Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich. Mitteilungen gibt es diesmal nicht,
sodass wir gleich in unsere Tagesordnung einsteigen
können.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Steffen
Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Werner Simmling, Ernst Burgbacher, Sibylle
Laurischk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf,
Christian Lange ({2}), Rainer Arnold,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Ausbau der Rheintalbahn als Modell für
Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn
durch offene Planung beseitigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintal-
bahn auf der Basis des Prognosehorizontes
2025 planen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rheintalbahn - Modellprojekt für anwoh-
nerfreundlichen Schienenausbau
- Drucksachen 17/4861, 17/4856, 17/3659,
17/2488, 17/4689, 17/5091 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Bilger
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Sabine Leidig, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutz vor Schienenverkehrslärm im Rheintal
und andernorts
- Drucksache 17/5036 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Kumpf, Gustav Herzog, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Winfried Hermann, Kerstin
Andreae, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rheintalbahn - Finanzierung und anwohnerfreundlichen Ausbau sicherstellen
- Drucksache 17/5037 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
({3})
- Ja, bei genauem Hinsehen erkennt man, dass auch hier
noch der eine oder andere fehlt. Das kann sich im Laufe
der Zeit noch vervollständigen.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Landesministerin Tanja Gönner das Wort.
({4})
Tanja Gönner, Ministerin ({5}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Abgeordnete!
({6})
Ich bin für die Möglichkeit, heute im Deutschen Bundestag sprechen zu können, sehr dankbar. Die zahlreichen
Anträge - ({7})
- Lieber Herr Friedrich, die Landesregierung vertritt bei
der Rheintalbahn die Interessen der Menschen.
({8})
Deswegen ist die Landesregierung bei solch einem wichtigen Thema im Bundestag vertreten.
({9})
Die zahlreichen Anträge aller Bundestagsfraktionen
zeigen, dass der Ausbau der Rheintalbahn nicht nur die
Menschen am Oberrhein bewegt, sondern dass dies ein
Projekt von viel weiter reichender Dimension ist.
Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat
sich von Anfang an klar und eindeutig für den viergleisigen Ausbau ausgesprochen, weil es eine der wichtigsten
Trassen von Nord nach Süd in Europa ist. Wir haben dabei aber stets eine Planung verlangt, die in gebotener
Weise Rücksicht auf Mensch und Umwelt nimmt. Land,
Region und Bürgerinitiativen fordern daher Hand in
Hand substanzielle Verbesserungen der Planungen der
Bahn. Das Thema Lärmschutz spielt dabei eine zentrale
Rolle.
Die Planungen zum Ausbau der Rheintalbahn zeigen
eines überdeutlich: Der gute Zweck allein genügt nicht;
es kommt auch darauf an, wie die unbestritten positiven
Zielsetzungen des Projekts vor Ort umgesetzt werden.
Mehr als 172 000 Einwendungen zwischen Offenburg
und Weil am Rhein sprechen eine deutliche Sprache. Die
Landesregierung hat deshalb gemeinsam mit dem Bundesverkehrsministerium mit dem Projektbeirat Rheintalbahn ein Forum geschaffen, das sich eingehend mit den
Wünschen und Forderungen der betroffenen Bevölkerung befasst. Hier beraten alle relevanten Akteure von
Bund, Bahn und Land sowie Vertreter der Regionen und
Bürgerinitiativen über die erforderlichen Verbesserungen der bisher von der Bahn vorgelegten Planungen und
die verschiedenen Alternativplanungen.
Im Projektbeirat und in seinen drei regional aufgegliederten Arbeitsgruppen, in denen insbesondere die
Regionen und die Bürgerinitiativen sehr intensiv einbezogen sind, hat sich gezeigt: Wenn alle Beteiligten an einem Tisch sitzen, ist auch in schwierigen und umstrittenen Fragen ein Konsens möglich. Der Projektbeirat hat
sich so als beispielgebende, moderne Form der Bürgerbeteiligung bewährt. In seiner Sitzung am 8. Februar
wurde auf diese Weise ein Fahrplan für die gemeinsame
Suche nach alternativen Lösungen und Verbesserungen
beim Ausbau der Rheintalbahn verabredet. Auf dieser
Basis wollen wir den offenen und lösungsorientierten
Dialog fortsetzen und besonders beim Lärmschutz Fortschritte erzielen. Ich glaube, man kann zu Recht sagen,
dass wir bereits am 8. Februar für bestimmte Bereiche
im Süden Lösungen gefunden haben, die in der Region
anerkannt und mitgetragen werden; dies war ein wichtiger Punkt.
({10})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die besten verfügbaren Prognosezahlen, nämlich diejenigen für das
Jahr 2025, zugrunde gelegt werden. Bei den weiteren
Planungen müssen menschen- und umweltschonende
Alternativen im Vordergrund stehen. Der Beginn von
Probebohrungen für einen Güterzugtunnel in Offenburg
zeigt symbolisch für die ganze Strecke, dass Bewegung
in diese Diskussion hineingekommen ist.
Er zeigt aber auch, dass die Landesregierung bereit
ist, hier Lasten zu übernehmen. Wir haben nicht nur Forderungen erhoben, sondern wir haben schon früh unsere
Bereitschaft signalisiert, einen namhaften finanziellen
Beitrag für die erforderlichen Verbesserungen der vorliegenden Antragsplanung der Bahn zu leisten. Ministerpräsident Stefan Mappus hat bei seiner Bereisung der
Rheintalbahn am 18. Februar 2011 nochmals bekräftigt:
Die Landesregierung ist bereit, die Lärmschutzmaßnahmen im Interesse der Anwohner, die nicht ohnehin, weil
planungsrechtlich zwingend, von der Bahn getragen
werden müssen, bis zur Hälfte mitzufinanzieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir reden
nicht nur darüber, sondern wir haben dazu in der mittelfristigen Finanzplanung ab 2013 jährlich 80 Millionen
Euro vorgesehen. Außerdem hat sich die Landesregierung bereit erklärt, sich an den Kosten für die vertiefenden Untersuchungen zum Güterzugtunnel in Offenburg
und zum Bereich der sogenannten Autobahnparallele
zwischen Offenburg und Riegel zu beteiligen. Wir haben
dieses Geld bereits zur Verfügung gestellt. Genau deswegen ist es möglich, dass die Probebohrungen erfolgen.
Wir unterhalten uns über einen Betrag von knapp
1 Million Euro, den das Land zur Verfügung stellt. Wir
sind dem Bund dankbar, dass er ebenfalls mitfinanziert.
({11})
Uns ist aber auch wichtig, dass Bund und Bahn ihrer
eigenen Verantwortung als Träger der Maßnahme nachkommen. Die Rheintalbahn ist ein Bedarfsplanprojekt
des Bundes, und der Bund hat sich gegenüber der
Schweiz verpflichtet, die Rheintalbahn abgestimmt mit
den Schweizer Großprojekten auszubauen. Das bedeutet
für uns als Land, dass Bund und Bahn mindestens die
Hälfte der Mehrkosten der erforderlichen Planungsverbesserungen tragen müssen.
Ministerin Tanja Gönner ({12})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für mich
nicht nachvollziehbar ist übrigens die widersprüchliche
Haltung der Grünen.
({13})
Auf Landesebene vertreten Sie, dass jede Mitfinanzierung des Landes an der Bundesschieneninfrastruktur
verfassungswidrig sei. Deshalb haben sich die Grünen
im Landtag bei einer namentlichen Abstimmung am
25. November 2010 gegen eine Mitfinanzierung des
Landes bei Lärmschutzmaßnahmen über den geltenden
Standard hinaus ausgesprochen.
({14})
- Herr Bonde, es ist nachweisbar, worüber die namentliche Abstimmung erfolgte.
({15})
Anträge sind bekanntermaßen öffentlich, und namentliche Abstimmungen helfen, zu sehen, wer sich wie verhalten hat.
({16})
Die Grünen haben sich dort dagegen ausgesprochen.
({17})
Und hier auf Bundesebene wird diese Mitfinanzierung
von Ihnen ausdrücklich gefordert. Wir könnten schon
heute nach Auffassung der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg die Bohrung für den Tunnel in Offenburg nicht finanzieren. Genau das tun wir aber, weil wir
Verantwortung für die Menschen übernehmen.
({18})
Wir machen es auch deswegen, weil wir der festen
Überzeugung sind und im Übrigen auch entsprechende
Gutachten auf unserer Seite haben, dass wir es tun dürfen. Deswegen geht von uns ein klares Signal an die
Menschen im Rheintal: Wir kennen unsere Verantwortung, und wir übernehmen sie - vom Bund über das
Land bis in die Region. Genau das ist ganz wichtig.
({19})
Der Ausbau der Rheintalbahn macht aber auch deutlich, dass die Rahmenbedingungen für einen umweltfreundlichen und nachhaltigen Schienenverkehr
teilweise modernisiert werden müssen. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, sollte deshalb der Schienenbonus schrittweise abgeschafft und sollten lärmabhängige
Trassenpreise eingeführt werden. Auf europäischer
Ebene muss das Thema Lärmgrenzwerte für Schienenfahrzeuge auch im Bestand intensiver angegangen werden, und die Umrüstung der Güterwagen mit lärmarmen
Verbundstoffbremssohlen ist voranzutreiben.
Alle Eisenbahngroßprojekte stehen vor ähnlichen
Problemen bei der Finanzierung, bei der Akzeptanz und
der oftmals sehr anspruchsvollen technischen Umsetzung. Wir können es aber schaffen, wenn alle an einem
Strang ziehen und ihrer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden. Dazu gehört auch, dass der Bund für planfestgestellte Maßnahmen wie zum Beispiel den Tunnel
in Rastatt genügend Geld für die Realisierung zur Verfügung stellt.
Für die Landesregierung von Baden-Württemberg
kann ich Ihnen versichern, dass wir in unseren intensiven Bemühungen um eine menschen- und umweltverträgliche Realisierung der Maßnahme nicht nachlassen
werden. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam mit der
Bevölkerung in Südbaden viel erreichen können, wenn
wir weiterhin so konstruktiv zusammenstehen, wie das
in der Vergangenheit der Fall war, und genau das wollen
wir. Die Rheintalbahn ist ein gutes Beispiel dafür, dass
man gemeinsam viel erreichen kann. Wir wollen diesen
Weg fortsetzen. In diesem Sinne herzlichen Dank an die
Regierungsfraktionen für die Unterstützung für das Land
Baden-Württemberg. Ich hoffe, dass wir uns weiterhin
darauf verlassen können. Ich bin mir da ganz sicher.
({20})
Herzlichen Dank.
({21})
Herr Kollege, das geht nicht von Ihrer Redezeit ab.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Florian Pronold für
die SPD-Fraktion.
({1})
So viel Vorapplaus habe ich vonseiten von SchwarzGelb noch nie bekommen. Ich bedanke mich sehr herzlich dafür.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Frau Ministerin, erst am Ende Ihrer
Rede haben Sie von Gemeinsamkeiten gesprochen. Ihre
ganze Rede hingegen haben Sie als Wahlkampfrede inszeniert.
({1})
Das ist schade; denn bei der Rheintalbahn hätte man tatsächlich Gemeinsamkeiten finden können. Wer sich die
Anträge anschaut, die von CDU/CSU und FDP einer11116
seits und SPD und Grünen andererseits vorgelegt wurden, der muss sehr genau lesen, um Unterschiede zu finden. Es gab die Möglichkeit, hier einen gemeinsamen
Antrag vorzulegen. Ich glaube, das wäre im Interesse der
Menschen vor Ort gewesen.
({2})
Die Rheintalbahn ist ein Infrastrukturgroßprojekt, bei
dem wir es mit einer besonderen Situation zu tun haben.
Bei dem Projekt Rheintalbahn besteht die Chance, einen
Infrastrukturkonsens herbeizuführen. Der Projektbeirat,
den Wolfgang Tiefensee eingerichtet hat, ist ein gutes Instrument, um die unterschiedlichen Anliegen einzubinden, ernst zu nehmen - dabei geht es auch um die Anliegen der Betroffenen vor Ort - und besser zu
berücksichtigen, als das bisher bei vielen anderen Großprojekten geschehen ist.
Ich glaube, es ist notwendig, dass ein Konsens im Bereich der Infrastruktur in Zukunft anders organisiert wird
als in der Vergangenheit. Die vorgebrachten Anliegen
müssen früher und besser eingebunden und tatsächlich
berücksichtigt werden. Spannend ist doch die Frage, ob
die Umsetzung auch tatsächlich erfolgt. Wenn man
große Infrastrukturprojekte umsetzen will, gehört der
Lärmschutz aus meiner Sicht unabdingbar dazu. Drehund Angelpunkt ist die Frage, ob man es mit dem Lärmschutz ernst meint.
Dabei geht es auch um den sogenannten Schienenbonus. Das ist der Bonus, der bis heute für Infrastrukturprojekte im Bereich Schiene gilt, wenn es darum geht,
wie viel Lärm abgesondert werden darf. Schwarz-Gelb
hat im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass dieser
Bonus abgeschafft werden soll. Angesichts dessen wäre
es hier und heute doch ein guter Zeitpunkt für die Koalitionäre, zu sagen: Die Rheintalbahn ist das erste Projekt,
bei dem der Schienenbonus nicht mehr gilt; für die Menschen, die an der Bahnstrecke wohnen, gelten die gleichen Lärmgrenzwerte wie für alle anderen Menschen
auch. Es wäre doch nichts einfacher, als das heute hier
zu verkünden.
({3})
Die zweite Frage, die man stellen muss, lautet: Wie
wird das Ganze finanziert? Natürlich ist das eine Kostenfrage; das haben wir auch heute wieder gehört. Jeder, der
sich mit größeren Infrastrukturprojekten beschäftigt und
fragt, was bessere und bürgernähere Varianten unter Umständen kosten, muss zum Schluss auch die Frage beantworten, wer das bezahlen soll.
Hier ist doch ganz offensichtlich, dass wir eine ganze
Menge mehr Geld brauchen, als bisher im Topf ist, wenn
wir die vielen unterschiedlichen und guten Vorstellungen
der Bürgerinnen und Bürger umsetzen wollen, die natürlich ein Recht darauf haben, an dieser Strecke besonders
vor Lärm geschützt zu werden.
Es ist eine Besonderheit bei diesem Projekt, dass eigentlich von allen, die daran beteiligt sind, akzeptiert
wird, dass diese zentrale Güterverkehrsstrecke gebraucht
wird und ausgebaut werden muss. Das ist ja nicht bei allen Großprojekten so. Umso wichtiger ist es doch, dass
wir dort alles tun, damit die Anwohnerinnen und Anwohner vor unnötigem Lärm geschützt werden.
Wie kann man das insbesondere mit Blick auf die Finanzen zusichern? In diesem Zusammenhang stelle ich
die Frage an die Regierungskoalition, wie sie das machen will. Sie haben gerade beschlossen, dass die Einnahmen aus der Lkw-Maut nicht mehr zu einem Drittel
in die Schiene fließen. Das bedeutet, dass der Bereich
Schiene in den nächsten Jahren hinsichtlich der Finanzierung immer stärker unter Druck geraten wird, weil
natürlich die Schuldenbremse und andere Auswirkungen
der Haushaltskonsolidierung viel stärker auf den Bereich
Schiene durchschlagen als auf jeden anderen.
Sie haben in diesem Hause beschlossen, dass die
Deutsche Bahn jedes Jahr 500 Millionen Euro ihrer Dividende an den allgemeinen Bundeshaushalt abgeben
soll. Das sind 500 Millionen Euro, die dann vor Ort für
Lärmschutzmaßnahmen fehlen. Da braucht man sich
nichts vorzumachen. Sie von Schwarz-Gelb reden von
mehr Lärmschutz, aber Ihre praktischen Handlungen
sind das genaue Gegenteil.
({4})
Das werden die Bürgerinnen und Bürger schließlich
merken, wenn auch erst lange nachdem die Reden hier
gehalten wurden. Wenn man jedoch einen Infrastrukturkonsens erreichen will, gehört deshalb dazu, dass man
die Rahmenbedingungen klar und ehrlich benennt und
die Frage nach der notwendigen Finanzierung beantwortet, mit der ein besserer Anwohnerschutz der Betroffenen im Rheintal gewährleistet ist.
In diesem Zusammenhang wäre es an der Zeit, zu sagen: Was tun wir insbesondere mit Blick auf die Güterzüge, die durchs Rheintal fahren, europaweit für den
Lärmschutz? Es reichen doch schon zwei oder drei Güterwaggons aus, die nicht über einen bestimmten Standard verfügen, um eine entsprechende Lärmentwicklung
hervorzubringen. Warum wird nicht viel stärker auf eine
Initiative auf europäischer Ebene hingewirkt, die modernere, leisere Güterzüge zum europäischen Standard erklärt?
({5})
Deutschland hat das Hauptinteresse an einer solchen Initiative, weil der Großteil des Güterverkehrs auf unseren
Schienen rollt.
Deswegen, sehr geehrte Damen und Herren von
Schwarz-Gelb: Nicht an den Worten, an den Taten sollt
ihr sie erkennen. Wenn es tatsächlich einen Infrastrukturkonsens in der Frage „Rheintal“ geben sollte, warum haben Sie dann einen gemeinsamen Antrag verweigert,
und warum stellen Sie nicht heute die Mittel zur Verfügung, sodass es zu einem echten Lärmschutz vor Ort
kommen kann? Von Ihnen kommt leider nur Wahlkampfgetöse.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Patrick Döring für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem auch dieser Versuch, Gemeinsamkeiten herauszustellen, gescheitert ist, will ich einen Versuch wagen, deutlich zu machen, dass wir in der Sache in Wahrheit gar nicht so weit auseinander sind.
Ihnen, sehr geehrter Herr Kollege Pronold, fällt es
einfach schwer, anzuerkennen, dass die wesentlichen
Fortschritte bei den Verbesserungen der Planungen, den
Zusagen für mehr Lärmschutz, der Veränderung des
technischen Regelwerkes für Schienenbonus und lärmabhängige Trassenpreise in dieser Wahlperiode von dieser Koalition, von diesen Koalitionsfraktionen und diesem Ministerium umgesetzt werden. Deshalb lassen wir
uns an den Taten messen, geschätzter Kollege Pronold,
geschätzte Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Die Planungen zur Rheintalbahn sind in diesem
Hause lang und umfänglich kritisch diskutiert worden.
Es ist dem Engagement der Kolleginnen und Kollegen
aus der Region - das sage ich ausdrücklich: aller Fraktionen - zu verdanken, dass wir heute so weit sind, wie
wir sind, und zwar ohne großen Streit und ohne hektische ideologische Auseinandersetzungen.
Es ist dem Engagement der Kolleginnen und Kollegen in den Koalitionsfraktionen zu verdanken, dass der
Einfluss der Diskussion vor Ort - auch über lärmabhängige Trassenpreise und Schienenbonus - so groß war,
dass wir das bereits in die Koalitionsvereinbarung als
Ziel für diese Wahlperiode aufgenommen haben. Der
Dank gilt auch den Bürgerinitiativen vor Ort, die immer
eine gute Debatte mit uns geführt haben. Wir haben am
Ende gesehen, dass dies ein richtiger Weg ist, um die
Akzeptanz von neuen Schienenwegen zu erhöhen. Darum machen wir das.
({1})
Ich will für die Freien Demokraten drei Punkte festhalten. Kollege Pronold hat angemahnt, man solle schon
jetzt die Finanzierungszusage für die erhöhten Standards
hier im Deutschen Bundestag festlegen. Ich habe eine
schlichte und einfache Antwort darauf. Wir haben bei
allen Infrastrukturprojekten die Reihenfolge: Planung,
Planfeststellung, Finanzierungsvereinbarung. Noch nie
sind vor Beendigung von Planfeststellungsverfahren Finanzierungsvereinbarungen getroffen oder gar Finanzierungszusagen durch die Bundesregierung gemacht und
vom Haushaltsausschuss akzeptiert worden.
({2})
Allein schon die Parlamentarierwürde gebietet es, als
Haushaltsgesetzgeber zu warten, bis man weiß, was gebaut werden soll, bevor man entscheidet, dass gebaut
werden soll. Das ist die richtige Reihenfolge, und deshalb warten wir die Planungen mit und ohne Schienenbonus ganz in Ruhe ab und werden dann sicher auch die
richtigen Entscheidungen treffen.
({3})
Es ist ein gewaltiger Erfolg des Projektbeirates, dass
die Bundesregierung und die Landesregierung in BadenWürttemberg am 8. Februar 2011 im Projektbeirat zusagen konnten, dass die Planungen für die neuen Abschnitte sowohl mit als auch ohne Schienenbonus erfolgen. Das ist eine historische Situation. Es hat noch nie
ein Eisenbahnprojekt mit Planungen ohne Schienenbonus gegeben. Das ist der Einstieg in den schrittweisen
Abbau des Schienenbonus. Es ist klug, dass diese Zusage am 8. Februar 2011 erfolgte, und zwar lange bevor
gesetzliche Regelungen dazu vorliegen konnten. Deshalb hat diese Vereinbarung Modellcharakter. Dies wünschen sich auch viele andere vor Ort - jedenfalls nach
Auffassung der Koalitionsfraktionen.
({4})
Lassen Sie mich abschließend auf die Punkte eingehen, die über diese Strecke hinaus eisenbahnpolitische
Bedeutung haben. In Baden-Württemberg ist in den letzten zwölf Monaten über zwei Eisenbahnprojekte heftig
diskutiert worden, wenn auch an einer anderen Stelle
deutlich kontroverser. Ich teile die Auffassung des Kollegen Pronold, dass die Lehren, die wir aus dem anderen
eisenbahnpolitischen Projekt, aber auch aus dem Projekt
Rheintalbahn zu ziehen haben, sind, dass wir unser Planfeststellungsrecht erweitern müssen, um die betroffenen
Bürgerinnen und Bürger bei der Erweiterung unserer
Verkehrswege, insbesondere unserer Schienenwege,
frühzeitig einzubinden.
Diese Einbindung müssen wir, nicht um die Planungsprozesse zu verlangsamen, sondern um sie am
Ende zu beschleunigen, in unserem Gesetz verankern.
Diesbezüglich sollten wir alsbald - ganz im Sinne der
gestrigen Debatte - tätig werden. Dieses Ziel sollte uns
einen.
({5})
Es ist ein Ergebnis der Besprechungen im Rheintal
und an anderer Stelle, dass es klug ist, lärmabhängige
Trassenpreise zu erheben. Das ist der schnellere und einfachere Weg, als darauf zu warten, dass es ein europaweites Förderprogramm für Hunderttausende von Güterwagen gibt. Wenn es auch nur einen lauten Waggon in
einem Güterzug gibt, ist die Gesamtlärmbelastung hö11118
her; da haben Sie völlig recht. Deshalb ist es gut, die
Verlader - also diejenigen, die Güterzüge in Verkehr
bringen - über die Preise der Benutzung des deutschen
Schienennetzes dazu anzuhalten, leises und modernes
Material einzusetzen, und mit den Mehreinnahmen, die
wir damit generieren können, zusätzlichen Lärmschutz
zu finanzieren. Das ist der richtige Weg.
({6})
Als Koalitionsfraktionen haben wir die Bundesregierung aufgefordert - das macht deutlich, dass wir hinsichtlich der Umsetzung unseres Koalitionsvertrages ein
Stück weit ungeduldig geworden sind -, bis zum Jahr
2012 den schrittweisen Abbau des Schienenbonus bis zu
seiner endgültigen Abschaffung gesetzlich zu verankern.
Es ist der Wunsch dieser Koalition, dies ins Gesetzblatt
zu bekommen. Wir werden die Bundesregierung dazu
anhalten, dies bis 2012 umzusetzen.
({7})
Ich sage auch voraus: Wenn in der Bundesregierung, insbesondere im Bundesfinanzministerium, gelegentlich
die Widerstände zu groß werden, dann wird diese Koalition notfalls einen eigenen Gesetzentwurf zu dieser Sache einbringen.
({8})
Für die Freien Demokraten und für die Christdemokraten sage ich ausdrücklich: Es ist planungsbeschleunigend und gut für die Menschen, dass die Landesregierung von Baden-Württemberg, gebildet aus CDU und
FDP, gemeinsam mit der Bundesregierung, gebildet aus
CDU/CSU und FDP, hier Kofinanzierungsinstrumente
gefunden hat. Das dient dem Wohle der Menschen, der
Verbesserung und Beschleunigung der Planung und der
schnelleren Umsetzung dessen, was die Menschen wünschen: die Realisierung dieser wichtigen Schienenstrecke einerseits und größtmöglichen Lärmschutz andererseits. Dabei werden wir sie unterstützen.
Abschließend möchte ich mit einem einzigen Satz auf
die Finanzierungsfrage kommen - Herr Präsident, ich
bitte um Nachsicht -: Die Deutsche Bahn AG wird einen
Bilanzgewinn von etwa 3 Milliarden Euro für das Geschäftsjahr 2010 ausweisen. Wer dann hier behauptet,
geschätzter Kollege Pronold, dass die Dividende von
500 Millionen Euro an den Hauptaktionär Bund die Investitionskraft dieses Unternehmens schwächen würde,
({9})
der handelt wider besseres Wissen und gegen jede ökonomische Vernunft. Es bleibt genug Bilanzgewinn übrig,
um zusätzliche Investitionen auszulösen. Dafür werden
wir sorgen.
Vielen Dank.
({10})
Die Kollegin Karin Binder ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig,
mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Das sehen auch
die Menschen am Oberrhein so. Deshalb treten sie dafür
ein, dass die Rheintalbahn um ein drittes und viertes
Gleis ergänzt wird, und zwar für den Güterverkehr. Die
Menschen dort brauchen keine Hochgeschwindigkeitstrasse, wie die Bahn sie nach wie vor in der Planung
hat, sie brauchen einen funktionierenden Personennahverkehr.
Das haben sie auch in den Projektbeirat eingebracht,
der nach heftigen Protesten eingerichtet wurde. Hier
sieht man, wie wichtig Bürgerbeteiligung ist. Die Kompetenz und das Fachwissen, die von den Initiativen und
den Umweltverbänden eingebracht wurden, haben zu einem Nachdenken über Landschaftsverbrauch und über
die Existenzsicherung der dortigen Landwirte geführt.
Das und einiges mehr haben ich und meine Fraktion von
den Menschen dort erfahren. Darüber haben wir mit den
Initiativen, mit Bürgermeistern, mit Ratsvertreterinnen
und -vertretern diskutiert. Das ist für mich der beste Beweis dafür, wie wichtig diese Beteiligung ist.
Deshalb gehe ich davon aus, dass wir als Politikerinnen und Politiker solche Institutionen wie den Projektbeirat künftig verankern und dessen Ausgestaltung verbindlich regeln müssen. Die Beteiligungsrechte müssen
definiert werden. Es darf nicht so sein, dass die Menschen erst etwas einbringen und die Politiker dann
schauen, ob man es macht oder nicht; es muss verbindlich geregelt werden. Das ist für mich Bürgerbeteiligung.
Das haben wir als Politikerinnen und Politiker auf den
Weg zu bringen.
({0})
Inzwischen rasen auf der bestehenden Strecke, der alten Rheintalstrecke, mehr als 150 Güterzüge pro Tag. Sie
donnern tagsüber mit 80, nachts mit 100 oder 120 Kilometern in der Stunde durch die Ortschaften bzw. an ihnen vorbei. Das erzeugt in den Wohngebieten Lärm von
mehr als 100 Dezibel pro Zug. Die Häuser stehen an einigen Stellen nur 15 oder 25 Meter von den Schienen
entfernt. Auch dort sind noch 90 bis 95 Dezibel Lärm zu
messen. Fast 500 Menschen in der Belchenstraße im Entennest in Herbolzheim haben jede Nacht an die 80 Güterzüge, die jeweils 90 bis 95 Dezibel erzeugen, zu ertragen.
Man weiß, dass Menschen bereits ab einer Lärmbelastung von 45 Dezibel krank werden. Daher kann man
sich vorstellen, was die Menschen dort auszuhalten haben. Lärm macht krank. Er fördert Krebs und HerzKreislauf-Erkrankungen. Lärm schädigt das Immunsystem und das Gehör. Lärm erzeugt Stress, und Stresshormone erzeugen Bluthochdruck und Magengeschwüre.
Kinder werden durch Lärm in ihrer Entwicklung behinKarin Binder
dert. Das wirkt sich häufig auf ihre kognitiven Fähigkeiten aus, sodass sie nicht richtig lernen können.
