Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/18/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich. Mitteilungen gibt es diesmal nicht, sodass wir gleich in unsere Tagesordnung einsteigen können. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Steffen Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner Simmling, Ernst Burgbacher, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn - zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf, Christian Lange ({2}), Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausbau der Rheintalbahn als Modell für Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz - zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn durch offene Planung beseitigen - zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintal- bahn auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen - zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rheintalbahn - Modellprojekt für anwoh- nerfreundlichen Schienenausbau - Drucksachen 17/4861, 17/4856, 17/3659, 17/2488, 17/4689, 17/5091 - Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Bilger b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder, Sabine Leidig, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Schutz vor Schienenverkehrslärm im Rheintal und andernorts - Drucksache 17/5036 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Kumpf, Gustav Herzog, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rheintalbahn - Finanzierung und anwohnerfreundlichen Ausbau sicherstellen - Drucksache 17/5037 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. ({3}) - Ja, bei genauem Hinsehen erkennt man, dass auch hier noch der eine oder andere fehlt. Das kann sich im Laufe der Zeit noch vervollständigen. Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Landesministerin Tanja Gönner das Wort. ({4}) Tanja Gönner, Ministerin ({5}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! ({6}) Ich bin für die Möglichkeit, heute im Deutschen Bundestag sprechen zu können, sehr dankbar. Die zahlreichen Anträge - ({7}) - Lieber Herr Friedrich, die Landesregierung vertritt bei der Rheintalbahn die Interessen der Menschen. ({8}) Deswegen ist die Landesregierung bei solch einem wichtigen Thema im Bundestag vertreten. ({9}) Die zahlreichen Anträge aller Bundestagsfraktionen zeigen, dass der Ausbau der Rheintalbahn nicht nur die Menschen am Oberrhein bewegt, sondern dass dies ein Projekt von viel weiter reichender Dimension ist. Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat sich von Anfang an klar und eindeutig für den viergleisigen Ausbau ausgesprochen, weil es eine der wichtigsten Trassen von Nord nach Süd in Europa ist. Wir haben dabei aber stets eine Planung verlangt, die in gebotener Weise Rücksicht auf Mensch und Umwelt nimmt. Land, Region und Bürgerinitiativen fordern daher Hand in Hand substanzielle Verbesserungen der Planungen der Bahn. Das Thema Lärmschutz spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Planungen zum Ausbau der Rheintalbahn zeigen eines überdeutlich: Der gute Zweck allein genügt nicht; es kommt auch darauf an, wie die unbestritten positiven Zielsetzungen des Projekts vor Ort umgesetzt werden. Mehr als 172 000 Einwendungen zwischen Offenburg und Weil am Rhein sprechen eine deutliche Sprache. Die Landesregierung hat deshalb gemeinsam mit dem Bundesverkehrsministerium mit dem Projektbeirat Rheintalbahn ein Forum geschaffen, das sich eingehend mit den Wünschen und Forderungen der betroffenen Bevölkerung befasst. Hier beraten alle relevanten Akteure von Bund, Bahn und Land sowie Vertreter der Regionen und Bürgerinitiativen über die erforderlichen Verbesserungen der bisher von der Bahn vorgelegten Planungen und die verschiedenen Alternativplanungen. Im Projektbeirat und in seinen drei regional aufgegliederten Arbeitsgruppen, in denen insbesondere die Regionen und die Bürgerinitiativen sehr intensiv einbezogen sind, hat sich gezeigt: Wenn alle Beteiligten an einem Tisch sitzen, ist auch in schwierigen und umstrittenen Fragen ein Konsens möglich. Der Projektbeirat hat sich so als beispielgebende, moderne Form der Bürgerbeteiligung bewährt. In seiner Sitzung am 8. Februar wurde auf diese Weise ein Fahrplan für die gemeinsame Suche nach alternativen Lösungen und Verbesserungen beim Ausbau der Rheintalbahn verabredet. Auf dieser Basis wollen wir den offenen und lösungsorientierten Dialog fortsetzen und besonders beim Lärmschutz Fortschritte erzielen. Ich glaube, man kann zu Recht sagen, dass wir bereits am 8. Februar für bestimmte Bereiche im Süden Lösungen gefunden haben, die in der Region anerkannt und mitgetragen werden; dies war ein wichtiger Punkt. ({10}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die besten verfügbaren Prognosezahlen, nämlich diejenigen für das Jahr 2025, zugrunde gelegt werden. Bei den weiteren Planungen müssen menschen- und umweltschonende Alternativen im Vordergrund stehen. Der Beginn von Probebohrungen für einen Güterzugtunnel in Offenburg zeigt symbolisch für die ganze Strecke, dass Bewegung in diese Diskussion hineingekommen ist. Er zeigt aber auch, dass die Landesregierung bereit ist, hier Lasten zu übernehmen. Wir haben nicht nur Forderungen erhoben, sondern wir haben schon früh unsere Bereitschaft signalisiert, einen namhaften finanziellen Beitrag für die erforderlichen Verbesserungen der vorliegenden Antragsplanung der Bahn zu leisten. Ministerpräsident Stefan Mappus hat bei seiner Bereisung der Rheintalbahn am 18. Februar 2011 nochmals bekräftigt: Die Landesregierung ist bereit, die Lärmschutzmaßnahmen im Interesse der Anwohner, die nicht ohnehin, weil planungsrechtlich zwingend, von der Bahn getragen werden müssen, bis zur Hälfte mitzufinanzieren. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir reden nicht nur darüber, sondern wir haben dazu in der mittelfristigen Finanzplanung ab 2013 jährlich 80 Millionen Euro vorgesehen. Außerdem hat sich die Landesregierung bereit erklärt, sich an den Kosten für die vertiefenden Untersuchungen zum Güterzugtunnel in Offenburg und zum Bereich der sogenannten Autobahnparallele zwischen Offenburg und Riegel zu beteiligen. Wir haben dieses Geld bereits zur Verfügung gestellt. Genau deswegen ist es möglich, dass die Probebohrungen erfolgen. Wir unterhalten uns über einen Betrag von knapp 1 Million Euro, den das Land zur Verfügung stellt. Wir sind dem Bund dankbar, dass er ebenfalls mitfinanziert. ({11}) Uns ist aber auch wichtig, dass Bund und Bahn ihrer eigenen Verantwortung als Träger der Maßnahme nachkommen. Die Rheintalbahn ist ein Bedarfsplanprojekt des Bundes, und der Bund hat sich gegenüber der Schweiz verpflichtet, die Rheintalbahn abgestimmt mit den Schweizer Großprojekten auszubauen. Das bedeutet für uns als Land, dass Bund und Bahn mindestens die Hälfte der Mehrkosten der erforderlichen Planungsverbesserungen tragen müssen. Ministerin Tanja Gönner ({12}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, für mich nicht nachvollziehbar ist übrigens die widersprüchliche Haltung der Grünen. ({13}) Auf Landesebene vertreten Sie, dass jede Mitfinanzierung des Landes an der Bundesschieneninfrastruktur verfassungswidrig sei. Deshalb haben sich die Grünen im Landtag bei einer namentlichen Abstimmung am 25. November 2010 gegen eine Mitfinanzierung des Landes bei Lärmschutzmaßnahmen über den geltenden Standard hinaus ausgesprochen. ({14}) - Herr Bonde, es ist nachweisbar, worüber die namentliche Abstimmung erfolgte. ({15}) Anträge sind bekanntermaßen öffentlich, und namentliche Abstimmungen helfen, zu sehen, wer sich wie verhalten hat. ({16}) Die Grünen haben sich dort dagegen ausgesprochen. ({17}) Und hier auf Bundesebene wird diese Mitfinanzierung von Ihnen ausdrücklich gefordert. Wir könnten schon heute nach Auffassung der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg die Bohrung für den Tunnel in Offenburg nicht finanzieren. Genau das tun wir aber, weil wir Verantwortung für die Menschen übernehmen. ({18}) Wir machen es auch deswegen, weil wir der festen Überzeugung sind und im Übrigen auch entsprechende Gutachten auf unserer Seite haben, dass wir es tun dürfen. Deswegen geht von uns ein klares Signal an die Menschen im Rheintal: Wir kennen unsere Verantwortung, und wir übernehmen sie - vom Bund über das Land bis in die Region. Genau das ist ganz wichtig. ({19}) Der Ausbau der Rheintalbahn macht aber auch deutlich, dass die Rahmenbedingungen für einen umweltfreundlichen und nachhaltigen Schienenverkehr teilweise modernisiert werden müssen. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, sollte deshalb der Schienenbonus schrittweise abgeschafft und sollten lärmabhängige Trassenpreise eingeführt werden. Auf europäischer Ebene muss das Thema Lärmgrenzwerte für Schienenfahrzeuge auch im Bestand intensiver angegangen werden, und die Umrüstung der Güterwagen mit lärmarmen Verbundstoffbremssohlen ist voranzutreiben. Alle Eisenbahngroßprojekte stehen vor ähnlichen Problemen bei der Finanzierung, bei der Akzeptanz und der oftmals sehr anspruchsvollen technischen Umsetzung. Wir können es aber schaffen, wenn alle an einem Strang ziehen und ihrer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden. Dazu gehört auch, dass der Bund für planfestgestellte Maßnahmen wie zum Beispiel den Tunnel in Rastatt genügend Geld für die Realisierung zur Verfügung stellt. Für die Landesregierung von Baden-Württemberg kann ich Ihnen versichern, dass wir in unseren intensiven Bemühungen um eine menschen- und umweltverträgliche Realisierung der Maßnahme nicht nachlassen werden. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam mit der Bevölkerung in Südbaden viel erreichen können, wenn wir weiterhin so konstruktiv zusammenstehen, wie das in der Vergangenheit der Fall war, und genau das wollen wir. Die Rheintalbahn ist ein gutes Beispiel dafür, dass man gemeinsam viel erreichen kann. Wir wollen diesen Weg fortsetzen. In diesem Sinne herzlichen Dank an die Regierungsfraktionen für die Unterstützung für das Land Baden-Württemberg. Ich hoffe, dass wir uns weiterhin darauf verlassen können. Ich bin mir da ganz sicher. ({20}) Herzlichen Dank. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, das geht nicht von Ihrer Redezeit ab. ({0}) Ich erteile das Wort dem Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion. ({1})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So viel Vorapplaus habe ich vonseiten von SchwarzGelb noch nie bekommen. Ich bedanke mich sehr herzlich dafür. ({0}) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Ministerin, erst am Ende Ihrer Rede haben Sie von Gemeinsamkeiten gesprochen. Ihre ganze Rede hingegen haben Sie als Wahlkampfrede inszeniert. ({1}) Das ist schade; denn bei der Rheintalbahn hätte man tatsächlich Gemeinsamkeiten finden können. Wer sich die Anträge anschaut, die von CDU/CSU und FDP einer11116 seits und SPD und Grünen andererseits vorgelegt wurden, der muss sehr genau lesen, um Unterschiede zu finden. Es gab die Möglichkeit, hier einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Ich glaube, das wäre im Interesse der Menschen vor Ort gewesen. ({2}) Die Rheintalbahn ist ein Infrastrukturgroßprojekt, bei dem wir es mit einer besonderen Situation zu tun haben. Bei dem Projekt Rheintalbahn besteht die Chance, einen Infrastrukturkonsens herbeizuführen. Der Projektbeirat, den Wolfgang Tiefensee eingerichtet hat, ist ein gutes Instrument, um die unterschiedlichen Anliegen einzubinden, ernst zu nehmen - dabei geht es auch um die Anliegen der Betroffenen vor Ort - und besser zu berücksichtigen, als das bisher bei vielen anderen Großprojekten geschehen ist. Ich glaube, es ist notwendig, dass ein Konsens im Bereich der Infrastruktur in Zukunft anders organisiert wird als in der Vergangenheit. Die vorgebrachten Anliegen müssen früher und besser eingebunden und tatsächlich berücksichtigt werden. Spannend ist doch die Frage, ob die Umsetzung auch tatsächlich erfolgt. Wenn man große Infrastrukturprojekte umsetzen will, gehört der Lärmschutz aus meiner Sicht unabdingbar dazu. Drehund Angelpunkt ist die Frage, ob man es mit dem Lärmschutz ernst meint. Dabei geht es auch um den sogenannten Schienenbonus. Das ist der Bonus, der bis heute für Infrastrukturprojekte im Bereich Schiene gilt, wenn es darum geht, wie viel Lärm abgesondert werden darf. Schwarz-Gelb hat im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass dieser Bonus abgeschafft werden soll. Angesichts dessen wäre es hier und heute doch ein guter Zeitpunkt für die Koalitionäre, zu sagen: Die Rheintalbahn ist das erste Projekt, bei dem der Schienenbonus nicht mehr gilt; für die Menschen, die an der Bahnstrecke wohnen, gelten die gleichen Lärmgrenzwerte wie für alle anderen Menschen auch. Es wäre doch nichts einfacher, als das heute hier zu verkünden. ({3}) Die zweite Frage, die man stellen muss, lautet: Wie wird das Ganze finanziert? Natürlich ist das eine Kostenfrage; das haben wir auch heute wieder gehört. Jeder, der sich mit größeren Infrastrukturprojekten beschäftigt und fragt, was bessere und bürgernähere Varianten unter Umständen kosten, muss zum Schluss auch die Frage beantworten, wer das bezahlen soll. Hier ist doch ganz offensichtlich, dass wir eine ganze Menge mehr Geld brauchen, als bisher im Topf ist, wenn wir die vielen unterschiedlichen und guten Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger umsetzen wollen, die natürlich ein Recht darauf haben, an dieser Strecke besonders vor Lärm geschützt zu werden. Es ist eine Besonderheit bei diesem Projekt, dass eigentlich von allen, die daran beteiligt sind, akzeptiert wird, dass diese zentrale Güterverkehrsstrecke gebraucht wird und ausgebaut werden muss. Das ist ja nicht bei allen Großprojekten so. Umso wichtiger ist es doch, dass wir dort alles tun, damit die Anwohnerinnen und Anwohner vor unnötigem Lärm geschützt werden. Wie kann man das insbesondere mit Blick auf die Finanzen zusichern? In diesem Zusammenhang stelle ich die Frage an die Regierungskoalition, wie sie das machen will. Sie haben gerade beschlossen, dass die Einnahmen aus der Lkw-Maut nicht mehr zu einem Drittel in die Schiene fließen. Das bedeutet, dass der Bereich Schiene in den nächsten Jahren hinsichtlich der Finanzierung immer stärker unter Druck geraten wird, weil natürlich die Schuldenbremse und andere Auswirkungen der Haushaltskonsolidierung viel stärker auf den Bereich Schiene durchschlagen als auf jeden anderen. Sie haben in diesem Hause beschlossen, dass die Deutsche Bahn jedes Jahr 500 Millionen Euro ihrer Dividende an den allgemeinen Bundeshaushalt abgeben soll. Das sind 500 Millionen Euro, die dann vor Ort für Lärmschutzmaßnahmen fehlen. Da braucht man sich nichts vorzumachen. Sie von Schwarz-Gelb reden von mehr Lärmschutz, aber Ihre praktischen Handlungen sind das genaue Gegenteil. ({4}) Das werden die Bürgerinnen und Bürger schließlich merken, wenn auch erst lange nachdem die Reden hier gehalten wurden. Wenn man jedoch einen Infrastrukturkonsens erreichen will, gehört deshalb dazu, dass man die Rahmenbedingungen klar und ehrlich benennt und die Frage nach der notwendigen Finanzierung beantwortet, mit der ein besserer Anwohnerschutz der Betroffenen im Rheintal gewährleistet ist. In diesem Zusammenhang wäre es an der Zeit, zu sagen: Was tun wir insbesondere mit Blick auf die Güterzüge, die durchs Rheintal fahren, europaweit für den Lärmschutz? Es reichen doch schon zwei oder drei Güterwaggons aus, die nicht über einen bestimmten Standard verfügen, um eine entsprechende Lärmentwicklung hervorzubringen. Warum wird nicht viel stärker auf eine Initiative auf europäischer Ebene hingewirkt, die modernere, leisere Güterzüge zum europäischen Standard erklärt? ({5}) Deutschland hat das Hauptinteresse an einer solchen Initiative, weil der Großteil des Güterverkehrs auf unseren Schienen rollt. Deswegen, sehr geehrte Damen und Herren von Schwarz-Gelb: Nicht an den Worten, an den Taten sollt ihr sie erkennen. Wenn es tatsächlich einen Infrastrukturkonsens in der Frage „Rheintal“ geben sollte, warum haben Sie dann einen gemeinsamen Antrag verweigert, und warum stellen Sie nicht heute die Mittel zur Verfügung, sodass es zu einem echten Lärmschutz vor Ort kommen kann? Von Ihnen kommt leider nur Wahlkampfgetöse. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Patrick Döring für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem auch dieser Versuch, Gemeinsamkeiten herauszustellen, gescheitert ist, will ich einen Versuch wagen, deutlich zu machen, dass wir in der Sache in Wahrheit gar nicht so weit auseinander sind. Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege Pronold, fällt es einfach schwer, anzuerkennen, dass die wesentlichen Fortschritte bei den Verbesserungen der Planungen, den Zusagen für mehr Lärmschutz, der Veränderung des technischen Regelwerkes für Schienenbonus und lärmabhängige Trassenpreise in dieser Wahlperiode von dieser Koalition, von diesen Koalitionsfraktionen und diesem Ministerium umgesetzt werden. Deshalb lassen wir uns an den Taten messen, geschätzter Kollege Pronold, geschätzte Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Die Planungen zur Rheintalbahn sind in diesem Hause lang und umfänglich kritisch diskutiert worden. Es ist dem Engagement der Kolleginnen und Kollegen aus der Region - das sage ich ausdrücklich: aller Fraktionen - zu verdanken, dass wir heute so weit sind, wie wir sind, und zwar ohne großen Streit und ohne hektische ideologische Auseinandersetzungen. Es ist dem Engagement der Kolleginnen und Kollegen in den Koalitionsfraktionen zu verdanken, dass der Einfluss der Diskussion vor Ort - auch über lärmabhängige Trassenpreise und Schienenbonus - so groß war, dass wir das bereits in die Koalitionsvereinbarung als Ziel für diese Wahlperiode aufgenommen haben. Der Dank gilt auch den Bürgerinitiativen vor Ort, die immer eine gute Debatte mit uns geführt haben. Wir haben am Ende gesehen, dass dies ein richtiger Weg ist, um die Akzeptanz von neuen Schienenwegen zu erhöhen. Darum machen wir das. ({1}) Ich will für die Freien Demokraten drei Punkte festhalten. Kollege Pronold hat angemahnt, man solle schon jetzt die Finanzierungszusage für die erhöhten Standards hier im Deutschen Bundestag festlegen. Ich habe eine schlichte und einfache Antwort darauf. Wir haben bei allen Infrastrukturprojekten die Reihenfolge: Planung, Planfeststellung, Finanzierungsvereinbarung. Noch nie sind vor Beendigung von Planfeststellungsverfahren Finanzierungsvereinbarungen getroffen oder gar Finanzierungszusagen durch die Bundesregierung gemacht und vom Haushaltsausschuss akzeptiert worden. ({2}) Allein schon die Parlamentarierwürde gebietet es, als Haushaltsgesetzgeber zu warten, bis man weiß, was gebaut werden soll, bevor man entscheidet, dass gebaut werden soll. Das ist die richtige Reihenfolge, und deshalb warten wir die Planungen mit und ohne Schienenbonus ganz in Ruhe ab und werden dann sicher auch die richtigen Entscheidungen treffen. ({3}) Es ist ein gewaltiger Erfolg des Projektbeirates, dass die Bundesregierung und die Landesregierung in BadenWürttemberg am 8. Februar 2011 im Projektbeirat zusagen konnten, dass die Planungen für die neuen Abschnitte sowohl mit als auch ohne Schienenbonus erfolgen. Das ist eine historische Situation. Es hat noch nie ein Eisenbahnprojekt mit Planungen ohne Schienenbonus gegeben. Das ist der Einstieg in den schrittweisen Abbau des Schienenbonus. Es ist klug, dass diese Zusage am 8. Februar 2011 erfolgte, und zwar lange bevor gesetzliche Regelungen dazu vorliegen konnten. Deshalb hat diese Vereinbarung Modellcharakter. Dies wünschen sich auch viele andere vor Ort - jedenfalls nach Auffassung der Koalitionsfraktionen. ({4}) Lassen Sie mich abschließend auf die Punkte eingehen, die über diese Strecke hinaus eisenbahnpolitische Bedeutung haben. In Baden-Württemberg ist in den letzten zwölf Monaten über zwei Eisenbahnprojekte heftig diskutiert worden, wenn auch an einer anderen Stelle deutlich kontroverser. Ich teile die Auffassung des Kollegen Pronold, dass die Lehren, die wir aus dem anderen eisenbahnpolitischen Projekt, aber auch aus dem Projekt Rheintalbahn zu ziehen haben, sind, dass wir unser Planfeststellungsrecht erweitern müssen, um die betroffenen Bürgerinnen und Bürger bei der Erweiterung unserer Verkehrswege, insbesondere unserer Schienenwege, frühzeitig einzubinden. Diese Einbindung müssen wir, nicht um die Planungsprozesse zu verlangsamen, sondern um sie am Ende zu beschleunigen, in unserem Gesetz verankern. Diesbezüglich sollten wir alsbald - ganz im Sinne der gestrigen Debatte - tätig werden. Dieses Ziel sollte uns einen. ({5}) Es ist ein Ergebnis der Besprechungen im Rheintal und an anderer Stelle, dass es klug ist, lärmabhängige Trassenpreise zu erheben. Das ist der schnellere und einfachere Weg, als darauf zu warten, dass es ein europaweites Förderprogramm für Hunderttausende von Güterwagen gibt. Wenn es auch nur einen lauten Waggon in einem Güterzug gibt, ist die Gesamtlärmbelastung hö11118 her; da haben Sie völlig recht. Deshalb ist es gut, die Verlader - also diejenigen, die Güterzüge in Verkehr bringen - über die Preise der Benutzung des deutschen Schienennetzes dazu anzuhalten, leises und modernes Material einzusetzen, und mit den Mehreinnahmen, die wir damit generieren können, zusätzlichen Lärmschutz zu finanzieren. Das ist der richtige Weg. ({6}) Als Koalitionsfraktionen haben wir die Bundesregierung aufgefordert - das macht deutlich, dass wir hinsichtlich der Umsetzung unseres Koalitionsvertrages ein Stück weit ungeduldig geworden sind -, bis zum Jahr 2012 den schrittweisen Abbau des Schienenbonus bis zu seiner endgültigen Abschaffung gesetzlich zu verankern. Es ist der Wunsch dieser Koalition, dies ins Gesetzblatt zu bekommen. Wir werden die Bundesregierung dazu anhalten, dies bis 2012 umzusetzen. ({7}) Ich sage auch voraus: Wenn in der Bundesregierung, insbesondere im Bundesfinanzministerium, gelegentlich die Widerstände zu groß werden, dann wird diese Koalition notfalls einen eigenen Gesetzentwurf zu dieser Sache einbringen. ({8}) Für die Freien Demokraten und für die Christdemokraten sage ich ausdrücklich: Es ist planungsbeschleunigend und gut für die Menschen, dass die Landesregierung von Baden-Württemberg, gebildet aus CDU und FDP, gemeinsam mit der Bundesregierung, gebildet aus CDU/CSU und FDP, hier Kofinanzierungsinstrumente gefunden hat. Das dient dem Wohle der Menschen, der Verbesserung und Beschleunigung der Planung und der schnelleren Umsetzung dessen, was die Menschen wünschen: die Realisierung dieser wichtigen Schienenstrecke einerseits und größtmöglichen Lärmschutz andererseits. Dabei werden wir sie unterstützen. Abschließend möchte ich mit einem einzigen Satz auf die Finanzierungsfrage kommen - Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht -: Die Deutsche Bahn AG wird einen Bilanzgewinn von etwa 3 Milliarden Euro für das Geschäftsjahr 2010 ausweisen. Wer dann hier behauptet, geschätzter Kollege Pronold, dass die Dividende von 500 Millionen Euro an den Hauptaktionär Bund die Investitionskraft dieses Unternehmens schwächen würde, ({9}) der handelt wider besseres Wissen und gegen jede ökonomische Vernunft. Es bleibt genug Bilanzgewinn übrig, um zusätzliche Investitionen auszulösen. Dafür werden wir sorgen. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Karin Binder ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig, mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Das sehen auch die Menschen am Oberrhein so. Deshalb treten sie dafür ein, dass die Rheintalbahn um ein drittes und viertes Gleis ergänzt wird, und zwar für den Güterverkehr. Die Menschen dort brauchen keine Hochgeschwindigkeitstrasse, wie die Bahn sie nach wie vor in der Planung hat, sie brauchen einen funktionierenden Personennahverkehr. Das haben sie auch in den Projektbeirat eingebracht, der nach heftigen Protesten eingerichtet wurde. Hier sieht man, wie wichtig Bürgerbeteiligung ist. Die Kompetenz und das Fachwissen, die von den Initiativen und den Umweltverbänden eingebracht wurden, haben zu einem Nachdenken über Landschaftsverbrauch und über die Existenzsicherung der dortigen Landwirte geführt. Das und einiges mehr haben ich und meine Fraktion von den Menschen dort erfahren. Darüber haben wir mit den Initiativen, mit Bürgermeistern, mit Ratsvertreterinnen und -vertretern diskutiert. Das ist für mich der beste Beweis dafür, wie wichtig diese Beteiligung ist. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir als Politikerinnen und Politiker solche Institutionen wie den Projektbeirat künftig verankern und dessen Ausgestaltung verbindlich regeln müssen. Die Beteiligungsrechte müssen definiert werden. Es darf nicht so sein, dass die Menschen erst etwas einbringen und die Politiker dann schauen, ob man es macht oder nicht; es muss verbindlich geregelt werden. Das ist für mich Bürgerbeteiligung. Das haben wir als Politikerinnen und Politiker auf den Weg zu bringen. ({0}) Inzwischen rasen auf der bestehenden Strecke, der alten Rheintalstrecke, mehr als 150 Güterzüge pro Tag. Sie donnern tagsüber mit 80, nachts mit 100 oder 120 Kilometern in der Stunde durch die Ortschaften bzw. an ihnen vorbei. Das erzeugt in den Wohngebieten Lärm von mehr als 100 Dezibel pro Zug. Die Häuser stehen an einigen Stellen nur 15 oder 25 Meter von den Schienen entfernt. Auch dort sind noch 90 bis 95 Dezibel Lärm zu messen. Fast 500 Menschen in der Belchenstraße im Entennest in Herbolzheim haben jede Nacht an die 80 Güterzüge, die jeweils 90 bis 95 Dezibel erzeugen, zu ertragen. Man weiß, dass Menschen bereits ab einer Lärmbelastung von 45 Dezibel krank werden. Daher kann man sich vorstellen, was die Menschen dort auszuhalten haben. Lärm macht krank. Er fördert Krebs und HerzKreislauf-Erkrankungen. Lärm schädigt das Immunsystem und das Gehör. Lärm erzeugt Stress, und Stresshormone erzeugen Bluthochdruck und Magengeschwüre. Kinder werden durch Lärm in ihrer Entwicklung behinKarin Binder dert. Das wirkt sich häufig auf ihre kognitiven Fähigkeiten aus, sodass sie nicht richtig lernen können. Um all diese Auswirkungen zu vermeiden, müssen wir den Lärm reduzieren, und zwar bald - nicht erst, wenn die neue Strecke gebaut ist, sondern schon jetzt auf der bestehenden Strecke. Schallschutzfenster oder 5 Meter hohe Schallschutzwände verhindern nicht, dass die Menschen krank werden. Die Entstehung von Lärm muss vermieden werden: durch modernen Gleisbau, durch modernen Waggonbau. Auch die Bestandsstrecken und die alten Waggons müssen dringend nachgerüstet werden. Ich glaube, dass man damit nicht warten darf, bis Planfeststellungsverfahren abgeschlossen sind und Ähnliches. Die Strecke ist jetzt zu laut, und dieses Problem muss jetzt angegangen werden, zumindest in den Bereichen, wo Menschen wohnen. ({1}) Schon deshalb sind das dritte und vierte Gleis am Oberrhein für den Güterverkehr dringend notwendig. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Die Güterzüge rasen ungebremst durch kleine Bahnhöfe wie Bad Krozingen, Kenzingen und Herbolzheim. Manchmal sind die Bahnsteige nur 2,5 Meter breit bzw. schmal. Diese kleinen Bahnhöfe sind für die Menschen in der Region wichtige Haltestellen: für den ÖPNV, für Kinder und Jugendliche auf dem Weg zur Schule, für viele auf dem Weg zur Arbeit. Die Menschen können nicht warten, bis endlich irgendwann einmal die neuen Gleise liegen. Man rechnet damit, dass sich der Güterverkehr bis 2025 verdoppelt, dass dann also mehr als 300 Güterzüge am Tag durch diese Bahnhöfe rasen. Wenn Güterzüge durch diese Bahnhöfe fahren, muss zumindest das Tempo gedrosselt werden. Sie rasen dort bisher ungebremst durch. Da passieren schreckliche Unfälle. Der letzte ereignete sich am letzten Sonntag. Ein junger Mann ist tödlich verunglückt. Er ist von einem Zug erfasst worden. ({2}) Gerade Güterzüge entwickeln durch ihre unterschiedlich gebauten Waggons Luftverwirbelungen. Sie entwickeln eine ungeheure Sogwirkung. Kinderwagen, die am Bahnsteig stehen, werden mitgerissen, Koffer selbstverständlich auch. Alte Menschen, Behinderte, Kinder haben keine Chance, wenn sie in den Sog dieser Züge geraten. Hier ist viel zu tun, und zwar gleich, nicht erst, wenn planfestgestellt ist bzw. wenn irgendwann einmal die neue Strecke besteht. Das Heimtückische ist: Diese Züge kommen leise an. Man hört sie erst, wenn sie schon da sind. Da helfen auch Anzeigetafeln nicht. Ein sehbehinderter Mensch kann eine Anzeigetafel nicht lesen. Wir brauchen die Durchsagen, die auch früher auf Bahnsteigen zu hören waren: „Vorsicht, ein Zug fährt durch!“ Aber die Bahn hat in den vergangenen Jahren jährlich 15 000 Mitarbeiter eingespart. Daran erkennt man: Hier werden Kosten gespart, hier wird an der Sicherheit gespart, und hier wird bei den Menschen gespart. Das muss aufhören. