich ausgeräumt waren und
die NATO am 15. Januar dieses Jahres mit dem
AWACS-Einsatz beginnen wollte, haben Sie sich nicht
getraut - so muss man das ausdrücken -, das noch auf
das ohnehin zu verlängernde Afghanistan-Mandat draufzusatteln, und haben den Verbündeten nahegelegt, doch
nach drei Monaten noch einmal nachzufragen. Die sind
notgedrungen darauf eingegangen und haben den Job für
90 Tage erst einmal selber gemacht. Am 15. April endet
diese Frist. Dann hätten wir hier allerdings ohne jede
Hast und ohne Sondersitzungen sowieso über die deutDr. h. c. Gernot Erler
sche Beteiligung bei den AWACS-Besatzungen zu diskutieren und zu entscheiden gehabt.
({5})
Die Mogelpackung besteht darin, dass Sie den frustrierten Alliierten jetzt, im März, eine in Geschenkpapier
verpackte Leistung als Ausgleich anbieten, für die Sie
für April dieses Jahres sowieso schon eine Zusage in
Aussicht gestellt haben. Das ist Ihre Art, Bündnissolidarität zu organisieren.
({6})
Ich weiß nicht, wie Sie zu der Hoffnung kommen, dass
niemand diesen billigen Trick durchschaut. Es wäre jedenfalls ein weiterer Fehler, anzunehmen, dass der höfliche Dank der frustrierten Alliierten so zu deuten ist, dass
sie nicht kapiert haben, wie das Spiel hier läuft.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag einen anderen Schaden. Sie belasten die deutsche AfghanistanPolitik, die doch schwierig genug ist und bei der es die
vernünftige Tradition gibt, nach möglichst viel Gemeinsamkeit und Konsens zu suchen, fahrlässig mit dem
schweren Gepäck aus Ihrer scheiternden UN- und
Libyen-Politik.
({7})
Damit legen Sie einer notwendigen Sachdiskussion regelrechte Brocken in den Weg und stellen die Bereitschaft, gemeinsam zu einem möglichst breiten Konsens
zu kommen - an dieser Bereitschaft hat es bei uns, den
Sozialdemokraten, nie gefehlt -, auf eine harte Probe.
Fängt man trotz dieser widrigen Umstände mit der
Sachprüfung an, stellt man fest, dass der Mandatsantrag
der Bundesregierung über weite Strecken mit dem nicht
umgesetzten Mandatsbeschluss vom 2. Juli 2009 wortgleich ist.
Wir werden diesen Antrag sorgfältig prüfen und unsere Fragen dazu ganz besonders auch in den Fachausschüssen stellen. Die Beantwortung dieser Fragen wird
für die Entscheidung der SPD wichtig sein.
Eine unserer Fragen bezieht sich auf die Definition
des Auftrags der AWACS-Systeme. Sowohl in dem im
Juli 2009 beschlossenen Text wie in dem Mandatsantrag
von heute werden fünf Aufträge genannt, von denen vier
völlig identisch sind. Bei dem fünften hat es aber eine
Änderung gegeben. 2009 hieß es, zu den Koordinierungsaufgaben des AWACS-Systems gehöre - ich
zitiere - „Unterstützung von ISAF-Luftoperationen“. In
dem neuen Mandat, das wir jetzt behandeln müssen,
fehlt diese Aufgabe. Dafür taucht eine andere auf. Ich zitiere noch einmal:
Unterstützung bei der Durchführung von Operationen ISAF-geführter Bodenkräfte; …
Das ist erklärungsbedürftig, zumal bekannt ist, dass, wie
auch im Begründungsteil des Mandates noch einmal ausführlich erwähnt, die NATO-AWACS „weder über die
Fähigkeit zur Bodenaufklärung“ verfügen noch „eine
Feuerleitfähigkeit für Luft-Bodeneinsätze“ haben. Wenn
hier kein Irrtum vorliegt, muss erklärt werden, auf welche Weise AWACS eigentlich Bodenoperationen unterstützen sollen. Vielleicht kann der Verteidigungsminister
ja gleich dazu etwas sagen.
Eine andere Frage, die uns schon 2009 beschäftigt
hat, muss auch diskutiert und beantwortet werden: Wie
ist es eigentlich mit dem Aufbau einer zivilen bodengestützten Luftkontrolle in Afghanistan? AWACS ist ja der
fliegende Ersatz für ein solches normales auf dem Boden
stationiertes Kontrollsystem. Insofern hängt auch die
Dauer des AWACS-Einsatzes davon ab, wann denn endlich auf afghanischem Boden ein solches System errichtet ist. Schon in der Debatte am 17. Juni 2009 hat der
Kollege Dr. Stinner - er ist unter uns - voller Ungeduld
die damalige Bundesregierung gefragt, wie lange es
denn noch dauern würde, bis diese notwendige Kontrollfunktion in Afghanistan aufgebaut sein werde. Seitdem
sind fast zwei Jahre vergangen.
Die Bundesregierung widmet im Begründungstext
des Antrags einen ganzen Absatz ihren bisherigen und
künftigen Bemühungen um den Aufbau eines zivilen
Luftverkehrskontrollsystems. Wir erfahren von dem Projekt eines „satellitengestützten zivilen Überwachungssystems für den afghanischen Luftraum“, das von 2009
bis 2011 laufen sollte, von einem Expertenteam für die
Umsetzung des Regelwerks der International Civil Aviation Organization, ICAO, sogar von der „Errichtung einer Akademie für Zivilluftfahrt“ noch in diesem Jahr
und vom Ausbau der Flughäfen von Masar-i-Scharif und
Uruzgan. Irgendeine Angabe darüber, wann denn einmal
die Technik stehen wird, um den AWACS-Einsatz überflüssig zu machen, sucht man aber vergebens. Wir fordern Sie auf, das nachzuliefern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Verärgerung
über das ganze Verfahren ist erheblich. Dieses Verfahren
erschwert es, sich auf das zu konzentrieren, was eigentlich im Zentrum unserer Arbeit stehen sollte: die Beratung darüber, wie ein Erfolg der neuen Strategie in Afghanistan von uns am besten abgesichert werden kann.
({8})
Sie machen es denjenigen schwer, denen es vor allem
um Afghanistan geht. Das steht allein in Ihrer Verantwortung.
({9})
Das Wort erhält nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist meine erste Rede als neuer Bundesminister der Verteidigung. Bevor ich zur Sache rede, möchte ich Ihnen
gerne sagen, wie ich es auch schon im Ausschuss getan
habe, dass ich dem ganzen Hohen Haus insbesondere in
all den sensiblen Fragen der Sicherheitspolitik auch meinerseits eine offene, konstruktive und vertrauensvolle
Zusammenarbeit anbiete. Ich hoffe, dass sie auch von allen erwidert wird.
({0})
In Afghanistan sind bereits seit weit vor 2011 nationale AWACS-Flugzeuge unserer Partner, vor allem der
Vereinigten Staaten von Amerika, im Einsatz. Um diese
wichtige operative Fähigkeit 24 Stunden am Tag im Einsatz nutzen zu können, unterstützen seit dem 15. Januar
dieses Jahres darüber hinaus auch NATO-AWACS des
multinationalen Verbandes aus Geilenkirchen diesen
Einsatz - derzeit ohne deutsche Beteiligung.
Dieser 24-Stunden-Einsatz hat sich bewährt. Wir wollen ihn fortsetzen. Ohne deutsche Beteiligung wäre dies
jedoch nur beschränkt durchhaltefähig. Wie hier richtig
vorgetragen worden ist, würde das ab irgendeinem Zeitpunkt im April, Mai oder Juni gelten. Vor dem Hintergrund der Libyen-Vorgänge gilt das aber jetzt erst recht.
Sie finden in dem Mandatsantrag dazu kein Wort,
weil die Entscheidung, um die wir den Deutschen Bundestag bitten, auch aus sich heraus sinnvoll ist. Auch
ohne die Entwicklung in Libyen wäre es sinnvoll und
nötig, den AWACS-Einsatz in Afghanistan zu beschließen. Ich höre aus den Wortmeldungen der Sozialdemokraten, dass das jedenfalls ein wichtiger Teil der Sozialdemokratie ebenfalls so sieht.
Aufgrund der Entwicklung in Libyen ist es nun aber
erst recht richtig, dies so zu beschließen; denn wenn
AWACS am Mittelmeer - und niemand weiß, wie lange
die Auseinandersetzung geht - noch lange bzw. dauerhaft gebraucht wird, brauchen wir eine tatsächliche fachliche Entlastung der NATO-AWACS. Ohne die Deutschen kann man auf Dauer nicht in Libyen und in
Afghanistan gleichzeitig sein. Wenn sich der Einsatz am
Mittelmeer länger hinziehen sollte, brauchen wir eine
wirkliche Entlastung für NATO-AWACS. Deswegen ist
es richtig, die Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von NATO-AWACS in Afghanistan zu beschließen.
Selbst wenn es nicht nötig wäre, so ist es doch - das
will ich nicht in Abrede stellen - ein politisches Zeichen
der Bündnissolidarität, dass wir dies gerade jetzt anbieten.
({1})
Herr Erler, ich habe Ihr Angebot zur konstruktiven
Zusammenarbeit durchaus zur Kenntnis genommen. In
einem Punkt möchte ich Ihnen aber widersprechen. Sie
haben von einem schnöden einseitigen Abzug der
AWACS aus dem Mittelmeerraum gesprochen. Der Abzug geschieht deswegen, weil dies die Verfassungsrechtslage so vorsieht. Speziell zu AWACS gibt es ein
Verfassungsgerichtsurteil. Danach wird der Einsatz von
AWACS ab dem Moment, in dem Aufklärungsmaterial
von den AWACS für einen operativen Einsatz mit militärischem Hintergrund eingesetzt wird, mandatspflichtig.
Deswegen ist das kein schnöder einseitiger Abzug,
sondern es ist die Konsequenz aus unserer verfassungsrechtlichen Lage. Das mag man bedauern, aber so ist es
nun einmal.
({2})
Der Außenminister und ich mussten am Freitag und
Samstag - niemand wusste, wie der Beschluss des
NATO-Rats ausfallen würde - darüber entscheiden, ob
wir erstmalig im Laufe dieser Debatten von dem Instrument der Eilentscheidung Gebrauch machen. Diese Eilentscheidung hätte beinhaltet, dass die AWACS im Mittelmeerraum bleiben können, falls am Freitag oder
Samstag ein Operationsplan und eine Executive Directive, also die Ausführung, beschlossen worden wären.
Ich hätte sehen wollen, was Sie gesagt hätten, wenn wir
Sie erst im Anschluss an eine solche Entscheidung um
ein Mandat gebeten hätten. Das Theater im Bundestag
hätte ich erleben mögen. Dann hätten Sie zu Recht Kritik
geübt.
({3})
Nun ein Wort zu den Schiffen. Es ist richtig, dass wir
die entsprechenden Schiffe im Mittelmeer seit heute
Morgen nationalem Kommando unterstellt haben. Leicht
ist mir das nicht gefallen. Aber auch das ist eine Konsequenz aus der Rechtslage. Wenn die NATO einen Operationsplan beschließt, was wir nicht verhindert haben, und
es anschließend sofort durch die Executive Directive zur
Ausführung kommt, die das Waffenembargo vorsieht,
wenn also exekutive Maßnahmen mit Zwangscharakter
greifen, dann unterliegt der Einsatz dieser Schiffe ab dieser Sekunde der Mandatspflicht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Deswegen mussten wir in dieser Sekunde
die Schiffe nationalem Kommando unterstellen.
Man kann vor dem Hintergrund der Entwicklung darüber diskutieren, ob dafür ein Mandat geschaffen werden muss. Aber es ist nicht kritikwürdig, dass wir sie in
dieser Nacht zurückgezogen haben. Das hat unsere verfassungsrechtliche Lage verlangt.
({4})
Richtig ist, dass die bisherige Umsetzung des im Juli
2009 gefassten Beschlusses des Bundestages zum Einsatz der NATO-AWACS in Afghanistan nicht ruhmreich
ist. Es ist nicht schön, wenn trotz der Zustimmung des
Deutschen Bundestages die Umsetzung nicht erfolgt,
weil man keine Überflugrechte hat; das ist wahr. Das
Problem ist inzwischen beseitigt. Es gibt in Konya in der
Türkei eine Stationierungsbasis, und es besteht die Möglichkeit einer Zwischenlandung in Masar. Frau Abgeordnete Hoff, ich schließe nicht aus, dass die Maschinen irgendwann dauerhaft in Masar stationiert werden können;
denn acht Stunden Flug, Zwischenlandung und all das
sind doch recht mühsam. Das ließe das Mandat, um dessen Zustimmung wir bitten, auch zu. Aber zunächst ist es
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière
wichtig und geboten, dem Mandat zuzustimmen und es
umzusetzen.
Der Auftrag lautet in der Tat: Erstellung eines Luftlagebildes und Unterstützung bei der Durchführung von
Operationen der ISAF-Kräfte, auch der Bodenkräfte. Sie
haben danach gefragt, was das konkret bedeutet. Wir haben darüber im Verteidigungsausschuss bei der Anberatung eben schon diskutiert. Eben wurde das Stichwort
„close air support“ in dem Zusammenhang genannt.
Auch beim Herausholen von verletzten Soldaten mit Sanitätsflugzeugen und Ähnlichem hilft die Koordinierungstätigkeit mithilfe von AWACS. Das heißt, dieser
Auftrag dient auch dem Schutz deutscher Soldaten und
ist deswegen nicht kritikwürdig, sondern dringend zustimmungsbedürftig.
Zum Auftrag gehören darüber hinaus die Entflechtung
von Luftverkehrsbewegungen einschließlich der Koordinierung des militärischen Luftverkehrs unter Berücksichtigung ziviler Luftraumnutzer, die Koordinierung der Luftbetankung und die Relaisfunktion für Kommunikationsund Datenaustausch. Im Übrigen entspricht das Mandat
also unverändert dem vom Juli 2009, dem Sie damals zugestimmt hatten. Deswegen können Sie ihm hoffentlich,
unabhängig von den Begleitumständen, auch jetzt zustimmen.
Wir haben, auch in der Bundesregierung, über die
Obergrenze diskutiert. Dafür ist ein gesondertes Mandat
notwendig. Es endet zeitgleich mit dem normalen ISAFMandat, also im Januar 2012. Deswegen hätte man die
dafür erforderlichen Zahlen ebenfalls gesondert beschließen können. Aber im Blick auf die gemeinsam verabschiedete NATO-Strategie, auf die Obergrenze und
auf die gemeinsame Entwicklung einer Abzugsperspektive haben wir uns entschlossen, dass das Mandat sich
im Rahmen der für den Einsatz beschlossenen Obergrenze einschließlich der Reserve bewegen muss. Das ist
auch eine Geste an die, die sich schwertun, dem Mandat
zuzustimmen. Es ist wahr, dass die Reserve zum Teil anders begründet worden ist. Angesichts der bestehenden
Lage ist uns aber bei der Abwägung das Einhalten der
Obergrenze, auch als Signal an die deutsche Öffentlichkeit, wichtiger, als an der bisherigen Begründung der
Reserve festzuhalten.
Wir sagen aber - das finden Sie im letzten Absatz der
Begründung -, dass wir auf die Reserve nur im Fall der
tatsächlichen Inanspruchnahme der AWACS-gebundenen Soldaten zurückgreifen wollen und darüber hinaus
nur, wie in dem Verfahren besprochen, nach vorheriger
Konsultation.
Das ist der Grund, warum wir sagen: „Jawohl, es ist
ein gesondertes Mandat; aber wir bleiben bei der Obergrenze.“ Dies muss, wird und soll in die insgesamt verabredete Afghanistan-Strategie einbezogen werden.
Der Grund für die Dringlichkeit ist von mir vorgetragen worden; ich halte ihn für richtig. Wer dem Einsatz
zustimmen möchte, weil er ihn im Hinblick auf Afghanistan für richtig hält, soll das tun. Wer ihm nur wegen
der Entlastung im Zusammenhang mit Libyen zustimmen möchte, soll das tun. Wer es aus beiden Gründen
tut, liegt doppelt richtig. Ich bitte herzlich um Zustimmung.
({5})
Wolfgang Gehrcke ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um
gleich beim Verteidigungsminister anzuknüpfen: Wer
aus beiden Gründen - wegen Libyen und wegen Afghanistan - überhaupt nicht zustimmen will, kann das auch
tun, indem er dieses Mandat einfach ablehnt.
({0})
Dann ist er immer auf der politisch klügeren und besseren Seite.
Ich weiß nicht, warum man sich nicht einmal ein bisschen zurücknehmen und darüber nachdenken kann. Ein
Spruch lautet: Ich denke an das Ende und an den Anfang
auch. - Das Ende ist völlig klar: Die Bundeswehr wird
irgendwann - ich hoffe, möglichst rasch - aus Afghanistan abgezogen. Der Anfang ist auch klar; auch er lag hier
im Hause. Kollege Erler, es wird auch noch darüber zu
sprechen sein, unter welcher Regierung, verbunden mit
welchen Aufgaben hier der Anfang geknüpft worden ist.
Mir ist nicht klar, wie viele Menschen zwischen dem
Anfang und dem Ende ihr Leben oder ihre Gesundheit
verlieren werden. Das ist für mich das wichtigste Argument: Ich will diese Mandate nicht, weil Menschenrechte unter dem Strich niemals mit Bomben und Raketen durchzusetzen sind, weder in Libyen noch in
Afghanistan. Das ist die Motivation, die meine Fraktion
hat.
({1})
Man weiß, dass AWACS kein ziviles System ist; es ist
ein militärisches System. Man muss der Bevölkerung sagen: Wir entscheiden hier über den Einsatz eines militärischen Systems. In Ihrem Antrag steht ausdrücklich,
dass der AWACS-Einsatz auch zur „Unterstützung bei
der Durchführung von Operationen ISAF-geführter Bodenkräfte“ genutzt wird. Das ist neu; das stand bisher
nicht im Mandat. Die SPD muss sich entscheiden, ob sie
dem zustimmen will oder nicht. Natürlich haben Sie
auch bei der Obergrenze geschummelt, die bisher einen
Puffer enthielt und nichtständige Einsatzgrenze genannt
wurde; jetzt wird die Obergrenze ständig ausgereizt. Das
heißt also: Mit dem AWACS-Einsatz wird der Krieg verschärft; das ist eine nüchterne Feststellung. Darüber
muss man reden.
Ich denke, dass man auch über die Hintergründe reden muss. Die Linke lehnt den AWACS-Einsatz wie
auch andere Einsätze generell ab. Wir werden nicht den
kleinsten Finger für Kriegseinsätze hinhalten.
({2})
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der VerteidigungBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Das ist nicht die politische Linie, sind nicht die Vorschläge, die wir vertreten.
Herr Außenminister, es ist doch eine eigenartige Logik, den Krieg in Afghanistan zu verschärfen, weil man
sich in Libyen - das ist der Sinn der ganzen Sache nicht an einem Krieg beteiligen will. Sie helfen zwar
nicht direkt mit Soldaten; aber Sie helfen mit anderen
Dingen erheblich bei der Kriegsführung. Nun ist die Entscheidung, in Libyen keine Soldaten einzusetzen und
auch die deutsche Marine zurückzuziehen, aus meiner
Sicht durchaus vernünftig. Aber es ist schon - Entschuldigung, ich finde dafür keinen anderen Ausdruck - eine
ziemlich perverse Logik, dies kompensieren zu wollen,
indem man AWACS-Maschinen nach Afghanistan
schickt, also den Krieg in Afghanistan zu verschärfen,
weil man den anderen Krieg in dieser Art und Weise
nicht will. Was ist das überhaupt für eine Denkweise!
({3})
Der Volksmund argumentiert: Der Hehler ist genauso
schlimm wie der Stehler. Im Falle des AWACS-Einsatzes ist man der Hehler, weil man die Ziele ausmacht; andere sollen diese Ziele dann militärisch bekämpfen. Ich
finde das schlimm.
Jetzt noch einmal zu den Kollegen von der SPD. Welcher Logik folgt denn der Außenminister? Herr
Steinmeier, Sie werden sich genau erinnern, dass Sie als
Fraktionsvorsitzender die Entscheidung von Gerhard
Schröder, keine Soldaten in den Irak zu schicken - diese
Entscheidung war richtig -, hier, vor diesem Haus, damit
begründet haben, dass wir uns im Gegenzug stärker in
Afghanistan engagieren. In mehreren Debatten zu diesem Mandat haben Sie das ausgeführt: Weil wir im Irak
nicht an der Seite unserer Bündnispartner militärisch
agiert haben, sind wir nach Afghanistan gegangen. Entschuldigen Sie, aber genau das Gleiche macht die Bundesregierung heute. Die Merkel macht den Schröder. Dabei ist schon Schröder mit dieser Politik gescheitert.
({4})
Wenn man jetzt sagt, dass wir uns nicht in Libyen engagieren, sondern in Afghanistan, dann folgt man der
gleichen Logik wie damals beim Irak; das wird dieses
Mal nicht zu einem besseren Ergebnis führen.
({5})
Ich bitte Sie ganz einfach: Nutzen Sie Ihre Möglichkeit,
({6})
zweimal mit Nein zu stimmen und weder Soldaten für
den Krieg in Libyen zur Verfügung zu stellen noch den
AWACS-Einsatz in Afghanistan zu mandatieren. Wir
brauchen endlich eine Friedenspolitik. Ich finde, darüber
kann man in diesem Hause streiten. Solche Auseinandersetzungen sind aber höchst selten geworden.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Nouripour für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Gehrcke, ich glaube, Sie haben noch immer nicht verstanden, dass der Irakkrieg eine historische Zäsur in negativer Hinsicht dargestellt hat - ich meine das, was im
Sicherheitsrat damals vorgefallen ist, dass es kein Mandat für die Einsätze gab -, und das ist sehr bedauerlich.
Diese historischen Vergleiche hinken immer.
({0})
Ich komme jetzt zum AWACS-Einsatz. Viele Kollegen in diesem Hohen Haus verstehen in der Sache, warum es eine Notwendigkeit zum Einsatz der Fähigkeiten
von AWACS-Aufklärungsflugzeugen in Afghanistan
gibt. In den letzten Jahren hat sich die Bundesregierung
im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen stets bemüht,
eine breite Mehrheit in diesem Haus zu finden. Das ist
auch richtig so; denn Auslandseinsätze bringen eine
große Verantwortung für das gesamte Parlament mit
sich. In diesem Fall war das leider nicht möglich, weil
eine unglaubliche Eile geboten war. Diese Eile erschwerte die Entscheidungsfindung für alle. Wenn man
sehr genau überlegt, wie es zu dieser Eile kam, kommt
man auf eine einzige Antwort: Die Bundesregierung hat
sich in den letzten Wochen und Monaten nicht darum gekümmert. Sie hat die Entscheidungen, die anstanden,
nicht getroffen. Das ist ein großes Problem. Sie haben
sich darum schlicht nicht gekümmert.
({1})
Ende 2010 gab es zum wiederholten Mal eine Anfrage an die Bundesregierung, ob Deutschland sich an
dem AWACS-Einsatz beteiligt. Der Außenminister war
strikt dagegen. Er hat übrigens auch nach der Abstimmung über das Gesamtmandat verkünden lassen - das
war Ende Januar 2011 -: Für die nächsten zwölf Monate
ist das kein Thema. Es war aber klar, dass das so nicht
geht. Man wollte sich über einen bestimmten Zeitpunkt
retten. Das war keine Landtagswahl, sondern die ISAFAbstimmung im Deutschen Bundestag. Also machte die
Bundesregierung das, was sie in solchen Situationen immer macht: Sie verhängte ein Moratorium von drei Monaten.
({2})
In dieser Zeit sollte über den AWACS-Einsatz nicht geredet werden.
Jetzt ist dieses Moratorium fast ausgelaufen. Es stand
also sowieso die Entscheidung an, was nun passiert, ob
Deutschland sich an dem AWACS-Einsatz beteiligt oder
nicht. Voller Hektik sagen Sie nun: Nein, wir warten das
nicht ab, sondern bieten unsere Beteiligung an dem
AWACS-Einsatz an. Der Verdacht liegt nahe, dass Sie
damit einen einfachen Zweck verfolgen. Sie wollen das
Desaster der Passivität der Bundesregierung, diesen
deutschen Sonderweg in der Libyen-Frage, gegenüber
der Öffentlichkeit schnellstmöglich vergessen machen,
und das ist indiskutabel.
({3})
Herr Minister Westerwelle, die FAZ meldet, Sie hätten
die Resolution, die Sie danach öffentlich begrüßt haben,
eigentlich ablehnen wollen. Wenn das nicht stimmt,
wäre ich sehr dafür, dass Sie das dementieren. Sie haben
sich in der Vergangenheit häufiger als Abgeordneter zu
Wort gemeldet und sich erklärt. Jetzt haben Sie die Möglichkeit, uns zu sagen, ob es stimmt, dass die Bundesregierung diese Resolution, die sie begrüßt hat, tatsächlich
ablehnen wollte.
({4})
Bei diesem Mandat gibt es ein noch größeres Problem. Aufgrund der Eile, die Sie sich selbst auferlegt haben, legen Sie nicht einmal einen gründlich ausformulierten Mandatstext vor.
Ich gebe Ihnen ein einziges Beispiel: das bodengestützte System. Wir fragen uns, was hier seit 2009 überhaupt passiert; das ist eine sehr berechtigte Frage. Im
Mandatstext steht zum Beispiel wortwörtlich:
Die Rehabilitierung des Flughafens Uruzgan …
steht kurz vor dem Beginn.
Das ist eine wunderschöne Nachricht; das freut mich
ungemein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stinner?