Um all diese Auswirkungen zu vermeiden, müssen
wir den Lärm reduzieren, und zwar bald - nicht erst,
wenn die neue Strecke gebaut ist, sondern schon jetzt auf
der bestehenden Strecke. Schallschutzfenster oder
5 Meter hohe Schallschutzwände verhindern nicht, dass
die Menschen krank werden. Die Entstehung von Lärm
muss vermieden werden: durch modernen Gleisbau,
durch modernen Waggonbau. Auch die Bestandsstrecken und die alten Waggons müssen dringend nachgerüstet werden. Ich glaube, dass man damit nicht warten
darf, bis Planfeststellungsverfahren abgeschlossen sind
und Ähnliches. Die Strecke ist jetzt zu laut, und dieses
Problem muss jetzt angegangen werden, zumindest in
den Bereichen, wo Menschen wohnen.
({1})
Schon deshalb sind das dritte und vierte Gleis am Oberrhein für den Güterverkehr dringend notwendig.
Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Die Güterzüge
rasen ungebremst durch kleine Bahnhöfe wie Bad Krozingen, Kenzingen und Herbolzheim. Manchmal sind
die Bahnsteige nur 2,5 Meter breit bzw. schmal. Diese
kleinen Bahnhöfe sind für die Menschen in der Region
wichtige Haltestellen: für den ÖPNV, für Kinder und Jugendliche auf dem Weg zur Schule, für viele auf dem
Weg zur Arbeit. Die Menschen können nicht warten, bis
endlich irgendwann einmal die neuen Gleise liegen.
Man rechnet damit, dass sich der Güterverkehr bis
2025 verdoppelt, dass dann also mehr als 300 Güterzüge
am Tag durch diese Bahnhöfe rasen. Wenn Güterzüge
durch diese Bahnhöfe fahren, muss zumindest das
Tempo gedrosselt werden. Sie rasen dort bisher ungebremst durch. Da passieren schreckliche Unfälle. Der
letzte ereignete sich am letzten Sonntag. Ein junger
Mann ist tödlich verunglückt. Er ist von einem Zug erfasst worden.
({2})
Gerade Güterzüge entwickeln durch ihre unterschiedlich gebauten Waggons Luftverwirbelungen. Sie entwickeln eine ungeheure Sogwirkung. Kinderwagen, die am
Bahnsteig stehen, werden mitgerissen, Koffer selbstverständlich auch. Alte Menschen, Behinderte, Kinder haben keine Chance, wenn sie in den Sog dieser Züge geraten. Hier ist viel zu tun, und zwar gleich, nicht erst, wenn
planfestgestellt ist bzw. wenn irgendwann einmal die
neue Strecke besteht.
Das Heimtückische ist: Diese Züge kommen leise an.
Man hört sie erst, wenn sie schon da sind. Da helfen
auch Anzeigetafeln nicht. Ein sehbehinderter Mensch
kann eine Anzeigetafel nicht lesen. Wir brauchen die
Durchsagen, die auch früher auf Bahnsteigen zu hören
waren: „Vorsicht, ein Zug fährt durch!“ Aber die Bahn
hat in den vergangenen Jahren jährlich 15 000 Mitarbeiter eingespart. Daran erkennt man: Hier werden Kosten
gespart, hier wird an der Sicherheit gespart, und hier
wird bei den Menschen gespart. Das muss aufhören.
({3})
Frau Kollegin.
Durch Projekte wie Stuttgart 21 wird uns das notwendige Geld genommen, um hier für Sicherheit und Lärmschutz zu sorgen. Sorgen Sie heute dafür, dass sich das
ändert, und stimmen Sie unseren vorliegenden Anträgen
zu.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Winfried Hermann für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger im Rheintal, wir
wissen, dass Sie heute sehr aufmerksam auf diese Debatte schauen; denn sie ist auch Ihre Debatte. Sie haben
jahrelang beharrliche Überzeugungsarbeit vor Ort geleistet. Sie haben viele Abgeordnete eingeladen. Sie haben uns klargemacht, dass im Rheintal so nicht weitergebaut werden kann. Insofern: Herzlichen Dank für Ihr
Engagement, mit dem Sie diese Debatte ermöglicht haben!
({0})
Die Botschaften, die wir im Rheintal vernehmen
konnten, waren sehr eindeutig.
Die erste Botschaft lautet: Wir wollen, dass der Schienenverkehr im Rheintal ausgebaut wird. Wir erkennen
an, dass es notwendig ist, diese Kapazitäten zu schaffen.
Wir brauchen eine Verlagerung, gerade weil es einen
Staatsvertrag mit der Schweiz gibt, den wir erfüllen
müssen. Deswegen ist das wichtig.
Die zweite Botschaft lautet: Wir stehen zum Ausbau,
aber so nicht. Es kann nicht sein, dass laute Güterzüge
weiterhin mitten durch Ortschaften donnern, ohne Rücksicht auf die Anwohnerinnen und Anwohner. Das kann
so nicht weitergehen.
({1})
Sie haben auch deutlich gemacht, dass es ihnen nicht
hilft, wenn wir meterhohe Mauern durch die Orte bauen.
Denn diese Mauern zerstören den Charakter der Orte.
Diese Art von Lärmschutz hilft insofern nicht weiter. Sie
macht viel kaputt, und davon sollten wir Abstand nehmen.
Wir müssen, wie wir finden, grundsätzlich umplanen.
Das hat inzwischen übrigens auch das Regierungspräsidium Freiburg anerkannt. Ich betrachte es als einen Meilenstein in der Bahnplanungsgeschichte, dass es ein Regierungspräsidium gewagt hat, die Planungen der Bahn
als vollkommen inakzeptabel und falsch zurückzuweisen.
({2})
Ich finde, die ganze Geschichte ist insofern positiv,
als sie ein Beispiel für eine lebendige Zivilgesellschaft
ist, in der sich Bürgerinnen und Bürger, Gemeinderäte
und Bürgermeister eingemischt und gesagt haben: Wir
akzeptieren nicht, was von oben kommt. Wir haben Vorschläge. - Sie haben wirklich machbare Vorschläge ausgearbeitet, und auch das ist ein schönes Beispiel dafür,
dass nicht alles, was von oben kommt, gut ist, sondern
dass manchmal das, was von unten wächst, das Bessere
ist.
Das Rheintal-Projekt ist aus meiner Sicht auch ein
Beispiel für völlig veraltete obrigkeitsstaatliche Bahnplanung. Jahrelang hat man gesagt: Da wollen wir durch.
Dafür suchen wir die die günstigste und billigste Trasse,
und dann werden wir das durchziehen. - Ich war viele
Jahre im Rheintal aktiv, wo mir die Bürgerinnen und
Bürger gesagt haben: Die hören nicht auf uns, die machen einfach weiter.
Ich selber habe viele Gespräche mit Ministern verschiedener Regierungen sowie Koalitionspartnern geführt. Es gab immer und immer wieder Einwände wie
diese: Wir können doch nicht anders. Wir müssen so
vorgehen. - Insofern ist das ein gutes Beispiel für Lernunfähigkeit. Lange Zeit hat man nicht begriffen, dass
man nicht gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger
Schienenwege ausbauen kann.
Man hat übrigens auch keinen Erfolg gehabt. Das
ganze Projekt läuft nun seit mehr als 25 Jahren, und dies
liegt nicht daran, dass es schon seit 25 Jahren Bürgerproteste gibt. Vielmehr liegt es an 25 Jahren dilettantischer
Planungen, stümperhafter Formen des Ausbauens und
keiner konsequenten Finanzierung. All das hat dazu geführt, dass wir heute sagen müssen: Wir werden es nicht
schaffen, bis 2018 fertig zu sein, und es ist bitter, dass
wir in Deutschland zugeben müssen, dass wir nicht in
der Lage sind, einen Vertrag, den wir vor vielen Jahren
abgeschlossen haben, einzuhalten. Das finde ich ein
Stück weit beschämend. Das muss sich ändern, und das
muss eine Lehre aus diesem Projekt sein. Wir müssen es
zukünftig anders machen.
({3})
Anders machen, anders planen heißt aber, wirklich
umzuplanen. Es geht nicht nur um ein bisschen Lärmschutz. Beispielsweise sind wir in Offenburg gezwungen, von der Trasse Abstand zu nehmen und unter die
Erde zu gehen. Wir müssen schauen, dass wir damit
nicht wieder das nächste Problem schaffen. Deswegen
muss auch diese Umplanung anwohnerfreundlich und im
Konsens mit der Kommune vorgenommen werden.
({4})
Wir gehen in unserem Grünenantrag noch weiter. Wir
sagen: Auch südlich von Offenburg müssen wir über alternative Trassenführungen nachdenken. Die autobahnnahe Trasse wird auf der Strecke dort die bessere Alternative sein als der Versuch, die Trasse durch die Orte zu
führen und lediglich die Lärmschutzwände zu erhöhen.
Das ist unser Ansatz. Dafür werben wir um Unterstützung.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist tatsächlich so, dass
heute viele Anträge vorliegen; es war fast ein Wettbewerb seitens der Antragsteller. Es gibt inzwischen auch
viele Gemeinsamkeiten. Das empfinde ich als einen großen Fortschritt. Denn das war nicht immer so. Ich anerkenne wirklich, dass alle Fraktionen sagen: Wir wollen
weg von den alten Plänen. Wir wollen den Ausbau bürgerfreundlich gestalten. Wir wollen den Prognosehorizont 2025 endlich anerkennen. - Man muss es sich einmal vor Augen halten: Jahrelang haben wir darum
gestritten, dass er gilt. Man hat mit einem Prognosehorizont geplant, obwohl man wusste, dass man bis dahin
mit dem Bau der Strecke noch gar nicht fertig sein wird.
Dieser Aspekt ist ziemlich wichtig.
Darüber hinaus geht es darum, dass wir nicht nur
Lärmschutzwände bauen, sondern innovative Lärmschutzmaßnahmen ergreifen. Wir brauchen so schnell wie
möglich lärmabhängige Trassengebühren; diese wollen
übrigens alle. Das ist ein echter Fortschritt, und insofern
sage ich „Danke schön“ an das Bürgerengagement. Denn
dieses hat uns dazu in den Fraktionen getrieben.
({6})
Neben den Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede. Das war letztendlich auch der Punkt, weshalb
man sich nicht auf einen gemeinsamen Antrag verständigen konnte. Wir sollten uns da nicht den Schwarzen
Peter zuschieben. Natürlich gibt es unterschiedliche Ansätze und auch unterschiedliche strategische Interessen.
Die Opposition wollte eine klare eigenständige Position - die Regierungskoalition natürlich auch. Wir hätten
uns auf einen gemeinsamen Antrag verständigen müssen. Das ist allerdings nicht gelungen. Das wäre auf Augenhöhe gewesen, aber das hat die Koalition nicht angeboten.
Nun, worin besteht die Differenz? - Zum Schienenbonus schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass dieser ab
2012 nicht mehr gelten soll. Da sind wir misstrauisch.
Denn in einem Jahr kann man noch viel Falsches beschließen. Wir wollen daher, dass er sofort gilt.
Wir haben in unserem Papier sehr eindeutig gesagt,
dass wir eine klare Finanzierungskonzeption wollen. Es
genügt nicht, einfach zu sagen, wir wollen das Gute,
während alles unter einem Haushaltsvorbehalt steht. So
kommen wir nicht mehr weiter. Das ist lange genug
schiefgegangen.
Wir haben auch eindeutig gesagt: Wenn man dort ein
Modellprojekt will, dann darf man nicht nur prüfen, was
man im Rahmen eines Modellprojekts tun kann, sondern
dann muss man dort tatsächlich ein Modellprojekt mit
allen innovativen Formen des Klimaschutzes und allen
Formen neuer Bürgerbeteiligung realisieren. Es geht
eben um eine neue Art von Planungs- und Baukultur.
Das ist unser Vorschlag.
Letzter Punkt. Es geht um den Dauerangriff vor allem
der CDU in Bezug auf die Finanzierung. Frau Gönner,
wir Grünen haben im Landtag nicht gesagt, dass sich das
Land daran nicht beteiligen soll, sondern wir haben deutlich gemacht: Es ist nach unserer Einschätzung verfassungswidrig, wenn sich das Land Priorisierungen beim
Bund dadurch erkauft, dass es Milliarden auf den Tisch
legt.
({7})
Diese Art von Mischfinanzierung lehnen wir ab, weil
wir sie für verfassungswidrig halten.
({8})
Wir haben einen Antrag abgelehnt, der viele kritische
Punkte enthielt, unter anderem eben auch diese Mischfinanzierung. Wir sagen in unserem gemeinsamen Antrag hier und in unserem eigenen Antrag sehr deutlich:
Ja, das Land soll sich beteiligen, und zwar an Lärmschutzmaßnahmen, die über das gesetzliche Niveau hinausgehen. Es ist keine Frage: Das Land muss sich daran
beteiligen. Das ist unser Ansatz.
Wir wollen aber nicht, dass es in verfassungswidriger
Weise zu Mischfinanzierungen kommt, sodass das Land
das finanziert, was eigentlich der Bund finanzieren
müsste. Das sagen Sie übrigens an vielen anderen Stellen selber. Ich verstehe nicht, warum Sie hier meinen,
uns vorführen zu müssen. Ich finde, das, was Sie da tun,
ist ziemlich billig.
({9})
Fazit: Wir müssen alles dafür tun, dass wir jetzt wirklich schnell zu einer besseren Planung kommen, wir
müssen alles für eine grundlegende Finanzierung dieses
Großprojektes tun, und wir müssen alles dafür tun, dass
wir nicht erst 2030 oder 2040 fertig werden, sondern
dass wir spätestens in 10, 15 Jahren auf dem dritten und
vierten Gleis im Rheintal fahren und wirklich einen Beitrag zum Klimaschutz im Verkehr geleistet haben.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort erhält jetzt der Kollege Steffen Bilger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie auch mir an dieser Stelle, zuerst einmal den Anwohnern entlang der Rheintalbahn zu danken. Sie engagieren
sich in Bürgerinitiativen und sind konstruktiv an der Lösung und nicht nur am so weitverbreiteten Denken an
den eigenen Kirchturm interessiert.
Bei all meinen Besuchen im Rheintal konnte auch ich
mich eindrücklich davon überzeugen, wie viel Verständnis die Anwohner für die ökonomische und ökologische
Notwendigkeit der Rheintalbahn haben. Oft wurde in
Gesprächen deutlich gemacht: Wir stehen zum Schienenverkehr und zur Rheintalbahn. Dabei muss man wissen, dass es durch das Bahnprojekt für die Menschen
dort, anders etwa als bei Stuttgart 21, im Prinzip fast nur
Nachteile gibt. Auch deshalb haben die Anwohner unseren Respekt für ihre positive Grundhaltung verdient.
({0})
Der Ausbau der Schienenstrecke im Rheingraben als
Zulauf zum Gotthard-Basistunnel ist genauso notwendig
wie die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße
auf die Schiene.
({1})!
Die Frage ist hier also nicht, ob ausgebaut wird, sondern
wie. Die ersten Überlegungen dazu sind für Mensch und
Umwelt in der Tat nicht akzeptabel gewesen.
({2})
Wir haben daraus und aus langjährigen Versäumnissen gelernt und fordern die Bundesregierung in unserem
Koalitionsantrag beispielsweise auf, den bereits seit Jahren planfestgestellten Raststatter Tunnel zu realisieren.
Wir brauchen solche und andere Maßnahmen, um die
notwendige Akzeptanz des Jahrhundertprojekts nicht zu
gefährden; denn eines ist klar: Die Menschen an der
Rheintalbahn oder woanders sind nicht mehr bereit, vermeidbaren Schienenlärm einfach so hinzunehmen. Das
ist verständlich und nachvollziehbar.
Wir von den Regierungsfraktionen nehmen die Sorgen der Menschen vor Ort sehr ernst - im Übrigen schon
lange und nicht nur in Wahlkampfzeiten. Seit Jahren sind
die direkt gewählten Abgeordneten entlang der Rheintalbahn für die Anlieger dort im Einsatz. Dabei können sie
sich auf die Unterstützung von uns Verkehrspolitikern
verlassen.
({3})
Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ist für uns
ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum verbesserten
Schutz von Mensch und Umwelt. Dazu haben wir schon
im Koalitionsvertrag von 2009 festgelegt, dass wir den
sogenannten Schienenbonus abschaffen werden. In dem
vorliegenden Antrag haben wir dieser Willensbekundung Taten folgen lassen.
Die Bundesregierung muss jetzt einen Gesetzentwurf
vorlegen, damit kein Unterschied mehr zwischen Lärm
durch Straßen- und Schienenverkehr gemacht wird.
Diese Forderung in unserem Antrag ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Denn bislang haben sich
keine Bundestagesmehrheit und keine Bundesregierung
so konkret an dieses Thema herangewagt.
({4})
Besondere Maßnahmen sind bei der Rheintalbahn
aufgrund ihrer Bedeutung und ihrer geografischen Lage
gerechtfertigt. Deshalb wollen wir diese Strecke faktisch
zu einem Modellprojekt für gelungene Streckenführung
und Antilärmmaßnahmen machen. Dabei geht es nicht
nur um Lärmbekämpfung, sondern auch darum, Lärm
erst gar nicht entstehen zu lassen. Hierzu sollen die möglichen technischen Innovationen eingesetzt werden. Zudem sollen als Anreiz für den Einsatz leiserer Fahrzeuge
lärmabhängige Trassenpreise obligatorisch werden.
Nun mögen die weitergehenden Forderungen des gemeinsamen Oppositionsantrags von Sozialdemokraten
und Grünen wünschenswert sein. Aber nicht alles, was
wünschenswert ist, ist auch möglich. In diesem Fall ist
es nicht etwa nicht möglich, weil wir es nicht wollen,
sondern weil wir keine Regelungen festschreiben können, die rechtlich nicht möglich sind, weil der Bund keinen direkten Zugriff auf die Planungen hat, und auch
weil wir nicht unbegrenzte Finanzzusagen machen können. Darin zeigt sich vielleicht der Unterschied zwischen
Regierungs- und Oppositionsfraktionen.
({5})
- Herr Pronold, nachdem Sie das in Ihrer Rede angesprochen haben, will ich einige Sätze dazu sagen. Herr
Hermann hat zu Recht davon gesprochen, dass die Menschen vor Ort nicht wollen, dass Schwarzer Peter gespielt wird. Aber wenn Sie sich die Mühe machen, unseren Antrag abzuschreiben, und ihn nur mit wenigen
Ergänzungen versehen,
({6})
dann frage ich mich, weshalb wir das am Dienstag so
beiläufig erfahren haben. Wir hätten Ihnen gerne das
Worddokument zur Verfügung gestellt, dann hätten Sie
es nicht extra abtippen müssen.
({7})
Frau Andreae, ich habe mich sehr über den Brief von
Ihnen und Herrn Bonde gefreut, den ich am Freitag erhalten habe. Wir haben das Gesprächsangebot angenommen, mussten allerdings feststellen, dass, nachdem wir
Bereitschaft signalisiert hatten, auf Ihre Punkte einzugehen, die Hürden so erhöht wurden, dass leider aus inhaltlichen und formalen Gründen heute kein gemeinsamer
Antrag zustande gekommen ist.
({8})
Wir jedenfalls brauchen uns mit unseren Leistungen
für die Rheintalbahn nicht zu verstecken. Wer den Stand
der Dinge von vor zwei Jahren mit der Situation heute
vergleicht, kann nur zu einem Schluss kommen: Die örtlichen Vertreter haben gemeinsam mit den Regierungen
auf Bundes- und Landesebene und mit der Deutschen
Bahn sehr viel für die Region erreicht. Dazu haben auch
wir als Bundestagsabgeordnete unseren Beitrag geleistet. Ich sage an dieser Stelle auch: nicht nur wir als Koalition, sondern durchaus auch Vertreter der Oppositionsparteien, wenngleich die Haltung der Grünen in
Baden-Württemberg zur Mitfinanzierung von mehr
Lärmschutz durch das Land sehr bedauerlich ist. Wir
schätzen die verfassungsrechtliche Lage in dieser Frage
anders ein.
Entscheidungen werden aber von denjenigen getroffen, die dazu die Verantwortung übertragen bekommen
haben. Das sind nun einmal Union und FDP. Bei uns
sind die Anliegen der betroffenen Menschen in guten
Händen.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Ute Kumpf von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorneweg: Wenn wir heute mit
unseren Positionen so nahe beieinanderstehen, dann ist
das nicht Ihr Verdienst, Herr Döring, oder Ihres, Frau
Gönner.
({0})
Es ist vielmehr das Verdienst der IG BOHR und der
Menschen vor Ort, die sich vor sieben Jahren, im April
2004, zusammengeschlossen und Konzepte und Kompetenz entwickelt haben. Sie sind entsprechend hartnäckig,
aber auch badisch-konziliant geblieben und haben das
Vorhaben nicht in Kontrast zu Stuttgart 21 gestellt. Deshalb ist in erster Linie diesen Menschen dafür zu danken,
dass wir zur Einsicht gekommen sind.
({1})
Meine zweite Bemerkung richte ich an Frau Gönner.
Ich schätze Sie. Sie haben das Schlichtungsverfahren zu
Stuttgart 21 mitgetragen und miterlitten, unabhängig davon, wie es Ihnen geht. Wahrscheinlich sind Sie deswegen zur Einsicht gekommen. Aber Sie bzw. die CDU im
Landtag sind spät zur Einsicht gekommen, was
Baden 21 anbelangt. Die SPD hat 2006 den ersten Antrag eingebracht, in dem sie sich eindeutig positiv zu
dem Konzept Baden 21 stellt. Sie haben bis November
2010 gebraucht, sich dazu positiv zu stellen. Es gab immer ablehnende Beschlüsse ({2})
- Doch, das liegt mir vor. Ich habe es mir extra schicken
lassen, weil ich mir gedacht habe: Wenn die Ministerin
anreist, müssen wir auch wissen, was im Ländle passiert.
Daher: Tun Sie nicht so, als wären Sie schon immer dabei gewesen. Sie haben diese Schlichtung und das Desaster in Stuttgart gebraucht, um zur Einsicht zu gelanUte Kumpf
gen. Damit ist die Lerntheorie bestätigt: Anscheinend
lernt man nur durch Katastrophen.
({3})
Ich überlege, wie es gewesen wäre, wenn wir am
27. April darüber diskutiert hätten. Wäre dann die Bereitschaft tatsächlich vorhanden, hierbei so weit zu gehen? Aber lassen wir das beiseite.
Wir haben eine gemeinsame Position gefunden. Wir
alle sind in der Pflicht gegenüber der EU, aufgrund der
Verpflichtungen aus den Verträgen und gegenüber der
Schweiz - wahrscheinlich verfolgt die Schweiz heute die
Debatte -, diese Rheintalbahn zu bauen.
Wir sind vor allem den Menschen gegenüber in der
Pflicht. Ich sehe sie in den Podiumsrunden sitzen. Alle,
etwa Herr Simmling und Herr Bilger, haben gesagt: Wir
tun das. - Alle sind durch das Land gereist und haben alles erst einmal versprochen.
({4})
Es ist auch eine Lehre für uns im Parlament, dass die
Zeit der Ankündigungen vorbei ist. Wir müssen bei der
Wahrheit bleiben.
({5})
Wir alle müssen sagen, was machbar ist, was wir machen wollen und wie wir das Konzept Baden 21, zum
Beispiel den Tunnel in Offenburg, die autobahnnahe
Trasse und Tieferlegungen bei einzelnen Streckenabschnitten, tatsächlich realisieren wollen. Denn dies erwarten die Menschen vor Ort,
({6})
und nicht nur, dass man wieder einmal prüft und das unter einen Haushaltsvorbehalt stellt, wie Sie es in Ihrem
Antrag machen.
({7})
Sie sollten nicht nur sagen, dass man über ein bisschen Schienenbonus nachdenken könne, sondern wir
brauchen rein rechtlich dieses Modellprojekt, um die
Forderungen durchzusetzen. Wir brauchen die Lärmminderung nicht nur an der Trassenführung, sondern wir
müssen dafür sorgen, dass Lärm gar nicht erst entsteht.
Wir brauchen ein Programm auf europäischer Ebene, um
die Güterzüge leiser zu gestalten.
Ich gebe auch dem Kollegen Winfried Hermann
recht, wenn er auf Folgendes verweist: Das EisenbahnBundesamt oder wer auch immer diese Streckenplanung
vorgenommen hat, hat irgendwann einmal ein Lineal genommen und das von oben nach unten durchgeplant,
weil sich das wohl ganz toll ansehen lässt. Anscheinend
war niemand vor Ort, um sich das vor Augen zu führen.
Viele Konzeptionen wurden durch die IG BOHR und andere Initiativen vorgestellt, die sich Sachverstand organisiert und Geld in die Hand genommen haben. Auch die
Gemeinden haben Geld in die Hand genommen, damit
sie sich gegenüber den Trassenplanern Gehör verschaffen und Widerspruch organisieren können. Die von Bundesseite vorgenommene Trassenplanung ist an manchen
Stellen irrsinnig - einschließlich einer Planung, die immer noch um drei Strommasten herum verläuft, weil es
angeblich immer noch zu teuer ist, eine Begradigung
durchzuführen.
Wir sollten uns alle an die Nase fassen und sagen: Wir
sind zu der Erkenntnis gelangt, dass wir uns dieser Konzeption anschließen. Sie müssen dafür sorgen, dass die
finanzielle Ausstattung für diese Planung tatsächlich gewährleistet ist, denn Sie lassen uns praktisch am langen
Arm verhungern.
Herr Bilger, wir haben mit Blick auf einen gemeinsamen Antrag zusammengesessen, es gibt nicht nur den
Brief des Kollegen Bonde und der Kollegin Andreae.
Aber mit Ihrer Haltung - ich weiß nicht, wie ich sie genau nennen soll - nach dem Motto: „Sie dürfen ein bisschen an unserem Antrag verändern“ befinden wir uns
nicht auf Augenhöhe.
Sie haben in Freiburg versprochen, dass wir einen gemeinsamen Antrag einbringen.
({8})
Das war bei einem Lärmkongress in Freiburg, bei dem
auch die Kollegen Herzog und Simmling anwesend waren. Wir alle haben gesagt, dass wir an einem Strang ziehen werden. Das haben Sie nicht gemacht, weil Sie
wahrscheinlich über sich sagen wollen: Wir sind diejenigen, die das Ganze vorantreiben. - Das finde ich vom
parlamentarischen Verständnis her fragwürdig; denn es
scheint Ihnen darum zu gehen, ein Stück weit Macht
auszuspielen; ich weiß nicht, was das für ein Verständnis
ist.
({9})
Auf alle Fälle konnten wir deswegen auch nicht zusammenkommen. Vielleicht haben Sie persönlich ein anderes Vorgehen für gut befunden, aber Sie haben kein grünes Licht bekommen.
({10})
Ich weiß nicht, wer bei Ihnen das Denken vorgibt. Bei
uns funktioniert das anders und demokratischer. Auf alle
Fälle finde ich das schade. Aber lassen wir das.
Deswegen haben wir gemeinsam mit den Grünen einen Antrag eingebracht, in dem wir die wesentlichen
Punkte formuliert haben. Der Dissens besteht an der zentralen Stelle. Ich denke, die Zeit der Ankündigungen, der
Versprechungen und der Haltung, immer ganz lieb zu
sein, wenn wir dort unten sind, ist schlichtweg vorbei.
({11})
Ich war ganz erstaunt, als Herr Grube und Herr
Mappus eine Fahrt entlang des Rheins nach dem Motto
„Eine Bahnfahrt, die ist lustig“ gemacht haben. Auch der
Verkehrsausschuss hat eine Fahrt unternommen. Der
Punkt ist, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Initiativen uns ernst nehmen und uns glauben, wenn wir etwas sagen. Wir dürfen diese Glaubwürdigkeit nicht aufs
Spiel setzen.
({12})
Deswegen ist es unabdingbar, dass wir die Finanzierung
sicherstellen und die gesetzlichen Voraussetzungen
schaffen.
({13})
Wenn wir von der Schweiz gefragt werden, wann wir
so weit sind, dann müssen wir das, was wir versprochen
haben, einlösen. Wir werden an der Stelle sicherlich finanzielle Probleme bekommen, vielleicht auch noch
Druck von der Schweiz. Das wird uns noch einmal eine
enorme Summe kosten.
Deswegen: Seien Sie ehrlich,
({14})
sorgen Sie für die Finanzierung, sorgen Sie für die gesetzlichen Grundlagen und sorgen Sie vor allem dafür,
dass die Menschen im Rheintal die Bahn bekommen, die
sie wollen - anwohnerfreundlich, klimaverträglich und
mit ihrer eigenen Unterstützung! Das ist toll bei einem
so großen Infrastrukturprojekt.