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Durch Projekte wie Stuttgart 21 wird uns das notwendige Geld genommen, um hier für Sicherheit und Lärmschutz zu sorgen. Sorgen Sie heute dafür, dass sich das ändert, und stimmen Sie unseren vorliegenden Anträgen zu. Ich danke Ihnen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Winfried Hermann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger im Rheintal, wir wissen, dass Sie heute sehr aufmerksam auf diese Debatte schauen; denn sie ist auch Ihre Debatte. Sie haben jahrelang beharrliche Überzeugungsarbeit vor Ort geleistet. Sie haben viele Abgeordnete eingeladen. Sie haben uns klargemacht, dass im Rheintal so nicht weitergebaut werden kann. Insofern: Herzlichen Dank für Ihr Engagement, mit dem Sie diese Debatte ermöglicht haben! ({0}) Die Botschaften, die wir im Rheintal vernehmen konnten, waren sehr eindeutig. Die erste Botschaft lautet: Wir wollen, dass der Schienenverkehr im Rheintal ausgebaut wird. Wir erkennen an, dass es notwendig ist, diese Kapazitäten zu schaffen. Wir brauchen eine Verlagerung, gerade weil es einen Staatsvertrag mit der Schweiz gibt, den wir erfüllen müssen. Deswegen ist das wichtig. Die zweite Botschaft lautet: Wir stehen zum Ausbau, aber so nicht. Es kann nicht sein, dass laute Güterzüge weiterhin mitten durch Ortschaften donnern, ohne Rücksicht auf die Anwohnerinnen und Anwohner. Das kann so nicht weitergehen. ({1}) Sie haben auch deutlich gemacht, dass es ihnen nicht hilft, wenn wir meterhohe Mauern durch die Orte bauen. Denn diese Mauern zerstören den Charakter der Orte. Diese Art von Lärmschutz hilft insofern nicht weiter. Sie macht viel kaputt, und davon sollten wir Abstand nehmen. Wir müssen, wie wir finden, grundsätzlich umplanen. Das hat inzwischen übrigens auch das Regierungspräsidium Freiburg anerkannt. Ich betrachte es als einen Meilenstein in der Bahnplanungsgeschichte, dass es ein Regierungspräsidium gewagt hat, die Planungen der Bahn als vollkommen inakzeptabel und falsch zurückzuweisen. ({2}) Ich finde, die ganze Geschichte ist insofern positiv, als sie ein Beispiel für eine lebendige Zivilgesellschaft ist, in der sich Bürgerinnen und Bürger, Gemeinderäte und Bürgermeister eingemischt und gesagt haben: Wir akzeptieren nicht, was von oben kommt. Wir haben Vorschläge. - Sie haben wirklich machbare Vorschläge ausgearbeitet, und auch das ist ein schönes Beispiel dafür, dass nicht alles, was von oben kommt, gut ist, sondern dass manchmal das, was von unten wächst, das Bessere ist. Das Rheintal-Projekt ist aus meiner Sicht auch ein Beispiel für völlig veraltete obrigkeitsstaatliche Bahnplanung. Jahrelang hat man gesagt: Da wollen wir durch. Dafür suchen wir die die günstigste und billigste Trasse, und dann werden wir das durchziehen. - Ich war viele Jahre im Rheintal aktiv, wo mir die Bürgerinnen und Bürger gesagt haben: Die hören nicht auf uns, die machen einfach weiter. Ich selber habe viele Gespräche mit Ministern verschiedener Regierungen sowie Koalitionspartnern geführt. Es gab immer und immer wieder Einwände wie diese: Wir können doch nicht anders. Wir müssen so vorgehen. - Insofern ist das ein gutes Beispiel für Lernunfähigkeit. Lange Zeit hat man nicht begriffen, dass man nicht gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger Schienenwege ausbauen kann. Man hat übrigens auch keinen Erfolg gehabt. Das ganze Projekt läuft nun seit mehr als 25 Jahren, und dies liegt nicht daran, dass es schon seit 25 Jahren Bürgerproteste gibt. Vielmehr liegt es an 25 Jahren dilettantischer Planungen, stümperhafter Formen des Ausbauens und keiner konsequenten Finanzierung. All das hat dazu geführt, dass wir heute sagen müssen: Wir werden es nicht schaffen, bis 2018 fertig zu sein, und es ist bitter, dass wir in Deutschland zugeben müssen, dass wir nicht in der Lage sind, einen Vertrag, den wir vor vielen Jahren abgeschlossen haben, einzuhalten. Das finde ich ein Stück weit beschämend. Das muss sich ändern, und das muss eine Lehre aus diesem Projekt sein. Wir müssen es zukünftig anders machen. ({3}) Anders machen, anders planen heißt aber, wirklich umzuplanen. Es geht nicht nur um ein bisschen Lärmschutz. Beispielsweise sind wir in Offenburg gezwungen, von der Trasse Abstand zu nehmen und unter die Erde zu gehen. Wir müssen schauen, dass wir damit nicht wieder das nächste Problem schaffen. Deswegen muss auch diese Umplanung anwohnerfreundlich und im Konsens mit der Kommune vorgenommen werden. ({4}) Wir gehen in unserem Grünenantrag noch weiter. Wir sagen: Auch südlich von Offenburg müssen wir über alternative Trassenführungen nachdenken. Die autobahnnahe Trasse wird auf der Strecke dort die bessere Alternative sein als der Versuch, die Trasse durch die Orte zu führen und lediglich die Lärmschutzwände zu erhöhen. Das ist unser Ansatz. Dafür werben wir um Unterstützung. ({5}) Meine Damen und Herren, es ist tatsächlich so, dass heute viele Anträge vorliegen; es war fast ein Wettbewerb seitens der Antragsteller. Es gibt inzwischen auch viele Gemeinsamkeiten. Das empfinde ich als einen großen Fortschritt. Denn das war nicht immer so. Ich anerkenne wirklich, dass alle Fraktionen sagen: Wir wollen weg von den alten Plänen. Wir wollen den Ausbau bürgerfreundlich gestalten. Wir wollen den Prognosehorizont 2025 endlich anerkennen. - Man muss es sich einmal vor Augen halten: Jahrelang haben wir darum gestritten, dass er gilt. Man hat mit einem Prognosehorizont geplant, obwohl man wusste, dass man bis dahin mit dem Bau der Strecke noch gar nicht fertig sein wird. Dieser Aspekt ist ziemlich wichtig. Darüber hinaus geht es darum, dass wir nicht nur Lärmschutzwände bauen, sondern innovative Lärmschutzmaßnahmen ergreifen. Wir brauchen so schnell wie möglich lärmabhängige Trassengebühren; diese wollen übrigens alle. Das ist ein echter Fortschritt, und insofern sage ich „Danke schön“ an das Bürgerengagement. Denn dieses hat uns dazu in den Fraktionen getrieben. ({6}) Neben den Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede. Das war letztendlich auch der Punkt, weshalb man sich nicht auf einen gemeinsamen Antrag verständigen konnte. Wir sollten uns da nicht den Schwarzen Peter zuschieben. Natürlich gibt es unterschiedliche Ansätze und auch unterschiedliche strategische Interessen. Die Opposition wollte eine klare eigenständige Position - die Regierungskoalition natürlich auch. Wir hätten uns auf einen gemeinsamen Antrag verständigen müssen. Das ist allerdings nicht gelungen. Das wäre auf Augenhöhe gewesen, aber das hat die Koalition nicht angeboten. Nun, worin besteht die Differenz? - Zum Schienenbonus schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass dieser ab 2012 nicht mehr gelten soll. Da sind wir misstrauisch. Denn in einem Jahr kann man noch viel Falsches beschließen. Wir wollen daher, dass er sofort gilt. Wir haben in unserem Papier sehr eindeutig gesagt, dass wir eine klare Finanzierungskonzeption wollen. Es genügt nicht, einfach zu sagen, wir wollen das Gute, während alles unter einem Haushaltsvorbehalt steht. So kommen wir nicht mehr weiter. Das ist lange genug schiefgegangen. Wir haben auch eindeutig gesagt: Wenn man dort ein Modellprojekt will, dann darf man nicht nur prüfen, was man im Rahmen eines Modellprojekts tun kann, sondern dann muss man dort tatsächlich ein Modellprojekt mit allen innovativen Formen des Klimaschutzes und allen Formen neuer Bürgerbeteiligung realisieren. Es geht eben um eine neue Art von Planungs- und Baukultur. Das ist unser Vorschlag. Letzter Punkt. Es geht um den Dauerangriff vor allem der CDU in Bezug auf die Finanzierung. Frau Gönner, wir Grünen haben im Landtag nicht gesagt, dass sich das Land daran nicht beteiligen soll, sondern wir haben deutlich gemacht: Es ist nach unserer Einschätzung verfassungswidrig, wenn sich das Land Priorisierungen beim Bund dadurch erkauft, dass es Milliarden auf den Tisch legt. ({7}) Diese Art von Mischfinanzierung lehnen wir ab, weil wir sie für verfassungswidrig halten. ({8}) Wir haben einen Antrag abgelehnt, der viele kritische Punkte enthielt, unter anderem eben auch diese Mischfinanzierung. Wir sagen in unserem gemeinsamen Antrag hier und in unserem eigenen Antrag sehr deutlich: Ja, das Land soll sich beteiligen, und zwar an Lärmschutzmaßnahmen, die über das gesetzliche Niveau hinausgehen. Es ist keine Frage: Das Land muss sich daran beteiligen. Das ist unser Ansatz. Wir wollen aber nicht, dass es in verfassungswidriger Weise zu Mischfinanzierungen kommt, sodass das Land das finanziert, was eigentlich der Bund finanzieren müsste. Das sagen Sie übrigens an vielen anderen Stellen selber. Ich verstehe nicht, warum Sie hier meinen, uns vorführen zu müssen. Ich finde, das, was Sie da tun, ist ziemlich billig. ({9}) Fazit: Wir müssen alles dafür tun, dass wir jetzt wirklich schnell zu einer besseren Planung kommen, wir müssen alles für eine grundlegende Finanzierung dieses Großprojektes tun, und wir müssen alles dafür tun, dass wir nicht erst 2030 oder 2040 fertig werden, sondern dass wir spätestens in 10, 15 Jahren auf dem dritten und vierten Gleis im Rheintal fahren und wirklich einen Beitrag zum Klimaschutz im Verkehr geleistet haben. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält jetzt der Kollege Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Steffen Bilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie auch mir an dieser Stelle, zuerst einmal den Anwohnern entlang der Rheintalbahn zu danken. Sie engagieren sich in Bürgerinitiativen und sind konstruktiv an der Lösung und nicht nur am so weitverbreiteten Denken an den eigenen Kirchturm interessiert. Bei all meinen Besuchen im Rheintal konnte auch ich mich eindrücklich davon überzeugen, wie viel Verständnis die Anwohner für die ökonomische und ökologische Notwendigkeit der Rheintalbahn haben. Oft wurde in Gesprächen deutlich gemacht: Wir stehen zum Schienenverkehr und zur Rheintalbahn. Dabei muss man wissen, dass es durch das Bahnprojekt für die Menschen dort, anders etwa als bei Stuttgart 21, im Prinzip fast nur Nachteile gibt. Auch deshalb haben die Anwohner unseren Respekt für ihre positive Grundhaltung verdient. ({0}) Der Ausbau der Schienenstrecke im Rheingraben als Zulauf zum Gotthard-Basistunnel ist genauso notwendig wie die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene. ({1})! Die Frage ist hier also nicht, ob ausgebaut wird, sondern wie. Die ersten Überlegungen dazu sind für Mensch und Umwelt in der Tat nicht akzeptabel gewesen. ({2}) Wir haben daraus und aus langjährigen Versäumnissen gelernt und fordern die Bundesregierung in unserem Koalitionsantrag beispielsweise auf, den bereits seit Jahren planfestgestellten Raststatter Tunnel zu realisieren. Wir brauchen solche und andere Maßnahmen, um die notwendige Akzeptanz des Jahrhundertprojekts nicht zu gefährden; denn eines ist klar: Die Menschen an der Rheintalbahn oder woanders sind nicht mehr bereit, vermeidbaren Schienenlärm einfach so hinzunehmen. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Wir von den Regierungsfraktionen nehmen die Sorgen der Menschen vor Ort sehr ernst - im Übrigen schon lange und nicht nur in Wahlkampfzeiten. Seit Jahren sind die direkt gewählten Abgeordneten entlang der Rheintalbahn für die Anlieger dort im Einsatz. Dabei können sie sich auf die Unterstützung von uns Verkehrspolitikern verlassen. ({3}) Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ist für uns ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum verbesserten Schutz von Mensch und Umwelt. Dazu haben wir schon im Koalitionsvertrag von 2009 festgelegt, dass wir den sogenannten Schienenbonus abschaffen werden. In dem vorliegenden Antrag haben wir dieser Willensbekundung Taten folgen lassen. Die Bundesregierung muss jetzt einen Gesetzentwurf vorlegen, damit kein Unterschied mehr zwischen Lärm durch Straßen- und Schienenverkehr gemacht wird. Diese Forderung in unserem Antrag ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn bislang haben sich keine Bundestagesmehrheit und keine Bundesregierung so konkret an dieses Thema herangewagt. ({4}) Besondere Maßnahmen sind bei der Rheintalbahn aufgrund ihrer Bedeutung und ihrer geografischen Lage gerechtfertigt. Deshalb wollen wir diese Strecke faktisch zu einem Modellprojekt für gelungene Streckenführung und Antilärmmaßnahmen machen. Dabei geht es nicht nur um Lärmbekämpfung, sondern auch darum, Lärm erst gar nicht entstehen zu lassen. Hierzu sollen die möglichen technischen Innovationen eingesetzt werden. Zudem sollen als Anreiz für den Einsatz leiserer Fahrzeuge lärmabhängige Trassenpreise obligatorisch werden. Nun mögen die weitergehenden Forderungen des gemeinsamen Oppositionsantrags von Sozialdemokraten und Grünen wünschenswert sein. Aber nicht alles, was wünschenswert ist, ist auch möglich. In diesem Fall ist es nicht etwa nicht möglich, weil wir es nicht wollen, sondern weil wir keine Regelungen festschreiben können, die rechtlich nicht möglich sind, weil der Bund keinen direkten Zugriff auf die Planungen hat, und auch weil wir nicht unbegrenzte Finanzzusagen machen können. Darin zeigt sich vielleicht der Unterschied zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen. ({5}) - Herr Pronold, nachdem Sie das in Ihrer Rede angesprochen haben, will ich einige Sätze dazu sagen. Herr Hermann hat zu Recht davon gesprochen, dass die Menschen vor Ort nicht wollen, dass Schwarzer Peter gespielt wird. Aber wenn Sie sich die Mühe machen, unseren Antrag abzuschreiben, und ihn nur mit wenigen Ergänzungen versehen, ({6}) dann frage ich mich, weshalb wir das am Dienstag so beiläufig erfahren haben. Wir hätten Ihnen gerne das Worddokument zur Verfügung gestellt, dann hätten Sie es nicht extra abtippen müssen. ({7}) Frau Andreae, ich habe mich sehr über den Brief von Ihnen und Herrn Bonde gefreut, den ich am Freitag erhalten habe. Wir haben das Gesprächsangebot angenommen, mussten allerdings feststellen, dass, nachdem wir Bereitschaft signalisiert hatten, auf Ihre Punkte einzugehen, die Hürden so erhöht wurden, dass leider aus inhaltlichen und formalen Gründen heute kein gemeinsamer Antrag zustande gekommen ist. ({8}) Wir jedenfalls brauchen uns mit unseren Leistungen für die Rheintalbahn nicht zu verstecken. Wer den Stand der Dinge von vor zwei Jahren mit der Situation heute vergleicht, kann nur zu einem Schluss kommen: Die örtlichen Vertreter haben gemeinsam mit den Regierungen auf Bundes- und Landesebene und mit der Deutschen Bahn sehr viel für die Region erreicht. Dazu haben auch wir als Bundestagsabgeordnete unseren Beitrag geleistet. Ich sage an dieser Stelle auch: nicht nur wir als Koalition, sondern durchaus auch Vertreter der Oppositionsparteien, wenngleich die Haltung der Grünen in Baden-Württemberg zur Mitfinanzierung von mehr Lärmschutz durch das Land sehr bedauerlich ist. Wir schätzen die verfassungsrechtliche Lage in dieser Frage anders ein. Entscheidungen werden aber von denjenigen getroffen, die dazu die Verantwortung übertragen bekommen haben. Das sind nun einmal Union und FDP. Bei uns sind die Anliegen der betroffenen Menschen in guten Händen. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Ute Kumpf von der SPD-Fraktion. ({0})

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorneweg: Wenn wir heute mit unseren Positionen so nahe beieinanderstehen, dann ist das nicht Ihr Verdienst, Herr Döring, oder Ihres, Frau Gönner. ({0}) Es ist vielmehr das Verdienst der IG BOHR und der Menschen vor Ort, die sich vor sieben Jahren, im April 2004, zusammengeschlossen und Konzepte und Kompetenz entwickelt haben. Sie sind entsprechend hartnäckig, aber auch badisch-konziliant geblieben und haben das Vorhaben nicht in Kontrast zu Stuttgart 21 gestellt. Deshalb ist in erster Linie diesen Menschen dafür zu danken, dass wir zur Einsicht gekommen sind. ({1}) Meine zweite Bemerkung richte ich an Frau Gönner. Ich schätze Sie. Sie haben das Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21 mitgetragen und miterlitten, unabhängig davon, wie es Ihnen geht. Wahrscheinlich sind Sie deswegen zur Einsicht gekommen. Aber Sie bzw. die CDU im Landtag sind spät zur Einsicht gekommen, was Baden 21 anbelangt. Die SPD hat 2006 den ersten Antrag eingebracht, in dem sie sich eindeutig positiv zu dem Konzept Baden 21 stellt. Sie haben bis November 2010 gebraucht, sich dazu positiv zu stellen. Es gab immer ablehnende Beschlüsse ({2}) - Doch, das liegt mir vor. Ich habe es mir extra schicken lassen, weil ich mir gedacht habe: Wenn die Ministerin anreist, müssen wir auch wissen, was im Ländle passiert. Daher: Tun Sie nicht so, als wären Sie schon immer dabei gewesen. Sie haben diese Schlichtung und das Desaster in Stuttgart gebraucht, um zur Einsicht zu gelanUte Kumpf gen. Damit ist die Lerntheorie bestätigt: Anscheinend lernt man nur durch Katastrophen. ({3}) Ich überlege, wie es gewesen wäre, wenn wir am 27. April darüber diskutiert hätten. Wäre dann die Bereitschaft tatsächlich vorhanden, hierbei so weit zu gehen? Aber lassen wir das beiseite. Wir haben eine gemeinsame Position gefunden. Wir alle sind in der Pflicht gegenüber der EU, aufgrund der Verpflichtungen aus den Verträgen und gegenüber der Schweiz - wahrscheinlich verfolgt die Schweiz heute die Debatte -, diese Rheintalbahn zu bauen. Wir sind vor allem den Menschen gegenüber in der Pflicht. Ich sehe sie in den Podiumsrunden sitzen. Alle, etwa Herr Simmling und Herr Bilger, haben gesagt: Wir tun das. - Alle sind durch das Land gereist und haben alles erst einmal versprochen. ({4}) Es ist auch eine Lehre für uns im Parlament, dass die Zeit der Ankündigungen vorbei ist. Wir müssen bei der Wahrheit bleiben. ({5}) Wir alle müssen sagen, was machbar ist, was wir machen wollen und wie wir das Konzept Baden 21, zum Beispiel den Tunnel in Offenburg, die autobahnnahe Trasse und Tieferlegungen bei einzelnen Streckenabschnitten, tatsächlich realisieren wollen. Denn dies erwarten die Menschen vor Ort, ({6}) und nicht nur, dass man wieder einmal prüft und das unter einen Haushaltsvorbehalt stellt, wie Sie es in Ihrem Antrag machen. ({7}) Sie sollten nicht nur sagen, dass man über ein bisschen Schienenbonus nachdenken könne, sondern wir brauchen rein rechtlich dieses Modellprojekt, um die Forderungen durchzusetzen. Wir brauchen die Lärmminderung nicht nur an der Trassenführung, sondern wir müssen dafür sorgen, dass Lärm gar nicht erst entsteht. Wir brauchen ein Programm auf europäischer Ebene, um die Güterzüge leiser zu gestalten. Ich gebe auch dem Kollegen Winfried Hermann recht, wenn er auf Folgendes verweist: Das EisenbahnBundesamt oder wer auch immer diese Streckenplanung vorgenommen hat, hat irgendwann einmal ein Lineal genommen und das von oben nach unten durchgeplant, weil sich das wohl ganz toll ansehen lässt. Anscheinend war niemand vor Ort, um sich das vor Augen zu führen. Viele Konzeptionen wurden durch die IG BOHR und andere Initiativen vorgestellt, die sich Sachverstand organisiert und Geld in die Hand genommen haben. Auch die Gemeinden haben Geld in die Hand genommen, damit sie sich gegenüber den Trassenplanern Gehör verschaffen und Widerspruch organisieren können. Die von Bundesseite vorgenommene Trassenplanung ist an manchen Stellen irrsinnig - einschließlich einer Planung, die immer noch um drei Strommasten herum verläuft, weil es angeblich immer noch zu teuer ist, eine Begradigung durchzuführen. Wir sollten uns alle an die Nase fassen und sagen: Wir sind zu der Erkenntnis gelangt, dass wir uns dieser Konzeption anschließen. Sie müssen dafür sorgen, dass die finanzielle Ausstattung für diese Planung tatsächlich gewährleistet ist, denn Sie lassen uns praktisch am langen Arm verhungern. Herr Bilger, wir haben mit Blick auf einen gemeinsamen Antrag zusammengesessen, es gibt nicht nur den Brief des Kollegen Bonde und der Kollegin Andreae. Aber mit Ihrer Haltung - ich weiß nicht, wie ich sie genau nennen soll - nach dem Motto: „Sie dürfen ein bisschen an unserem Antrag verändern“ befinden wir uns nicht auf Augenhöhe. Sie haben in Freiburg versprochen, dass wir einen gemeinsamen Antrag einbringen. ({8}) Das war bei einem Lärmkongress in Freiburg, bei dem auch die Kollegen Herzog und Simmling anwesend waren. Wir alle haben gesagt, dass wir an einem Strang ziehen werden. Das haben Sie nicht gemacht, weil Sie wahrscheinlich über sich sagen wollen: Wir sind diejenigen, die das Ganze vorantreiben. - Das finde ich vom parlamentarischen Verständnis her fragwürdig; denn es scheint Ihnen darum zu gehen, ein Stück weit Macht auszuspielen; ich weiß nicht, was das für ein Verständnis ist. ({9}) Auf alle Fälle konnten wir deswegen auch nicht zusammenkommen. Vielleicht haben Sie persönlich ein anderes Vorgehen für gut befunden, aber Sie haben kein grünes Licht bekommen. ({10}) Ich weiß nicht, wer bei Ihnen das Denken vorgibt. Bei uns funktioniert das anders und demokratischer. Auf alle Fälle finde ich das schade. Aber lassen wir das. Deswegen haben wir gemeinsam mit den Grünen einen Antrag eingebracht, in dem wir die wesentlichen Punkte formuliert haben. Der Dissens besteht an der zentralen Stelle. Ich denke, die Zeit der Ankündigungen, der Versprechungen und der Haltung, immer ganz lieb zu sein, wenn wir dort unten sind, ist schlichtweg vorbei. ({11}) Ich war ganz erstaunt, als Herr Grube und Herr Mappus eine Fahrt entlang des Rheins nach dem Motto „Eine Bahnfahrt, die ist lustig“ gemacht haben. Auch der Verkehrsausschuss hat eine Fahrt unternommen. Der Punkt ist, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Initiativen uns ernst nehmen und uns glauben, wenn wir etwas sagen. Wir dürfen diese Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen. ({12}) Deswegen ist es unabdingbar, dass wir die Finanzierung sicherstellen und die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen. ({13}) Wenn wir von der Schweiz gefragt werden, wann wir so weit sind, dann müssen wir das, was wir versprochen haben, einlösen. Wir werden an der Stelle sicherlich finanzielle Probleme bekommen, vielleicht auch noch Druck von der Schweiz. Das wird uns noch einmal eine enorme Summe kosten. Deswegen: Seien Sie ehrlich, ({14}) sorgen Sie für die Finanzierung, sorgen Sie für die gesetzlichen Grundlagen und sorgen Sie vor allem dafür, dass die Menschen im Rheintal die Bahn bekommen, die sie wollen - anwohnerfreundlich, klimaverträglich und mit ihrer eigenen Unterstützung! Das ist toll bei einem so großen Infrastrukturprojekt. Danke. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Werner Simmling ist der nächste Redner für die FDPFraktion. ({0})

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen feststellen, dass wir hier in diesem Hohen Hause bei der Debatte zur Rheintalbahn doch entgegen allem Anschein, den soeben auch Frau Kumpf erweckt hat, in vielen Punkten einig sind. Lassen Sie uns in diesem Sinne vor allem für die Bürgerinnen und Bürger im Rheintal weiterarbeiten. Ich glaube, es macht keinen Sinn, in der Vergangenheit zu graben und zu sagen, der eine habe das nicht und der andere habe jenes nicht gemacht. Wir führen mit der heutigen Debatte fort, was in Baden-Württemberg, speziell am südlichen Oberrhein, bereits selbstverständlich ist. Bürgerinitiativen, Kommunalpolitik, Landräte, Regierungspräsident und Landesregierung arbeiten seit Jahren eng und vertrauensvoll an Lösungen für einen anwohner- und umweltfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn. Mit der Gründung des Projektbeirats im Jahr 2009 wurde diese Zusammenarbeit institutionalisiert. Unter Mitwirkung aller Projektbeteiligten, darunter Vertreter der DB AG, des Bundes, des Landes und der Bürgerinitiativen, wird sehr erfolgreich gearbeitet. Hervorheben - das wurde heute schon einmal gesagt - möchte ich die Beschlüsse der Sitzung vom 8. Februar dieses Jahres, die, wie ich finde, einen Meilenstein markieren. Deshalb möchte ich diese Beschlüsse hier wiederholen: Es wurde eine Prüfung der Tunnellösung in Offenburg vereinbart. Weiterhin wird die Prüfung einer autobahnnahen Trasse von Offenburg bis Riegel mit und ohne Schienenbonus und der Vergleich mit der beantragten Trasse vorgenommen. Schließlich wird ein Planfeststellungsbeschluss durch das EBA zukünftig nur dann ergehen, wenn die jeweilige Kernforderung im Projektbeirat abschließend behandelt worden ist. Ich denke, wir haben im Vergleich zu früher riesige Fortschritte gemacht. Da sollten wir weiterarbeiten. ({0}) Mit ihrem Antrag unterstützt die Regierungskoalition ausdrücklich diese Projektbeiratsbeschlüsse. Unser gemeinsamer Antrag hat die Zielsetzung, nach Möglichkeit zu einer von großen Teilen der Bevölkerung akzeptierten Planung und Bauausführung zu kommen. Lassen Sie mich an dieser Stelle die Bedeutung der Rheintalstrecke kurz hervorheben und Ihnen darlegen, was dieser Ausbau für die Menschen vor Ort bedeutet. Die Rheintalbahn ist die Zulaufstrecke der alpenquerenden Verkehre und ein Teil des äußerst stark belasteten Verkehrskorridors von Rotterdam bis Genua, der die Nordsee mit dem Mittelmeer verbindet. Die Bundesregierung hat sich zum Ausbau der Strecke vertraglich verpflichtet. Ihr Kosten-Nutzen-Faktor liegt bei 2,7. Das sagt alles über die wirtschaftliche Bedeutung dieser Strecke. Die verkehrliche Belastung durch die Güterzüge wird mit der Fertigstellung des Gotthardtunnels auf Schweizer Seite daher noch einmal erheblich zunehmen. Bei allen Planfeststellungsverfahren gehen wir jetzt von den Zugzahlen der Verkehrsprognose 2025 aus. Für das Jahr 2025 sind das Zugzahlen von 360 Güterzügen pro Tag. Das heißt: alle vier Minuten ein Zug. Anders gesagt, sind das mehr als 100 000 Güterzüge pro Jahr. Doch nicht nur die Lärmbeeinträchtigungen stehen bei der jetzigen Trassenführung in der Diskussion, sondern auch massive Eingriffe in das Landschaftsbild. Lassen Sie mich das am Beispiel „Knoten Kenzingen“ kurz ausführen. Mit der heutigen Trassenführung müssten zwei Überwerfungsbauwerke mit Ausmaßen von 850 Metern bzw. 1 100 Metern gebaut werden, und das alles in einer Höhe von 5 bis 7 Metern. Dadurch sollen die verschiedenen Verkehrsarten - Personenfernverkehr, Personennahverkehr und Güterverkehr - entmischt werden. Konkret heißt das für die Stadt Kenzingen, dass durch das Stadtgebiet ein sechsgleisiger Ausbau stattfinden müsste. Daher erwarten die Menschen in Südbaden zu Recht - das habe ich auch bei meinen Besuchen dort erfahren -, dass ihren Bedürfnissen nach Lärmschutz und nach einer landschaftsverträglichen Verkehrsplanung Rechnung getragen wird. Wir haben von Anfang an in einem engen Kontakt mit den Bürgerinitiativen gestanden. Wir haben die Anliegen der Bevölkerung mit konkreten Beschlüssen auf Landesund Bundesebene unterstützt. Bereits in der 15. und 16. Wahlperiode haben wir mit unseren Anträgen eine Überplanung der vorgesehenen Ausbaustrecke gefordert. Umso mehr erfreut unsere Fraktion, dass wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner den heutigen Antrag auf den Weg gebracht haben. In diesem Sinne lassen Sie uns rasch - ich betone: rasch - gemeinsam an der Umsetzung der Projektbeiratsbeschlüsse arbeiten und den hier im Hause herrschenden Konsens zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger im Rheintal nutzen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Herbert Behrens für die Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die IG BOHR hat in gewisser Weise lange gebohrt, bis sie es geschafft hat, dass ihre Interessen im Bundestag prominente Berücksichtigung finden; gleich acht Anträge befassen sich mit ihren Anliegen. Die Interessengemeinschaft Bahnprotest an Ober- und Hochrhein ist für uns ein beeindruckendes Beispiel für Bürgerengagement, aber auch für Planungsfantasie, wie wir sie brauchen. Die Mitglieder der Bürgerinitiativen haben es geschafft, Betroffene zu organisieren und sie zu bewegen, ihre Interessen in die Hand zu nehmen. Sie nehmen damit ihre Verantwortung für sich selber wahr. Es sind nicht wir, die die Verantwortung für sie übernehmen; das tun sie selber. Wir haben einfach nur unsere Aufgabe zu erfüllen und ihren Interessen nachzukommen. ({0}) Das Ergebnis der Arbeit dort ist ein kompletter Plan, wie in der Zukunft der Bahnverkehr durch das Rheintal rollen soll. Dieser Plan hat den Namen „Baden 21“. Schon heute rattern Hunderte Züge durch Gemeinden und Städte. Es sollen nach Prognosen der Bundesregierung bis zu 600 werden. Das hält kein Mensch mehr aus, der in dieser Region lebt, wenn nach alten Maßstäben geplant wird. Die Bürgerinnen und Bürger von Offenburg akzeptieren nicht, dass beispielsweise vier Gleise ihre Stadt zerschneiden und meterhohe Lärmschutzwände sie verschandeln. Trotzdem gibt es eine hohe Bereitschaft, das Vorhaben mitzutragen. Die Leute wissen, dass die Rheintalbahn wichtig für die Transporte zwischen Deutschland, der Schweiz und Italien ist. Sie wollen nicht, dass dieser Verkehr über die Straße abgewickelt wird, sondern sie wollen, dass er auf die Schiene verlegt wird. Sie akzeptieren den Ausbau der Rheintalbahn auf vier Gleise, damit Güter- und Personenverkehr auf eigenen Trassen fahren können. Sie verlangen aber, dass ihre Gesundheit und ihre Lebensqualität bestmöglich geschützt werden. Wir unterstützen sie in ihren berechtigten Forderungen. ({1}) Die Linke fordert in ihrem Antrag den wirksamen Schutz vor Lärm und Schadstoffen in der Luft. Damit das umgesetzt wird, müssen die Deutsche Bahn und das Land Baden-Württemberg gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Initiativen sowie den Umweltverbänden planen. Dazu gehört Transparenz für die Aktiven und für die Öffentlichkeit. Planungsschritte müssen offengelegt werden. Insbesondere die Lärmbelastung muss auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse bewertet werden, damit wir die richtigen Maßnahmen für weniger Lärm treffen können. Dieses Problem existiert aber nicht nur zwischen Mannheim und Basel, sondern auch entlang vieler anderer Bahnstrecken mit starkem Güterverkehr, zum Beispiel an der Betuwe-Linie zwischen Rotterdam und dem Ruhrgebiet. Schutz vor Lärm ist ein Dauerthema, zumindest in unserer heutigen Debatte. Diese Debatte muss fortgeführt werden. Der Spruch „Viel hilft viel“ stimmt nicht. Das wissen wir alle. Darum helfen viele Anträge auch nicht mehr als wenige Anträge. Es wäre wirklich schön gewesen, wenn es einen gemeinsamen Antrag gegeben hätte. Er hätte den lärmgeplagten Anwohnerinnen und Anwohnern zeigen können: Ja, es ist ein gemeinsames Anliegen der Politikerinnen und Politiker hier in Berlin, was sie umtreibt, was sie fordern. ({2}) Das ist nicht gelungen. Es hat keinen gemeinsamen Antrag der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfraktionen gegeben. Es hat leider aber auch keinen gemeinsamen Antrag der Oppositionsfraktionen gegeben. Das bedauern wir sehr. An uns ist es nicht gescheitert. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist gut, dass die Koalition die Stimme der Anwohnerinnen und Anwohner wahrgenommen hat. Es ist zu lesen und zu erfahren: Die CDU pflegt intensive Kontakte zu den Bürgerinitiativen vor Ort. Das ist gut. Es sieht so aus, als hätte sie tatsächlich aus dem Demokratiedesaster Stuttgart 21 gelernt. Das kann sie natürlich nicht zugeben. Wie sonst ist der Satz zu verstehen, der in Ihrem Antrag steht, „dass eine sachliche Verknüpfung von Stuttgart 21 und dem Ausbau der Rheintalbahn in der Sache falsch ist und ihr schadet“? ({4}) Es trifft auch nicht zu, dass beide Projekte gleich wichtig sind, wie es im Antrag heißt. Wer Stuttgart 21 durchsetzen will, der hat am Ende kein Geld mehr, um die Bahnstrecke im Rheintal wirklich menschenverträglich zu bauen. Der wirksame Schutz der Menschen an der Trasse ist teuer. Bis zu 1 Milliarde Euro mehr kostet es, wenn die Forderungen der Bürgerinitiativen umgesetzt werden. Das ist bezahlbar, meinen wir, wenn an anderer Stelle auf unsinnige Großprojekte wie Stuttgart 21 verzichtet wird. ({5}) Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass Bürgerinnen und Bürger, Naturschutzverbände und andere im Planungsprozess gleichberechtigt mitwirken können. Wir wollen erreichen, dass das keine einmalige Beteiligung bleibt, die auch nur auf dieses Projekt bezogen ist, sondern ein neues Modell eines Beteiligungskonzeptes bei Planungsverfahren wird. Stuttgart 21 wird sich dann wiederholen, wenn wir nicht umdenken und Entscheidungsprozesse öffentlicher gestalten. Wir fordern, die unverhältnismäßig großen Mindestsicherheitsabstände zwischen den Verkehrswegen Autobahn und Schiene zu überprüfen. Das hat zum Ziel, die Verkehrswege zu bündeln und den Flächenverbrauch zu reduzieren. Die Landesmittel aus Baden-Württemberg sollen nicht einfach so ins Projekt fließen, sondern ganz überwiegend für den Ausbau von Nahverkehrsstrecken eingesetzt werden. Die Bahn muss mit Geld aus dem Bundeshaushalt in die Lage versetzt werden, die beste Trasse am Rhein bauen zu können. Wenn es eine gute Trasse gibt, dann dürfen dort auch nur leise Züge fahren. Der Schienenbonus muss also jetzt gestrichen werden. Wir brauchen kein Schienenbonusmoratorium. ({6}) Kolleginnen und Kollegen, die große Übereinstimmung hier ist eine Chance, dass bei der Planung der Rheintalbahn die Bürgerinnen und Bürger mehr Einfluss nehmen können als bisher üblich. Damit es nicht nur eine Chance bleibt, sondern Wirklichkeit wird, hoffen wir sehr, dass das mit dem Wahlverhalten am übernächsten Sonntag in Mehrheitsverhältnisse gegossen wird. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Alexander Bonde für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für uns in der Region des Rheintals in Südbaden ist es wichtig, dass wir es zum ersten Mal seit Jahren schaffen, im Bundestag tatsächlich ein Signal zu setzen, das die Menschen vor Ort unterstützt. Wir müssen beim Ausbau der Rheintalbahn zu verlässlichen Alternativen kommen, die die Frage des Lärms, aber auch die Frage der Erschütterungsbelastung der Bevölkerung ernst nehmen. Wenn man wie die Kollegin Andreae und ich seit Jahren mit Initiativen in diesem Parlament scheitert, dann freut man sich, dass es - auch wenn der Wahlkampf sicher bei der Terminierung der Debatte heute zu einer so schönen Zeit eine Rolle gespielt hat - endlich so weit ist, dass auch die Koalitionsfraktionen bereit sind, einen Schritt zu gehen und ein Signal zu setzen. Dazu will ich sagen: Das hilft uns allen. Wir haben es nicht hinbekommen, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Es ist trotzdem ein erster und wichtiger Schritt, dass sich der Bundestag endlich offensiv zur Frage des Lärmschutzes an der Strecke bekennt. ({0}) Wir haben damit eine Chance, deutlich zu machen, dass der Protest vor Ort, die Initiativen von Hunderttausenden von Leuten hier nicht auf taube Ohren stoßen. Es handelt sich nicht um eine kleine Minderheit des Parlaments, sondern eine breite Mehrheit hat erkannt, dass man bei diesem Projekt anders planen muss. Es freut mich, dass Sie sich offensiv dazu bekennen, dass der Schienenbonus an der Strecke nicht gelten darf. Bis vor kurzem hat man als Abgeordneter, wenn man danach gefragt hat, aus dem Verkehrsministerium die Antwort bekommen: Ja, den schaffen wir ab; aber für die Rheintalbahn wird das keinen Unterschied mehr machen. ({1}) Insofern begrüße ich es, dass die Koalition ihren Verkehrsminister an dieser Stelle eingefangen hat. Zudem freue ich mich darauf, das gesetzlich verankert zu sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({2}) Der heutige Beschluss wird aber nicht alle unsere Probleme lösen; auch das will ich sagen. Denn an einigen Punkten auf der Strecke - von Offenburg über die Südliche Ortenau, im Landkreis Emmendingen, aber auch in der Freiburger Bucht und im Markgräflerland wird es unter Lärmschutzgesichtspunkten nicht ausreichen, die Trassen zu modifizieren und zu optimieren: Vielmehr werden wir bei einigen Abschnitten nicht darum herumkommen, eine alternative Trassenführung vorzunehmen. ({3}) Wir Grüne bekennen uns zum Modell der Bürgerinitiativen, zum sogenannten Baden 21. So weit sind Sie in Ihrem Antrag noch nicht. Der entscheidende Punkt bei unserem Konsens wird sein: Können wir es erreichen, dass die Bahn als Antragstellerin die Anträge zur Trassenführung in den aktuellen Planfeststellungsverfahren zurückzieht? Es ist schade, dass Sie als Koalition heute nicht bereit sind, mit uns gemeinsam einen Vorstoß zu unternehmen und die Bahn dazu aufzufordern. Es nutzt nichts, wenn der Bahnchef vor Ort Gespräche führt - im Gegensatz zu seinem Vorgänger freundliche Gespräche -, aber gleichzeitig die Planfeststellungsverfahren weiterlaufen und Abschnitt für Abschnitt eine Strecke zementiert wird. Diese sind vielleicht in Details modifiAlexander Bonde zierbar, insgesamt aber werden sie den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht gerecht. Es wird kein für die Menschen verträglicher Ausbau ermöglicht, sondern ein Ausbau, bei dem Lärmschutz und Erschütterungsschutz nicht wirklich im Vordergrund stehen. Da ich sehe, dass Sie sich in einer ganzen Reihe von Punkten einen Ruck gegeben haben, hätte ich mir heute gewünscht, dass Sie sich auch in diesem Punkt noch einen Ruck geben. ({4}) Die Menschen in der Region brauchen eine Chance durch eine tatsächlich bessere Trassenplanung, für die es bereits viele Vorleistungen gibt. Es ist schön, dass Sie sich bewegt haben, ({5}) aber da müssen wir noch ein bisschen mehr hinbekommen. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Peter Götz hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir heute über die Rheintalbahn debattieren, so ist dies auch eine Chance, ein wenig auf die Differenziertheit der Strecke aufmerksam zu machen. Der Ausbau der Rheintalbahn ist, wie wir alle übereinstimmend feststellen, ein Infrastrukturprojekt von bedeutender europäischer Dimension. Diese Einschätzung hat sich auch in der Wirtschaftlichkeitsstudie, die das Bundesministerium in Auftrag gegeben hat, widergespiegelt. Durch sie wird bestätigt, dass die Leistungsfähigkeit der vorhandenen zweigleisigen Bahnlinie am Oberrhein nur durch einen stufenweisen viergleisigen Ausbau verbessert werden kann. Teilbereiche zwischen Rastatt und Offenburg sind bereits realisiert. Über die Trassenführung in Südbaden, zwischen Offenburg und Basel, wird, wie wir von allen Vorrednern gehört haben, intensiv gerungen. Ich möchte einen Teilbereich der Trasse ansprechen, in welchem die Realisierung des Ausbaus von allen Akteuren auf regionaler Ebene vollinhaltlich unterstützt wird. Es geht um den nordbadischen Streckenabschnitt der Rheintalbahn, und zwar zwischen Karlsruhe und Rastatt. In diesem Bereich überschneiden sich die Transversale Rotterdam-Genua, von der wir bereits gehört haben, als wichtigste kontinentale Nord-Süd-Verbindung und die Magistrale Paris-Budapest, die als zentrale OstWest-Verbindung über Stuttgart, Ulm und Wendlingen verläuft. Das heißt, zwischen Rastatt und Karlsruhe überlagern sich zwei der wichtigsten europäischen Schienenstrecken des transeuropäischen Netzes. Für beide internationale Trassen bestehen in Bezug auf den Schienenausbau vertragliche Verpflichtungen zwischen Deutschland und der Schweiz, aber auch zwischen Deutschland und Frankreich. Sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich wird intensiv gebaut. In Rastatt befindet sich ein besonderes Nadelöhr: Dort verengt sich die Strecke auf einer Gesamtlänge von 7,5 Kilometern von vier auf zwei Gleise und verläuft durch die ganze Stadt. Dieser Engpass wurde von den politisch Verantwortlichen und der Bahn bereits vor Jahrzehnten gesehen und auch planerisch angegangen. 1998, also vor mehr als zwölf Jahren, ist nach einem langwierigen Verfahren als Lösung des Problems die Planung des Rastatter Tunnels rechtskräftig planfestgestellt worden. Meine Damen und Herren, Sie sehen, das Thema ist nicht ganz neu. Das Tunnelprojekt in Rastatt, das mit Sachverständigenanhörungen und mit Bürgerbeteiligung sämtliche Verfahren durchlaufen hat, wird, wie bereits erwähnt, von allen regionalen Akteuren quer durch die politische Landschaft unterstützt und könnte sofort realisiert werden. 26 Millionen Euro sind im Vorgriff bereits in die Trassierung bis zum Tunnelmund und in Brückenbauwerke verbaut worden, ohne dass für die Bürgerinnen und Bürger draußen vor Ort ein Nutzen sichtbar wäre. Eine intensive Auseinandersetzung darüber hat vor vielen Jahren stattgefunden. Ich erinnere mich noch gut an die Diskussion, die wir im Rastatter Gemeinderat über den Tunnel geführt haben. Ich gehöre seit mehr als 25 Jahren diesem Gremium nicht mehr an. ({0}) Ich hätte mir damals nie vorstellen können, dass ich Jahrzehnte später über das gleiche, bis heute noch nicht gebaute Projekt im Deutschen Bundestag reden werde. Warum sage ich das? Wir reden im Bundestag sehr viel über Planungsbeschleunigung und mehr Bürgerbeteiligung. Das ist wichtig und richtig, und das ist auch gut. Aber die schnellste Planung und die beste Bürgerbeteiligung nützen in unserer schnelllebigen Zeit wenig, wenn danach nichts passiert. ({1}) - Sie haben recht: Einer abgeschlossenen Planung muss zeitnah das Geld für die Realisierung folgen. Ich betone: zeitnah. - Anders ausgedrückt: Nur wenn etwas passiert, können wir bei großen Verkehrsvorhaben mit der Akzeptanz der davon betroffenen Menschen rechnen. ({2}) Dazu gehören fertige Projekte an der Rheintalstrecke wie der Rastatter Tunnel. Deshalb runter vom Abstellgleis und auf die Schiene! Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gustav Herzog für die SPD-Fraktion. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen schönen guten Morgen! Ich wünsche insbesondere denjenigen Kolleginnen und Kollegen einen schönen guten Morgen, die gestern Abend noch bis 22 Uhr über die Ausweitung der Mauterhebung diskutiert haben. ({0}) Den Zuhörerinnen und Zuhörern will ich sagen: Das zeigt, dass wir ein echtes Arbeitsparlament sind. Wir haben gestern Abend mit Verkehrspolitik aufgehört und machen heute Morgen damit weiter. Ich glaube, das ist ein ganz gutes Signal. ({1}) - Da können Sie alle klatschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die von der Koalitionsseite. ({2}) Ich will noch etwas anderes bemerken. Es ist schon ein etwas skurriles Bild, wenn aufseiten der CDU/CSU die betroffene Landesgruppe geschlossen auftritt und das Wort ergreift - die Fähnleinführerin, die Frau Staatsministerin, vorneweg. ({3}) Ich wäre froh, wenn Sie den Verkehrsthemen immer ein solches Gewicht beimessen würden. Ich finde es aber gut, dass wir in einer Kernzeitdebatte über Infrastruktur reden in Verbindung mit Lärmschutz und Bürgerbeteiligung; denn ich glaube, es ist ein gutes Signal nach draußen, dass wir diese Punkte nicht mehr getrennt, sondern als eine Einheit sehen. Aber die Menschen werden sich wahrscheinlich fragen: Woher kommt so viel Gemeinsamkeit? Hat sich da irgendetwas geändert? Ich sage: Ja, es hat sich für uns einiges geändert: Erstens. Insbesondere die Lärmwirkungsforschung hat eindeutige Ergebnisse vorgelegt, die zeigen, dass eine Privilegierung des Schienenlärms nicht mehr gerechtfertigt ist und dass aufgrund der Charakteristik der Lärmspitzen insbesondere in der Nacht die Politik dringend aufgefordert ist, hier etwas zu tun. Zweitens. Wir wissen: Es wird eine Steigerung beim Güterverkehr geben; die Prognosen fallen entsprechend aus. Das rollende Material wird aber eher schlechter denn besser. Drittens. Der Lärm stellt kein flächendeckendes Problem dar. Wer sich die Lärmkarten der Republik anschaut, der sieht, dass es „brennende Bänder“ sind, die insbesondere in Nord-Süd-Richtung und am Rhein entlang die Menschen enorm belasten. Deswegen ist zusätzlicher Handlungsbedarf gegeben. ({4}) Die politischen Konsequenzen daraus sind die Fortentwicklung des Lärmschutzpaktes II, den wir noch in der Großen Koalition unter Minister Tiefensee vorgelegt haben. Hier ist einer der Knackpunkte die Abschaffung des Schienenbonus. Hier gibt es Gemeinsamkeiten, aber keine Übereinstimmung. Es besteht deshalb nur Gemeinsamkeit, weil Sie dieses Anliegen in Ihrem Antrag - ich spreche die Kollegen Döring und Bilger an - mit der Vorbereitung des nächsten Bundesverkehrswegeplanes verknüpft haben. Das kann noch dauern. Der gravierende Unterschied ist also: Wir wollen jetzt wirklich herangehen, nicht erst gegen Ende der Wahlperiode; wir wollen jetzt konkret etwas tun. Sie wissen selbst: Bundesverkehrswegepläne erfordern eine enorme Vorbereitung. Angesichts der bisherigen Arbeit dieses Ministeriums denke ich: Es wird eher länger als kürzer dauern. ({5}) Stimmen Sie daher unseren Anträgen zu, denen von der SPD und den Grünen; sie sind vernünftig. ({6}) - Herr Döring, vielleicht schreiben Sie von der FDP in dieser Sache auch so böse Briefe an das Verkehrsministerium und das Finanzministerium, wie Sie es in Fragen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung machen. Ich glaube, das wäre in der Sache hilfreich. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Konsequenz ist: Man muss den Lärm viel stärker an der Quelle bekämpfen. Dazu gehört das Umrüsten; wir sind dabei, auch wenn die Wirkung noch lange nicht zu spüren ist. Dazu gehört auch die Einführung des lärmabhängigen Trassenpreises. Hier ist meine Frage an die Regierung - vielleicht kann das auch einer der Koalitionsabgeordneten beantworten -: Wann legen Sie endlich das Gutachten vor? Wir werden permanent vertröstet: Erst sollte es im Oktober so weit sein, dann im November, dann im Frühjahr, das auch bald vorüber ist. Herr Bundesminister, Herr Staatssekretär, wann kommt das Gutachten? In der DVZ vom 17. Februar konnte ich nachlesen, dass das Gutachten am 3. März vorliegen würde. Der ist auch schon längst vorüber. ({8}) Wann kommen wir hier endlich zur Sache? Sie wissen, dass Rheinland-Pfalz in diesem Zusammenhang einen Vorschlag gemacht hat, dem der Bundesrat zugestimmt hat. Kommen Sie also zur Sache und nehmen Sie die Überlegung auf, ein qualifiziertes Nachtfahrverbot einzuführen! Bislang stand ausschließlich die Rheintalbahn im Mittelpunkt der Debatte. Das, was wir im Interesse der Menschen in Baden-Württemberg verhindern wollen, erleben und erleiden die Menschen im Mittelrheintal aber schon seit Jahren; zwischen Bonn und Bingen treten entsprechende Belastungen auf. Was die Menschen im Oberrheintal befürchten, ist dort schon Realität. Deswegen sage ich in Richtung Bundesregierung: Machen Sie Druck beim gemeinsamen Projekt „Leiser Rhein“! Herr Kollege Döring, wenn Sie über das viele Geld, das die DB AG jetzt als Gewinn erwirtschaftet hat, reden - Sie sitzen ja in den entsprechenden Gremien -: Setzen Sie sich doch dafür ein, dass diese Gewinne zum Beispiel für das Umrüsten der alten Güterwagen verwendet werden. Wenn Sie das in den nächsten Wochen hinbekämen, würden Sie von mir ausdrücklich gelobt werden. ({9}) Ich richte auch an Sie, Frau Ministerin Gönner, eine Bitte. Zurzeit bringt Staatsminister Hendrik Hering, der rheinland-pfälzische Verkehrsminister, einen Entschließungsantrag in den Bundesrat ein, bei dem es auch um die Frage des Lärmschutzes geht. Es wäre schön, wenn Sie den Argumenten des Landes Rheinland-Pfalz so folgen könnten, wie es Hessen getan hat. Hessen hat zusammen mit Rheinland-Pfalz ein 10-Punkte-Programm aufgestellt. Sie sehen: Wenn man guten Willens ist, kann man partei- und länderübergreifend zusammenarbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Argumente für den Süden sind auch die Argumente für das Mittelrheintal. Es stellt sich die Frage einer Alternativtrasse für das Mittelrheintal. Ich will hier mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren: Auf die Forderung, mit den Planungen für eine neue alternative Güterverkehrstrasse zu beginnen, hat das Bundesverkehrsministerium stets mit dem Hinweis geantwortet, dass eine neue Trasse nur durch Kapazitätsengpässe, nicht aber durch Lärm zu rechtfertigen sei. Wer hat diese kritische Aussage gegenüber dem Ministerium getroffen? Es war die Oberbürgermeisterin der Stadt Bingen, in einem Brief an den Bundesminister Ramsauer. Wenn Sie schon einem Sozialdemokraten oder dem Land Rheinland-Pfalz nicht folgen wollen, dann folgen Sie dieser Oberbürgermeisterin; sie ist nämlich CDU-Mitglied. Es wäre hilfreich, wenn Sie in dieser Sache endlich anfangen, zu arbeiten, anstatt uns auf den nächsten Bundesverkehrswegeplan zu vertrösten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Aus- und Neubau der Rheintalbahn von heute zwei auf künftig vier Gleise ist - das wurde schon mehrmals betont - in der Tat eines der bedeutendsten Schienenverkehrsvorhaben in Deutschland und eines, bei dem - so besagen es ja die Prognosen - die meisten Verkehre zu erwarten sind. Die Prognosen gehen davon aus, dass dort eines Tages über 700 Züge pro Tag verkehren, die Mehrheit davon Güterzüge. Deshalb freue ich mich als Abgeordneter, der ich diese wunderschöne Region im Bundestag vertreten darf, dass mit der heutigen Debatte das gesamte Parlament die Bedeutung dieser Strecke würdigt und Aufträge erteilt, daraus für die künftigen Planungen und die Verwirklichung dieses Projekts die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Da ich mich mit dem Thema schon lange befasse, möchte ich vor allen Dingen die Rednerinnen und Redner von Grün und Rot erinnern: In früheren Jahren ist uns bei allen Besprechungen, die wir im Bundesverkehrsministerium oder mit der Bahn geführt haben, immer gesagt worden, dass erstens die Änderungswünsche der Region in den laufenden Planfeststellungsverfahren abgearbeitet werden sollen, neue Planaufträge nicht infrage kommen. Zweitens komme es nicht infrage, den Schienenbonus abzuschaffen oder nicht zu berücksichtigen. Das war der Stand der vergangenen Jahre. ({0}) Ich freue mich, dass wir endlich einen neuen Stand erreicht haben und man nun bereit ist, für diese herausragende Strecke neue Aufträge zu erteilen und ohne Schienenbonus zu planen. ({1}) Frau Ministerin Gönner, ich möchte mich bei Ihnen und bei der Landesregierung ausdrücklich dafür bedanken, dass die Landesregierung von Baden-Württemberg im Juni 2007 unter Leitung von Herrn Innenminister Rech eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die eine klare Positionierung des Landes erarbeitet hat: Unterstützung der Forderungen aus der Region am Oberrhein. ({2}) Ich möchte mich zudem dafür bedanken, dass die Landesregierung den Beschluss gefasst hat, ({3}) dass sie bereit ist, 50 Prozent der anfallenden Mehrkosten mitzufinanzieren. Diese Beschlüsse der Landesregierung von Baden-Württemberg waren entscheidend, als es darum ging, überhaupt neue Bewegung in das Verfahren Rheintalbahn hineinzubekommen. Deswegen ein herzlicher Dank an die Landesregierung von BadenWürttemberg! ({4}) Peter Weiß ({5}) Die Veränderungen, die jetzt anstehen, wären nicht möglich geworden, wenn es nicht das wirklich großartige Engagement der Bürgerinitiativen entlang der Rheintalbahn und der Bürgermeister und Gemeinderäte der betroffenen Städte und Gemeinden gegeben hätte. Ich möchte mich auch bei unseren Bürgerinitiativen und unseren Kommunalpolitikern herzlich bedanken, weil sie nicht, wie oftmals anderswo, gegen etwas votieren, sondern für etwas kämpfen. Sie sind für den Ausbau der Rheintalbahn von zwei auf vier Strecken. ({6}) Aber Sie sind auch für eine optimierte Trasse, die die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger und vor allen Dingen die Entwicklung der Städte und Gemeinden optimal berücksichtigt. Dafür ein herzliches Danke an unsere Bürgerinitiativen und an unsere Kommunalpolitiker! ({7}) Ich gebe ehrlich zu, dass ich in den vergangenen Jahren, in denen ich viele Besprechungen zu diesem Thema gehabt habe, oftmals verzweifelt war und mich gefragt habe, ob wir überhaupt jemals etwas bewegen werden. Ich bin seit der Sitzung des Projektbeirates am 8. Februar dieses Jahres zum ersten Mal positiv gestimmt. ({8}) Denn der Projektbeirat, ({9}) in dem das Bundesministerium durch Herrn Staatssekretär Scheurle vertreten ist, in dem das Land vertreten ist, in dem die Region, unsere Kommunalpolitiker und Landräte vertreten sind, in dem die Bürgerinitiativen vertreten sind, hat gemeinsam neue Weichenstellungen für die Planung an der Rheintalbahn vorgenommen. Die sind bereits - Herr Pronold, Sie wollten ja Taten sehen in der Umsetzung. Am 18. Februar haben Bahnchef Grube und Ministerpräsident Mappus die ersten Probebohrungen für eine Tunnellösung in Offenburg gestartet. ({10}) Wir haben die Entscheidung, dass die bahnparallele Trasse zwischen Offenburg und Riegel detailgenau untersucht wird. Wir haben die Zusage, dass die Anregungen zur Umfahrung von Freiburg aufgegriffen werden. Wir haben selbst für Weil am Rhein zusätzlichen Lärmschutz bekommen. Und wir haben die Zusage, dass durch den Katzenbergtunnel, der bereits gebaut ist, aber noch in Betrieb genommen werden muss, möglichst der gesamte Güterverkehr geführt werden soll, um die dortigen kleineren Gemeinden und vor allen Dingen den Kurort Bad Bellingen zu entlasten. Das alles wurde möglich, weil die zusätzlichen Kosten für die Probebohrungen und die Untersuchung der bahnparallelen Trasse in Höhe von 1,3 Millionen Euro je zur Hälfte vom Land und vom Bund zur Verfügung gestellt werden. Deswegen war die Sitzung des Projektbeirates am 8. Februar 2011 wichtig. Endlich wurde eine neue, angepasste Planung für die Rheintalbahn auf den Weg gebracht. Ich finde es gut und begrüße es, dass wir uns mit dem Antrag, den wir heute hier, im Deutschen Bundestag, beschließen, hinter die Fortschritte, die im Projektbeirat erreicht worden sind, stellen. Ich freue mich, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern an der Rheintalstrecke ein klares Signal senden: Im Rheintal geht es anders. Wir wollen eine neue Planung, die auf die Bedürfnisse der Städte und Gemeinden Rücksicht nimmt. Wir wollen eine leistungsfähige Strecke bauen, aber auch eine Strecke, mit der die Menschen gut leben können. Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Armin Schuster ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Als neugewählter Abgeordneter hatte ich Ende 2009 einige Sorgen - das gebe ich zu -, wie ich die berechtigten Erwartungen der Bürger am Oberrhein, in meinem Wahlkreis, erfüllen soll. Die Sorgen rührten daher, dass meine Vorgängerin - SPD und ihres Zeichens jahrelang Regierungsmitglied - mit ihren Parteikollegen und dem Verkehrsminister jahrelang nichts in Sachen Baden 21 bewegen konnte. Als neuer Abgeordneter hat man da natürlich die Sorge, dass man das auch nicht hinbekommt. Aber - Herr Döring hat das sehr schön erläutert - wir haben es geschafft. ({0}) Zugegebenermaßen haben wir nicht das Ziel erreicht, aber wir kommen den Bürgern am Oberrhein Schritt für Schritt entgegen. ({1}) Wir haben unzählige offizielle und inoffizielle Termine in Berlin, Stuttgart und an der Strecke durchgeführt. Wir haben auf allen Ebenen Konsensentscheidungen getroffen. Wir haben Dinge geschafft, die 2009 unmöglich zu sein schienen. Ich kann mich gut an die verhärteten Fronten zwischen Bundesverkehrsministerium und der DB AG einerseits und dem Land und der Region andererseits erinnern. CDU/CSU und FDP haben in den letzten eineinhalb Jahren dafür gesorgt, dass wir dort unten im Konsens arbeiten. Es gibt keine Gräben mehr. Wir arbeiten mit demselben Ziel. Armin Schuster ({2}) ({3}) Ich möchte mich noch einmal ausdrücklich bei Ihnen, Frau Gönner, bedanken. Wenn Sie ins Lenkrad greifen, alle Achtung, das merkt man. ({4}) Das war irgendwann im Februar oder März des letzten Jahres. Bahnchef Grube ist hier noch nicht erwähnt worden; das möchte ich ausdrücklich tun. Die Region verdankt ihm eine Menge. Er ist ein Stück weit Vorbild, da er sich trotz immenser Verpflichtungen vor Ort zeigt. ({5}) Mit unserer Planung am Oberrhein zielen wir ganz klar in Richtung einer anliegerfreundlichen Trassengestaltung. Alle Orte - Herr Weiß hat sie aufgeführt lassen ganz klare Signale erkennen. ({6}) Das einzige Problem ist - das bedauere ich als Weiler ganz besonders - die Hinterlassenschaft von Rot-Grün in Weil am Rhein. 2009 habe ich einen praktisch erlassreifen Planfeststellungsbeschluss vorgefunden. ({7}) In Weil am Rhein konnten wir eine Tieferlegung daher einfach nicht mehr hinbekommen. ({8}) Eine Nachjustierung mit einem Volumen von 15 Millionen Euro für Weil am Rhein ist aber ein Wort. Das verkaufe ich als Erfolg. ({9}) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in den vergangenen Jahren haben Sie in puncto Bahn viel versäumt. Dieses Verkehrsmittel ist nicht per se umweltfreundlich. Das ist nur dann der Fall, wenn man nicht in der Nähe wohnt. ({10}) Das Motto „Alles auf die Schiene!“ macht nur Sinn, wenn man sich auch dafür interessiert, wie es dort zugeht. ({11}) Wir haben einen Reformstau, den wir auflösen werden. Die Punkte Trassenpreise, Schienenbonus und Technik werden wir klären. Das wäre aber eigentlich Ihre Aufgabe gewesen. ({12}) Meine Damen und Herren, alles, was in unserem Antrag steht, ist ein starkes politisches Signal für die künftige Bahnplanung in diesem Land. Angesichts unserer konsequenten Haushaltspolitik - Stichwort Schuldenbremse - dürfen Sie jedes einzelne Wort als Signal werten, dass wir im Rahmen des finanziell Möglichen das technisch Machbare schaffen wollen. Das geschieht zum Wohl von Mensch und Umwelt. Den Projektbeirat muss ich nicht mehr loben. Darüber bin ich richtig froh. Ich dachte schon, ich sei der Einzige, der ständig herumläuft und klarzumachen versucht, dass das ein Exportschlager für mehr Bürgerbeteiligung ist. Greifen wir diesen Projektbeirat gemeinsam auf und machen ihn zu einem Instrument, das künftig bei Großprojekten immer zur Anwendung kommen soll. An dieser Stelle möchte ich als Badener sagen: Auf diese Weise gewähren wir Heiner Geißler einen wohlverdienten Ruhestand. Dafür sorgt der Projektbeirat. Wir schaffen das in Südbaden allein. ({13}) Lassen Sie mich noch etwas sagen: Ich bin der Meinung, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben. ({14}) Die Gemeinsamkeiten müssten wir uns einmal zusammen anschauen. Es gibt ein einziges Wort für Ihre Regierungszeit am Oberrhein, das heißt: Eimeldingen. Das ist ein Ort 1 Kilometer nördlich von Weil am Rhein. ({15}) Dort liegen mittlerweile vier Gleise parallel; zwei 5 Meter hohe Lärmschutzwände ziehen sich durch den Ort. ({16}) Es sieht aus, als stünde man vor der Berliner Mauer. ({17}) Armin Schuster ({18}) Diese Gemeinde ist nie von Ihnen gehört worden und muss heute mit dem Status quo leben. Man könnte auch sagen, hier gilt das Motto: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben oder die SPD. Das ist für Eimeldingen wirklich nicht schön. ({19}) Wir bedauern, dass es nicht zu einem parteiübergreifenden Antrag kam. Sie müssen von Ihren Maximalforderungen herunterkommen und sich unserer Verhandlungstaktik annähern, ({20}) und zwar kontinuierlich, Stück für Stück und jeden Tag ein bisschen weiter. So kommen wir zu Verhandlungserfolgen. ({21}) - Wie wäre es denn, wenn sich die Nichterfolgreichen an den Erfolgreichen orientieren, und nicht umgekehrt? ({22}) Ich komme zum Schluss. Mich hat gestern ein Journalist der Süddeutschen Zeitung gefragt, ob man als neugewählter Abgeordneter überhaupt etwas bewegen kann. Man kann etwas bewegen. ({23}) Das bewegt auch mich. Sie dürfen sich darauf verlassen: Ich bewege mich ({24}) am Rheintal auch weiter im Sinne der Bürger, der Anlieger und für die Region. Herzlichen Dank. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Thomas Strobl ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt bei diesem Thema erfreuliche Gemeinsamkeiten; es gibt aber auch ein paar Unterschiede. Übereinstimmung besteht darin, dass die Güter von der Straße auf die Schiene gebracht werden müssen. Das ist ein zentrales Gebot der Stunde, sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch. ({0}) Deshalb sind alle für den Ausbau der Rheintalbahn. Es geht aber um mehr. Wir wollen für dieses Projekt die Akzeptanz der Bevölkerung. ({1}) Wir wollen bei diesem verkehrspolitischen Projekt die Menschen in Südbaden mitnehmen. Wir wollen den Ausbau der Rheintalbahn gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern. Daher ist es unsere feste Absicht, die Rheintalbahn gleichsam zu einem Modell für einen anwohnerfreundlichen Bahnausbau zu machen. Trassenführung und Lärmschutz sollen so gestaltet werden, dass Menschen und Umwelt so wenig wie möglich belastet werden. Deswegen machen wir es gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern am Rhein in Südbaden. Wir hätten uns erhofft, dass es für dieses Ansinnen eine breitere, überparteiliche Zustimmung gibt; ({2}) doch die Opposition nimmt wiederum eine Verweigerungshaltung ein, ({3}) die eigentlich niemand so recht nachvollziehen kann. Vor allem die Menschen am Oberrhein und in Südbaden verstehen das nicht. Warum sind Sie eigentlich gegen Lärmschutz und Ökologie, wenn es konkret wird? ({4}) Sie sind aus Prinzip dagegen, wenn es konkret wird. ({5}) Sie sind gegen eine vernünftige Politik im Bund und im Land; Sie saugen Ihren Honig aus dem Dagegensein. ({6}) Ich will Ihnen das konkret belegen. Im Landtag von Baden-Württemberg gab es einen Änderungsantrag der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD und der Fraktion von FDP/DVP mit der Überschrift „Klares Bekenntnis zu Baden 21“. Thomas Strobl ({7}) ({8}) Dazu gab es eine namentliche Abstimmung. Für diesen Antrag haben gestimmt die Fraktion der CDU, die Fraktion der SPD und die Fraktion von FDP/DVP. Mit Nein hat - ich kann Ihnen die Namen aus dem Plenarprotokoll der Sitzung des Landtags von Baden-Württemberg vom 25. November 2010 vorlesen - die komplette Fraktion der Grünen gestimmt, also gegen ein „Klares Bekenntnis zu Baden 21“. ({9}) Sie sind gegen Baden 21, ({10}) gegen die Interessen der Menschen in Südbaden, gegen den Lärmschutz, und Sie beteiligen sich nicht konstruktiv an dieser Debatte. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Strobl, der Kollege Bonde möchte dazu gerne eine Bemerkung machen.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne. - Bitte. ({0})

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werter Kollege Strobl, nun stehen wir beide im Wahlkampf in Baden-Württemberg, Sie als Generalsekretär Ihrer Partei, ich als Landesvorstandsmitglied der meinigen. Ich kann daher verstehen, dass man manchmal Termine durcheinanderbringt. Ich würde Sie gerne bitten, mir zu bestätigen, dass es in dem von Ihnen genannten Antrag aus dem Landtag von Baden-Württemberg einen Forderungsteil gab, der aus einer ganzen Reihe von Punkten bestand, dass einer davon ein Bekenntnis zum Bahnprojekt Stuttgart 21 war und dass es Versuche gab, eine getrennte Abstimmung über diese Sachverhalte herbeizuführen, was von den antragstellenden Fraktionen im Landtag nicht gewünscht war. Herr Strobl, sind wir uns einig, dass wir uns beim Projekt Stuttgart 21 nicht einig sind, und wären Sie nicht genauso verwundert gewesen wie ich, wenn meine Landtagsfraktion einem Antrag pro Stuttgart 21 zugestimmt hätte? ({0})

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Bonde, noch einmal: Dieser Änderungsantrag trägt die Überschrift „Klares Bekenntnis zu Baden 21“. ({0}) Diesem Antrag haben sich alle Fraktionen im Landtag von Baden-Württemberg angeschlossen, außer der Fraktion der Grünen. Das ist zu bedauern. ({1}) Damit gefährden Sie im Übrigen wichtige Maßnahmen zum Wohle der Menschen am Oberrhein. ({2}) Sie sind bei dieser Frage - wie bei anderen Fragen - dagegen, wenn es konkret wird. Sie sind gegen Ökologie, gegen die Bürgerinteressen, gegen Südbaden und gegen Baden-Württemberg. ({3}) Wir sind froh darüber - dafür danken wir auch der in dieser Debatte anwesenden Umweltministerin von Baden-Württemberg -, ({4}) dass der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg zu einem sehr frühen Zeitpunkt erklärt hat ({5}) - ich weiß, dass Sie das ärgert -, ({6}) dass, obwohl der Bund für dieses Projekt zuständig ist, sich auch das Land Baden-Württemberg an sinnvollen Leistungen, die den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen, beteiligen wird. Das finden wir richtig. ({7}) Weil die Grünen sich hier so aufregen, weiß offensichtlich die rechte Hand nicht, was die linke tut. ({8}) Damit meine ich weniger die Tatsache, dass Sie wieder eine ganze Reihe von Anträgen eingebracht haben, obwohl eigentlich einer genügt hätte. Mir geht es vielmehr um eine bestimmte Formulierung in dem Antrag der Grünen auf Drucksache 17/2488. Darin wird die feste Absicht formuliert, es solle „die Schiene als umweltfreundlicher Verkehrsträger gemeinsam mit den Binnenwasserstraßen beim Gütertransport verstärkt zum Einsatz kommen“. Thomas Strobl ({9}) ({10}) Die „Binnenwasserstraßen“ - das ist interessant. Denn was die Binnenwasserstraßen anbelangt, argumentierte zumindest der als Antragsteller an erster Stelle genannte Winfried Hermann noch vor kurzem massiv gegen den Ausbau der Neckarschleusen in Baden-Württemberg. ({11}) Wir wären damals als Große Koalition froh gewesen, Baden-Württemberg über 600 Millionen Euro für den Ausbau der Neckarschleusen zur Verfügung zu stellen. ({12}) Aber wer ist dagegen und kritisiert das? Bündnis 90/ Die Grünen. Sie sind nicht nur gegen die Schiene, sondern auch gegen die Wasserstraße. ({13}) Immer wenn es konkret wird, sind die Grünen dagegen. In diesem Fall sind sie der Binnenschifffahrt und damit einer der ökologischsten Transportmöglichkeiten überhaupt in den Rücken gefallen. So ist kein Staat zu machen. Mit den Grünen und ihrer Antihaltung gibt es keine konstruktive Politik. ({14}) Wie konstruktive Politik funktioniert, ({15}) das hat im Rheintal der Projektbeirat bewiesen, den die Bundesregierung und die Landesregierung von Ministerpräsident Stefan Mappus massiv unterstützen. ({16}) Dieser Projektbeirat stellt eine Art Vorläufer zur erfolgreichen Faktenschlichtung Heiner Geißlers bei Stuttgart 21 dar. Wie diese orientiert er sich am Prinzip des runden Tisches und brachte die Entscheidungsträger und die betroffenen Bürgerinnen und Bürger zusammen. Alle haben - auf Augenhöhe mit den Bürgerinnen und Bürgern - konstruktiv mitgearbeitet: Oberbürgermeister, Bürgermeister, Landräte, das Regierungspräsidium, das Bundesministerium, das Landesministerium. Staatliche Stellen auf der einen Seite und Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite führten einen guten, sachlich orientierten Dialog. Ich möchte ausdrücklich der Bundesregierung, der Landesregierung, aber auch den engagierten Bürgerinnen und Bürgern, namentlich der IG BOHR, Dank sagen, die sich in einer konstruktiven und sachlichen Art und Weise seit langer Zeit in die Debatte einbringen. Sie hatten und haben einen wichtigen Anteil an den gefundenen Lösungen und praktizieren in verantwortungsbewusster Weise gelebte Demokratie. Dies beweist: Das Projekt Rheintalbahn hat bereits jetzt Modellcharakter und taugt als Vorbild für künftige Großprojekte in Deutschland. Das ist eine wirklich gute Nachricht. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Hermann das Wort. ({0})