Ja. Ich sehe ihn gar nicht. - Da ist er.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrter Kollege Nouripour, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass heute in den
vergangenen zwei bis drei Stunden sowohl das Auswärtige Amt durch den entsprechenden Sprecher als auch
die Bundeskanzlerin durch ihren Sprecher eindeutig erklärt haben, dass an dem Gerücht, das auch Sie hier verbreitet haben, gar nichts dran ist, sondern dass die Entscheidung zur Enthaltung von vornherein einstimmig so
gefasst worden ist? Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu
nehmen?
Ich bin gerne dazu bereit; das freut mich ungemein.
Ich habe das Gerücht nicht verbreitet; das ist eine Pressemeldung.
({0})
Nichtsdestotrotz habe ich die Verlautbarung der Bundesregierung immer so verstanden, dass man die ganze Zeit
verhandelt und hart mit sich gerungen habe. Nun sagen
Sie, die Enthaltung habe von vornherein festgestanden.
Das ist ein wenig verwirrend und macht so keinen Sinn.
({1})
Zurück zum Antragstext. Sie haben geschrieben - ich
wiederhole -:
Die Rehabilitierung des Flughafens Uruzgan …
steht kurz vor dem Beginn.
Das ist eine schöne Sache. Das Problem ist, dass 2009
exakt derselbe Satz im Mandat stand. Auch 2009 hieß es,
der Beginn der Rehabilitierung des Flughafens Uruzgan
stehe kurz bevor. Der Satz danach lautete, dass die Fertigstellung für 2010 geplant sei. Das ist nicht konsistent,
vor allem auch deswegen nicht, weil wir uns alle erinnern, wie es 2009 war: Wir Grüne haben hier dem Mandatstext mehrheitlich zugestimmt, um dann festzustellen,
dass sich die Bundesregierung überhaupt nicht um die
Details gekümmert hat. Das war eine extrem peinliche
Aktion, die jetzt durch dieses hektische Copy and Paste,
das Sie bei der Erstellung des Antrags gemacht haben,
nicht wirklich besser wird. Jetzt geht es darum, dass wir
Vertrauen, das in den letzten Tagen verloren gegangen
ist, wieder zurückgewinnen. Aber Sie tun nichts dafür.
Ein weiteres Beispiel: Es gibt das feste Versprechen
der Bundesregierung, dass die Zahl der Soldatinnen und
Soldaten in Afghanistan Ende des Jahres - vorbehaltlich
der Sicherheitslage - reduziert wird. Ich habe damals
den Herrn Außenminister im Plenum gefragt: Wie ist es
denn, wenn die AWACS dazukommen? Er sagte:
AWACS und Mandatsobergrenze haben miteinander
überhaupt nichts zu tun. - Wir erleben gerade, dass gesagt wird: Wir haben jetzt die flexible Reserve angebrochen. Wir müssen einmal schauen, wie es geht.
Das Problem ist, dass Sie sich dadurch, dass wir jetzt
mehr Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan schicken werden, faktisch von diesem Versprechen entfernen. Ein weiteres Problem ist, dass Sie damit nicht nur
die Öffentlichkeit verprellen und Ihr Versprechen möglicherweise nicht halten können. Ich hoffe, dass Sie Ihr
Versprechen halten können. Problematisch ist vielmehr
auch, dass die Soldatinnen und Soldaten dadurch, dass
Sie so herumtaktieren, politische Manövriermasse bei einem Kuhhandel werden. Der Kuhhandel lautet: Libyen
nein, deshalb Afghanistan. - Dabei haben die beiden
Konflikte in der Sache nichts miteinander zu tun. Es geht
darum, dass jeweils für jede Intervention - in manchen
Fällen auch für die jeweilige Nichtintervention - eine
genaue Begründung in der Sache vorliegen muss. Das ist
bei Ihnen nicht der Fall, sondern Sie vermengen alles auf
eine unseriöse Weise miteinander. Das hat mit sachlicher
und - das ist das Gravierende - vor allem mit einer wertegebundenen Außenpolitik überhaupt nichts mehr zu
tun. Die Kontinuität, die die deutsche Außenpolitik ausgemacht hat - egal wer in den letzten Jahrzehnten regiert
hat -, setzen Sie fahrlässig aufs Spiel. Das ist wirklich
verheerend.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Andreas Schockenhoff für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Nouripour, Sie haben es geschafft, Ihre volle Redezeit auszunutzen, ohne eine einzige Silbe dazu zu sagen,
wie sich Ihre Fraktion nachher in dieser Frage verhalten
wird.
({0})
Sie haben von Medienberichten gesprochen. Ich habe
Medienberichte gelesen, in denen stand, dass Sie für das
AWACS-Mandat sind. Ich habe von Herrn Trittin in der
Presse gelesen, dass er dagegen ist. Mich hätte interessiert, wie die Mehrheit Ihrer Fraktion das sieht und ob
Sie in Ihrer Fraktion überhaupt darüber geredet haben.
Bevor ich zu AWACS komme, möchte ich zwei
Dinge klarstellen:
({1})
- Sie schreien zwar, aber sagen Sie doch bitte einmal,
wie die Grünen abstimmen. Das interessiert; das andere
interessiert nicht.
({2})
Erstens. Die CDU/CSU-Fraktion teilt die Einschätzungen und Abwägungen - dies möchte ich vorab sagen - der Bundesregierung, die bei der Resolution 1973
zu der Enthaltung im Sicherheitsrat geführt haben.
Zweitens. Deutschland ist in diesem Konflikt nicht
neutral, sondern steht fest an der Seite des libyschen Volkes und der internationalen Gemeinschaft. Die Bundeskanzlerin hat am vergangenen Samstag beim Gipfel in
Paris klar gesagt, dass die Resolution gilt und Deutschland die Ziele der Resolution vorbehaltlos unterstützt.
Deshalb unterstützt die CDU/CSU-Fraktion geschlossen
das Bestreben der Bundesregierung, unterhalb einer direkten militärischen Beteiligung alles dafür zu tun, dass
die Resolution 1973 erfolgreich durchgesetzt wird.
Dazu gehört auch - das hat der Verteidigungsminister
dargestellt -, dass wir der NATO zusätzliche Kapazitäten
für den Einsatz in Afghanistan anbieten, indem wir uns
an den AWACS-Flügen beteiligen. Dies geschieht auch
mit dem Ziel, unsere NATO-Partner für ihren Einsatz in
Libyen zu entlasten. Das Bündnis hat sich gestern auf
einen Plan zur Durchsetzung eines Flugverbots über
Libyen geeinigt. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt diese
Entscheidung und die erzielte Einigkeit ausdrücklich.
Bislang gibt es weder eine Anfrage an die NATO
noch eine Anfrage der Allianz selbst an ihre Mitglieder
bezüglich einer konkreten Umsetzung der Resolution 1973. Aber auch hier sage ich in aller Klarheit: Es
ist selbstverständlich, dass Deutschland eine solche Entscheidung unterstützen wird. Das heißt ganz praktisch,
dass die deutschen Soldaten bei einer entsprechenden
Mission der NATO in den integrierten Stäben des Bündnisses ihre Aufgaben erfüllen und Verantwortung übernehmen werden. Die Bundesregierung muss sich daher
von niemandem Vorwürfe gefallen lassen, sie hätte ihre
Bündnissolidarität infrage gestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme auf das
vorliegende Mandat zu sprechen. Seit dem 15. Januar
2011 sind NATO-AWACS in Afghanistan eingesetzt,
bisher allerdings ohne deutsche Besatzungen und Bodenpersonal. Der Einsatz der AWACS erfolgt aufgrund
des steigenden Flugaufkommens über Afghanistan. Die
Flugzeuge sollen die Koordinierung des militärischen
Flugverkehrs unter Berücksichtigung ziviler Nutzer sowie Aufgaben zur Unterstützung von ISAF-geführten
Bodenkräften übernehmen.
Herr Kollege Schockenhoff, darf der Kollege Bartels
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Herr Kollege Schockenhoff, in der vergangenen Woche habe ich in einem Rundfunkinterview von Ihnen vernommen, dass die Nichtbeteiligung Deutschlands an der
Umsetzung des Libyen-Beschlusses des Sicherheitsrats
sowie die Enthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat damit begründet wurde, die Bundeswehr könne das gar
nicht mehr. Ist das eine tragende Begründung für die Regierungsfraktionen?
Nein, ich habe in der letzten Woche darauf hingewiesen, dass es - und das war bis gestern der Fall - weder
im Sicherheitsrat noch in der EU noch in der NATO
noch in der Arabischen Liga Einigung über die Ziele und
die Einsatzregeln für diese Operation gab. Das habe ich
kritisiert und deshalb gesagt: Es war richtig, dass sich
die Bundesregierung enthalten hat. - Dass wir hinter den
Zielen „Schutz der Bevölkerung“ und „dem Diktator
Einhalt gebieten“ stehen, ist eindeutig. Das hat auch der
Außenminister für die Bundesregierung und für die
Koalitionsfraktionen wiederholt. Dabei bleibt es. Die
Begründung, sich zu enthalten, hat mit den politischen
Zielen, die wir jetzt voll mittragen, nichts zu tun.
({0})
Ich komme zurück zum AWACS-Einsatz. Dieser war
ursprünglich für 90 Tage angedacht. Deshalb bestand bei
der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes im Januar
auch keine Veranlassung, eine mögliche deutsche Beteiligung in dem Mandatstext zu berücksichtigen. Weil sich
das System bewährt und als sehr effektiv erwiesen hat,
soll der Einsatz nun auf Wunsch des ISAF-Oberkommandos weitergeführt werden.
Die AWACS-Flugzeuge der NATO sind hochintegrierte Verbände, die ohne deutsches Personal auf Dauer
nur beschränkt einsetzbar sind. Deshalb wollen wir uns
künftig an dem AWACS-Einsatz der NATO in Afghanistan mit dem Ziel der Luftraumsicherheit und Luftraumkoordinierung beteiligen. Dies gilt unabhängig von einer
möglichen Beteiligung des Bündnisses an den Operationen zur Durchsetzung der beiden UNO-Resolutionen zu
Libyen.
Neben dem Schutz unserer eigenen Soldatinnen und
Soldaten sowie der afghanischen Zivilbevölkerung ist
der wichtigste Aspekt meines Erachtens, dass der Einsatz der NATO-AWACS den Prozess der Übergabe der
Sicherheitsverantwortung an die Afghanen unterstützen
kann. Die Flugzeuge verdichten das Lagebild für die
Operationsführung nicht nur der ISAF-Truppen, sondern
auch der afghanischen Sicherheitskräfte, die an Operationen gegen Aufständische im Rahmen unserer Konzepte des Partnerings und des Mentorings beteiligt sind.
Mit diesem Einsatz befördern wir unser Ziel, möglichst schnell eine Übergabe der Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände zu erreichen, was die Verringerung unserer militärischen Präsenz zur Folge haben
kann. Schon aus diesem Grunde hoffen wir, dass das
Mandat eine breite Zustimmung im Bundestag findet.
Im Übrigen zeigt die gestrige Ankündigung des afghanischen Präsidenten Karzai, ab Juli 2011 sieben Regionen in die afghanische Sicherheitsverantwortung zu
übernehmen, dass der von uns im letzten Jahr vorgenommene Strategiewechsel wirkt. Der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte - Armee und Polizei - kommt
zügig voran.
Auch Deutschland hat seine Trainingskapazitäten in
unserem Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans erhöht und kann nun in der Stadt Masar-i-Scharif
die Sicherheitsverantwortung an die Afghanen übertragen. Dieser maßgebliche Schritt verdeutlicht, dass wir
auf dem richtigen Weg sind, um die von uns angestrebte
völlige Übergabe in afghanische Verantwortung bis 2014
zu erreichen.
Zum Abschluss möchte ich noch einmal unterstreichen: Gerade weil dieses Mandat unseren Abzug aus Afghanistan befördern kann, kann auf eine Erhöhung der
Mandatsobergrenze verzichtet werden. Dies ist ein weiterer Grund, aus dem die Vorlage der Bundesregierung
eine breite Unterstützung finden sollte. Dazu lade ich
uns alle herzlich ein.
Danke.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5190 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Es ist vereinbart, dass wir die Sitzung jetzt für Fraktionssitzungen unterbrechen. Das wird bis voraussichtlich 16 Uhr der Fall sein. Wir werden den Wiederbeginn
der Plenarsitzung wie immer durch Klingelsignal bekanntgeben.
Ich möchte Ihnen mit Blick auf den weiteren Ablauf
unserer Tagesordnung einen Verfahrensvorschlag machen. Als Nächstes werden dann ja die Regierungsbefragung und die Fragestunde aufgerufen, auf die die vereinbarte Aktuelle Stunde folgt. Nach Rücksprache mit den
Fraktionen möchte ich Ihnen vorschlagen, dass wir nach
einer vielleicht etwas knapper gehaltenen Regierungsbefragung die Fragestunde auf eine Stunde statt zwei Stunden begrenzen. Auch nach Durchsicht der jetzt schon zur
schriftlichen Beantwortung eingereichten oder korrigierten Fragen scheint mir das auskömmlich zu sein. Dann
könnten wir zu einer halbwegs kalkulierbaren Zeit mit
der Aktuellen Stunde beginnen und vermeiden, dass
diese mit Abendverpflichtungen kollidiert. Können wir
so verfahren?
({0})
- Natürlich beginnen wir nach der Regierungsbefragung,
die über das angemeldete Thema hinaus von sonstigen
Nachfragen entlastet bleiben könnte, mit den dringlichen
Fragen und rufen die verbliebenen anderen Fragen danach auf. - Ich bedanke mich für die Zustimmung.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Als Thema der heutigen Kabinettssitzung hat die
Bundesregierung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im
Ausland erworbener Berufsqualifikationen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich erteile das Wort zum fünfminütigen Einführungsbeitrag der Frau Bundesministerin Dr. Annette Schavan.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den die Präsidentin
angekündigt hat und der heute vom Kabinett verabschiedet wurde, ist ein wichtiger Schritt in Bezug auf Integration und eine zentrale Maßnahme in Bezug auf das
Thema Fachkräftebedarf, über das wir immer wieder
diskutieren.
Worum geht es? Was ist neu? Viele von uns kennen
einzelne Fälle, in denen die Anerkennung eines im Ausland erworbenen Berufsabschlusses viele Behörden beschäftigt, lange dauert, ergebnislos bleibt oder in denen
über die Anerkennung in dem einen Bundesland anders
entschieden wird als in dem anderen.
Deshalb - das ist neu - enthält das Gesetz einen
Rechtsanspruch auf Prüfung von beruflichen Auslandsqualifikationen. Neu ist, dass das Verfahren der Prüfung,
soweit alle Unterlagen vorliegen, in einem Zeitraum von
drei Monaten abgeschlossen sein muss. Abgeschlossen
werden kann es nicht einfach mit einem Ja oder Nein,
sondern erforderlich ist ein Hinweis darauf, welche Qualifikationen vorhanden sind und welche zusätzlichen erbracht werden müssen, um eine Anerkennung zu bekommen. Neu ist auch, dass die Kriterien, anhand derer sich
die Frage „Anerkennung, ja oder nein?“ entscheidet, für
Deutschland insgesamt gelten.
Das Gesetz besteht aus Art. 1 - das ist das eigentliche
Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz - und 60 weiteren Artikeln, die Änderungen von 60 Berufsgesetzen
und entsprechenden Verordnungen beinhalten. Ich sage
das, weil manche mit Recht gefragt haben, warum es eigentlich so lange gedauert hat, von Dezember 2009, als
die Eckpunkte vorlagen, bis März 2011. In diesem Prozess ging es darum, 60 Berufsgesetze zu verändern, und
einen Konsens herzustellen, wie hier künftig verfahren
wird. Zudem mussten auch die Schritte der Umsetzung,
die jetzt anstehen, mit bedacht werden.
Wir werden eine bundesweite Hotline einrichten, sodass jeder, der ein Anerkennungsverfahren anstrebt, unter einer Nummer die Information bekommt, wo und wie
das möglich ist. Auf der Ebene der Kammern gibt es
Vorbereitungen für die Bündelung von Zuständigkeiten
und Kompetenzen, sodass nicht jede Kammer die Entsprechenden Entscheidungsgrundlagen vorhalten muss.
Die Industrie- und Handelskammer plant zum Beispiel
eine zentrale Stelle, wenn ich es richtig sehe, in Nürnberg.
Betroffen von dem Gesetz sind in Deutschland nach
jetziger Prognose 285 000 Bürgerinnen und Bürger. Die
Aufschlüsselung dieser Gruppe ergibt, dass es sich zum
größten Teil - bei rund 250 000 - um Personen handelt,
die über eine Lehre oder einen sonstigen berufsqualifizierenden Abschluss verfügen. Ungefähr 23 000 Personen verfügen über einen Meister-, Techniker- oder Fachschulabschluss und rund 16 000 Personen über einen
Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. Das zeigt zugleich, dass die Personen mit einem Fachhochschuloder Hochschulabschluss eher eine Minderheit sind.
Geregelt sind im Gesetz rund 500 Berufe, darunter
- das ist die größte Gruppe - die 350 Ausbildungsberufe.
Es gibt jedoch auch Berufe, die auf der Ebene der Länder geregelt werden. Deshalb sind auch die 16 Länder in
diesen Prozess mit einbezogen. Dazu gehören zum Beispiel die Lehrer. Ich habe es heute Morgen schon gesagt:
Es besteht jetzt die Hoffnung, dass vielleicht nicht nur
diejenigen, die im Ausland einen Abschluss erworben
haben, in Deutschland diesen anerkannt bekommen, sondern dass auch die 16 Bundesländer untereinander ihre
Lehrerabschlussprüfungen anerkennen, sodass die Lehrerinnen und Lehrer überall in Deutschland lehren können.
Das sind Nebeneffekte, die ich jetzt einmal nennen
wollte.
Angesprochen sind nicht nur die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland, die woanders ihren Abschluss
gemacht haben, sondern selbstverständlich auch Deutsche, die woanders ihren Abschluss gemacht haben, und
in Zukunft wollen wir natürlich auch diejenigen ansprechen, die interessiert daran sind, nach Deutschland zu
kommen und in ihrem Beruf zu arbeiten. Vom Ausland
aus kann ein Antrag ebenso gestellt werden wie in
Deutschland selbst.
Die Neuigkeiten sind also: Rechtsanspruch auf Prüfung der Anerkennung, klare Angaben über die Dauer
der Bearbeitung, gleiche bzw. vergleichbare Kriterien in
ganz Deutschland und schließlich eine sehr viel klarere
Form, in der eine Beantragung erfolgen kann. Das beginnt schon mit der Hotline, die unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes eingerichtet wird.
So weit zu den wichtigsten Informationen zum heute
verabschiedeten Gesetzentwurf.
Es gibt schon jetzt eine ganze Reihe von Fragestellerinnen und Fragestellern. Ich erinnere noch an die Ankündigung des Präsidenten von vorhin, dass wir die Regierungsbefragung heute vielleicht nicht allzu weit
ausdehnen sollten, und gebe zunächst der Kollegin
Dağdelen das Wort zur Frage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin
Schavan, ich würde gerne wissen, ob aufgrund des im
Gesetzentwurf und in der Begründung angedachten Anspruchs, für mehr Transparenz und Vereinfachung zu
sorgen, auch vorgesehen ist, eine einheitliche Datenbank
zu errichten - zum Beispiel auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung -, um ungleiche Bewertungsergebnisse bei gleichen Qualifikationen in den Bundesländern
zu vermeiden.
In diesem Zusammenhang ist es mir auch wichtig, zu
fragen, ob man mehr Transparenz und Vereinfachung dadurch erreichen kann, dass man es den Kammern überlässt, die Anerkennungsverfahren durchzuführen, da es
dann 16 unterschiedliche Anlaufstellen in 16 unterschiedlichen Bundesländern gibt.
Frau Ministerin.
Es sind diverse Maßnahmen geplant, um Daten und
Informationen speziell zu Drittstaaten, deren Abschlüsse
bei uns bislang noch nicht so bekannt sind, zu sammeln.
Ich nenne zum Beispiel die zentrale Plattform beim Bundeswirtschaftsministerium, die zurzeit aufgebaut wird.
Damit wird es eine gemeinsame Daten- und Informationsbasis geben. Damit wir sichergestellt, dass die im
Gesetz festgelegten Kriterien nicht unterschiedlich angewandt werden. Deshalb sagen uns sowohl die Handwerks- als auch die Industrie- und Handelskammern: Es
wird nicht, wie bislang, jede Kammer für sich entscheiden, sondern wir wollen Kompetenzzentren einrichten. Beim Industrie- und Handelskammertag wird überlegt,
eine große Stelle in einer Stadt in Deutschland einzurichten, sodass nicht unterschiedliche Stellen die gleichen
Kriterien anwenden, sondern das nur an einer Stelle erfolgen muss.
Das Einzige, was wir nicht wollen, ist, eine neue zentrale Stelle jenseits der Kammern und der bisherigen Behörden aufzubauen. Das heißt aber nicht, dass die Kräfte
nicht gebündelt werden. Es werden nicht mehr
400 Stellen in Deutschland sein, die die Anerkennungsverfahren durchführen.
Die nächste Frage stellt Kollege Kamp.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, angesichts des Mangels an qualifiziertem Personal im Gesundheitsbereich frage ich Sie, welche Auswirkungen
das Gesetz auf die Anerkennung von Abschlüssen ausländischer Ärzte, Krankenpfleger, Physiotherapeuten,
Ergotherapeuten, Hebammen, MTAs und PTAs haben
wird und ob Sie eine Gefahr sehen, dass der Standard der
anerkannten Abschlüsse, ob Hochschulabschlüsse oder
Berufsausbildung, eventuell gefährdet sein könnte. Anders gefragt: Könnten diese Abschlüsse dadurch entwertet werden?
Frau Ministerin, bitte.
Die Gefahr der Entwertung sehe ich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass die Stellen, die für die Anerkennung
zuständig sind, die deutschen Referenzqualifikationen
sehr genau kennen und bei der Qualität unserer Ausbildungen ansetzen werden.
Was die Mediziner und die sonstigen Heilberufe angeht, steht in dem Bereich der Patientenschutz besonders
im Vordergrund. Deshalb würde ich nach heutigem
Stand sagen: Das, was im Gesetzentwurf vorgesehen ist,
ist ein guter erster Schritt, aber es ist durchaus eine Weiterentwicklung denkbar.
Der wichtigste Schritt in dem Bereich ist, dass nicht
mehr die Staatsangehörigkeit darüber entscheidet, ob jemand eine Approbation oder den Berufszugang bekommt. Bisher ist dafür in vielen Bereichen die deutsche
Staatsangehörigkeit die Voraussetzung. Das gilt selbst
für den türkischen Arzt oder die Ärztin, die in Deutschland geboren und ausgebildet sind, aber ihre türkische
Staatsangehörigkeit behalten. Hier ist eine entscheidende
Änderung erfolgt. Jetzt ist nur noch die Qualifikation
Voraussetzung für die Anerkennung. Ich glaube, dass
das ein erster wichtiger Schritt ist. Eine Weiterentwicklung ist denkbar und vermutlich auch notwendig, wenn
wir uns gezielt - Kollege Rösler hat in dieser Woche davon gesprochen - außerhalb der EU um Mediziner bemühen wollen.
Frau Sager.
Frau Ministerin, das Eckpunktepapier der Bundesregierung hat noch die Einrichtung dezentraler Erstanlaufstellen in Aussicht gestellt. Eine Internetplattform ist
kein Ersatz für Beratung und Begleitung. Warum regelt
der Gesetzentwurf nicht den Anspruch auf Beratung und
Begleitung durch dezentrale Stellen vor Ort?
Frau Ministerin.
Das, was mit der Erstanlaufstelle beabsichtigt ist,
wird in unter anderem durch die zentrale Hotline gewährleistet. Der entscheidende Punkt ist: Jemand, der
seine Qualifikation prüfen lassen will, muss sich nicht an
zehn Adressen wenden, sondern an eine zentrale Nummer. Da nennt man ihm nicht einfach eine weitere Telefonnummer, sondern er erhält eine gezielte Beratung, an
wen er sich mit seinem Antrag wenden kann.
Beratung bzw. Begleitung ist uns sehr wichtig. Das
gilt vor allem in den Fällen, in denen eine Anerkennung
nicht ausgesprochen werden kann, und sich die Frage
stellt, welche zusätzliche Qualifikation notwendig ist,
um eine Anerkennung zu erreichen.
Hierfür sind regionale Stellen vorgesehen. Eine untergesetzliche Regelung ist in Arbeit.
Herr Rupprecht.
Frau Ministerin, der Entwurf des Anerkennungsgesetzes ist aus unserer Sicht ein Meilenstein auf dem Weg zu
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Albert Rupprecht ({0})
mehr Integration. Respekt hierfür! Viele haben lange darüber geredet; diese Regierung bringt es auf den Weg.
Nichtsdestotrotz geht es um die Qualität, die wir gewährleistet haben wollen. Ich frage Sie meinerseits zum
einen: Wie schaffen wir es, dass die dezentral getroffenen Entscheidungen auf vergleichbare Weise zustande
kommen? Zum anderen frage ich Sie, die Frage des Kollegen von der FDP vertiefend: Wie gewährleisten wir
über den medizinischen Bereich hinaus, dass die hohe
Qualität des deutschen Ausbildungssystems aufrechterhalten wird?