Danke.
({15})
Werner Simmling ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen feststellen, dass wir hier in diesem Hohen Hause bei
der Debatte zur Rheintalbahn doch entgegen allem Anschein, den soeben auch Frau Kumpf erweckt hat, in vielen Punkten einig sind. Lassen Sie uns in diesem Sinne
vor allem für die Bürgerinnen und Bürger im Rheintal
weiterarbeiten. Ich glaube, es macht keinen Sinn, in der
Vergangenheit zu graben und zu sagen, der eine habe das
nicht und der andere habe jenes nicht gemacht.
Wir führen mit der heutigen Debatte fort, was in Baden-Württemberg, speziell am südlichen Oberrhein,
bereits selbstverständlich ist. Bürgerinitiativen, Kommunalpolitik, Landräte, Regierungspräsident und Landesregierung arbeiten seit Jahren eng und vertrauensvoll
an Lösungen für einen anwohner- und umweltfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn. Mit der Gründung des
Projektbeirats im Jahr 2009 wurde diese Zusammenarbeit institutionalisiert. Unter Mitwirkung aller Projektbeteiligten, darunter Vertreter der DB AG, des Bundes, des
Landes und der Bürgerinitiativen, wird sehr erfolgreich
gearbeitet. Hervorheben - das wurde heute schon einmal
gesagt - möchte ich die Beschlüsse der Sitzung vom
8. Februar dieses Jahres, die, wie ich finde, einen Meilenstein markieren.
Deshalb möchte ich diese Beschlüsse hier wiederholen: Es wurde eine Prüfung der Tunnellösung in Offenburg vereinbart. Weiterhin wird die Prüfung einer autobahnnahen Trasse von Offenburg bis Riegel mit und
ohne Schienenbonus und der Vergleich mit der beantragten Trasse vorgenommen. Schließlich wird ein Planfeststellungsbeschluss durch das EBA zukünftig nur dann
ergehen, wenn die jeweilige Kernforderung im Projektbeirat abschließend behandelt worden ist. Ich denke, wir
haben im Vergleich zu früher riesige Fortschritte gemacht. Da sollten wir weiterarbeiten.
({0})
Mit ihrem Antrag unterstützt die Regierungskoalition
ausdrücklich diese Projektbeiratsbeschlüsse. Unser gemeinsamer Antrag hat die Zielsetzung, nach Möglichkeit
zu einer von großen Teilen der Bevölkerung akzeptierten
Planung und Bauausführung zu kommen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle die Bedeutung der
Rheintalstrecke kurz hervorheben und Ihnen darlegen,
was dieser Ausbau für die Menschen vor Ort bedeutet.
Die Rheintalbahn ist die Zulaufstrecke der alpenquerenden Verkehre und ein Teil des äußerst stark belasteten
Verkehrskorridors von Rotterdam bis Genua, der die
Nordsee mit dem Mittelmeer verbindet. Die Bundesregierung hat sich zum Ausbau der Strecke vertraglich verpflichtet. Ihr Kosten-Nutzen-Faktor liegt bei 2,7. Das
sagt alles über die wirtschaftliche Bedeutung dieser Strecke.
Die verkehrliche Belastung durch die Güterzüge wird
mit der Fertigstellung des Gotthardtunnels auf Schweizer Seite daher noch einmal erheblich zunehmen. Bei allen Planfeststellungsverfahren gehen wir jetzt von den
Zugzahlen der Verkehrsprognose 2025 aus. Für das
Jahr 2025 sind das Zugzahlen von 360 Güterzügen pro
Tag. Das heißt: alle vier Minuten ein Zug. Anders gesagt, sind das mehr als 100 000 Güterzüge pro Jahr.
Doch nicht nur die Lärmbeeinträchtigungen stehen
bei der jetzigen Trassenführung in der Diskussion, sondern auch massive Eingriffe in das Landschaftsbild. Lassen Sie mich das am Beispiel „Knoten Kenzingen“ kurz
ausführen. Mit der heutigen Trassenführung müssten
zwei Überwerfungsbauwerke mit Ausmaßen von
850 Metern bzw. 1 100 Metern gebaut werden, und das
alles in einer Höhe von 5 bis 7 Metern. Dadurch sollen
die verschiedenen Verkehrsarten - Personenfernverkehr,
Personennahverkehr und Güterverkehr - entmischt werden. Konkret heißt das für die Stadt Kenzingen, dass
durch das Stadtgebiet ein sechsgleisiger Ausbau stattfinden müsste. Daher erwarten die Menschen in Südbaden
zu Recht - das habe ich auch bei meinen Besuchen dort
erfahren -, dass ihren Bedürfnissen nach Lärmschutz
und nach einer landschaftsverträglichen Verkehrsplanung Rechnung getragen wird.
Wir haben von Anfang an in einem engen Kontakt mit
den Bürgerinitiativen gestanden. Wir haben die Anliegen
der Bevölkerung mit konkreten Beschlüssen auf Landesund Bundesebene unterstützt. Bereits in der 15. und
16. Wahlperiode haben wir mit unseren Anträgen eine
Überplanung der vorgesehenen Ausbaustrecke gefordert.
Umso mehr erfreut unsere Fraktion, dass wir gemeinsam
mit unserem Koalitionspartner den heutigen Antrag auf
den Weg gebracht haben. In diesem Sinne lassen Sie uns
rasch - ich betone: rasch - gemeinsam an der Umsetzung der Projektbeiratsbeschlüsse arbeiten und den hier
im Hause herrschenden Konsens zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger im Rheintal nutzen.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Behrens für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
IG BOHR hat in gewisser Weise lange gebohrt, bis sie es
geschafft hat, dass ihre Interessen im Bundestag prominente Berücksichtigung finden; gleich acht Anträge befassen sich mit ihren Anliegen. Die Interessengemeinschaft Bahnprotest an Ober- und Hochrhein ist für uns
ein beeindruckendes Beispiel für Bürgerengagement,
aber auch für Planungsfantasie, wie wir sie brauchen.
Die Mitglieder der Bürgerinitiativen haben es geschafft,
Betroffene zu organisieren und sie zu bewegen, ihre Interessen in die Hand zu nehmen. Sie nehmen damit ihre
Verantwortung für sich selber wahr. Es sind nicht wir,
die die Verantwortung für sie übernehmen; das tun sie
selber. Wir haben einfach nur unsere Aufgabe zu erfüllen
und ihren Interessen nachzukommen.
({0})
Das Ergebnis der Arbeit dort ist ein kompletter Plan, wie
in der Zukunft der Bahnverkehr durch das Rheintal rollen soll. Dieser Plan hat den Namen „Baden 21“.
Schon heute rattern Hunderte Züge durch Gemeinden
und Städte. Es sollen nach Prognosen der Bundesregierung bis zu 600 werden. Das hält kein Mensch mehr aus,
der in dieser Region lebt, wenn nach alten Maßstäben
geplant wird. Die Bürgerinnen und Bürger von Offenburg akzeptieren nicht, dass beispielsweise vier Gleise
ihre Stadt zerschneiden und meterhohe Lärmschutzwände sie verschandeln.
Trotzdem gibt es eine hohe Bereitschaft, das Vorhaben mitzutragen. Die Leute wissen, dass die Rheintalbahn wichtig für die Transporte zwischen Deutschland,
der Schweiz und Italien ist. Sie wollen nicht, dass dieser
Verkehr über die Straße abgewickelt wird, sondern sie
wollen, dass er auf die Schiene verlegt wird. Sie akzeptieren den Ausbau der Rheintalbahn auf vier Gleise, damit Güter- und Personenverkehr auf eigenen Trassen
fahren können. Sie verlangen aber, dass ihre Gesundheit
und ihre Lebensqualität bestmöglich geschützt werden.
Wir unterstützen sie in ihren berechtigten Forderungen.
({1})
Die Linke fordert in ihrem Antrag den wirksamen
Schutz vor Lärm und Schadstoffen in der Luft. Damit
das umgesetzt wird, müssen die Deutsche Bahn und das
Land Baden-Württemberg gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Initiativen sowie den Umweltverbänden planen. Dazu gehört Transparenz für die
Aktiven und für die Öffentlichkeit. Planungsschritte
müssen offengelegt werden. Insbesondere die Lärmbelastung muss auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse bewertet werden, damit wir die richtigen Maßnahmen für weniger Lärm treffen können.
Dieses Problem existiert aber nicht nur zwischen
Mannheim und Basel, sondern auch entlang vieler anderer Bahnstrecken mit starkem Güterverkehr, zum Beispiel an der Betuwe-Linie zwischen Rotterdam und dem
Ruhrgebiet. Schutz vor Lärm ist ein Dauerthema, zumindest in unserer heutigen Debatte. Diese Debatte muss
fortgeführt werden.
Der Spruch „Viel hilft viel“ stimmt nicht. Das wissen
wir alle. Darum helfen viele Anträge auch nicht mehr als
wenige Anträge. Es wäre wirklich schön gewesen, wenn
es einen gemeinsamen Antrag gegeben hätte. Er hätte
den lärmgeplagten Anwohnerinnen und Anwohnern zeigen können: Ja, es ist ein gemeinsames Anliegen der
Politikerinnen und Politiker hier in Berlin, was sie umtreibt, was sie fordern.
({2})
Das ist nicht gelungen. Es hat keinen gemeinsamen
Antrag der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfraktionen gegeben. Es hat leider aber auch keinen gemeinsamen Antrag der Oppositionsfraktionen gegeben.
Das bedauern wir sehr. An uns ist es nicht gescheitert.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist gut, dass die
Koalition die Stimme der Anwohnerinnen und Anwohner wahrgenommen hat. Es ist zu lesen und zu erfahren:
Die CDU pflegt intensive Kontakte zu den Bürgerinitiativen vor Ort. Das ist gut. Es sieht so aus, als hätte sie
tatsächlich aus dem Demokratiedesaster Stuttgart 21 gelernt. Das kann sie natürlich nicht zugeben. Wie sonst ist
der Satz zu verstehen, der in Ihrem Antrag steht, „dass
eine sachliche Verknüpfung von Stuttgart 21 und dem
Ausbau der Rheintalbahn in der Sache falsch ist und ihr
schadet“?
({4})
Es trifft auch nicht zu, dass beide Projekte gleich
wichtig sind, wie es im Antrag heißt. Wer Stuttgart 21
durchsetzen will, der hat am Ende kein Geld mehr, um
die Bahnstrecke im Rheintal wirklich menschenverträglich zu bauen.
Der wirksame Schutz der Menschen an der Trasse ist
teuer. Bis zu 1 Milliarde Euro mehr kostet es, wenn die
Forderungen der Bürgerinitiativen umgesetzt werden.
Das ist bezahlbar, meinen wir, wenn an anderer Stelle
auf unsinnige Großprojekte wie Stuttgart 21 verzichtet
wird.
({5})
Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass Bürgerinnen und Bürger, Naturschutzverbände und andere
im Planungsprozess gleichberechtigt mitwirken können.
Wir wollen erreichen, dass das keine einmalige Beteiligung bleibt, die auch nur auf dieses Projekt bezogen ist,
sondern ein neues Modell eines Beteiligungskonzeptes
bei Planungsverfahren wird. Stuttgart 21 wird sich dann
wiederholen, wenn wir nicht umdenken und Entscheidungsprozesse öffentlicher gestalten.
Wir fordern, die unverhältnismäßig großen Mindestsicherheitsabstände zwischen den Verkehrswegen Autobahn und Schiene zu überprüfen. Das hat zum Ziel, die
Verkehrswege zu bündeln und den Flächenverbrauch zu
reduzieren. Die Landesmittel aus Baden-Württemberg
sollen nicht einfach so ins Projekt fließen, sondern ganz
überwiegend für den Ausbau von Nahverkehrsstrecken
eingesetzt werden. Die Bahn muss mit Geld aus dem
Bundeshaushalt in die Lage versetzt werden, die beste
Trasse am Rhein bauen zu können. Wenn es eine gute
Trasse gibt, dann dürfen dort auch nur leise Züge fahren.
Der Schienenbonus muss also jetzt gestrichen werden.
Wir brauchen kein Schienenbonusmoratorium.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, die große Übereinstimmung hier ist eine Chance, dass bei der Planung der
Rheintalbahn die Bürgerinnen und Bürger mehr Einfluss
nehmen können als bisher üblich. Damit es nicht nur
eine Chance bleibt, sondern Wirklichkeit wird, hoffen
wir sehr, dass das mit dem Wahlverhalten am übernächsten Sonntag in Mehrheitsverhältnisse gegossen wird.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort erhält der Kollege Alexander Bonde für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für uns in der
Region des Rheintals in Südbaden ist es wichtig, dass
wir es zum ersten Mal seit Jahren schaffen, im Bundestag tatsächlich ein Signal zu setzen, das die Menschen
vor Ort unterstützt. Wir müssen beim Ausbau der Rheintalbahn zu verlässlichen Alternativen kommen, die die
Frage des Lärms, aber auch die Frage der Erschütterungsbelastung der Bevölkerung ernst nehmen.
Wenn man wie die Kollegin Andreae und ich seit Jahren mit Initiativen in diesem Parlament scheitert, dann
freut man sich, dass es - auch wenn der Wahlkampf sicher bei der Terminierung der Debatte heute zu einer so
schönen Zeit eine Rolle gespielt hat - endlich so weit ist,
dass auch die Koalitionsfraktionen bereit sind, einen
Schritt zu gehen und ein Signal zu setzen. Dazu will ich
sagen: Das hilft uns allen.
Wir haben es nicht hinbekommen, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Es ist trotzdem ein erster und
wichtiger Schritt, dass sich der Bundestag endlich offensiv zur Frage des Lärmschutzes an der Strecke bekennt.
({0})
Wir haben damit eine Chance, deutlich zu machen,
dass der Protest vor Ort, die Initiativen von Hunderttausenden von Leuten hier nicht auf taube Ohren stoßen. Es
handelt sich nicht um eine kleine Minderheit des Parlaments, sondern eine breite Mehrheit hat erkannt, dass
man bei diesem Projekt anders planen muss. Es freut
mich, dass Sie sich offensiv dazu bekennen, dass der
Schienenbonus an der Strecke nicht gelten darf. Bis vor
kurzem hat man als Abgeordneter, wenn man danach gefragt hat, aus dem Verkehrsministerium die Antwort bekommen: Ja, den schaffen wir ab; aber für die Rheintalbahn wird das keinen Unterschied mehr machen.
({1})
Insofern begrüße ich es, dass die Koalition ihren Verkehrsminister an dieser Stelle eingefangen hat. Zudem
freue ich mich darauf, das gesetzlich verankert zu sehen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
({2})
Der heutige Beschluss wird aber nicht alle unsere
Probleme lösen; auch das will ich sagen. Denn an einigen Punkten auf der Strecke - von Offenburg über die
Südliche Ortenau, im Landkreis Emmendingen, aber
auch in der Freiburger Bucht und im Markgräflerland wird es unter Lärmschutzgesichtspunkten nicht ausreichen, die Trassen zu modifizieren und zu optimieren:
Vielmehr werden wir bei einigen Abschnitten nicht darum herumkommen, eine alternative Trassenführung
vorzunehmen.
({3})
Wir Grüne bekennen uns zum Modell der Bürgerinitiativen, zum sogenannten Baden 21. So weit sind Sie in
Ihrem Antrag noch nicht. Der entscheidende Punkt bei
unserem Konsens wird sein: Können wir es erreichen,
dass die Bahn als Antragstellerin die Anträge zur Trassenführung in den aktuellen Planfeststellungsverfahren
zurückzieht? Es ist schade, dass Sie als Koalition heute
nicht bereit sind, mit uns gemeinsam einen Vorstoß zu
unternehmen und die Bahn dazu aufzufordern. Es nutzt
nichts, wenn der Bahnchef vor Ort Gespräche führt - im
Gegensatz zu seinem Vorgänger freundliche Gespräche -, aber gleichzeitig die Planfeststellungsverfahren
weiterlaufen und Abschnitt für Abschnitt eine Strecke
zementiert wird. Diese sind vielleicht in Details modifiAlexander Bonde
zierbar, insgesamt aber werden sie den Bedürfnissen der
Bevölkerung nicht gerecht. Es wird kein für die Menschen verträglicher Ausbau ermöglicht, sondern ein
Ausbau, bei dem Lärmschutz und Erschütterungsschutz
nicht wirklich im Vordergrund stehen.
Da ich sehe, dass Sie sich in einer ganzen Reihe von
Punkten einen Ruck gegeben haben, hätte ich mir heute
gewünscht, dass Sie sich auch in diesem Punkt noch einen Ruck geben.
({4})
Die Menschen in der Region brauchen eine Chance
durch eine tatsächlich bessere Trassenplanung, für die es
bereits viele Vorleistungen gibt. Es ist schön, dass Sie
sich bewegt haben,
({5})
aber da müssen wir noch ein bisschen mehr hinbekommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Peter Götz hat nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir
heute über die Rheintalbahn debattieren, so ist dies auch
eine Chance, ein wenig auf die Differenziertheit der
Strecke aufmerksam zu machen. Der Ausbau der Rheintalbahn ist, wie wir alle übereinstimmend feststellen, ein
Infrastrukturprojekt von bedeutender europäischer Dimension. Diese Einschätzung hat sich auch in der Wirtschaftlichkeitsstudie, die das Bundesministerium in Auftrag gegeben hat, widergespiegelt. Durch sie wird
bestätigt, dass die Leistungsfähigkeit der vorhandenen
zweigleisigen Bahnlinie am Oberrhein nur durch einen
stufenweisen viergleisigen Ausbau verbessert werden
kann. Teilbereiche zwischen Rastatt und Offenburg sind
bereits realisiert. Über die Trassenführung in Südbaden,
zwischen Offenburg und Basel, wird, wie wir von allen
Vorrednern gehört haben, intensiv gerungen.
Ich möchte einen Teilbereich der Trasse ansprechen,
in welchem die Realisierung des Ausbaus von allen Akteuren auf regionaler Ebene vollinhaltlich unterstützt
wird. Es geht um den nordbadischen Streckenabschnitt
der Rheintalbahn, und zwar zwischen Karlsruhe und
Rastatt. In diesem Bereich überschneiden sich die Transversale Rotterdam-Genua, von der wir bereits gehört haben, als wichtigste kontinentale Nord-Süd-Verbindung
und die Magistrale Paris-Budapest, die als zentrale OstWest-Verbindung über Stuttgart, Ulm und Wendlingen
verläuft. Das heißt, zwischen Rastatt und Karlsruhe
überlagern sich zwei der wichtigsten europäischen
Schienenstrecken des transeuropäischen Netzes.
Für beide internationale Trassen bestehen in Bezug
auf den Schienenausbau vertragliche Verpflichtungen
zwischen Deutschland und der Schweiz, aber auch zwischen Deutschland und Frankreich. Sowohl in der
Schweiz als auch in Frankreich wird intensiv gebaut. In
Rastatt befindet sich ein besonderes Nadelöhr: Dort verengt sich die Strecke auf einer Gesamtlänge von
7,5 Kilometern von vier auf zwei Gleise und verläuft
durch die ganze Stadt. Dieser Engpass wurde von den
politisch Verantwortlichen und der Bahn bereits vor
Jahrzehnten gesehen und auch planerisch angegangen.
1998, also vor mehr als zwölf Jahren, ist nach einem
langwierigen Verfahren als Lösung des Problems die
Planung des Rastatter Tunnels rechtskräftig planfestgestellt worden.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, das Thema ist
nicht ganz neu. Das Tunnelprojekt in Rastatt, das mit
Sachverständigenanhörungen und mit Bürgerbeteiligung
sämtliche Verfahren durchlaufen hat, wird, wie bereits
erwähnt, von allen regionalen Akteuren quer durch die
politische Landschaft unterstützt und könnte sofort realisiert werden. 26 Millionen Euro sind im Vorgriff bereits
in die Trassierung bis zum Tunnelmund und in Brückenbauwerke verbaut worden, ohne dass für die Bürgerinnen und Bürger draußen vor Ort ein Nutzen sichtbar
wäre.
Eine intensive Auseinandersetzung darüber hat vor
vielen Jahren stattgefunden. Ich erinnere mich noch gut
an die Diskussion, die wir im Rastatter Gemeinderat
über den Tunnel geführt haben. Ich gehöre seit mehr als
25 Jahren diesem Gremium nicht mehr an.
({0})
Ich hätte mir damals nie vorstellen können, dass ich
Jahrzehnte später über das gleiche, bis heute noch nicht
gebaute Projekt im Deutschen Bundestag reden werde.
Warum sage ich das? Wir reden im Bundestag sehr
viel über Planungsbeschleunigung und mehr Bürgerbeteiligung. Das ist wichtig und richtig, und das ist auch
gut. Aber die schnellste Planung und die beste Bürgerbeteiligung nützen in unserer schnelllebigen Zeit wenig,
wenn danach nichts passiert.
({1})
- Sie haben recht: Einer abgeschlossenen Planung muss
zeitnah das Geld für die Realisierung folgen. Ich betone:
zeitnah. - Anders ausgedrückt: Nur wenn etwas passiert,
können wir bei großen Verkehrsvorhaben mit der Akzeptanz der davon betroffenen Menschen rechnen.
({2})
Dazu gehören fertige Projekte an der Rheintalstrecke
wie der Rastatter Tunnel. Deshalb runter vom Abstellgleis und auf die Schiene!
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gustav Herzog für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen schönen guten Morgen! Ich wünsche insbesondere
denjenigen Kolleginnen und Kollegen einen schönen guten Morgen, die gestern Abend noch bis 22 Uhr über die
Ausweitung der Mauterhebung diskutiert haben.
({0})
Den Zuhörerinnen und Zuhörern will ich sagen: Das
zeigt, dass wir ein echtes Arbeitsparlament sind. Wir haben gestern Abend mit Verkehrspolitik aufgehört und
machen heute Morgen damit weiter. Ich glaube, das ist
ein ganz gutes Signal.
({1})
- Da können Sie alle klatschen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, auch die von der Koalitionsseite.
({2})
Ich will noch etwas anderes bemerken. Es ist schon
ein etwas skurriles Bild, wenn aufseiten der CDU/CSU
die betroffene Landesgruppe geschlossen auftritt und das
Wort ergreift - die Fähnleinführerin, die Frau Staatsministerin, vorneweg.
({3})
Ich wäre froh, wenn Sie den Verkehrsthemen immer ein
solches Gewicht beimessen würden.
Ich finde es aber gut, dass wir in einer Kernzeitdebatte über Infrastruktur reden in Verbindung mit
Lärmschutz und Bürgerbeteiligung; denn ich glaube, es
ist ein gutes Signal nach draußen, dass wir diese Punkte
nicht mehr getrennt, sondern als eine Einheit sehen.
Aber die Menschen werden sich wahrscheinlich fragen:
Woher kommt so viel Gemeinsamkeit? Hat sich da irgendetwas geändert? Ich sage: Ja, es hat sich für uns
einiges geändert:
Erstens. Insbesondere die Lärmwirkungsforschung
hat eindeutige Ergebnisse vorgelegt, die zeigen, dass
eine Privilegierung des Schienenlärms nicht mehr gerechtfertigt ist und dass aufgrund der Charakteristik der
Lärmspitzen insbesondere in der Nacht die Politik dringend aufgefordert ist, hier etwas zu tun.
Zweitens. Wir wissen: Es wird eine Steigerung beim
Güterverkehr geben; die Prognosen fallen entsprechend
aus. Das rollende Material wird aber eher schlechter
denn besser.
Drittens. Der Lärm stellt kein flächendeckendes Problem dar. Wer sich die Lärmkarten der Republik anschaut, der sieht, dass es „brennende Bänder“ sind, die
insbesondere in Nord-Süd-Richtung und am Rhein entlang die Menschen enorm belasten. Deswegen ist zusätzlicher Handlungsbedarf gegeben.
({4})
Die politischen Konsequenzen daraus sind die Fortentwicklung des Lärmschutzpaktes II, den wir noch in
der Großen Koalition unter Minister Tiefensee vorgelegt
haben. Hier ist einer der Knackpunkte die Abschaffung
des Schienenbonus. Hier gibt es Gemeinsamkeiten, aber
keine Übereinstimmung. Es besteht deshalb nur Gemeinsamkeit, weil Sie dieses Anliegen in Ihrem Antrag
- ich spreche die Kollegen Döring und Bilger an - mit
der Vorbereitung des nächsten Bundesverkehrswegeplanes verknüpft haben. Das kann noch dauern. Der gravierende Unterschied ist also: Wir wollen jetzt wirklich herangehen, nicht erst gegen Ende der Wahlperiode; wir
wollen jetzt konkret etwas tun. Sie wissen selbst: Bundesverkehrswegepläne erfordern eine enorme Vorbereitung. Angesichts der bisherigen Arbeit dieses Ministeriums denke ich: Es wird eher länger als kürzer dauern.
({5})
Stimmen Sie daher unseren Anträgen zu, denen von der
SPD und den Grünen; sie sind vernünftig.
({6})
- Herr Döring, vielleicht schreiben Sie von der FDP in
dieser Sache auch so böse Briefe an das Verkehrsministerium und das Finanzministerium, wie Sie es in Fragen
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung machen. Ich
glaube, das wäre in der Sache hilfreich.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Konsequenz ist: Man muss den Lärm viel stärker an der Quelle
bekämpfen. Dazu gehört das Umrüsten; wir sind dabei,
auch wenn die Wirkung noch lange nicht zu spüren ist.
Dazu gehört auch die Einführung des lärmabhängigen
Trassenpreises. Hier ist meine Frage an die Regierung
- vielleicht kann das auch einer der Koalitionsabgeordneten beantworten -: Wann legen Sie endlich das Gutachten vor? Wir werden permanent vertröstet: Erst sollte
es im Oktober so weit sein, dann im November, dann im
Frühjahr, das auch bald vorüber ist. Herr Bundesminister, Herr Staatssekretär, wann kommt das Gutachten? In
der DVZ vom 17. Februar konnte ich nachlesen, dass das
Gutachten am 3. März vorliegen würde. Der ist auch
schon längst vorüber.
({8})
Wann kommen wir hier endlich zur Sache? Sie wissen,
dass Rheinland-Pfalz in diesem Zusammenhang einen
Vorschlag gemacht hat, dem der Bundesrat zugestimmt
hat. Kommen Sie also zur Sache und nehmen Sie die
Überlegung auf, ein qualifiziertes Nachtfahrverbot einzuführen!
Bislang stand ausschließlich die Rheintalbahn im
Mittelpunkt der Debatte. Das, was wir im Interesse der
Menschen in Baden-Württemberg verhindern wollen, erleben und erleiden die Menschen im Mittelrheintal aber
schon seit Jahren; zwischen Bonn und Bingen treten entsprechende Belastungen auf. Was die Menschen im
Oberrheintal befürchten, ist dort schon Realität. Deswegen sage ich in Richtung Bundesregierung: Machen Sie
Druck beim gemeinsamen Projekt „Leiser Rhein“!
Herr Kollege Döring, wenn Sie über das viele Geld,
das die DB AG jetzt als Gewinn erwirtschaftet hat, reden
- Sie sitzen ja in den entsprechenden Gremien -: Setzen
Sie sich doch dafür ein, dass diese Gewinne zum Beispiel für das Umrüsten der alten Güterwagen verwendet
werden. Wenn Sie das in den nächsten Wochen hinbekämen, würden Sie von mir ausdrücklich gelobt werden.
({9})
Ich richte auch an Sie, Frau Ministerin Gönner, eine
Bitte. Zurzeit bringt Staatsminister Hendrik Hering, der
rheinland-pfälzische Verkehrsminister, einen Entschließungsantrag in den Bundesrat ein, bei dem es auch um
die Frage des Lärmschutzes geht. Es wäre schön, wenn
Sie den Argumenten des Landes Rheinland-Pfalz so folgen könnten, wie es Hessen getan hat. Hessen hat zusammen mit Rheinland-Pfalz ein 10-Punkte-Programm
aufgestellt. Sie sehen: Wenn man guten Willens ist, kann
man partei- und länderübergreifend zusammenarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Argumente für
den Süden sind auch die Argumente für das Mittelrheintal. Es stellt sich die Frage einer Alternativtrasse für das
Mittelrheintal. Ich will hier mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren:
Auf die Forderung, mit den Planungen für eine
neue alternative Güterverkehrstrasse zu beginnen,
hat das Bundesverkehrsministerium stets mit dem
Hinweis geantwortet, dass eine neue Trasse nur
durch Kapazitätsengpässe, nicht aber durch Lärm
zu rechtfertigen sei.