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich persönlich und die Grünen sind bei mehreren Punkten angesprochen worden. Ich würde gern etwas dazu sagen. Sowohl der Kollege Schuster als auch der Kollege Strobl haben, glaube ich, deutlich gemacht, dass sie eine große Sorge haben: die Landtagswahl in BadenWürttemberg in zehn Tagen. ({0}) Es ist ziemlich auffällig, dass Sie pausenlos davon reden, dass Ihnen die Interessen der Anwohner und die Sachfragen im Rheintal wichtig sind. Ihre Polemik aber zeigt, dass Ihre größte Sorge die Erfolge der Grünen sind; sonst müssten Sie sich nicht dauernd an uns abarbeiten und das auch noch mit schäbigen Unterstellungen, die nicht stimmen. ({1}) Herr Strobl spricht von Wasserstraßen, obwohl es eigentlich um den Ausbau der Schienenstrecke im Rheintal geht. Er meint, er könnte mich und die Grünen vorführen, weil wir uns auf einen Entwurf der CDU/CSUFDP-Regierung zur Priorisierung der Wasserstraßen, zum Ausbau der Wasserstraßen bezogen haben. Es ist peinlich, dass Sie versuchen, mich und die Grünen anzugreifen, weil wir darauf hinweisen, dass es um die Setzung von Prioritäten geht und dass das auch Konsequenzen für den Wasserstraßenausbau im Neckarbereich haben kann. Sie tun so, als sei das unser Problem. Richten Sie sich bitte an die Bundesregierung, wenn Sie da etwas zu kritisieren haben; aber schieben Sie uns nichts in die Schuhe, nur weil Ihnen das gerade im Wahlkampf so passt. ({2}) Zweiter Punkt. Von vielen ist angesprochen worden, wir hätten versucht, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Ich möchte Herrn Schuster daran erinnern, dass er sehr früh, nachdem er Mitglied des Bundestages geworden ist, in mein Büro kam und wir darüber nachgedacht haben, wie wir gemeinsam vorgehen können. Er hat mir sehr schnell bedeutet, dass er ganz gerne einen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringen würde, aber nur ein kleines Licht in seiner Fraktion sei. Das haben Sie wörtlich zu mir gesagt. Man muss aber sehen: Es gibt übergeordnete Interessen der Fraktionen. In diesem Duktus hat dies in dieser Woche in meinem Büro stattgefunden. Sie sind zu mir gekommen und haben gesagt: Wie sieht es denn mit einem gemeinsamen Antrag aus? Wir haben unseren Antrag, dem können Sie zustimmen. ({3}) - Nein, Sie verdrehen immer die Tatsachen. In dem Brief stand nur, dass man versucht, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen. Dies haben Sie so interpretiert: Wir haben einen Antrag geschrieben. Sie können ja über Änderungsanträge abstimmen lassen - in Klammern: die lehnen wir dann ab -, und dann gibt es einen gemeinsamen Antrag, nämlich den der Koalition. - Das ist nicht das Vorgehen bei einem gemeinsamem Handeln. Bei gemeinsamem Handeln muss man sich auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam Vereinbarungen treffen. Wenn es an irgendeiner Stelle keine Gemeinsamkeiten gibt, muss man die Unterschiede deutlich machen. Ihr Angebot war arrogant. ({4}) Es ist von uns nicht angenommen worden. Uns hinterher vorzuwerfen, wir hätten uns nicht für ein gemeinsames Vorgehen starkgemacht, finde ich mehr als schäbig. ({5}) Ich hätte dieses Thema lieber nicht angesprochen, weil ich glaube, dass die Bürger nicht verstehen können, warum man so handelt. ({6}) Weil Sie all Ihre Reden damit bestritten haben, uns zu unterstellen,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- wir hätten uns nicht für ein gemeinsames Vorgehen starkgemacht, war es aber notwendig. Ihr Verhalten finde ich peinlich. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Herr Kollege Strobl.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hermann, auf diese Art und Weise kommen Sie aus dieser Nummer nicht heraus. ({0}) Erster Punkt. Ich habe die Binnenwasserstraßen angesprochen, weil die Inkonsistenz der Argumentation des Bündnisses 90/Die Grünen bei diesem Thema gut nachzuvollziehen ist. Noch einmal: Der Großen Koalition ist es gelungen, über 600 Millionen Euro für den Ausbau der Neckarschleusen bereitzustellen. ({1}) Sie von den Grünen verkünden hier großspurig, ({2}) dass Sie für Ökologie sind und Güter von der Straße nehmen wollen. ({3}) Aber im Wahlkampf reisen Sie durch die Gegend und sagen: Dieses Geld hätte man für Maßnahmen vor Ort besser verwenden können. ({4}) Außerdem erzählen Sie unsinniges Zeug, zum Beispiel dass Binnenschiffer auf ihren Schiffen altes Öl verbrennen würden. Hier im Bundestag blasen Sie sich auf und sprechen von Ökologie, ({5}) aber vor Ort polemisieren Sie gegen die Interessen des Landes Baden-Württemberg, Herr Kollege Hermann. So ist das. ({6}) - Sie brauchen gar nicht zu schreien, Herr Kollege Bonde. Der zweite Punkt. Es gab verschiedentlich Versuche, im Hinblick auf die Rheintalbahn einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Es gibt ein Antwortschreiben von Kerstin Andreae und Alexander Bonde, beide von den Grünen. ({7}) In diesem Schreiben heißt es, für die Grünen sei der Antrag der Koalition eine gute Basis, ({8}) allerdings mit zwei Änderungen. ({9}) Auch die Kolleginnen und Kollegen vor Ort seien bereit gewesen, einen Konsens zu finden. Sie wurden aber von der Grünenspitze in Berlin zurückgepfiffen. ({10}) Sie haben sie gewissermaßen verraten. Ihnen ging es um Fraktionsinteressen. ({11}) Sie stellen die Interessen der Grünenpartei über die Interessen der Menschen in Südbaden ({12}) und in Wahrheit auch über die Ökologie. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/4861 mit dem Titel „Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf der Drucksache 17/4856 mit dem Titel „Ausbau der Rheintalbahn als Modell für Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3659 mit dem Titel „Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn durch offene Planung beseitigen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Beschlussempfehlung wurde mit Mehrheit zugestimmt. Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/2488 mit dem Titel „Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn auf der Basis des Prognosehorizontes 2025 planen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch hier gibt es eine mehrheitliche Zustimmung. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4689 mit dem Titel „Rheintalbahn - Modellprojekt für anwohnerfreundlichen Schienenausbau“. Wer stimmt der Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Tagesordnungspunkt 27 b. Hier geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5036 mit dem Titel „Schutz vor Schienenlärm im Rheintal und andernorts“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Tagesordnungspunkt 27 c. Hier geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/5037 mit dem Titel „Rheintalbahn - Finanzierung und anwohnerfreundlichen Ausbau sicherstellen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich die Mitteilung des Kanzleramtes erhalten habe, dass die Bundesregierung gerne eine Regierungserklärung zu den aktuellen Entwicklungen in Libyen abgeben möchte und dafür ab 12 Uhr der Bundesminister des Auswärtigen zur Verfügung steht. Von einigen Fraktionen weiß ich, dass sie vorher eine Fraktionssitzung durchführen wollen, sodass ich vorschlage, dass wir die Sitzung jetzt unterbrechen und um 12 Uhr mit dem dann, wie ich unterstelle, einvernehmlich geänderten Tagesordnungspunkt die beabsichtigte Regierungserklärung zur Kenntnis nehmen, der selbstverständlich - davon gehe ich jedenfalls aus - eine Debattenrunde folgt. Ich unterbreche die Sitzung. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Die Fraktionen haben sich auf eine Änderung der heutigen Tagesordnung verständigt. Es ist vorgesehen, die Sitzung mit einer Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen zur aktuellen Entwicklung in Libyen und einer anschließenden Aussprache von einer Dreiviertelstunde fortzusetzen. Anschließend werden wir in der Tagesordnung mit der Beratung des Tagesordnungspunkts 29 fortfahren. Der Tagesordnungspunkt 28 - Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen - soll abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. ({0}) Mir wird gerade zugerufen, dass die Kolleginnen und Kollegen der Grünenfraktion auf dem Weg nach unten sind. Vielleicht warten wir noch kurz. ({1}) - Von der Fraktionsebene herunter auf die Plenarsaalebene. Da sind sie auf dem Weg nach unten, wie Sie alle auch waren. - Die Fraktionssitzung ist zu Ende, wird mir gerade gesagt, und die Kolleginnen und Kollegen kommen. Ich denke, wir können noch 30 Sekunden warten. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen zu den aktuellen Entwicklungen in Libyen ({2}) Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Herrn Minister Guido Westerwelle. Bitte schön. ({3})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat heute Nacht nach einer intensiven Beratung eine weitere Resolution zur Situation in Libyen verabschiedet. Deutschland hat sich bei der Abstimmung über diese Resolution enthalten, genauso wie Brasilien, Indien, China und Russland. Zehn Staaten haben für die Resolution gestimmt, darunter die Vereinigten Staaten von Amerika und die drei Mitglieder der Europäischen Union, die dem Sicherheitsrat derzeit angehören. Ich will Ihnen vorab sagen: Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen. Ihr ist ein schwieriger Abwägungsprozess vorausgegangen. Wir haben am Mittwoch hier eine ausführliche, sehr konstruktive Debatte geführt, und wir haben trotz mancher Unterschiedlichkeit und mancher Kontroverse in der Innenpolitik über die Parteiund Fraktionsgrenzen hinweg alle eine gemeinsame Haltung: Wir verurteilen die Verbrechen des Diktators Gaddafi. Mit diesem Mann kann nicht mehr zusammengearbeitet werden. Er muss gehen. Er spricht nicht mehr für das libysche Volk. ({0}) Ich denke, es ist klar, wo nicht nur die Regierung, sondern wir alle gemeinsam stehen - nachdem ich mir alle Redebeiträge am Mittwoch angehört habe, bin ich der festen Überzeugung, dass ich dies ausnahmsweise für das ganze Haus sagen darf -: Wir stehen gegen diesen Diktator. Wir stehen auf der Seite des internationalen Rechts. Wir stehen an der Seite von Menschen, die für ihre Freiheit wo immer auf der Welt eintreten. Wir stehen an der Seite derjenigen, die wegen ihres Eintretens für demokratische Prinzipien unterdrückt, gequält, gefoltert oder gemordet werden. Wir sind als Demokratie eine Wertegemeinschaft, und deswegen treten wir auch weltweit für freiheitliche und demokratische Werte ein. ({1}) Davon zu trennen ist die Frage einer militärischen Intervention und der deutschen Beteiligung daran. Wir unterstützen ausdrücklich die Elemente der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates, durch die die Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime verschärft werden. Wir Deutsche selbst haben in New York die Vorschläge für noch umfassendere Wirtschafts- und Finanzsanktionen eingebracht und auch vorangetrieben. Deutschland hat sich als eines der ersten Länder in Brüssel und übrigens auch in New York für eine eindeutige Haltung gegenüber dem Diktator Gaddafi ausgesprochen, für eine Isolierung des Systems Gaddafi, und für Sanktionen gegen sein Regime haben wir uns ebenfalls in Brüssel und auch in New York sehr frühzeitig stark gemacht. Die Alternative zu einem Militäreinsatz ist nicht Tatenlosigkeit, ist nicht Zusehen, sondern ist, den Druck zu erhöhen, Sanktionen zu beschließen und Sanktionen zu verschärfen. Es geht auch darum, diese Sanktionen insoweit auszuweiten, als sie umfassend die Finanz- und Wirtschaftsfragen berühren. Mit den Sanktionen ist nämlich ein klares Ziel verbunden: Wir müssen verhindern, dass weiterhin frisches Geld in die Hände dieses Diktators gelangen kann, Geld, mit dem er dann wiederum seine Söldnertruppen bezahlen kann, um das eigene Volk zu unterdrücken, um diesen schrecklichen Krieg gegen das eigene Volk fortzuführen. ({2}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Oberst Gaddafi führt einen Krieg gegen das eigene Volk. Er hat jede Legitimation verwirkt. Dieser Diktator muss gehen. Aber er muss für seine Verbrechen auch zur Rechenschaft gezogen werden. ({3}) Deswegen war es richtig, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eindeutig die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofes in diesem Zusammenhang unterstrichen hat. ({4}) Es ist das ausdrückliche Ziel der Bundesregierung, den demokratischen Aufbruch in Nordafrika und der arabischen Welt nach Kräften zu unterstützen. Wir werden auch künftig in der Europäischen Union und auch in den Vereinten Nationen dafür arbeiten, diesen Aufbruch politisch, wirtschaftlich, finanziell und humanitär zu fördern und ihm zum Erfolg zu verhelfen. Dabei gibt es Entwicklungen, die uns erfreuen: in Marokko, die Jasmin-Revolution in Tunesien, die Millionen Menschen in Ägypten, die für ihre Freiheit auf dem Tahrir-Platz gekämpft haben und die erfolgreich waren. In einigen Ländern gibt es leider aber auch furchtbare Rückschläge: in Libyen - der Anlass dieser Regierungserklärung. Darüber hinaus möchte ich an einem solchen Tag daran erinnern: Auch die Menschen in Bahrain haben das Recht, für ihre Freiheit und für ihre Demonstrations- und Meinungsfreiheit einzutreten. ({5}) Ich habe diese Haltung auch gegenüber meinen Gesprächspartnern in den Golfstaaten klar zum Ausdruck gebracht. Wir wollen einen nationalen Dialog. Wir wollen eine nationale Lösung. Aus unserer Sicht muss die Lösung im Lande durch Dialog gefunden werden und nicht durch das Ausland oder durch ausländische Truppen. Wir sind in Sorge im Hinblick auf die Unterdrückung der Opposition im Iran. Auch wenn darüber im Augenblick nicht jeden Tag etwas zu lesen ist, so wissen wir doch alle, dass gerade die Oppositionskräfte im Iran unverändert unsere volle Aufmerksamkeit und auch unsere Solidarität verdient haben. Wir wollen sie auch an einem solchen Tage nicht vergessen, an dem wir alle natürlich über Libyen reden. ({6}) Meine Damen und Herren Abgeordneten, ich denke natürlich auch an Jemen, ein Land, das uns seit längerem große Sorgen macht. Schon vor einem Jahr haben wir Präsident Salih dazu aufgerufen und aufgefordert, den Ausgleich und den Dialog zu suchen. Er hat sich anders entschieden. Er hat auf die Kraft des Militärs gesetzt. Die Zeit ist verstrichen. Wir sehen heute, vor welcher dramatischen Situation Jemen steht. Auch wenn im Augenblick in Europa der Fokus der Aufmerksamkeit nicht dort liegt, muss in diesem Zusammenhang noch einmal an die Elfenbeinküste erinnert werden. Es ist leider so, auch wenn es jedem mitfühlenden Menschen das Herz bricht. Es gibt so viele Freiheitsbewegungen, die von Despoten und Diktatoren unterdrückt werden. Ich kann nicht verhehlen, es gibt Augenblicke, da spürt man auch als Demokrat, als Mensch, der sich den Menschen zuwendet, ein Gefühl der Ohnmacht. Das kann niemand ignorieren. Das kann auch niemand leugnen. Wir sind nicht in der Lage, überall auf der Welt die Unterdrückung zu beseitigen. Wir sind aber in der Lage, überall in der Welt klar unsere Stimme zu erheben, damit diejenigen, die unterdrückt werden, wissen: Sie sind nicht alleine, wir stehen an ihrer Seite. ({7}) Ich sage das deshalb, weil es natürlich notwendig ist, auch die Folgen der Entscheidung, die gestern Nacht getroffen worden ist und die uns alle hier im Deutschen Bundestag befasst und beschäftigt, für andere Länder zu berücksichtigen, für die Auswirkungen im gesamten Norden Afrikas und darüber hinaus auch in der arabischen Welt. Die Sicherheitsresolution enthält auch Bestimmungen über die Einrichtung einer Flugverbotszone und vor allen Dingen über einen darüber hinausgehenden Einsatz militärischer Gewalt. Es geht darum, dass durch diese Resolution militärische Gewalt, ein militärischer Einsatz durch Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mehrheitlich legitimiert wurde. Die Entscheidung über den Einsatz militärischer Gewalt, über den Einsatz auch des Lebens unserer Soldatinnen und Soldaten ist die wohl schwierigste Entscheidung, vor die die Politik gestellt werden kann. Das gilt nicht nur für die Regierung, das gilt auch für jeden Abgeordneten hier im Hause. Denn jeder Auslandseinsatz unserer Bundeswehr müsste von diesem Hohen Hause mandatiert werden. Wir haben eine Parlamentsarmee und keine Regierungsarmee. Deswegen bin ich sicher, dass sich jeder Abgeordnete dieselben Fragen stellt und auch dieselben schwierigen Abwägungen vornimmt. Wir sind alle verantwortlich bei solchen Fragen, nicht nur die Regierung, meine sehr geehrten Damen und Herren. Den möglichen Nutzen und die Risiken eines militärischen Einsatzes im Falle Libyens haben wir in den vergangenen Tagen in zahllosen Gesprächen in vielen nationalen und internationalen Gremien diskutiert und abgewogen. Es gibt keinen sogenannten chirurgischen Eingriff. Jeder Militäreinsatz wird auch zivile Opfer fordern. Das wissen wir aus leidvoller Erfahrung. Wenn wir abwägen, wie wir uns international verhalten und ob wir uns und wo wir uns beteiligen, dann muss in diese humanitäre Abwägung immer auch mit einbezogen werden, dass es Opfer gibt, auch zivile Opfer gibt. Ich weiß, dass wir das in der Frage des Irak- oder des Afghanistan-Einsatzes oft genug besprochen haben. Ich muss deswegen darum bitten und darf daran erinnern, dass wir die Lehren aus der jüngeren Geschichte, auch aus jüngeren Militäreinsätzen, immer mit berücksichtigen müssen, wenn wir heute vor Entscheidungen stehen. Wir haben Respekt und wir haben Verständnis für diejenigen unserer Partner im Sicherheitsrat, in der EuroBundesminister Dr. Guido Westerwelle päischen Union und auch in der Arabischen Liga, die nach Abwägung aller Argumente zu einem anderen Ergebnis gekommen sind als wir. Wir verstehen diejenigen, die sich aus ehrenwerten Motiven für ein internationales militärisches Eingreifen in Libyen ausgesprochen haben. Wir verstehen die Verzweiflung vieler Menschen in der Region angesichts der Entwicklungen in Libyen in den letzten Tagen. Die Bundesregierung ist aber angesichts sowohl außenpolitisch als auch militärisch erheblicher Gefahren und Risiken bei der Abwägung im Sicherheitsrat zu einem anderen Ergebnis gekommen. Deswegen konnten wir diesem Teil der Resolution und damit der Resolution im Ganzen nicht zustimmen. Wir werden uns nicht mit deutschen Soldaten an einem solchen Militärkampfeinsatz in Libyen beteiligen. ({8}) Für diese Entscheidung habe ich bei unseren Partnern Verständnis und auch Respekt gefunden. Internationales Engagement der Deutschen wird geschätzt. Es ist nicht so, als wäre Deutschland nicht bereit, international Verantwortung zu übernehmen. Deutschland trägt Verantwortung, zum Beispiel indem 7 000 deutsche Soldaten bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr eingesetzt werden. Wir danken den Frauen und Männern der Bundeswehr, die weltweit für unsere Freiheit und für unsere Sicherheit eintreten. Auch an diesem Tage, gerade an diesem Tage vor dem Hintergrund der schrecklichen Nachrichten aus Afghanistan, möchte ich diesen Dank an unsere Bundeswehr noch einmal zum Ausdruck bringen. ({9}) Wir werden darüber beraten, meine Damen und Herren, ob wir unser Engagement entsprechend konzentrieren. Das bedeutet, dass die weiteren Fragen, die jetzt auf der Tagesordnung stehen, zum Beispiel die Frage möglicher AWACS-Einsätze, in der NATO besprochen werden müssen. Ich will Ihnen das frühzeitig und ausdrücklich sagen, weil ich nicht den Eindruck erwecken möchte, in der Regierungserklärung sei das, was viele von Ihnen natürlich weiter denken und mit erörtern, kein Thema. Wir - der Bundesverteidigungsminister und der Bundesaußenminister - werden selber gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen im Kabinett, die damit befasst sind, diese Gespräche in der NATO suchen. Sie sind notwendig, weil hierzu heute noch keine Entscheidungen zu treffen sind und auch in Bezug auf die Sicherheit noch keine Entscheidungen getroffen werden können. Lassen Sie mich aber hinzufügen, dass ich mir im Interesse unserer Partner und auch im Interesse der Menschen in Libyen und der ganzen arabischen Welt wünschen würde, dass sich unsere Sorgen und Befürchtungen hinsichtlich der Folgen eines Militäreinsatzes nicht bewahrheiten. Unsere Position ist eindeutig gegenüber dem Gaddafi-Regime, sie bleibt unverändert: Der Diktator muss die Gewalt gegen sein eigenes Volk sofort beenden. Er muss gehen, und er muss für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir haben es uns nicht leichtgemacht. Ich weiß, dass es niemandem von Ihnen leichtfällt, sich hierüber eine Meinung zu bilden. Aber für uns ist klar: In der Abwägung der Argumente sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir uns mit deutschen Soldaten an einem solchen Kampfeinsatz in Libyen nicht beteiligen werden. Deswegen hat sich die Bundesregierung, hat sich Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen enthalten. Ich bitte um Ihre Unterstützung für diese Position und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne Zweifel, Herr Bundesaußenminister: Das ist eine, fast würde ich sagen, beispiellose Debatte, die wir hier haben, weil wir so schnell zu einer Regierungserklärung nach der Entscheidung im Sicherheitsrat gekommen sind. Ich glaube, es ist auch nicht falsch, wenn man sagt, dass es offensichtlich quer durch die Fraktionen unterschiedliche Auffassungen in dieser Frage gibt und auch geben wird. An der Aufmerksamkeit, mit der alle Kolleginnen und Kollegen Ihrer Rede zugehört haben, hat man schon gesehen, dass es - vielleicht bis auf den einen oder anderen Teil - für die große Mehrheit des Deutschen Bundestages keine einfache Frage ist. Dieses Dilemma bleibt heute und wird wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen bleiben. Niemand wird wahrscheinlich zu einfachen Lösungen kommen. Aber ich glaube, an die Bundesregierung und auch ganz besonders an Sie, Herr Bundesaußenminister, darf man die Frage richten, ob die Motive, die Sie hier in der Regierungserklärung und auch in der Regierungserklärung am Mittwoch genannt haben, so uneigennützig sind und nur von einer internationalen Frage geleitet sind ({0}) oder ob nicht das, was ich Ihnen am Mittwoch in der Debatte gesagt habe, unter Umständen ein Motiv sein kann: Am 11. März haben Sie in einem Interview des Morgenmagazins genau die innenpolitische Debatte eröffnet, die wir vonseiten der Sozialdemokratischen Partei unterlassen haben. Wir wollten nämlich nicht, dass dies innenpolitisch instrumentalisiert wird. Sie haben damit nicht aufgehört; denn Sie sind gestern im Deutschlandradio Kultur wieder genau diese Schiene gefahren. Auch jetzt habe ich, muss ich Ihnen sagen, in den frei formulierten Teilen Ihrer Regierungserklärung den einen oder anderen Punkt gesehen, ({1}) der zeigt, dass dies ein Motiv ist. Das gehört mit dazu. ({2}) Wenn Sie sagen: „Wir als Bundesregierung können nicht überall eingreifen“, dann gebe ich Ihnen recht. Das ist vollkommen richtig. Aber das heißt doch nicht, dass wir dann nirgendwo eingreifen, sondern wir greifen doch dann dort ein, wo wir es können. Auch das hätten Sie von diesem Rednerpult aus sagen müssen. ({3}) Kurzum: Ich glaube schon, Ihr Vorwurf, dass andere Bundesregierungen früher mit dieser Frage leichtfertig umgegangen sind, wendet sich gegen Sie selbst; denn Sie dürfen nicht leichtfertig Ihre Fragen innenpolitischen Motiven unterordnen. ({4}) Ich sage Ihnen: Sie stehen in einer Tradition, die die FDP-Bundestagsfraktion mit zu verantworten hat. Sie haben sich damals gegen den Einsatz im arabischen Raum im Rahmen von UNIFIL aus innenpolitischen Gründen ausgesprochen, ({5}) weil sie glaubten, so die bessere Gewähr für Erfolge in Wahlkämpfen zu haben. Ich unterstelle Ihnen, dass es auch in diesem Fall so ist. ({6}) Sie müssen eine entscheidende Frage beantworten, Herr Bundesaußenminister. Ich glaube, Sie tun hier der deutschen Öffentlichkeit - ({7}) - Sie regen sich doch so auf, weil ich da offensichtlich den wunden Punkt getroffen habe, der zu dieser Debatte und, ich sage auch, zu diesem Dilemma letztlich gehört. ({8}) Er gehört zu diesem Dilemma. Tun Sie doch nicht so, als ob das in Ihrer Fraktion nicht der Punkt wäre. ({9}) Sie stellen sich aber hierhin und sagen: Es gibt einen Automatismus für Ihr Verhalten im Sicherheitsrat und für das, was in nationaler Souveränität zu entscheiden ist. ({10}) Die Frage ist in der UN-Charta ganz klar geregelt: In der UN-Charta steht, dass man einem Beschluss des Sicherheitsrates zustimmen und dann auf nationaler Ebene schauen kann, wie man mit diesem Beschluss umgeht. Zehn Länder, die Sie eben ganz bewusst nicht genannt haben - darunter sind zum Beispiel drei afrikanische Länder und ein arabisches Land -, haben zugestimmt. Sie wissen, dass sie nicht mitmachen werden. Aber Sie unterstellen, dass ein Ja automatisch bedeutet hätte, dass die Bundesregierung bei der Frage einer Beteiligung anders hätte handeln müssen. Nein, das stimmt nicht. Wenn Sie in der Politik souverän sein wollen, müssen Sie sich eher fragen: An welcher Stelle wollen Sie im Sicherheitsrat dabei sein? Wollen Sie bei den zehn Ländern dabei sein, die zugestimmt haben, darunter drei europäische Staaten, drei afrikanische Staaten und ein arabischer Staat? Ich finde, Sie hätten auf dieses Dilemma hinweisen sollen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spatz?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte schön. ({0})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Mützenich, darf ich in aller Bescheidenheit fragen, ob Sie bereit sind, uns endlich auch einmal die Position der SPD darzulegen? ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wissen Sie, genau das ist doch der Punkt. ({0}) - Nein, nein. Darf ich denn nicht einmal aussprechen? Der Herr Bundesaußenminister hat in einer Hälfte seiner Rede nicht über Libyen gesprochen, sondern hat sehr salbungsvoll mit dem einen oder anderen Satz über andere Länder gesprochen, etwa über Bahrain und die Elfenbeinküste. Er hat dann gesagt: Man kann nicht überall intervenieren. Aber er hat nicht beantwortet, warum die Bundesregierung nach ihrer Abwägung nicht möglicherweise die Konsequenz ziehen wollte, ({1}) zu einer Mehrheit im Sicherheitsrat dazuzugehören. Herr Kollege Spatz, ich muss Ihnen sagen: Ich weiß, dass Sie eine ganz andere Position vertreten, dass auch innerhalb der Bundesregierung eine ganz andere Position vertreten wird. Unser Problem, das Problem Deutschlands, ist doch jetzt, dass es keine gemeinsame europäische Position mehr gibt. ({2}) Wir haben es nicht geschafft, alle europäischen Staaten beisammenzuhalten. Das ist doch genau der Punkt, auf den Ihr Außenminister heute nicht eingegangen ist. Herr Bundesaußenminister, ich glaube, dass sich die Frage der nationalen Souveränität nicht davon ableitet, wie man sich möglicherweise bei verschiedenen Fragen im Sicherheitsrat entscheidet. ({3}) Die nationale Souveränität leitet sich daraus ab, wie man begründet, dass man jetzt aus einem europäischen Geleitzug ausgeschert ist. ({4}) Diese Frage müssen Sie sich in einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik stellen. ({5}) Herr Bundesaußenminister, der andere Punkt ist - auch diese Frage müssen Sie erlauben -: Was denken die Länder in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, die Sie in eine verantwortungsvolle Position im Sicherheitsrat gewählt haben, über Ihre gestrige Entscheidung im Sicherheitsrat? Was denken denn die Menschen - Sie haben noch am Mittwoch davon gesprochen, wie beeindruckt Sie gewesen sind -, die Deutschland auf dem Tahrir-Platz zugejubelt haben, weil unser Land die Befreiungsbewegung in der arabischen Welt unterstützt? ({6}) Ich glaube, dass die Menschen vom Tahrir-Platz jetzt, nach der Entscheidung der Bundesregierung, einen ganz anderen Blick auf Deutschland haben; denn Sie haben die europäische Position verlassen und trauen sich nicht, gegen jemanden vorzugehen, der ein Mörder ist, der die Menschen bombardiert, der die Menschen einfach erschießt, weil sie auf der Seite anderer sind. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gleich, wenn ich den Gedanken noch zu Ende führen darf. - Sie müssen sich doch fragen: Welche Entscheidung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hätte möglicherweise eine Verhaltensänderung Gaddafis bewirkt, und zwar nicht die Verhaltensänderung von gestern? Es ist doch ganz klar: Der Beschluss im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat deutlich gemacht, dass Gaddafi erst danach zu Gesprächen über eine Waffenruhe bereit gewesen ist. Auch das müssen Sie sich doch fragen, wenn Sie hier sagen: Wir stehen in einem Dilemma. Natürlich, das spreche ich Ihnen doch gar nicht ab. Aber der entscheidende Punkt ist: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus? Die Verhaltensänderung Gaddafis hat sich erst aus der gestrigen Beschlussfassung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ergeben. Jetzt sagen Sie: Wir wollen nicht mit deutschen Bodentruppen dorthin. ({0}) Nein, natürlich nicht. Das wollen wir doch auch nicht. Aber das besagt auch nicht der Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Er will vielmehr eine Flugverbotszone. ({1}) - Sie waren ja am Mittwoch nicht bei den Beratungen des Auswärtigen Ausschusses dabei. In den Beratungen des Auswärtigen Ausschusses am Mittwoch hat uns Staatssekretär Born erklärt, ({2}) die Überwachung der Flugverbotszone ({3}) mit Anteilen der Bundeswehr an den Einsätzen der AWACS erfolge zurzeit auf der Grundlage des Mandats von Active Endeavour. Sie haben sich nicht hier hingestellt und gesagt, Sie ziehen diese Bundeswehrsoldaten aus der AWACS-Überwachung zurück. Das hätte ich von einer Regierungserklärung hier erwartet. Sie tun so, als seien alle Fragen beantwortet gewesen. Das ist eben nicht der Fall.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deswegen glaube ich: Ihr Dilemma, das Sie selbst zu verantworten haben, ist, dass Sie sich wegen der innenpolitischen Brille ohne Not in diese Situation gebracht haben. - Bitte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dr. Mützenich, wären Sie so freundlich, wenn Sie schon dem Kollegen Spatz die Frage nicht beantwortet haben, die er gestellt hat, mir erstens die Frage zu beantworten, wie die Haltung der SPD-Fraktion in der Sache ist, und mir zweitens zu sagen, ob Sie der Ansicht sind, dass Sie sich in der Haltung, zu was auch immer Sie hier vorgetragen haben, einig fühlen mit dem von uns sehr geschätzten Kollegen Steinmeier?