Wir gewährleisten das auf zweifache Weise: erstens
indem die Prüfungen durch die Industrie- und Handelskammern oder Handwerkskammern oder sonstige berufsnahe Stellen erfolgen - sie erfolgen nicht bei einer
neuen staatlichen Behörde, sondern da, wo Ausbildungsverordnungen mit uns entwickelt werden, da, wo Kompetenz hinsichtlich der Erstausbildung und der Weiterbildung sitzt. Und zweitens macht das Gesetz sehr
deutlich, dass deutsche Qualitätsstandards der Referenzpunkt und Maßstab sind, mit dem die ausländischen
Qualifikationen und Zertifikate geprüft werden. Es geht
immer um Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit: Ist
das, was vorgelegt wird, vergleichbar mit dem Berufsbild, um das es geht?
Ich bin fest davon überzeugt: Es liegt im Interesse
von allen Berufsbranchen, ihren Qualitätslevel zu halten.
Ich füge allerdings hinzu: Ich glaube nicht, dass es in der
Welt nicht auch andere Orte gibt, an denen eine qualitätsbewusste Ausbildung erfolgt und Berufserfahrung
gewonnen wird. Indem wir keine neue Behörde schaffen, sondern die Kompetenzen, die da sind, nutzen, wird
das Ganze - davon bin ich überzeugt - nicht zu einem
Absinken der Qualität führen.
Der Kollege Schulz.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Frau
Bundesministerin, ich habe leider den Beginn Ihrer Ausführungen nicht verfolgen können, weil die SPD-Fraktion noch getagt hat. Deswegen verzeihen Sie, wenn ich
jetzt möglicherweise nach etwas frage, das Sie schon
ausgeführt haben.
Der Gesetzentwurf beinhaltet Regelungen für nur einen Teil der Ausbildungen, nämlich diejenigen, die sozusagen durch Bundesrecht zu regeln sind. Aber es gibt
noch eine ganze Menge mehr. Deswegen die Frage: Wie
gestaltet sich der Prozess? Engagiert sich die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern, eine Regelung hinzubekommen, die tatsächlich eine Verbesserung
für alle Ausbildungen, alle Berufe darstellt?
Frau Ministerin, bitte.
Selbstverständlich. Ich will kurz die Zahlen, die ich
vorhin genannt habe, wiederholen, weil man sich dann
ein Bild davon machen kann, wer wie stark betroffen
sein wird. Wir gehen von etwa 285 000 interessierten
Personen in Deutschland aus. Davon haben rund
250 000 eine Lehre oder eine Art berufsqualifizierende
Ausbildung abgeschlossen. Die große Gruppe der
350 Ausbildungsberufe ist also sozusagen das Herzstück
der neuen Regelungen. Der Anteil derer, die einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss mitbringen und die
zum Teil - wie beispielsweise Lehrer - in die Regelungszuständigkeit der Länder fallen, ist vergleichsweise
gering. Wir haben in den letzten Monaten konstruktive
Gespräche mit den Ländern geführt, damit entsprechende Veränderungen auch in den Ländern vorgenommen werden. Mit keinem der 16 Länder gibt es Dissens
darüber, dass nicht nur gesetzliche Änderungen vorzunehmen sind, sondern dass auch die Praxis der Anerkennung zu verbessern ist; denn so wichtig das Gesetz ist, so
wichtig ist auch die Praxis, bis hin zu dem Punkt, den ich
eingangs genannt hatte, nämlich dass mit der Anerkennung in einem Land zugleich die Anerkennung in
Deutschland insgesamt gewährleistet sein muss.
Ich möchte gerne darauf hinweisen, dass wir ausdrücklich die Nachricht aus der Geschäftsführung der
SPD-Fraktion hatten, dass wir mit der Regierungsbefragung beginnen sollen.
({0})
- Ich kann das nur so sagen.
({1})
Jetzt gebe ich das Wort zu einer Frage dem Kollegen
Feist.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, ich
bin mir sicher, dass die Menschen, über die Sie vorhin
gesprochen haben - 285 000 waren das -, dieses Gesetz
mit großer Spannung erwartet haben. Ich weiß das auch
von Organisationen aus meiner Heimatstadt Leipzig. Für
mich wäre interessant, zu erfahren, wie es gewährleistet
worden ist, dass die Verbände der Betroffenen in das Erstellen des Gesetzes eingebunden worden sind. Gibt es
schon erste Reaktionen von diesen darauf?
Frau Ministerin.
Es hat in den vergangenen Monaten enorm viele Reaktionen der Gruppen, der Verbände - aus unterschiedlichsten Branchen -, der Kammern und der Länder gegeben. Mein Eindruck ist: Es gibt einen überwältigenden
Konsens, dass dieses Vorhaben wichtig und ist und dass
die Staatsangehörigkeit kein Kriterium für die Zulassung
zu bestimmten Berufen sein kann. Der Teufel steckt im
Detail. Natürlich hat jeder Berufsverband deutlich gemacht, dass ihm Qualität wichtig ist. Das ist aber auch
unbestritten. Deshalb sagen wir: Wenn die Anerkennung
nicht gleich möglich ist, dann muss die Stelle, die geprüft hat, deutlich sagen - das ist eine Frage der Transparenz -, warum die Anerkennung nicht möglich ist. Sie
darf nicht rein gefühlsmäßig entscheiden, dass eine Qualifikation nicht reicht. Neu ist also, dass es eine transparente Information darüber geben muss, welche Qualifikationsbestandteile noch erbracht werden müssen. Ich
glaube, dass eines der wichtigsten Signale an die betroffenen Gruppen ist, dass es um faire Kriterien und Transparenz geht und nicht um eine gefühlte Akzeptanz oder
Nichtakzeptanz.
Mit Blick auf den Aufbau der Strukturen, die erforderlich sind, um die Anerkennungsverfahren zügig
durchzuführen - drei Monate ist ein anspruchsvolles
Ziel -, gab es eine sehr gute Zusammenarbeit mit diesen
vielen Partnern, die im Zusammenhang mit der Änderung von 60 Berufsgesetzen gefordert waren.
Frau Kollegin Hein, bitte.
Frau Ministerin, ich bin, ehrlich gesagt, aus dem, was
Sie vorhin gesagt haben, und der Antwort, die Sie eben
Herrn Schulz gegeben haben, nicht so richtig schlau geworden. Ich möchte deshalb gerne nachfragen. Sind nun
mit diesem Gesetz auch Berufe erfasst, für die die Ausbildungszuständigkeit bei den Ländern liegt, oder nicht?
Zum Zweiten: Sie haben gesagt, es gebe einheitliche
Verfahrensregeln. Nun werden Sie sicherlich zugeben,
dass man einheitliche Verfahrensregeln unterschiedlich
auslegen kann. Können Sie ausschließen, dass die Kammern eine unterschiedliche Bewertung von vorgelegten
Nachweisen vornehmen und eine Anerkennung vielleicht davon abhängig machen, ob es in dem betreffenden Beruf gerade einen Bedarf gibt oder nicht? Können
Sie eine solche Einheitlichkeit im Verfahren mit diesem
Gesetz tatsächlich garantieren?
Frau Ministerin, bitte.
Zu Ihrer ersten Frage möchte ich klarmachen, was
vom Gesetz erfasst ist. Erfasst sind sämtliche 350 Ausbildungsberufe, alle Heilberufe, Juristen, Fahrlehrer und
weitere bundesrechtlich geregelte Berufe. Auf der Ebene
der Länder zu regeln ist zum Beispiel die Anerkennung
der Ausbildungsnachweise von Lehrern, Ingenieuren
und Erziehern. Die Länder haben zugesagt, die entsprechenden Gesetze zu liefern. Deshalb habe ich eben gesagt: Das hat den Vorzug, dass es etwa bei den Lehrern
nicht mehr nur um die Frage geht, ob jemand aus dem
Ausland in Deutschland Lehrer werden darf; vielmehr
wird die Debatte zwischen den Ländern sein: Was sind
die Kriterien für die wechselseitige Anerkennung von
Abschlüssen? Das Bundesgesetz deckt die allermeisten
Anerkennungsfälle ab, zumal das Gros der hier lebenden
Menschen mit Auslandsqualifikation - 250 000 von den
von mir genannten 285 000 Personen - eine Art Lehre
und sonstigen berufsqualifizierenden Abschluss hat, und
damit in jedem Fall unter das Gesetz fällt. Das Allermeiste ist also geregelt. Dort, wo die Länder zuständig
sind, sind Gesetze angekündigt.
Ich bin davon überzeugt, dass das Gesetz ein gutes Instrument ist, um bundesweite Vergleichbarkeit herzustellen. Wenn die Anerkennung ausgesprochen ist, kann
nicht an anderer Stelle gesagt werden: Bei uns gilt das
nicht.
Auch der Umgang mit vorgelegten Zertifikaten wird
eingeübt werden müssen; das ist gar keine Frage. Da
wird es manche interne Diskussion geben. Der Rechtsanspruch bedeutet aber, dass es einen Anspruch darauf
gibt, dass geprüft wird und dass am Ende transparent erklärt wird, wie die Anerkennung oder die Nichtanerkennung zustande kommt.
Herr Kollege Weinberg.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin,
Kollege Rupprecht hat schon gesagt, dass dies für die
Zielgruppe des Gesetzentwurfs, für die hier lebenden
rund 300 000 Migranten, unter arbeitsmarkt- und integrationspolitischen Gesichtspunkten ein Meilenstein ist.
In zwei Nebensätzen haben Sie schon angesprochen,
dass damit natürlich die Frage einhergeht, was in Zukunft mit den Menschen passiert, die nach Deutschland
kommen.
Meine Frage ist, inwieweit man überlegt hat, ob es in
Zukunft eine Beratungsmöglichkeit bereits im Ursprungsland geben soll, und inwieweit man mit den Außenhandelskammern, mit den Botschaften und mit den
Konsulaten im Gespräch ist, damit diese Beratungsfunktion für die Menschen, die nach Deutschland kommen
und das Anerkennungsverfahren bereits frühzeitig
durchführen wollen, auch in Zukunft gewährleistet ist.
Frau Ministerin.
Ein Antrag auf Prüfung der Anerkennung kann in der
Tat auch vom Ausland aus gestellt werden. Man muss
also nicht schon in Deutschland sein. Das wird in den
weiteren Debatten über Fachkräfte ein interessanter
Punkt werden: Welche Rolle spielt, dass jemand bereits
im Ausland einen Antrag gestellt hat, dieser bearbeitet
wurde und die Anerkennung ausgesprochen wurde? Das
erleichtert hier natürlich vieles.
Ich gehe davon aus, dass die Botschaften bzw. Konsulate eine zentrale Anlaufstelle sein werden und die Vermittlung zur Hotline oder zu den Anerkennungsstellen
organisieren werden. Und auch innerhalb Deutschlands
wird es regionale Stellen geben, die Beratung anbieten
und Verbindungen herstellen werden.
Kollege Kilic.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr verehrte Bildungsministerin, Sie haben in der Öffentlichkeit verkündet, dass Sie nicht wollen, dass Ärzte als Taxifahrer beschäftigt werden. Diesen Ansatz haben wir begrüßt. Ihr
erster Arbeitsentwurf machte auch große Hoffnungen.
Darin haben Sie festgelegt, dass Sie den Immigranten zu
ihren Berufen adäquate Beschäftigungen ermöglichen
wollen. Aus meiner Sicht wird dieses Ziel im Gesetzentwurf allerdings ein bisschen verwässert. Dort ist von berufsnahen Beschäftigungen die Rede. Ist das so zu verstehen, dass man sich damit zufriedengeben wird, wenn
ein Arzt als Krankenpfleger oder eine Krankenschwester
als Altenpflegerin arbeitet? Das wäre schade.
Außerdem wäre es besser gewesen, wenn Sie die Regelungen, die sich auf Verfahren beziehen, für die Länder als verbindlich erklärt hätten. Das haben Sie bewusst
nicht getan. Die Länder können jetzt eigene Verfahrensregelungen schaffen. Es wäre aber schade, wenn wir
bundesweit 16 unterschiedliche Regelungen hätten.
Frau Ministerin, bitte.
Es liegt nicht in der Kompetenz der Länder, Regelungen zu den Heilberufen zu schaffen. Die Regelungszuständigkeit für sämtliche Heilberufe liegt beim Bund.
Neben dem Ingenieurberuf wird vor allem der Arztberuf schon jetzt als Mangelberuf angesehen. Das wird
zunehmen. Dann wird es schlicht ein großes Interesse
daran geben, dass diejenigen, die Ärzte sind, auch als
Ärzte arbeiten können.
Zweitens machen wir kein Gesetz zur Vermittlung in
berufsadäquate Beschäftigung, sondern ein Gesetz, das
endlich die erforderlichen Voraussetzungen dafür schafft.
Bezogen auf den Arztberuf heißt das, dass nicht mehr die
Staatsangehörigkeit über die Approbation entscheidet,
sondern die Qualifikation. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt, wenn man an die Ärzteversorgung in der Fläche
denkt.
Ich kann niemandem vorschreiben, Menschen mit anerkanntem Abschluss zu beschäftigen. Aber klar ist:
Wenn die Anerkennung des Abschlusses erfolgt ist,
bringt derjenige, der sich um eine adäquate Beschäftigung bewirbt, die dafür notwendigen Voraussetzungen
mit. Er kann nicht abgewiesen werden mit der Begründung, die Voraussetzungen lägen nicht vor. Das ist ein
entscheidender Schritt, gleichsam die rechtliche Voraussetzung, um sich bewerben zu können.
Frau Kollegin Kolbe.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Bundesministerin, Sie haben recht: Es gibt schon seit langem einen
Konsens darüber, dass wir ein Anerkennungsgesetz
brauchen. Ich freue mich darüber, dass jetzt ein Entwurf
dazu vorliegt. Allerdings: Dass es weiterhin ein Wirrwarr von Anlaufstellen gibt und dass Sie sich nicht Gedanken darüber gemacht haben, wie man den Menschen
weiterhilft, die keine Anerkennung oder nur eine Teilanerkennung bekommen, denen der große Schritt zu einer wirklichen Anerkennung also fehlt, betrübt mich
sehr. Sie als Bildungsministerin wissen ja, dass viele der
Menschen, die schon jetzt ein Recht auf Feststellung der
Anerkennung haben, mit dem, was sie erhalten, zum
Beispiel eine Ablehnung, nicht weiterkommen. Ich hätte
mir gewünscht, dass die Bundesregierung für diese Menschen Wege aufzeigt, sodass ein solches Ergebnis nicht
zustande kommt. Das ist nicht geschehen.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Bundesregierung versucht hat, hier möglichst unter der Prämisse
„Es darf nichts kosten“ zu agieren. Genau dazu die
Frage. Sie schreiben in dem Gesetz zum Thema Kosten,
dass Anpassungsmaßnahmen für Menschen, die zum
Beispiel über die Argen, die Jobcenter betreut werden,
aus dem Topf der aktiven Arbeitsmarktförderung finanziert werden sollen. Diesen Topf hat die Bundesregierung aber schon massiv gekürzt. Können Sie mir dazu
eine Zahl sagen? Mit welcher Größenordnung rechnen
Sie in diesem Feld? Ich halte diese Maßnahmen für sinnvoll. Allerdings ist die Frage, ob die Größe des Topfes
angemessen ist.
Eine zweite Frage. Vergleichbarkeit setzt Wissen voraus. Man muss wissen, welches Wissen für bestimmte
Berufe in Uganda oder in anderen Staaten notwendig ist.
Auch über das Sammeln und Verwalten von Wissen
dazu steht in Ihrem Gesetz nichts. Das hat mich sehr enttäuscht.
Frau Ministerin.
Wenn ich Sie wäre, dann wäre ich jetzt eher ein bisschen betrübt darüber, dass niemand in den früheren Bundesregierungen auf die Idee gekommen ist, ein solches
Gesetz vorzulegen.
({0})
Es gab 60 Jahre Zeit dafür.
({1})
Auch wir sind erst jetzt darauf gekommen. Aber ich
wäre darüber jetzt nicht so betrübt. Man hätte das alles
vor 10 Jahren oder vor 20 Jahren machen können. Deutlich ist, dass es höchste Zeit für dieses Gesetz ist.
Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht; mit Verlaub. Ich habe einige Stichworte genannt. Es geht um die
Wege derer, die Anerkennung beantragen. Es geht um
die Frage: Wie ist es, wenn eine Anerkennung noch nicht
ausgesprochen werden kann, weil noch keine ausreichenden Qualifikationen vorliegen? Das wird im Zweifelsfall sogar die größte Gruppe von Fällen sein. Es wird
vermutlich nicht allzu viele geben, die einfach eine Anerkennung erhalten. Man wird feststellen: Diese und
jene Kompetenz ist noch wichtig.
In diesem Zusammenhang denke ich auch an den Europäischen Qualifikationsrahmen und die Umsetzung
hier. Wir wissen doch, dass in Zukunft eine solche Feststellung nicht mehr nur auf der Grundlage von Abschlüssen, sondern auch auf der Grundlage von Kompetenzen
getroffen wird. Genau dem tragen wir mit diesem Gesetz
im Blick auf im Ausland erworbene Abschlüsse schon
einmal Rechnung.
Das passiert übrigens genau da, wo es auch die Möglichkeiten gibt, Angebote zu unterbreiten, damit diese
zusätzlichen Qualifikationen erworben werden können:
bei den Kammern, im Zusammenhang mit überbetrieblichen Ausbildungsstätten, in den großen beruflichen
Schulzentren, bei den Trägern der berufsbegleitenden
Weiterqualifizierung. Das alles wird selbstverständlich
stattfinden. Das gehört zur Umsetzung des Gesetzes. Das
ist keine Frage der gesetzlichen Regelung, sondern eine
Frage von untergesetzlichen Maßnahmen im Prozess der
Umsetzung. Sowohl in den Handwerks- als auch in den
Industrie- und Handelskammern wird man sich große
Mühe geben, eine attraktive Infrastruktur aufzubauen,
weil Anerkennung nicht nur für die interessant ist, die
sie beantragen, sondern - weil es einen Fachkräftebedarf
gibt - auch für die, die die Anerkennungsverfahren
durchführen.
Ich kann Ihnen keine Zahlen nennen; aber es ist völlig
klar, dass für alle Beteiligten Möglichkeiten zur Weiterqualifizierung gegeben sein müssen. Die hierbei entstehenden Kosten - das wurde von Ihnen angesprochen werden denjenigen, für die diese Maßnahmen wichtig
sind, um überhaupt wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen, und die auf Unterstützung angewiesen sind, erstattet.
Also: Der Gesetzestext liegt vor. Viele Vorbereitungen sind längst im Gange. Das Wissen über Abschlüsse
zum Beispiel in Uganda - das habe ich eben angesprochen - wird in einer Wissens- bzw. Datenbank zusammengetragen, die das Wirtschaftsministerium derzeit
aufbaut und die immer weiterentwickelt wird. Dieses
Wissen wird dann auch den Kammern zur Verfügung gestellt werden. Es wird also einen zentralen Datenpool
auch über jene Länder geben, über die wir derzeit vielleicht noch nicht so viel Wissen in Deutschland haben.
Frau Alpers.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte eine Vorbemerkung machen: Frau Ministerin, wir freuen uns natürlich, dass das Gesetz nun endlich auf den Weg gebracht wird. Wir waren ja diejenigen, die 2007 dieses
Thema zum ersten Mal in den Bundestag gebracht haben.
({0})
- Es war so.
Ich möchte noch einmal auf die Entscheidungskompetenz zu sprechen kommen. Im Ausschuss und auch bei
den Anhörungen war immer wieder das zentrale Thema,
wer letztlich entscheidet. Es war lange in der Diskussion
- das hatten wir auch mit vorgeschlagen -, dass ein unabhängiges Entscheidungsgremium eingerichtet wird.
Nun sagen Sie, dass die Kriterien für die Entscheidungen, die dann für alle gelten, vom Wirtschaftsministerium zusammengetragen werden und die Kammern entscheiden sollen. Wir fragen uns: Warum wurde nicht
eine unabhängige Stelle eingerichtet? Nach welchen Kriterien entscheiden die Kammern? Ist es tatsächlich so,
dass die Unabhängigkeit gewährleistet ist?
In § 1 „Zweck des Gesetzes“ heißt es:
Dieses Gesetz dient der besseren Nutzung … für
den deutschen Arbeitsmarkt, …
Hierzu möchte ich Ihnen sagen: Ein wichtiger Zweck ist
auch die Integration von Menschen und die Anerkennung ihrer Leistungen. Es kann doch nicht sein, dass
Qualifikationen, die aktuell auf dem Arbeitsmarkt nicht
gebraucht werden, unter Umständen nicht so schnell anerkannt werden. Auf diese Weise wird es uns nicht gelingen, die Kompetenzen eines jeden Menschen anzuerkennen. Wie wollen Sie den Prozess also so ausgestalten,
dass die Anerkennung nicht von wirtschaftlichen Anforderungen in einzelnen Berufen und Branchen abhängig
gemacht wird?
Frau Ministerin.
Das Gesetz ist doch gerade das Instrument, das deutlich macht, dass Bedarf, Staatsangehörigkeit oder Ähnliches keine Kriterien sind, die bei der Prüfung eines entsprechenden Antrags eine Rolle spielen. Es geht nicht
um die Frage, ob in einer Branche jemand gebraucht
wird. Es geht nicht um die Frage, ob jemand diese oder
jene Staatsangehörigkeit hat. Es geht vielmehr um eine
systemimmanente Geschichte: Jemand bringt Qualifikationen mit, die bei uns zu einem bestimmten Berufsbild
passen. Referenz sind damit dieses Berufsbild und die
Qualifikationen, die damit verbunden sind. Diese muss
man nicht neu erfinden; sie lassen sich aus Ausbildungsordnungen und den darin enthaltenen Zielsetzungen und
damit verbundenen Kompetenzfeldern erschließen. Nun
ist die Aufgabe - wie übrigens immer schon, wenn ausländische akademische Abschlüsse bei der entsprechenden Prüfstelle der KMK geprüft wurden -, festzustellen,
ob es, wenn schon nicht Gleiches, so doch wenigstens
Gleichwertiges gibt.
Das, was Sie schildern, ist eine Problematik von früher. Damals hat man gesagt: Wir brauchen das nicht. Daher müssen wir es auch nicht prüfen. Niemand hat einen
Anspruch darauf, dass geprüft wird. - Jetzt besteht ein
Anspruch auf Prüfung.
Außerdem stellt sich die Frage, welche Stelle unabhängig ist. Es kann nur ein Netzwerk unterschiedlichster
Stellen sein, das über alle Informationen und Daten verfügt, die für eine Bewertung notwendig sind. Eine vom
Staat unabhängige Instanz sind die Kammern. Sie sind
zugleich diejenigen, die im Bereich der Ausbildungsberufe das meiste Wissen haben.
Um für die Kammern die erforderliche Dienstleistung
zu erbringen, habe ich mit dem Wirtschaftsminister
schon vor einigen Monaten besprochen, dass jetzt eine
solche zentrale Datenbank aufgebaut und immer wieder
aktualisiert wird. Sie steht übrigens nicht nur den Anerkennungsstellen zur Verfügung, sondern ist auch für alle
Bewerber von Interesse.
Ich halte die Entwicklung eines Netzwerks aus vielen
unterschiedlichen Stellen, die Verantwortung tragen, für
sehr praktikabel. Auch das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge gehört dazu. Da hier ganz unterschiedliche
Ressorts beteiligt sind, gibt es viel mehr Dynamik und
viel mehr Spielraum als bei einer zentralen Stelle, die
neu aufgebaut würde. Dort müsste man auch neue Kompetenz schaffen. In diesem Fall müssten Sie ab Verkündung des Gesetzes erst einmal zwei, drei Jahre ins Land
gehen lassen, bis Sie eine Behörde aufgebaut haben, die
über die notwendigen Kompetenzen verfügt.
Nachdem wir die für diesen Tagesordnungspunkt vorgesehene Zeit von einer halben Stunde deutlich überschritten haben, rufe ich jetzt als letzten Fragesteller den
Kollegen Röspel auf. Alle anderen Kolleginnen und
Kollegen haben im Übrigen schon die Gelegenheit gehabt. - Bitte schön.
Vielen Dank für die Großzügigkeit. - Frau Ministerin,
meine Frage lautet: Wie wird denn gewährleistet, dass
Antragsteller tatsächlich Anpassungs- und Qualifizierungsmaßnahmen absolvieren können? Werden sie einen
Anspruch auf solche Maßnahmen - möglicherweise im
Sinne eines Rechtsanspruchs - bekommen, und wie wird
sichergestellt, dass sie finanziell auch in der Lage sind,
solche Maßnahmen durchzuführen?
Frau Ministerin, bitte.
Es gibt einen Rechtsanspruch auf Prüfung der Anerkennung, keinen Rechtsanspruch auf Anpassungsweiterbildung. Es ist im Interesse derer, die einen Antrag
stellen, dass, wenn es um den Erwerb zusätzlicher Qualifikationen geht, diese zusätzlichen Qualifikationen auch
erworben werden können. Dafür wird es - davon bin ich
überzeugt - nicht nur bei den Kammern gute Angebote
geben. Ich habe bereits einige Institutionen genannt, die
in dem Bereich von Weiterbildung bzw. Weiterqualifizierung tätig sind. In diesem Zusammenhang gibt es die
zwei Wege, die schon genannt wurden. Wenn Ansprüche
auf Leistungen bestehen, werden die Kosten von der BA
erstattet. Ansonsten werden die Kosten von den Bewerbern getragen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/5120, 17/5171 ({0}) Wir verkürzen die Fragestunde um die überzogenen
Minuten, wie es üblich ist.
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich nach Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen auf Drucksache 17/5171 ({1}) auf.