Wer hat diese kritische Aussage gegenüber dem Ministerium getroffen? Es war die Oberbürgermeisterin der
Stadt Bingen, in einem Brief an den Bundesminister
Ramsauer. Wenn Sie schon einem Sozialdemokraten
oder dem Land Rheinland-Pfalz nicht folgen wollen,
dann folgen Sie dieser Oberbürgermeisterin; sie ist nämlich CDU-Mitglied. Es wäre hilfreich, wenn Sie in dieser
Sache endlich anfangen, zu arbeiten, anstatt uns auf den
nächsten Bundesverkehrswegeplan zu vertrösten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Aus- und Neubau der Rheintalbahn von heute zwei
auf künftig vier Gleise ist - das wurde schon mehrmals
betont - in der Tat eines der bedeutendsten Schienenverkehrsvorhaben in Deutschland und eines, bei dem - so
besagen es ja die Prognosen - die meisten Verkehre zu
erwarten sind. Die Prognosen gehen davon aus, dass dort
eines Tages über 700 Züge pro Tag verkehren, die Mehrheit davon Güterzüge. Deshalb freue ich mich als Abgeordneter, der ich diese wunderschöne Region im Bundestag vertreten darf, dass mit der heutigen Debatte das
gesamte Parlament die Bedeutung dieser Strecke würdigt und Aufträge erteilt, daraus für die künftigen Planungen und die Verwirklichung dieses Projekts die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.
Da ich mich mit dem Thema schon lange befasse,
möchte ich vor allen Dingen die Rednerinnen und Redner von Grün und Rot erinnern: In früheren Jahren ist
uns bei allen Besprechungen, die wir im Bundesverkehrsministerium oder mit der Bahn geführt haben, immer gesagt worden, dass erstens die Änderungswünsche
der Region in den laufenden Planfeststellungsverfahren
abgearbeitet werden sollen, neue Planaufträge nicht infrage kommen. Zweitens komme es nicht infrage, den
Schienenbonus abzuschaffen oder nicht zu berücksichtigen. Das war der Stand der vergangenen Jahre.
({0})
Ich freue mich, dass wir endlich einen neuen Stand erreicht haben und man nun bereit ist, für diese herausragende Strecke neue Aufträge zu erteilen und ohne Schienenbonus zu planen.
({1})
Frau Ministerin Gönner, ich möchte mich bei Ihnen
und bei der Landesregierung ausdrücklich dafür bedanken, dass die Landesregierung von Baden-Württemberg
im Juni 2007 unter Leitung von Herrn Innenminister
Rech eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die eine klare
Positionierung des Landes erarbeitet hat: Unterstützung
der Forderungen aus der Region am Oberrhein.
({2})
Ich möchte mich zudem dafür bedanken, dass die
Landesregierung den Beschluss gefasst hat,
({3})
dass sie bereit ist, 50 Prozent der anfallenden Mehrkosten mitzufinanzieren. Diese Beschlüsse der Landesregierung von Baden-Württemberg waren entscheidend, als
es darum ging, überhaupt neue Bewegung in das Verfahren Rheintalbahn hineinzubekommen. Deswegen ein
herzlicher Dank an die Landesregierung von BadenWürttemberg!
({4})
Peter Weiß ({5})
Die Veränderungen, die jetzt anstehen, wären nicht
möglich geworden, wenn es nicht das wirklich großartige Engagement der Bürgerinitiativen entlang der
Rheintalbahn und der Bürgermeister und Gemeinderäte
der betroffenen Städte und Gemeinden gegeben hätte.
Ich möchte mich auch bei unseren Bürgerinitiativen und
unseren Kommunalpolitikern herzlich bedanken, weil
sie nicht, wie oftmals anderswo, gegen etwas votieren,
sondern für etwas kämpfen. Sie sind für den Ausbau der
Rheintalbahn von zwei auf vier Strecken.
({6})
Aber Sie sind auch für eine optimierte Trasse, die die
Anliegen der Bürgerinnen und Bürger und vor allen Dingen die Entwicklung der Städte und Gemeinden optimal
berücksichtigt. Dafür ein herzliches Danke an unsere
Bürgerinitiativen und an unsere Kommunalpolitiker!
({7})
Ich gebe ehrlich zu, dass ich in den vergangenen Jahren, in denen ich viele Besprechungen zu diesem Thema
gehabt habe, oftmals verzweifelt war und mich gefragt
habe, ob wir überhaupt jemals etwas bewegen werden.
Ich bin seit der Sitzung des Projektbeirates am 8. Februar dieses Jahres zum ersten Mal positiv gestimmt.
({8})
Denn der Projektbeirat,
({9})
in dem das Bundesministerium durch Herrn Staatssekretär Scheurle vertreten ist, in dem das Land vertreten ist,
in dem die Region, unsere Kommunalpolitiker und
Landräte vertreten sind, in dem die Bürgerinitiativen
vertreten sind, hat gemeinsam neue Weichenstellungen
für die Planung an der Rheintalbahn vorgenommen. Die
sind bereits - Herr Pronold, Sie wollten ja Taten sehen in der Umsetzung. Am 18. Februar haben Bahnchef
Grube und Ministerpräsident Mappus die ersten Probebohrungen für eine Tunnellösung in Offenburg gestartet.
({10})
Wir haben die Entscheidung, dass die bahnparallele
Trasse zwischen Offenburg und Riegel detailgenau untersucht wird. Wir haben die Zusage, dass die Anregungen zur Umfahrung von Freiburg aufgegriffen werden.
Wir haben selbst für Weil am Rhein zusätzlichen Lärmschutz bekommen. Und wir haben die Zusage, dass
durch den Katzenbergtunnel, der bereits gebaut ist, aber
noch in Betrieb genommen werden muss, möglichst der
gesamte Güterverkehr geführt werden soll, um die dortigen kleineren Gemeinden und vor allen Dingen den Kurort Bad Bellingen zu entlasten. Das alles wurde möglich,
weil die zusätzlichen Kosten für die Probebohrungen
und die Untersuchung der bahnparallelen Trasse in Höhe
von 1,3 Millionen Euro je zur Hälfte vom Land und vom
Bund zur Verfügung gestellt werden. Deswegen war die
Sitzung des Projektbeirates am 8. Februar 2011 wichtig.
Endlich wurde eine neue, angepasste Planung für die
Rheintalbahn auf den Weg gebracht.
Ich finde es gut und begrüße es, dass wir uns mit dem
Antrag, den wir heute hier, im Deutschen Bundestag, beschließen, hinter die Fortschritte, die im Projektbeirat erreicht worden sind, stellen. Ich freue mich, dass wir den
Bürgerinnen und Bürgern an der Rheintalstrecke ein klares Signal senden: Im Rheintal geht es anders. Wir wollen eine neue Planung, die auf die Bedürfnisse der Städte
und Gemeinden Rücksicht nimmt. Wir wollen eine leistungsfähige Strecke bauen, aber auch eine Strecke, mit
der die Menschen gut leben können.
Vielen Dank.
({11})
Armin Schuster ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Als neugewählter Abgeordneter hatte ich Ende 2009 einige Sorgen - das gebe ich zu -, wie ich die berechtigten
Erwartungen der Bürger am Oberrhein, in meinem
Wahlkreis, erfüllen soll. Die Sorgen rührten daher, dass
meine Vorgängerin - SPD und ihres Zeichens jahrelang
Regierungsmitglied - mit ihren Parteikollegen und dem
Verkehrsminister jahrelang nichts in Sachen Baden 21
bewegen konnte. Als neuer Abgeordneter hat man da natürlich die Sorge, dass man das auch nicht hinbekommt.
Aber - Herr Döring hat das sehr schön erläutert - wir
haben es geschafft.
({0})
Zugegebenermaßen haben wir nicht das Ziel erreicht,
aber wir kommen den Bürgern am Oberrhein Schritt für
Schritt entgegen.
({1})
Wir haben unzählige offizielle und inoffizielle Termine
in Berlin, Stuttgart und an der Strecke durchgeführt. Wir
haben auf allen Ebenen Konsensentscheidungen getroffen. Wir haben Dinge geschafft, die 2009 unmöglich zu
sein schienen.
Ich kann mich gut an die verhärteten Fronten zwischen Bundesverkehrsministerium und der DB AG einerseits und dem Land und der Region andererseits erinnern. CDU/CSU und FDP haben in den letzten
eineinhalb Jahren dafür gesorgt, dass wir dort unten im
Konsens arbeiten. Es gibt keine Gräben mehr. Wir arbeiten mit demselben Ziel.
Armin Schuster ({2})
({3})
Ich möchte mich noch einmal ausdrücklich bei Ihnen,
Frau Gönner, bedanken. Wenn Sie ins Lenkrad greifen,
alle Achtung, das merkt man.
({4})
Das war irgendwann im Februar oder März des letzten
Jahres. Bahnchef Grube ist hier noch nicht erwähnt worden; das möchte ich ausdrücklich tun. Die Region verdankt ihm eine Menge. Er ist ein Stück weit Vorbild, da
er sich trotz immenser Verpflichtungen vor Ort zeigt.
({5})
Mit unserer Planung am Oberrhein zielen wir ganz
klar in Richtung einer anliegerfreundlichen Trassengestaltung. Alle Orte - Herr Weiß hat sie aufgeführt lassen ganz klare Signale erkennen.
({6})
Das einzige Problem ist - das bedauere ich als Weiler
ganz besonders - die Hinterlassenschaft von Rot-Grün in
Weil am Rhein. 2009 habe ich einen praktisch erlassreifen Planfeststellungsbeschluss vorgefunden.
({7})
In Weil am Rhein konnten wir eine Tieferlegung daher
einfach nicht mehr hinbekommen.
({8})
Eine Nachjustierung mit einem Volumen von
15 Millionen Euro für Weil am Rhein ist aber ein Wort.
Das verkaufe ich als Erfolg.
({9})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, in den vergangenen Jahren haben Sie in puncto Bahn viel versäumt. Dieses Verkehrsmittel ist nicht per se umweltfreundlich. Das ist nur dann der Fall, wenn man nicht in
der Nähe wohnt.
({10})
Das Motto „Alles auf die Schiene!“ macht nur Sinn,
wenn man sich auch dafür interessiert, wie es dort zugeht.
({11})
Wir haben einen Reformstau, den wir auflösen werden.
Die Punkte Trassenpreise, Schienenbonus und Technik
werden wir klären. Das wäre aber eigentlich Ihre Aufgabe gewesen.
({12})
Meine Damen und Herren, alles, was in unserem Antrag steht, ist ein starkes politisches Signal für die künftige Bahnplanung in diesem Land. Angesichts unserer
konsequenten Haushaltspolitik - Stichwort Schuldenbremse - dürfen Sie jedes einzelne Wort als Signal werten, dass wir im Rahmen des finanziell Möglichen das
technisch Machbare schaffen wollen. Das geschieht zum
Wohl von Mensch und Umwelt.
Den Projektbeirat muss ich nicht mehr loben. Darüber
bin ich richtig froh. Ich dachte schon, ich sei der Einzige,
der ständig herumläuft und klarzumachen versucht, dass
das ein Exportschlager für mehr Bürgerbeteiligung ist.
Greifen wir diesen Projektbeirat gemeinsam auf und machen ihn zu einem Instrument, das künftig bei Großprojekten immer zur Anwendung kommen soll. An dieser
Stelle möchte ich als Badener sagen: Auf diese Weise
gewähren wir Heiner Geißler einen wohlverdienten Ruhestand. Dafür sorgt der Projektbeirat. Wir schaffen das
in Südbaden allein.
({13})
Lassen Sie mich noch etwas sagen: Ich bin der Meinung, dass wir viele Gemeinsamkeiten haben.
({14})
Die Gemeinsamkeiten müssten wir uns einmal zusammen anschauen. Es gibt ein einziges Wort für Ihre Regierungszeit am Oberrhein, das heißt: Eimeldingen. Das ist
ein Ort 1 Kilometer nördlich von Weil am Rhein.
({15})
Dort liegen mittlerweile vier Gleise parallel; zwei 5 Meter hohe Lärmschutzwände ziehen sich durch den Ort.
({16})
Es sieht aus, als stünde man vor der Berliner Mauer.
({17})
Armin Schuster ({18})
Diese Gemeinde ist nie von Ihnen gehört worden und
muss heute mit dem Status quo leben. Man könnte auch
sagen, hier gilt das Motto: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben oder die SPD. Das ist für Eimeldingen
wirklich nicht schön.
({19})
Wir bedauern, dass es nicht zu einem parteiübergreifenden Antrag kam. Sie müssen von Ihren Maximalforderungen herunterkommen und sich unserer Verhandlungstaktik annähern,
({20})
und zwar kontinuierlich, Stück für Stück und jeden Tag
ein bisschen weiter. So kommen wir zu Verhandlungserfolgen.
({21})
- Wie wäre es denn, wenn sich die Nichterfolgreichen an
den Erfolgreichen orientieren, und nicht umgekehrt?
({22})
Ich komme zum Schluss. Mich hat gestern ein Journalist der Süddeutschen Zeitung gefragt, ob man als neugewählter Abgeordneter überhaupt etwas bewegen kann.
Man kann etwas bewegen.
({23})
Das bewegt auch mich. Sie dürfen sich darauf verlassen:
Ich bewege mich
({24})
am Rheintal auch weiter im Sinne der Bürger, der Anlieger und für die Region.
Herzlichen Dank.
({25})
Thomas Strobl ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Es gibt bei diesem Thema erfreuliche Gemeinsamkeiten; es gibt aber auch ein paar Unterschiede. Übereinstimmung besteht darin, dass die Güter
von der Straße auf die Schiene gebracht werden müssen.
Das ist ein zentrales Gebot der Stunde, sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch.
({0})
Deshalb sind alle für den Ausbau der Rheintalbahn.
Es geht aber um mehr. Wir wollen für dieses Projekt
die Akzeptanz der Bevölkerung.
({1})
Wir wollen bei diesem verkehrspolitischen Projekt die
Menschen in Südbaden mitnehmen. Wir wollen den
Ausbau der Rheintalbahn gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern. Daher ist es unsere feste Absicht, die
Rheintalbahn gleichsam zu einem Modell für einen anwohnerfreundlichen Bahnausbau zu machen. Trassenführung und Lärmschutz sollen so gestaltet werden, dass
Menschen und Umwelt so wenig wie möglich belastet
werden. Deswegen machen wir es gemeinsam mit den
Bürgerinnen und Bürgern am Rhein in Südbaden.
Wir hätten uns erhofft, dass es für dieses Ansinnen
eine breitere, überparteiliche Zustimmung gibt;
({2})
doch die Opposition nimmt wiederum eine Verweigerungshaltung ein,
({3})
die eigentlich niemand so recht nachvollziehen kann.
Vor allem die Menschen am Oberrhein und in Südbaden
verstehen das nicht. Warum sind Sie eigentlich gegen
Lärmschutz und Ökologie, wenn es konkret wird?
({4})
Sie sind aus Prinzip dagegen, wenn es konkret wird.
({5})
Sie sind gegen eine vernünftige Politik im Bund und im
Land; Sie saugen Ihren Honig aus dem Dagegensein.
({6})
Ich will Ihnen das konkret belegen. Im Landtag von
Baden-Württemberg gab es einen Änderungsantrag der
Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD und der Fraktion von FDP/DVP mit der Überschrift „Klares Bekenntnis zu Baden 21“.
Thomas Strobl ({7})
({8})
Dazu gab es eine namentliche Abstimmung. Für diesen
Antrag haben gestimmt die Fraktion der CDU, die Fraktion der SPD und die Fraktion von FDP/DVP. Mit Nein
hat - ich kann Ihnen die Namen aus dem Plenarprotokoll
der Sitzung des Landtags von Baden-Württemberg vom
25. November 2010 vorlesen - die komplette Fraktion
der Grünen gestimmt, also gegen ein „Klares Bekenntnis
zu Baden 21“.
({9})
Sie sind gegen Baden 21,
({10})
gegen die Interessen der Menschen in Südbaden, gegen
den Lärmschutz, und Sie beteiligen sich nicht konstruktiv an dieser Debatte.
({11})
Herr Kollege Strobl, der Kollege Bonde möchte dazu
gerne eine Bemerkung machen.
Aber gerne. - Bitte.
({0})
Werter Kollege Strobl, nun stehen wir beide im Wahlkampf in Baden-Württemberg, Sie als Generalsekretär
Ihrer Partei, ich als Landesvorstandsmitglied der meinigen. Ich kann daher verstehen, dass man manchmal Termine durcheinanderbringt.
Ich würde Sie gerne bitten, mir zu bestätigen, dass es
in dem von Ihnen genannten Antrag aus dem Landtag
von Baden-Württemberg einen Forderungsteil gab, der
aus einer ganzen Reihe von Punkten bestand, dass einer
davon ein Bekenntnis zum Bahnprojekt Stuttgart 21 war
und dass es Versuche gab, eine getrennte Abstimmung
über diese Sachverhalte herbeizuführen, was von den antragstellenden Fraktionen im Landtag nicht gewünscht
war. Herr Strobl, sind wir uns einig, dass wir uns beim
Projekt Stuttgart 21 nicht einig sind, und wären Sie nicht
genauso verwundert gewesen wie ich, wenn meine
Landtagsfraktion einem Antrag pro Stuttgart 21 zugestimmt hätte?
({0})
Verehrter Herr Kollege Bonde, noch einmal: Dieser
Änderungsantrag trägt die Überschrift „Klares Bekenntnis zu Baden 21“.
({0})
Diesem Antrag haben sich alle Fraktionen im Landtag
von Baden-Württemberg angeschlossen, außer der Fraktion der Grünen. Das ist zu bedauern.
({1})
Damit gefährden Sie im Übrigen wichtige Maßnahmen
zum Wohle der Menschen am Oberrhein.
({2})
Sie sind bei dieser Frage - wie bei anderen Fragen - dagegen, wenn es konkret wird. Sie sind gegen Ökologie,
gegen die Bürgerinteressen, gegen Südbaden und gegen
Baden-Württemberg.
({3})
Wir sind froh darüber - dafür danken wir auch der in
dieser Debatte anwesenden Umweltministerin von Baden-Württemberg -,
({4})
dass der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg zu einem sehr frühen Zeitpunkt erklärt hat
({5})
- ich weiß, dass Sie das ärgert -,
({6})
dass, obwohl der Bund für dieses Projekt zuständig ist,
sich auch das Land Baden-Württemberg an sinnvollen
Leistungen, die den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen, beteiligen wird. Das finden wir richtig.
({7})
Weil die Grünen sich hier so aufregen, weiß offensichtlich die rechte Hand nicht, was die linke tut.
({8})
Damit meine ich weniger die Tatsache, dass Sie wieder
eine ganze Reihe von Anträgen eingebracht haben, obwohl eigentlich einer genügt hätte. Mir geht es vielmehr
um eine bestimmte Formulierung in dem Antrag der
Grünen auf Drucksache 17/2488. Darin wird die feste
Absicht formuliert, es solle „die Schiene als umweltfreundlicher Verkehrsträger gemeinsam mit den Binnenwasserstraßen beim Gütertransport verstärkt zum Einsatz kommen“.
Thomas Strobl ({9})
({10})
Die „Binnenwasserstraßen“ - das ist interessant. Denn
was die Binnenwasserstraßen anbelangt, argumentierte
zumindest der als Antragsteller an erster Stelle genannte
Winfried Hermann noch vor kurzem massiv gegen den
Ausbau der Neckarschleusen in Baden-Württemberg.
({11})
Wir wären damals als Große Koalition froh gewesen,
Baden-Württemberg über 600 Millionen Euro für den
Ausbau der Neckarschleusen zur Verfügung zu stellen.
({12})
Aber wer ist dagegen und kritisiert das? Bündnis 90/
Die Grünen. Sie sind nicht nur gegen die Schiene, sondern auch gegen die Wasserstraße.
({13})
Immer wenn es konkret wird, sind die Grünen dagegen. In diesem Fall sind sie der Binnenschifffahrt und
damit einer der ökologischsten Transportmöglichkeiten
überhaupt in den Rücken gefallen. So ist kein Staat zu
machen. Mit den Grünen und ihrer Antihaltung gibt es
keine konstruktive Politik.
({14})
Wie konstruktive Politik funktioniert,
({15})
das hat im Rheintal der Projektbeirat bewiesen, den die
Bundesregierung und die Landesregierung von Ministerpräsident Stefan Mappus massiv unterstützen.
({16})
Dieser Projektbeirat stellt eine Art Vorläufer zur erfolgreichen Faktenschlichtung Heiner Geißlers bei Stuttgart 21 dar. Wie diese orientiert er sich am Prinzip des
runden Tisches und brachte die Entscheidungsträger und
die betroffenen Bürgerinnen und Bürger zusammen. Alle
haben - auf Augenhöhe mit den Bürgerinnen und Bürgern - konstruktiv mitgearbeitet: Oberbürgermeister,
Bürgermeister, Landräte, das Regierungspräsidium, das
Bundesministerium, das Landesministerium. Staatliche
Stellen auf der einen Seite und Bürgerinnen und Bürger
auf der anderen Seite führten einen guten, sachlich
orientierten Dialog. Ich möchte ausdrücklich der Bundesregierung, der Landesregierung, aber auch den engagierten Bürgerinnen und Bürgern, namentlich der
IG BOHR, Dank sagen, die sich in einer konstruktiven
und sachlichen Art und Weise seit langer Zeit in die Debatte einbringen. Sie hatten und haben einen wichtigen
Anteil an den gefundenen Lösungen und praktizieren in
verantwortungsbewusster Weise gelebte Demokratie.
Dies beweist: Das Projekt Rheintalbahn hat bereits jetzt
Modellcharakter und taugt als Vorbild für künftige Großprojekte in Deutschland. Das ist eine wirklich gute
Nachricht.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({17})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Hermann das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich persönlich und die
Grünen sind bei mehreren Punkten angesprochen worden. Ich würde gern etwas dazu sagen.
Sowohl der Kollege Schuster als auch der Kollege
Strobl haben, glaube ich, deutlich gemacht, dass sie eine
große Sorge haben: die Landtagswahl in BadenWürttemberg in zehn Tagen.
({0})
Es ist ziemlich auffällig, dass Sie pausenlos davon reden,
dass Ihnen die Interessen der Anwohner und die Sachfragen im Rheintal wichtig sind. Ihre Polemik aber zeigt,
dass Ihre größte Sorge die Erfolge der Grünen sind;
sonst müssten Sie sich nicht dauernd an uns abarbeiten
und das auch noch mit schäbigen Unterstellungen, die
nicht stimmen.
({1})
Herr Strobl spricht von Wasserstraßen, obwohl es eigentlich um den Ausbau der Schienenstrecke im Rheintal geht. Er meint, er könnte mich und die Grünen vorführen, weil wir uns auf einen Entwurf der CDU/CSUFDP-Regierung zur Priorisierung der Wasserstraßen,
zum Ausbau der Wasserstraßen bezogen haben. Es ist
peinlich, dass Sie versuchen, mich und die Grünen anzugreifen, weil wir darauf hinweisen, dass es um die Setzung von Prioritäten geht und dass das auch Konsequenzen für den Wasserstraßenausbau im Neckarbereich
haben kann. Sie tun so, als sei das unser Problem. Richten Sie sich bitte an die Bundesregierung, wenn Sie da
etwas zu kritisieren haben; aber schieben Sie uns nichts
in die Schuhe, nur weil Ihnen das gerade im Wahlkampf
so passt.
({2})
Zweiter Punkt. Von vielen ist angesprochen worden,
wir hätten versucht, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen. Ich möchte Herrn Schuster daran erinnern, dass er
sehr früh, nachdem er Mitglied des Bundestages geworden ist, in mein Büro kam und wir darüber nachgedacht
haben, wie wir gemeinsam vorgehen können. Er hat mir
sehr schnell bedeutet, dass er ganz gerne einen gemeinsamen Antrag auf den Weg bringen würde, aber nur ein
kleines Licht in seiner Fraktion sei. Das haben Sie wörtlich zu mir gesagt. Man muss aber sehen: Es gibt übergeordnete Interessen der Fraktionen. In diesem Duktus hat
dies in dieser Woche in meinem Büro stattgefunden. Sie
sind zu mir gekommen und haben gesagt: Wie sieht es
denn mit einem gemeinsamen Antrag aus? Wir haben
unseren Antrag, dem können Sie zustimmen.
({3})
- Nein, Sie verdrehen immer die Tatsachen. In dem Brief
stand nur, dass man versucht, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen. Dies haben Sie so interpretiert: Wir haben einen Antrag geschrieben. Sie können ja
über Änderungsanträge abstimmen lassen - in Klammern: die lehnen wir dann ab -, und dann gibt es einen
gemeinsamen Antrag, nämlich den der Koalition. - Das
ist nicht das Vorgehen bei einem gemeinsamem Handeln. Bei gemeinsamem Handeln muss man sich auf
Augenhöhe begegnen und gemeinsam Vereinbarungen
treffen. Wenn es an irgendeiner Stelle keine Gemeinsamkeiten gibt, muss man die Unterschiede deutlich machen.
Ihr Angebot war arrogant.
({4})
Es ist von uns nicht angenommen worden. Uns hinterher
vorzuwerfen, wir hätten uns nicht für ein gemeinsames
Vorgehen starkgemacht, finde ich mehr als schäbig.
({5})
Ich hätte dieses Thema lieber nicht angesprochen, weil
ich glaube, dass die Bürger nicht verstehen können, warum man so handelt.
({6})
Weil Sie all Ihre Reden damit bestritten haben, uns zu
unterstellen,
Herr Kollege!
- wir hätten uns nicht für ein gemeinsames Vorgehen
starkgemacht, war es aber notwendig. Ihr Verhalten
finde ich peinlich.
Vielen Dank.
({0})
Zur Erwiderung Herr Kollege Strobl.
Herr Kollege Hermann, auf diese Art und Weise kommen Sie aus dieser Nummer nicht heraus.
({0})
Erster Punkt. Ich habe die Binnenwasserstraßen angesprochen, weil die Inkonsistenz der Argumentation des
Bündnisses 90/Die Grünen bei diesem Thema gut nachzuvollziehen ist. Noch einmal: Der Großen Koalition ist
es gelungen, über 600 Millionen Euro für den Ausbau
der Neckarschleusen bereitzustellen.
({1})
Sie von den Grünen verkünden hier großspurig,
({2})
dass Sie für Ökologie sind und Güter von der Straße nehmen wollen.
({3})
Aber im Wahlkampf reisen Sie durch die Gegend und sagen: Dieses Geld hätte man für Maßnahmen vor Ort besser verwenden können.
({4})
Außerdem erzählen Sie unsinniges Zeug, zum Beispiel
dass Binnenschiffer auf ihren Schiffen altes Öl verbrennen würden. Hier im Bundestag blasen Sie sich auf und
sprechen von Ökologie,
({5})
aber vor Ort polemisieren Sie gegen die Interessen des
Landes Baden-Württemberg, Herr Kollege Hermann. So
ist das.
({6})
- Sie brauchen gar nicht zu schreien, Herr Kollege
Bonde.
Der zweite Punkt. Es gab verschiedentlich Versuche,
im Hinblick auf die Rheintalbahn einen gemeinsamen
Antrag zu formulieren. Es gibt ein Antwortschreiben
von Kerstin Andreae und Alexander Bonde, beide von
den Grünen.
({7})
In diesem Schreiben heißt es, für die Grünen sei der Antrag der Koalition eine gute Basis,
({8})
allerdings mit zwei Änderungen.
({9})
Auch die Kolleginnen und Kollegen vor Ort seien bereit
gewesen, einen Konsens zu finden. Sie wurden aber von
der Grünenspitze in Berlin zurückgepfiffen.
({10})
Sie haben sie gewissermaßen verraten. Ihnen ging es um
Fraktionsinteressen.
({11})
Sie stellen die Interessen der Grünenpartei über die Interessen der Menschen in Südbaden
({12})
und in Wahrheit auch über die Ökologie.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/4861 mit dem Titel „Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf der
Drucksache 17/4856 mit dem Titel „Ausbau der Rheintalbahn als Modell für Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3659 mit dem
Titel „Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn durch
offene Planung beseitigen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch dieser Beschlussempfehlung wurde
mit Mehrheit zugestimmt.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/2488 mit dem Titel „Bürgerfreundlichen Ausbau der Rheintalbahn auf der Basis des
Prognosehorizontes 2025 planen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch hier gibt es eine mehrheitliche Zustimmung.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4689 mit dem
Titel „Rheintalbahn - Modellprojekt für anwohnerfreundlichen Schienenausbau“. Wer stimmt der Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 b. Hier geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5036 mit dem Titel „Schutz vor Schienenlärm im Rheintal und andernorts“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 27 c. Hier geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/5037
mit dem Titel „Rheintalbahn - Finanzierung und anwohnerfreundlichen Ausbau sicherstellen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich die Mitteilung des Kanzleramtes erhalten habe, dass die Bundesregierung gerne
eine Regierungserklärung zu den aktuellen Entwicklungen in Libyen abgeben möchte und dafür ab 12 Uhr der
Bundesminister des Auswärtigen zur Verfügung steht.