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe Ihnen eben Folgendes gesagt: Wenn Sie für Ihre Fraktion sagen können, das sei für Sie alles klar, wenn Sie das so für sich behaupten können, ist das klar. Ich kann für meine Fraktion nicht behaupten, dass das klar ist. Das habe ich eben gesagt. Ich habe vorhin an dieser Stelle, glaube ich, eine sehr ehrliche Erklärung abgegeben. ({0}) Ich bin der Meinung, dass Sie sich von innenpolitischen Motiven haben leiten lassen, ({1}) so wie der Bundesaußenminister das am Mittwoch und heute noch in der Frage gesagt hat. Ich möchte Sie auf einen weiteren Widerspruch aufmerksam machen, wenn ich das darf, Herr Bundesaußenminister. Sie sagen immer, Sie vermissten eine Beteiligung aus der Region. Sie vermissten eine Beteiligung vonseiten der afrikanischen Länder, vonseiten der arabischen Länder. Herr Bundesaußenminister, Sie haben jetzt diese Unterstützung. ({2}) Drei afrikanische Länder haben gestern Nacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für ein Mandat gestimmt. Der Libanon hat im Sicherheitsrat für ein Mandat gestimmt. Deswegen müssen Sie hier schon die Frage beantworten, warum Sie, nachdem die Forderungen, die Sie gestellt haben, jetzt eingelöst worden sind, nicht bereit sind, in der Konsequenz zu sagen: Jetzt ist dieses Mandat gegeben, und jetzt kann sich die Bundesrepublik Deutschland, kann sich die Bundesregierung entsprechend verhalten. Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben noch einmal an Bahrein und andere Länder erinnert. Ja, das ist richtig. Aber der entscheidende Punkt wird sein, ob Sie letztlich nicht umhinkönnen, in einer Situation in Libyen, vor der wir stehen, ({3}) in der offensichtlich ein Machthaber Gaddafi mit mörderischer Konsequenz gegen seine eigene Bevölkerung vorgeht, das Instrument, das Ihnen der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gestern zur Verfügung gestellt hat, nicht doch zu nutzen, um diesen Mörder zu stoppen. ({4}) Ich glaube, das wäre die richtige Konsequenz gewesen. Den Mut, den Sie gestern nicht aufgebracht haben, hätte ich mir von Ihnen gewünscht. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, es gibt noch eine Zwischenfrage. ({0}) Das Wort hat nun Kollege Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Mützenich, nach Ihrem Beitrag fällt es nicht ganz leicht, sachlich zu dem Thema zu sprechen, für das wir heute Vormittag hier zusammengekommen sind. ({0}) Ich glaube, niemand macht sich die Entscheidung leicht. Das haben Sie für die SPD-Fraktion betont. Es hilft nichts, sich gegenseitig die Vergangenheit vorzuhalten. Diesbezüglich könnte ich auf Ihre Rede jetzt so einiges erwidern und zeigen, dass man außenpolitische Fragen innenpolitisch instrumentalisiert hat. Dazu würde mir einiges einfallen. ({1}) Aber das möchte ich nicht tun. Ich möchte zu dem sprechen, für das wir heute hier zusammengekommen sind. Ich weiß nicht, wer von Ihnen gestern um Mitternacht, als die Resolution des Sicherheitsrats beschlossen worden ist, Bilder aus Bengasi gesehen hat. Die Leute sind auf die Straße geströmt, befreit von der Angst, die sie natürlich hatten, weil Gaddafi ihnen nicht nur rhetorisch das Ende angekündigt hat, sondern auch sein Tun bis dahin erwarten ließ, dass es in Bengasi ein Blutbad geben könnte. Die Erleichterung über die Entscheidung stand den Menschen ins Gesicht geschrieben. Die Frage ist jetzt: Wie geht es weiter? Es hat sich etwas verändert in der Rhetorik des Gaddafi-Regimes. Auf einmal ist die Rede von Verhandlungen, von Waffenstillstand und von Ähnlichem. Aber die Taten sprechen nach wie vor eine andere Sprache. Die Agenturen meldeten heute Morgen, dass die Stadt Misurata eingekesselt ist und mit Raketen beschossen wird, dass Gaddafi also weitermacht. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat gestern die Staatengemeinschaft ermächtigt, einzeln oder gemeinsam zu handeln, nämlich bei Sanktionen, bei einem Flugverbot und vor allen Dingen beim Schutz der Zivilisten. Das war für uns immer die erste Voraussetzung, die erfüllt sein muss, ehe wir überhaupt darüber reden, wie Deutschland sich verhält und ob es sich gegebenenfalls beteiligt. Diese Voraussetzung ist durch den Sicherheitsratsbeschluss gestern Abend erfüllt. Für Deutschland ist aber auch ein weiterer Punkt entscheidend, den ich immer wieder vorgetragen habe. Wenn man in Libyen eingreift, bei den Konflikten im Sudan, in der Republik Elfenbeinküste und bei vielen anderen Konflikten dieser Welt aber nicht, ist zu fragen - und diese Frage ist berechtigt -: Worin liegt für euch Europäer und euch Deutsche der Unterschied? Die Antwort darf nicht lauten: Es ist das Öl. ({2}) Um diese Schlussfolgerung zu vermeiden, war es entscheidend und notwendig, dass sich Länder aus der Region sichtbar beteiligen. „Sichtbar“ heißt, dass sie nicht, was wir in der Region gelegentlich erleben, der Weltöffentlichkeit auf Englisch das eine erklären, der eigenen Bevölkerung aber auf Arabisch etwas anderes sagen. „Sichtbar“ heißt, dass sie eine solche Operation tatsächlich mit stützen. Jetzt heißt es, dass Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate bereit wären, das zu machen. Die Frage ist: Wie soll sich Deutschland verhalten? ({3}) - Bitte schön.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Kollege Oppermann.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. Das kam postwendend. - Herr Polenz, Sie wollen sich jetzt der Frage zuwenden, wie sich Deutschland verhält. Vorher will ich Sie aber fragen - diese Fragen haben Sie noch nicht beantwortet -, ob der UN-Sicherheitsratsbeschluss aus Sicht der CDU/ CSU-Fraktion richtig oder falsch war. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es war richtig, dass Deutschland sich enthalten hat. Auch der Beschluss als solcher war richtig. Sonst hätten wir ja dagegengestimmt. ({0}) - Moment. Wenn er falsch gewesen wäre, hätten wir dagegenstimmen müssen. Wir haben uns enthalten. Der Beschluss war richtig. Es war aber auch richtig, dass sich Deutschland gestern Abend enthalten hat. Das will ich gleich noch ausführen und begründen. ({1}) Um die Frage beantworten zu können, warum man sich in Libyen engagiert, an der Elfenbeinküste aber nicht, müssen wir zunächst einmal unsere Interessen in den Blick nehmen. ({2}) In der Mittelmeerregion haben wir ökonomische Interessen. Es geht um ein strategisches Interesse, um die Sicherheit Israels und um Fragen der Migration und der Flüchtlinge. Wir haben ein Interesse an der Modernisierung dieser Region, an Reformen. Damit zusammenhängend haben wir auch ein Interesse daran, den Terrorismus, der in dieser Region Wurzeln hat, vorbeugend zu bekämpfen. Die Mittelmeerregion hat also eine strategische Bedeutung für die Sicherheit Europas, anders als andere Regionen der Welt. Insofern muss man zu dem Argument, überall auf der Welt passiere ähnlich Schlimmes und dort machten wir nichts, von unserem Interessengesichtspunkt her sagen: Der Mittelmeerraum liegt uns aus anderen Gründen, auch aus Sicherheitsgründen, näher und rechtfertigt eine andere Betrachtungsweise. Ich warne allerdings heute vor zu weit gehenden Festlegungen von uns Parlamentariern, weil uns wichtige Informationen fehlen. Es ist nicht so, dass das Parlament über den Einsatz der Streitkräfte beschließt, sondern man stimmt einem Antrag der Bundesregierung zu, wenn er denn eingebracht wird, weil dann alle Vor- und Nachteile viel detaillierter abgewogen werden können. In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass man hinsichtlich der Einsatzrisiken aus dem Beispiel Bosnien lernen kann: Damals hat Milosevic bei Luftangriffen zivile Schutzschilde vor militärisch wichtige Ziele gestellt. Das wird Gaddafi möglicherweise auch machen. Es wird bei dem Einsatz aus der Luft nicht ohne sogenannte Kollateralschäden am Boden abgehen. Das muss man wissen. Man muss auch wissen: Es ist nicht sicher, dass ein solcher Lufteinsatz zu dem Ergebnis führt, dass Gaddafi aufgibt, sich festnehmen und nach Den Haag transportieren lässt. Denn das ist ja das Ziel, das letztlich hinter all diesen Überlegungen steht. Es gibt noch eine ganze Menge offener Fragen. Deshalb überlegt der NATO-Rat seit heute Vormittag bei seiner Tagung, wie das weitere Vorgehen sein soll. Auch hier ist die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Ich finde es richtig, dass wir über das weitere Vorgehen auch innerhalb der Europäischen Union diskutieren. Aus meiner Sicht war es sehr verständlich, wegen der noch ungeklärten Risiken zunächst das politische Vorgehen abzuwarten. Noch sehe ich kein arabisches Land, das hierbei mitwirkt. Die militärischen Einsätze haben ja auch noch nicht begonnen. Alles andere hätte ich für ein viel zu großes politisches Risiko gehalten. Nun zu der Frage: Wie soll sich Deutschland weiter verhalten? Ich glaube, wenn wir das heute im Plenum des Bundestages diskutieren, kommt es darauf an, dass wir uns Optionen für die weiteren Beratungen in der NATO und in der Europäischen Union offenhalten und dann von der Regierung weitere Erklärungen und Festlegungen erwarten. Das können wir aus der heutigen Sicht nicht beurteilen. Ich würde nicht sagen: Jawohl, in jedem Fall wäre es richtiger, wenn sich Deutschland militärisch beteiligen würde. So weit würde ich heute nach den Informationen, die ich als Parlamentarier habe, nicht ge11144 hen. Insofern ist es klug, dass die Regierung die verschiedenen Möglichkeiten weiter überdenkt. Auf der anderen Seite, Herr Außenminister: Wir haben im Sicherheitsrat und auch in der Europäischen Union der Aussage zugestimmt: Gaddafi muss weg, seine Zeit ist abgelaufen. Wir haben im Sicherheitsrat einer Resolution zugestimmt, dass Gaddafi vor den Internationalen Strafgerichtshof soll. Wir haben uns bereit erklärt, Sanktionen mitzutragen. Da klafft eine operative Lücke. Denn Sanktionen wirken mittel- bis längerfristig; sie wirken in der Regel nicht sofort. Mir sind jedenfalls keine Sanktionen bekannt, die sofort eine derart weitgehende Verhaltensänderung bewirkt hätten, sodass Gaddafi festgesetzt wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rainer Arnold?

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sprachen davon, wie wir uns als Parlamentarier verhalten. Deshalb meine Frage: Trifft die Meldung zu, dass die Bundesregierung in Ihrer Fraktionssitzung erklärt hat, sie erwäge einen Einsatz von AWACS in Afghanistan, um so die NATO für einen Einsatz in Libyen zu entlasten? Wie bewerten Sie die Auswirkungen auf die Bündnisse, wenn die Deutschen ihr Personal von den jetzt schon vor Libyen fliegenden AWACS unverzüglich abziehen?

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wird eine der Fragen sein, die jetzt in der NATO besprochen werden müssen. ({0}) Denn es ist ja klar: Im Augenblick fliegen AWACS im Mittelmeerraum, allerdings mit einem Mandat zur Aufklärung. Wenn man das ändern wollte und die AWACS als Feuerleitzentrale für eventuelle Luftschläge einsetzen wollte, müsste der Bundestag neu damit befasst werden. Wir müssten dafür ein Mandat erteilen. ({1}) Das würde der Bundestag auf Antrag der Bundesregierung zu beschließen haben, wenn die Bundesregierung einen entsprechenden Antrag vorlegen will. Gleichzeitig hatten wir - wir erinnern uns beide - eine Diskussion über AWACS in Afghanistan geführt; Sie kennen die Vorgeschichte. Die AWACS-Flugzeuge werden weiter dort gebraucht. Die NATO muss entscheiden, wo der deutsche Einsatz gebraucht wird. Ich finde es richtig, dass der Verteidigungsminister das in der NATO klären wird. Darüber ist in der Fraktion gesprochen worden. Im Übrigen wollte ich Ihnen eigentlich keine weitergehenden Auskünfte über unsere Fraktionssitzung geben. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Mützenich? ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Polenz, wie verstehen Sie eine Regierungserklärung des Außenministers, mit der das Parlament und die Öffentlichkeit über eine solch wichtige Frage informiert werden sollen, nachdem offensichtlich nur Ihnen in der Fraktionssitzung die Information gegeben worden ist, wie mit dem Einsatz von AWACS-Flugzeugen umgegangen werden soll ({0}) und ob es möglicherweise ein weiteres Mandat des Deutschen Bundestags geben wird? ({1})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben nicht konkret über Mandatierungen gesprochen, und außerdem geht es um die weitere Diskussion im Bündnis. Ich habe versucht, klarzumachen, dass die NATO gerade im Planungsprozess ist. Deutschland hat zugestimmt, dass die NATO Planungen für humanitäre Hilfe einschließlich dafür notwendiger militärischer Maßnahmen unternimmt. Die Bundesregierung hat eine Planung Richtung Flugverbotszone passieren lassen. Das ist der Stand in der NATO. Die NATO-Beratungen gehen jetzt weiter. Sie fragen mich eigentlich, was bei den NATO-Beratungen herauskommt. - Es ist im Moment noch gar nicht klar, ob die NATO sich überhaupt an einer Operation auf der Grundlage der Sicherheitsratsresolution beteiligt. Jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass diese Entscheidung schon gefallen wäre. Es kann sehr gut sein, dass es beispielweise nur eine sogenannte Coalition of the Willing gibt. Insbesondere Frankreich, aber auch Großbritannien und die USA haben gesagt, dass sie gegebenenfalls dabei wären. Es ist noch gar nicht ausgemacht, dass es eine NATOMission wird. ({0}) Auch das spricht dafür, dass wir uns heute im Plenum nicht in einer Weise festlegen, dass wir den weiteren Entwicklungen nicht Rechnung tragen können. Wir haben - das ist, glaube ich, in allen Fraktionen deutlich geworden - schwierige Abwägungsentscheidungen zu treffen, die mehrere verschiedene Ebenen berühren. Die Ebene des gemeinsamen Handelns in der Europäischen Union ist wichtig. Die Ebene im NATOBündnis ist wichtig. Aber es ist auch eine wichtige EntRuprecht Polenz scheidung - dazu sind wir insbesondere als Bundestag verpflichtet -, Risiken und Erfolgsaussichten abzuwägen sowie die Schlüssigkeit dessen, was auf dem Tisch liegt, zu prüfen. Herr Mützenich, bisher hat der Sicherheitsrat gesagt: keine Bodentruppen. - Diese Resolution hat den Sicherheitsrat passiert. Sie ist bei Enthaltung von Russland und China angenommen worden. Wenn das eine Hängepartie wie damals auf dem Balkan wird - obwohl es da keinen Sicherheitsratsbeschluss gab - und sich die Frage stellt, ob nicht doch Bodentruppen gebraucht werden, dann würde es eines neuen Sicherheitsratsbeschlusses bedürfen. Dabei muss man nach dem bisherigen Verlauf der Diskussion große Zweifel daran haben, dass dieser ohne Veto von Russland oder China oder von beiden durchgehen würde. Dann würde die Operation auf halber Strecke feststecken. Das müssen Sie auch bedenken. All diese Gesichtspunkte können wir heute im Plenum als Fragen formulieren, ohne dass wir Antworten darauf haben. ({1}) - Ja, das ist so. Das muss in den Gremien des Bündnisses vom Militär beurteilt werden. Dann stellt sich die Frage, ob und wie Deutschland sich beteiligt. Ich finde die Zurückhaltung richtig. Bündnis heißt nicht, dass Deutschland bei allem, was die NATO macht, prinzipiell dabei sein muss. Sonst brauchten wir den Parlamentsvorhalt nicht mehr und könnten sagen: Das alles entscheidet die NATO in Brüssel, und wir sind dabei. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie das Parlament heute unmittelbar nach der Entscheidung des Sicherheitsrats in Form einer Regierungserklärung informiert hat. Es ist sicherlich nicht das letzte Mal, dass wir über dieses Thema diskutieren. Ich hoffe, dass es auf der Basis des gestern Beschlossenen gelingt, die Hoffnungen, die die Menschen in Bengasi jetzt in die internationale Staatengemeinschaft und das Verhalten von Gaddafi setzen, nicht zu enttäuschen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Kurzintervention wird sehr kurz sein. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt das international, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen akzeptierte Prinzip, das auf den Erfahrungen in Ruanda und dem dortigen Völkermord basiert: das Prinzip der Schutzverantwortung, Responsibility to Protect. Ich finde es eine Schande, dass sich die Bundesregierung als Mitglied des UN-Sicherheitsrates in dieser Situation enthalten hat. Gegenüber Despoten kann es bei solchen Entscheidungen keine Enthaltung geben. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns in diesem Hause nicht wechselseitig Kriegstreiberei vorwerfen. Das ist eine Stillosigkeit, die hier eine Grenzüberschreitung ist. ({0}) Das Wort hat nun Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke. ({1})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen scheint die Welt manchmal aus den Fugen zu geraten. Bei all den Katastrophenmeldungen weiß ich manchmal gar nicht mehr, welche mich am meisten erschüttert. Gestern Nacht hat der UN-Sicherheitsrat einen Kriegseinsatz in Libyen beschlossen. Da geht es nicht nur um eine Flugverbotszone, sondern es wurde auch genehmigt, dass Gaddafis Truppen flächendeckend bombardiert werden. Herr Polenz, es wurde auch genehmigt, dass - zumindest zeitlich begrenzt - ausländische Bodentruppen auf libyschem Gebiet eingesetzt werden dürfen. Das Einzige, was ausgeschlossen wurde, sind Besatzungskräfte. Für einige Tage, für einige Wochen können aber auch große Kontingente ausländischer Truppen in Libyen Krieg führen. Wir finden diesen Kriegseinsatz falsch. ({0}) Dieser Kriegseinsatz ist falsch; denn er wird noch mehr Blutvergießen fordern und noch mehr Leid und Zerstörung über Libyen bringen. Deswegen muss ich Ihnen, Herr Westerwelle, sagen: Ich finde es gut, dass sich Deutschland gestern enthalten hat. ({1}) Wir hätten Nein gesagt; aber eine Enthaltung ist ein echter Fortschritt, vor allem gegenüber der rot-grünen Regierung, ({2}) die im Jahr 2001 aus Solidarität mit den Amerikanern und den Engländern blind in den Afghanistan-Krieg gegangen ist. In diesem Krieg hängen Sie immer noch. Sie haben immer noch nicht aus Ihren Fehlern gelernt. Herr Mützenich, wenn ich Sie hier heute höre, muss ich sagen: Sie von der SPD sind im Moment die größten Kriegstreiber im Bundestag. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf. Ich habe gerade dazu gemahnt, dass wir uns wechselseitig nicht solche Vorwürfe machen. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich nehme diesen Ordnungsruf mit Stolz an. ({0}) Ich muss sagen: Herr Mützenich, wie Sie hier mit rotem Kopf stehen und für einen Kriegseinsatz in Libyen plädieren, das ist, als ob Franz Josef Strauß wieder auferstanden wäre. So stellen Sie sich hier gerade dar. ({1}) Herr Westerwelle, wie gesagt, ich finde Ihre Entscheidung sehr klug und sehr konsequent. Ich hoffe, dass Sie jetzt konsequent bleiben. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: „Keine deutsche Beteiligung“, dann hoffe ich, dass Sie das konsequent bis zum Ende durchdenken. Das heißt auch: keine deutschen Bundeswehrsoldaten in AWACS-Flugzeugen, die jetzt schon dort herumfliegen. ({2}) Das heißt auch, dass Ramstein und andere US-Basen in Deutschland für den Kriegseinsatz in Libyen nicht genutzt werden. Das heißt auch, dass Sie im NATO-Rat dagegenstimmen. ({3}) Damit können Sie sogar noch etwas aufhalten; denn im NATO-Rat wird einstimmig beschlossen. Natürlich ist es völlig richtig, das mörderische Treiben von Gaddafi zu stoppen; da sind wir uns hier alle einig. Es gibt Punkte in der Resolution, die dazu absolut geeignet sind. Herr Westerwelle hat dies vorhin ausgeführt. Gaddafi kämpft im Moment ausschließlich mit seinem Geld. Er kauft für sein Geld Söldner. Er hat vor einigen Wochen in Tripolis Geld verteilt, um sich Unterstützung zu sichern. Wenn wir ihm den Geldhahn abdrehen, wenn weltweit kein Mensch mehr Öl aus Libyen kauft, kann er irgendwann keine Söldner mehr bezahlen. ({4}) Ein weiteres Thema - darüber hat hier noch niemand geredet - sind die deutschen Waffen und die Waffenexporte nach Libyen. ({5}) In der Resolution wird ein Waffenembargo gefordert. Das ist richtig. ({6}) Das ist auch gut so. Denn wenn alle Länder um Libyen herum keine Waffen und keine Patronen mehr durchlassen, dann geht Gaddafi irgendwann, und zwar ziemlich schnell, die letzte Patrone aus. Das ist eine richtige Forderung in der Resolution, die wir unterstützen. Jetzt muss ich Ihnen von der SPD etwas sagen. Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul, wenn Sie von Responsibility to Protect reden, dann erinnere ich Sie daran, dass Sie zu einer Zeit, als Deutschland Waffen an Libyen geliefert hat, Ministerin waren. ({7}) In der Zeit der Großen Koalition wurden Waffen im Wert von 86 Millionen Euro an Libyen geliefert, Waffen, die jetzt gegen die Aufständischen eingesetzt werden. Das ist die Verantwortung der SPD. Wenn Sie, nachdem Sie Waffen geliefert haben, jetzt sagen: „Dann bekämpfen wir sie mit der Bundeswehr“, dann ist dies - das Wort, an das ich gerade denke, darf ich nicht mehr sagen nicht mehr zu überbieten. ({8}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich fühle mich manchmal wie in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. ({9}) Als es im Januar dieses Jahres um Tunesien ging, hat die Bundesregierung irgendwann entschieden, keine Waffen mehr an Tunesien zu liefern. Wir haben Sie damals gefragt: Warum gilt das nicht auch für Ägypten, warum nicht auch für Saudi-Arabien? Aber Sie haben Ihre Entscheidung auf Tunesien beschränkt. Ein paar Wochen später haben Sie die Waffenexporte nach Ägypten beschränkt. Da haben wir gesagt: Richtig so! Aber warum gilt das nicht auch für Saudi-Arabien, warum nicht auch für Libyen? Ein paar Wochen später haben Sie die Waffenlieferungen nach Libyen gestoppt. Ich sage Ihnen heute ein für alle Mal: Stoppen Sie alle Waffenexporte in den Nahen und Mittleren Osten, an alle Diktatoren dort! ({10}) Ich stelle fest, dass es in der Region einige Länder gibt, die schon zugesichert haben, sich an der Operation gegen Libyen zu beteiligen, so zum Beispiel Katar. Katar wurde von Deutschland im letzten Jahr mit Waffen im Wert von 1,3 Millionen Euro ausgestattet, mit Sturmgewehren und anderem Material. Es sind also deutsche Waffen, die jetzt eingesetzt werden. Herr Westerwelle, noch ein letztes Wort. Sie haben Bahrain erwähnt. Ich fand es sehr gut, dass Sie gesagt haben: Wir stehen auf der Seite der Bevölkerung von Bahrain, die sich jetzt gegen den dortigen Diktator wendet. - Wenn das so ist, müssen Sie aber auch etwas dazu sagen, dass Saudi-Arabien gerade in Bahrain einmarschiert. Saudi-Arabien wird von Deutschland seit Jahren mit Waffen im Millionenwert ausgestattet. ({11}) Deutschland liefert sogar eine Waffenfabrik und eine Munitionsfabrik nach Saudi-Arabien. Das müssen Sie endlich beenden! Wenn Sie die Bevölkerung von Bahrain unterstützen wollen, stoppen Sie sofort alle Waffenlieferungen! Ich bedanke mich bei Ihnen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank für den Beifall. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den bisherigen Verlauf dieser Debatte vor Augen führe, dann stellt sich mir die Frage, ob dieses Parlament bzw. einige Redner angemessen auf die schwierige Situation reagieren. ({0}) Ich beantworte diese Frage mit Nein. Ich möchte deshalb zu Beginn meiner Rede sehr deutlich auf den Fakt eingehen, um den es geht. Die Bundesregierung hat, wie ich finde, sehr stringent argumentiert, nämlich in folgender Reihenfolge: Zuerst wurde die Festlegung getroffen, dass sich Deutschland aus Gründen, die der Außenminister ausführlich dargelegt hat, nicht an den kriegerischen Auseinandersetzungen in Libyen beteiligen wird; das war der erste Punkt. Darauf folgte konsequenterweise die Entscheidung, sich bei der entsprechenden Abstimmung im UN-Sicherheitsrat zu enthalten. Das ist eine konsequente und stringente Argumentation. Man kann sie angreifen und anderer Meinung sein. Aber auf jeden Fall ist diese Argumentation konsequent und stringent vorgetragen worden. ({1}) Selbstverständlich - das müssen wir den Bürgern im Lande sagen; wir alle bekommen doch ähnliche E-Mails, in denen danach gefragt wird - geht es nicht nur um eine Flugverbotszone, um eine überschaubare, kurzfristige militärische Aktion. Nein, wenn Sie sich das Mandat genau durchlesen - schauen Sie sich bitte vor allen Dingen Art. 4 an -, dann stellen Sie fest, dass es sich um das volle Spektrum einer militärischen Operation, um einen vollen militärischen Einsatz handelt, der nicht auf eine Flugverbotszone beschränkt ist. Die Bundesregierung hat sich völlig zu Recht, konsequenterweise und stringent argumentierend gegen eine deutsche Beteiligung ausgesprochen. ({2}) Meine Damen und Herren, diese Stringenz habe ich bei der Opposition bisher sehr vermisst - eine Oppositionsrednerin kommt ja noch -, zumindest bei Ihnen, Herr Mützenich. Als ich Ihnen zugehört habe, war ich sehr verwundert - ich schätze Sie sehr -, wie Sie eine solche Rede halten können; aber das ist mein privates Problem. Darüber hinaus fühle ich mich an einen Satz Ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Müntefering erinnert, der gesagt hat: Opposition ist Mist. - Wenn jetzt hinzukommt, dass Opposition Mist macht, dann ist das insbesondere in außenpolitischen Fragen sehr problematisch. ({3}) Herr Mützenich, ich stelle hier fest, dass Sie sich, obwohl Sie aufgrund zweier Zwischenfragen aus meiner Fraktion viel Redezeit hatten, nicht in der Lage gesehen haben, hier eine eindeutige Position Ihrer Partei zu definieren. ({4}) Ich stelle hier fest: Das zeigt, dass diese SPD, die über Jahre hinweg Außenminister gestellt und somit deutsche Außenpolitik vertreten hat, ({5}) gegenwärtig außenpolitisch nicht handlungsfähig ist. ({6}) Herr Mützenich, wenn Sie sich - ich muss es Ihnen so deutlich sagen - aufgrund Ihrer Unfähigkeit, Position zu beziehen, entblöden, uns jetzt noch vorzuwerfen, wir würden innenpolitische Argumente einbeziehen, ({7}) dann kann ich nur sagen: Ich finde es peinlich, dass gerade die Goslar-Partei in diesem Hause eine solche Argumentation verfolgt. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hans-Peter Bartels?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Herr Bartels, immer gerne.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stinner, da Sie über eine klare Position verfügen: Werden Sie es als richtig oder falsch beurteilen, wenn es nach dieser Resolution zu Luftschlägen anderer gegen Einrichtungen in Libyen kommt? ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Bartels. - Wir haben - der Außenminister hat es gesagt - den UN-Sicherheitsratsbeschluss nicht abgelehnt. Vielmehr haben wir konsequent und stringent gesagt - ({0}) - Moment! - Da wir uns aus den Gründen, die hier dargelegt worden sind, militärisch nicht beteiligen wollen, haben wir konsequenterweise abgelehnt. Dennoch stehen wir dazu, dass es eine völkerrechtliche Ermächtigung ist. Deshalb sind alle Maßnahmen, die im Rahmen dieser völkerrechtlichen Ermächtigung ergriffen werden, legitim und vom Völkerrecht der Vereinten Nationen gedeckt. ({1}) Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Oppermann?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön, Herr Oppermann. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen Punkt haben Sie eben offengelassen. Wir haben vorhin festgestellt, dass die Union sagt: Der Beschluss des UN-Sicherheitsrates war richtig. Es war richtig, dass andere ihn gefasst haben. Sie haben die Frage allerdings nicht beantwortet: Finden Sie es richtig oder falsch, wenn dieser Beschluss durch Intervention, durch Durchsetzung des Flugverbots mit militärischen Mitteln umgesetzt wird?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage es Ihnen gerne noch einmal, Herr Oppermann. Da dies ein völkerrechtlich verbindlicher Beschluss der Vereinten Nationen ist, sind natürlich auch die daraus folgenden Konsequenzen völkerrechtlich legitimiert, und wir werden sie mittragen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Nachfrage?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben meine Frage nicht beantwortet. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Doch, das habe ich.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte deshalb eine Zusatzfrage stellen. - Sie haben eben erklärt: Wenn der Beschluss des UN-Sicherheitsrates umgesetzt wird, dann ist das völkerrechtlich korrekt.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe Sie gefragt, ob Sie als FDP es politisch richtig finden, wenn jetzt die internationale Gemeinschaft ({0}) den Beschluss des Sicherheitsrates umsetzt und das Flugverbot durchsetzt. ({1}) Finden Sie das politisch richtig, oder finden Sie das politisch falsch?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Oppermann, Ihrer Fraktion gebricht es offensichtlich nicht nur an der Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, sondern auch an der Fähigkeit, zuzuhören. ({0}) Ich habe sehr deutlich gesagt: Da dies völkerrechtlich legitimiert ist und wir dies anerkennen, werden wir auch die Konsequenzen, die sich daraus ergeben - das heißt, wenn andere Staaten die völkerrechtliche Ermächtigung nutzen -, politisch mittragen. ({1}) Habe ich Ihre Frage jetzt endgültig beantwortet? Ich nehme weitere Zwischenfragen der SPD sehr gerne entgegen, um herauszubekommen, was Sie eigentlich wollen. ({2}) Sie können versuchen, zu camouflieren. Aber aus der Ecke, Herr Mützenich, dass diese SPD außenpolitisch nicht handlungsfähig ist, kommen Sie heute nicht mehr heraus. ({3}) Meine Damen und Herren, bedauerlicherweise müssen wir uns aber nicht nur mit der SPD befassen, sondern uns auch fragen, wie es weitergehen kann. Auf Ihre mehrfach gestellte Frage habe ich geantwortet. Die Regierung hat stringent argumentiert. Ich sage Ihnen aber auch völlig klar - das ist Konsens in meiner Fraktion und, ich glaube, auch in der anderen Regierungsfraktion; im Gegensatz zur SPD, die offensichtlich keine Möglichkeit hatte, sich abzustimmen, und interessanterweise von vornherein keine Sitzung anberaumt hat, hatten wir eine Fraktionssitzung dazu; an dem, was Sie heute hier vorgetragen haben, sieht man das Ergebnis -, dass wir an dem politischen Ziel - das hat der Außenminister noch einmal eindeutig klargestellt; es geht um eine politische Argumentation -, den Diktator Gaddafi zu entmachten, unverändert und unvermindert festhalten und dass Deutschland, vertreten durch die Bundesregierung, unterhalb der unmittelbaren Beteiligung an einer militärischen Aktion natürlich seinen Beitrag leisten wird. ({4}) Offen gesagt, stehe ich nicht mit einem fertigen Plan hier; den habe ich nicht. Das kann auch keiner erwarten. Ich sage Ihnen aber zu, dass wir dafür sorgen und einen Beitrag dazu leisten werden, dass die Bundesregierung alle Möglichkeiten ventiliert. Das fängt bei der Verstärkung der Sanktionen an. Ich persönlich gehe so weit und sage: Wir müssen überlegen, ob die Sanktionen noch ein ganzes Stück verstärkt werden müssen, um den Diktator wirklich zu treffen. Bei diesen Überlegungen dürfen wir auch das Thema Öl nicht aussparen. Ich sage auch, dass wir alle Möglichkeiten nutzen wollen und sollen, um zum Beispiel an den Grenzen humanitäre Hilfe für Flüchtlinge zu leisten. Ich sage, an dieses Haus gewendet, auch, dass wir in dieser Ausnahmesituation natürlich überlegen müssen, ob wir für einen begrenzten Zeitraum nicht auch libyschen Flüchtlingen, die täglich vor dem Erschießen fliehen, die Möglichkeit geben sollten, das Mittelmeer zu überschreiten. ({5}) All das sind Überlegungen, die wir anstellen müssen; denn wir haben keine normale Situation. ({6}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch ganz kurz auf die bündnispolitische Komponente dieses Problems eingehen. Jawohl, es wäre uns lieber gewesen, wir hätten mit unseren europäischen Partnern eine gemeinsame Linie gefunden. Das ist nicht der Fall. Das bedauern wir, aber es ist halt so. Dennoch werden wir unsere Partner in Europa, in der NATO und in der Welt dort unterstützen, wo wir können, um ihnen zu ermöglichen, ihre schwierige Aufgabe wahrzunehmen. Das ist das Commitment, das wir eingehen wollen und sollen. Ich bedanke mich bei der Bundesregierung, dass sie dieses hier und heute sehr klargestellt hat, dass sie eine klare inhaltliche Position hat und eine folgerichtige Konsequenz daraus gezogen hat. Wir werden sie dabei weiter von Herzen unterstützen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In aller Ruhe und dem Thema angemessen: Ich glaube, wir alle stehen hier schweren Herzens. ({0}) - Außer einigen stehen wir alle hier schweren Herzens. Das will ich niemandem absprechen. Ich will auf den Ausgangspunkt, der uns alle bewegt, nämlich den VN-Beschluss von Ende 2005 - Responsibility to Protect -, zu sprechen kommen. Grundsätzlich steht dem Eingreifen in andere Länder immer die Souveränität eines Staates entgegen. Allerdings sagen die UN auch: Die Souveränität eines Staates verpflichtet. Die Staats- und Regierungschefs müssen sich um die Rechte, die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit der Menschen in ihren Ländern kümmern und sie beschützen. Das ist der Ausgangspunkt. ({1}) Wir haben bemerkt, dass die Beschlüsse zu den Menschenrechten nicht reichen, sondern man muss den Staatschefs - und auch sich selber - Fragen stellen und die Verantwortung in konkreten Schritten wahrnehmen. Deshalb gehört zu Responsibility to Protect, also der Verantwortung, zu beschützen, eben auch, dass die Staatengemeinschaft verpflichtet ist. Wo ein Staat die Schutzverantwortung gegenüber seiner Bevölkerung nicht ausüben kann oder, wie in diesem Fall, nicht ausüben will, ist die internationale Gemeinschaft in der Mitverantwortung und muss agieren. ({2}) In aller Ruhe und Klarheit: Das ist unser Ausgangspunkt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich von der Fraktion Die Linke?