Wir kommen zunächst zu den dringlichen Fragen im
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht Staatsminister Dr. Werner Hoyer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Enkelmann auf:
Welche Garantien und Zusagen machte der Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle bei seinem jetzt bekannt gewordenen Telefonat mit der Außenministerin der USA, vergleiche Süddeutsche Zeitung vom 21. März 2011, bezüglich
der Nutzung der Stützpunkte der USA in Deutschland zum
Einsatz gegen Libyen?
Herr Minister.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr verehrte Frau
Kollegin Enkelmann, am 18. März 2011 informierte die
amerikanische Außenministerin, Hillary Clinton, den
Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle,
telefonisch über die vorgesehene Nutzung von US-Militärstützpunkten in Deutschland im Rahmen des internationalen Militäreinsatzes in Libyen. Eine solche Nutzung
richtet sich nach dem Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954, dem NATO-Truppenstatut
vom 19. Juni 1951 und dem Zusatzabkommen zum
NATO-Truppenstatut vom 3. August 1959 in der Fassung vom 18. März 1993.
Der Bundesregierung liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die gegenwärtige Nutzung der amerikanischen Militärstützpunkte in Deutschland nicht in diesem
rechtlichen Rahmen erfolgt. Zusagen, die darüber hiStaatsminister Dr. Werner Hoyer
nausgehen würden, hat der Bundesminister nicht gegeben, geschweige denn irgendwelche geheimen Nebenabreden getroffen.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Enkelmann? - Bitte
schön.
Herzlichen Dank. - Die erste Nachfrage. Es geht hier
um die indirekte oder mittelbare Beteiligung Deutschlands am Kriegseinsatz in Libyen. Die Koordinierung
dieses Einsatzes erfolgt ja unter anderem über das
Afrika-Kommando der USA, dessen Stützpunkt in Stuttgart-Möhringen liegt. Inwieweit sind deutsche Behörden
bzw. Vertreter deutscher Behörden an der Planung des
Einsatzes im Afrika-Kommando oder anderweitig beteiligt?
Herr Staatsminister.
Gar nicht.
Deutsche Behörden oder Vertreter von deutschen Behörden sind also nicht beteiligt?
Nein.
Das war noch nicht die zweite Frage?
Das war nur eine Nachfrage.
Das war ein Zwiegespräch, das hier nicht gestattet ist,
Frau Enkelmann. Die zweite Frage können Sie jetzt stellen.
Das war nur eine Nachfrage, um das sicher verstanden zu haben, vor allen Dingen, damit es sicher im Protokoll steht.
Die zweite Frage betrifft den deutschen Luftraum.
Dort gibt es Überflugrechte nicht nur für amerikanische,
sondern zum Beispiel auch für dänische Militärmaschinen. Wie werden die erforderlichen Genehmigungen erteilt? Gibt es pauschale Genehmigungen für Überflüge,
oder werden die Genehmigungen im Einzelfall, für jeden
einzelnen Flug, erteilt?
Die Frage kann ich Ihnen hier nicht beantworten;
denn darauf habe ich mich nicht vorbereitet. Ich gehe davon aus, dass solche Genehmigungen in einer pauschalen Vereinbarung enthalten sind. Aber ich glaube, dass
jeder einzelne Flug, im zivilen wie im militärischen Bereich, angemeldet werden muss und entsprechend einem
Genehmigungsvorbehalt unterliegt. Deshalb kann ich
mir vorstellen, dass die Genehmigung im Einzelfall erteilt wird. Es wäre aber unseriös, wenn ich die Frage
jetzt abschließend beantworten würde. Sie bekommen
die präzise Antwort sofort im Anschluss schriftlich.
Ich weise darauf hin, dass natürlich nichts so sicher ist
wie das Protokoll der Protokollantinnen und Protokollanten des Deutschen Bundestages.
Frau Dağdelen, Sie haben eine Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Hoyer,
ich würde gerne wissen, wann und in welchem Umfang
die Strukturen der NATO in Deutschland für die Vorbereitung und Durchführung des Krieges in Libyen genutzt
wurden oder werden, zum Beispiel die NATO-Airbase in
Geilenkirchen in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen oder andere Einrichtungen und Kommandostrukturen.
Die Einrichtungen der Verbündeten einschließlich des
Nordatlantischen Bündnisses in Deutschland können
selbstverständlich genutzt werden; das ist so vereinbart.
Eine Beteiligung deutscher Staatsbürger daran gibt es
nicht. Deswegen sieht die Bundesregierung hier kein
Problem.
({0})
Frau Dağdelen, Sie haben nicht die Möglichkeit, zwei
Nachfragen zu stellen; das darf nur die ursprüngliche
Fragestellerin.
({0})
Die dringliche Frage 2 des Kollegen Omid Nouripour
wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur dringlichen Frage 3 der Kollegin
Keul:
Treffen die Berichte - vergleiche „Wir wünschen viel Erfolg“, Süddeutsche Zeitung vom 19. März 2011 - zu, dass die
derzeit im Mittelmeerraum stattfindenden AWACS-Aufklärungsflüge, die auch den libyschen Luftraum erfassen, unter
dem Mandat der Operation Active Endeavour laufen, und,
falls nein, auf welcher rechtlichen Grundlage findet ihr Einsatz statt?
Wenn ich darf, Frau Präsidentin, möchte ich die Antworten auf die beiden dringlichen Fragen von Frau Keul
zusammenfassen.
Dann rufe ich auch die dringliche Frage 4 auf:
Wurde im Rahmen der am letzten Wochenende gegen Libyen durchgeführten Luftschläge auf Informationen von
AWACS-Flugzeugen zurückgegriffen, an deren Flügen auch
deutsche Besatzungsmitglieder beteiligt waren, und wie
schließt die Bundesregierung aus, dass dies vorkommen wird?
Vielen Dank. - Auftrag der Operation Active Endeavour ist der Schutz gegen eine mögliche terroristische
Bedrohung im Mittelmeerraum. In diesem Zusammenhang erstellt die Operation Active Endeavour ein Lagebild und gleicht dieses mit denen von Partnern ab. Vor
dem Hintergrund der verstärkten Schiffsbewegungen im
zentralen Mittelmeer setzte Operationskommandeur
COM JFC Neapel seine Kräfte im Schwerpunkt im mittleren Mittelmeer ein. Hierzu gehörten seit Mitte 2010
regelmäßig auch NATO-AWACS-Flugzeuge.
Zwischen dem 12. und dem 19. März 2011 hat
SACEUR den im Rahmen von OAE eingesetzten
NATO-AWACS-Flugzeugen den Auftrag erteilt, auch
ein Luftlagebild zu Libyen zu erstellen. Dieser Auftrag
wurde ergänzend und außerhalb von OAE erteilt und
diente der Wahrnehmung der Verantwortung des
SACEUR für die Krisenfrüherkennung und den Schutz
des Bündnisgebietes. Das ist die Rechtsgrundlage für
das, was SACEUR hier angeordnet hatte.
Seit dem 19. März 2011 wird das Luftlagebild zu
Libyen durch nationale AWACS-Maschinen einzelner
Partner aufgebaut. Der NATO-AWACS-Einsatz unter
OAE erfolgt seitdem mit Aufklärungsschwerpunkt im
zentralen Mittelmeer ohne räumlichen oder inhaltlichen
Bezug zu Libyen. Durch die zeitgerechte Verlegung des
Aufklärungsschwerpunktes seit dem 19. März wurde ein
Beitrag der NATO-AWACS-Maschinen zu exekutiven
Handlungen der Koalition im Zusammenhang mit
Libyen ausgeschlossen.
Zur zweiten Frage. Bei der Vorbereitung der Luftschläge der Koalition der Willigen auf Ziele in Libyen
wurden weder NATO-Kräfte noch NATO-Informationsstränge genutzt. Die unter deutscher Beteiligung im Mittelmeerraum bis zum 22. März 2011 operierenden
AWACS-Flugzeuge lieferten mithin keinen Beitrag zur
militärischen Durchsetzung der UN-Sicherheitsratsresolution 1973 aus 2011. Durch die bereits erwähnte
zeitgerechte Verlegung des Aufklärungsschwerpunktes
seit dem 19. März wird ein Beitrag der NATO-AWACSMaschinen zu exekutiven Handlungen der Koalition ausgeschlossen.
Frau Keul, Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank. - Herr Staatsminister, das war eine weitere widersprüchliche Aussage. Wir haben einmal gehört,
dass die AWACS-Maschinen im Rahmen der Operation
Active Endeavour unterwegs sind. Der Staatssekretär im
Verteidigungsministerium Wolf hat uns das Gegenteil gesagt. Er hat gesagt, dass sie keinesfalls im Rahmen der
Operation Active Endeavour unterwegs gewesen sind.
Deswegen ist an dieser Stelle meine Frage: Wie kommt es
zu diesen Widersprüchen? Ist denn der Bundesregierung
nicht eindeutig klar, ob die AWACS-Maschinen nun auf
der Rechtsgrundlage der Operation Active Endeavour
dort sind? Die Maschinen sind, wenn ich Sie richtig verstanden habe, außerhalb der Operation Active Endeavour
vom SACEUR dorthin geschickt worden. Wäre das nicht
im Zusammenhang mit Libyen ein Einsatz, der nachträglich genehmigt werden müsste?
Nein, Frau Kollegin. Ich habe versucht - ich bin der
Meinung, es ist mir gelungen -, die Sequenz, die Abfolge der Einzelentscheidungen präzise darzustellen. Der
Einsatz vor dem 12. März war eindeutig im Rahmen der
Operation Active Endeavour. Dann gab es die Anordnung des SACEUR, vom 12. bis zum 19. März die Verantwortung des SACEUR für die Krisenfrüherkennung
und den Schutz des Bündnisgebietes außerhalb der Operation Active Endeavour wahrzunehmen. Es ist die legitime Aufgabe des SACEUR, die entsprechenden Mittel
des Bündnisses für diese seine Aufgabe einzusetzen.
Seit wenigen Tagen haben wir eine neue Rechtsgrundlage. Daraufhin wurde sofort entschieden, ab dem
19. März mithilfe nationaler AWACS-Maschinen einzelner Partner ein Luftlagebild zu Libyen aufzubauen. Der
verbliebene Teil des NATO-AWACS-Einsatzes im Rahmen der Operation Active Endeavour erfolgt im mittleren Mittelmeer und hat keinen direkten Bezug zu
Libyen.
Das ist eine klare Abfolge. Damit ist sichergestellt,
dass die Rechtsgrundlagen für das Tätigwerden deutschen Personals in NATO-AWACS-Flugzeugen glasklar
sind.
Sie haben eine zweite Nachfrage? - Bitte schön.
Oder habe ich jetzt vier Nachfragen?
Natürlich. Es waren zwei Fragen; es gibt insgesamt
vier Nachfragen.
Vielen Dank. - Ich möchte an der Stelle nachhaken.
Wie konnte denn die Bundesregierung zwischen dem
19. und dem 22. März, also gestern, sichergehen, dass
diese Informationen nicht bei dem Lufteinsatz in Libyen
zum Einsatz gekommen sind, also weitergeleitet wurKatja Keul
den? Der Verteidigungsminister hat uns heute hier im
Plenum deutlich erklärt, wie wichtig es aus verfassungsrechtlicher Sicht war, gleich gestern, am 22. März, die
Besatzungen der dortigen AWACS-Maschinen abzuziehen bzw. die Schiffe unter nationales Kommando zu stellen. Wenn das am 22. März verfassungsrechtlich notwendig war, warum dann nicht auch vom 19. bis zum
22. März?
Weil vom 19. bis zum 22. März die Aufgabe des
SACEUR, die ich eben beschrieben habe, von nationalen
AWACS-Flugzeugen wahrgenommen wurde, nicht von
den NATO-AWACS-Flugzeugen aus Geilenkirchen.
Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.
Mir ist eines nicht ganz klar: Wenn die AWACS-Besatzungen im Mittelmeer jetzt abgezogen werden müssen, weil Deutschland den Flugeinsatz über Libyen nicht
mitträgt, wie können dann die gleichen Besatzungen in
Afghanistan in AWACS-Maschinen eingesetzt werden,
um zum Beispiel verbliebene OEF-Kräfte Großbritanniens und Amerikas weiter zu unterstützen? So steht es
nämlich in der Begründung des uns heute vorgelegten
Mandates. Deutschland hat die OEF-Mission im letzten
Jahr beendet. Wie kann es also sein, dass das, was in
Afghanistan möglich sein soll, in Libyen nicht möglich
ist?
Das ist jetzt, glaube ich, eine falsche Interpretation
dessen, was in dem Mandatstext steht. Hier geht es um
die Unterstützung von ISAF und nicht um die von OEF
in Afghanistan.
Frau Keul, Sie haben noch eine Nachfrage.
In der Begründung des Antrags steht ausdrücklich
- das können Sie gerne nachlesen -: zur Unterstützung
der Kräfte von OEF am Boden. Wie erklären Sie sich
das?
Der entscheidende Punkt ist, dass aufgrund des Begründungstextes eine operative Unterstützung von OEFEinsätzen nicht möglich ist. Dazu haben die AWACSFlugzeuge, die über Afghanistan fliegen, im Übrigen
auch gar nicht die Möglichkeit, weil sie weder im Hinblick auf den Bodenkampf eingesetzt werden können
noch eine unmittelbare Feuerleitfunktion wahrnehmen
können.
Frau Dağdelen.
Vielen Dank. - Meine Nachfrage zur dringlichen
Frage 4 meiner Kollegin Keul richtet sich an Herrn
Hoyer. Die AWACS-Überwachung wurde seitens der
Deutschen aufgrund des Krieges gegen das Gaddafi-Regime eingestellt. Die Bundeswehr hat sich aus den Einsätzen des NATO-Verbandes im Mittelmeer ganz zurückgezogen. Zwei Schiffe und zwei Boote mit mehr als
500 Soldaten wurden bereits am Dienstag wieder unter
deutsches Kommando gestellt. Der Abzug von 60 bis
70 deutschen Besatzungsmitgliedern der NATOAWACS-Maschinen im Mittelmeerraum läuft bereits.
Deshalb möchte ich gerne fragen: Kann die Bundesregierung ausschließen, dass darüber hinaus Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr in NATO-Stäben mit der
Planung und Durchführung von Aktionen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Libyen befasst sind?
Die Frage der Präsenz in NATO-Stäben ist gesondert
geregelt. Sie unterliegt keiner Mandatierung. Von daher
war es erforderlich, dass die Bundesregierung zum Beispiel im Hinblick auf bestimmte schwimmende Einheiten, die im Mittelmeer unterwegs waren, durch ihre notwendigen Entscheidungen von vornherein klarstellt,
dass eine Involvierung in die Linienaktivitäten nicht
möglich ist. Alles andere, auch nur ein Verbleib dieser
Schiffe in der Region oder die Beteiligung an entsprechenden Operationen, hätte eine unmittelbare Beschlussfassung des Deutschen Bundestages erforderlich gemacht oder, im Falle einer Dringlichkeitsentscheidung
der Bundesregierung, die nachträgliche Befassung des
Bundestages. Das ist nicht geschehen und war auch nicht
erforderlich.
Frau Höger hat eine Nachfrage. - Bitte schön.
Vielen Dank. - Seit dem 7. März 2011 waren deutsche Soldaten an den AWACS-Überwachungsflügen im
Luftraum über Libyen beteiligt. Ich möchte nachfragen,
unter welchem Mandat das in dem Zeitraum bis zum
19. oder 23. März 2011 stattgefunden hat. Oder hat es
überhaupt kein Mandat gegeben? Oder wissen Sie das
selber nicht so genau?
Ich habe das eben sehr präzise dargestellt. Ich erinnere an die Antwort auf die Frage der Kollegin Keul,
in der ich die Sequenz deutlich gemacht habe: vor dem
12. März, zwischen dem 12. März und dem 19. März,
nach dem 19. März bzw. jetzt im Zusammenhang mit der
Operation, die die Koalition der Willigen in Libyen
durchführt. Dementsprechend wurde der Beitrag deutscher Soldaten rechtlich abgesichert. Von daher gibt es
keine neue Lage, die uns zu einer neuen Bewertung der
Aktion vor dem 12. März veranlassen würde.
Herzlichen Dank.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt
zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 5 der Kollegin Höger
auf:
Welche Bedeutung haben Daten, die von den nach Angaben der NATO seit dem 7. März 2011 den libyschen Luftraum
auch unter Einsatz deutschen Personals überwachenden
AWACS-Flugzeugen gesammelt wurden, für die Einsatzplanung und Zielfindung bei den Angriffen auf libysche Ziele
nach dem Inkrafttreten der UN-Resolution 1973?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin, mit Verlaub, ohne dem Präsidium
oder sonst jemandem im Hohen Hause zu nahe treten zu
wollen, möchte ich sagen: Eigentlich sind die dringlichen Fragen 5 und 6 gerade schon beantwortet worden.
Ich habe aber nicht übel Lust, die Antworten von meiner
Seite mit einem Hinweis zu ergänzen.
Hinsichtlich der Frage, welche Bedeutung die Daten
haben, die nach Angaben der NATO seit dem 7. März
2011 im libyschen Luftraum gesammelt worden sind,
möchte ich Bezug nehmen auf die Äußerungen von
Staatsminister Hoyer, denen ich inhaltlich voll zustimme. Ich weise darauf hin, dass die unter deutscher
Beteiligung im Mittelmeerraum bis zum 22. März 2011
operierenden AWACS-Flugzeuge mithin keinen Beitrag
zur militärischen Durchsetzung der Sicherheitsresolution
1973 geliefert haben.
Das „übel Lust“ bezieht sich auf Folgendes: Wir hatten in diesem Haus zu Zeiten der rot-grünen Regierung
eine intensive Diskussion darüber, ob es für den Einsatz
von AWACS-Flugzeugen eines Mandats bedarf oder
nicht. Die Fraktion der Freien Demokratischen Partei im
Deutschen Bundestag hat - interessanterweise ohne ein
Mandat - in einer Situation geklagt, in der bereits ein
Konflikt, nämlich der Irak-Konflikt, unterwegs war.
Diese Flugzeuge wurden mit der Begründung geschickt,
sie würden nur Routineaufgaben erfüllen. Daraus schließen wir: In der Tat gibt es Routineaufgaben. AWACSFlugzeuge steigen nicht erst dann in die Luft, wenn eine
Sicherheitsratsresolution vorhanden ist. Sie sollen auch
dazu dienen, dass für unser Bündnis, für die NATO Sicherheit im eigenen Territorium möglich ist. Das ist eine
rund um die Uhr bestehende Aufgabe.
Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Urteil aus
dem Jahre 2008, das Sie sicherlich gelesen haben, ich
glaube, in den Ziffern 76 und 78 ausgeführt, dass konkrete Bedrohungslagen vorhanden sind. Es hat dann, im
Gegensatz zur Einschätzung der damaligen Bundesregierung, für diesen Fall eine konkrete Bedrohung in
Anspruch genommen.
Gerade weil wir dieses Urteil kennen und, wie der
Bundesverteidigungsminister heute ausgeführt hat, sehr
korrekt beachten wollen und werden, hatten wir alle
Dinge ausgeschlossen, die außerhalb einer rein routinemäßigen, unser aller Sicherheit dienenden Operation von
AWACS hätten entstanden sein können. Das heißt, weder sind Daten an die Coalition of the Willing zu geben
gewesen, noch ist - sobald die Gefahr bestanden hätte,
dass im Rahmen einer Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 1973 eine Operation notwendig gewesen
wäre - aus der Sicht einiger dies den Vereinten Nationen
anzeigenden Mitgliedstaaten der NATO, insbesondere
Großbritanniens, Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika sowie einiger anderer, klargestellt und
sichergestellt worden, dass Daten hier nicht ausgetauscht
werden. Dies wurde dann durch andere Aufklärungsmittel der jeweiligen Nationalstaaten sichergestellt.
Sie haben, wenn ich das unterstreichen darf, weiterhin
die Frage gestellt, wie das Verhältnis zwischen der Operation Active Endeavour und dieser Operation ist. Auch
hier ist es im Rahmen der von uns dem SACEUR, dem
Supreme Allied Commander Europe, dem Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa, übertragenen
Routinekompetenz möglich, dass er Flüge anordnet. Er
kann jedoch nicht beispielsweise ein Mandat wie die
Operation Active Endeavour ausdehnen; denn dieses
Mandat beruht auf Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen und ist ein Antiterrormandat. Gerade aus diesem
Grunde hat er zwar für die Ausübung dieses Antiterrormandats, das vom Deutschen Bundestag mandatiert worden ist, die Kompetenz, dass er AWACS-Flugzeuge einsetzt. Allerdings dürfen diese dann sozusagen nicht das
Mandat ausweiten. Deswegen ist hier eine strikte Trennung erfolgt.
Ich darf Ihnen versichern, dass die Bundesregierung
in voller Kenntnis der Rechts- und Sachlage sehr exakt
und präzise die Regeln beachtet, die wir uns in diesem
Hause auferlegt haben und die uns das Völkerrecht sowie das Bundesverfassungsgericht explizit auferlegt haben.
Sie haben das Recht zu einer Nachfrage.
Vielen Dank. - Es ist richtig: Das Mandat Operation
Active Endeavour umfasst den Kampf gegen den Terror
und nicht die Überwachung des Luftraums über Libyen.
In dem Urteil, das die FDP erstritten hat - das haben Sie
nicht zitiert -, ist auch ausgeführt worden: Eine Mandatierung ist nötig, wenn greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffneter
Auseinandersetzung vorliegen. Das war auch schon vor
dem 19. März gegeben, weil sich die Auseinandersetzungen in Libyen zuspitzten. Wenn im Luftraum von Libyen Daten unter Beteiligung deutscher Soldatinnen und
Soldaten gesammelt worden sind, dann sehe ich schon
eine Mandatierungsnotwendigkeit.
Frau Kollegin Höger, ich darf Ihnen in aller Freundlichkeit, aber auch mit aller Entschiedenheit widersprechen. Ich bitte Sie, noch einmal den zeitlichen Ablauf zu
überdenken und sich die Frage zu stellen: Ist am
19. März bereits ein NATO-Aktivierungsmandat für
AWACS ergangen? Nein. Wir wissen, dass zu diesem
Zeitpunkt in Brüssel noch intensiv über diese Frage gerungen worden ist und dass das Mandat zwischenzeitlich, am 22. März, erteilt worden ist. In dem Augenblick,
in dem ein entsprechendes Mandat - Mandat nicht im
Sinne einer Mandatserteilung für Deutschland durch den
Deutschen Bundestag, sondern ein Mandat der NATO für eine Operation der der NATO unterstellten Kräfte ergangen ist, haben wir unsere Kräfte aus diesen möglicherweise zur Mandatserfüllung benötigten Mitteln und
Fähigkeiten zurückgezogen.
Das, was Sie für die Zeit zwischen dem 19. und
22. März implizieren, würde erfordern, dass eine aktive
Informationshandlung an andere Stellen außerhalb der
NATO - nationale Stellen sind Stellen außerhalb der
NATO - ergangen ist. Wir hatten sehr deutlich gemacht,
dass eine solche Vorgehensweise mit uns nicht durchzuführen sein wird, auch unter Hinweis auf die Notwendigkeit eines Mandats. Ich nehme die Möglichkeit wahr
- ohne Ihnen direkt aus den NATO-Treffen zu berichten -, Ihnen die notwendigen Informationen zu liefern
und bin derjenige, der die entsprechenden Erklärungen
im Kopf gehabt und mündlich gegeben hat. Insofern
können Sie sicher sein, dass die Informationen so präzise
gemacht worden sind, wie es notwendig ist. Ich gehe
auch davon aus, dass sie ebenso präzise beachtet worden
sind.
Haben Sie eine zweite Nachfrage zu dieser Antwort?
Ich würde gerne wissen, welche Daten genau aufgeklärt worden sind und an welche Stellen diese in der
NATO weitergegeben wurden.
Zunächst möchte ich noch etwas zu Libyen sagen.
Wir haben ein den Mittelmeerraum betreffendes Mandat
zur Antiterrorbekämpfung im Rahmen von Active
Endeavour. An diesem Mandat nimmt auch die Bundesrepublik Deutschland teil. Das ist ein parlamentarisch
akzeptiertes und genehmigtes Mandat. Wir haben auch
nicht die Absicht, dieses Mandat nicht weiter fortzuführen.
Bis zu der Situation der Operation, die sich jetzt in
Verfolgung der Resolution 1973 des Sicherheitsrats der
Vereinten Nationen ergeben hat, ist uns auf dem Lagebild, das zu erstellen ist, nicht der Eindruck entstanden,
Libyen sei ein Land, in dem per se der Terrorismus keine
Rolle spielen könnte. Menschen, die Herrn Gaddafi bereits länger kennen, könnten mich diesbezüglich sicherlich mit einigen Hinweisen versorgen. Das heißt nicht,
dass in diesem Zusammenhang konkret auf ein bestimmtes Land geachtet worden ist; es stand vielmehr die gesamte Region einschließlich des Mittelmeerraumes im
Fokus.
Wir haben nicht zugestimmt, dass weitere Informationen zur Durchsetzung der Flugverbotszone - ich muss
das von unserer Seite noch einmal unterstreichen - weitergegeben werden. Uns liegen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass sie etwa weitergegeben worden
wären. Die militärische Notwendigkeit ist - das ist jetzt
nur nachrichtlich, Frau Präsidentin - außerhalb des Rahmens der Kenntnisse und der Zuständigkeiten der Bundesregierung. Es gibt aber für diejenigen, die konkrete
Operationen beabsichtigen, planen und diese auch
durchgeführt haben, andere Möglichkeiten, sich Informationen zu verschaffen.
Für eine weitere Nachfrage hat die Kollegin Dağdelen
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär
Schmidt, ich würde gerne wissen, wer auf die Daten, die
man im Rahmen dieses AWACS-Einsatzes ermittelt hat,
Zugriff hat. Sind darunter auch die NATO-Mitglieder,
zum Beispiel die USA, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Dänemark, die sich an der Bombardierung Libyens beteiligen?