Von einigen Fraktionen weiß ich, dass sie vorher eine
Fraktionssitzung durchführen wollen, sodass ich vorschlage, dass wir die Sitzung jetzt unterbrechen und um
12 Uhr mit dem dann, wie ich unterstelle, einvernehmlich geänderten Tagesordnungspunkt die beabsichtigte
Regierungserklärung zur Kenntnis nehmen, der selbstverständlich - davon gehe ich jedenfalls aus - eine Debattenrunde folgt.
Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Die Fraktionen haben sich auf eine Änderung der
heutigen Tagesordnung verständigt. Es ist vorgesehen,
die Sitzung mit einer Regierungserklärung des Bundesministers des Auswärtigen zur aktuellen Entwicklung in
Libyen und einer anschließenden Aussprache von einer
Dreiviertelstunde fortzusetzen. Anschließend werden
wir in der Tagesordnung mit der Beratung des
Tagesordnungspunkts 29 fortfahren. Der Tagesordnungspunkt 28 - Entgeltgleichheit zwischen Männern
und Frauen - soll abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
({0})
Mir wird gerade zugerufen, dass die Kolleginnen und
Kollegen der Grünenfraktion auf dem Weg nach unten
sind. Vielleicht warten wir noch kurz.
({1})
- Von der Fraktionsebene herunter auf die Plenarsaalebene. Da sind sie auf dem Weg nach unten, wie Sie alle
auch waren. - Die Fraktionssitzung ist zu Ende, wird mir
gerade gesagt, und die Kolleginnen und Kollegen kommen. Ich denke, wir können noch 30 Sekunden warten.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
zu den aktuellen Entwicklungen in Libyen
({2})
Ich erteile das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Herrn Minister Guido Westerwelle. Bitte schön.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen hat heute Nacht nach einer intensiven Beratung eine weitere Resolution zur Situation in
Libyen verabschiedet. Deutschland hat sich bei der Abstimmung über diese Resolution enthalten, genauso wie
Brasilien, Indien, China und Russland. Zehn Staaten haben für die Resolution gestimmt, darunter die Vereinigten Staaten von Amerika und die drei Mitglieder der Europäischen Union, die dem Sicherheitsrat derzeit
angehören.
Ich will Ihnen vorab sagen: Diese Entscheidung ist
uns nicht leichtgefallen. Ihr ist ein schwieriger Abwägungsprozess vorausgegangen. Wir haben am Mittwoch
hier eine ausführliche, sehr konstruktive Debatte geführt,
und wir haben trotz mancher Unterschiedlichkeit und
mancher Kontroverse in der Innenpolitik über die Parteiund Fraktionsgrenzen hinweg alle eine gemeinsame
Haltung: Wir verurteilen die Verbrechen des Diktators
Gaddafi. Mit diesem Mann kann nicht mehr zusammengearbeitet werden. Er muss gehen. Er spricht nicht mehr
für das libysche Volk.
({0})
Ich denke, es ist klar, wo nicht nur die Regierung,
sondern wir alle gemeinsam stehen - nachdem ich mir
alle Redebeiträge am Mittwoch angehört habe, bin ich
der festen Überzeugung, dass ich dies ausnahmsweise
für das ganze Haus sagen darf -: Wir stehen gegen diesen Diktator. Wir stehen auf der Seite des internationalen
Rechts. Wir stehen an der Seite von Menschen, die für
ihre Freiheit wo immer auf der Welt eintreten. Wir stehen an der Seite derjenigen, die wegen ihres Eintretens
für demokratische Prinzipien unterdrückt, gequält, gefoltert oder gemordet werden. Wir sind als Demokratie eine
Wertegemeinschaft, und deswegen treten wir auch weltweit für freiheitliche und demokratische Werte ein.
({1})
Davon zu trennen ist die Frage einer militärischen
Intervention und der deutschen Beteiligung daran. Wir
unterstützen ausdrücklich die Elemente der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates, durch die die Sanktionen gegen das Gaddafi-Regime verschärft werden.
Wir Deutsche selbst haben in New York die Vorschläge
für noch umfassendere Wirtschafts- und Finanzsanktionen eingebracht und auch vorangetrieben. Deutschland
hat sich als eines der ersten Länder in Brüssel und übrigens auch in New York für eine eindeutige Haltung gegenüber dem Diktator Gaddafi ausgesprochen, für eine
Isolierung des Systems Gaddafi, und für Sanktionen gegen sein Regime haben wir uns ebenfalls in Brüssel und
auch in New York sehr frühzeitig stark gemacht.
Die Alternative zu einem Militäreinsatz ist nicht Tatenlosigkeit, ist nicht Zusehen, sondern ist, den Druck zu
erhöhen, Sanktionen zu beschließen und Sanktionen zu
verschärfen. Es geht auch darum, diese Sanktionen insoweit auszuweiten, als sie umfassend die Finanz- und
Wirtschaftsfragen berühren. Mit den Sanktionen ist nämlich ein klares Ziel verbunden: Wir müssen verhindern,
dass weiterhin frisches Geld in die Hände dieses Diktators gelangen kann, Geld, mit dem er dann wiederum
seine Söldnertruppen bezahlen kann, um das eigene Volk
zu unterdrücken, um diesen schrecklichen Krieg gegen
das eigene Volk fortzuführen.
({2})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Oberst Gaddafi führt einen
Krieg gegen das eigene Volk. Er hat jede Legitimation
verwirkt. Dieser Diktator muss gehen. Aber er muss für
seine Verbrechen auch zur Rechenschaft gezogen werden.
({3})
Deswegen war es richtig, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eindeutig die Rolle des Internationalen
Strafgerichtshofes in diesem Zusammenhang unterstrichen hat.
({4})
Es ist das ausdrückliche Ziel der Bundesregierung,
den demokratischen Aufbruch in Nordafrika und der arabischen Welt nach Kräften zu unterstützen. Wir werden
auch künftig in der Europäischen Union und auch in den
Vereinten Nationen dafür arbeiten, diesen Aufbruch
politisch, wirtschaftlich, finanziell und humanitär zu fördern und ihm zum Erfolg zu verhelfen.
Dabei gibt es Entwicklungen, die uns erfreuen: in Marokko, die Jasmin-Revolution in Tunesien, die Millionen
Menschen in Ägypten, die für ihre Freiheit auf dem
Tahrir-Platz gekämpft haben und die erfolgreich waren.
In einigen Ländern gibt es leider aber auch furchtbare
Rückschläge: in Libyen - der Anlass dieser Regierungserklärung. Darüber hinaus möchte ich an einem solchen
Tag daran erinnern: Auch die Menschen in Bahrain haben das Recht, für ihre Freiheit und für ihre Demonstrations- und Meinungsfreiheit einzutreten.
({5})
Ich habe diese Haltung auch gegenüber meinen Gesprächspartnern in den Golfstaaten klar zum Ausdruck
gebracht. Wir wollen einen nationalen Dialog. Wir wollen eine nationale Lösung. Aus unserer Sicht muss die
Lösung im Lande durch Dialog gefunden werden und
nicht durch das Ausland oder durch ausländische Truppen.
Wir sind in Sorge im Hinblick auf die Unterdrückung
der Opposition im Iran. Auch wenn darüber im Augenblick nicht jeden Tag etwas zu lesen ist, so wissen wir
doch alle, dass gerade die Oppositionskräfte im Iran unverändert unsere volle Aufmerksamkeit und auch unsere
Solidarität verdient haben. Wir wollen sie auch an einem
solchen Tage nicht vergessen, an dem wir alle natürlich
über Libyen reden.
({6})
Meine Damen und Herren Abgeordneten, ich denke
natürlich auch an Jemen, ein Land, das uns seit längerem
große Sorgen macht. Schon vor einem Jahr haben wir
Präsident Salih dazu aufgerufen und aufgefordert, den
Ausgleich und den Dialog zu suchen. Er hat sich anders
entschieden. Er hat auf die Kraft des Militärs gesetzt.
Die Zeit ist verstrichen. Wir sehen heute, vor welcher
dramatischen Situation Jemen steht.
Auch wenn im Augenblick in Europa der Fokus der
Aufmerksamkeit nicht dort liegt, muss in diesem Zusammenhang noch einmal an die Elfenbeinküste erinnert
werden. Es ist leider so, auch wenn es jedem mitfühlenden Menschen das Herz bricht.
Es gibt so viele Freiheitsbewegungen, die von Despoten und Diktatoren unterdrückt werden. Ich kann nicht
verhehlen, es gibt Augenblicke, da spürt man auch als
Demokrat, als Mensch, der sich den Menschen zuwendet, ein Gefühl der Ohnmacht. Das kann niemand ignorieren. Das kann auch niemand leugnen.
Wir sind nicht in der Lage, überall auf der Welt die
Unterdrückung zu beseitigen. Wir sind aber in der Lage,
überall in der Welt klar unsere Stimme zu erheben, damit
diejenigen, die unterdrückt werden, wissen: Sie sind
nicht alleine, wir stehen an ihrer Seite.
({7})
Ich sage das deshalb, weil es natürlich notwendig ist,
auch die Folgen der Entscheidung, die gestern Nacht getroffen worden ist und die uns alle hier im Deutschen
Bundestag befasst und beschäftigt, für andere Länder zu
berücksichtigen, für die Auswirkungen im gesamten
Norden Afrikas und darüber hinaus auch in der arabischen Welt.
Die Sicherheitsresolution enthält auch Bestimmungen
über die Einrichtung einer Flugverbotszone und vor allen Dingen über einen darüber hinausgehenden Einsatz
militärischer Gewalt. Es geht darum, dass durch diese
Resolution militärische Gewalt, ein militärischer Einsatz
durch Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mehrheitlich legitimiert wurde. Die Entscheidung über den Einsatz militärischer Gewalt, über den Einsatz auch des Lebens unserer Soldatinnen und Soldaten ist die wohl
schwierigste Entscheidung, vor die die Politik gestellt
werden kann. Das gilt nicht nur für die Regierung, das
gilt auch für jeden Abgeordneten hier im Hause. Denn
jeder Auslandseinsatz unserer Bundeswehr müsste von
diesem Hohen Hause mandatiert werden. Wir haben eine
Parlamentsarmee und keine Regierungsarmee. Deswegen bin ich sicher, dass sich jeder Abgeordnete dieselben
Fragen stellt und auch dieselben schwierigen Abwägungen vornimmt. Wir sind alle verantwortlich bei solchen
Fragen, nicht nur die Regierung, meine sehr geehrten
Damen und Herren.
Den möglichen Nutzen und die Risiken eines militärischen Einsatzes im Falle Libyens haben wir in den vergangenen Tagen in zahllosen Gesprächen in vielen nationalen und internationalen Gremien diskutiert und
abgewogen. Es gibt keinen sogenannten chirurgischen
Eingriff. Jeder Militäreinsatz wird auch zivile Opfer fordern. Das wissen wir aus leidvoller Erfahrung. Wenn wir
abwägen, wie wir uns international verhalten und ob wir
uns und wo wir uns beteiligen, dann muss in diese humanitäre Abwägung immer auch mit einbezogen werden,
dass es Opfer gibt, auch zivile Opfer gibt. Ich weiß, dass
wir das in der Frage des Irak- oder des Afghanistan-Einsatzes oft genug besprochen haben. Ich muss deswegen
darum bitten und darf daran erinnern, dass wir die Lehren aus der jüngeren Geschichte, auch aus jüngeren Militäreinsätzen, immer mit berücksichtigen müssen, wenn
wir heute vor Entscheidungen stehen.
Wir haben Respekt und wir haben Verständnis für diejenigen unserer Partner im Sicherheitsrat, in der EuroBundesminister Dr. Guido Westerwelle
päischen Union und auch in der Arabischen Liga, die
nach Abwägung aller Argumente zu einem anderen Ergebnis gekommen sind als wir. Wir verstehen diejenigen, die sich aus ehrenwerten Motiven für ein internationales militärisches Eingreifen in Libyen ausgesprochen
haben. Wir verstehen die Verzweiflung vieler Menschen
in der Region angesichts der Entwicklungen in Libyen in
den letzten Tagen. Die Bundesregierung ist aber angesichts sowohl außenpolitisch als auch militärisch erheblicher Gefahren und Risiken bei der Abwägung im Sicherheitsrat zu einem anderen Ergebnis gekommen.
Deswegen konnten wir diesem Teil der Resolution und
damit der Resolution im Ganzen nicht zustimmen. Wir
werden uns nicht mit deutschen Soldaten an einem solchen Militärkampfeinsatz in Libyen beteiligen.
({8})
Für diese Entscheidung habe ich bei unseren Partnern
Verständnis und auch Respekt gefunden. Internationales
Engagement der Deutschen wird geschätzt. Es ist nicht
so, als wäre Deutschland nicht bereit, international Verantwortung zu übernehmen. Deutschland trägt Verantwortung, zum Beispiel indem 7 000 deutsche Soldaten
bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr eingesetzt werden. Wir danken den Frauen und Männern der Bundeswehr, die weltweit für unsere Freiheit und für unsere Sicherheit eintreten. Auch an diesem Tage, gerade an
diesem Tage vor dem Hintergrund der schrecklichen
Nachrichten aus Afghanistan, möchte ich diesen Dank
an unsere Bundeswehr noch einmal zum Ausdruck bringen.
({9})
Wir werden darüber beraten, meine Damen und Herren, ob wir unser Engagement entsprechend konzentrieren. Das bedeutet, dass die weiteren Fragen, die jetzt auf
der Tagesordnung stehen, zum Beispiel die Frage möglicher AWACS-Einsätze, in der NATO besprochen werden
müssen. Ich will Ihnen das frühzeitig und ausdrücklich
sagen, weil ich nicht den Eindruck erwecken möchte, in
der Regierungserklärung sei das, was viele von Ihnen
natürlich weiter denken und mit erörtern, kein Thema.
Wir - der Bundesverteidigungsminister und der Bundesaußenminister - werden selber gemeinsam mit unseren
Kolleginnen und Kollegen im Kabinett, die damit befasst sind, diese Gespräche in der NATO suchen. Sie
sind notwendig, weil hierzu heute noch keine Entscheidungen zu treffen sind und auch in Bezug auf die Sicherheit noch keine Entscheidungen getroffen werden können.
Lassen Sie mich aber hinzufügen, dass ich mir im
Interesse unserer Partner und auch im Interesse der Menschen in Libyen und der ganzen arabischen Welt wünschen würde, dass sich unsere Sorgen und Befürchtungen hinsichtlich der Folgen eines Militäreinsatzes nicht
bewahrheiten. Unsere Position ist eindeutig gegenüber
dem Gaddafi-Regime, sie bleibt unverändert: Der Diktator muss die Gewalt gegen sein eigenes Volk sofort beenden. Er muss gehen, und er muss für seine Verbrechen
zur Rechenschaft gezogen werden.
Wir haben es uns nicht leichtgemacht. Ich weiß, dass es
niemandem von Ihnen leichtfällt, sich hierüber eine Meinung zu bilden. Aber für uns ist klar: In der Abwägung der
Argumente sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass
wir uns mit deutschen Soldaten an einem solchen
Kampfeinsatz in Libyen nicht beteiligen werden. Deswegen hat sich die Bundesregierung, hat sich Deutschland
im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen enthalten. Ich
bitte um Ihre Unterstützung für diese Position und danke
für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Rolf
Mützenich für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ohne Zweifel, Herr Bundesaußenminister: Das ist eine,
fast würde ich sagen, beispiellose Debatte, die wir hier
haben, weil wir so schnell zu einer Regierungserklärung
nach der Entscheidung im Sicherheitsrat gekommen
sind. Ich glaube, es ist auch nicht falsch, wenn man sagt,
dass es offensichtlich quer durch die Fraktionen unterschiedliche Auffassungen in dieser Frage gibt und auch
geben wird. An der Aufmerksamkeit, mit der alle Kolleginnen und Kollegen Ihrer Rede zugehört haben, hat
man schon gesehen, dass es - vielleicht bis auf den einen
oder anderen Teil - für die große Mehrheit des Deutschen Bundestages keine einfache Frage ist. Dieses Dilemma bleibt heute und wird wahrscheinlich auch in den
nächsten Tagen bleiben.
Niemand wird wahrscheinlich zu einfachen Lösungen
kommen. Aber ich glaube, an die Bundesregierung und
auch ganz besonders an Sie, Herr Bundesaußenminister,
darf man die Frage richten, ob die Motive, die Sie hier in
der Regierungserklärung und auch in der Regierungserklärung am Mittwoch genannt haben, so uneigennützig
sind und nur von einer internationalen Frage geleitet sind
({0})
oder ob nicht das, was ich Ihnen am Mittwoch in der Debatte gesagt habe, unter Umständen ein Motiv sein kann:
Am 11. März haben Sie in einem Interview des Morgenmagazins genau die innenpolitische Debatte eröffnet, die
wir vonseiten der Sozialdemokratischen Partei unterlassen haben. Wir wollten nämlich nicht, dass dies innenpolitisch instrumentalisiert wird. Sie haben damit nicht
aufgehört; denn Sie sind gestern im Deutschlandradio
Kultur wieder genau diese Schiene gefahren. Auch jetzt
habe ich, muss ich Ihnen sagen, in den frei formulierten
Teilen Ihrer Regierungserklärung den einen oder anderen Punkt gesehen,
({1})
der zeigt, dass dies ein Motiv ist. Das gehört mit dazu.
({2})
Wenn Sie sagen: „Wir als Bundesregierung können
nicht überall eingreifen“, dann gebe ich Ihnen recht. Das
ist vollkommen richtig. Aber das heißt doch nicht, dass
wir dann nirgendwo eingreifen, sondern wir greifen
doch dann dort ein, wo wir es können. Auch das hätten
Sie von diesem Rednerpult aus sagen müssen.
({3})
Kurzum: Ich glaube schon, Ihr Vorwurf, dass andere
Bundesregierungen früher mit dieser Frage leichtfertig
umgegangen sind, wendet sich gegen Sie selbst; denn
Sie dürfen nicht leichtfertig Ihre Fragen innenpolitischen
Motiven unterordnen.
({4})
Ich sage Ihnen: Sie stehen in einer Tradition, die die
FDP-Bundestagsfraktion mit zu verantworten hat. Sie
haben sich damals gegen den Einsatz im arabischen
Raum im Rahmen von UNIFIL aus innenpolitischen
Gründen ausgesprochen,
({5})
weil sie glaubten, so die bessere Gewähr für Erfolge in
Wahlkämpfen zu haben. Ich unterstelle Ihnen, dass es
auch in diesem Fall so ist.
({6})
Sie müssen eine entscheidende Frage beantworten, Herr
Bundesaußenminister. Ich glaube, Sie tun hier der deutschen Öffentlichkeit - ({7})
- Sie regen sich doch so auf, weil ich da offensichtlich
den wunden Punkt getroffen habe, der zu dieser Debatte
und, ich sage auch, zu diesem Dilemma letztlich gehört.
({8})
Er gehört zu diesem Dilemma. Tun Sie doch nicht so, als
ob das in Ihrer Fraktion nicht der Punkt wäre. ({9})
Sie stellen sich aber hierhin und sagen: Es gibt einen Automatismus für Ihr Verhalten im Sicherheitsrat und für
das, was in nationaler Souveränität zu entscheiden ist.
({10})
Die Frage ist in der UN-Charta ganz klar geregelt: In
der UN-Charta steht, dass man einem Beschluss des Sicherheitsrates zustimmen und dann auf nationaler Ebene
schauen kann, wie man mit diesem Beschluss umgeht.
Zehn Länder, die Sie eben ganz bewusst nicht genannt
haben - darunter sind zum Beispiel drei afrikanische
Länder und ein arabisches Land -, haben zugestimmt.
Sie wissen, dass sie nicht mitmachen werden. Aber Sie
unterstellen, dass ein Ja automatisch bedeutet hätte, dass
die Bundesregierung bei der Frage einer Beteiligung anders hätte handeln müssen. Nein, das stimmt nicht.
Wenn Sie in der Politik souverän sein wollen, müssen
Sie sich eher fragen: An welcher Stelle wollen Sie im Sicherheitsrat dabei sein? Wollen Sie bei den zehn Ländern dabei sein, die zugestimmt haben, darunter drei europäische Staaten, drei afrikanische Staaten und ein
arabischer Staat? Ich finde, Sie hätten auf dieses Dilemma hinweisen sollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spatz?
Ja, bitte schön.
({0})
Herr Kollege Mützenich, darf ich in aller Bescheidenheit fragen, ob Sie bereit sind, uns endlich auch einmal
die Position der SPD darzulegen?
({0})
Wissen Sie, genau das ist doch der Punkt.
({0})
- Nein, nein. Darf ich denn nicht einmal aussprechen? Der Herr Bundesaußenminister hat in einer Hälfte seiner
Rede nicht über Libyen gesprochen, sondern hat sehr
salbungsvoll mit dem einen oder anderen Satz über andere Länder gesprochen, etwa über Bahrain und die Elfenbeinküste. Er hat dann gesagt: Man kann nicht überall
intervenieren. Aber er hat nicht beantwortet, warum die
Bundesregierung nach ihrer Abwägung nicht möglicherweise die Konsequenz ziehen wollte,
({1})
zu einer Mehrheit im Sicherheitsrat dazuzugehören. Herr
Kollege Spatz, ich muss Ihnen sagen: Ich weiß, dass Sie
eine ganz andere Position vertreten, dass auch innerhalb
der Bundesregierung eine ganz andere Position vertreten
wird. Unser Problem, das Problem Deutschlands, ist
doch jetzt, dass es keine gemeinsame europäische Position mehr gibt.
({2})
Wir haben es nicht geschafft, alle europäischen Staaten
beisammenzuhalten. Das ist doch genau der Punkt, auf
den Ihr Außenminister heute nicht eingegangen ist.
Herr Bundesaußenminister, ich glaube, dass sich die
Frage der nationalen Souveränität nicht davon ableitet,
wie man sich möglicherweise bei verschiedenen Fragen
im Sicherheitsrat entscheidet.
({3})
Die nationale Souveränität leitet sich daraus ab, wie man
begründet, dass man jetzt aus einem europäischen Geleitzug ausgeschert ist.
({4})
Diese Frage müssen Sie sich in einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik stellen.
({5})
Herr Bundesaußenminister, der andere Punkt ist - auch
diese Frage müssen Sie erlauben -: Was denken die Länder in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, die
Sie in eine verantwortungsvolle Position im Sicherheitsrat gewählt haben, über Ihre gestrige Entscheidung im Sicherheitsrat? Was denken denn die Menschen - Sie haben
noch am Mittwoch davon gesprochen, wie beeindruckt
Sie gewesen sind -, die Deutschland auf dem Tahrir-Platz
zugejubelt haben, weil unser Land die Befreiungsbewegung in der arabischen Welt unterstützt?
({6})
Ich glaube, dass die Menschen vom Tahrir-Platz jetzt,
nach der Entscheidung der Bundesregierung, einen ganz
anderen Blick auf Deutschland haben; denn Sie haben
die europäische Position verlassen und trauen sich nicht,
gegen jemanden vorzugehen, der ein Mörder ist, der die
Menschen bombardiert, der die Menschen einfach erschießt, weil sie auf der Seite anderer sind.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja, gleich, wenn ich den Gedanken noch zu Ende führen darf. - Sie müssen sich doch fragen: Welche Entscheidung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hätte
möglicherweise eine Verhaltensänderung Gaddafis bewirkt, und zwar nicht die Verhaltensänderung von gestern?
Es ist doch ganz klar: Der Beschluss im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen hat deutlich gemacht, dass
Gaddafi erst danach zu Gesprächen über eine Waffenruhe bereit gewesen ist. Auch das müssen Sie sich doch
fragen, wenn Sie hier sagen: Wir stehen in einem Dilemma. Natürlich, das spreche ich Ihnen doch gar nicht
ab. Aber der entscheidende Punkt ist: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus? Die Verhaltensänderung
Gaddafis hat sich erst aus der gestrigen Beschlussfassung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ergeben.
Jetzt sagen Sie: Wir wollen nicht mit deutschen Bodentruppen dorthin.
({0})
Nein, natürlich nicht. Das wollen wir doch auch nicht.
Aber das besagt auch nicht der Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Er will vielmehr eine
Flugverbotszone.
({1})
- Sie waren ja am Mittwoch nicht bei den Beratungen
des Auswärtigen Ausschusses dabei. In den Beratungen
des Auswärtigen Ausschusses am Mittwoch hat uns
Staatssekretär Born erklärt,
({2})
die Überwachung der Flugverbotszone
({3})
mit Anteilen der Bundeswehr an den Einsätzen der
AWACS erfolge zurzeit auf der Grundlage des Mandats
von Active Endeavour. Sie haben sich nicht hier hingestellt und gesagt, Sie ziehen diese Bundeswehrsoldaten
aus der AWACS-Überwachung zurück. Das hätte ich
von einer Regierungserklärung hier erwartet. Sie tun so,
als seien alle Fragen beantwortet gewesen. Das ist eben
nicht der Fall.
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
Deswegen glaube ich: Ihr Dilemma, das Sie selbst zu
verantworten haben, ist, dass Sie sich wegen der innenpolitischen Brille ohne Not in diese Situation gebracht
haben. - Bitte.
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Dr. Mützenich, wären Sie so freundlich,
wenn Sie schon dem Kollegen Spatz die Frage nicht beantwortet haben, die er gestellt hat, mir erstens die Frage
zu beantworten, wie die Haltung der SPD-Fraktion in
der Sache ist, und mir zweitens zu sagen, ob Sie der Ansicht sind, dass Sie sich in der Haltung, zu was auch immer Sie hier vorgetragen haben, einig fühlen mit dem
von uns sehr geschätzten Kollegen Steinmeier?
Ich habe Ihnen eben Folgendes gesagt: Wenn Sie für
Ihre Fraktion sagen können, das sei für Sie alles klar,
wenn Sie das so für sich behaupten können, ist das klar.
Ich kann für meine Fraktion nicht behaupten, dass das
klar ist. Das habe ich eben gesagt. Ich habe vorhin an
dieser Stelle, glaube ich, eine sehr ehrliche Erklärung abgegeben.
({0})
Ich bin der Meinung, dass Sie sich von innenpolitischen
Motiven haben leiten lassen,
({1})
so wie der Bundesaußenminister das am Mittwoch und
heute noch in der Frage gesagt hat.
Ich möchte Sie auf einen weiteren Widerspruch aufmerksam machen, wenn ich das darf, Herr Bundesaußenminister. Sie sagen immer, Sie vermissten eine
Beteiligung aus der Region. Sie vermissten eine Beteiligung vonseiten der afrikanischen Länder, vonseiten der
arabischen Länder. Herr Bundesaußenminister, Sie haben jetzt diese Unterstützung.
({2})
Drei afrikanische Länder haben gestern Nacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für ein Mandat gestimmt. Der Libanon hat im Sicherheitsrat für ein Mandat gestimmt. Deswegen müssen Sie hier schon die
Frage beantworten, warum Sie, nachdem die Forderungen, die Sie gestellt haben, jetzt eingelöst worden sind,
nicht bereit sind, in der Konsequenz zu sagen: Jetzt ist
dieses Mandat gegeben, und jetzt kann sich die Bundesrepublik Deutschland, kann sich die Bundesregierung
entsprechend verhalten.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben noch einmal an Bahrein und andere Länder erinnert. Ja, das ist
richtig. Aber der entscheidende Punkt wird sein, ob Sie
letztlich nicht umhinkönnen, in einer Situation in
Libyen, vor der wir stehen,
({3})
in der offensichtlich ein Machthaber Gaddafi mit mörderischer Konsequenz gegen seine eigene Bevölkerung
vorgeht, das Instrument, das Ihnen der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen gestern zur Verfügung gestellt hat,
nicht doch zu nutzen, um diesen Mörder zu stoppen.
({4})
Ich glaube, das wäre die richtige Konsequenz gewesen.
Den Mut, den Sie gestern nicht aufgebracht haben, hätte
ich mir von Ihnen gewünscht.