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. ({0}) Vor diesem Hintergrund kann ich für die grüne Fraktion den UN-Beschluss grundsätzlich begrüßen. Es ist nötig. Wenn Gaddafi - das ist das Dilemma, vor dem wir alle gestanden haben - sein eigenes Volk beschießt, statt es zu beschützen, und sogar Kampfjets und Hubschrauber losschickt, dann stehen wir in der Verantwortung, zumal nicht nur aus der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union, aus Nigeria, Südafrika und großen Teilen der Bevölkerung ein Hilferuf gekommen ist. Wir sind an dieser Stelle in der Verantwortung, Menschenrechte zu verteidigen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit UN-Beschlüssen und weiteren Maßnahmen. ({1}) Es ist nämlich das Recht eines jeden Menschen, in Freiheit und körperlicher Unversehrtheit zu leben und auch für Freiheit und körperliche Unversehrtheit zu kämpfen. ({2}) - Gregor Gysi hat hier schon oft gestanden, die linke Faust in den Himmel gestreckt und die Selbstverteidigung der Völker beschworen, wo auch immer auf der Welt Menschen allein waren. ({3}) - Seien Sie mal ganz leise! Sonst reden wir über Kuba oder andere Länder. Es geht darum, Verantwortung wahrzunehmen. ({4}) Wenn ich sage: „Wir begrüßen den UN-Beschluss“, dann negiere ich definitiv nicht die vorhandenen Risiken. Wir haben in unserer Fraktion seit Tagen und Wochen und auch heute früh noch einmal sehr kritisch über diesen Beschluss diskutiert. Bei dem Thema Flugverbotszone geht das Leiden mitten durch die grüne Fraktion. Es gibt Leute, die dazu Ja sagen, und es gibt aber auch viele Leute, die auf die Risiken hinweisen, die das mit sich bringt. Man muss sich fragen, welche Schritte noch kommen. Deshalb sage ich: Weil wir alle leiden - das gilt sicherlich auch für die Bevölkerung -, ist dies nicht der richtige Ort oder Zeitpunkt für Polemik, allzu scharfe Worte oder die Suche nach den Motiven der anderen. Wir alle müssen uns bewegen. ({5}) Wir alle wissen letzten Endes, dass auch die Flugverbotszone realisiert werden muss. Wir wissen, dass das ein extrem schwieriger Weg ist. Ich halte es für richtig, so zu diskutieren. Ich glaube, dass sich niemand erheben sollte. Ich habe vergessen, wer gerade der SPD das Wort Goslar-Partei entgegengeworfen hat. Aber ich glaube, es war jemand, dessen Chefin einmal in einer US-Zeitung festgestellt hat: Ja, wir wollen in den Irak einmarschieren. ({6}) - Da waren Sie noch nicht Chefin? Aber gefühlt schon! Frau Merkel, Sie haben damals, als es darum ging, nicht in den Irak einzumarschieren, in einer US-Zeitung festgestellt: Nicht ganz Deutschland denkt so. Später wurde uns allen bewiesen, dass die von George Bush und Tony Blair angeführten Gründe nicht zutreffend waren. ({7}) Wir sollten uns alle miteinander in Demut üben. Wir sollten auf der Hut sein und um unsere Verantwortung wissen. Ich muss aber eines anfügen. Die ganze Zeit wird über Enthaltung bzw. Nichtenthaltung diskutiert. Ich weiß, dass sich daran manches festmacht. Aber nach vorne blickend sage ich: Es reicht nicht, auf die Risiken hinzuweisen, Herr Außenminister. Die Frage ist jetzt: Wie verhindern wir, dass von deutscher Seite der Anschein erweckt wird, es gehe uns nicht hinreichend um die Menschenrechte der Menschen dort. ({8}) Mit welchem Auftrag und mit welcher Maßnahme wollen Sie vorgehen? Wo sind Ihre Anträge? Warten Sie nicht ab! Verhindern Sie nicht die Planung! Wir wollen, dass Deutschland jetzt eine aktive Rolle beim Waffenembargo, beim Schutz der Flüchtlinge in der Region - mit der Erklärung, Flüchtlinge bei uns aufzunehmen und bei der Unterbindung der Finanzströme und des Ölgeschäfts einnimmt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt wollen wir den Bundesaußenminister für die Menschenrechte kämpfen sehen. Bisher haben Sie eine zu große Passivität gezeigt, Herr Westerwelle. Wir wollen, dass Deutschland steht. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Stefan Liebich. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Künast, Sie haben keine Frage zugelassen. Deswegen nutze ich dieses Instrument. Sie haben Bezug auf das Konzept „Responsibility to Protect“ genommen. Egal wie man dazu steht - es ist völkerrechtlich durchaus umstritten und hebelt die UNCharta nicht aus -: Wenn Sie Bezug auf den Beschluss nehmen, der jetzt im UN-Sicherheitsrat gefasst wurde, und sagen, das sei durch die Responsibility to Protect begründet, sage ich Ihnen drei Dinge: Erstens beinhaltet sie, dass man zunächst präventiv wirkt, damit solche schlimmen Entwicklungen wie in Libyen nicht eintreten. Die Weltgemeinschaft hat das Gegenteil getan, indem sie Waffen geliefert und mit Gaddafi bei der Flüchtlingsabwehr zusammengearbeitet hat. Zum Zweiten. Die Responsibility to Protect beinhaltet auch, dass man zunächst nichtmilitärische Maßnahmen ergreift. Dazu sage ich, dass die Weltgemeinschaft nach wie vor nicht in ausreichendem Umfang nichtmilitärische Maßnahmen ergriffen hat, weil weiterhin Geld für Öl fließt. Drittens. Ehe man nach der Responsibility to Protect zu Waffengewalt greift, müssen zwei weitere Bedingungen erfüllt sein, nämlich Völkermord und ethnische Vertreibung; nicht aber: Menschenrechtsverletzungen. ({0}) Wenn Sie tatsächlich Menschenrechtsverletzungen als hinreichenden Grund für einen Militäreinsatz benennen, werden Sie viele Kriege führen wollen. Ich hoffe: Das will auch Bündnis 90/Die Grünen nicht. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Künast, Sie haben das Wort.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weise auf die letzten Sätze meines Redebeitrags hin, in denen ich gesagt habe, was alles im zivilen Bereich noch zu tun ist, Herr Liebich. Es gibt noch viel zu tun. Dieses „noch viel zu tun“ heißt aber nicht, dass damit alles andere ausgeschlossen werden muss. Ich verweise darauf, dass die Responsibility to Protect auch drohende Verbrechen im Blick hat. Das ist Verantwortung für die, die sich aktiv für Menschenrechte einsetzen wollen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Götzer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0}) - Entschuldigen Sie bitte, ich hatte gerade noch Frau Künast im Blick. Natürlich spricht der Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die Unionsfraktion. Da ist gar kein Missverständnis möglich. ({1})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auf diese Idee würde ich auch niemals kommen. ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass wir heute erneut, und zwar zum zweiten Mal in dieser Woche, über die Situation in Libyen reden, zeigt die Dramatik, mit der sich die Lage in Nordafrika, speziell in Libyen, verändert. Ich möchte Folgendes noch einmal ansprechen, weil heute durchaus unterschiedliche Positionen anklingen: Einig sind wir uns alle darin, glaube ich: Gaddafi muss weg - so schnell wie möglich und mit so wenig Leiden der Zivilbevölkerung und aller Unschuldigen wie möglich. Wir müssen alles, was möglich und vertretbar ist, tun und dazu beitragen, dass es zu menschenwürdigen, demokratischen und freiheitlichen Verhältnissen in Libyen kommt. ({1}) Es hat bereits zahlreiche Sanktionen gegeben. So hat der UN-Sicherheitsrat am 26. Februar dieses Jahres Sanktionen gegen die libysche Führung verhängt. Der Internationale Strafgerichtshof wurde mit Ermittlungen beauftragt. Auch Deutschland war als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats maßgeblich an dieser Entscheidung beteiligt. Die EU und die USA haben ebenfalls Sanktionsbeschlüsse gefasst. Hervorzuheben ist meiner Meinung nach ferner, dass auch die Arabische Liga Libyen bis auf Weiteres von der Teilnahme ausgeschlossen hat. Des Weiteren hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen Libyens Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat der UN suspendiert. Das Vorgehen der libyschen Regierung wurde auch auf dem EU-Sondergipfel vom 11. März erneut aufs Schärfste verurteilt, und weitere finanzielle Sanktionen wurden verhängt. - So viel zu den bisherigen Sanktionen. Es wird neue und schärfere Sanktionen geben. Das ist Bestandteil der heute Nacht gefassten Resolution des UN-Sicherheitsrates. Das ist gut so. Deutschland begrüßt diesen Teil der Resolution ausdrücklich. ({2}) Diese Resolution beinhaltet in einem zweiten Teil aber auch die Option einer militärischen Intervention, und zwar nicht nur die Errichtung einer Flugverbotszone - darüber haben wir bereits am Mittwoch in diesem Hause debattiert -; sie geht darüber hinaus. Sie lässt weitere militärische Einsätze zu, in allererster Linie zum Schutz der Zivilbevölkerung; das muss man hervorheben. Wir haben, wie gesagt, am Mittwoch über die Flugverbotszone diskutiert und bereits in dieser Debatte die Risiken aus unserer Sicht angesprochen, die uns dazu führen, dass wir gegen eine solche Flugverbotszone sind. Nun wurde mit der UN-Resolution eine noch weiter gehende Option beschlossen. Das heißt für uns: Wenn wir schon gegen die Einrichtung einer Flugverbotszone waren, so können wir uns auch nicht an Maßnahmen beteiligen, die darüber hinausgehen. Das ist logisch. Wir glauben, dass die Konsequenzen nicht absehbar sind. Wenn man eine Flugverbotszone errichten will, muss man in erster Linie die Luftstreitkräfte ausschalten. Aber es wird nach aller Erfahrung nicht vermeidbar sein, dass dann auch Bodeneinsätze erfolgen müssen. Ich habe am Mittwoch auf das Risiko hingewiesen, dass die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Davon müssen wir einfach ausgehen. Das wollen wir vermeiden. Was ist, wenn die Flugverbotszone nicht erfolgreich ist? Gibt es dann den Einsatz von Bodentruppen? Gilt der Spruch: „Wer A sagt, muss auch B sagen“, möglicherweise auch C, was immer darunter zu verstehen ist? Wir glauben, dass mit diesem UN-Mandat der Einsatz bisher nicht zu Ende gedacht worden ist. Gleichwohl haben wir Respekt vor der Entscheidung derjenigen Länder, die für die Resolution gestimmt haben. Es gibt durchaus interessante Reaktionen aus Libyen, sowohl solche der Aufständischen als auch solche des herrschenden Regimes. Plötzlich ist von einer Waffenruhe bzw. von einem Waffenstillstand die Rede. Leider sind den Worten bisher noch keine Taten gefolgt. Ich betone noch einmal: Aus heutiger Sicht haben wir Zweifel daran, dass die Risiken und Konsequenzen, die sich aus diesem UN-Mandat ergeben, abschätzbar sind. Kann das Ziel der Aufständischen, das wir alle, so glaube ich, im Auge haben, nämlich Gaddafi zu stürzen und zu helfen, eine demokratische Regierung zu installieren, damit erreicht werden? Ist eine Ausweitung der militärischen Intervention vermeidbar oder nicht? Hier gilt der Grundsatz: Respice finem. Wir müssen das Ende bedenken und alles tun, um zu vermeiden, dass Deutschland in einen lang andauernden Krieg hineingezogen wird. Allerdings sage ich auch, dass sich die Lage ständig ändert. Das ist uns allen bewusst, wenn wir jeden Tag die Nachrichten verfolgen. Die Lage ändert sich sogar stündlich. Deswegen sage ich genauso deutlich: Eine endgültige Antwort auf die Frage, welche Maßnahmen die richtigen und notwendigen sind, kann heute nicht gegeben werden. Verehrter Kollege Mützenich, ich muss jetzt schon ein Wort zu Ihrem Beitrag sagen. Ich schätze Sie als einen sehr sachlichen Kollegen, aber Ihr heutiger Ton war diesem Thema nicht angemessen. ({3}) - Das ist kein einfaches Thema. Aber gerade wenn es um Krieg und Frieden geht, sollte man auf Polemik verzichten. - Ich habe ein bisschen das Gefühl, als hätten Sie sich in die Polemik geflüchtet, weil sich die SPD selber bisher noch keine einheitliche Meinung gebildet hat. ({4}) - Wir haben im Gegensatz zu Ihnen heute zum Beispiel eine Sondersitzung unserer Fraktion gehabt, in der wir sehr intensiv diskutiert haben. Ich weiß nicht, ob Sie eine entsprechende Sitzung gehabt haben. Wenn nicht, dann wäre es besser gewesen, Sie hätten eine anberaumt. Sie sollten möglichst bald diese Sitzung nachholen, vielleicht im Anschluss an die Debatte. ({5}) Ich komme zum Schluss: In der kommenden Woche wird möglicherweise die Frage gestellt, ob AWACSFlugzeuge mit teilweise deutscher Besatzung zur Befriedung Libyens beitragen können. Gleichzeitig - das wissen wir - sind AWACS-Flugzeuge ohne deutsche Beteiligung in Afghanistan im Einsatz. Wir müssen uns, wenn diese Frage gestellt wird - ich gehe davon aus, dass sie sehr bald gestellt werden wird -, mit unseren NATOPartnern abstimmen und darüber entscheiden, in welcher Weise wir als Deutsche unseren Beitrag im Rahmen des AWACS-Einsatzes leisten werden. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Michalk, Ingrid Fischbach, Karl Schiewerling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor, Heinz Lanfermann, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - Nationaler Aktionsplan als Leitlinie - Drucksache 17/4862 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Petra Pau b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kostenvorbehalt in § 13 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch streichen - Selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen gewährleisten - Drucksache 17/4911 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020: Erneuertes Engagement für ein barrierefreies Europa Ratsdok. 16489/10 und KOM({2}) 636 endg. hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010 bis 2020 unterstützen - Drucksache 17/5043 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache nicht teilhaben können, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaales fortzusetzen. - Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer, die notwendige Verständigung möglichst nicht laut im Saale durchzuführen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fuchtel.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht bei diesem Tagesordnungspunkt um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Ich darf Ihnen sagen: Die Vorarbeiten zum Nationalen Aktionsplan stoßen auf ein ganz außergewöhnliches Interesse. Dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken. Nicht nur bei den Verbänden ist großes Interesse vorhanden, sondern vor allem bei den Behinderten selbst. Dies verdient riesige Anerkennung und Respekt. Ich freue mich, dass eine so große Resonanz erfolgt ist. Unser Haus setzt konzeptionell auf diese Art der Beteiligung. Unisono wird bestätigt: Es ist der richtige Weg. Eine überwältigende Anzahl an guten Ideen und Anregungen ist die Folge. Selbstverständlich müssen diese Ideen und Anregungen auf ihre Machbarkeit hin überprüft werden. Nur wenn wir dies tun, setzen wir die notwendigen Zeichen der Ermutigung. Es bedarf hierbei einer etwas längeren Bearbeitung als ursprünglich geplant. Wir haben den Verbänden und allen Beteiligten nochmals die Möglichkeit gegeben, dies zu reflektieren. Wir haben den Termin, zu dem der Nationale Aktionsplan im Bundeskabinett behandelt werden soll, flexibel gestaltet. Aller Voraussicht nach wird dies im Juni 2011 der Fall sein. Das zweite Aktionsfeld ist der Dialog mit der gesamten Zivilgesellschaft. Ziel ist hierbei der Aufbau von wesentlich mehr Bewusstsein. Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass sich diese Gesellschaft auf den Weg der Inklusion begibt. Dieser Weg ist, wie wir in der Praxis sehen, noch ganz schön lang. Das Dritte, was ich zu diesem Zeitpunkt sagen möchte, ist, dass diese Aufgabe an das anschließt, was wir in der Vergangenheit in diesem Haus in der Regel interfraktionell vorangebracht haben. Ich erinnere zunächst an die Erweiterung von Art. 3 Grundgesetz. In Abs. 3 wurde der Satz hinzugefügt: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Ich erinnere an die Einführung eines eigenständigen Buches im Sozialgesetzbuch - SGB IX -, und ich erinnere schließlich an das Bundesgleichstellungsgesetz. Dem folgt nun der Nationale Aktionsplan. Dies ist konsequent, und dafür ist es an der Zeit. Erfolgreiche inklusive Arbeit auf diesem Gebiet, der gesellschaftlichen Teilhabe der Menschen, ist finanziell nicht messbar. Zahlen sagen ganz gewiss auch nicht alles. Einige finanzielle Daten zeigen aber, dass die Bundesrepublik Deutschland hier nicht bei null anfängt: Mehr als 47 Milliarden Euro wurden 2009 in Deutschland allein für die Leistungen zur Pflege, für Eingliederungshilfe und für Rehabilitationszwecke ausgegeben. Das sind ganz sicher stattliche Summen. Auch im internationalen Vergleich ist hier eine Spitzenposition festzustellen. Wir haben also keinen Grund, uns zu verstecken. Allerdings gibt es auch keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstzufriedenheit; denn noch immer wis11154 sen wir bei weitem nicht genug über die Situation der Menschen mit Behinderungen in unserem Land. Deswegen ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir in der Zwischenzeit haben, dass die Datenlage sehr lückenhaft und auf jeden Fall nicht ausreichend ist, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Deswegen wird eine der wesentlichen Maßnahmen des Nationalen Aktionsplans sein, die Behindertenberichterstattung der Bundesregierung völlig neu aufzustellen. Der neue Bericht soll Kompass sein für die künftige Behindertenpolitik der Bundesregierung. Bei der Bearbeitung dieses Themas haben wir auch schon sehr viele positive Aspekte gesehen. Einer der positivsten Aspekte ist für mich, dass es den Werkstätten für Behinderte in der Zwischenzeit gelungen ist, durch Zertifizierung Arbeit, die ansonsten ins Ausland abgewandert wäre, in Deutschland zu halten. Meine Damen und Herren, das ist ein großes Zeichen für das, was alles möglich ist. Das ermutigt auch, dass wir weiter gemeinsam den Weg zur Inklusion gehen. Ich möchte Sie herzlich dazu einladen. Ich empfehle sehr, dass wir diesen Weg auch im Geiste der Solidarität und der Nächstenliebe miteinander gehen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Hiller-Ohm für die SPDFraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit März 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen in Deutschland in Kraft. Im Mai 2011 will die Bundesregierung nun endlich ihren Aktionsplan für die Umsetzung der Konvention in Deutschland vorlegen. Die offizielle Frist zur Abgabe des Aktionsplans ist damit bereits um zwei Monate überschritten. Das ist kein gutes Aushängeschild für unser Land. Diese Verzögerung ist auch fachlich nicht nachvollziehbar. Wir haben mit dem von Rot-Grün durchgesetzten Sozialgesetzbuch IX bereits eine sehr gute Grundlage für die Umsetzung der Konvention geschaffen. Schade: Im letzten Herbst hat die Regierung überhaupt erst mit der Arbeit begonnen. Dann war es wohl zu spät, den Bundestag angemessen einzubinden. Das ist eine beschämende Vorgehensweise und eine Missachtung des Parlaments. Das Verhalten der Regierung erinnert stark an das Taktieren bei der Neuausrichtung von Hartz IV. Auch da geschah erst einmal lange nichts, und dann wurde ein so wichtiges Gesetz im Schweinsgalopp durch das parlamentarische Verfahren gejagt. Was noch schlimmer ist: Ausgerechnet Menschen mit Behinderung hatten bei dieser Reform das Nachsehen. Mit der Absenkung der Grundsicherung für Menschen mit Behinderungen, die in Wohngemeinschaften oder bei ihren Eltern leben - hierbei geht es um die sogenannte Regelbedarfsstufe 3 -, haben sie jetzt rund 70 Euro weniger im Monat. Meine Damen und Herren, hier muss schnell eine Lösung gefunden werden, damit diese Menschen wieder den vollen Regelsatz erhalten. ({0}) Ich hoffe, dass sich der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Herr Hüppe, in dieser Frage gegenüber seinen schwarz-gelben Kollegen durchsetzen wird. Zurück zum Aktionsplan. Die Bundesregierung ist zu langsam. Das SPD-regierte Rheinland-Pfalz zeigt, wie es schneller geht. Es hat seinen Aktionsplan schon vor einem Jahr vorgelegt, nicht hastig, sondern allseits gelobt. Die Betroffenen sind also zu Recht ungeduldig. Sie wollen, dass ihre Rechte umgesetzt werden. Deshalb fordern wir von der Bundesregierung: Drücken Sie endlich auf die Tube! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Ihr Antrag ist wortreich, aber wenig konkret. Eine Stichwortsammlung wird nicht reichen, um die UN-Konvention umzusetzen, vor allem dann nicht, wenn auch noch der Kostenvorbehalt vorgeschoben wird. Da haben die Kolleginnen und Kollegen der Linken doch recht. Die UN-Konvention ist gerade dazu da, dass Menschen nicht mehr gezwungen werden können, in Heimen zu leben, nur weil andere Wohnformen vielleicht teurer sind. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns eindeutig völkerrechtlich verpflichtet. ({3}) Es ist zu prüfen, ob sich aus der Konvention nicht sogar ein individueller Rechtsanspruch für die betroffenen Menschen ergibt. Das würde die Position der Menschen mit Behinderung enorm stärken und uns zum schnellen Handeln zwingen. ({4}) Wir wollen, dass jeder einzelne Artikel der Konvention auf seinen subjektiven Gehalt geprüft wird. Art. 19 der Konvention enthält eine solche Komponente. Packen wir es an! Mit der Konvention wird das Verhältnis von Staat und Menschen mit Behinderungen endlich vom Kopf auf die Füße gestellt. Es geht nicht mehr um freundliche Zugeständnisse und Almosen. Ab jetzt haben Menschen mit Behinderungen klare Ansprüche gegenüber Staat und Gesellschaft, auch wenn diese Ansprüche etwas kosten. ({5}) Wir müssen alle Politikfelder auf den Prüfstand stellen, um Teilhabe für alle zu erreichen. Wie schaffen wir es, Menschen mit Behinderungen tatsächlich am ersten Arbeitsmarkt teilhaben zu lassen? Wie sieht ein gutes inklusives Bildungssystem aus? Wie stellen wir sicher, dass alle Bürgerinnen und Bürger unsere Bahn barrierefrei benutzen können? Wie müssen wir unsere Infrastruktur verändern, damit sich auch Sehbehinderte im öffentlichen Raum zurechtfinden? Und warum fördern wir immer noch Filme, die für gehörlose Menschen unbrauchbar sind? Diesem Umbau der Gesellschaft müssen wir uns stellen, und das natürlich gemeinsam mit den Betroffenen. ({6}) Deshalb ist deren Beteiligung bei der Ausarbeitung des Aktionsplans von Anfang an so wichtig. ({7}) Der Leitsatz der Verbände „Nichts über uns ohne uns“ muss auch hier gelten, und zwar nicht nur auf dem Papier. ({8}) Wir finden es unerträglich, wenn Sie in Ihrem Antrag von einer Beteiligung der Verbände am Aktionsplan sprechen, dann aber deren wichtigste Forderung schlichtweg ignorieren, nämlich ein Gesetz für Assistenz und Teilhabe. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, wenn wir es mit dem Grundsatz eines selbstbestimmten Lebens ernst meinen, dann müssen wir uns gemeinsam mit den Betroffenen noch viel stärker für das Persönliche Budget einsetzen. Sie sprechen dieses Thema in Ihrem Antrag an. Wenn Sie schreiben, das Persönliche Budget werde nicht ausreichend genutzt, dann frage ich Sie: Wen meinen Sie eigentlich? Meinen Sie die Betroffenen, die in Heimen leben und in Werkstätten arbeiten, aber keinen barrierefreien Zugang zu unabhängiger und kompetenter Beratung im Hinblick auf das Persönliche Budget haben? Oder meinen Sie diejenigen, denen auf den Ämtern jeglicher Mut und Nerv geraubt wird, damit sie nicht alle notwendigen Leistungen einfordern, die ein selbstbestimmtes Leben mit eigenem Budget ermöglichen? Oder sind die Träger gemeint, die ihre Leistungen in Konkurrenz zueinander erbringen und vielleicht gar kein Interesse am Persönlichen Budget haben? Auch hier bleibt Ihr Antrag oberflächlich. ({9}) Mit der von Ihnen geforderten Abstimmung von Schnittstellen wird man das Problem nicht lösen. ({10}) Bei aller Kritik: Gut ist, dass wir alle dazulernen. Die Koalition lobt in ihrem Antrag das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Das hat mich zum Staunen gebracht. Vor dessen Einführung hatte Schwarz-Gelb den Untergang des Abendlandes beschworen. ({11}) In Ihren Horrorgemälden war ganz Deutschland wegen des AGG ständig vor Gericht. Nichts davon ist eingetreten, und Sie haben dazugelernt. Herzlichen Glückwunsch! ({12}) Erstaunt hat mich auch, dass Sie die arbeitsmarktpolitischen Instrumente für Menschen mit Behinderungen verbessern wollen. Das ist ein „Meisterwerk an Konsequenz“. Erst kritisieren Sie von Schwarz-Gelb die aktive Arbeitsmarktpolitik per se. Dann kürzen Sie bei der Bundesagentur für Arbeit, bis nichts mehr geht: bis 2015 über 22 Milliarden Euro, 10 Milliarden Euro davon allein bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den nächsten drei Jahren. Jetzt fordern Sie mehr Arbeitsmarktinstrumente für Menschen mit Behinderungen. Verlogener geht es ja wohl nicht! ({13}) Die Wahrheit ist: Menschen mit Behinderungen haben vom Aufschwung am Arbeitsmarkt bisher überhaupt nicht profitiert. Die Bundesagentur hätte die Chance gehabt, sich stärker auf diese Gruppe zu konzentrieren. ({14}) Mit Ihren Kürzungen ist diese Chance vertan. Sie lassen Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt im Stich. ({15}) Deshalb empfinde ich Ihre Sonntagsforderung in Ihrem Antrag als absurd und zynisch. Wir werden uns den Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen sehr genau anschauen, ({16}) wenn er dann endlich vorliegt. Wir werden uns auch mit eigenen konkreten Vorstellungen in die Diskussion einbringen, ({17}) mit Vorstellungen, die wir im Gegensatz zu Ihnen gemeinsam mit den Betroffenen entwickelt und abgestimmt haben. ({18}) Was uns die Koalition heute hier vorgelegt hat, reicht bei weitem nicht aus. Das ist schade für die betroffenen Menschen. Ich möchte an dieser Stelle meiner Kollegin Silvia Schmidt, unserer behindertenpolitischen Sprecherin, gute Besserung wünschen. Sie hätte sehr gerne heute an dieser Debatte teilgenommen. Leider ist sie erkrankt und kann deshalb nicht hier sein. Gute Besserung, Silvia! ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Molitor das Wort. ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Hiller-Ohm, ich schätze Sie persönlich sehr. Doch ich muss mich über Ihre Ausführungen sehr wundern. Sie haben nämlich die Regelbedarfsstufe 3 im Zusammenhang mit den Hartz-IV-Debatten angesprochen. Wie mir meine Kollegen mitgeteilt haben, ist das, was Sie vorgebracht haben, nicht Ihr Kernanliegen gewesen. ({0}) Lediglich in der Schlussrunde ist die Überprüfung in einem Zusatzprotokoll vereinbart worden. ({1}) Sich dann an dieser Stelle zum Anwalt der betroffenen Menschen zu machen, finde ich schon mehr als verwunderlich. ({2}) In Deutschland leben 8,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Das sind 8,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die in die Mitte unserer Gesellschaft gehören. Sie gehören nicht an den Rand, und sie brauchen keine Sonderwelten in Bildung, Arbeit oder Wohnen. Genau das ist der Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention, die dafür den Begriff „Inklusion“ verwendet. „Inklusion“ bedeutet, dass die Gesellschaft Rahmenbedingungen vorzugeben hat, die notwendig sind, damit Menschen mit Behinderung ihr Recht auf Teilhabe verwirklichen können. Mit dem heute vorliegenden Antrag der Regierungskoalition unterstützen wir die Forderung nach Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe. Behindertenpolitik hat für die Regierungskoalition einen hohen Stellenwert. Sie ist im Koalitionsvertrag verankert worden. Dort ist der Nationale Aktionsplan fixiert worden, der zurzeit im Bundesarbeitsministerium erarbeitet wird. Die Tatsache, dass es eine Verzögerung gibt, ist für mich eher ein Beleg dafür, dass es hier mehr auf Qualität denn auf Schnelligkeit ankommt. Es sind viele Verbände beteiligt worden, um dem Grundsatz der Beteiligung gerecht zu werden. ({3}) In unserem Antrag haben wir Schwerpunkte gesetzt: Teilhabeleistungen, Gesundheit, Bildung, Arbeit und Barrierefreiheit sind unter anderem die Themen, die uns wichtig sind. Mir persönlich liegen die Themen „inklusive Bildung“ und „Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung“ besonders am Herzen; denn beides ist grundlegend für eine eigenständige Lebensführung. Ich bin sehr dafür, dass möglichst viele Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern die Regelschule besuchen. Aber auch hier muss das Kindeswohl im Vordergrund stehen. ({4}) Förderschulen haben somit durchaus ihre Berechtigung. Unsere Aufmerksamkeit sollten wir auch auf den Übergang von der Schule zum Berufsleben richten, denn auf ihn kommt es ganz besonders an, wenn es darum geht, Teilhabe am Arbeitsleben zu gewährleisten. Der Fachkräftemangel zum Beispiel bietet Menschen mit Behinderung eine gute Chance, ihr Potenzial mit einzubringen. Ich denke, dass hier noch jede Menge Luft nach oben ist. Lassen Sie mich auch ein Wort zur Entstehungsgeschichte des Antrages sagen. Gemeinsam mit meiner Kollegin Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion und vielen Fachkollegen haben wir diesen Antrag erarbeitet: Aus unserer Sicht ist Behindertenpolitik nämlich eine Querschnittsaufgabe, die viele andere Ressorts angeht. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. ({5}) Der Antrag ist straff formuliert und konzentriert sich auf die Stellen, an denen sich Stellschrauben befinden, mit deren Hilfe wir wirklich etwas umsetzen können. Zugleich sind alle Forderungen finanzierbar und realisierbar. Empfehlungen an die Bundesländer sind nicht als Diktat zu verstehen; vielmehr wollen wir die Bundesländer und natürlich auch die Kommunen mit ins Boot holen, um die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen zu verbessern. ({6}) In diesen Antrag sind unzählige Anregungen aus Gesprächen mit Menschen mit Behinderungen eingeflossen; das war ein wichtiges Anliegen von uns allen. Es ging darum, deren Belange nach dem Grundsatz „Nicht über uns, sondern mit uns“ in das Papier einfließen zu lassen. Alles in allem ist Deutschland auf einem guten und richtigen Weg. Die Politik hat den Anstoß gegeben. Eine gesellschaftliche Diskussion muss folgen, denn nur dann können wir all das, was wir hier fordern, mit Leben füllen und wirkliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen verwirklichen. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dr. Bunge das Wort. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor uns liegen drei Anträge rund um die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie haben sicher Ilja Seifert als Redner der Linksfraktion in der Debatte erwartet. Ich übernehme heute seinen Part, weil mein Kollege Dr. Ilja Seifert, zugleich Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland, derzeit in Thüringen seinem tödlich verunglückten Stellvertreter, Dr. Karl Schran, die letzte Ehre erweist. Der Allgemeine Behindertenverband trägt den Zusatz „Für Selbstbestimmung und Würde“ in seinem Namen; das ist eigentlich das Credo, das auch die UN-Behindertenrechtskonvention durchzieht. Fast auf den Tag genau seit zwei Jahren ist die UNBehindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland. Der anlässlich der Ratifizierung eingebrachte Antrag der Linksfraktion, einen Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention aufzustellen - daran möchte ich erinnern -, wurde von der schwarz-roten Mehrheit abgelehnt. Die FDP hat damals gar die Ratifizierung der Konvention abgelehnt. Wie fatal diese Entscheidungen waren, zeigt sich heute: Für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde auf Bundesebene bisher nichts Konkretes getan, makabererweise mit dem Verweis, dass zunächst ein Aktionsplan erstellt werden müsse. Das entsprechende Ziel steht seit November 2009 in der Koalitionsvereinbarung; aber seither wird seitens der Bundesregierung und des Behindertenbeauftragten nur diskutiert. Ihrer Logik folgend, wurde dafür aber kein Geld in den Bundeshaushalt eingestellt, weder kurz- noch mittelfristig. Heute liegt uns ein Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem vielversprechenden Titel „Für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - Nationaler Aktionsplan als Leitlinie“ vor. Darin heißt es: Der Deutsche Bundestag fordert die Bunderegierung auf, im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel … dieses und jenes zu tun. Können Sie uns einmal verraten, wie Sie die dort benannten 24 Aktionsfelder mit Leben füllen wollen? Wie soll beispielsweise „eine umfassende Barrierefreiheit“ erreicht werden? Vieles wird zu solchen Beteuerungen verkommen wie die, dass „die Bedeutung des Behindertensports zu stärken“ sei. Insbesondere die, die durch Unfall und Krankheit mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen leben müssen, wissen, dass gerade der Sport eine völlig neue Lebensorientierung geben kann. Paralympics und Special Games dokumentieren dies. Für den Behindertensport endlich stabile Finanzgrundlagen zu schaffen, lohnte sich. ({0}) Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor: Wenn Sie ihn annehmen würden, könnten Sie Nägel mit Köpfen machen. ({1}) Darin fordern wir Sie auf, den Kostenvorbehalt in § 13 des SGB XII zu streichen. Wie lange noch sollen Menschen mit Behinderungen aus Kostengründen gezwungen werden, in Heimen zu leben, obwohl sie in eigener Wohnung oder anderen Wohnformen leben könnten, wenn sie geeignete Assistenz - manche brauchen sogar gar keine - hätten? Der Antrag verweist auf zig Beispiele, wo anders gehandelt wird - unvereinbar mit Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention. Das wollen wir nicht länger hinnehmen. ({2}) In ihrem zweiten Antrag fordert Die Linke schon im Titel: „Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung 2010 bis 2020 unterstützen“! Diese Strategie benennt ergänzende Maßnahmen auf EUEbene. Es ist schon makaber, dass die Regierenden in Deutschland gedrängt werden müssen, diese Europäische Strategie zu unterstützen. Der Korrektheit halber - um nicht des Plagiats bezichtigt zu werden - möchte ich anmerken, dass wir bei diesem Antrag umfassend auf eine Bundesratsinitiative des Landes Rheinland-Pfalz zurückgegriffen haben. Sich auf europäischer Ebene einzubringen, bedeutet auch, die bisherige Blockadehaltung gegenüber der 5. EU-Antidiskriminierungsrichtlinie aufzugeben und konstruktiv an ihr mitzuwirken. Dazu fordern wir Sie auf. ({3}) Unsere Anträge zeigen: Diese Regierung muss in Sachen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention faktisch zum Jagen getragen werden oder - deutlicher zum Handeln gezwungen werden. Insofern ist Ihr heutiger Antrag, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, scheinheilig. Werden Sie endlich konkret. Eine wirkliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen braucht ein inklusives Deutschland. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung ist - man kann es gar nicht deutlich und oft genug betonen ein wegweisendes Menschenrechtsdokument, das Menschenrechte erstmals nicht nur als Abwehrrechte gegen den Staat formuliert, sondern als Anspruchsrechte auf Befähigung und Teilhabe. ({0}) Diese Befähigung - das muss man sehr deutlich machen ist Voraussetzung für Freiheit und auch für das aktive Wahrnehmen von klassischen Menschenrechten. Die UN-Menschenrechtskonvention ist auch deshalb ein so bedeutendes Dokument, das erste große Menschenrechtsdokument des 21. Jahrhunderts, weil sie sich - wenn man sie genau liest, stellt man das fest - auch mit dem Freiheitsbegriff auseinandersetzt. Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit von Regeln, wie es sogenannte Ultraliberale sehen, Freiheit beschränkt sich nicht nur auf die Abwehr von Übergriffen, sondern Freiheit setzt auch voraus, dass die Personen die Möglichkeit haben, ihre individuellen Teilhabewünsche zu entfalten, zu artikulieren und wirklich in die Tat umzusetzen. ({1}) Um das einmal am Beispiel des Rechts auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnortes konkret zu machen: Die Wahrnehmung dieses Rechts ist für Menschen mit körperlichen, aber teilweise auch geistigen Einschränkungen nur möglich, wenn es befähigende Voraussetzungen gibt, zum Beispiel Assistenz in der Wohnung oder Barrierefreiheit oder einen sogenannten inklusiven Sozialraum, das heißt eine Wohnumgebung, die das selbstständige Sich-Versorgen und die selbstständige Entfaltung im Wohnumfeld ermöglicht. Die Schaffung solcher Voraussetzungen wie Assistenz und Barrierefreiheit kostet natürlich Geld. Damit kommen wir zum Punkt: Diese gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn man sich mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auseinandersetzt, muss man auch das Thema Haushalts- und Kostenvorbehalte offensiv ansprechen. Ich finde, meine Damen und Herren von der Koalition, Ihr Antrag ist diesbezüglich mehr als kleinmütig; ich kann das nicht anders sagen. Sie versuchen zwar, in die richtige Richtung zu gehen, Ihr Antrag ist aber trotzdem kleinmütig. ({2}) Bevor Sie Ihre Forderungen an die Bundesregierung aufzählen, machen Sie als Erstes die Einschränkung: „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“. Ich bin der Letzte, der nicht anerkennt, dass die materiellen Ressourcen des Staates und der öffentlichen Hand nicht unendlich sind. Menschenrechte dürfen aber nicht unter einen Kostenvorbehalt gestellt werden. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich dazu ganz klar bekennen, bevor Sie auf die materiellen Ressourcen eingehen. ({3}) Wenn bei anderen Grundrechten ein Haushaltsvorbehalt gemacht würde, würde man das als geradezu absurd ansehen. Nehmen wir einmal das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit: Wenn von uns nicht gern gesehene Gruppierungen der extremen Rechten das Recht auf Versammlungsfreiheit für sich in Anspruch nehmen, leisten wir uns millionenschwere Polizeieinsätze. Nehmen wir den Bereich der Justiz: Es gibt keine Hausdurchsuchung ohne einen richterlichen Beschluss. Niemand käme auf den Gedanken, an dieser Stelle einen Kostenvorbehalt geltend zu machen oder nach einer Möglichkeit zu suchen, Hausdurchsuchungen kostengünstiger durchzuführen. Nehmen wir abschließend die politische Willensbildung: Wir akzeptieren die staatliche Parteienfinanzierung und verteidigen sie, indem wir sagen, dass Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken. Wir geben Geld direkt an die Parteien, aber auch an die Bundeszentrale für politische Bildung, um diese verfassungsmäßigen Rechte mit Leben zu erfüllen und entsprechende Befähigung zu ermöglichen. Wenn aber ein gehörloser Mensch an einer Parteiversammlung teilnehmen möchte - das ist bei einem unserer Kreisverbände passiert -, dann wird die Wahrnehmung des Grundrechts auf Teilhabe an der politischen Willensbildung plötzlich vom Kostenvorbehalt des Sozialhilfeträgers abhängig, der entscheiden kann, ob er den Gebärdensprachdolmetscher finanziert oder nicht. Dies ist der Kernpunkt: Nachteilsausgleiche, die sich ausschließlich auf die Behinderung beziehen, müssen aus dem Fürsorgerecht entfernt werden und als Teilhabeansprüche eigenständig, am besten im Sozialgesetzbuch IX, verankert werden. ({4}) Im Bereich Wohnen wäre die Streichung des sogenannten Mehrkostenvorbehalts ein erster Schritt. Dann könnte man nicht mehr auf das Wohnen in einem Wohnheim verwiesen werden, nur weil der Sozialhilfeträger meint, dass das angemessen sei und es einer eigenen Wohnung nicht bedürfe. Dies fordern wir schon seit Jahren. Das wird jetzt in einem der Anträge der Linken wieder aufgegriffen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform der Eingliederungshilfe war diesbezüglich übrigens schon einmal weiter, Frau Michalk. Sie hat den Mehrkostenvorbehalt vor zwei Jahren von sich aus infrage gestellt. Dass Sie von den Koalitionsfraktionen solche Initiativen der Länder in Ihrem Antrag nicht wenigstens aufgegriffen haben und nicht einmal kleine Ansatzpunkte formuliert haben, finde ich enttäuschend, auch wenn ich sehe, dass Sie sich bemühen, in die richtige Richtung zu gehen. Wir werden in den weiteren parlamentarischen Beratungen alles daransetzen, dass eine entsprechende Umsetzung mit mehr Tempo erfolgt. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Michalk das Wort. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Antrag bekräftigen wir öffentlich unsere große, umfassende Unterstützung bei der Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Es ist schon gesagt worden, dass das Vertragswerk seit dem 26. März 2009 gilt. Liebe Kollegin Hiller-Ohm, zu dieser Zeit stellte Ihre Fraktion die Behindertenbeauftragte. Die Frage ist, warum man damals nicht sofort angefangen hat, zu arbeiten. ({0}) Wir können Folgendes feststellen: Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben, dass ein Nationaler Aktionsplan erarbeitet und umfassende Schritte unternommen werden sollen. Der gegenwärtige Zustand, der nicht schlecht ist - darauf komme ich gleich noch einmal zu sprechen -, sollte noch einmal verbessert werden. An einigen Stellen sollten notwendige und wichtige Ergänzungen bzw. Veränderungen vorgenommen werden. Die Regierung hat dann sofort mit der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans begonnen. ({1}) Wir müssen an dieser Stelle noch einmal sagen, dass diese Konvention - das ist für uns ganz wichtig - den Wechsel vom staatlichen Fürsorgeprinzip hin zum Recht auf eine umfassende Teilhabe festschreibt. Das ist ein hohes Gut und hat eine andere Qualität. Nicht immer ist das nur mit mehr Geld verbunden, sondern es geht auch darum, dass wir uns Liebgewonnenes sehr genau anschauen, manches verändern und uns von anderem trennen. Das heißt: Nicht immer ist das, woran wir uns gewöhnt haben, das Beste für die Zukunft. Uns steht daher sowohl im Dialog als auch in der Umsetzung ein umfassender Prozess bevor. ({2}) In den 50 Artikeln - ich wage einmal zu bezweifeln, dass sich alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Parlament sämtliche Artikel durchgelesen haben, deswegen erwähne ich das noch einmal - wurde festgeschrieben, welche Aufgaben zu erledigen sind. Dazu sind wir aufgefordert, und die Umsetzung geht uns damit alle an. Jeder Mensch hat das Recht, in Freiheit zu leben und über sein Leben sowie seine Umstände selbst zu entscheiden. Herr Kollege Kurth, da sind wir uns total einig. Ich bin auch der Meinung, dass es nicht zeitgemäß ist, vorzuschreiben, wie und wo der behinderte Mensch leben und wohnen soll. Eine absolute Freiheit im Hinblick auf die persönlichen Bedürfnisse und die individuellen Gegebenheiten ist wichtig. ({3}) Wir müssen natürlich die föderalen Strukturen in unserem Land bei der Umsetzung beachten. Das heißt, in allen gesellschaftlichen Bereichen ist ein enger Dialog mit den Ländern notwendig, der ja auch stattfindet. Einige Länder haben für sich Eckpunkte festgelegt, andere befinden sich noch in der Diskussion. Manche Länder haben schon einen Aktionsplan aufgestellt. Wichtig ist, dass über die Verzahnung zwischen Bundes- und Landeskompetenzen diskutiert und diese dann auch geregelt wird. Wir brauchen einen breiten Beteiligungsprozess. Dieser wurde durch die Bundesregierung, konkret durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, bewusst eingeleitet. Menschen mit Behinderungen, ihre Verbände, viele Fachleute, viele Wissenschaftler und die Zivilgesellschaft haben das Angebot angenommen und in den vergangenen Wochen und Monaten eine große Zahl sehr guter Ideen zusammengetragen und Anregungen eingebracht. Insofern hat die Konvention bereits jetzt einen sehr wichtigen Aspekt erfüllt: Sie hat nämlich den notwendigen Dialog in unserer Zivilgesellschaft insgesamt beflügelt. Das ist gut und darf nicht nachlassen. Deshalb haben wir mit diesem Antrag noch einmal einen Akzent gesetzt. Wir müssen uns klarmachen, was in unserem Land bereits gut geregelt ist und was nicht. Für manche ist das Wort Inklusion, das mit dieser Konvention verbunden ist, gleichsam ein Zauberwort und weckt sehr große Hoffnungen. Anderen macht dieses Wort Angst, und es verbreitet sich Unsicherheit. Wieder andere pflegen Vorurteile oder verschließen sich dem Dialog. Dahinter stecken auch Emotionen, weil es Menschen unmittelbar betrifft, weil es um die konkrete Situation eines Menschen mit seiner jeweiligen Behinderung oder sogar Mehrfachbehinderungen geht. Dieser wichtigen Herausforderung müssen wir uns stellen. Deshalb ist es richtig, dass alle eingebrachten Ideen auf ihre Machbarkeit und Umsetzbarkeit geprüft werden. Das nimmt vielleicht etwas mehr Zeit in Anspruch, als wir ursprünglich gedacht hatten. Diese Zeit sollten wir uns aber nehmen. Die Motivation unseres Antrags ist jedenfalls, während der Phase der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans unterstützend auf die besonderen Belange der Menschen mit Behinderung hinzuweisen. Ich möchte Ihnen an einem Beispiel aus der Ausbildung zeigen, dass wir auf der einen Seite viele gute gesetzliche Regelungen haben, auf der anderen Seite aber riesige Umsetzungsprobleme zu lösen sind. So können beispielsweise Jugendliche mit einer Hörbehinderung bei entsprechend ausgestatteten Ausbildungsplätzen eine betriebliche Ausbildung absolvieren. So kann vermieden werden, dass sie eine spezielle Einrichtung besuchen müssen. Das ist der inklusive Ansatz. Der Arbeitgeber kann mit einem Ausbildungszuschuss nach § 236 SGB II gefördert werden. Zudem könnte der Arbeitsplatz technisch individuell dem jeweiligen Lehrling - dem jungen Mann oder der jungen Frau - angepasst werden. Dafür können sowohl dem Arbeitgeber nach § 237 SGB III als auch dem Jugendlichen nach § 33 SGB IX Unterstützun11160 gen gewährt werden. Das alles steht heute schon im Gesetz. Die Praxis kennt gute Umsetzungsbeispiele, aber eben auch Situationen, in denen zwischen diesen Möglichkeiten einfach nicht entschieden wurde, die Betroffenen an der Verknüpfung verschiedener Gesetze, Leistungserbringer und Bewilligungsstellen gescheitert sind, frustriert aufgegeben haben, letztendlich den traditionellen Weg gegangen sind und - wenn es ganz schlimm kam - vielleicht gar keine Ausbildung aufgenommen haben. Diesbezüglich sehen wir ganz konkreten Änderungsbedarf. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag fordert mit Blick auf den drohenden Fachkräftemangel, die derzeit etwa 1 000 Sonderregelungen - das muss man sich einmal überlegen! - für die Ausbildung von behinderten jungen Menschen bundesweit zu vereinheitlichen und damit deutlich zu reduzieren. Das verbessert die Transparenz hinsichtlich der erworbenen Qualifikationen und erleichtert behinderten Menschen den Einstieg in die Ausbildung und später in die Berufswelt. Man könnte noch viele weitere Beispiele aufführen. Deshalb ist es wichtig, dass wir diesen Dialog führen und uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen. Es mag ja sein, dass wir bei dem einen oder anderen Punkt unterschiedlicher Meinung sind.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Michalk, achten Sie bitte auf die Zeit.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber die Menschen mit Behinderung erwarten von uns zu Recht, dass wir diesen Prozess gemeinsam gestalten. Darauf freue ich mich. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mitkoalitionär findet es die FDP sehr begrüßenswert, dass die Bundesregierung gerade dabei ist, einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf den Weg zu bringen. Dass das etwas länger dauert, sehen wir als Hinweis auf die Qualität, die im Gespräch mit Bund, Ländern und Kommunen erzielt werden soll. Es ist gut, dass wir alle Ebenen mit einbeziehen. Es ist außerdem gut, dass die Bundesregierung alle Betroffenen bzw. deren Vertreter mit einbezieht. Lieber Herr Kurth, liebe Frau Hiller-Ohm, wir sollten uns nicht immer nur auf die Finanzierungsfrage konzentrieren, denn sonst setzen Sie sich einer Diskussion darüber aus, was Sie als SPD in elf Jahren und Sie als Grüne in sieben Jahren Regierungsbeteiligung geleistet haben ({0}) und was Sie gegenwärtig in den Ländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, leisten. Das müssten wir dann sehr genau beobachten. Wir würden Sie dann beispielsweise zu Ihrer Position hinsichtlich der Hörberatungsstelle hier in Berlin-Neukölln und zur Kürzung des Blindengeldes befragen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Rawert?

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Kober, wir sind sehr gerne bereit, uns beobachten zu lassen, wie wir mit Menschenrechten umgehen; denn das trägt zur Transparenz bei. Meine Frage lautet: Welche der Maßnahmen können Sie tatsächlich umsetzen, wenn Sie nicht über zusätzliche Finanzierung reden wollen? ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben nicht ganz genau zugehört. ({0}) Ich habe gesagt, dass wir nicht nur Finanzierungsfragen stellen sollten. Die weiteren Antworten werden Sie gleich meiner Rede entnehmen können. ({1}) Ich glaube, dass wir auch und gerade in den Bereichen Chancen haben, in denen es nicht immer gleich um neue Gelder geht. Wenn wir lernen, umzudenken und neue Perspektiven einzunehmen, dann können wir insbesondere bei der Schaffung neuer Infrastruktur Behinderungen von Menschen ausschließen. Das ist der entscheidende Punkt. Wir müssen lernen, dass die Behinderung nicht in den Menschen verortet ist, sondern dass die Behinderung zum großen Teil in der Umwelt verortet ist, die wir um die Menschen herum errichten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kober, es gibt offensichtlich innerfraktionellen Abstimmungsbedarf. Der Kollege Lindner möchte Ihnen eine Frage stellen. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In Ordnung.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollege Kober, gerade hat sich die Kollegin Rawert aus Berlin so engagiert geäußert, als sie nach unserem Engagement für Menschen mit Behinderung fragte. Wie finden Sie es, dass Rot-Rot, also SPD und Die Linke, die sich hier als echte und wahre Verteidiger der Behinderten erheblich exponieren, in Berlin, wo sie zusammen regieren, einen großen Kampf gegen die Hörberatungsstelle in Neukölln führen - Frau Knaake-Werner hatte sich als linke Senatorin mit großem Engagement gegen diese Hörberatungsstelle eingesetzt - und auch das Blindengeld gekürzt haben? ({0}) Wie sehen Sie die Realpolitik von SPD und Linken in Berlin im Zusammenhang mit den Reden, die hier im Bundestag geschwungen werden? ({1})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Lindner, Sie bestätigen im Grunde meine Ausführungen. Wir sollten nicht mit dem Finger auf andere zeigen und auch nicht falsche Erwartungen bei den betroffenen Menschen wecken, dass alles, wenn man denn nur wollte oder wenn man nur guten Herzens sei, finanzierbar ist. Sie werden im Laufe der Diskussion über den Aktionsplan, den die Bundesregierung auf den Weg bringt, und zukünftig auch in der Diskussion über die Umsetzung von Maßnahmen aufgrund dieses Aktionsplanes genau beobachten können, was von den Mitbewerbern im politischen Bereich gefordert wird und was sie dort, wo sie in Regierungsverantwortung sind, tatsächlich umsetzen. - Vielen Dank, Herr Lindner. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Vorsorglich weise ich darauf hin, dass ich keine weiteren Fragen bei diesem Redebeitrag zulasse; denn wir wollen die Redezeit ja nicht auf wundersame Weise verdreifachen. - Bitte.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich denke, wir sollten die Chancen nutzen und mit allen politisch Beteiligten - Bund, Länder und Kommunen und den Betroffenen miteinander im Gespräch bleiben. Wir sollten auch darauf hinweisen, dass die Bundesrepublik weltweit für die Menschen, die von Behinderung betroffen sind, eine Verantwortung hat. Deshalb ist es begrüßenswert - das freut mich insbesondere als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe -, dass unser Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit Nachdruck das Anliegen verfolgt, den Gedanken der Inklusion stärker in die Entwicklungszusammenarbeit einzuführen. ({0}) Insofern freut es mich, dass wir als Koalitionsfraktionen in Zukunft in diesem Bereich besondere Verantwortung übernehmen wollen, wie wir es in unserem Antrag ja auch ausgeführt haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Lehrieder das Wort. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede meine Freude zum Ausdruck bringen, dass neben Herrn Staatssekretär Fuchtel auch der Behindertenbeauftragte unserer Regierung, Herr Hubert Hüppe, dieser Diskussion beiwohnt und genau aufpasst, worüber wir diskutieren. ({0}) - Herr Staatssekretär Bahr, Entschuldigung, ich habe eben nur meine Fachpolitiker gesehen. Wir stimmen heute über Anträge zu einem Thema ab, welches in der heutigen Gesellschaft einen besonders hohen Stellenwert genießt und mir persönlich sehr am Herzen liegt. Mit dem Antrag der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und FDP für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt voran. Menschen mit Behinderung soll damit eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe mitten in der Gesellschaft ermöglicht werden. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, geschätzte Frau Präsidentin, gerade auch im Hinblick auf die Zuschauer Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zu zitieren: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Diese Rechte gelten universell. Sie werden als Völkergewohnheitsrecht angesehen. Dennoch zeigt die Realität leider häufig, dass Menschenrechte nicht eingehalten werden, dass Mehrheiten Minderheiten unterdrücken, dass wirtschaftliche Faktoren moralische überdecken und dass der Stärkere den Schwächeren unterdrückt. Wenn man an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte denkt, fällt der erste Gedanke möglicherweise auf Länder und Regionen, in welchen erhebliche Missachtungen dieser universellen Rechte vor der Weltöffentlichkeit stattfinden. In unserem Land, welches als Vorzeigeobjekt gilt, neigt man dazu, sich im Sessel zurückzulehnen. Doch es gibt auch bei uns - meine Vorredner haben darauf bereits hingewiesen - noch einiges zu verbessern. Meine Fraktion möchte mit ihrem Antrag insbesondere eines erreichen: Behinderte Menschen sollen nicht mehr als Objekte der Fürsorge betrachtet und behandelt werden. Dieser Umstand führt nämlich zwangsläufig zur Ausgrenzung aus der Gesellschaft: auf der einen Seite Bürger, die Fürsorge geben, auf der anderen Seite Bürger, die Fürsorge empfangen. Durch die umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wollen wir für behinderte Menschen mehr als bloße Akzeptanz in unserer Gesellschaft erreichen. Wir wollen Integration und Inklusion in unsere Gesellschaft; auch darauf wurde von meinen Vorrednern bereits hingewiesen. Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung von Anfang an integriert sind, dass sie in den gleichen Kliniken geboren werden können, in die gleichen Kitas gehen können, in den gleichen Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten berufliche Bildung erfahren, in den gleichen Berufen arbeiten können, den gleichen Freizeitgestaltungen nachgehen können und beim Renteneintritt die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen Mitbürger ohne Behinderung haben. Mit unserem Antrag wollen wir darauf hinwirken, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderung nicht als Sonderrecht, sondern als Menschenrecht verstanden wird. Wir müssen weiterhin daran arbeiten, Barrieren zu beseitigen. Dabei geht es um psychische Barrieren, aber auch um physische Barrieren, die die Mobilität behindern, zum Beispiel um nicht abgesenkte Bordsteinkanten oder das Fehlen von Aufzügen in öffentlichen Gebäuden. Ich selbst war als Bürgermeister an einer Dorferneuerungsmaßnahme beteiligt, in deren Rahmen wir einen Dorfplatz wunderschön gestaltet haben. Ein junger Mitbürger, der aufgrund eines Verkehrsunfalls an den Rollstuhl gebunden war, hat uns gesagt: Ihr habt das zwar schön gemacht, aber nicht gut. - Dann hat er mir die Stellen, die er kritisiert, gezeigt. Als er eine Böschung mit drei Treppenstufen sah, sagte er beispielsweise: Das ist für mich ein unüberwindbares Hindernis. - So etwas fällt niemandem von uns auf. Ein anderes Beispiel war ein Hochbord an einer Brücke. Dazu sagte er: Da komme ich nicht hoch. Hier brauche ich jemanden, der meinen Rollstuhl hochhebt. - Bei einer Dorfgemeinschaftsfeier wurden wir auf zwei Treppenstufen aufmerksam, aufgrund derer der junge Mann sagte: Dieses Terrain bzw. diese Ebene ist für mich nicht erreichbar. Oft genug - das sage ich, weil vorhin auch der finanzielle Aspekt angesprochen wurde - ist es mit relativ geringen Mitteln und etwas Nachdenken möglich, auch für Behinderte eine gute Lösung zu finden. So hat es in dem von mir erwähnten Beispiel gereicht, neben den Stufen eine kleine Böschung zu teeren, sodass auch für Rollstuhlfahrer die Begehbarkeit gewährleistet war. Ich habe diese Situation damals nicht mit den Augen eines Behinderten gesehen. Dafür bitte ich um Verständnis. Allerdings sage ich heute: Es wäre gut, bei allen Planungen des Staates die Strecken, auf denen Barrieren entstehen könnten, rechtzeitig gemeinsam mit Behinderten zu besichtigen und sie zu fragen: Wie beurteilt ihr unsere Planungen? ({1}) Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, etwa das Fehlen von Lichtanlagen für hörbehinderte Menschen oder das Fehlen von Lautsignalen für sehbehinderte Menschen. Ein weiteres wichtiges Thema wird in Zukunft die Elektromobilität sein. Dabei geht es auch um die Frage: Was bedeutet die Entwicklung immer leiserer Fahrzeuge für hörgeschädigte Menschen, die überhaupt keine Autos mehr hören? Hier gibt es noch einiges zu tun. Ich bitte das gesamte Haus - die Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, aber auch die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition -, gemeinsam daran zu arbeiten, vernünftige, gescheite Lösungen für die Behinderten in unserer Gemeinschaft zu finden. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4862, 17/4911 und 17/5043 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf: ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern stoppen - Drucksache 17/5039 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der AbgeVizepräsidentin Petra Pau ordneten Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen - Drucksachen 17/1167, 17/1627 Berichterstattung: Abgeordnete Rolf Hempelmann ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Marieluise Beck ({3}), Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren auch bei Rüstungsexporten an EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder konsequent umsetzen - Drucksachen 17/2438, 17/3291 Berichterstattung: Abgeordnete Kerstin Andreae Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ({5}) - Ich würde gern die Aussprache eröffnen. Aber dazu müsste erst einmal die notwendige Aufmerksamkeit hergestellt werden. Die Gespräche, die zu führen sind, sind bitte draußen zu führen. Kollege Lindner, gestatten Sie, dass ich jetzt die Aussprache eröffne? ({6}) - Danke. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Hänsel für die Fraktion Die Linke. ({7})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit heute Nacht kennen wir den neuen Beschluss des UN-Sicherheitsrates für eine Flugverbotszone über Libyen. Es ist ein umfassendes Mandat und enthält viele weitere Elemente. Wir sagen: Das ist ein Mandat für einen Kriegseinsatz in Libyen. Dies lehnen wir hier strikt ab. ({0}) Ich weiß auch nicht, ob der Jubel der Aufständischen über diese Entscheidung lange anhalten wird. Wir haben Erfahrungen mit Flugverbotszonen im Irak. Es wurden viele Stellungen auf dem Boden bombardiert, und viele unschuldige Menschen sind dabei gestorben. Deswegen können wir ein solches Mandat nicht unterstützen. ({1}) Wir hätten uns gewünscht, dass es zu einer Ablehnung dieses Mandats gekommen wäre. Dies hängt sehr eng mit dem Thema, über das wir hier sprechen, nämlich Rüstungsexporte, zusammen, aber davon haben Sie anscheinend wenig Ahnung. Wie gesagt, ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung hätte das Mandat abgelehnt. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, im EU-Rat und im NATO-Rat konsequent gegen eine Beteiligung zu stimmen. ({2}) Jetzt komme ich zum entscheidenden Punkt, zu Libyen. Die Geschichte wiederholt sich nämlich: Die westlichen Staaten und die NATO-Staaten rüsten Diktatoren erst auf, und dann werden sie mittels Krieg wieder abgerüstet. Das ist eine Kriegspolitik, die wir ablehnen. ({3}) Gaddafi hätte gar keine Kampfflugzeuge, mit denen er jetzt gegen die demokratischen Bestrebungen vorgehen und die Menschen bombardieren könnte, wenn wir sie nicht geliefert hätten, wenn ihn die NATO-Staaten also nicht aufgerüstet hätten. ({4}) Deshalb brauchen wir eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik, genauso wie wir eine Zäsur in der Atompolitik brauchen. So kann es nicht mehr weitergehen. ({5}) Minister Westerwelle hat vorhin wörtlich gesagt: Wir sind nicht in der Lage, überall auf der Welt die Unterdrückung zu beseitigen. Aber die Bundesregierung ist in der Lage, weltweit Waffen zu verschicken. Wir sind an Position drei, was Rüstungsexporte in die Welt angeht, und das ist ein Skandal. ({6}) Deswegen kommt dieser Antrag genau zur richtigen Zeit. Wir fordern einen sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte, einen Stopp der umfangreichen militärischen Zusammenarbeit und einen Stopp der Ausbildungshilfe für Polizei und Militär, wie wir es in Libyen, Ägypten und Tunesien erlebt haben. Daher kommt der Antrag heute genau richtig. ({7}) - Dass Sie das hier als Quatsch bezeichnen, zeigt, wie ignorant Sie sind und was für eine Klientelpolitik Sie für die Rüstungskonzerne machen. ({8}) Die Liste der Länder und Krisenregionen, in die wir Waffen und Rüstungstechnologie schicken, nimmt kein Ende. Ich kann sie hier aufzählen: Ägypten, Jemen, Vereinigte Arabische Emirate, Israel, Indien, Pakistan, Türkei. Alles dies sind Regionen, in denen es Konflikte gibt und in denen es zu Menschenrechtsverletzungen kommt. An deren Spitze steht auch noch Saudi-Arabien. ({9}) Es ist völlig unverantwortlich, was Sie hier machen, und wir wollen das beenden. ({10}) Die Menschen, die in ihrer konkreten Existenz betroffen sind und sich dagegen wehren, werden dann auch noch durch die Grenzschutzagentur FRONTEX der Europäischen Union davon abgehalten, nach Europa zu gelangen. Auch dieses Vorgehen lehnen wir ab. Dies ist eine menschenverachtende Politik gegenüber Flüchtlingen, die aufgrund der Konflikte, für die wir mitverantwortlich sind, nach Europa kommen. ({11}) Herr Minister Westerwelle verlor in seiner Regierungserklärung kein Wort zu Saudi-Arabien. Er hat kein Wort zum Einmarsch in Bahrain gesagt. Im Gegenteil: Die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien gehen weiter. Heckler & Koch aus Baden-Württemberg liefert Gewehre nach Saudi-Arabien. Es soll sogar eine Fabrik für die Produktion einer der tödlichsten Waffen - es geht um G-36-Gewehre - gebaut werden. Wir sagen: Das kann so nicht weitergehen. Wir müssen diese Rüstungspolitik beenden. Rüstungsexporte sind Milliardengeschäfte mit dem Tod. Wer diese genehmigt, macht sich mitverantwortlich für Krieg, Konflikte, Elend und Tod. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Hänsel, achten Sie bitte auf die Zeit.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. - Ich komme nämlich aus Baden-Württemberg, und ich kenne unsere Rüstungsschmieden. ({0}) Ich habe oft genug mit der Friedensbewegung dagegen demonstriert. Wir fordern: Wir müssen in BadenWürttemberg nicht nur die AKW abschalten, sondern auch die Rüstungsschmieden schließen. ({1}) Dafür wird die Friedensbewegung bei den Ostermärschen auf die Straße gehen, und dafür kämpft auch eine starke Linke im Landtag von Baden-Württemberg. Danke. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Fritz das Wort. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Schluss haben wir ja noch einmal erfahren, was die Motivation für diesen Antrag der Linken war. ({0}) Ich habe eigentlich gedacht, Herr van Aken, dem ich ja das Engagement abnehme, würde heute hier sprechen. Es ist auch richtig, dass man sich in diesen Dingen engagiert; das tun wir alle. Die Art und Weise verstehe ich aber nur bei Herrn van Aken, weil er das Thema einmal als Kampagnenchef einer Organisation bearbeitet hat, und auf diese Weise kann er das auch am besten. Mit diesen Anträgen werden Sie der Sache, um die es geht, überhaupt nicht gerecht. Sie reichen allemal als Kampagnenaufruf oder als Rede im Rahmen einer Demonstration, aber nicht für die Darstellung und die Bewältigung eines höchst komplizierten Problems. Mit einer einfachen Forderung in einem Satz ist hier nicht geholfen. ({1}) Das gilt sowohl für den Antrag mit dem Titel „Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern stoppen“ - Sie wissen selbst, dass das ein Show-Antrag ist - als auch für den Antrag der Grünen mit dem Titel „Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen“, über den wir hier schon einmal gesprochen haben, was ich deshalb nicht vertiefe. Sie wissen - auch aus der letzten Debatte von vor einem Jahr -, dass der Rüstungsexportbericht und der Jahresabrüstungsbericht von der Datenlage her so unterschiedlich sind, dass sie gar nicht zum gleichen Zeitpunkt vorgelegt werden können, es sei denn, Sie wollten, dass der Jahresabrüstungsbericht sehr viel später vorliegt. Insofern wäre es gut gewesen, wenn Sie diesen Antrag im Laufe der Diskussion zurückgezogen hätten. Zu dem dritten Antrag kann ich nur sagen: Hier treffen Sie, wie Sie aus eigener Regierungserfahrung wissen, die Praxis der Bundesrepublik Deutschland ziemlich genau. Das müssen wir uns eigentlich gar nicht gegenseitig bestätigen. Mir geht es jetzt darum, auf den einen oder anderen Zusammenhang hinzuweisen, um zu zeigen, dass das Thema nicht so einfach ist und sich in solch allgemeinen Anträgen - den letzten nehme ich aus - nicht erschöpft. Worum geht es? Wir müssen doch zunächst einmal gemeinsam feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Land ist, das mit aller Macht Waffen in die Welt liefert. Das ist doch ein völlig falsches Bild, das Sie zeichnen. ({2}) Im Gegenteil: Diese Politik, die wir hier in historischer Verantwortung betreiben und die durch eine bewusste Hinwendung zum Friedensgebot gekennzeichnet ist, hat zu einer äußerst restriktiven Exportpolitik geführt, die übrigens über die verschiedenen Regierungen hinweg weiterentwickelt worden ist. ({3}) - Sie haben heute schon genug dazu gesagt. ({4}) Sie werden doch auch nicht bestreiten können, dass wir in den letzten 20 Jahren sowohl bei den Kriegswaffen als auch bei Rüstungsgütern als auch bei Dual-useGütern einen dauernden Fortschritt, eine dauernde Erhöhung der Kontrolldichte und eine dauernde Verbesserung der Möglichkeiten, zu kontrollieren, aufzuklären und zu verhindern, erreicht und kriminellen Entwicklungen, die es immer wieder gegeben hat, Einhalt geboten haben. Das wird doch wohl niemand bestreiten wollen. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass in der EU nach gemeinsamen Regeln gearbeitet wird. Das ist ganz zentral. Denn was hilft es, in einem Bereich, den wir in Europa zusammenführen wollen - die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, zu der natürlich auch die Rüstung und die Ausstattung von Streitkräften gehören -, auf der Grundlage unterschiedlicher Verfahren und eines unterschiedlichen rechtlichen Rahmens und auch mit unterschiedlichen industriepolitischen Ansätzen, was ja leider der Fall ist, zu handeln? Deshalb haben wir uns - die letzten drei Regierungen - für die Dual-use-Verordnung und den Kodex eingesetzt und dafür gesorgt, dass daraus eine verpflichtende gemeinsame Position der Europäischen Union geworden ist. Wir haben alles getan, um zu transparenten und nachvollziehbaren Regelungen zu kommen, aus deutscher Sicht mit dem Ziel, den Exportdruck bei den Großmächten, die aus früherer Zeit Überkapazitäten haben, zu verringern. Mich beruhigt überhaupt nicht, dass es seit dem Ende des letzten Jahres so aussieht, als würde diese gemeinsame Linie der Europäischen Union infrage gestellt, weil mit dem Abkommen über eine engere Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Großbritannien auf militärischem Gebiet der multilaterale Weg verlassen wird. Dies lässt eher erwarten, dass die beiden Länder versuchen wollen, aus ihren Fähigkeiten, die sie tatsächlich haben, ihre wirtschaftliche Entwicklung zu generieren. Das steht in völligem Unterschied zu Deutschland. Wir haben immer auf die gemeinsame Politik, Kooperation, multilaterale Beschaffung und gegenseitige Begrenzung und Kontrolle gesetzt. Es ist nun einmal so - das können auch Sie nicht bestreiten -, dass jemand in einer gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik, die auch einen militärischen Bereich umfasst, was auch in Zukunft der Fall sein wird, dann eine besondere Rolle spielt, wenn er militärische Fähigkeiten hat. Deshalb ist die Frage, ob man noch in irgendeinem Bereich Systemführerschaft hat und ob man Teil solch einer Kooperation sein kann, nicht unwesentlich. Sie ist ein sehr wichtiger Bestandteil des Einflusses nicht nur auf die gemeinsame Politik, sondern auch auf die gemeinsame Kontrolle und Begrenzung von Rüstungsexporten. Auch wenn man sich diese Zusammenhänge klarmacht, gilt, dass trotzdem alles andere sorgfältig zu betrachten ist. Deshalb hat der Deutsche Bundestag Schritt für Schritt mit dazu beigetragen, dass die Kontrolldichte, die Berichtspflichten und die Nachvollziehbarkeit dessen, was geschieht, verbessert werden. Wir haben Kampagnen unterstützt, die letztlich zu Vereinbarungen geführt haben, zum Beispiel im Zusammenhang mit Landminen. Man kann nicht sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland untätig gewesen sei. Sie können im Protokoll über die Beratung Ihres letzten Antrags vom Februar nachlesen, was die Bundesregierung tut, um im Bereich Kleinwaffen zu Regelungen zu kommen. Dann werden Sie merken, dass wir das Problem kennen, ihm nachgehen und versuchen, zu internationalen Vereinbarungen zu kommen. Wenn die NATO bzw. die Europäische Union mit einer gemeinsamen Politik Schritt für Schritt nicht nur diesen Bereich begrenzt und ihn immer stärker auf die Bedarfe von NATO und Europäischer Union konzentriert, sondern durch ihre gesamte Politik und in Zukunft auch durch eine aktive Außen- und Sicherheitspolitik dazu beiträgt, dass es weltweit weniger Bereiche gibt, in denen Waffen gebraucht werden - übrigens nicht nur, weil jemand Böses damit im Sinn hat, sondern auch deshalb, weil Staaten das Recht haben, selbst zu entscheiden, was sie für ihre Verteidigung brauchen -, dann sind wir, glaube ich, gemeinsam auf dem richtigen Weg. Ich attestiere der Bundesregierung eine verantwortliche Politik und bin sicher, dass es auch dabei bleibt. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Bulmahn hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0}) - Entschuldigung. Das war mein Fehler. Der Kollege Jan van Aken hat später die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es hat erhebliche Fortschritte bei der Einschränkung von Rüstungsexporten und deren Kontrolle gegeben. Trotzdem zeigen die Zahlen zu den aktuellen Rüstungsexporten, die das renommierte schwedische Forschungsinstitut SIPRI diese Woche vorgelegt hat, dass zwischen 2006 und 2010 das Volumen des weltweiten Handels mit Waffen und anderen Rüstungsgütern um 24 Prozent gestiegen ist. Deutschland liegt dabei mit einem Anteil von 8 Prozent am Weltrüstungshandel im Jahr 2009 auf dem dritten Platz der globalen Rüstungsexportstatistik. Das ist Anlass, darüber zu diskutieren; das sage ich ausdrücklich. ({0}) Aber, Herr van Aken - dies sage ich an die Adresse der Linken -, Sie machen es sich mit Ihrem Antrag wirklich zu einfach. ({1}) Anstatt Vorschläge zu machen, wie wir die Rüstungsexporte sachgerecht einschränken und wie wir die Kontrolle verschärfen können, sagen Sie einfach: Wir exportieren nicht. ({2}) Bei aller Liebe: Das ist ein naiver Vorschlag. Ich kann deshalb nur wiederholen, dass es sich dabei um einen Show-Antrag handelt. ({3}) Es würde sich lohnen, in der Sache miteinander zu streiten, wie man dieses Regime noch verbessern kann. ({4}) Ich sage ausdrücklich, dass uns diese Zahlen alarmieren müssen. Sie sind auch Anlass zum Handeln. ({5}) Wir wissen, dass wir ein Kontrollregime haben. Aber wir wissen auch, dass wir dieses Kontrollregime noch verbessern und teilweise verändern müssen. Denn gerade Deutschland hat einen zu hohen Anteil am weltweiten Handel mit kleinen und leichten Waffen. Wir erleben immer wieder, zu welch fatalen Konsequenzen das führen kann. ({6}) Rot-Grün hat im Jahr 2000 mit den „Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ den Rüstungs- und Waffenexport erheblich restriktiver geregelt. Es war richtig, dass wir das getan haben. ({7}) Wir haben damals drei wichtige Entscheidungskriterien festgelegt, die seitdem bei Rüstungsexporten geprüft und berücksichtigt werden müssen. Zunächst ist das wichtige Kriterium der Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland zu nennen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, dürfen keine Waffen in dieses Land exportiert werden. ({8}) Weiterhin muss die Frage, ob ein Export im Empfängerland eine nachhaltige Entwicklung be- oder verhindert - das ist eine Forderung, die von Entwicklungspolitikern jahrelang vorgetragen wurde -, geprüft und berücksichtigt werden. ({9}) Abschließend muss die Frage geprüft werden: Dient die Lieferung dem Ziel des Friedenserhalts und der Konfliktvermeidung? Die Verantwortung der jeweiligen Bundesregierung mit Blick auf die Entscheidung, ob Rüstungsexporte durchgeführt werden dürfen oder nicht, ist durch diese klaren Vorgaben deutlich gewachsen, auch wenn wir durchaus selbstkritisch feststellen müssen, dass es schwierig ist, die Einhaltung dieser Grundsätze zu überprüfen. Ich plädiere ganz ausdrücklich dafür, nicht von diesen Kriterien abzurücken, sondern ich halte sie für wichtig und notwendig. Wir müssen aber überlegen, wie wir diese Kriterien weiterentwickeln und präzisieren können. ({10}) Vor allem müssen wir überlegen - das ist ein wichtiger Punkt -, wie wir mehr Transparenz bei der Frage herstellen können, welche Rüstungsexporte in welchem Umfang stattfinden. ({11}) In Richtung der Koalition sage ich: Sie haben in Ihrem schwarz-gelben Koalitionsvertrag beschrieben, dass es eine verantwortungsbewusste Genehmigungspolitik geben solle. Dagegen ist auf den ersten Blick nichts einzuwenden. Natürlich muss es sich um eine verantwortungsbewusste Politik handeln. Aber ich sage ausdrücklich: In der Genehmigungspraxis kann „Verantwortung“ weniger bedeuten als „restriktiv“. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den es sich lohnt, miteinander zu erörtern. Denn ich hoffe, dass es eine breite Übereinstimmung in diesem Hause gibt, dass wir eine restriktive Rüstungspolitik wollen. ({12}) Im Augenblick erleben wir schreckliches Leid und schreckliche Ereignisse in Libyen. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, an den geschriebenen Grundsätzen festzuhalten und auch weiterhin eine restriktive Rüstungsexportpolitik durchzuführen. ({13}) Ich sage ausdrücklich, dass es mich mit großer Sorge erfüllt, dass das Volumen der Hermesbürgschaften für deutsche Rüstungsgeschäfte erheblich angestiegen ist. Die Bürgschaften haben sich von 21 Millionen Euro im Jahre 2008 auf rund 1,92 Milliarden Euro im Jahre 2009 erhöht. Wenn der Zugang zu diesen Ausfallbürgschaften durch die veränderten Formulierungen sogar noch erleichtert werden soll, wird sich diese Subventionierung von Rüstungsgeschäften durch den Steuerzahler noch weiter verstärken. ({14}) - Lieber Kollege Lindner, niemand in diesem Hause ist schwerhörig. Wenn Sie sich mit Ihrem Kollegen unterhalten möchten, reden Sie doch bitte etwas leiser. ({15}) - Bitte. Ich finde, bei diesem Thema lohnt es sich, miteinander zu sprechen und nicht über andere Themen zu reden. Restriktionen bei der Exportkontrolle sind nicht immer einfach umzusetzen. Das, was die Bundesregierung an Erleichterungen angedacht hat, würde eine strengere Rüstungsexportkontrolle verhindern. Das halten wir für unverantwortlich. Deshalb darf das nicht geschehen. ({16}) Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen: Der fortschreitende Umbau der Bundeswehr und die damit verbundene Umrüstung machen eine genaue Begleitung und Beobachtung notwendig. Keinesfalls darf der Umbau der Bundeswehr zu erhöhten Rüstungsexporten führen. Wir alle wissen, dass nach der deutschen Einheit die Auflösung der Volksarmee zu erhöhten Rüstungsexporten geführt hat. ({17}) Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, dass das nicht ein zweites Mal geschieht. ({18}) Die Begrenzung und die Kontrolle von Rüstungsexporten ist ein unmittelbarer Beitrag zur Sicherung des Friedens und zur Prävention von gewalttätigen Konflikten. Deshalb: Die Transparenz über Rüstungsexporte muss verbessert werden. In dem jüngsten Bericht der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung, GKKE, ist das sehr gut formuliert worden. Dort heißt es: Der jüngste Rüstungsexportbericht der Bundesregierung liefert zwar wort- und zahlenreich viele Informationen, doch jenseits dessen, dass er wieder nicht zeitnah erschienen ist, wecken anhaltende Rechenfehler und Unstimmigkeiten der Zahlen Zweifel an seiner Zuverlässigkeit. - Diese Beschreibung trifft leider zu. Deshalb muss das verändert werden. Wir brauchen eine kohärente Datenerhebungsbasis und -methode, damit wir als Parlament und damit als politische Entscheider wirklich sichere Unterlagen und verlässliche Zahlen haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der hier erreicht werden muss. ({19}) Es gibt einen weiteren Punkt, der verändert werden muss. Bis heute wird der Deutsche Bundestag immer erst nachträglich über die durchgeführten Rüstungsexporte informiert, leider oft erst sehr lange nachdem sie durchgeführt worden sind. Das heißt, wir brauchen nicht nur die Pflicht zur zeitnahen Berichterstattung, sondern wir müssen auch erreichen, dass, so wie auch in anderen europäischen Parlamenten, der Deutsche Bundestag parallel zu den Entscheidungen informiert wird und auch die Möglichkeit der Einflussnahme hat. Ich halte das für einen ganz entscheidenden Punkt, um tatsächlich Transparenz herzustellen und das politische Ziel der effektiven Rüstungsexportkontrolle und das Ziel restriktiver Rüstungsexporte tatsächlich zu realisieren. Die Vorschläge, die die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung gemacht hat, gehen genau in diese Richtung. Ich will sie ausdrücklich unterstützen. Ich begrüße sie sehr und hoffe, dass wir hier vielleicht doch zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Bulmahn, jetzt müssen Sie doch zum Schluss kommen. Ich habe den Ordnungsruf, den Sie für mich übernommen haben, schon draufgeschlagen. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will einen letzten Punkt ganz kurz ansprechen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ein Satz.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er bezieht sich auf die internationale Kontrolle des Waffenhandels, den Arms Trade Treaty. Hier kommt es darauf an, dass wir eine möglichst große Zahl von Staaten auf grundlegende Prinzipien zur Begrenzung und Kontrolle von Rüstungstransfers verpflichten und damit völkerrechtlich bindende Richtlinien für alle Rüstungsexporte entwickeln.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Bulmahn, jetzt ist meine Geduld wirklich erschöpft.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es lohnt sich, darüber zu diskutieren, weil es darum geht, Sicherheit herzustellen und Menschenleben zu schützen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege van Aken.

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Fritz, ich bin grundsätzlich gegen jede Art von Rüstungsexporten, weil ich es grundsätzlich falsch finde, dass Deutschland auch nur einen einzigen Euro daran verdient, dass sich andere Menschen gegenseitig totschießen. ({0}) Das beiseite genommen, bin ich jederzeit bereit, zu schauen, an welchen einzelnen Punkten man etwas verbessern könnte. Dass die deutsche Rüstungsexportkontrolle - das haben Sie gesagt - eine der strengsten der Welt sei, ist eine Legende. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Ein Land, das die drittmeisten Waffen in alle Welt exportiert und nur noch von den USA und Russland getoppt wird, kann keine strenge Rüstungsexportkontrolle haben. Ich habe in den letzten Monaten sehr viele Beispiele dafür vorgelegt. Sie wissen es, und ich weiß das. Deswegen muss es darum gehen, an einzelnen Punkten tatsächlich streng und restriktiv zu werden. Herr Fritz - ich kann verstehen, dass Sie hier eher als Lobbyist der Rüstungsindustrie auftreten -, ich möchte Sie ganz konkret nach einem Punkt fragen, den Ihr Außenminister eben erwähnt hat. Der Außenminister hat in der vorherigen Debatte gesagt: Wir sind auch bei den Menschen in Bahrain, die sich gegen das dortige diktatorische Regime auflehnen. Sie wissen und ich weiß, dass Saudi-Arabien mittlerweile in Bahrain einmarschiert ist. Auch Sie wissen, dass Deutschland in den letzten fünf Jahren Waffen für 470 Millionen Euro an Saudi-Arabien geliefert hat. Wir alle hier sind uns einig: Die Bundesregierung hat Rüstungsexporte nach Tunesien, nach Ägypten und nach Libyen gestoppt. All das war richtig. Wenn Saudi-Arabien jetzt aber Waffen einsetzt, um den Aufstand in Bahrain zu bekämpfen, müssten wir dann nicht hier und heute entscheiden, dass von Deutschland keine Waffen mehr nach Saudi-Arabien exportiert werden dürfen? Ein letzter Punkt. Wichtig ist doch auch, endlich den Bau der deutschen Waffenfabriken in Saudi-Arabien zu stoppen. Im Moment werden dort zwei Fabriken gebaut: eine, in der das Sturmgewehr G 36 hergestellt werden soll, und eine weitere, in der die Munition dafür produziert werden soll. Wenn dieser Bau heute nicht gestoppt wird, kann Saudi-Arabien im nächsten Jahr anfangen, beides zu produzieren. Dann kann es 50 Jahre lang dieses hochmoderne deutsche Sturmgewehr in alle Welt exportieren. Wenn Sie und Herr Westerwelle es wirklich ernst damit meinen, dass wir auf der Seite der Menschen in Bahrain stehen, dann sollten Sie unserem Antrag zustimmen; das wünsche ich mir. Wir sollten einfach sagen: Ab sofort keine Exporte mehr nach Saudi-Arabien. Könnten Sie dem zustimmen oder nicht? Wenn nicht, warum nicht? ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Fritz, Sie haben das Wort.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr van Aken, Sie wissen natürlich genau, dass diese Ja/Nein-Frage so nicht zu beantworten ist. Wenn Sie eine Rede in dieser Debatte gehalten hätten, dann hätten Sie das alles vortragen können. Eigentlich haben Sie sich nur zu dieser Kurzintervention gemeldet, um Ihren Vortrag nachzuholen. Wenn Sie bestreiten, dass wir eine restriktive Politik betreiben, dann bitte ich Sie wirklich einmal, Vergleiche mit anderen Staaten dieser Welt anzustellen. Es gibt sicher Länder, die in Sachen Transparenz noch weiter sind. Wie die Kollegin eben beschrieben hat, gibt es Parlamente, die vor der Durchführung wichtiger Projekte einbezogen werden. Über all das kann man reden. Aber man kann nicht durch die Verabschiedung von Anträgen im Nachhinein Verträge annullieren. Man kann an einem Freitagnachmittag auch nicht mal eben die Republik in einem Punkt aus den Angeln heben. Länder haben berechtigterweise Interessen, natürlich auch im Rüstungsbereich. Da Ihre Fraktion die Souveränität dieser Länder nicht beeinträchtigen kann, werden Sie daran nichts ändern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Lindner für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Ich weiß leider nicht, warum wir uns zu dieser Stunde noch so intensiv mit diesem lächerlichen Schaufensterantrag der Linken beschäftigen sollen, ({0}) Dr. Martin Lindner ({1}) der nur einem einzigen Zweck dient, nämlich mit Blick auf Baden-Württemberg Wahlkampf zu betreiben; das hat die Kollegin deutlich gemacht. Es hätte gereicht, dass Sie einfach diesen völlig undifferenzierten, belanglosen Antrag einbringen. Dann hätten Sie der Klientel, um die es Ihnen geht, zeigen können, was Sie für wunderbare Kerle und Frauen sind. Tatsächlich geht es in dieser Frage um eine sehr diffizile und wichtige Angelegenheit. Es geht um Kriegswaffen im engeren Sinne. Sie vermischen alles. Es ist Ihnen völlig egal. Wie gesagt, geht es Ihnen darum gar nicht. Davon abzugrenzen sind sonstige Rüstungsgüter. Das Ganze beginnt beim Militärhosenknopf, geht über weitere Ausrüstungsgegenstände bis hin zum Tanklastwagen und Ähnlichem. Schließlich geht es um die sogenannten Dual-use-Produkte. Das sind Güter, die man sowohl militärisch als auch nichtmilitärisch verwenden kann. Es geht dabei um Funktechnik, um Tanklastwagen, um Stahlpressen und anderes. All dies ist beiderseits verwendbar. ({2}) - Frau Präsidentin, fordern Sie Ihre Fraktion dazu auf, mir die Gelegenheit zu geben, hier ungestört zu reden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zurzeit ist keine Fraktion meine Fraktion; vielmehr versuche ich, hier ganz allgemein die Ordnung aufrechtzuerhalten. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gut. Dann machen Sie das.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das gilt heute allerdings für alle Seiten dieses Hauses, wenn ich das anmerken darf.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Letztlich geht es hier gar nicht um diesen Antrag. Dieser Antrag ist nicht geeignet, uns in dieser Frage wirklich weiterzubringen, weil er all das auslässt. Frau Kollegin Bulmahn, wenn Sie mit Verweis auf diesen Report sagen, zwischen 2006 und 2010 seien die Exporte gestiegen, dann fragen Sie sich doch einmal, wer damals im Bundessicherheitsrat saß. Da saß Außenminister Steinmeier. Mich wundert es in diesem Zusammenhang, wenn erst Jahre später, wenn man in der Opposition ist, solche Sprüche geklopft werden. Ich sage Ihnen ganz klar: Nach Maßgabe der Differenzierung zwischen Kriegswaffen, sonstigen Rüstungsgütern und Dual-use-Produkten sind wir als Freie Demokraten natürlich immer dabei, wenn es darum geht, die Sicherheitsinteressen unseres Landes und unserer Verbündeten zu wahren. Im Zweifel werden wir immer die Sicherheit dem kaufmännischen Interesse voranstellen. So haben wir das in der Vergangenheit gemacht. Auch diese Bundesregierung hat das immer gemacht. Außerdem werden wir uns immer dagegen verwahren und aufpassen, dass wir nicht eine Technologie exportieren, die später in kriegerischen Auseinandersetzungen dieses Land so verändert, dass es deutlich gefährlicher als zuvor ist. Wir werden aber natürlich auch die wirtschaftlichen Interessen unserer Unternehmen bei dieser Frage im Blick haben. Es wird natürlich nicht so sein, dass all die Exporte gestoppt werden, die Sie vorschlagen. Wir sind eine Exportnation, und wir bekennen uns dazu, Exportnation zu sein. Wir setzen uns sogar dafür ein, dass weiter exportiert wird, meine Damen und Herren. Das ist ganz klar. ({0}) Sie sagen, Israel dürfe keine Rüstungsprodukte mehr bekommen. Wir haben jedoch eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Wir werden Israel selbstverständlich auch wehrtechnisch unter die Arme greifen. ({1}) Soweit dies im Kampf gegen den Terrorismus und die Piraterie erforderlich ist, werden wir auch Länder wie Saudi-Arabien technisch unterstützen. ({2}) Es ist bekannt, dass EADS einen Küstenschutzauftrag in Milliardenhöhe erhalten hat. Das ist auch richtig. Wir können nicht diese Länder als Partner im Kampf gegen Terrorismus und Piraterie betrachten und ihnen auf der anderen Seite Ausrüstung, Funktechnik und Ähnliches verwehren. Diese Güter werden wir natürlich weiterhin liefern. Wir werden auch weiterhin NATO-Verbündeten Zugang zu unseren Waffensystemen ermöglichen. Das ist doch verrückt. Wir können uns doch nicht im Deutschen Bundestag einen Kopf über die Frage machen, was NATO-Partner erwarten können. Das werden wir auch nicht zulassen. Wir werden auch den Export von Dualuse-Produkten zulassen, wenn es nicht einen evidenten Hinweis gibt, dass diese Produkte rüstungstechnisch verwendet werden. Darauf können Sie sich verlassen. Wir werden nicht - was Sie im Sinne haben - der deutschen Industrie und der deutschen Exportwirtschaft den Hahn abdrehen. Frau Bulmahn, es ist witzig: Sie haben mich vorhin dafür kritisiert, dass ich die ganze Zeit geredet habe. Selber machen Sie jetzt aber auch nichts anderes. Sie müssen zumindest die Erwartungen erfüllen, die Sie an andere stellen. ({3}) Frau Bulmahn, es kommt natürlich auch nicht infrage, dass bei einem rein exekutiven Handeln das Parlament vorab befasst wird. Dr. Martin Lindner ({4}) ({5}) Wir haben hier sehr zuverlässige Verfahren über das Bundesausfuhramt. Wir haben Verfahren, nach denen das Auswärtige Amt und das Bundeswirtschaftsministerium zu Entscheidungen kommen. Das ist exekutives Handeln. Darüber wird anschließend berichtet. Es ist aber nicht so, dass der Deutsche Bundestag bei einzelnen Rüstungsexportfragen an die Stelle der Exekutive tritt. Das sage ich an dieser Stelle auch ganz klar. ({6}) Schließlich geht es der Linken nicht um einen Sachbeitrag. ({7}) Sondern es geht darum, in Baden-Württemberg noch ein paar Pünktchen zu machen. Ich frage Sie, Frau Kollegin, die Sie Verdi-Mitglied sind, wie ich es gerade festgestellt habe, ob Sie das auch Ihren IG-Metall-Kollegen in den Betrieben sagen, um die es geht. Sagen Sie das auch Ihren IG-BCE-Kollegen? Nein. Es geht auch um Arbeitsplätze. Es geht um Menschen, die in diesen Unternehmen arbeiten, und das sind nicht wenige Rüstungsschmieden, sondern das sind alle metallverarbeitenden Unternehmen und Unternehmen der chemischen Industrie. Den Kollegen, denen Sie sonst immer den Mindestlohn versprechen, wollen Sie hier den wirtschaftlichen Saft abdrehen. Darum geht es doch. Das sagen Sie denen natürlich nicht. ({8}) Wir treten als FDP für die Wahrung der Sicherheitsinteressen dieses Landes und unserer Verbündeten ein. Wir verwahren uns auch gegen den Vorwurf, wir würden blind einfach exportieren.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindner, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber wir haben natürlich unsere Unternehmen, die in diesem Bereich tätig sind, im Blick. So kommen wir zu einer vernünftigen, ausgewogenen Politik - in der Zukunft ebenso wie in der Vergangenheit. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor wir diese Debatte ernsthaft und mit der angemessenen Aufmerksamkeit zu Ende bringen, möchte ich, ohne dass ich den sicherlich im Protokoll vermerkten Zuruf des Kollegen Wunderlich wiederholen möchte, diesen ausdrücklich rügen. Das Wort hat die Kollegin Katja Keul. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Lindner, Ihr Beitrag gerade war, glaube ich, der beste Beweis dafür, dass Ihre Koalition keine restriktive Rüstungsexportpolitik beabsichtigt. ({0}) Unsere heutige Debatte steht im Lichte der Ereignisse in Libyen. Es macht wütend, mit ansehen zu müssen, wie die Menschen dort auch mithilfe deutscher Waffen und deutscher Ausrüstung unterdrückt und bekämpft werden. So mussten wir erst gestern lesen, dass 2009 unter anderem Panzerabwehrraketen aus dem Hause EADS samt der dazugehörigen Abschussanlagen über Frankreich nach Libyen geliefert wurden. Die Schusswaffen von Heckler & Koch sind natürlich auch wieder mit von der Partie. Die deutsche Rüstungsexportpolitik hat sich viel zu weit von ihrem Anspruch hinsichtlich einer restriktiven Politik entfernt. Zu oft werden wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund gestellt und menschenrechtliche Kriterien verdrängt. Symptomatisch ist dabei die Federführung des Wirtschaftsministeriums statt des Auswärtigen Amtes in Sachen Exportkontrolle. ({1}) Ob Brüderle, Guttenberg oder Westerwelle: Alle ließen sich bei ihren letzten Reisen nach Indien durch Vertreter der Rüstungsindustrie begleiten und rührten ordentlich die Werbetrommel. Die Minister sollten ihren Ehrgeiz lieber für neue Abrüstungsinitiativen und für die Konversion von Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie aufbringen. ({2}) Stattdessen will die Koalition das deutsche Kontrollsystem entschlacken, indem sie Vorschriften im Außenwirtschaftsgesetz streicht, die deutsche Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten benachteiligen. Die Verbringung von Rüstungsgütern innerhalb der Union soll erleichtert werden. ({3}) Aber auch bei Lieferungen an unsere Freunde in NATO und EU müssen wir die deutsche Exportpraxis infrage stellen. Im Falle Griechenlands haben die milliardenschweren Waffenlieferungen deutscher Firmen zum Staatsbankrott beigetragen. ({4}) Im gesamten Jahr 2009 hat Deutschland nicht einen einzigen Antrag auf Genehmigung von Rüstungsexporten nach Griechenland abgelehnt. Als hätten wir nie von einer Euro-Krise gehört, ist Griechenland auch 2010 weltweit der größte Importeur deutscher Rüstungsgüter. ({5}) Im März 2010, als wir zeitgleich im Deutschen Bundestag das erste Mal Finanzhilfen für Griechenland debattierten, verkaufte ThyssenKrupp ({6}) Griechenland zwei weitere U-Boote im Wert von 1,3 Milliarden Euro. Die Bundesregierung selbst verkaufte zu diesem Zeitpunkt noch ausgesonderte Panzerhaubitzen der Bundeswehr für 10 Millionen Euro an Griechenland. Dabei fordert der Gemeinsame Standpunkt der EU für Waffenausfuhren, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Empfängerlandes zu berücksichtigen. Gerade die Bundesregierung, damals schon mit 25 Milliarden Euro größter einzelner Kreditgeber, hätte wissen müssen, dass sich Griechenland die - pro Kopf gerechnet - größte Armee Europas nicht ansatzweise leisten konnte. Als Konsequenz fordern wir Grünen in unserem Antrag, dass der Gemeinsame Standpunkt der EU auch auf Rüstungsexporte innerhalb der EU konsequent angewandt wird. ({7}) Insgesamt bestehen erhebliche Defizite bei der Transparenz und den Möglichkeiten öffentlicher Kontrolle der Rüstungsexporte. Die Bundesregierung gibt ihre Gründe für einzelne Exportgenehmigungen grundsätzlich nicht preis, sondern entscheidet geheim im Bundessicherheitsrat. Auf diesem Weg ist Deutschland zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt geworden. Das darf nicht so bleiben. ({8}) Die Forderung der Linken nach einem Handelsverbot für sämtliche Rüstungsgüter scheint mir doch sehr davon geprägt, dass die Linke nicht wirklich damit rechnet, ein solches Verbot praktisch umsetzen zu müssen. Uns Grünen ist vor allem mehr parlamentarische Kontrolle der Rüstungsexporte wichtig. Der Bundestag muss in die Genehmigungsverfahren einbezogen werden. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Keul, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer zu?

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Keul, ist Ihnen bekannt, dass in den vergangenen zwei Jahren Deutschland die höchsten Rüstungsexporte hatte und dass diese Tatsache aus Aufträgen resultiert, die während der rot-grünen Regierungszeit genehmigt worden sind? Wie erklären Sie diesen Sinneswandel? ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn das so gewesen ist, müssen wir das ändern. ({0}) Der unter grüner Regierungsbeteiligung - das ist ein wichtiger Punkt - eingeführte jährliche Rüstungsexportbericht wird viel zu spät vorgelegt. Wir fordern in unserem Antrag die Vorlage dieses Berichtes parallel zum Abrüstungsbericht im Frühjahr. ({1}) Die Zahlen liegen allesamt bereits vor. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, die Vorlage des Berichtes über Monate hinauszuzögern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Keul, jetzt müssen Sie bitte auf die Zeit achten.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Weitere konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Kontrollmechanismen sind in Arbeit. Sie sind alle herzlich eingeladen, daran mitzuwirken. Lassen Sie uns gemeinsam für eine restriktive und für eine an der Friedenspolitik ausgerichtete Rüstungskontrolle Sorge tragen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich die Debatte schließe, verweise ich all diejenigen, die im Moment ein wenig aufgeregt sind, auf § 27 unserer Geschäftsordnung, der das Thema Worterteilung und Wortmeldung, darin auch Kurzinterventionen und Zwischenfragen, zum Inhalt hat. In der nächsten Sitzungswoche können wir dann sicher entsprechend wieder in die Debatte einsteigen. Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Petra Pau Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5039 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 4: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1627, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1167 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Gemeinsamer Standpunkt der EU für Waffenausfuhren auch bei Rüstungsexporten an EU-, NATO- und NATOgleichgestellte Länder konsequent umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3291, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2438 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungspunkt 31 abzusetzen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. März 2011, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.