Vielen Dank. - Ich will noch einmal etwas sagen, das
hoffentlich zu mehr Klarheit über die ermittelten Daten
beiträgt. Kollege Hoyer hat bereits darauf hingewiesen,
dass der Aufklärungsschwerpunkt der Operation Active
Endeavour seit dem 19. März 2011 - es gab da noch kein
AWACS-Mandat innerhalb der NATO - im zentralen
Mittelmeer gewesen ist. Hierbei - ich hatte das angedeutet - spielte der durchaus vorhandene räumliche Bezug
zu Libyen und anderen Ländern eine Rolle. Das heißt, ab
diesem Zeitpunkt wurden auch die Schwerpunkte der
Aufklärung von OAE ganz bewusst von Libyen wegverlegt.
Das gilt im Übrigen auch für die im Rahmen von
OAE tätigen Schiffe der Marine. Über die Situation seit
diesem Zeitpunkt kann ich aber nur Interpretationen anstellen; ich kann das nicht im Detail sagen. Ich gehe
auch nicht davon aus, dass in dieser Zeit Daten angefallen sind, die für eine Luftbildaufklärung hinsichtlich Libyens verwendbar gewesen wären; Sie gestatten mir die
Unschärfe des Wortes „verwendbar“. Ich meine, dass
solche Daten nicht in Zusammenhang mit einer Operation gebracht werden können.
Der Kollege Ströbele stellt eine weitere Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe eine ganz präzise Frage:
Können Sie ausschließen, dass der Bundesregierung
oder einer der ihr unterstellten Behörden, insbesondere
der Bundeswehr und anderen Sicherheitsbehörden, aus
der Aufklärung durch AWACS-Flugzeuge seit Beginn
der Aufstandsbewegung und des Bürgerkrieges Informationen bzw. Daten über Flugbewegungen in und über Libyen, über Zerstörungen, etwa von Stadtteilen, oder
Ähnliches - ganz egal, in welchem Auftrag diese aufgenommen worden sind - gegeben worden sind?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Ich bedanke mich für die Frage. Ich liebe insbesondere die Fragen, die mit „Können Sie ausschließen“ beginnen. Diese Zwischenbemerkung gegenüber dem Kollegen Ströbele sei mir erlaubt.
Ich habe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dem so
ist. Ich bitte allerdings darum, dass ich das, soweit sich
anderes ergibt, schriftlich nachweisen kann, wobei mir
der Zusammenhang zur Ausgangsfrage allerdings nicht
ganz klar ist. Sie wollen ja wissen, ob wir etwas erfahren
haben. Da stellt sich auch die Frage, durch wen wir etwas hätten erfahren können.
({0})
Frau Präsidentin, soweit der Inhalt von Fragen dem
Geheimschutz unterliegt, würde ich das entsprechende
Verfahren bitte zur Anwendung kommen lassen.
Gut, das halten wir fest. - Die letzte Nachfrage zu
dieser Frage stellt der Kollege Hunko. Danach fahren
wir mit Frage 6 fort.
Ich habe eine Nachfrage hinsichtlich der Frage meiner Kollegin Dağdelen. Sie hat ja gefragt, wer, zum Beispiel welche NATO-Staaten, auf die Daten Zugriff haben, und nicht, wofür die Daten verwendbar sind.
Könnten Sie freundlicherweise noch einmal präzisieren,
wer auf die Daten zugreifen kann?
Die von NATO-Stellen erhobenen Daten sind grundsätzlich zur Verwendung der NATO. Sie wertet sie auch
aus. Am Beispiel der Operation Active Endeavour ist erkennbar, dass die NATO die Daten im Rahmen eines
NATO-Mandats erhebt, natürlich durch nationale Stellen
oder Schiffe.
Ich darf darauf hinweisen, dass es sich im Gegensatz
zu AWACS, wo es einen integrierten Verband gibt, also
Flugzeuge, die im unmittelbaren Auftrag und unter Kommando der NATO fliegen, bei dem maritimen Teil überwiegend bzw. fast ausschließlich - mir ist nicht bekannt,
dass die NATO eigene Schiffe hätte - um Schiffe der Mitgliedstaaten handelt, so auch um Schiffe der deutschen
Marine. Beispielsweise nutzen Fregatten, die im Rahmen
der Operation Atalanta eingesetzt wurden und vom Horn
von Afrika zurückverlegt werden, diese Zeit, um diese
Aufklärungsaufgabe mit zu erfüllen. Wir haben also
Schiffe, die diese Aufgabe erfüllen, zwar nicht nebenbei,
aber auch nicht als Hauptaufgabe. Es gibt aber auch
Schiffe - wir nennen sie Flottendienstboote -, die ein großes Spektrum von Fähigkeiten in dieser Richtung haben.
Auch im Rahmen der Operation Active Endeavour war
im Frühjahr zeitweise ein Flottendienstboot mit einbezogen.
Dann kommen wir zur dringlichen Frage 6 der Kollegin Höger:
In welchem Umfang und zu welcher Zeit ist die Bundeswehr seit Beginn der Beobachtung des libyschen Luftraums
mit Boden- und Besatzungspersonal in den Einsatz der
AWACS-Flugzeuge und damit möglicherweise in die Vorbereitung der Intervention gegen Libyen involviert gewesen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, Ihre Frage beantworte ich wie folgt:
Die im Rahmen der Beteiligung an AWACS im Mittelmeerraum eingesetzten deutschen Soldaten haben keinen
Beitrag zur Vorbereitung der Intervention in Libyen geleistet. Das deutsche Kontingent unter dem Mandat der
Operation Active Endeavour, nach dessen Stärke Sie fragen, umfasste im Zeitraum vom 28. Februar 2011 bis
zum 22. März 2011 bis zu 75 Soldatinnen und Soldaten.
Ihre erste Nachfrage.
Wie viele dieser 60 bis 70 Soldaten waren an der
Operation Active Endeavour beteiligt, und wie viele waren an der Überwachung des Luftraums über Libyen beteiligt?
Hier muss man unterscheiden: Am 22. März 2011, in
dem Augenblick, in dem die NATO ihren Operationsplan gebilligt und die Aufgabe übernommen hat, war
niemand mehr beteiligt. Was die Zeit vorher betrifft
- Kollege Hoyer hat gerade auf die Unterscheidung zwischen der Operation Active Endeavour einerseits und der
allgemeinen, routinemäßigen, parallel dazu stattfindenden Luftraumüberwachung andererseits hingewiesen -,
kann ich Ihnen jetzt keine tieferen Details zur Beteiligung deutscher Kräfte nennen. Ich bin aber gerne bereit,
dies nachzuliefern und zahlenmäßig aufzuschlüsseln. Es
wird sich vermutlich in der gleichen Größenordnung bewegen, das heißt bei bis zu 75 Personen. Aber ich bitte
darum, Frau Präsidentin, diese Information schriftlich
nachliefern zu dürfen.
Herzlichen Dank. - Sie haben die Möglichkeit zu einer zweiten Nachfrage.
Ich danke Ihnen erst einmal dafür, dass Sie das nachliefern. Falls Sie meine zweite Frage auch nicht beantworten können, können Sie dies dabei gleich mit einbeziehen. War auch deutsches Bodenpersonal an den
AWACS-Überwachungen beteiligt?
Lassen Sie mich Folgendes sagen, Frau Kollegin: Ich
gehe davon aus, dass Bodenpersonal beteiligt war. Schon
allein deswegen: Sie wissen, dass die Hauptbasis der
NATO-AWACS-Flugzeuge, wo immer die Flugzeuge
konkret gestartet sind, in Geilenkirchen bei Aachen ist.
Ich gehe davon aus, dass zur Vorbereitung dieser Flüge
zwangsläufig auch in Aachen Bodenpersonal beteiligt
wurde, zum Beispiel Tankwarte. Inwieweit aufgenommene Daten weitergegeben worden sind, müsste ich Ihnen nachliefern. Ich gehe davon aus, dass die Erfüllung
der Aufgaben im gesamten Umfeld der fliegerischen Betreuung, die Auswertung sowie die Vor- und Nachbereitung, weiteres Personal erfordert haben.
Klammer auf: Sie haben die Frage zwar nicht gestellt,
aber Sie haben insinuiert, dass dann, wenn man 300 in
einem Mandat fordert, dabei alle diejenigen hinzugezählt werden müssen, die nicht im Flugzeug sitzen, sondern drumherum sind und helfen, dass das Flugzeug
fliegt - Klammer zu.
Zu einer letzten Nachfrage hat die Kollegin Keul das
Wort.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär Schmidt, es ist ja
etwas verwirrend. Deswegen nochmals die Nachfrage,
um zu sehen, ob ich das auch richtig verstanden habe.
Sie sagen, bis zum 19. März sind die AWACS und die
entsprechenden Schiffe in einem Bereich eingesetzt gewesen, in dem sie unter anderem libyschen Luftraum mit
überwacht haben, weil das zum allgemeinen Mandat dazugehörte. Am 19. März, also mit Beginn des Einsatzes
der Koalition der Willigen, haben sich die AWACS und
die Schiffe mit deutschen Besatzungen, wie Sie sagen,
irgendwo in einen Bereich im Mittelmeer zurückgezogen, in dem sie außerhalb des Bereichs waren, von dem
aus sie libyschen Luftraum überwachen konnten. Habe
ich das richtig verstanden und, wenn ja, wohin sind sie
denn gefahren? Wo waren sie dann außerhalb der Reichweite?
Ich darf das für die AWACS-Flugzeuge sagen. Wir
haben ja einen Teil dieser Flugzeuge mit den Pilzen
drauf, die sehr augenfällig sind und die unter NATOKommando stehen - das ist eine Zahl von, ich glaube,
16 oder 17 Flugzeugen -, und dann nationale Flugzeuge
amerikanischer, britischer und französischer Herkunft.
Es gibt dann noch einige weitere andere Typen. Aber ich
nehme einmal diese drei Nationen, weil sie ja die Hauptträger der Umsetzung der Resolution 1973 sind. In der
Tat wurde das Luftlagebild Libyens ab dem 19. März
von nationalen AWACS-Flugzeugen und nicht mehr von
NATO-Flugzeugen erstellt.
Ich kann Ihnen die Flugrouten der AWACS-Flugzeuge
der NATO nun nicht genau nennen. Aber wenn man davon ausgeht - ich mag mich korrigieren, wenn ich jetzt etwas Falsches sage -, dass die Eindringtiefe eines
AWACS-Flugzeuges sichtmäßig 400 Kilometer beträgt
- ich glaube, das ist sogar etwas zu weit -, dann zeigt
sich, dass das Mittelmeer durchaus auch Räume hat, von
denen aus man, wenn man dort fliegt, keinen Einblick in
diese Region mehr hat.
Es wurde hier aufgeschrieben: das zentrale Mittelmeer. Ich würde einmal sagen, dass es das Gebiet nördlich des Einzugsgebiets Große Syrte usw. vor Libyen ist.
Wie groß die Entfernung genau ist, kann ich Ihnen nicht
sagen. Ich weiß auch nicht, ob das genau rekonstruierbar
ist; aber sie sind mit erheblichem Sicherheitsabstand geflogen.
Danke, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Die dringliche Frage 7 der Abgeordneten Vogler wird
schriftlich beantwortet.
Nachdem die dringlichen Fragen aufgerufen und beantwortet worden sind, rufe ich jetzt die Fragen auf
Drucksache 17/5120 in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Die Frage 1 des Abgeordneten Tom Koenigs, die
Frage 2 des Abgeordneten Andrej Hunko, die Frage 3
des Abgeordneten Garrelt Duin, die Fragen 4 und 5 der
Abgeordneten Ingrid Nestle und die Frage 6 der Abgeordneten Bärbel Höhn werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Barchmann auf:
In welcher Form werden die Instrumente und Programme
des Bundes, die zur Überwindung von migrationsspezifischen
Hindernissen bei der Integration in Ausbildung, Arbeit oder
Selbstständigkeit dienen, von Einsparungen im Bundeshaus11202
Vizepräsidentin Petra Pau
halt und bei der Bundesagentur für Arbeit aktuell und mittelfristig betroffen sein?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, wenn Sie einverstanden sind, würde ich
die Fragen 7 und 8 gern gemeinsam beantworten.
({0})
- Vielen Dank.
Dann rufe ich die Frage 8 des Abgeordneten
Barchmann auf:
Welche inhaltlichen Veränderungen bei den Instrumenten
und Programmen des Zweiten und Dritten Buches Sozialgesetzbuch mit migrationsspezifischen Anteilen bzw. den Instrumenten und Programmen, an denen Personen mit Migrationshintergrund besonders partizipieren, sind angesichts der von
der Bundesregierung geplanten Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente derzeit geplant?
Zunächst einmal zu dem Zweiten und Dritten Sozialgesetzbuch und den darin geregelten Instrumentarien.
Nach dem Aufbau des Sozialgesetzbuchs wird keine spezifische Zielgruppe herausgegriffen, sondern es geht um
das Instrument insgesamt. Bei dem Instrument geht es
darum, zu erreichen, generell Langzeitarbeitslosigkeit zu
vermeiden oder auch zu beseitigen und individuelle Beschäftigungsfähigkeiten wiederherzustellen. In diesem
Zusammenhang bemüht man sich natürlich auch sehr
stark darum, individuelle migrationsspezifische Hemmnisse zu beseitigen. Anfängliche Defizite in der Ausbildung der Mitarbeiter wurden in der Zwischenzeit durch
viele Bemühungen der Bundesagentur und der Jobcenter
behoben.
Insoweit werden die Kürzungen auch davon abhängen, wie die Arbeitsmarktinstrumente in der Zukunft
aussehen. Die Abstimmung hierüber haben wir in der
Bundesregierung noch nicht abgeschlossen, sodass ich
am heutigen Tage auch noch keine spezielle Aussage
dazu machen kann. Ich erwarte, dass wir in der nächsten
Zeit recht viel mehr dazu sagen können.
Ein besonderes Programm ist das Netzwerk „Integration durch Qualifizierung“, IQ. Hierbei geht es um die
berufliche Integration und die Beratung von Zuwanderern. Dieses Netzwerk soll nach dem derzeitigen Stand
fortgesetzt werden. Im Jahre 2011 ist es mit
10 Millionen Euro dotiert, wobei 7 Millionen Euro aus
dem Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und 3 Millionen Euro aus dem Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung kommen. Die Bundesregierung plant, dieses Netzwerk wenigstens bis
Ende 2014 fortzusetzen.
Sie haben die Möglichkeit zu insgesamt vier Nachfragen. Bitte.
Ich verzichte auf Nachfragen.
Sie verzichten. - Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Stefan
Schwartze, die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten
Markus Kurth, die Frage 13 des Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert und die Frage 14 der Abgeordneten Sabine
Zimmermann sollen schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Die Fragen 15 und 16 der Abgeordneten Kerstin Tack
sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung der
Fragen steht wiederum der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Nach welchen Kriterien, Bezug nehmend auf meine
mündlichen Fragen auf Bundestagsdrucksache 17/4812 und
17/5015 - vergleiche Plenarprotokoll 17/92 und 17/95 -,
wählen Bundeswehr-Scharfschützen in Afghanistan Zielpersonen aus, die sie aus dem Hinterhalt nach oft langem getarnten Warten aus mehreren 100 Metern Entfernung militärisch
bekämpfen, also töten, auch wenn diese nicht „unmittelbar an
Feindseligkeiten beteiligt“ sind, sondern sich auf Wegen oder
Feldern bewegen und nichtsahnend ungedeckt ins freie
Schussfeld treten, und wenn somit eine vom Scharfschützen
nur durchs Fernglas aktuell beobachtete unmittelbare Beteiligung der einzelnen Personen an Feindseligkeiten als Auswahlkriterium faktisch entfällt, nach welchen sonstigen Kriterien, Fotos, Beschreibungen oder Ähnlichem erkennen die
Scharfschützen „ihre Zielperson“ sonst und schließen versehentlichen tödlichen militärischen Einsatz gegen nicht unmittelbar an Feindseligkeiten beteiligte, also unbeteiligte, harmlose Zivilpersonen wirkungsvoll aus?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Ströbele, die Entscheidung zur Bekämpfung eines legitimen militärischen Ziels ist nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls zu bewerten. Ausgangspunkt ist dabei regelmäßig die Beurteilung, ob es sich um eine
Person handelt, die sich unmittelbar an Feindseligkeiten
beteiligt. Zur Vermeidung der Gefährdung von unbeteiligten Zivilpersonen muss dies vor der Anwendung militärischer Gewalt durch entsprechende Beobachtungen sichergestellt sein.
Scharfschützen der Bundeswehr in Afghanistan stehen keine Befugnisse zur Anwendung militärischer Gewalt zu, die über die Befugnisse der anderen Kräfte des
deutschen Einsatzkontingents ISAF hinausgehen. Auf
der Grundlage der völkerrechtlichen Ermächtigung
durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und des
Mandates des Deutschen Bundestages gelten das interParl. Staatssekretär Christian Schmidt
nationale operative ISAF-Regelwerk und auch die Taschenkarte für den deutschen Anteil an ISAF.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, das ist die graue Theorie. Ich bedanke mich zunächst einmal bei Ihnen - das ist ja die
dritte Frage, die ich zu diesem Thema gestellt habe -,
dass Sie mir jetzt noch einmal schriftlich beantwortet haben, wie viele Scharfschützen die Bundeswehr in den
letzten Jahren bis heute in Afghanistan eingesetzt hat.
Ich habe zur Kenntnis genommen, dass sich die Anzahl
von 2008 bis 2010 verdreifacht hat. Dadurch wird diese
Anfrage, die ich hier jetzt noch einmal gestellt habe, besonders dringlich.
Sie wissen - darauf habe ich mich ja bezogen -, dass
der Stern von einem Scharfschützen berichtet hat, der in
Afghanistan eingesetzt ist, und er hat auch darüber berichtet, dass noch mehrere solcher Scharfschützen mit
einem solchen Auftrag dort sind. Der Auftrag soll darin
bestehen, dass sich der Scharfschütze an einer Durchgangsstraße postiert und möglicherweise ein bis zwei
Tage im Gras liegt und wartet, bis ein vermutlicher,
feindlicher Kämpfer auftaucht, um ihn dann aus großer
Entfernung - 800 Meter oder ähnlich weit entfernt - zu
bekämpfen, das heißt, zu erschießen.
Alle meine Fragen zielen darauf hin: Nach welchen
Kriterien entscheiden Scharfschützen - nicht allgemein;
das könnte ich auch nachlesen -, wenn sie alleine dort
warten, sich also nicht in einer Kampfhandlung befinden
- sie warten dort, bis jemand kommt -, ob es sich bei der
Person, die sie an bzw. auf der Straße sehen - meinetwegen einen jungen Mann, der sich vielleicht an der Straße
zu schaffen macht -, um eine Person handelt, gegen die
sie militärisch, das heißt, durch Töten, vorgehen?
Ich habe besonderen Anlass zu dieser Frage: Ich habe
den Spiegel von dieser Woche gelesen, dessen Lektüre
ich Ihnen dringend empfehlen kann. Er enthält einen längeren Artikel über US-amerikanische NATO-Soldaten,
die sich geradezu einen Spaß daraus gemacht haben, dort
Unschuldige, also Nichtkämpfer, zu töten und sich anschließend, indem sie die Köpfe der Getöteten hochhalten, als Trophäenjäger zu präsentieren. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Wie kann man ausschließen, dass
durch diese Scharfschützen auch Unschuldige getroffen
werden, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind?
Sehr geehrter Kollege Ströbele, diesen Spiegel-Artikel haben sicherlich viele Kollegen im Haus gelesen.
Wir alle teilen die Abscheu gegenüber dem, was an völlig inakzeptablen und auch rechtlich in keiner Weise zu
rechtfertigenden menschenverachtenden Handlungen
dort stattgefunden hat. Wenn ich richtig informiert bin,
bezieht sich der Artikel auf ein Gerichtsverfahren gegen
die betroffenen amerikanischen Soldaten. Soweit ich
weiß, hat sich die Regierung der Vereinigten Staaten von
Amerika bereits entschuldigt und davon distanziert. Ob
schon eine Verurteilung erfolgt ist, ist mir nicht bekannt.
Im Zusammenhang mit der Frage der Völkerrechtsmäßigkeit von militärischen Handlungen, die Sie angesprochen haben, gehe ich davon aus, dass wir sehr scharf
zwischen Angelegenheiten trennen müssen, die die amerikanische Armee innerhalb ihrer Verantwortlichkeiten
zu behandeln hat, und dem nach Recht und Gesetz abgesicherten Verhalten von Soldaten der Bundeswehr. Falls
hier ein Zusammenhang hergestellt werden sollte, würde
ich ihn in aller Schärfe zurückweisen.
Die von Ihnen gestellte Frage hat auch damit zu tun,
inwieweit man das Völkerrecht in extenso nutzt. Das
Völkerrecht sieht vor, dass bei einer direkten Beteiligung
an Feindseligkeiten eine Person, die aufgrund ihrer Rolle
und Funktion bei den gegnerischen Kräften dauerhaft an
den Feindseligkeiten beteiligt ist - das ist mit „continuous combat function“ gemeint -, auch außerhalb der
Teilnahme an konkreten Feindseligkeiten ein legitimes
militärisches Ziel ist. Landläufig heißt das, dass die Anführer, die Rädelsführer auch dann bekämpft werden
können, wenn es keine unmittelbaren Kampfhandlungen
und Gefechte gibt.
Das ist eine der Grundlagen im Zusammenhang mit
dem sogenannten Targeted Killing. Wir haben bei anderer Gelegenheit in diesem Hause darüber gesprochen,
dass sich die Bundeswehr an dem Targeted Killing nicht
beteiligt. Ziel und Auftrag der Bundeswehr ist es nicht,
die auf der Liste genannten Personen - sie ist als „JPEL
list“ bekannt - zu töten, sondern sie zu verhaften und
festzusetzen.
Scharfschützen haben - das habe ich bereits angedeutet - über Aufgaben und Funktion der Bundeswehr insgesamt im ISAF-Einsatz und innerhalb des nationalen
und völkerrechtlichen Regelwerkes hinaus keine Befugnisse. Sie haben deshalb nur die Befugnis, bei einer unmittelbaren Verknüpfung mit Kampfhandlungen tätig zu
werden.
Ich weiß nicht, wo die Bilder, die Sie im Zusammenhang mit dem Artikel im Stern ansprechen, entstanden
sind und wer dafür verantwortlich ist. Ich kann Ihnen
aber versichern, dass es nach Ausbildung, Ausrüstung
und Befehlslage Scharfschützen, die in schwierigen Gefechtssituationen durchaus zum Einsatz kommen und die
auch benötigt werden, nicht erlaubt ist, nur dazuliegen
und so lange zu warten, bis einer vorbeikommt, der ein
Gegner sein könnte. Dies ist nach dem nationalen Regelwerk für die deutschen Soldaten ausgeschlossen.
Kollege Ströbele, bevor Sie Ihre zweite Nachfrage
stellen, erlaube ich mir den Hinweis, dass wir noch zwei
Minuten in der Fragestunde haben. Es wäre also schön,
wenn wir es schafften, Frage und Antwort in ein angemessenes zeitliches Verhältnis zu stellen.
Meine zweite Nachfrage ist noch kürzer. - Herr
Staatssekretär Schmidt, die Scharfschützen, von denen
ich rede - die Tätigkeit eines Scharfschützen ist im Stern
beschrieben -, befinden sich nicht in aktuellen Kampfhandlungen, sondern liegen friedlich oder nicht friedlich
im Gras - genau so, wie ich es beschrieben habe -, ohne
dass um sie herum Kampfhandlungen stattfinden, und
warten so lange, bis Personen auftauchen. Über diese
Personen wissen sie nichts. Sie kennen weder ihre Herkunft noch ihre Tätigkeit. Allein von der visuellen Feststellung her gehen sie gegen diese vor. So wird das von
einem der Scharfschützen beschrieben. Wollen Sie ausschließen, dass solche Scharfschützen auch gegen Unschuldige, an Kampfhandlungen nicht Beteiligte mit militärischen Mitteln vorgehen bzw. diese töten?
Frau Präsidentin, im Rahmen der nationalen Regularien ist es den Scharfschützen der Bundeswehr in Afghanistan untersagt, Personen, die sich dauerhaft an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligen, also die
genannte „continuous combat function“ innehaben, außerhalb einer Situation, an der sie an konkreten Feindseligkeiten teilnehmen, durch gezielte Waffenwirkung zu
bekämpfen.
Danke, Herr Staatssekretär.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Die übrigen
Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Konkrete Anforderungen insbesondere des
Bundesumweltministeriums für die Sicherheitsüberprüfung deutscher Atomkraftwerke
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dorothee Menzner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir erleben
seit Monaten - und im Moment mit wachsender Geschwindigkeit - eine Achterbahnfahrt in Sachen Atomenergie und energetischer Nutzung von Atomtechnik.
Ich möchte Sie an den 28. Oktober letzten Jahres erinnern. Da haben wir in diesem Haus trotz massiver Bedenken vieler Kolleginnen und Kollegen mehrheitlich
die Laufzeiten verlängert. Wir haben die Laufzeiten nach
einem Verfahren verlängert, das mit den Produzenten,
den Atomkonzernen ausgekungelt war. Man hätte meinen können, dass eine Sicherheitsüberprüfung der Kraftwerke vorgenommen worden wäre, bevor man zu einem
solchen Schritt kommt. Am 11. März haben wir dann die
unfassbare dreifache Katastrophe von Japan erlebt, nicht
nur Erdbeben und Tsunami, sondern auch die atomare
Katastrophe in Fukushima. Ich möchte betonen, auch
wenn sie heute nicht mehr die Headline in allen Nachrichten bestimmt: Diese Katastrophe ist beileibe nicht
beendet. Wir kennen bis heute nicht ihren Ausgang.