({5})
Herr Kollege, es gibt noch eine Zwischenfrage.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Ruprecht Polenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Mützenich, nach Ihrem Beitrag fällt es nicht ganz leicht, sachlich zu dem Thema zu
sprechen, für das wir heute Vormittag hier zusammengekommen sind.
({0})
Ich glaube, niemand macht sich die Entscheidung
leicht. Das haben Sie für die SPD-Fraktion betont. Es
hilft nichts, sich gegenseitig die Vergangenheit vorzuhalten. Diesbezüglich könnte ich auf Ihre Rede jetzt so einiges erwidern und zeigen, dass man außenpolitische Fragen innenpolitisch instrumentalisiert hat. Dazu würde
mir einiges einfallen.
({1})
Aber das möchte ich nicht tun. Ich möchte zu dem sprechen, für das wir heute hier zusammengekommen sind.
Ich weiß nicht, wer von Ihnen gestern um Mitternacht, als die Resolution des Sicherheitsrats beschlossen
worden ist, Bilder aus Bengasi gesehen hat. Die Leute
sind auf die Straße geströmt, befreit von der Angst, die
sie natürlich hatten, weil Gaddafi ihnen nicht nur rhetorisch das Ende angekündigt hat, sondern auch sein Tun
bis dahin erwarten ließ, dass es in Bengasi ein Blutbad
geben könnte. Die Erleichterung über die Entscheidung
stand den Menschen ins Gesicht geschrieben.
Die Frage ist jetzt: Wie geht es weiter? Es hat sich etwas verändert in der Rhetorik des Gaddafi-Regimes. Auf
einmal ist die Rede von Verhandlungen, von Waffenstillstand und von Ähnlichem. Aber die Taten sprechen nach
wie vor eine andere Sprache. Die Agenturen meldeten
heute Morgen, dass die Stadt Misurata eingekesselt ist
und mit Raketen beschossen wird, dass Gaddafi also
weitermacht.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat gestern
die Staatengemeinschaft ermächtigt, einzeln oder gemeinsam zu handeln, nämlich bei Sanktionen, bei einem
Flugverbot und vor allen Dingen beim Schutz der Zivilisten. Das war für uns immer die erste Voraussetzung,
die erfüllt sein muss, ehe wir überhaupt darüber reden,
wie Deutschland sich verhält und ob es sich gegebenenfalls beteiligt. Diese Voraussetzung ist durch den Sicherheitsratsbeschluss gestern Abend erfüllt.
Für Deutschland ist aber auch ein weiterer Punkt entscheidend, den ich immer wieder vorgetragen habe.
Wenn man in Libyen eingreift, bei den Konflikten im
Sudan, in der Republik Elfenbeinküste und bei vielen
anderen Konflikten dieser Welt aber nicht, ist zu fragen
- und diese Frage ist berechtigt -: Worin liegt für euch
Europäer und euch Deutsche der Unterschied? Die Antwort darf nicht lauten: Es ist das Öl.
({2})
Um diese Schlussfolgerung zu vermeiden, war es entscheidend und notwendig, dass sich Länder aus der Region sichtbar beteiligen. „Sichtbar“ heißt, dass sie nicht,
was wir in der Region gelegentlich erleben, der Weltöffentlichkeit auf Englisch das eine erklären, der eigenen
Bevölkerung aber auf Arabisch etwas anderes sagen.
„Sichtbar“ heißt, dass sie eine solche Operation tatsächlich mit stützen. Jetzt heißt es, dass Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate bereit wären, das zu machen.
Die Frage ist: Wie soll sich Deutschland verhalten?
({3})
- Bitte schön.
Bitte schön, Kollege Oppermann.
Vielen Dank. Das kam postwendend. - Herr Polenz,
Sie wollen sich jetzt der Frage zuwenden, wie sich
Deutschland verhält. Vorher will ich Sie aber fragen
- diese Fragen haben Sie noch nicht beantwortet -, ob
der UN-Sicherheitsratsbeschluss aus Sicht der CDU/
CSU-Fraktion richtig oder falsch war.
({0})
Es war richtig, dass Deutschland sich enthalten hat.
Auch der Beschluss als solcher war richtig. Sonst hätten
wir ja dagegengestimmt.
({0})
- Moment. Wenn er falsch gewesen wäre, hätten wir dagegenstimmen müssen. Wir haben uns enthalten. Der
Beschluss war richtig. Es war aber auch richtig, dass sich
Deutschland gestern Abend enthalten hat. Das will ich
gleich noch ausführen und begründen.
({1})
Um die Frage beantworten zu können, warum man
sich in Libyen engagiert, an der Elfenbeinküste aber
nicht, müssen wir zunächst einmal unsere Interessen in
den Blick nehmen.
({2})
In der Mittelmeerregion haben wir ökonomische Interessen. Es geht um ein strategisches Interesse, um die Sicherheit Israels und um Fragen der Migration und der
Flüchtlinge. Wir haben ein Interesse an der Modernisierung dieser Region, an Reformen. Damit zusammenhängend haben wir auch ein Interesse daran, den Terrorismus, der in dieser Region Wurzeln hat, vorbeugend zu
bekämpfen.
Die Mittelmeerregion hat also eine strategische Bedeutung für die Sicherheit Europas, anders als andere
Regionen der Welt. Insofern muss man zu dem Argument, überall auf der Welt passiere ähnlich Schlimmes
und dort machten wir nichts, von unserem Interessengesichtspunkt her sagen: Der Mittelmeerraum liegt uns aus
anderen Gründen, auch aus Sicherheitsgründen, näher
und rechtfertigt eine andere Betrachtungsweise.
Ich warne allerdings heute vor zu weit gehenden Festlegungen von uns Parlamentariern, weil uns wichtige Informationen fehlen. Es ist nicht so, dass das Parlament
über den Einsatz der Streitkräfte beschließt, sondern
man stimmt einem Antrag der Bundesregierung zu,
wenn er denn eingebracht wird, weil dann alle Vor- und
Nachteile viel detaillierter abgewogen werden können.
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen,
dass man hinsichtlich der Einsatzrisiken aus dem Beispiel Bosnien lernen kann: Damals hat Milosevic bei
Luftangriffen zivile Schutzschilde vor militärisch wichtige Ziele gestellt. Das wird Gaddafi möglicherweise
auch machen. Es wird bei dem Einsatz aus der Luft nicht
ohne sogenannte Kollateralschäden am Boden abgehen.
Das muss man wissen.
Man muss auch wissen: Es ist nicht sicher, dass ein
solcher Lufteinsatz zu dem Ergebnis führt, dass Gaddafi
aufgibt, sich festnehmen und nach Den Haag transportieren lässt. Denn das ist ja das Ziel, das letztlich hinter all
diesen Überlegungen steht.
Es gibt noch eine ganze Menge offener Fragen. Deshalb überlegt der NATO-Rat seit heute Vormittag bei seiner Tagung, wie das weitere Vorgehen sein soll. Auch
hier ist die Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Ich
finde es richtig, dass wir über das weitere Vorgehen auch
innerhalb der Europäischen Union diskutieren.
Aus meiner Sicht war es sehr verständlich, wegen der
noch ungeklärten Risiken zunächst das politische Vorgehen abzuwarten. Noch sehe ich kein arabisches Land,
das hierbei mitwirkt. Die militärischen Einsätze haben ja
auch noch nicht begonnen. Alles andere hätte ich für ein
viel zu großes politisches Risiko gehalten.
Nun zu der Frage: Wie soll sich Deutschland weiter
verhalten? Ich glaube, wenn wir das heute im Plenum
des Bundestages diskutieren, kommt es darauf an, dass
wir uns Optionen für die weiteren Beratungen in der
NATO und in der Europäischen Union offenhalten und
dann von der Regierung weitere Erklärungen und Festlegungen erwarten. Das können wir aus der heutigen Sicht
nicht beurteilen. Ich würde nicht sagen: Jawohl, in jedem
Fall wäre es richtiger, wenn sich Deutschland militärisch
beteiligen würde. So weit würde ich heute nach den Informationen, die ich als Parlamentarier habe, nicht ge11144
hen. Insofern ist es klug, dass die Regierung die verschiedenen Möglichkeiten weiter überdenkt.
Auf der anderen Seite, Herr Außenminister: Wir haben im Sicherheitsrat und auch in der Europäischen
Union der Aussage zugestimmt: Gaddafi muss weg,
seine Zeit ist abgelaufen. Wir haben im Sicherheitsrat einer Resolution zugestimmt, dass Gaddafi vor den Internationalen Strafgerichtshof soll. Wir haben uns bereit erklärt, Sanktionen mitzutragen. Da klafft eine operative
Lücke. Denn Sanktionen wirken mittel- bis längerfristig;
sie wirken in der Regel nicht sofort. Mir sind jedenfalls
keine Sanktionen bekannt, die sofort eine derart weitgehende Verhaltensänderung bewirkt hätten, sodass
Gaddafi festgesetzt wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rainer Arnold?
Ja.
Sie sprachen davon, wie wir uns als Parlamentarier
verhalten. Deshalb meine Frage: Trifft die Meldung zu,
dass die Bundesregierung in Ihrer Fraktionssitzung erklärt hat, sie erwäge einen Einsatz von AWACS in
Afghanistan, um so die NATO für einen Einsatz in Libyen zu entlasten? Wie bewerten Sie die Auswirkungen
auf die Bündnisse, wenn die Deutschen ihr Personal von
den jetzt schon vor Libyen fliegenden AWACS unverzüglich abziehen?
Das wird eine der Fragen sein, die jetzt in der NATO
besprochen werden müssen.
({0})
Denn es ist ja klar: Im Augenblick fliegen AWACS im
Mittelmeerraum, allerdings mit einem Mandat zur Aufklärung. Wenn man das ändern wollte und die AWACS
als Feuerleitzentrale für eventuelle Luftschläge einsetzen
wollte, müsste der Bundestag neu damit befasst werden.
Wir müssten dafür ein Mandat erteilen.
({1})
Das würde der Bundestag auf Antrag der Bundesregierung zu beschließen haben, wenn die Bundesregierung
einen entsprechenden Antrag vorlegen will. Gleichzeitig
hatten wir - wir erinnern uns beide - eine Diskussion
über AWACS in Afghanistan geführt; Sie kennen die
Vorgeschichte. Die AWACS-Flugzeuge werden weiter
dort gebraucht. Die NATO muss entscheiden, wo der
deutsche Einsatz gebraucht wird. Ich finde es richtig,
dass der Verteidigungsminister das in der NATO klären
wird. Darüber ist in der Fraktion gesprochen worden. Im
Übrigen wollte ich Ihnen eigentlich keine weitergehenden Auskünfte über unsere Fraktionssitzung geben.
({2})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Mützenich?
({0})
Ja.
Herr Kollege Polenz, wie verstehen Sie eine Regierungserklärung des Außenministers, mit der das Parlament und die Öffentlichkeit über eine solch wichtige
Frage informiert werden sollen, nachdem offensichtlich
nur Ihnen in der Fraktionssitzung die Information gegeben worden ist, wie mit dem Einsatz von AWACS-Flugzeugen umgegangen werden soll
({0})
und ob es möglicherweise ein weiteres Mandat des Deutschen Bundestags geben wird?
({1})
Wir haben nicht konkret über Mandatierungen gesprochen, und außerdem geht es um die weitere Diskussion im Bündnis. Ich habe versucht, klarzumachen, dass
die NATO gerade im Planungsprozess ist. Deutschland
hat zugestimmt, dass die NATO Planungen für humanitäre Hilfe einschließlich dafür notwendiger militärischer
Maßnahmen unternimmt. Die Bundesregierung hat eine
Planung Richtung Flugverbotszone passieren lassen.
Das ist der Stand in der NATO.
Die NATO-Beratungen gehen jetzt weiter. Sie fragen
mich eigentlich, was bei den NATO-Beratungen herauskommt. - Es ist im Moment noch gar nicht klar, ob die
NATO sich überhaupt an einer Operation auf der Grundlage der Sicherheitsratsresolution beteiligt. Jedenfalls ist
mir nicht bekannt, dass diese Entscheidung schon gefallen wäre. Es kann sehr gut sein, dass es beispielweise
nur eine sogenannte Coalition of the Willing gibt. Insbesondere Frankreich, aber auch Großbritannien und die
USA haben gesagt, dass sie gegebenenfalls dabei wären.
Es ist noch gar nicht ausgemacht, dass es eine NATOMission wird.
({0})
Auch das spricht dafür, dass wir uns heute im Plenum
nicht in einer Weise festlegen, dass wir den weiteren
Entwicklungen nicht Rechnung tragen können.
Wir haben - das ist, glaube ich, in allen Fraktionen
deutlich geworden - schwierige Abwägungsentscheidungen zu treffen, die mehrere verschiedene Ebenen berühren. Die Ebene des gemeinsamen Handelns in der
Europäischen Union ist wichtig. Die Ebene im NATOBündnis ist wichtig. Aber es ist auch eine wichtige EntRuprecht Polenz
scheidung - dazu sind wir insbesondere als Bundestag
verpflichtet -, Risiken und Erfolgsaussichten abzuwägen
sowie die Schlüssigkeit dessen, was auf dem Tisch liegt,
zu prüfen.
Herr Mützenich, bisher hat der Sicherheitsrat gesagt:
keine Bodentruppen. - Diese Resolution hat den Sicherheitsrat passiert. Sie ist bei Enthaltung von Russland und
China angenommen worden. Wenn das eine Hängepartie
wie damals auf dem Balkan wird - obwohl es da keinen
Sicherheitsratsbeschluss gab - und sich die Frage stellt,
ob nicht doch Bodentruppen gebraucht werden, dann
würde es eines neuen Sicherheitsratsbeschlusses bedürfen. Dabei muss man nach dem bisherigen Verlauf der
Diskussion große Zweifel daran haben, dass dieser ohne
Veto von Russland oder China oder von beiden durchgehen würde. Dann würde die Operation auf halber Strecke
feststecken. Das müssen Sie auch bedenken.
All diese Gesichtspunkte können wir heute im Plenum als Fragen formulieren, ohne dass wir Antworten
darauf haben.
({1})
- Ja, das ist so. Das muss in den Gremien des Bündnisses vom Militär beurteilt werden. Dann stellt sich die
Frage, ob und wie Deutschland sich beteiligt.
Ich finde die Zurückhaltung richtig. Bündnis heißt
nicht, dass Deutschland bei allem, was die NATO macht,
prinzipiell dabei sein muss. Sonst brauchten wir den Parlamentsvorhalt nicht mehr und könnten sagen: Das alles
entscheidet die NATO in Brüssel, und wir sind dabei.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie das Parlament heute unmittelbar nach der Entscheidung des Sicherheitsrats in Form
einer Regierungserklärung informiert hat. Es ist sicherlich nicht das letzte Mal, dass wir über dieses Thema diskutieren.
Ich hoffe, dass es auf der Basis des gestern Beschlossenen gelingt, die Hoffnungen, die die Menschen in Bengasi jetzt in die internationale Staatengemeinschaft und
das Verhalten von Gaddafi setzen, nicht zu enttäuschen.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Meine Kurzintervention wird sehr kurz sein. - Liebe
Kolleginnen und Kollegen, es gibt das international, von
der Generalversammlung der Vereinten Nationen akzeptierte Prinzip, das auf den Erfahrungen in Ruanda und
dem dortigen Völkermord basiert: das Prinzip der
Schutzverantwortung, Responsibility to Protect. Ich
finde es eine Schande, dass sich die Bundesregierung als
Mitglied des UN-Sicherheitsrates in dieser Situation enthalten hat. Gegenüber Despoten kann es bei solchen Entscheidungen keine Enthaltung geben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns in
diesem Hause nicht wechselseitig Kriegstreiberei vorwerfen. Das ist eine Stillosigkeit, die hier eine Grenzüberschreitung ist.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen
Tagen scheint die Welt manchmal aus den Fugen zu geraten. Bei all den Katastrophenmeldungen weiß ich
manchmal gar nicht mehr, welche mich am meisten erschüttert. Gestern Nacht hat der UN-Sicherheitsrat einen
Kriegseinsatz in Libyen beschlossen. Da geht es nicht
nur um eine Flugverbotszone, sondern es wurde auch genehmigt, dass Gaddafis Truppen flächendeckend bombardiert werden. Herr Polenz, es wurde auch genehmigt,
dass - zumindest zeitlich begrenzt - ausländische Bodentruppen auf libyschem Gebiet eingesetzt werden dürfen. Das Einzige, was ausgeschlossen wurde, sind Besatzungskräfte. Für einige Tage, für einige Wochen können
aber auch große Kontingente ausländischer Truppen in
Libyen Krieg führen. Wir finden diesen Kriegseinsatz
falsch.
({0})
Dieser Kriegseinsatz ist falsch; denn er wird noch
mehr Blutvergießen fordern und noch mehr Leid und
Zerstörung über Libyen bringen. Deswegen muss ich Ihnen, Herr Westerwelle, sagen: Ich finde es gut, dass sich
Deutschland gestern enthalten hat.
({1})
Wir hätten Nein gesagt; aber eine Enthaltung ist ein echter Fortschritt, vor allem gegenüber der rot-grünen Regierung,
({2})
die im Jahr 2001 aus Solidarität mit den Amerikanern
und den Engländern blind in den Afghanistan-Krieg gegangen ist. In diesem Krieg hängen Sie immer noch. Sie
haben immer noch nicht aus Ihren Fehlern gelernt.
Herr Mützenich, wenn ich Sie hier heute höre, muss
ich sagen: Sie von der SPD sind im Moment die größten
Kriegstreiber im Bundestag.
({3})
Herr Kollege, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
Ich habe gerade dazu gemahnt, dass wir uns wechselseitig nicht solche Vorwürfe machen.
({0})
Ich nehme diesen Ordnungsruf mit Stolz an.
({0})
Ich muss sagen: Herr Mützenich, wie Sie hier mit rotem Kopf stehen und für einen Kriegseinsatz in Libyen
plädieren, das ist, als ob Franz Josef Strauß wieder auferstanden wäre. So stellen Sie sich hier gerade dar.
({1})
Herr Westerwelle, wie gesagt, ich finde Ihre Entscheidung sehr klug und sehr konsequent. Ich hoffe, dass Sie
jetzt konsequent bleiben. Wenn Sie sich hier hinstellen
und sagen: „Keine deutsche Beteiligung“, dann hoffe
ich, dass Sie das konsequent bis zum Ende durchdenken.
Das heißt auch: keine deutschen Bundeswehrsoldaten in
AWACS-Flugzeugen, die jetzt schon dort herumfliegen.
({2})
Das heißt auch, dass Ramstein und andere US-Basen in
Deutschland für den Kriegseinsatz in Libyen nicht genutzt werden. Das heißt auch, dass Sie im NATO-Rat dagegenstimmen.
({3})
Damit können Sie sogar noch etwas aufhalten; denn im
NATO-Rat wird einstimmig beschlossen.
Natürlich ist es völlig richtig, das mörderische Treiben von Gaddafi zu stoppen; da sind wir uns hier alle einig. Es gibt Punkte in der Resolution, die dazu absolut
geeignet sind. Herr Westerwelle hat dies vorhin ausgeführt. Gaddafi kämpft im Moment ausschließlich mit
seinem Geld. Er kauft für sein Geld Söldner. Er hat vor
einigen Wochen in Tripolis Geld verteilt, um sich Unterstützung zu sichern. Wenn wir ihm den Geldhahn abdrehen, wenn weltweit kein Mensch mehr Öl aus Libyen
kauft, kann er irgendwann keine Söldner mehr bezahlen.
({4})
Ein weiteres Thema - darüber hat hier noch niemand
geredet - sind die deutschen Waffen und die Waffenexporte nach Libyen.
({5})
In der Resolution wird ein Waffenembargo gefordert.
Das ist richtig.
({6})
Das ist auch gut so. Denn wenn alle Länder um Libyen
herum keine Waffen und keine Patronen mehr durchlassen, dann geht Gaddafi irgendwann, und zwar ziemlich
schnell, die letzte Patrone aus. Das ist eine richtige Forderung in der Resolution, die wir unterstützen.
Jetzt muss ich Ihnen von der SPD etwas sagen. Frau
Heidemarie Wieczorek-Zeul, wenn Sie von Responsibility to Protect reden, dann erinnere ich Sie daran, dass
Sie zu einer Zeit, als Deutschland Waffen an Libyen geliefert hat, Ministerin waren.
({7})
In der Zeit der Großen Koalition wurden Waffen im Wert
von 86 Millionen Euro an Libyen geliefert, Waffen, die
jetzt gegen die Aufständischen eingesetzt werden. Das
ist die Verantwortung der SPD. Wenn Sie, nachdem Sie
Waffen geliefert haben, jetzt sagen: „Dann bekämpfen
wir sie mit der Bundeswehr“, dann ist dies - das Wort,
an das ich gerade denke, darf ich nicht mehr sagen nicht mehr zu überbieten.
({8})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich
fühle mich manchmal wie in dem Film Und täglich
grüßt das Murmeltier.
({9})
Als es im Januar dieses Jahres um Tunesien ging, hat die
Bundesregierung irgendwann entschieden, keine Waffen mehr an Tunesien zu liefern. Wir haben Sie damals
gefragt: Warum gilt das nicht auch für Ägypten, warum
nicht auch für Saudi-Arabien? Aber Sie haben Ihre Entscheidung auf Tunesien beschränkt. Ein paar Wochen
später haben Sie die Waffenexporte nach Ägypten beschränkt. Da haben wir gesagt: Richtig so! Aber warum
gilt das nicht auch für Saudi-Arabien, warum nicht auch
für Libyen? Ein paar Wochen später haben Sie die Waffenlieferungen nach Libyen gestoppt. Ich sage Ihnen
heute ein für alle Mal: Stoppen Sie alle Waffenexporte in
den Nahen und Mittleren Osten, an alle Diktatoren dort!
({10})
Ich stelle fest, dass es in der Region einige Länder
gibt, die schon zugesichert haben, sich an der Operation
gegen Libyen zu beteiligen, so zum Beispiel Katar. Katar
wurde von Deutschland im letzten Jahr mit Waffen im
Wert von 1,3 Millionen Euro ausgestattet, mit Sturmgewehren und anderem Material. Es sind also deutsche
Waffen, die jetzt eingesetzt werden.
Herr Westerwelle, noch ein letztes Wort. Sie haben
Bahrain erwähnt. Ich fand es sehr gut, dass Sie gesagt
haben: Wir stehen auf der Seite der Bevölkerung von
Bahrain, die sich jetzt gegen den dortigen Diktator wendet. - Wenn das so ist, müssen Sie aber auch etwas dazu
sagen, dass Saudi-Arabien gerade in Bahrain einmarschiert. Saudi-Arabien wird von Deutschland seit Jahren
mit Waffen im Millionenwert ausgestattet.
({11})
Deutschland liefert sogar eine Waffenfabrik und eine
Munitionsfabrik nach Saudi-Arabien. Das müssen Sie
endlich beenden! Wenn Sie die Bevölkerung von
Bahrain unterstützen wollen, stoppen Sie sofort alle
Waffenlieferungen!
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({12})
Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank für den Beifall. - Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den bisherigen
Verlauf dieser Debatte vor Augen führe, dann stellt sich
mir die Frage, ob dieses Parlament bzw. einige Redner
angemessen auf die schwierige Situation reagieren.
({0})
Ich beantworte diese Frage mit Nein. Ich möchte deshalb
zu Beginn meiner Rede sehr deutlich auf den Fakt eingehen, um den es geht.
Die Bundesregierung hat, wie ich finde, sehr stringent
argumentiert, nämlich in folgender Reihenfolge: Zuerst
wurde die Festlegung getroffen, dass sich Deutschland
aus Gründen, die der Außenminister ausführlich dargelegt hat, nicht an den kriegerischen Auseinandersetzungen in Libyen beteiligen wird; das war der erste Punkt.
Darauf folgte konsequenterweise die Entscheidung, sich
bei der entsprechenden Abstimmung im UN-Sicherheitsrat zu enthalten. Das ist eine konsequente und stringente
Argumentation. Man kann sie angreifen und anderer
Meinung sein. Aber auf jeden Fall ist diese Argumentation konsequent und stringent vorgetragen worden.
({1})
Selbstverständlich - das müssen wir den Bürgern im
Lande sagen; wir alle bekommen doch ähnliche E-Mails,
in denen danach gefragt wird - geht es nicht nur um eine
Flugverbotszone, um eine überschaubare, kurzfristige
militärische Aktion. Nein, wenn Sie sich das Mandat genau durchlesen - schauen Sie sich bitte vor allen Dingen
Art. 4 an -, dann stellen Sie fest, dass es sich um das
volle Spektrum einer militärischen Operation, um einen
vollen militärischen Einsatz handelt, der nicht auf eine
Flugverbotszone beschränkt ist. Die Bundesregierung
hat sich völlig zu Recht, konsequenterweise und stringent argumentierend gegen eine deutsche Beteiligung
ausgesprochen.
({2})
Meine Damen und Herren, diese Stringenz habe ich
bei der Opposition bisher sehr vermisst - eine Oppositionsrednerin kommt ja noch -, zumindest bei Ihnen,
Herr Mützenich. Als ich Ihnen zugehört habe, war ich
sehr verwundert - ich schätze Sie sehr -, wie Sie eine
solche Rede halten können; aber das ist mein privates
Problem. Darüber hinaus fühle ich mich an einen Satz
Ihres ehemaligen Parteivorsitzenden Müntefering erinnert, der gesagt hat: Opposition ist Mist. - Wenn jetzt
hinzukommt, dass Opposition Mist macht, dann ist das
insbesondere in außenpolitischen Fragen sehr problematisch.
({3})
Herr Mützenich, ich stelle hier fest, dass Sie sich, obwohl Sie aufgrund zweier Zwischenfragen aus meiner
Fraktion viel Redezeit hatten, nicht in der Lage gesehen
haben, hier eine eindeutige Position Ihrer Partei zu definieren.
({4})
Ich stelle hier fest: Das zeigt, dass diese SPD, die über
Jahre hinweg Außenminister gestellt und somit deutsche
Außenpolitik vertreten hat,
({5})
gegenwärtig außenpolitisch nicht handlungsfähig ist.
({6})
Herr Mützenich, wenn Sie sich - ich muss es Ihnen so
deutlich sagen - aufgrund Ihrer Unfähigkeit, Position zu
beziehen, entblöden, uns jetzt noch vorzuwerfen, wir
würden innenpolitische Argumente einbeziehen,
({7})
dann kann ich nur sagen: Ich finde es peinlich, dass gerade die Goslar-Partei in diesem Hause eine solche Argumentation verfolgt.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hans-Peter Bartels?
Ja, Herr Bartels, immer gerne.
Herr Kollege Stinner, da Sie über eine klare Position
verfügen: Werden Sie es als richtig oder falsch beurteilen, wenn es nach dieser Resolution zu Luftschlägen anderer gegen Einrichtungen in Libyen kommt?
({0})
Vielen Dank, Herr Bartels. - Wir haben - der Außenminister hat es gesagt - den UN-Sicherheitsratsbeschluss
nicht abgelehnt. Vielmehr haben wir konsequent und
stringent gesagt - ({0})
- Moment! - Da wir uns aus den Gründen, die hier dargelegt worden sind, militärisch nicht beteiligen wollen,
haben wir konsequenterweise abgelehnt. Dennoch stehen wir dazu, dass es eine völkerrechtliche Ermächtigung ist. Deshalb sind alle Maßnahmen, die im Rahmen
dieser völkerrechtlichen Ermächtigung ergriffen werden,
legitim und vom Völkerrecht der Vereinten Nationen gedeckt.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Oppermann?
Bitte schön, Herr Oppermann.
({0})
Einen Punkt haben Sie eben offengelassen. Wir haben
vorhin festgestellt, dass die Union sagt: Der Beschluss
des UN-Sicherheitsrates war richtig. Es war richtig, dass
andere ihn gefasst haben. Sie haben die Frage allerdings
nicht beantwortet: Finden Sie es richtig oder falsch,
wenn dieser Beschluss durch Intervention, durch Durchsetzung des Flugverbots mit militärischen Mitteln umgesetzt wird?
Ich sage es Ihnen gerne noch einmal, Herr
Oppermann. Da dies ein völkerrechtlich verbindlicher
Beschluss der Vereinten Nationen ist, sind natürlich auch
die daraus folgenden Konsequenzen völkerrechtlich legitimiert, und wir werden sie mittragen.
({0})
Gestatten Sie eine Nachfrage?
Ja.
Sie haben meine Frage nicht beantwortet.
({0})
Doch, das habe ich.