Gregor Gysi sagte letzte Woche: Die Vorkommnisse
in Fukushima sind „eine Zäsur, ein Zivilisationsbruch in
der Geschichte des industriell-kapitalistischen Zeitalters“. - Er hat recht. Zu diesem Schluss komme ich,
wenn ich tagtäglich die Nachrichten, die noch immer
reich an Hiobsbotschaften sind, verfolge. Das Ganze hat
einen ungewissen Ausgang und auf jeden Fall fatale Folgen für viele Japanerinnen und Japaner.
Jetzt liegt ein Papier vor, erstellt im Zusammenhang
mit dem dreimonatigen sogenannten Moratorium. Die
Arbeitsgruppe Reaktorsicherheit hat erste Überlegungen
angestellt. So weit, so gut. In dem Papier steht viel Vernünftiges. Bei manchem frage ich mich allerdings, wieso
man das nicht schon längst im Vorfeld des Oktobers auf
die Tagesordnung gesetzt hat.
({0})
Es steht dort zum Beispiel, dass eine Erdbebenauslegung
oder eine Hochwasserauslegung nach dem Stand von
Wissenschaft und Technik erfolgen soll. Was ist denn,
bitte schön, daran so Besonderes? Weiter hinten liest
man, dass eine Notsteuerstelle selbst im Falle einer atomaren Kontamination betretbar und bedienbar sein
muss. Ich behaupte: Das ist eigentlich etwas Normales.
Das erwarten die Menschen mit Fug und Recht.
({1})
Wie gesagt, in diesem Papier steht viel Vernünftiges.
Es wird auch angemerkt, dass man die Ereignisse von
Fukushima abwarten, vielleicht nachsteuern und noch
das eine oder andere aufnehmen muss. Aber eines wird
auch deutlich: Selbst wenn man alles, was in diesem Papier aufgeführt ist, wirklich eins zu eins umsetzen
würde, und nicht alles wieder weichspült und das eine
oder andere herausstreicht, weil die Maßnahme ach so
teuer wird, weil sie nicht leistbar ist oder weil sie die Gewinne der Konzerne schmälert, bleibt die energetische
Nutzung von Atomenergie ein unsicheres Verfahren;
({2})
denn Menschen sind nun einmal fehlbar, und zwar sowohl bei der Planung als auch bei der Umsetzung von
Dingen, sie sind fehlbar in ihrem Handeln. Daher kann
uns das beste Sicherheitskonzept - die Japaner hatten Sicherheitskonzepte, die uns immer als beispielgebend
hingestellt wurden - nicht davor bewahren, dass es zu
solch unfassbaren Katastrophen kommt. Wenn man sich
die Geschichte atomarer Unfälle anschaut, dann stellt
man fest, dass es meistens Lappalien oder Dinge, auf die
kein Mensch vorher gekommen ist, waren, die zu den
Unfällen geführt haben.
Auch wenn Sie jetzt solche engagierten Papiere in Ihrem Haus erarbeiten, was ich, wie gesagt, zuerst einmal
gut finde, frage ich mich schon: Wieso müssen wir wochenlang bohren und fragen, was es mit der Auffälligkeit
im Kühlkreislauf des Kraftwerks Grafenrheinfeld auf
sich hat, wo Ultraschallaufnahmen gezeigt haben, dass
es einen Riss in den Rohren geben könnte? Es behauptet
niemand, dass es tatsächlich einen Riss gibt, aber es
könnte einen geben. Es dauerte Monate, bis Sie das
AKW heruntergefahren haben, um genauer nachzuschauen. Ich möchte weiterhin an die Probleme in Philippsburg in den letzten anderthalb Jahren erinnern, die
heute deutlich wurden.
Die Frage wird sein, wie wir nach dem dreimonatigen
Moratorium damit umgehen und wie es weitergeht. Die
Menschen erwarten klare Positionen. Sie wollen aus der
Atomenergie aussteigen, und zwar unverzüglich und unumkehrbar.
({3})
Dass Sie es mit viel Gegenwind zu tun haben, erleben
Sie im Moment Montag für Montag bei den Mahnwachen, und das werden Sie am kommenden Samstag bei
den Großdemos erleben. Sie erleben es auch dadurch,
dass heute die Bravo nach 55 Jahren zum ersten Mal in
ihrer Geschichte ein Poster mit einem politischen Inhalt
bringt.
({4})
Wir werden die Proteste auf jeden Fall begleiten und
weiter Druck machen.
Ich danke.
({5})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ursula Heinen-Esser.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist wirklich unzweifelhaft: Die nuklearen Folgen der Erdbebenkatastrophe in Japan bedeuten einen Einschnitt, zuallererst selbstverständlich für Japan, aber auch für die ganze
Welt. Die Katastrophe hat ganz deutlich gezeigt, dass Ereignisse auch jenseits der bislang berücksichtigten Szenarien eintreten können.
Vielleicht noch ein paar Punkte zum Sachverhalt, weil
es im Weiteren darum gehen wird - so verstehe ich das
Thema der Aktuellen Stunde -, welche Sicherheitsüberprüfungen es in unseren deutschen Kernkraftwerken geben wird.
Bei allen betroffenen Reaktoren gab es ein Zusammentreffen eines extremen Erdbebens mit einem Tsunami.
Das Zusammenwirken hat zum Ausfall der externen
Stromversorgung geführt. In der Folge wurden die notwendigen Sicherheitseinrichtungen zerstört. Die Kernkühlung bei den Blöcken 1 bis 3 am Standort Fukushima
fiel aus. Die Blöcke 4 bis 6 waren zu diesem Zeitpunkt abgeschaltet, weil sie in Revision waren. Gleichwohl machen sie uns heute auch große Probleme, wie Sie den Medien entnehmen können.
In den Blöcken 1 bis 3 waren die Reaktorkerne zeitweise nicht mehr mit Wasser bedeckt mit der Folge von
schweren Kernschäden bis hin zu einer beginnenden
Kernschmelze. Infolgedessen wurde Wasserstoff freigesetzt. Es kam zu Explosionen. Die Reaktorgebäude wurden schwer beschädigt. Sie alle kennen die Bilder.
Obwohl bereits das Erdbeben mit einer Stärke von 9
eine deutliche Überschreitung der Auslegung darstellte,
kam es aber erst durch den anschließenden Tsunami zu
dieser dramatischen Entwicklung. Aus diesem Zusammenwirken von zwei Ereignissen, die deutlich über die
Auslegung der Reaktoren hinausging, resultiert die Notwendigkeit, die Lage bei uns in Deutschland vorbehaltlos zu analysieren.
Die Ereignisse in Japan haben uns gezeigt, dass das
sogenannte Restrisiko durchaus existent ist und dass es
sich hierbei nicht nur um eine rechnerische Größe handelt. Es gibt eine Vielzahl von Fragestellungen, die im
Lichte von Japan gegebenenfalls neu bewertet werden
müssen. Dies gilt vor allem für die Frage der Bewertung
der Sicherheit und der Bewertung der Sicherheitsstandards.
Deshalb hat die Bundesregierung, hat die Bundeskanzlerin und haben die Ministerpräsidenten der Bundesländer mit Kernkraftwerken beschlossen, die Sicherheit aller Kernkraftwerke in Deutschland im Lichte der
Ereignisse von Japan zu überprüfen. Sie haben ferner beschlossen, die sieben ältesten Kernkraftwerke für einen
Zeitraum von drei Monaten vom Netz zu nehmen. Wir
haben das schon intensiv diskutiert. Für die dreimonatige Betriebseinstellung als vorläufige Maßnahme sieht
das Atomgesetz § 19 Abs. 3 als Rechtsgrundlage vor.
Aufgrund dieser Rechtsgrundlage kann bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts die einstweilige Betriebseinstellung angeordnet werden.
In der Zeit des Moratoriums werden sich zwei Kommissionen intensiv mit der Frage der Sicherheit befassen. Dies ist zum einen die Reaktor-Sicherheitskommission, die beim Bundesumweltminister angesiedelt ist.
Das ist ein Gremium unabhängiger Experten. Diese wird
gemeinsam mit den Ländern, die jeweils aufsichtsführende Stelle sind, eine Überprüfung aller Kernkraftwerke
durchführen. Sie wird sich insbesondere mit der Frage
beschäftigen, ob die bisherigen Auslegungsgrenzen richtig definiert sind. Dabei geht es nicht nur um die Frage
der Stärke eines Erdbebens oder um die Frage der Höhe
des Hochwassers, sondern darum, ob die bisherigen
Auslegungsgrenzen richtig definiert sind und wie robust
unsere deutschen Kernkraftwerke gegenüber auslegungsüberschreitenden Ereignissen sind.
Gerade eben wurde noch einmal erwähnt: Das Papier,
das eine Vielzahl von Themen enthält und das immer
wieder öffentlich diskutiert wird, dieses Papier, das bei
uns im Haus erstellt worden ist, war eine Ideensammlung für die Reaktor-Sicherheitskommission, um zu sagen: Das könnten Themen sein, die zusätzlich berücksichtigt werden sollten.
Hierbei geht es insbesondere - auch wenn es ein bisschen technisch ist, es ist aber besonders zu erwähnen um die Schutzziele Abschaltbarkeit, Kühlung der Brennelemente im Reaktordruckbehälter sowie im Brennelementebecken und Begrenzung der Freisetzung radioaktiver Stoffe. Das sind drei Themen, die wir Tag für Tag als
große Probleme mit verheerenden Wirkungen in Fukushima beobachten können. In diese Betrachtung sind natürlich auch naturbedingte Ereignisse wie Erdbeben oder
Hochwasser, aber auch Explosionsdruckwellen, gezielte
Angriffe, Abstürze etc. einzubeziehen.
Neben der Reaktor-Sicherheitskommission, die sich
mit den technischen Fragen, mit den Auslegungsgrenzen
und mit dem Restrisiko befasst, wird sich eine neue
Ethikkommission mit den gesellschaftlichen Fragen der
Atomtechnologie auseinandersetzen.
Den Vorsitz wird der ehemalige Umweltminister Professor Klaus Töpfer zusammen mit dem Präsidenten der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Kleiner,
übernehmen. Diese Ethikkommission wird die Aufgabe
haben, Risiken zu bewerten und entsprechend einzuordnen. Das heißt, sie wird sich natürlich mit der Frage der
Sicherheit der Kernkraftwerke befassen, aber auf der anderen Seite auch mit der Schlüssigkeit in der Frage: Wie
kann man den Ausstieg mit Augenmaß so vollziehen,
dass der Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren
Energien praktikabel und vernünftig ist,
({0})
und wie lässt sich vermeiden, dass zum Beispiel durch
den Import von Strom aus Kernenergie nach Deutschland Risiken eingegangen werden,
({1})
die vielleicht höher zu bewerten sind als die Risiken bei
der Produktion von Strom aus Kernenergie in Deutschland?
({2})
- Herr Kelber, Sie müssen sich auch einmal mit ein paar
Wahrheiten befassen.
({3})
Sie können nicht von heute auf morgen Deutschland
komplett von der Stromversorgung abhängen. Das funktioniert einfach nicht.
({4})
Über diese Folgen wissen Sie auch Bescheid. Wenn Sie
heute im Ausschuss gewesen wären, hätten Sie auch das
eine oder andere dazugelernt.
Es geht um die entscheidende Frage, dass Sicherheit
eben nicht in umfassender Weise ausrechenbar ist - ich
habe es vorhin schon gesagt -, sondern dass das am
Ende eine gesellschaftlich-politische Wertung ist. Mit
dieser Frage wird sich die Ethikkommission befassen.
({5})
Beide Gremien werden in den nächsten drei Monaten
überlegen, welche Lehren aus der Katastrophe in Fukushima tatsächlich zu ziehen sind.
Gestatten Sie mir noch einen Hinweis auf die internationale Situation. Die Internationale Atomenergie-Organisation hat angekündigt, neue Richtlinien der nuklearen
Sicherheit zu entwickeln. China hat seine Neubaupläne
vorerst gestoppt - das ist, finde ich, ein klares Zeichen und eine Sicherheitsprüfung angekündigt. Auf Einladung
von EU-Energiekommissar Oettinger haben die Regierungsvertreter aus dem Energiebereich über Sicherheitsfragen debattiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel macht
die Frage der Sicherheit von Kernkraftwerken zu einem
wichtigen Thema auch auf dem Europäischen Rat am
Ende dieser Woche.
Es gibt international, sicherlich aber auch national einen breiten Konsens darüber, dass die Risiken von Kernenergie neu bewertet werden müssen. Ich habe die Bitte
an die Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, auch hier im Bundestag einen solchen Konsens mit
zu suchen
({6})
und zu sagen: Hier geht es um entscheidende wissenschaftlich-gesellschaftliche Fragen. Dazu lade ich Sie
herzlich ein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin, ich habe mich eben gefragt: Wo waren
Sie eigentlich vor wenigen Monaten, als die Entscheidung darüber anstand, ob der Konsens, der im Jahr 2000/01
bereits gefunden worden war - einen solchen Konsens
mahnen Sie hier an -, wieder aufgeschnürt werden soll?
Wo haben Sie sich da eingebracht?
Wir brauchen an dieser Stelle nicht zwei weitere
Kommissionen; wir brauchen ein selbstbewusstes Parlament, das seine Aufgabe wahrnimmt.
({0})
Eine schlechte Regierung kann nur durch ein gutes Gesetz ausgeglichen werden, und dazu sind Sie jetzt aufgefordert.
({1})
Sie werden morgen das erste Mal die Möglichkeit bekommen, zwei entsprechenden Gesetzentwürfen zuzustimmen. Das Angebot steht weiter: Wenn wir uns denn
einig sind, dass es ein Fehler gewesen ist, was Sie hier
mit Ihrer Mehrheit vor wenigen Monaten beschlossen
haben, dann lassen Sie es uns rückgängig machen, und
zwar so schnell wie möglich!
({2})
Was sollen diese Kommissionen eigentlich bringen?
Eine Ethikkommission! Was wurde die letzten Jahrzehnte in Deutschland eigentlich diskutiert? Wenn man
wissen will, was Herr Töpfer zum Thema Kernenergie
und Atomtechnologie sagt, kann man das nachlesen.
Wenn man hätte wissen wollen, was die Kirchen in
Deutschland über dieses Thema denken, dann hätte man
es im Oktober nachlesen können. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, bitte lassen Sie sich nicht auf diese Verzögerungs-, auf diese Verschleierungstaktik ein, sondern nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr und nehmen Sie zur
Kenntnis, was in der Bundesrepublik Deutschland bereits an ethischen Grundsätzen entwickelt worden ist!
({3})
Hinsichtlich der geplanten Sicherheitskommission
frage ich Sie: Ist es nicht doch angebracht gewesen, dass
wir im Umweltausschuss, als es um die Auswertung der
sehr ausführlichen Sachverständigenanhörung zur Laufzeitverlängerung ging, sehr emotional diskutiert haben?
Lesen Sie noch einmal die Anhörungsprotokolle nach,
die vor einigen Monaten erstellt wurden. Sie werden
feststellen, dass dort sämtliche Sicherheitsrisiken angesprochen wurden. Sie haben sich schlichtweg darüber
hinweggesetzt und sich geweigert, sich mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen.
({4})
Ich habe bei der Schlussberatung einen Brief des
schleswig-holsteinischen Justizministers vorgelesen,
weil der Bundesumweltminister womöglich den Argumenten von Rot-Grün nicht glaubte. Wenige Tage vor
der Schlussabstimmung hier im Parlament hat er darin
dem Bundesumweltminister dringend dazu geraten, vor
einer Laufzeitverlängerung Verbesserungen bei den Altmeilern vorzuschreiben und die Laufzeitverlängerung
erst zu genehmigen, wenn diese erfüllt sind. Der Bundesumweltminister hat da gelacht. Jetzt sagt er, es gebe
eine neue Sicherheitslage. Das ist keine glaubwürdige
Politik.
({5})
Der schleswig-holsteinische Justizminister hat da beispielsweise Dinge geschrieben, die Sie mittlerweile in
Ihre Ideensammlung aufgenommen haben. Er hat Ihnen
nämlich attestiert, dass die Themen „Flugzeugabstürze“
und „externe Ereignisse“ in Ihrem Gesetz nicht berücksichtigt wurden und der Sicherheitsstandard gegenüber
den vorherigen Regelungen sogar noch deutlich abgeschwächt worden ist. Der Bundesumweltminister hat da
gelacht, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das kann man
ihm, wie ich finde, nicht durchgehen lassen. Er muss erklären, wie der plötzliche Sinneswandel zustande gekommen ist.
({6})
Eigentlich war es ja noch schlimmer: Sie von der
Koalition haben nicht nur diese Argumente nicht berücksichtigt, sondern Sie haben noch eins draufgesetzt: Sie
sind einen Deal eingegangen und haben einen Vertrag
geschlossen, in dem Sie die Haftung der vier großen
Konzerne für Sicherheitsnachforderungen auf 500 Millionen Euro begrenzt haben. Sie sind ihnen bei den Sicherheitsanforderungen entgegengekommen, obwohl Sie
wussten, dass Nachbesserungen notwendig sind. Sie
wollten verhindern, dass sie in die Enge gedrängt werden und diese Altmeiler abschalten müssen. Dies ist ein
Versagen der Politik auf ganzer Linie.
({7})
Sie haben darüber hinaus das kerntechnische Regelwerk negiert und einen der Cheflobbyisten der deutschen
Atomwirtschaft - das ist, wie ich finde, das eigentlich
Denkwürdige - zum Abteilungsleiter gemacht, der über
die einzurichtende Sicherheitskommission wachen soll.
Das kann doch nicht wahr sein! Das ist nichts anderes,
als den Bock zum Gärtner zu machen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es noch
einmal: Das Parlament ist der Ort, in den Diskussionen
um Ethik und elementare Sicherheitsfragen der deutschen Bevölkerung gehören. Insofern fordere ich Sie
auf: Nehmen Sie Ihre Aufgabe wahr! Lassen Sie uns hier
diskutieren! Lassen Sie uns hier möglichst schnell abstimmen! Auf diese Weise können wir gerne zu einem
Konsens kommen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Kauch hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Opposition zeigt, dass sie ein heißes Herz hat. Aber die
Frage ist, ob sie auch einen kühlen Kopf hat. Nachdem
ich Herrn Miersch und Frau Menzner gehört habe, muss
ich sagen: Das alles passt nicht so ganz zusammen. Frau
Menzner redet so, als wenn wir sofort, noch heute, aus
der Kernkraft aussteigen könnten.
({0})
Herr Miersch erinnert sich offensichtlich schon ein bisschen mehr an das, was Rot-Grün gemacht hat: Rot-Grün
ist nämlich nicht von heute auf morgen aus der Kernkraft
ausgestiegen. Das stimmt,
({1})
auch wenn andere Redner hier plötzlich so tun, als wäre
das möglich.
({2})
Ich erinnere daran, dass Rot-Grün einen Deal gemacht hat. Rot-Grün hat einen Vertrag mit den Kernkraftwerksbetreibern abgeschlossen. Darin stand: Wir
steigen über einen Zeitraum von 20 Jahren aus. Dafür
garantieren wir, dass die Sicherheitsphilosophie und,
von wenigen Einzelmaßnahmen abgesehen, die sonstigen Sicherheitsniveaus der Kernkraftwerke so bleiben,
wie sie heute sind. ({3})
Das war Ihr schmutziger Deal gegen die Sicherheit von
Kernkraftwerken.
({4})
Dagegen hat die Koalition im letzten Oktober mit der
Einführung des § 7 d in das Atomgesetz zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen von den Kernkraftwerksbetreibern
verlangt. Wir haben mehr Sicherheit ins Gesetz geschrieben. Sie haben hingegen weniger Sicherheit in einen
Vertrag geschrieben. Das ist die Wahrheit, die hier auch
einmal gesagt werden muss.
({5})
Die Opposition stellt sich aufs hohe Ross. Sie hat
schon immer alles gewusst.
({6})
Auch Sie sollten verstehen, dass sich mit Japan etwas
verändert hat.
({7})
Eine Veränderung ist, dass wir über die Sicherheitspuffer
reden müssen, die bei unseren Szenarien, was passieren
kann, gesetzt wurden. Das kerntechnische Regelwerk,
das Herr Gabriel in Kraft setzen wollte, muss vor dem
Hintergrund von Japan ebenfalls überprüft werden. Es
geht nicht nur darum, die Kernkraftwerke daraufhin zu
überprüfen, ob sie im genehmigten Betrieb sicher sind
- das stellt dieses kerntechnische Regelwerk sicher -,
sondern auch um die Frage, ob das Regelwerk selbst
noch den Anforderungen genügt. Das muss überprüft
werden. Diese Aufgabe wird im Rahmen dessen wahrgenommen, was die Bundesregierung macht. Dafür müssen wir alle umdenken - auch Sie, meine Damen und
Herren.
({8})
Die Sicherheitsüberprüfung ist notwendig, weil wir
die gleichen Risiken nach Japan anders bewerten müssen, als das vorher gemacht worden ist.
({9})
- Das ist hier auch von Ihnen anders bewertet worden,
liebe Damen und Herren von der Koalition.
({10})
- Von der Opposition. - Hätten Sie schon in Ihrer damaligen Koalition diese Einschätzung gehabt und gewusst,
wie man diese Risiken nach Japan zu bewerten hat, wäre
es nämlich Ihre Pflicht und Schuldigkeit gewesen, die
Kernkraftwerke abzuschalten, anstatt 20 Jahre dauernde
Ausstiegsszenarien zu machen.
({11})
Das ist die Unredlichkeit der Opposition in diesem Haus.
({12})
Diese Koalition hat verstanden, dass wir den Bereich
Kernkraftwerke überdenken müssen, dass es zu neuen
Regelwerken kommen muss. Es ist richtig, dass diese
Koalition eine Kommission mit unabhängigen Experten
eingesetzt hat - auch mit solchen, die mit der Beaufsichtigung des jeweiligen Kraftwerks bisher nicht betraut
waren.
Wenn ein Kraftwerk nicht den neuen Sicherheitsanforderungen entspricht, gibt es die Möglichkeit, es nachzurüsten. Falls eine solche Nachrüstung nicht möglich
oder wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, wird dieses Kernkraftwerk aus Sicherheitsgründen abgeschaltet. Das wird
das Ergebnis des Moratoriums sein.
Meine Damen und Herren, Sie sollten hier weniger
mit Schaum vor dem Mund reden
({13})
und mehr darüber, welche Sicherheitsanforderungen tatsächlich erfüllt werden müssen. Auch unter den Gesichtspunkten, die die SPD hier in den Raum gestellt hat,
würden diese Kernkraftwerke noch zehn Jahre laufen,
und Sie hätten die gleiche Verpflichtung, zur Sicherheitsdiskussion beizutragen. Sie haben sich jahrelang
nur mit dem Thema Abschalten beschäftigt, aber nicht
mit der Frage, welches Sicherheitsniveau in diesen zehn
Jahren notwendig ist.
({14})
Das ist genauso unsere Verantwortung.
In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um Laufzeiten, sondern auch um die Sicherheit der Kraftwerke,
die in der Übergangszeit noch laufen müssen,
({15})
weil wir eben nicht von heute auf morgen aus der Kernkraft herauskommen.
({16})
Wer das der Bevölkerung weismachen will, der lügt die
Bevölkerung an.
({17})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Krischer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kauch, Sie haben durch die Japan-Katastrophe
überhaupt nichts verstanden.
({0})
Sie halten hier die gleiche Rede wie vor vier Monaten,
statt die Größe zu haben, zu sagen: Wir haben uns geirrt;
wir haben vielleicht eine falsche Einschätzung gehabt. Sie haben schlicht und ergreifend nichts verstanden.
({1})
Gestatten Sie mir eine weitere Vorbemerkung. Für die
heutige Fragestunde waren 30 Fragen zur Sicherheit der
Atomkraftwerke und zu konkreten Sicherheitsproblemen
eingereicht worden. Diese Fragen wurden nicht zugelassen. Das mag nach der Geschäftsordnung korrekt sein;
aber es zeigt, dass sich die Bundesregierung, genauso
wie heute Morgen im Umweltausschuss, weigert, in eine
Debatte über die konkreten Probleme in den Atomkraftwerken einzutreten. Daran wird deutlich: Das Vertuschen und Wegdrücken geht schon wieder los.
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben vorhin gehört,
dass für das Auftreten eines GAUs in Form einer Kernschmelze eine Wahrscheinlichkeit von ein paar Hunderttausend Jahren gilt. Jetzt haben wir schon zwei innerhalb
von 25 Jahren erlebt. Wer angesichts dessen nicht anfängt, nachzudenken, und nicht die Größe hat, zu sagen:
„Wir haben uns geirrt; wir müssen etwas ändern“, der
hat wirklich nichts verstanden.
({3})
Der Vorfall hat sich jetzt nicht in einem untergehenden System wie der damaligen Sowjetunion, sondern im
Hightechland Japan ereignet. Wir alle sitzen erschrocken
und schockiert vor den Fernsehbildschirmen und sehen
zu, wie man hilflos versucht, die Reaktoren mit Wasser
aus Wasserschläuchen und von Hubschraubern aus zu
kühlen. Die Hilflosigkeit zeigt doch eigentlich nur eines:
Diese Technologie ist unbeherrschbar, und sie verzeiht
keine Fehler. Deshalb müssen wir sie schnellstmöglich
hinter uns lassen.
({4})
Was im Moment in Japan passiert, ist auch in
Deutschland vorstellbar. Denn die eigentliche Ursache
der Vorfälle in den Reaktoren waren nicht der Tsunami
oder das Erdbeben, sondern der Ausfall der Stromversorgung und damit der Kühlung. Dafür sind sehr viele
Auslöser vorstellbar, auch in Deutschland, zum Beispiel
ein Flugzeugabsturz, eine Überschwemmung oder auch
anderes, worüber wir heute noch gar nicht reden können.
Aber all das war auch schon im Oktober letzten Jahres
bekannt, als Sie die Laufzeitverlängerung beschlossen
haben und nicht über dieses Thema reden wollten.
({5})
Ein weiteres Versäumnis hat der Kollege Miersch bereits angesprochen. Es gibt ein kerntechnisches Regelwerk; aber Sie weigern sich beharrlich, es in Kraft zu
setzen. Ich kann das nicht nachvollziehen. Obwohl es
dieses Regelwerk gibt, ziehen Sie es vor, das Regelwerk
der 60er- und 70er-Jahre anzuwenden. Dafür gibt es eine
Erklärung: Wenn Sie das neue kerntechnische Regelwerk in Kraft setzen würden, würde das erhebliche Sicherheitsauflagen bedeuten, und damit würden etliche
Anlagen zusätzlich zu den alten vom Netz gehen. Genau
das wollen Sie nicht, weil Sie immer noch an den Atomkonzernen kleben.
({6})
Ich könnte hier über viele Schwachstellen und Sicherheitsmängel in Atomkraftwerken berichten: über fehlenden Feuerschutz, fehlenden Erdbebenschutz, fehlende
Notstandswarte. All das ist Realität in deutschen Atomkraftwerken.
({7})
Die Kollegen im Umweltausschuss haben heute zur
Kenntnis nehmen müssen, dass es noch nicht einmal ein
meldepflichtiges Ereignis ist, wenn unbemerkt
10 Prozent des Kühlmittels verloren gehen. Das ist offensichtlich ein völlig normaler Vorgang. Ich mag mir
gar nicht ausmalen, was sonst noch alles in Atomkraftwerken passiert, ohne dass Behörden und Öffentlichkeit
davon erfahren.
({8})
Sie wissen, dass Sie mit dieser fragwürdigen Atomnummer nicht mehr durchkommen. Deshalb gibt es jetzt
das fragwürdige dreimonatige Moratorium. Ich frage
mich: Was wollen Sie in drei Monaten herausfinden?
Die Überprüfung dauert viel länger. Wenn Ihr Vorhaben
seriös sein sollte, müssten Sie einen viel längeren Zeitraum vorsehen.
Außerdem soll die Überprüfung - das ist wirklich der
Gipfel - unter der Federführung von Herrn Hennenhöfer
- er sitzt hinter der Regierungsbank -, Exlobbyist der
Atomkraft, heute der oberste Atomaufseher, stattfinden.
({9})
Wenn Sie es mit der Sicherheitsüberprüfung ernst meinen würden, dann müssten wir Ihnen sagen: Sie haben
den Frosch beauftragt, den Sumpf trockenzulegen.
({10})
Jetzt wurde eine sogenannte Ethikkommission eingesetzt. Ich muss ehrlich sagen: Als ich gestern die entsprechende Meldung gelesen habe, habe ich das nicht
geglaubt. Ist die gesellschaftliche Debatte der letzten
30 Jahre eigentlich an Ihnen vorbeigegangen? Haben Sie
nicht gelesen, was Kirchen, Verbände und Institutionen
zum Thema „Atomkraft und Ethik“ gesagt haben? Nein,
haben Sie offensichtlich nicht. Das Einzige, was Sie mit
der Einsetzung der Ethikkommission bezwecken wollen,
ist: Sie wollen herausfinden, wie viel Atomkraft man
dem deutschen Volk zumuten kann, damit die Union und
die FDP noch so gerade an der Macht bleiben können.
Das ist der wahre Zweck dieser Ethikkommission.
({11})
Kollege Krischer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - Letzter Satz: Entscheiden
Sie sich zusammen mit uns, die sieben ältesten AKW sofort vom Netz zu nehmen, das kerntechnische Regelwerk
in Kraft zu setzen, eine hinreichende Sicherheitsüberprüfung zu starten, die Laufzeitverlängerung zurückzunehmen sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien und
die Erhöhung der Energieeffizienz wirklich und ehrlich
voranzubringen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Nüßlein
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Krischer, man müsste an Ihrer Rede korrigieren,
dass der „oberste Atomaufseher“ - anders als Sie es gesagt haben - nicht Herr Hennenhöfer ist, sondern Herr
Röttgen.
({0})
Man könnte das zu einer Abhandlung ausbauen, um zu
zeigen, welche Unwahrheiten Sie an dieser Stelle verbreiten.
Ich will mit einem Begriff anfangen, der in den Vorreden mehrfach aufgetaucht ist, nämlich mit dem Wort
„Konsens“. Ich möchte herausstellen, was man, wenn
man redlich ist, als Konsens in diesem Parlament beschreiben muss:
Erstens. Es gibt einen Konsens, dass wir aus der
Kernenergie aussteigen wollen. In unserem Koalitionsvertrag steht klipp und klar:
Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis
sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt
werden kann.
Es geht also um einen Ausstieg. Dort steht auch:
Das Neubauverbot … bleibt bestehen.
({1})
Ich gehe davon aus, dass Sie das genauso sehen. Das ist
nur eine Frage der - ({2})
Die Frage ist: Wie lange dauert der Übergang? Wie lang
muss diese Brücke sein?
Zweitens. Wenn ich von den Grünen wäre, würde ich
nicht ganz so laut schreien. Denn Sie haben es im
Jahr 2000 offenbar genauso gesehen, dass es nämlich
eine Übergangsfrist geben muss.
({3})
Sie sind im Wahlkampf 1998 mit der Forderung nach einem sofortigen Ausstieg angetreten; die Nutzung der
Kernkraft sei unverantwortlich.
({4})
Diese Forderung kramen Sie heute wieder heraus. Dann
haben Sie unter dem Eindruck der Annehmlichkeiten
von Dienstwagen gesagt:
({5})
Wenn es dem Erhalt von Ministerämtern dient, dann
kann man eine längere Laufzeit verantworten.
({6})
Liebe Freunde von der SPD, noch schlimmer war,
dass sich der frühere Umweltminister, Herr Gabriel, in
der letzten Debatte dazu hinreißen ließ, zu sagen, er habe
schon immer gewusst, dass von den alten Anlagen, die
wir jetzt vom Netz genommen haben, eine Gefahr für
Leib und Leben ausgehe. Da frage ich mich: Was war
das für ein Minister, der das wusste, der die Verantwortung dafür tragen musste, aber nicht zurückgetreten ist?
Meine Damen und Herren, an der Stelle müssen wir
doch überhaupt nicht über Redlichkeit diskutieren.
({7})
Es muss eine Übergangsfrist geben. Wir haben über
die Frage diskutiert, wie lang diese sein muss; darüber
werden wir im Rahmen des Moratoriums sicherlich neu
diskutieren.
({8})
Auch muss man Ihnen deutlich sagen - Kollege
Kauch hatte damit schon angefangen -: Konsens bestand
hinsichtlich des Sicherheitsniveaus. Man muss klarstellen, dass es offenbar ein gemeinsames Verständnis hinsichtlich Sicherheit und Vertretbarkeit gibt. Im Übrigen
steht nichts anderes in Ihrem sogenannten Ausstiegsvertrag. Dort heißt es explizit, dass die Anlagen auf einem
im internationalen Vergleich hohen Sicherheitsniveau
betrieben werden. Die Einschätzung des Sicherheitsniveaus, die dem bisherigen Betrieb zugrunde lag, ist gemeinsam erfolgt. Ich würde das an Ihrer Stelle nicht bestreiten. Wenn Sie es anders sehen, dann stellt sich
nämlich die Frage: Warum sind Sie damals nicht ausgestiegen?
({9})
Lassen Sie mich zu dem seltsamen Deal kommen, der
schon angesprochen wurde. Das Ganze ärgert Sie immer
wieder; das weiß ich. Sie haben in dem Ausstiegsvertrag
mit den Versorgern niederlegt:
Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen
- den gerade beschriebenen Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern.
({10})
Wenn man das so niederlegt, ist man meiner Ansicht
nach in der Defensive.
({11})
- Warten Sie es ab. - Man muss sich Folgendes vor Augen führen:
({12})
Wenn das, was Sie mit den Versorgern vereinbart haben,
was wir geändert haben, weiterhin gelten würde, dann
brauchten wir jetzt nicht über ein Moratorium, eine Änderung der Politik und all das zu diskutieren. Wir diskutieren darüber, weil Sie damals etwas anderes vereinbart
haben. Das muss man einmal in aller Deutlichkeit sagen.
({13})
Wenn Sie jetzt wieder mit der Ausrede kommen, Sie
hätten das kerntechnische Regelwerk auf den Weg gebracht, entgegne ich: Das war ein langer Weg; sieben
Jahre regierte Rot-Grün.
({14})
Anschließend war Herr Gabriel Umweltminister. Jetzt,
in der Erprobungsphase, kann man doch nicht sagen,
dass Herr Röttgen daran schuld ist, dass das Ganze noch
nicht in Gang gesetzt wurde. Das kann doch nicht wahr
sein.
({15})
Ich sage Ihnen ganz offen: Das, was wir an dieser
Stelle tun, ist richtig, und es ist auch richtig - ich sage das,
weil die Ethikkommission hier kritisiert worden ist -,
noch einmal über das Thema Restrisiko zu diskutieren.
Welches Restrisiko ist gesellschaftlich akzeptiert? Darüber muss auch unter ethischen Gesichtspunkten diskutiert werden. Eines ist uns allen klar: Egal was wir an dieser Stelle tun, es wird ökonomische und ökologische
Konsequenzen - Stichwort „Klimaschutz“ - haben.
Noch etwas möchte ich unterstreichen: Unabhängig
von der Frage, was bei dem Moratorium am Ende herauskommt, ist das entscheidend, was international passiert. Wenn sich an der Haltung zur Kernenergie auf internationaler Ebene nichts ändert, insbesondere nicht in
Europa, werden wir keinen Gewinn an Sicherheit, aber
einen Verlust an ökonomischer Unabhängigkeit haben.
Vielen herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Nüßlein, Sie haben Ihre Rede mit der Bemerkung begonnen, dass es Ihnen um Redlichkeit geht.
Wenn es Ihnen um Redlichkeit gegangen wäre, hätten
Sie mit einer Entschuldigung begonnen. Dann hätten Sie
deutlich gemacht, dass Sie falsch gelegen haben
({0})
mit der ungeprüften Verlängerung der Laufzeiten, die
Sie in Gang gesetzt haben.
({1})
Ich kann verstehen, dass Sie sich für solche oberflächlichen Entscheidungen in Grund und Boden schämen.
Zur Politik gehört aber, dass man auch in solchen Augenblicken Haltung bewahrt und Demut zeigt, wo sie angebracht ist, und hier keine Märchenstunde abhält, was
wir gerade bei Ihnen und Herrn Kauch erlebt haben.
({2})
Wissen Sie, Herr Kollege Nüßlein, das Atomkraftwerk Isar liegt auf einmal, seit dem 11. März 2011, in einer Einflugschneise.
({3})
Nun hat es auch Herr Seehofer gemerkt. Dabei wurde
schon in der Anhörung am 21. Oktober 2010 deutlich,
dass keines der älteren Kraftwerke gegen einen Absturz
von Kleinflugzeugen gesichert ist. Gegen den Absturz
großer Passagierflugzeuge haben wir erst recht keinerlei
Absicherung.
({4})
Es war fahrlässig, falsch und nur Wirtschaftsinteressen
geschuldet, dass Sie die Laufzeit verlängert haben. Das
war ein unsinniger Beschluss.
({5})
Im Moment erleben wir, dass das Unwahrscheinliche,
das Seltene alltäglich geworden ist. Gerade die Ereignisse, die nicht vorhersehbar sind, bewirken in unserer
Welt oft die entscheidenden Veränderungen. Wir haben
das am 11. September 2001 erlebt. Kein Mensch hat je
mit einer solchen Gefährdung gerechnet. Jetzt haben wir
das in Japan erlebt. Selbst wir, die wir immer schon gegen Atomkraftwerke gekämpft und uns gegen die Nutzung der Atomkraft eingesetzt haben,
({6})
haben nicht damit gerechnet - wir haben nicht damit
rechnen wollen -, dass es so schnell zu einem Störfall
dieses Ausmaßes kommen kann.
({7})
Wir müssen uns bewusst werden, dass wir eine Technologie in Gang gesetzt haben, hinsichtlich der ein Teil des
Parlaments schon lange vorbereitet hat, aus ihr auszusteigen, weil erkannt worden ist, welche Gefährdungen
sie birgt. Diese Technologie entzieht sich in einem Störfall jeglicher Kontrolle.
Sie haben in der Art und Weise, wie Sie Ihre Regierungsverantwortung und die politische Verantwortung in
die Hände der Atomlobby gegeben haben, im Grunde
genommen einen Fall von beispielloser Verantwortungslosigkeit in politischen Entscheidungen gezeigt.
({8})
Den Geheimvertrag haben nicht die Ministerien mit
den Betreibern von Atomkraftwerken ausgehandelt, sondern es haben Anwaltskanzleien der Betreiber von Atomkraftwerken mit einer Anwaltskanzlei, die den Auftrag
der Bundesregierung hatte, verhandelt, um einen Geheimvertrag festzulegen. Ich sage Ihnen: Das kann doch
wohl nicht wahr sein!
({9})
Wo, wenn nicht in der Bundesregierung, haben wir viele
ausgezeichnete Juristen? Herr Staatssekretär Stadler
wird das bestätigen können. Dennoch nutzen Sie eine
Anwaltskanzlei für Geheimverhandlungen, und am Ende
stellt sich heraus, dass diese auch schon für die Atomkonzerne tätig gewesen ist.
({10})
Das sind Folgen einer unglaublichen Wirtschaftshörigkeit, die Ihre Augen vor allen anderen Risiken verschließt.
({11})
Schauen wir uns jetzt einmal an, wie die Überprüfung
der Sicherheit von Atomkraftwerken ablaufen soll. Wir
haben uns schon ein bisschen die Augen gerieben, als es
heute Morgen im Umweltausschuss hieß, dass auch der
TÜV Süd wieder maßgeblich beteiligt ist, wenn es um
die Überprüfung und die weitere Kontrolle der Sicherheit geht. Das Mitgliederverzeichnis des TÜV Süd, also
das Mitgliederverzeichnis eines e. V., weist die EnBW,
Vattenfall, Eon und andere aus.
({12})
Ich glaube, dass wir gut daran tun, jetzt nicht nur oberflächlich darüber zu diskutieren, was notwendig ist, sondern auch zu schauen, wem wir die Verantwortung überhaupt noch in die Hände legen können.
Wir haben heute ein beispielloses Versagen von desinteressierten Landesministerien erlebt, und zwar am Beispiel von Baden-Württemberg, wo es im Umweltministerium kein vernünftiges Meldesystem gibt. Die Ministerin
lässt sich bei diesem schwierigen Thema nicht etwa in
regelmäßigen Abständen informieren; vielmehr sind es
ausschließlich Beamte, die sich wöchentlich treffen, um
über mögliche Vorfälle zu diskutieren. Wir haben außerdem erfahren, dass die Ministerin nur dann eingeschaltet
wird, wenn tatsächlich etwas Gravierendes passiert. Ich
sage Ihnen: Nach den Maßstäben, die in Baden-Württemberg angelegt werden, hat man den Eindruck, dass etwas
Gravierendes am Ende allenfalls noch die Kernschmelze
sein könnte.
({13})
Kollegin Vogt, kommen Sie bitte zum Schluss!
Ich möchte Ihnen abschließend ein Zitat aus einer baden-württembergischen Zeitung vorlesen, die nicht unbedingt immer sozialdemokratische Politik befürwortet,
nämlich aus den Stuttgarter Nachrichten. Diese Zeitung
schreibt heute, wie ich finde, sehr treffend:
Diskutiert, beraten und philosophiert wurde über
die Atomkraft in den letzten 30 Jahren genug. Alle
Argumente liegen auf dem Tisch. Angela Merkel
muss etwas machen, was ihr gar nicht liegt: Sie
muss sich festlegen. Jetzt sind politische Entscheidungen gefragt. Schwarz-Gelb muss Farbe bekennen, wohin die Reise in der Energiepolitik gehen
soll.
Kollegin Vogt, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss
kommen.
Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Kanzlerin für diese Entscheidungen zu feige ist, dann nehmen Sie als Parlamentier es in die Hand. Haben Sie Mumm! Zeigen Sie einmal Verantwortungsgefühl, und verabschieden Sie ein
Abschaltgesetz!
({0})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Brunkhorst das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach so viel Aufgeregtheit werde ich einmal versuchen,
hier ein bisschen Ruhe hineinzubringen.
({0})
- Temperament hat damit gar nichts zu tun. Es hat damit
zu tun, dass die Notwendigkeit besteht und dass man die
Chance nutzen kann, den Bürgern draußen im Lande
klar darzulegen, was alles im Moment im Hintergrund
läuft und was getan wird; das wird hier ja völlig unter
den Tisch gekehrt.
({1})
Wir alle haben uns dazu verpflichtet - Sie selbst
auch -, aus dem Reaktorunglück in Fukushima Lehren
zu ziehen.
({2})
Leider wissen wir heute noch nicht im Detail, wie groß
die Schäden sein werden, welche Kontaminationen es
gibt usw. Wir müssen die Ursachen und die Wirkungsketten kennen, wenn wir daraus Schlussfolgerungen für
die Sicherheit der kerntechnischen Anlagen in Deutschland ziehen wollen.
({3})
Die Bundesregierung hat in Anbetracht der Umstände
schnell gehandelt. Zwei Drittel der Bundesbürger befür11214
worten, dass die Bundesregierung das dreimonatige Moratorium verfügt hat.
({4})
Wir werden dieses Moratorium nutzen, um über die Sicherheitsannahmen und die Sicherheitsreserven intensiv
und seriös nachzudenken.
({5})
An dieser Stelle ist festzuhalten - das kann man gar
nicht oft genug tun -, dass deutsche Kernkraftwerke
über ein hohes Sicherheitsniveau verfügen.
({6})
Das haben selbst die Kernenergiekritiker Gerhard
Schröder und Jürgen Trittin im Ausstiegsbeschluss bestätigt. Wörtlich heißt es darin - ich zitiere aus dem Ausstiegskonsens -, dass die
kerntechnischen Anlagen auf einem international
gesehen hohen Sicherheitsniveau betrieben werden.
Das ist die Formulierung der beiden Herren.
An dieser Stelle möchte ich den Bürgern klar sagen
- das haben wir nicht nur in der Vergangenheit gemacht,
sondern das machen wir ständig -, dass im Rahmen von
Änderungsgenehmigungen und periodischen Sicherheitsüberprüfungen sowie bei der laufenden Überwachung durch die zuständigen Aufsichtsbehörden in den
Ländern das Sicherheitsniveau ständig überprüft wird.
Dadurch wird die Sicherheit garantiert. Die Frage, die
wir uns heute stellen wollen - an dieser Stelle hören Sie
nie genau zu -, lautet: Gibt es Szenarien oder Ereignisse
über unsere im Atomgesetz abgebildeten Sicherheitskriterien hinaus, die wir in Betracht ziehen müssen? Darüber müssen wir seit den Ereignissen in Japan nachdenken.
({7})
- Ich rede nicht nur von Terrorgefahren. Das ist für mich
nicht unbedingt entscheidend. Das mag ja für Sie entscheidend sein.
({8})
- Das ist kein Problem. Es hat vielmehr mit der Frage zu
tun, wie man die Risikofaktoren einschätzt.
Das Bundesumweltministerium hat uns heute den
Fahrplan im Umweltausschuss erörtert. Eine erste Ideenliste ist bereits vorgelegt worden. Die Staatssekretärin
hat gesagt, dass bis zum Ende dieses Monats eine endgültige Prüffassung vorgelegt werden wird. Diese wird
den Bundesländern zugeleitet. Die zuständigen Genehmigungsbehörden werden ihrerseits die Gesellschaft für
Anlagen- und Reaktorsicherheit beauftragen, konkrete
technisch-wissenschaftliche Gutachten zu erstellen.
({9})
Diese Gutachten werden eine konkrete Grundlage zur
Beurteilung jedes einzelnen Kraftwerks sein. Sollte
diese Risikoanalyse ergeben, dass ein Kraftwerk den
möglicherweise veränderten und erhöhten Sicherheitsanforderungen nicht entspricht, dann muss entsprechend
nachgebessert werden.
({10})
Wenn sich das wirtschaftlich nicht darstellen lässt, dann
wird man unter Umständen überlegen müssen, ob diese
Kraftwerke weiter betrieben werden können.
({11})
- Ich denke, hier sind keine Fragen zugelassen.
({12})
An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die
Zwölfte Atomgesetznovelle mit dem neuen § 7 d zu
sprechen kommen, weil Sie immer sagen, wir täten
nichts für zusätzliche Sicherheit. In diesem neuen § 7 d
wird erstmals eine aktive, dynamische Beteiligung der
Betreiber eingefordert. Danach müssen die Betreiber, hinausgehend über das, was irgendwann einmal Stand von
Wissenschaft und Technik war, die neuesten technischen
und wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgreifen und aus
eigener Initiative nachrüsten.
Sie haben vorhin den Rat der Weisen ein wenig herablassend dargestellt.
({13})
Die Diskussionen in der Bevölkerung zu diesem Thema
und die große mediale Aufmerksamkeit machen es geradezu notwendig, dass man alle gesellschaftlichen Gruppen abbildet. Beim Rat der Weisen handelt sich immerhin um hochrangige und anerkannte Experten. Ich finde,
man sollte hier jetzt nicht so tun, als ob sie nichts zu sagen hätten. Es sind durchaus Personen dabei, denen Sie
sonst den Rücken stärken. Tun Sie also bitte nicht so, als
ob das alles nicht gewollt ist. Ich denke, die Bevölkerung
wird es dankbar aufnehmen und froh darüber sein, nicht
nur von Politikern, sondern auch von Persönlichkeiten
aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen die Meinung zu hören.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Johanna Voß für die Fraktion Die Linke.
Vizepräsidentin Petra Pau
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
hört jetzt oft: Nur ein abgeschaltetes Atomkraftwerk ist
ein sicheres Atomkraftwerk.
({0})
Wer aber wie ich aus Lüchow-Dannenberg, aus dem
Wendland, kommt, der weiß es besser: Nur ein zurückgebautes Atomkraftwerk ist ein sicheres Atomkraftwerk.
({1})
Damit sind wir genau bei dem Punkt, der hier bislang
ausgelassen wurde. Wenn die Regierungsparteien jetzt
feststellen, dass die Sicherheitsanforderungen an Atomkraftwerke nicht ausreichen, stellen sich folgende Fragen: Wie sieht es denn bei den Zwischenlagern aus? Wie
sieht es bei Atommülltransporten aus? Wie sieht es bei
der langfristigen Lagerung radioaktiver Abfälle aus?
Wer Atomkraft nutzt, produziert Atommüll, und zwar
in riesigen Mengen. Jedes Jahr fallen in deutschen
Atomkraftwerken rund 400 Tonnen abgebrannte Brennelemente an. Sie sind hochradioaktiv. Trotzdem gibt es
beim Transport und bei der Lagerung nicht annähernd so
hohe Sicherheitsanforderungen wie bei Atomkraftwerken, und das, obwohl auch die Sicherheitsanforderungen
an AKW, wie es das BMU in dem erwähnten internen
Papier festgestellt hat, viel zu niedrig sind. Japan zeigt
uns, dass selbst zwischengelagerte Brennelemente das
Potenzial für einen GAU haben. Auch dieses akute Problem gehört auf den Tisch.
Dazu ein paar Fakten: Ein Castor-Behälter enthält
über 1 000 Trillionen Becquerel. Anders ausgedrückt:
Die Radioaktivitätsmengen von Gorleben betragen ein
Zigfaches der bei der Tschernobyl-Katastrophe frei gewordenen Radioaktivität. Greenpeace sagt: Castoren
sind nur unzureichend gesichert. Sie sind in der Nähe
des Deckels und des Bodens ohne Abschirmung. Neutronenstrahlung kann an diesen Stellen ungehindert
durchkommen. Prüfvorschriften sind so gestaltet, dass
diese Mängel bei Castor-Behältern für Brennelemente
nur teilweise, bei Castor-Behältern für Glaskokillen gar
nicht erfasst werden. Diese Prüfvorschriften für den
Transport und die Lagerung wurden von der dafür verantwortlichen Firma GNS entwickelt. Der TÜV und die
zuständigen Behörden BfS und BAM haben sie unverändert genehmigt. Wir brauchen eine unabhängige Revision der Prüfvorschriften und in dieser Zeit einen Transportstopp für weitere Castoren.
({2})
Wenn Lobbygruppen Prüfvorschriften ausarbeiten, ist allein das ein Grund, nach diesen Vorschriften keine neue
Genehmigung zu erteilen.
({3})
Aber es geht noch weiter. Bei Atomkraftwerken gilt:
Die Radioaktivität im Reaktorinnern wird durch mehrere
voneinander unabhängige Barrieren von der Umwelt abgeschirmt. Wird eine Hülle zerstört, kann die zweite
eventuell noch schützen. Bei Atommüllzwischenlagern
ist der Lagerbehälter die einzige Barriere. Sie allein soll
ausreichen, den hochradioaktiven Müll von der Umwelt
abzuschirmen. Ein fundamental wichtiges und international anerkanntes Sicherheitsprinzip wird hier ignoriert.