Ich möchte deshalb eine Zusatzfrage stellen. - Sie haben eben erklärt: Wenn der Beschluss des UN-Sicherheitsrates umgesetzt wird, dann ist das völkerrechtlich
korrekt.
Ja.
Ich habe Sie gefragt, ob Sie als FDP es politisch richtig finden, wenn jetzt die internationale Gemeinschaft
({0})
den Beschluss des Sicherheitsrates umsetzt und das
Flugverbot durchsetzt.
({1})
Finden Sie das politisch richtig, oder finden Sie das politisch falsch?
Herr Kollege Oppermann, Ihrer Fraktion gebricht es
offensichtlich nicht nur an der Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden, sondern auch an der Fähigkeit,
zuzuhören.
({0})
Ich habe sehr deutlich gesagt: Da dies völkerrechtlich legitimiert ist und wir dies anerkennen, werden wir auch
die Konsequenzen, die sich daraus ergeben - das heißt,
wenn andere Staaten die völkerrechtliche Ermächtigung
nutzen -, politisch mittragen.
({1})
Habe ich Ihre Frage jetzt endgültig beantwortet? Ich
nehme weitere Zwischenfragen der SPD sehr gerne entgegen, um herauszubekommen, was Sie eigentlich wollen.
({2})
Sie können versuchen, zu camouflieren. Aber aus der
Ecke, Herr Mützenich, dass diese SPD außenpolitisch
nicht handlungsfähig ist, kommen Sie heute nicht mehr
heraus.
({3})
Meine Damen und Herren, bedauerlicherweise müssen wir uns aber nicht nur mit der SPD befassen, sondern
uns auch fragen, wie es weitergehen kann. Auf Ihre
mehrfach gestellte Frage habe ich geantwortet. Die Regierung hat stringent argumentiert.
Ich sage Ihnen aber auch völlig klar - das ist Konsens
in meiner Fraktion und, ich glaube, auch in der anderen
Regierungsfraktion; im Gegensatz zur SPD, die offensichtlich keine Möglichkeit hatte, sich abzustimmen, und
interessanterweise von vornherein keine Sitzung anberaumt hat, hatten wir eine Fraktionssitzung dazu; an
dem, was Sie heute hier vorgetragen haben, sieht man
das Ergebnis -, dass wir an dem politischen Ziel - das
hat der Außenminister noch einmal eindeutig klargestellt; es geht um eine politische Argumentation -, den
Diktator Gaddafi zu entmachten, unverändert und unvermindert festhalten und dass Deutschland, vertreten durch
die Bundesregierung, unterhalb der unmittelbaren Beteiligung an einer militärischen Aktion natürlich seinen
Beitrag leisten wird.
({4})
Offen gesagt, stehe ich nicht mit einem fertigen Plan
hier; den habe ich nicht. Das kann auch keiner erwarten.
Ich sage Ihnen aber zu, dass wir dafür sorgen und einen
Beitrag dazu leisten werden, dass die Bundesregierung
alle Möglichkeiten ventiliert. Das fängt bei der Verstärkung der Sanktionen an. Ich persönlich gehe so weit und
sage: Wir müssen überlegen, ob die Sanktionen noch ein
ganzes Stück verstärkt werden müssen, um den Diktator
wirklich zu treffen. Bei diesen Überlegungen dürfen wir
auch das Thema Öl nicht aussparen. Ich sage auch, dass
wir alle Möglichkeiten nutzen wollen und sollen, um
zum Beispiel an den Grenzen humanitäre Hilfe für
Flüchtlinge zu leisten. Ich sage, an dieses Haus gewendet, auch, dass wir in dieser Ausnahmesituation natürlich
überlegen müssen, ob wir für einen begrenzten Zeitraum
nicht auch libyschen Flüchtlingen, die täglich vor dem
Erschießen fliehen, die Möglichkeit geben sollten, das
Mittelmeer zu überschreiten.
({5})
All das sind Überlegungen, die wir anstellen müssen;
denn wir haben keine normale Situation.
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ganz kurz auf
die bündnispolitische Komponente dieses Problems eingehen. Jawohl, es wäre uns lieber gewesen, wir hätten
mit unseren europäischen Partnern eine gemeinsame Linie gefunden. Das ist nicht der Fall. Das bedauern wir,
aber es ist halt so. Dennoch werden wir unsere Partner in
Europa, in der NATO und in der Welt dort unterstützen,
wo wir können, um ihnen zu ermöglichen, ihre schwierige Aufgabe wahrzunehmen. Das ist das Commitment,
das wir eingehen wollen und sollen. Ich bedanke mich
bei der Bundesregierung, dass sie dieses hier und heute
sehr klargestellt hat, dass sie eine klare inhaltliche Position hat und eine folgerichtige Konsequenz daraus gezogen hat. Wir werden sie dabei weiter von Herzen unterstützen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In aller
Ruhe und dem Thema angemessen: Ich glaube, wir alle
stehen hier schweren Herzens.
({0})
- Außer einigen stehen wir alle hier schweren Herzens. Das will ich niemandem absprechen.
Ich will auf den Ausgangspunkt, der uns alle bewegt,
nämlich den VN-Beschluss von Ende 2005 - Responsibility to Protect -, zu sprechen kommen. Grundsätzlich
steht dem Eingreifen in andere Länder immer die Souveränität eines Staates entgegen. Allerdings sagen die UN
auch: Die Souveränität eines Staates verpflichtet. Die
Staats- und Regierungschefs müssen sich um die Rechte,
die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit der Menschen in ihren Ländern kümmern und sie beschützen.
Das ist der Ausgangspunkt.
({1})
Wir haben bemerkt, dass die Beschlüsse zu den Menschenrechten nicht reichen, sondern man muss den
Staatschefs - und auch sich selber - Fragen stellen und
die Verantwortung in konkreten Schritten wahrnehmen.
Deshalb gehört zu Responsibility to Protect, also der
Verantwortung, zu beschützen, eben auch, dass die Staatengemeinschaft verpflichtet ist. Wo ein Staat die
Schutzverantwortung gegenüber seiner Bevölkerung
nicht ausüben kann oder, wie in diesem Fall, nicht ausüben will, ist die internationale Gemeinschaft in der Mitverantwortung und muss agieren.
({2})
In aller Ruhe und Klarheit: Das ist unser Ausgangspunkt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich von der Fraktion Die Linke?
Nein.
({0})
Vor diesem Hintergrund kann ich für die grüne Fraktion den UN-Beschluss grundsätzlich begrüßen. Es ist
nötig. Wenn Gaddafi - das ist das Dilemma, vor dem wir
alle gestanden haben - sein eigenes Volk beschießt, statt
es zu beschützen, und sogar Kampfjets und Hubschrauber losschickt, dann stehen wir in der Verantwortung, zumal nicht nur aus der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union, aus Nigeria, Südafrika und großen Teilen
der Bevölkerung ein Hilferuf gekommen ist. Wir sind an
dieser Stelle in der Verantwortung, Menschenrechte zu
verteidigen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern
auch mit UN-Beschlüssen und weiteren Maßnahmen.
({1})
Es ist nämlich das Recht eines jeden Menschen, in Freiheit und körperlicher Unversehrtheit zu leben und auch
für Freiheit und körperliche Unversehrtheit zu kämpfen.
({2})
- Gregor Gysi hat hier schon oft gestanden, die linke
Faust in den Himmel gestreckt und die Selbstverteidigung der Völker beschworen, wo auch immer auf der
Welt Menschen allein waren.
({3})
- Seien Sie mal ganz leise! Sonst reden wir über Kuba
oder andere Länder. Es geht darum, Verantwortung
wahrzunehmen.
({4})
Wenn ich sage: „Wir begrüßen den UN-Beschluss“,
dann negiere ich definitiv nicht die vorhandenen Risiken. Wir haben in unserer Fraktion seit Tagen und Wochen und auch heute früh noch einmal sehr kritisch über
diesen Beschluss diskutiert. Bei dem Thema Flugverbotszone geht das Leiden mitten durch die grüne Fraktion. Es gibt Leute, die dazu Ja sagen, und es gibt aber
auch viele Leute, die auf die Risiken hinweisen, die das
mit sich bringt. Man muss sich fragen, welche Schritte
noch kommen. Deshalb sage ich: Weil wir alle leiden
- das gilt sicherlich auch für die Bevölkerung -, ist dies
nicht der richtige Ort oder Zeitpunkt für Polemik, allzu
scharfe Worte oder die Suche nach den Motiven der anderen. Wir alle müssen uns bewegen.
({5})
Wir alle wissen letzten Endes, dass auch die Flugverbotszone realisiert werden muss. Wir wissen, dass das
ein extrem schwieriger Weg ist. Ich halte es für richtig,
so zu diskutieren. Ich glaube, dass sich niemand erheben
sollte. Ich habe vergessen, wer gerade der SPD das Wort
Goslar-Partei entgegengeworfen hat. Aber ich glaube, es
war jemand, dessen Chefin einmal in einer US-Zeitung
festgestellt hat: Ja, wir wollen in den Irak einmarschieren.
({6})
- Da waren Sie noch nicht Chefin? Aber gefühlt schon!
Frau Merkel, Sie haben damals, als es darum ging,
nicht in den Irak einzumarschieren, in einer US-Zeitung
festgestellt: Nicht ganz Deutschland denkt so. Später
wurde uns allen bewiesen, dass die von George Bush
und Tony Blair angeführten Gründe nicht zutreffend waren.
({7})
Wir sollten uns alle miteinander in Demut üben. Wir
sollten auf der Hut sein und um unsere Verantwortung
wissen.
Ich muss aber eines anfügen. Die ganze Zeit wird
über Enthaltung bzw. Nichtenthaltung diskutiert. Ich
weiß, dass sich daran manches festmacht. Aber nach
vorne blickend sage ich: Es reicht nicht, auf die Risiken
hinzuweisen, Herr Außenminister. Die Frage ist jetzt:
Wie verhindern wir, dass von deutscher Seite der Anschein erweckt wird, es gehe uns nicht hinreichend um
die Menschenrechte der Menschen dort.
({8})
Mit welchem Auftrag und mit welcher Maßnahme wollen Sie vorgehen? Wo sind Ihre Anträge? Warten Sie
nicht ab! Verhindern Sie nicht die Planung! Wir wollen,
dass Deutschland jetzt eine aktive Rolle beim Waffenembargo, beim Schutz der Flüchtlinge in der Region
- mit der Erklärung, Flüchtlinge bei uns aufzunehmen und bei der Unterbindung der Finanzströme und des Ölgeschäfts einnimmt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Jetzt wollen wir den Bundesaußenminister für die
Menschenrechte kämpfen sehen. Bisher haben Sie eine
zu große Passivität gezeigt, Herr Westerwelle. Wir wollen, dass Deutschland steht.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Stefan Liebich.
({0})
Frau Künast, Sie haben keine Frage zugelassen. Deswegen nutze ich dieses Instrument.
Sie haben Bezug auf das Konzept „Responsibility to
Protect“ genommen. Egal wie man dazu steht - es ist
völkerrechtlich durchaus umstritten und hebelt die UNCharta nicht aus -: Wenn Sie Bezug auf den Beschluss
nehmen, der jetzt im UN-Sicherheitsrat gefasst wurde,
und sagen, das sei durch die Responsibility to Protect begründet, sage ich Ihnen drei Dinge:
Erstens beinhaltet sie, dass man zunächst präventiv
wirkt, damit solche schlimmen Entwicklungen wie in
Libyen nicht eintreten. Die Weltgemeinschaft hat das
Gegenteil getan, indem sie Waffen geliefert und mit
Gaddafi bei der Flüchtlingsabwehr zusammengearbeitet
hat.
Zum Zweiten. Die Responsibility to Protect beinhaltet
auch, dass man zunächst nichtmilitärische Maßnahmen
ergreift. Dazu sage ich, dass die Weltgemeinschaft nach
wie vor nicht in ausreichendem Umfang nichtmilitärische Maßnahmen ergriffen hat, weil weiterhin Geld für
Öl fließt.
Drittens. Ehe man nach der Responsibility to Protect
zu Waffengewalt greift, müssen zwei weitere Bedingungen erfüllt sein, nämlich Völkermord und ethnische Vertreibung; nicht aber: Menschenrechtsverletzungen.
({0})
Wenn Sie tatsächlich Menschenrechtsverletzungen als
hinreichenden Grund für einen Militäreinsatz benennen,
werden Sie viele Kriege führen wollen. Ich hoffe: Das
will auch Bündnis 90/Die Grünen nicht.
({1})
Frau Künast, Sie haben das Wort.
Ich weise auf die letzten Sätze meines Redebeitrags
hin, in denen ich gesagt habe, was alles im zivilen Bereich noch zu tun ist, Herr Liebich. Es gibt noch viel zu
tun. Dieses „noch viel zu tun“ heißt aber nicht, dass damit alles andere ausgeschlossen werden muss.
Ich verweise darauf, dass die Responsibility to Protect
auch drohende Verbrechen im Blick hat. Das ist Verantwortung für die, die sich aktiv für Menschenrechte einsetzen wollen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Götzer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
- Entschuldigen Sie bitte, ich hatte gerade noch Frau
Künast im Blick. Natürlich spricht der Kollege
Dr. Wolfgang Götzer für die Unionsfraktion. Da ist gar
kein Missverständnis möglich.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auf diese Idee
würde ich auch niemals kommen.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass wir heute
erneut, und zwar zum zweiten Mal in dieser Woche, über
die Situation in Libyen reden, zeigt die Dramatik, mit
der sich die Lage in Nordafrika, speziell in Libyen, verändert.
Ich möchte Folgendes noch einmal ansprechen, weil
heute durchaus unterschiedliche Positionen anklingen:
Einig sind wir uns alle darin, glaube ich: Gaddafi muss
weg - so schnell wie möglich und mit so wenig Leiden
der Zivilbevölkerung und aller Unschuldigen wie
möglich. Wir müssen alles, was möglich und vertretbar
ist, tun und dazu beitragen, dass es zu menschenwürdigen, demokratischen und freiheitlichen Verhältnissen in
Libyen kommt.
({1})
Es hat bereits zahlreiche Sanktionen gegeben. So hat
der UN-Sicherheitsrat am 26. Februar dieses Jahres
Sanktionen gegen die libysche Führung verhängt. Der
Internationale Strafgerichtshof wurde mit Ermittlungen
beauftragt. Auch Deutschland war als nichtständiges
Mitglied des UN-Sicherheitsrats maßgeblich an dieser
Entscheidung beteiligt.
Die EU und die USA haben ebenfalls Sanktionsbeschlüsse gefasst. Hervorzuheben ist meiner Meinung
nach ferner, dass auch die Arabische Liga Libyen bis auf
Weiteres von der Teilnahme ausgeschlossen hat.
Des Weiteren hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen Libyens Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat der UN suspendiert.
Das Vorgehen der libyschen Regierung wurde auch
auf dem EU-Sondergipfel vom 11. März erneut aufs
Schärfste verurteilt, und weitere finanzielle Sanktionen
wurden verhängt. - So viel zu den bisherigen Sanktionen.
Es wird neue und schärfere Sanktionen geben. Das ist
Bestandteil der heute Nacht gefassten Resolution des
UN-Sicherheitsrates. Das ist gut so. Deutschland begrüßt
diesen Teil der Resolution ausdrücklich.
({2})
Diese Resolution beinhaltet in einem zweiten Teil
aber auch die Option einer militärischen Intervention,
und zwar nicht nur die Errichtung einer Flugverbotszone
- darüber haben wir bereits am Mittwoch in diesem
Hause debattiert -; sie geht darüber hinaus. Sie lässt weitere militärische Einsätze zu, in allererster Linie zum
Schutz der Zivilbevölkerung; das muss man hervorheben.
Wir haben, wie gesagt, am Mittwoch über die Flugverbotszone diskutiert und bereits in dieser Debatte die
Risiken aus unserer Sicht angesprochen, die uns dazu
führen, dass wir gegen eine solche Flugverbotszone sind.
Nun wurde mit der UN-Resolution eine noch weiter gehende Option beschlossen. Das heißt für uns: Wenn wir
schon gegen die Einrichtung einer Flugverbotszone waren, so können wir uns auch nicht an Maßnahmen beteiligen, die darüber hinausgehen. Das ist logisch. Wir
glauben, dass die Konsequenzen nicht absehbar sind.
Wenn man eine Flugverbotszone errichten will, muss
man in erster Linie die Luftstreitkräfte ausschalten. Aber
es wird nach aller Erfahrung nicht vermeidbar sein, dass
dann auch Bodeneinsätze erfolgen müssen. Ich habe am
Mittwoch auf das Risiko hingewiesen, dass die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.
Davon müssen wir einfach ausgehen. Das wollen wir
vermeiden.
Was ist, wenn die Flugverbotszone nicht erfolgreich
ist? Gibt es dann den Einsatz von Bodentruppen? Gilt
der Spruch: „Wer A sagt, muss auch B sagen“, möglicherweise auch C, was immer darunter zu verstehen ist?
Wir glauben, dass mit diesem UN-Mandat der Einsatz
bisher nicht zu Ende gedacht worden ist. Gleichwohl haben wir Respekt vor der Entscheidung derjenigen Länder, die für die Resolution gestimmt haben. Es gibt
durchaus interessante Reaktionen aus Libyen, sowohl
solche der Aufständischen als auch solche des herrschenden Regimes. Plötzlich ist von einer Waffenruhe
bzw. von einem Waffenstillstand die Rede. Leider sind
den Worten bisher noch keine Taten gefolgt.
Ich betone noch einmal: Aus heutiger Sicht haben wir
Zweifel daran, dass die Risiken und Konsequenzen, die
sich aus diesem UN-Mandat ergeben, abschätzbar sind.
Kann das Ziel der Aufständischen, das wir alle, so
glaube ich, im Auge haben, nämlich Gaddafi zu stürzen
und zu helfen, eine demokratische Regierung zu installieren, damit erreicht werden? Ist eine Ausweitung der
militärischen Intervention vermeidbar oder nicht? Hier
gilt der Grundsatz: Respice finem. Wir müssen das Ende
bedenken und alles tun, um zu vermeiden, dass Deutschland in einen lang andauernden Krieg hineingezogen
wird. Allerdings sage ich auch, dass sich die Lage ständig ändert. Das ist uns allen bewusst, wenn wir jeden
Tag die Nachrichten verfolgen. Die Lage ändert sich sogar stündlich. Deswegen sage ich genauso deutlich: Eine
endgültige Antwort auf die Frage, welche Maßnahmen
die richtigen und notwendigen sind, kann heute nicht gegeben werden.
Verehrter Kollege Mützenich, ich muss jetzt schon ein
Wort zu Ihrem Beitrag sagen. Ich schätze Sie als einen
sehr sachlichen Kollegen, aber Ihr heutiger Ton war diesem Thema nicht angemessen.
({3})
- Das ist kein einfaches Thema. Aber gerade wenn es
um Krieg und Frieden geht, sollte man auf Polemik verzichten. - Ich habe ein bisschen das Gefühl, als hätten
Sie sich in die Polemik geflüchtet, weil sich die SPD selber bisher noch keine einheitliche Meinung gebildet hat.
({4})
- Wir haben im Gegensatz zu Ihnen heute zum Beispiel
eine Sondersitzung unserer Fraktion gehabt, in der wir
sehr intensiv diskutiert haben. Ich weiß nicht, ob Sie eine
entsprechende Sitzung gehabt haben. Wenn nicht, dann
wäre es besser gewesen, Sie hätten eine anberaumt. Sie
sollten möglichst bald diese Sitzung nachholen, vielleicht im Anschluss an die Debatte.
({5})
Ich komme zum Schluss: In der kommenden Woche
wird möglicherweise die Frage gestellt, ob AWACSFlugzeuge mit teilweise deutscher Besatzung zur Befriedung Libyens beitragen können. Gleichzeitig - das wissen wir - sind AWACS-Flugzeuge ohne deutsche Beteiligung in Afghanistan im Einsatz. Wir müssen uns, wenn
diese Frage gestellt wird - ich gehe davon aus, dass sie
sehr bald gestellt werden wird -, mit unseren NATOPartnern abstimmen und darüber entscheiden, in welcher
Weise wir als Deutsche unseren Beitrag im Rahmen des
AWACS-Einsatzes leisten werden.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Michalk, Ingrid Fischbach, Karl Schiewerling,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele
Molitor, Heinz Lanfermann, Dr. Heinrich L.
Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Für eine umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - Nationaler Aktionsplan als Leitlinie
- Drucksache 17/4862 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kostenvorbehalt in § 13 des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch streichen - Selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen
gewährleisten
- Drucksache 17/4911 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und
den Ausschuss der Regionen
Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020: Erneuertes Engagement für ein barrierefreies Europa
Ratsdok. 16489/10 und KOM({2}) 636 endg.
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 2 des
Grundgesetzes
i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010 bis 2020 unterstützen
- Drucksache 17/5043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an
dieser Aussprache nicht teilhaben können, ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaales fortzusetzen. - Ich bitte
die Parlamentarischen Geschäftsführer, die notwendige
Verständigung möglichst nicht laut im Saale durchzuführen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fuchtel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht
bei diesem Tagesordnungspunkt um die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Ich
darf Ihnen sagen: Die Vorarbeiten zum Nationalen Aktionsplan stoßen auf ein ganz außergewöhnliches Interesse. Dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken.
Nicht nur bei den Verbänden ist großes Interesse vorhanden, sondern vor allem bei den Behinderten selbst.
Dies verdient riesige Anerkennung und Respekt. Ich
freue mich, dass eine so große Resonanz erfolgt ist. Unser Haus setzt konzeptionell auf diese Art der Beteiligung. Unisono wird bestätigt: Es ist der richtige Weg.
Eine überwältigende Anzahl an guten Ideen und Anregungen ist die Folge. Selbstverständlich müssen diese
Ideen und Anregungen auf ihre Machbarkeit hin überprüft werden. Nur wenn wir dies tun, setzen wir die notwendigen Zeichen der Ermutigung. Es bedarf hierbei einer etwas längeren Bearbeitung als ursprünglich geplant.
Wir haben den Verbänden und allen Beteiligten nochmals die Möglichkeit gegeben, dies zu reflektieren. Wir
haben den Termin, zu dem der Nationale Aktionsplan im
Bundeskabinett behandelt werden soll, flexibel gestaltet.
Aller Voraussicht nach wird dies im Juni 2011 der Fall
sein.
Das zweite Aktionsfeld ist der Dialog mit der gesamten Zivilgesellschaft. Ziel ist hierbei der Aufbau von wesentlich mehr Bewusstsein. Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass sich diese Gesellschaft auf den
Weg der Inklusion begibt. Dieser Weg ist, wie wir in der
Praxis sehen, noch ganz schön lang.
Das Dritte, was ich zu diesem Zeitpunkt sagen
möchte, ist, dass diese Aufgabe an das anschließt, was
wir in der Vergangenheit in diesem Haus in der Regel interfraktionell vorangebracht haben. Ich erinnere zunächst an die Erweiterung von Art. 3 Grundgesetz. In
Abs. 3 wurde der Satz hinzugefügt:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Ich erinnere an die Einführung eines eigenständigen Buches im Sozialgesetzbuch - SGB IX -, und ich erinnere
schließlich an das Bundesgleichstellungsgesetz.
Dem folgt nun der Nationale Aktionsplan. Dies ist
konsequent, und dafür ist es an der Zeit. Erfolgreiche inklusive Arbeit auf diesem Gebiet, der gesellschaftlichen
Teilhabe der Menschen, ist finanziell nicht messbar.
Zahlen sagen ganz gewiss auch nicht alles. Einige finanzielle Daten zeigen aber, dass die Bundesrepublik
Deutschland hier nicht bei null anfängt: Mehr als
47 Milliarden Euro wurden 2009 in Deutschland allein
für die Leistungen zur Pflege, für Eingliederungshilfe
und für Rehabilitationszwecke ausgegeben. Das sind
ganz sicher stattliche Summen. Auch im internationalen
Vergleich ist hier eine Spitzenposition festzustellen.
Wir haben also keinen Grund, uns zu verstecken. Allerdings gibt es auch keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstzufriedenheit; denn noch immer wis11154
sen wir bei weitem nicht genug über die Situation der
Menschen mit Behinderungen in unserem Land. Deswegen ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die wir in der
Zwischenzeit haben, dass die Datenlage sehr lückenhaft
und auf jeden Fall nicht ausreichend ist, um ein vollständiges Bild zu erhalten.
Deswegen wird eine der wesentlichen Maßnahmen
des Nationalen Aktionsplans sein, die Behindertenberichterstattung der Bundesregierung völlig neu aufzustellen. Der neue Bericht soll Kompass sein für die künftige Behindertenpolitik der Bundesregierung.
Bei der Bearbeitung dieses Themas haben wir auch
schon sehr viele positive Aspekte gesehen. Einer der positivsten Aspekte ist für mich, dass es den Werkstätten
für Behinderte in der Zwischenzeit gelungen ist, durch
Zertifizierung Arbeit, die ansonsten ins Ausland abgewandert wäre, in Deutschland zu halten.
Meine Damen und Herren, das ist ein großes Zeichen
für das, was alles möglich ist. Das ermutigt auch, dass
wir weiter gemeinsam den Weg zur Inklusion gehen. Ich
möchte Sie herzlich dazu einladen. Ich empfehle sehr,
dass wir diesen Weg auch im Geiste der Solidarität und
der Nächstenliebe miteinander gehen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit März 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte
der Menschen mit Behinderungen in Deutschland in
Kraft. Im Mai 2011 will die Bundesregierung nun endlich ihren Aktionsplan für die Umsetzung der Konvention in Deutschland vorlegen. Die offizielle Frist zur Abgabe des Aktionsplans ist damit bereits um zwei Monate
überschritten.
Das ist kein gutes Aushängeschild für unser Land.
Diese Verzögerung ist auch fachlich nicht nachvollziehbar. Wir haben mit dem von Rot-Grün durchgesetzten
Sozialgesetzbuch IX bereits eine sehr gute Grundlage
für die Umsetzung der Konvention geschaffen.
Schade: Im letzten Herbst hat die Regierung überhaupt erst mit der Arbeit begonnen. Dann war es wohl zu
spät, den Bundestag angemessen einzubinden. Das ist
eine beschämende Vorgehensweise und eine Missachtung des Parlaments. Das Verhalten der Regierung erinnert stark an das Taktieren bei der Neuausrichtung von
Hartz IV. Auch da geschah erst einmal lange nichts, und
dann wurde ein so wichtiges Gesetz im Schweinsgalopp
durch das parlamentarische Verfahren gejagt.
Was noch schlimmer ist: Ausgerechnet Menschen mit
Behinderung hatten bei dieser Reform das Nachsehen.
Mit der Absenkung der Grundsicherung für Menschen
mit Behinderungen, die in Wohngemeinschaften oder bei
ihren Eltern leben - hierbei geht es um die sogenannte
Regelbedarfsstufe 3 -, haben sie jetzt rund 70 Euro weniger im Monat. Meine Damen und Herren, hier muss
schnell eine Lösung gefunden werden, damit diese Menschen wieder den vollen Regelsatz erhalten.
({0})
Ich hoffe, dass sich der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Herr Hüppe, in dieser Frage gegenüber
seinen schwarz-gelben Kollegen durchsetzen wird.
Zurück zum Aktionsplan. Die Bundesregierung ist zu
langsam. Das SPD-regierte Rheinland-Pfalz zeigt, wie es
schneller geht. Es hat seinen Aktionsplan schon vor einem Jahr vorgelegt, nicht hastig, sondern allseits gelobt.
Die Betroffenen sind also zu Recht ungeduldig. Sie
wollen, dass ihre Rechte umgesetzt werden. Deshalb fordern wir von der Bundesregierung: Drücken Sie endlich
auf die Tube!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Ihr Antrag ist wortreich, aber wenig konkret.
Eine Stichwortsammlung wird nicht reichen, um die
UN-Konvention umzusetzen, vor allem dann nicht,
wenn auch noch der Kostenvorbehalt vorgeschoben
wird. Da haben die Kolleginnen und Kollegen der Linken doch recht. Die UN-Konvention ist gerade dazu da,
dass Menschen nicht mehr gezwungen werden können,
in Heimen zu leben, nur weil andere Wohnformen vielleicht teurer sind.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns eindeutig völkerrechtlich verpflichtet.
({3})
Es ist zu prüfen, ob sich aus der Konvention nicht sogar
ein individueller Rechtsanspruch für die betroffenen
Menschen ergibt. Das würde die Position der Menschen
mit Behinderung enorm stärken und uns zum schnellen
Handeln zwingen.