Das dürfen wir nicht länger hinnehmen.
({4})
Auch die Hallen der Zwischenlager dienen nur dem
Schutz vor Regen - das sind Kartoffelscheunen -, aber
sie schützen die Bevölkerung keineswegs vor der ständigen Neutronenstrahlung.
({5})
Diese Strahlung geht die ganze Zeit von den Castoren
aus - da braucht man sich nichts vorzumachen - und
schädigt die Umwelt. Hinzu kommt: Ob ein Castor-Behälter überhaupt 40 Jahre hält - so ist es vorgesehen oder ob er nicht vielmehr porös wird und das Material
durch die starke Strahlung zerfällt, wissen wir nicht.
({6})
- Es ist noch kein Castor 40 Jahre alt. Es ist noch keiner
mit Glaskokillen oder abgebrannten Brennstäben 40 Jahre
lang irgendwo gelagert worden.
Wir fordern, dass die Sicherheitsanforderungen bei
der Lagerung massiv verschärft werden. Auch hier muss
das Prinzip der Mehrfachbarrieren gelten. Auch hier
muss jedes Unfallszenario einkalkuliert werden. Ebenso
müssen die Gefahren, die insbesondere durch die
Niedrigstrahlung von Castor-Behältern ausgehen, neu
bewertet werden. Dafür brauchen wir eine systematische
Erfassung der durch Neutronenstrahlen verursachten Gesundheitsschäden, der Krebserkrankungen und der signifikant niedrigeren Geburtenrate bei Mädchen, die rund
um Gorleben und rund um die Asse festgestellt wurde;
dies wurde übrigens auch nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki festgestellt.
Schließlich: Die Asse ist abgesoffen. Ebenso sind
Gorleben und der Schacht Konrad als Standorte für ein
sogenanntes Endlager bewiesenermaßen ungeeignet.
Wir brauchen einen Schnitt. Wir brauchen ein Verfahren
zur Auswahl eines Standortes für die sichere Lagerung
von Atommüll. Hier brauchen wir ganz dringend Bürgerbeteiligung, Frau Heinen-Esser, und keinen Dialog.
Die nationale Lagersuche muss beginnen: transparent,
ergebnisoffen und mit Beteiligung der Bürger, aber nicht
so, wie sie bisher gelaufen ist.
({7})
Mir wird immer wieder versichert, dass ein Atommeiler extrem sicher ist und 10 000 Jahre hält. Man muss
aber weiterrechnen. Es gibt über 400 Atomkraftwerke auf
der Welt. Das bedeutet: Im Schnitt gibt es alle 25 Jahre
einen Unfall, einen GAU. Wir haben das erlebt; wir
brauchten es aber nicht mehr. Denn wir hätten die Atomkraftwerke längst abschalten können, wir hätten längst
umdenken können, und wir hätten uns längst auf die Suche nach einem sicheren Lager für abgebrannte Brennelemente machen können.
Wir brauchen Schutz vor Flugzeugabstürzen, wir brauchen Schutz vor Naturkatastrophen, wir brauchen Schutz
vor Terrorangriffen, wenn wir in unserem Land Atomkraft nutzen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Es darf kein
weiterer Atommüll produziert werden. Deswegen gilt:
AKW abschalten, und zwar alle, unumkehrbar und ohne
weiteres Hinauszögern! Mehr Atommüll können und dürfen wir uns nicht leisten.
Danke schön.
({8})
Kollegin Voß, das war Ihre erste Rede im Hohen
Hause. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere
Arbeit.
({0})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Dr. Flachsbarth
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wirklich gut, dass es in diesem Parlament ein paar
Abgeordnete gibt, die schon immer alles wussten schade nur, dass der Erkenntnisprozess und konkretes
politisches Handeln oftmals auseinanderfallen.
({0})
Liebe Frau Kollegin Voß, vielen Dank für Ihre bedenkenswerten Worte, die Sie zur Zwischenlagerung und zu
Castor-Transporten vorgetragen haben. Das waren allerdings keine Erkenntnisse, die wir erst in den letzten Jahren gewonnen haben, sondern diese Fragen stellen sich
schon seit Jahrzehnten. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten - hier bin ich ganz bei Ihnen -, so schnell wie
möglich ein sicheres Endlager für hochradioaktive Abfälle zu finden. Wenn zumindest dies bei dieser Debatte
herauskommen würde, wäre das schon ein großer Erfolg.
({1})
Die objektive Sicherheitslage für Kernkraftwerke in
Deutschland hat sich auch nach den Ereignissen in Japan
ohne Zweifel nicht geändert.
({2})
Was sich geändert hat, ist die Bewertung des Restrisikos.
({3})
Sie hat sich deshalb geändert, weil wir aus den Ereignissen in Japan lernen mussten, dass sich Zwischenfälle ereignen können, deren Stärke, deren Dramatik und deren
mögliche Häufung die Auslegung von Kernkraftwerken
bezüglich ihrer Sicherheit infrage stellen können.
Ich begrüße das Moratorium, nach dem die sieben ältesten deutschen Kraftwerke, die vor 1980 in Betrieb gegangen sind, vorübergehend vom Netz genommen wurden. In diesen drei Monaten soll die Sicherheit aller
17 Kraftwerke, nicht nur die der sieben ältesten, noch
einmal grundlegend überprüft werden, und zwar nach
Maßgaben, die die Reaktor-Sicherheitskommission neu
erarbeitet.
Die Reaktor-Sicherheitskommission ist eine Kommission, die den Bundesumweltminister berät. Trotz bester
Kompetenz, Herr Kollege Miersch, können wir hier im
Bundestag gar nichts ausrichten. Das müssen Techniker
machen; das müssen Fachleute machen. Das können
keine Politiker machen. Deshalb ist es selbstverständlich
richtig, dass die Reaktor-Sicherheitskommission jetzt
schaut,
({4})
wie denn die Sicherheitsmaßgaben in Bezug auf kumulative Ereignisse, auf die Größe von Schadensereignissen,
auf Naturkatastrophen, Klimawandel, Cyberangriffe, terroristische Gefahren usw. ausgelegt sind.
Heute Morgen ist uns im Umweltausschuss mitgeteilt
worden, dass das neue Prüfkonzept bis Ende kommender
Woche konkretisiert wird und dass danach die Untersuchungen im Hinblick auf diese Punkte beginnen. Das
begrüße ich ausdrücklich. Darüber hinaus ist eine Ethikkommission unter der Leitung des ehemaligen Umweltministers Klaus Töpfer und des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Matthias
Kleiner, eingesetzt worden, in der auch Vertreter der energieintensiven Industrie, von Gewerkschaften, Kirchen
und weiteren gesellschaftlich relevanten Gruppen mitwirken. Auch dafür gab es schon viel Häme.
Ich will sagen, meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen: Ende der 60er- bis Mitte der 70er-Jahre des
letzten Jahrhunderts gab es einen gesamtgesellschaftlichen Konsens darüber, dass Kernenergie ein wichtiger
Baustein für die Energieversorgung in Deutschland sei.
Man plante sogar bis zu 50 neue Kernkraftwerke.
({5})
- Nun hören Sie doch zu und brüllen Sie nicht herum!
Damit kommen wir bei der Lösung dieser Problematik
keinen Schritt weiter.
({6})
Ich bin davon überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen auf allen Seiten des Hauses: Wir brauchen auch
heute wieder einen gesamtgesellschaftlichen Konsens
über Energiepolitik in diesem Lande;
({7})
denn Energiepolitik ist die Grundlage für den Industriestandort Deutschland. Das wiederum ist die Grundlage
für den Wohlstand in Deutschland.
Wir stehen jetzt vor ganz neuen Herausforderungen,
aber natürlich auch vor neuen Chancen. Wichtig ist mir
auch der Gesamtzusammenhang im Hinblick auf die Novelle zum EEG im nächsten Sommer. Wichtig ist für
mich, dass wir jetzt an die Bundesregierung die dringende Bitte richten,
({8})
auf der Grundlage des Energiekonzeptes den Ausbau
von erneuerbaren Energien, den Ausbau von Netzen,
von Speichern, auch im Hinblick auf Elektrolyse und auf
erneuerbares Methan, zu konkretisieren und zu beschleunigen.
Aber wir müssen alle wissen - deshalb bitte ich um
diesen Grundkonsens -: Auch dies wird keine Harmonieveranstaltung: nicht bezüglich des Ausbaus von Netzen, nicht bezüglich des Ausbaus von Speichern und
auch nicht bezüglich des Zubaus von Anlagen zur Gewinnung von erneuerbaren Energien. Wir kennen doch
die Stichworte: in Bezug auf Wind die Verspargelung der
Landschaft, in Bezug auf Biomasse die Vermaisung der
Landschaft, in Bezug auf Geothermie die Angst vor seismischen Ereignissen und auch die Angst vor radioaktiver Bedrohung, in Bezug auf Wasserkraft die Durchlässigkeit der Flüsse. Wir kennen das doch alles.
Meine Damen und Herren, ich würde uns sehr dringend zu einer Versachlichung der Debatte raten. Ich
hoffe, dass es dazu kommt, wenn sich der Pulverdampf
der Wahlkämpfer am nächsten Wochenende verzogen
hat.
({9})
Energiepolitik bleibt ein hochemotionales Thema. Wir
können dieses Thema missbrauchen, um uns gegenseitig
politisch vorzuführen. Aber ich glaube nicht, dass das
der Zukunft dieses Landes tatsächlich dient.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Lambrecht für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Flachsbarth, ich kann Ihnen versichern,
dass ich in dieser Diskussion sachlich bleibe. Aber ich
kündige an: Ohne Emotionen geht es ganz bestimmt
nicht. Das hat damit zu tun, dass ich aus dem Wahlkreis
komme, in dem Biblis liegt. Sie können sich vorstellen,
wie hoch angesichts der Situation die Emotionen da im
Moment schlagen. Aber das hat auch etwas damit zu tun,
welche Argumente in dieser Debatte vorgetragen werden. Es ist nicht zu fassen, welche dreisten, unverschämten Angriffsversuche von der CDU/CSU uns gegenüber
gestartet werden. Ich will Ihnen auch sagen, warum.
Ich habe Herrn Nüßlein so verstanden, dass Sie quasi
gezwungen waren, eine Laufzeitverlängerung vorzunehmen, weil wir nicht sofort aus der Atomenergie ausgestiegen sind. Ist das verkehrte Welt, oder wie habe ich
das zu verstehen?
({0})
Das ist doch nichts anderes als ein kläglicher Versuch,
Ihre Rolle rückwärts jetzt noch mit irgendwelchen Argumenten zu begründen.
({1})
Sie wissen, dass Sie mit dem Rücken zur Wand stehen; denn die Bürgerinnen und Bürger haben nicht vergessen, dass Sie es waren, die angesichts ganz vieler
Vorfälle und angesichts ganz vieler bekannter Umstände
im letzten Jahr die Laufzeitverlängerung beschlossen haben. Deswegen versuchen Sie jetzt, uns nach dem Motto:
„Angriff ist die beste Verteidigung“ an die Wand zu stellen. Das wird Ihnen nicht gelingen. Das sehen Sie auch
an den aktuellen Umfrageergebnissen.
({2})
Es ist zutreffend, dass 70 Prozent der Bürgerinnen
und Bürger es begrüßen, dass Sie jetzt aussteigen bzw.
die acht ältesten Atomkraftwerke abschalten und die anderen überprüfen wollen. Aber auch diese Wahrheit gehört dazu: 80 Prozent kaufen Ihnen das nicht als ehrliche
Position ab, sondern sehen das als nichts anderes als ein
Wahlkampfmanöver an, was es auch ist.
({3})
Lassen Sie mich jetzt noch auf ein paar Argumente
eingehen, die in der Debatte schon genannt worden sind.
Herr Nüßlein, Sie haben gesagt: Wir alle sind uns darüber einig, dass es ein Ende der Atomkraft gibt und es
nur noch darum geht, wann dieses Ende eintritt. - Ich
habe nicht den Eindruck, dass wir diesen Konsens hier in
diesem Haus haben. Mein Wahlkreiskollege von der
CDU hat noch im Jahre 1998 gefordert, dass es in Biblis
nicht nur die Blöcke A und B, sondern auch noch einen
neuen Block C geben soll. Von wegen Konsens! Das
müssen Sie sich einmal vorstellen. Es gibt in Ihren Reihen überhaupt keinen Konsens darüber, dass es tatsächlich ein Ende der Atomkraft gibt.
Frau Flachsbarth, Sie sagen, wir müssen jetzt darüber
nachdenken, welche zusätzlichen Ereignisse, Umstände
hinzukommen können, aufgrund derer man bei dem einen oder anderen Kraftwerk jetzt vielleicht neue Sicherheitsmaßnahmen auf die Beine stellt. Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Das Kraftwerk Biblis liegt in der
Einflugschneise des Frankfurter Flughafens. Das ist bekanntermaßen kein Regionalflughafen, sondern ein internationales Drehkreuz. Spätestens seit dem Jahr 2001,
({4})
spätestens seit den terroristischen Angriffen, wird darüber auch ganz intensiv diskutiert, da gerade dieses
Kraftwerk nicht gegen Flugzeugabstürze - noch nicht
einmal gegen Abstürze von kleinen Flugzeugen - gesichert ist.
({5})
- Sie können sich die Protokolle von 2001 einmal anschauen. Sehen Sie sich doch einmal an, wer 2001 in
Hessen regiert hat.
({6})
Ich weiß ganz genau: Seit 1999 haben wir in Hessen
nicht mehr regiert.
({7})
Wir versuchen gebetsmühlenartig, darauf hinzuweisen,
dass dieses Kraftwerk allein schon wegen dieser Gefährdung abgeschaltet werden muss.
({8})
Herr Kauch, Sie sagen: Wir müssen jetzt einmal über
Sicherheitspuffer nachdenken. Es gibt ganz interessante
Vorschläge dazu. Ein Vorschlag ist zum Beispiel: Lasst
uns doch um das Atomkraftwerk Biblis Windräder
bauen. - Das soll nicht etwa geschehen, um erneuerbare
Energien zu gewinnen, nein, der Vorschlag bezweckt:
Wir bauen Windräder um das Atomkraftwerk, damit sich
abstürzende Flugzeuge darin verheddern.
({9})
- Darüber wird gelacht. Der Vorschlag ist aber gemacht
worden, und er kam zu dieser Zeit nicht von irgendwem,
auch nicht von einem Kabarettisten, sondern vom damaligen FDP-Fraktionsvorsitzenden im Hessischen Landtag, Herrn Hahn, der heute Justizminister ist.
({10})
Dies zeigt, mit welchem Zynismus Sie diese Themen angehen. Ich habe nur noch darauf gewartet, dass er sagt,
man solle auch noch Sonnenkollektoren aufstellen, damit man die Piloten blenden kann.
({11})
Wenn die Situation nicht so schlimm und schwierig
wäre, könnte man wirklich darüber lachen. Das ist der
Zynismus, den Sie hier an den Tag legen.
Sie sagen, wir hätten die Standards in Bezug auf die
Sicherheitsanforderungen abgesenkt, während Sie im
letzten Jahr bei der Verlängerung der Laufzeiten alles
ganz groß aufgebaut hätten, sodass es jetzt sicher sei.
Lassen Sie mich mit Erlaubnis der Präsidentin noch ganz
kurz etwas aus einem Brief von Herrn Schmalfuß, Justizminister in Schleswig-Holstein, zitieren, der zu dieser
Bewertung des § 7 d schreibt:
Für gänzlich inakzeptabel halte ich die von Ihnen
geplante und regelungstechnisch auch in § 7 d AtG
verankerte Einschränkung des Rechtsschutzes Dritter. Das Bundesverwaltungsgericht hat gerade im
Urteil vom 10. April 2008 zum atomaren Standortzwischenlanger Brunsbüttel in wünschenswerter
Klarheit ausgeführt, dass das Risiko terroristischer
Anschläge
- und damit eben auch Abstürze von Flugzeugen grundsätzlich der Schadensvorsorge zuzurechnen
ist und Dritte auch insoweit subjektive Rechte geltend machen können. Ich halte es für einen umweltrechtlichen, umweltpolitisch sowie verfassungsrechtlich und rechtspolitisch verfehlten Rückschritt,
- merken Sie sich das gut! wenn Sie nunmehr qua Gesetz trotz entgegenstehender Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes in existente Rechtspositionen Dritter eingreifen wollen.
Das ist die exakte Bewertung des von Ihnen zitierten
§ 7 d Atomgesetz. Es geht nicht um ein Mehr an Rechten, sondern um einen Rückschritt.
({12})
Hören Sie auf mit diesen Nebelkerzen, und fangen Sie
an, sich der ganzen Situation endlich einmal sachgerecht
zu widmen - durchaus mit Emotionen -; denn das ist ein
Thema, das die Menschen bewegt.
Frau Kollegin Lambrecht, ich wollte gerne das vollständige Zitat zulassen. Das heißt aber nicht, dass wir die
Redezeit verlängern. Schauen Sie bitte auf die Uhr und
kommen Sie bitte zum Schluss!
({0})
Ja, ich komme zum Schluss.
Lassen Sie uns diese acht derzeit abgeschalteten alten
Kraftwerke dauerhaft abschalten. Der Kraftwerksbetreiber von Biblis verkündet heute schon, dass er die drei
Monate abwarten wird, dass er aber selbstverständlich
davon ausgeht, dass es danach wieder hochgefahren
wird. Wir werden Sie beim Wort nehmen und nachhalten, ob Sie in dieser Frage endlich Konsequenzen ziehen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Obermeier für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Japan
ist von einer der schlimmsten Naturkatastrophen seit
Menschengedenken betroffen. Ein schweres Erdbeben
und ein gewaltiger Tsunami auf einer Strecke von über
1 000 Kilometern haben die Küste auf einer Breite von
10 Kilometern und mehr verwüstet.
Frankreich macht Hilfsangebote an Japan. Die USA
helfen vor Ort. Russland bietet Hilfe für verstrahlte
Menschen und Obdachlose an. Was machen wir?
({0})
Die Opposition nutzt die Aktuelle Stunde für ihr Geschrei und führt einen Veitstanz auf.
({1})
- Herr Solar-Kelber, Sie nutzen diese Gelegenheit hier
als Theater, statt gemeinsam und in aller Ruhe darüber
zu diskutieren, welche Bedeutung das Ganze für unsere
Energiepolitik in Deutschland hat.
({2})
Als ob die zwei verheerenden Ereignisse nicht reichen würden, kommt es bei den Kernkraftwerken noch
zu Ausfällen der Notfalleinrichtungen. Die Notstromversorgung funktioniert nicht. Kolleginnen und Kollegen,
es wäre angebracht, dass wir mit einer gewissen Demut
über dieses Thema reden,
({3})
weil wir noch nicht wissen, woran es gelegen hat, dass
die Sicherungseinrichtungen ausgefallen sind. Das wissen wir bis zum heutigen Tag nicht. Trotzdem tun viele
von uns so, als könnten sie Rückschlüsse auf die Sicherheitstechnik in Deutschland ziehen.
({4})
Wenn wir in der Frage einen Konsens anstreben wollen, dann müssen wir die Ursachen, die zu dem Desaster
in Japan geführt haben, gründlich analysieren und einen
Vergleich zwischen der Sicherheitstechnik in Japan und
in Deutschland ziehen.
({5})
Ich verspreche Ihnen: Wir werden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Ich will nicht sagen, dass wir so weitermachen sollen
wie bisher.
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass wir auf Grundlage der Bewertung der Ereignisse in Japan zu neuen Kriterien kommen werden, die ohne jeden Zweifel zur Folge haben
können, dass die infrage stehenden Kernkraftwerke abgeschaltet bleiben und möglicherweise weitere vom
Netz gehen werden. Wir dürfen aber keinen Vergleich
zwischen den Verhältnissen in einem akuten Erdbebengebiet mit einem drohenden Tsunami und den Verhältnissen in Mitteleuropa ziehen. Hier gelten andere Kriterien.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
an die Kollegin Ute Vogt richten. Frau Vogt, ich empfehle Ihnen dringend ein Gespräch mit Altbundeskanzler
Helmut Schmidt.
({7})
Ihnen ist völlig entgangen, dass die allermeisten Kernkraftwerke in der Regierungszeit der SPD genehmigt
und gebaut wurden.
({8})
Sie stellen sich hierhin und informieren die Öffentlichkeit völlig falsch. Nach Ihrem Slogan müsste man sagen:
Sie lügen.
({9})
Ich sage das nicht. Aber Sie haben hier Dinge erzählt,
die nichts mit der Wahrheit zu tun haben und völlig
falsch sind.
({10})
Das Einzige, was bei Ihnen gestimmt hat, ist die Lautstärke, aber sonst nichts.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Paul für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorgänge in Japan sind ernst. Sie sind sicherlich viel zu
ernst, um daraus ein innenpolitisches Süppchen zu kochen. Ich sage in aller Ernsthaftigkeit:
({0})
Gerade Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
haben in diesem Haus die geringste Berechtigung, über
die Sicherheit der Kernenergie in Deutschland zu sprechen.
({1})
Schließlich war es die SED - die Partei, aus der Sie hervorgegangen sind -, die für den Bau von Schrottreaktoren in Deutschland verantwortlich war.
({2})
Sieben Blöcke sowjetischer Bauart haben Sie in
Deutschland in Betrieb genommen. Alle wurden 1990
wegen Sicherheitsdefiziten vom Netz genommen.
({3})
Erzählen Sie also den Menschen in diesem Land nichts
von nuklearer Sicherheit!
Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, auch
Sie kann ich heute nicht verschonen. Sie haben schon
vor zehn Jahren jede Legitimation verloren, um in Fragen der Sicherheit ernst genommen zu werden.
({4})
Sie wollten mit dem von Herrn Trittin und Herrn
Schröder im Jahr 2001 unterzeichneten Deal,
({5})
den Sie mit der Industrie geschlossen haben, die deutschen Kernkraftwerke um bis zu 20 Jahre weiter laufen
lassen. Dabei haben Sie die Sicherheitsanforderungen
eingefroren, nur damit Ihre industriellen Partner von den
Kosten der Nachrüstung verschont bleiben. Das ist doch
die Wahrheit.
({6})
Es ist vollkommen richtig, dass wir nach einem solchen schweren Unfall wie in Japan innehalten, die Erkenntnisse auswerten und alle Reaktoren in Deutschland
auf den Prüfstand stellen. Dazu werden wir das dreimonatige Moratorium nutzen. Bei dieser Prüfung kann es
aber aus meiner Sicht nicht nur darum gehen, einzelne
Szenarien, die bisher betrachtet wurden, zahlenmäßig zu
verändern, also beispielsweise statt das stärkste Erdbeben der letzten 10 000 Jahre nun das stärkste der letzten
100 000 Jahre in Betracht zu ziehen; denn jede Zahl, die
man bei solchen Szenarien einsetzt, ist letztlich willkürlich. Vielmehr muss es darum gehen, die Sicherheitsreserven der Anlagen darauf zu untersuchen, ob Situationen, wie sie nach Naturkatastrophen und anderen
Ereignissen entstehen können, zum Beispiel der Fall eines totalen Stromausfalls im Kernkraftwerk, den sogenannten Station Blackout, den wir auch in Japan erleben
mussten, überstanden werden können, ohne dass Menschen in diesem Land von radioaktiver Strahlung verletzt oder getötet werden. Diese Sicherheitsreserven
müssen wir systematisch untersuchen und gegebenenfalls verbessern.
({7})
Wir werden aber auch grundsätzlich einen neuen, ergebnisoffenen gesellschaftlichen Diskurs über die Frage
führen, welches Risiko wir hier in Deutschland bereit
sind zu tragen. Hier wird die Ethikkommission sicherlich einen wichtigen Beitrag leisten. Dabei darf sich die
Diskussion meiner Meinung nach aber nicht nur auf eine
einzige Technologie beschränken; denn es geht um die
Gesundheit und das Leben der Menschen in diesem
Land. Beides kann nicht nur durch die Kernenergienutzung gefährdet werden. Vielmehr gehen wir in einem Industrieland wie Deutschland mit vielfältigen Risiken
um. Wir haben allein über 2 000 Industrieanlagen, in denen mit gefährlichen oder sogar sehr gefährlichen Stoffen umgegangen wird. Über die Frage, welche Risiken
wir in unserem Land hinnehmen, können wir ehrlich
- nicht isoliert, nur hinsichtlich der Kernenergie - diskutieren. Außerdem müssen die Fragen, die wir zuletzt bei
der Erarbeitung des Energiekonzepts in den Mittelpunkt
gestellt und beantwortet haben, einbezogen werden.
({8})
Denn die Fragen sind richtig: Wie können wir sicherstellen, dass wir auch in Zukunft keine Stromausfälle haben? Wie können wir die Preise für Energie für die Bürgerinnen und Bürger und auch für unsere Industrie auch
in Zukunft bezahlbar halten?
({9})
Wie erreichen wir unsere anspruchsvollen Umweltund Klimaschutzziele? Wie finanzieren wir den Umbau
des Energiesystems hin zu mehr erneuerbaren Energien?
({10})
Wie kommen wir in der Forschung weiter? Wie können
wir den Netzausbau und die Entwicklung von Speichern
voranbringen? Beides brauchen wir, wenn wir aus Sonne
und Wind Strom erzeugen wollen.
({11})
Auch auf diese Fragen müssen wir in der anstehenden
Diskussion Antworten geben; denn wir wollen auch in
Zukunft in diesem Land in Sicherheit leben - und das
mit einer hohen Lebensqualität.
({12})
Vielen Dank.
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Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 24. März 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.