({4})
Wir wollen, dass jeder einzelne Artikel der Konvention
auf seinen subjektiven Gehalt geprüft wird. Art. 19 der
Konvention enthält eine solche Komponente. Packen wir
es an!
Mit der Konvention wird das Verhältnis von Staat und
Menschen mit Behinderungen endlich vom Kopf auf die
Füße gestellt. Es geht nicht mehr um freundliche Zugeständnisse und Almosen. Ab jetzt haben Menschen mit
Behinderungen klare Ansprüche gegenüber Staat und
Gesellschaft, auch wenn diese Ansprüche etwas kosten.
({5})
Wir müssen alle Politikfelder auf den Prüfstand stellen, um Teilhabe für alle zu erreichen. Wie schaffen wir
es, Menschen mit Behinderungen tatsächlich am ersten
Arbeitsmarkt teilhaben zu lassen? Wie sieht ein gutes inklusives Bildungssystem aus? Wie stellen wir sicher,
dass alle Bürgerinnen und Bürger unsere Bahn barrierefrei benutzen können? Wie müssen wir unsere Infrastruktur verändern, damit sich auch Sehbehinderte im öffentlichen Raum zurechtfinden? Und warum fördern wir
immer noch Filme, die für gehörlose Menschen unbrauchbar sind?
Diesem Umbau der Gesellschaft müssen wir uns stellen, und das natürlich gemeinsam mit den Betroffenen.
({6})
Deshalb ist deren Beteiligung bei der Ausarbeitung des
Aktionsplans von Anfang an so wichtig.
({7})
Der Leitsatz der Verbände „Nichts über uns ohne uns“
muss auch hier gelten, und zwar nicht nur auf dem Papier.
({8})
Wir finden es unerträglich, wenn Sie in Ihrem Antrag
von einer Beteiligung der Verbände am Aktionsplan
sprechen, dann aber deren wichtigste Forderung
schlichtweg ignorieren, nämlich ein Gesetz für Assistenz
und Teilhabe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, wenn wir es mit dem Grundsatz eines
selbstbestimmten Lebens ernst meinen, dann müssen wir
uns gemeinsam mit den Betroffenen noch viel stärker für
das Persönliche Budget einsetzen. Sie sprechen dieses
Thema in Ihrem Antrag an. Wenn Sie schreiben, das Persönliche Budget werde nicht ausreichend genutzt, dann
frage ich Sie: Wen meinen Sie eigentlich? Meinen Sie
die Betroffenen, die in Heimen leben und in Werkstätten
arbeiten, aber keinen barrierefreien Zugang zu unabhängiger und kompetenter Beratung im Hinblick auf das
Persönliche Budget haben? Oder meinen Sie diejenigen,
denen auf den Ämtern jeglicher Mut und Nerv geraubt
wird, damit sie nicht alle notwendigen Leistungen einfordern, die ein selbstbestimmtes Leben mit eigenem
Budget ermöglichen? Oder sind die Träger gemeint, die
ihre Leistungen in Konkurrenz zueinander erbringen und
vielleicht gar kein Interesse am Persönlichen Budget haben? Auch hier bleibt Ihr Antrag oberflächlich.
({9})
Mit der von Ihnen geforderten Abstimmung von Schnittstellen wird man das Problem nicht lösen.
({10})
Bei aller Kritik: Gut ist, dass wir alle dazulernen. Die
Koalition lobt in ihrem Antrag das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Das hat mich zum Staunen gebracht.
Vor dessen Einführung hatte Schwarz-Gelb den Untergang des Abendlandes beschworen.
({11})
In Ihren Horrorgemälden war ganz Deutschland wegen
des AGG ständig vor Gericht. Nichts davon ist eingetreten, und Sie haben dazugelernt. Herzlichen Glückwunsch!
({12})
Erstaunt hat mich auch, dass Sie die arbeitsmarktpolitischen Instrumente für Menschen mit Behinderungen
verbessern wollen. Das ist ein „Meisterwerk an Konsequenz“. Erst kritisieren Sie von Schwarz-Gelb die aktive
Arbeitsmarktpolitik per se. Dann kürzen Sie bei der
Bundesagentur für Arbeit, bis nichts mehr geht: bis 2015
über 22 Milliarden Euro, 10 Milliarden Euro davon allein bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den nächsten
drei Jahren. Jetzt fordern Sie mehr Arbeitsmarktinstrumente für Menschen mit Behinderungen. Verlogener
geht es ja wohl nicht!
({13})
Die Wahrheit ist: Menschen mit Behinderungen haben vom Aufschwung am Arbeitsmarkt bisher überhaupt
nicht profitiert. Die Bundesagentur hätte die Chance gehabt, sich stärker auf diese Gruppe zu konzentrieren.
({14})
Mit Ihren Kürzungen ist diese Chance vertan. Sie lassen
Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt im
Stich.
({15})
Deshalb empfinde ich Ihre Sonntagsforderung in Ihrem
Antrag als absurd und zynisch.
Wir werden uns den Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Konvention über die
Rechte der Menschen mit Behinderungen sehr genau anschauen,
({16})
wenn er dann endlich vorliegt. Wir werden uns auch mit
eigenen konkreten Vorstellungen in die Diskussion einbringen,
({17})
mit Vorstellungen, die wir im Gegensatz zu Ihnen gemeinsam mit den Betroffenen entwickelt und abgestimmt haben.
({18})
Was uns die Koalition heute hier vorgelegt hat, reicht bei
weitem nicht aus. Das ist schade für die betroffenen
Menschen.
Ich möchte an dieser Stelle meiner Kollegin Silvia
Schmidt, unserer behindertenpolitischen Sprecherin,
gute Besserung wünschen. Sie hätte sehr gerne heute an
dieser Debatte teilgenommen. Leider ist sie erkrankt und
kann deshalb nicht hier sein. Gute Besserung, Silvia!
({19})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Molitor das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Hiller-Ohm, ich schätze Sie persönlich sehr.
Doch ich muss mich über Ihre Ausführungen sehr wundern. Sie haben nämlich die Regelbedarfsstufe 3 im Zusammenhang mit den Hartz-IV-Debatten angesprochen.
Wie mir meine Kollegen mitgeteilt haben, ist das, was
Sie vorgebracht haben, nicht Ihr Kernanliegen gewesen.
({0})
Lediglich in der Schlussrunde ist die Überprüfung in einem Zusatzprotokoll vereinbart worden.
({1})
Sich dann an dieser Stelle zum Anwalt der betroffenen
Menschen zu machen, finde ich schon mehr als verwunderlich.
({2})
In Deutschland leben 8,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Das sind 8,7 Millionen Bürgerinnen
und Bürger, die in die Mitte unserer Gesellschaft gehören. Sie gehören nicht an den Rand, und sie brauchen
keine Sonderwelten in Bildung, Arbeit oder Wohnen.
Genau das ist der Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention, die dafür den Begriff „Inklusion“ verwendet.
„Inklusion“ bedeutet, dass die Gesellschaft Rahmenbedingungen vorzugeben hat, die notwendig sind, damit
Menschen mit Behinderung ihr Recht auf Teilhabe verwirklichen können.
Mit dem heute vorliegenden Antrag der Regierungskoalition unterstützen wir die Forderung nach Inklusion,
Selbstbestimmung und Teilhabe. Behindertenpolitik hat
für die Regierungskoalition einen hohen Stellenwert. Sie
ist im Koalitionsvertrag verankert worden. Dort ist der
Nationale Aktionsplan fixiert worden, der zurzeit im
Bundesarbeitsministerium erarbeitet wird. Die Tatsache,
dass es eine Verzögerung gibt, ist für mich eher ein Beleg dafür, dass es hier mehr auf Qualität denn auf
Schnelligkeit ankommt. Es sind viele Verbände beteiligt
worden, um dem Grundsatz der Beteiligung gerecht zu
werden.
({3})
In unserem Antrag haben wir Schwerpunkte gesetzt:
Teilhabeleistungen, Gesundheit, Bildung, Arbeit und
Barrierefreiheit sind unter anderem die Themen, die uns
wichtig sind. Mir persönlich liegen die Themen „inklusive Bildung“ und „Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung“ besonders am Herzen; denn beides ist grundlegend für eine eigenständige Lebensführung. Ich bin
sehr dafür, dass möglichst viele Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern die Regelschule besuchen. Aber auch hier muss das Kindeswohl
im Vordergrund stehen.
({4})
Förderschulen haben somit durchaus ihre Berechtigung.
Unsere Aufmerksamkeit sollten wir auch auf den
Übergang von der Schule zum Berufsleben richten, denn
auf ihn kommt es ganz besonders an, wenn es darum
geht, Teilhabe am Arbeitsleben zu gewährleisten. Der
Fachkräftemangel zum Beispiel bietet Menschen mit Behinderung eine gute Chance, ihr Potenzial mit einzubringen. Ich denke, dass hier noch jede Menge Luft nach
oben ist.
Lassen Sie mich auch ein Wort zur Entstehungsgeschichte des Antrages sagen. Gemeinsam mit meiner
Kollegin Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion
und vielen Fachkollegen haben wir diesen Antrag erarbeitet: Aus unserer Sicht ist Behindertenpolitik nämlich
eine Querschnittsaufgabe, die viele andere Ressorts angeht. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich für
die Zusammenarbeit bedanken.
({5})
Der Antrag ist straff formuliert und konzentriert sich
auf die Stellen, an denen sich Stellschrauben befinden,
mit deren Hilfe wir wirklich etwas umsetzen können.
Zugleich sind alle Forderungen finanzierbar und realisierbar. Empfehlungen an die Bundesländer sind nicht
als Diktat zu verstehen; vielmehr wollen wir die Bundesländer und natürlich auch die Kommunen mit ins Boot
holen, um die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen zu verbessern.
({6})
In diesen Antrag sind unzählige Anregungen aus Gesprächen mit Menschen mit Behinderungen eingeflossen; das war ein wichtiges Anliegen von uns allen. Es
ging darum, deren Belange nach dem Grundsatz „Nicht
über uns, sondern mit uns“ in das Papier einfließen zu
lassen.
Alles in allem ist Deutschland auf einem guten und
richtigen Weg. Die Politik hat den Anstoß gegeben. Eine
gesellschaftliche Diskussion muss folgen, denn nur dann
können wir all das, was wir hier fordern, mit Leben füllen und wirkliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen verwirklichen.
Vielen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Dr. Bunge das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor uns liegen drei Anträge rund um die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie haben sicher Ilja Seifert als
Redner der Linksfraktion in der Debatte erwartet. Ich
übernehme heute seinen Part, weil mein Kollege Dr. Ilja
Seifert, zugleich Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland, derzeit in Thüringen
seinem tödlich verunglückten Stellvertreter, Dr. Karl
Schran, die letzte Ehre erweist.
Der Allgemeine Behindertenverband trägt den Zusatz
„Für Selbstbestimmung und Würde“ in seinem Namen;
das ist eigentlich das Credo, das auch die UN-Behindertenrechtskonvention durchzieht.
Fast auf den Tag genau seit zwei Jahren ist die UNBehindertenrechtskonvention geltendes Recht in
Deutschland. Der anlässlich der Ratifizierung eingebrachte Antrag der Linksfraktion, einen Aktionsplan zur
Umsetzung der Konvention aufzustellen - daran möchte
ich erinnern -, wurde von der schwarz-roten Mehrheit
abgelehnt. Die FDP hat damals gar die Ratifizierung der
Konvention abgelehnt. Wie fatal diese Entscheidungen
waren, zeigt sich heute: Für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wurde auf Bundesebene bisher nichts Konkretes getan, makabererweise mit dem
Verweis, dass zunächst ein Aktionsplan erstellt werden
müsse. Das entsprechende Ziel steht seit November
2009 in der Koalitionsvereinbarung; aber seither wird
seitens der Bundesregierung und des Behindertenbeauftragten nur diskutiert. Ihrer Logik folgend, wurde dafür
aber kein Geld in den Bundeshaushalt eingestellt, weder
kurz- noch mittelfristig.
Heute liegt uns ein Antrag der Koalitionsfraktionen
mit dem vielversprechenden Titel „Für eine umfassende
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention - Nationaler Aktionsplan als Leitlinie“ vor. Darin heißt es:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bunderegierung auf, im Rahmen der zur Verfügung stehenden
Haushaltsmittel …
dieses und jenes zu tun. Können Sie uns einmal verraten,
wie Sie die dort benannten 24 Aktionsfelder mit Leben
füllen wollen? Wie soll beispielsweise „eine umfassende
Barrierefreiheit“ erreicht werden? Vieles wird zu solchen Beteuerungen verkommen wie die, dass „die Bedeutung des Behindertensports zu stärken“ sei. Insbesondere die, die durch Unfall und Krankheit mit
Beeinträchtigungen oder Behinderungen leben müssen,
wissen, dass gerade der Sport eine völlig neue Lebensorientierung geben kann. Paralympics und Special
Games dokumentieren dies. Für den Behindertensport
endlich stabile Finanzgrundlagen zu schaffen, lohnte
sich.
({0})
Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor: Wenn Sie
ihn annehmen würden, könnten Sie Nägel mit Köpfen
machen.
({1})
Darin fordern wir Sie auf, den Kostenvorbehalt in § 13
des SGB XII zu streichen. Wie lange noch sollen Menschen mit Behinderungen aus Kostengründen gezwungen werden, in Heimen zu leben, obwohl sie in eigener
Wohnung oder anderen Wohnformen leben könnten,
wenn sie geeignete Assistenz - manche brauchen sogar
gar keine - hätten? Der Antrag verweist auf zig Beispiele, wo anders gehandelt wird - unvereinbar mit
Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention. Das wollen wir nicht länger hinnehmen.
({2})
In ihrem zweiten Antrag fordert Die Linke schon im
Titel: „Europäische Strategie zugunsten von Menschen
mit Behinderung 2010 bis 2020 unterstützen“! Diese
Strategie benennt ergänzende Maßnahmen auf EUEbene. Es ist schon makaber, dass die Regierenden in
Deutschland gedrängt werden müssen, diese Europäische Strategie zu unterstützen.
Der Korrektheit halber - um nicht des Plagiats bezichtigt zu werden - möchte ich anmerken, dass wir bei
diesem Antrag umfassend auf eine Bundesratsinitiative
des Landes Rheinland-Pfalz zurückgegriffen haben.
Sich auf europäischer Ebene einzubringen, bedeutet
auch, die bisherige Blockadehaltung gegenüber der
5. EU-Antidiskriminierungsrichtlinie aufzugeben und
konstruktiv an ihr mitzuwirken. Dazu fordern wir Sie
auf.
({3})
Unsere Anträge zeigen: Diese Regierung muss in Sachen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
faktisch zum Jagen getragen werden oder - deutlicher zum Handeln gezwungen werden. Insofern ist Ihr heutiger Antrag, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, scheinheilig. Werden Sie endlich konkret. Eine wirkliche Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen braucht ein inklusives Deutschland.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Kollege Kurth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung ist
- man kann es gar nicht deutlich und oft genug betonen ein wegweisendes Menschenrechtsdokument, das Menschenrechte erstmals nicht nur als Abwehrrechte gegen
den Staat formuliert, sondern als Anspruchsrechte auf
Befähigung und Teilhabe.
({0})
Diese Befähigung - das muss man sehr deutlich machen ist Voraussetzung für Freiheit und auch für das aktive
Wahrnehmen von klassischen Menschenrechten. Die
UN-Menschenrechtskonvention ist auch deshalb ein so
bedeutendes Dokument, das erste große Menschenrechtsdokument des 21. Jahrhunderts, weil sie sich
- wenn man sie genau liest, stellt man das fest - auch
mit dem Freiheitsbegriff auseinandersetzt. Freiheit ist
nicht nur die Abwesenheit von Regeln, wie es sogenannte Ultraliberale sehen, Freiheit beschränkt sich nicht
nur auf die Abwehr von Übergriffen, sondern Freiheit
setzt auch voraus, dass die Personen die Möglichkeit haben, ihre individuellen Teilhabewünsche zu entfalten, zu
artikulieren und wirklich in die Tat umzusetzen.
({1})
Um das einmal am Beispiel des Rechts auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnortes konkret zu machen:
Die Wahrnehmung dieses Rechts ist für Menschen mit
körperlichen, aber teilweise auch geistigen Einschränkungen nur möglich, wenn es befähigende Voraussetzungen gibt, zum Beispiel Assistenz in der Wohnung oder
Barrierefreiheit oder einen sogenannten inklusiven Sozialraum, das heißt eine Wohnumgebung, die das selbstständige Sich-Versorgen und die selbstständige Entfaltung im Wohnumfeld ermöglicht.
Die Schaffung solcher Voraussetzungen wie Assistenz und Barrierefreiheit kostet natürlich Geld. Damit
kommen wir zum Punkt: Diese gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn man sich mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auseinandersetzt, muss man
auch das Thema Haushalts- und Kostenvorbehalte offensiv ansprechen. Ich finde, meine Damen und Herren von
der Koalition, Ihr Antrag ist diesbezüglich mehr als
kleinmütig; ich kann das nicht anders sagen. Sie versuchen zwar, in die richtige Richtung zu gehen, Ihr Antrag
ist aber trotzdem kleinmütig.
({2})
Bevor Sie Ihre Forderungen an die Bundesregierung aufzählen, machen Sie als Erstes die Einschränkung: „im
Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“.
Ich bin der Letzte, der nicht anerkennt, dass die materiellen Ressourcen des Staates und der öffentlichen Hand
nicht unendlich sind. Menschenrechte dürfen aber nicht
unter einen Kostenvorbehalt gestellt werden. Ich hätte
mir gewünscht, dass Sie sich dazu ganz klar bekennen,
bevor Sie auf die materiellen Ressourcen eingehen.
({3})
Wenn bei anderen Grundrechten ein Haushaltsvorbehalt gemacht würde, würde man das als geradezu absurd
ansehen. Nehmen wir einmal das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit: Wenn von uns nicht gern gesehene
Gruppierungen der extremen Rechten das Recht auf Versammlungsfreiheit für sich in Anspruch nehmen, leisten
wir uns millionenschwere Polizeieinsätze. Nehmen wir
den Bereich der Justiz: Es gibt keine Hausdurchsuchung
ohne einen richterlichen Beschluss. Niemand käme auf
den Gedanken, an dieser Stelle einen Kostenvorbehalt
geltend zu machen oder nach einer Möglichkeit zu
suchen, Hausdurchsuchungen kostengünstiger durchzuführen. Nehmen wir abschließend die politische Willensbildung: Wir akzeptieren die staatliche Parteienfinanzierung und verteidigen sie, indem wir sagen, dass Parteien
an der politischen Willensbildung mitwirken. Wir geben
Geld direkt an die Parteien, aber auch an die Bundeszentrale für politische Bildung, um diese verfassungsmäßigen Rechte mit Leben zu erfüllen und entsprechende Befähigung zu ermöglichen.
Wenn aber ein gehörloser Mensch an einer Parteiversammlung teilnehmen möchte - das ist bei einem unserer Kreisverbände passiert -, dann wird die Wahrnehmung des Grundrechts auf Teilhabe an der politischen
Willensbildung plötzlich vom Kostenvorbehalt des Sozialhilfeträgers abhängig, der entscheiden kann, ob er den
Gebärdensprachdolmetscher finanziert oder nicht. Dies
ist der Kernpunkt: Nachteilsausgleiche, die sich ausschließlich auf die Behinderung beziehen, müssen aus
dem Fürsorgerecht entfernt werden und als Teilhabeansprüche eigenständig, am besten im Sozialgesetzbuch IX, verankert werden.
({4})
Im Bereich Wohnen wäre die Streichung des sogenannten Mehrkostenvorbehalts ein erster Schritt. Dann
könnte man nicht mehr auf das Wohnen in einem Wohnheim verwiesen werden, nur weil der Sozialhilfeträger
meint, dass das angemessen sei und es einer eigenen
Wohnung nicht bedürfe. Dies fordern wir schon seit Jahren. Das wird jetzt in einem der Anträge der Linken wieder aufgegriffen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur
Reform der Eingliederungshilfe war diesbezüglich übrigens schon einmal weiter, Frau Michalk. Sie hat den
Mehrkostenvorbehalt vor zwei Jahren von sich aus infrage gestellt.
Dass Sie von den Koalitionsfraktionen solche Initiativen der Länder in Ihrem Antrag nicht wenigstens aufgegriffen haben und nicht einmal kleine Ansatzpunkte formuliert haben, finde ich enttäuschend, auch wenn ich
sehe, dass Sie sich bemühen, in die richtige Richtung zu
gehen. Wir werden in den weiteren parlamentarischen
Beratungen alles daransetzen, dass eine entsprechende
Umsetzung mit mehr Tempo erfolgt.
Vielen Dank.
({5})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Michalk das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem heute von den Koalitionsfraktionen vorgelegten
Antrag bekräftigen wir öffentlich unsere große, umfassende Unterstützung bei der Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung.
Es ist schon gesagt worden, dass das Vertragswerk
seit dem 26. März 2009 gilt. Liebe Kollegin Hiller-Ohm,
zu dieser Zeit stellte Ihre Fraktion die Behindertenbeauftragte. Die Frage ist, warum man damals nicht sofort angefangen hat, zu arbeiten.
({0})
Wir können Folgendes feststellen: Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben, dass ein Nationaler Aktionsplan erarbeitet und umfassende Schritte unternommen werden sollen. Der gegenwärtige Zustand, der nicht
schlecht ist - darauf komme ich gleich noch einmal zu
sprechen -, sollte noch einmal verbessert werden. An einigen Stellen sollten notwendige und wichtige Ergänzungen bzw. Veränderungen vorgenommen werden. Die
Regierung hat dann sofort mit der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans begonnen.
({1})
Wir müssen an dieser Stelle noch einmal sagen, dass
diese Konvention - das ist für uns ganz wichtig - den
Wechsel vom staatlichen Fürsorgeprinzip hin zum Recht
auf eine umfassende Teilhabe festschreibt. Das ist ein
hohes Gut und hat eine andere Qualität. Nicht immer ist
das nur mit mehr Geld verbunden, sondern es geht auch
darum, dass wir uns Liebgewonnenes sehr genau anschauen, manches verändern und uns von anderem trennen. Das heißt: Nicht immer ist das, woran wir uns gewöhnt haben, das Beste für die Zukunft. Uns steht daher
sowohl im Dialog als auch in der Umsetzung ein umfassender Prozess bevor.
({2})
In den 50 Artikeln - ich wage einmal zu bezweifeln,
dass sich alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Parlament sämtliche Artikel durchgelesen haben, deswegen
erwähne ich das noch einmal - wurde festgeschrieben,
welche Aufgaben zu erledigen sind. Dazu sind wir aufgefordert, und die Umsetzung geht uns damit alle an.
Jeder Mensch hat das Recht, in Freiheit zu leben und
über sein Leben sowie seine Umstände selbst zu entscheiden. Herr Kollege Kurth, da sind wir uns total einig.
Ich bin auch der Meinung, dass es nicht zeitgemäß ist,
vorzuschreiben, wie und wo der behinderte Mensch leben und wohnen soll. Eine absolute Freiheit im Hinblick
auf die persönlichen Bedürfnisse und die individuellen
Gegebenheiten ist wichtig.
({3})
Wir müssen natürlich die föderalen Strukturen in unserem Land bei der Umsetzung beachten. Das heißt, in
allen gesellschaftlichen Bereichen ist ein enger Dialog
mit den Ländern notwendig, der ja auch stattfindet. Einige Länder haben für sich Eckpunkte festgelegt, andere
befinden sich noch in der Diskussion. Manche Länder
haben schon einen Aktionsplan aufgestellt. Wichtig ist,
dass über die Verzahnung zwischen Bundes- und Landeskompetenzen diskutiert und diese dann auch geregelt
wird.
Wir brauchen einen breiten Beteiligungsprozess. Dieser wurde durch die Bundesregierung, konkret durch das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, bewusst
eingeleitet. Menschen mit Behinderungen, ihre Verbände, viele Fachleute, viele Wissenschaftler und die Zivilgesellschaft haben das Angebot angenommen und in
den vergangenen Wochen und Monaten eine große Zahl
sehr guter Ideen zusammengetragen und Anregungen
eingebracht.
Insofern hat die Konvention bereits jetzt einen sehr
wichtigen Aspekt erfüllt: Sie hat nämlich den notwendigen Dialog in unserer Zivilgesellschaft insgesamt beflügelt. Das ist gut und darf nicht nachlassen. Deshalb haben wir mit diesem Antrag noch einmal einen Akzent
gesetzt. Wir müssen uns klarmachen, was in unserem
Land bereits gut geregelt ist und was nicht.
Für manche ist das Wort Inklusion, das mit dieser
Konvention verbunden ist, gleichsam ein Zauberwort
und weckt sehr große Hoffnungen. Anderen macht dieses Wort Angst, und es verbreitet sich Unsicherheit.
Wieder andere pflegen Vorurteile oder verschließen sich
dem Dialog. Dahinter stecken auch Emotionen, weil es
Menschen unmittelbar betrifft, weil es um die konkrete
Situation eines Menschen mit seiner jeweiligen Behinderung oder sogar Mehrfachbehinderungen geht. Dieser
wichtigen Herausforderung müssen wir uns stellen. Deshalb ist es richtig, dass alle eingebrachten Ideen auf ihre
Machbarkeit und Umsetzbarkeit geprüft werden. Das
nimmt vielleicht etwas mehr Zeit in Anspruch, als wir
ursprünglich gedacht hatten. Diese Zeit sollten wir uns
aber nehmen. Die Motivation unseres Antrags ist jedenfalls, während der Phase der Erarbeitung des Nationalen
Aktionsplans unterstützend auf die besonderen Belange
der Menschen mit Behinderung hinzuweisen.
Ich möchte Ihnen an einem Beispiel aus der Ausbildung zeigen, dass wir auf der einen Seite viele gute gesetzliche Regelungen haben, auf der anderen Seite aber
riesige Umsetzungsprobleme zu lösen sind. So können
beispielsweise Jugendliche mit einer Hörbehinderung
bei entsprechend ausgestatteten Ausbildungsplätzen eine
betriebliche Ausbildung absolvieren. So kann vermieden
werden, dass sie eine spezielle Einrichtung besuchen
müssen. Das ist der inklusive Ansatz. Der Arbeitgeber
kann mit einem Ausbildungszuschuss nach § 236 SGB II
gefördert werden. Zudem könnte der Arbeitsplatz technisch individuell dem jeweiligen Lehrling - dem jungen
Mann oder der jungen Frau - angepasst werden. Dafür
können sowohl dem Arbeitgeber nach § 237 SGB III als
auch dem Jugendlichen nach § 33 SGB IX Unterstützun11160
gen gewährt werden. Das alles steht heute schon im Gesetz.
Die Praxis kennt gute Umsetzungsbeispiele, aber
eben auch Situationen, in denen zwischen diesen Möglichkeiten einfach nicht entschieden wurde, die Betroffenen an der Verknüpfung verschiedener Gesetze, Leistungserbringer und Bewilligungsstellen gescheitert sind,
frustriert aufgegeben haben, letztendlich den traditionellen Weg gegangen sind und - wenn es ganz schlimm
kam - vielleicht gar keine Ausbildung aufgenommen haben. Diesbezüglich sehen wir ganz konkreten Änderungsbedarf.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag fordert mit Blick auf den drohenden Fachkräftemangel, die
derzeit etwa 1 000 Sonderregelungen - das muss man
sich einmal überlegen! - für die Ausbildung von behinderten jungen Menschen bundesweit zu vereinheitlichen
und damit deutlich zu reduzieren. Das verbessert die
Transparenz hinsichtlich der erworbenen Qualifikationen und erleichtert behinderten Menschen den Einstieg
in die Ausbildung und später in die Berufswelt.
Man könnte noch viele weitere Beispiele aufführen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir diesen Dialog führen
und uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen. Es mag ja
sein, dass wir bei dem einen oder anderen Punkt unterschiedlicher Meinung sind.
Kollegin Michalk, achten Sie bitte auf die Zeit.
Aber die Menschen mit Behinderung erwarten von
uns zu Recht, dass wir diesen Prozess gemeinsam gestalten. Darauf freue ich mich.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Mitkoalitionär findet es die FDP sehr begrüßenswert, dass die Bundesregierung gerade dabei ist, einen
Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention auf den Weg zu bringen. Dass
das etwas länger dauert, sehen wir als Hinweis auf die
Qualität, die im Gespräch mit Bund, Ländern und Kommunen erzielt werden soll. Es ist gut, dass wir alle Ebenen mit einbeziehen. Es ist außerdem gut, dass die Bundesregierung alle Betroffenen bzw. deren Vertreter mit
einbezieht.
Lieber Herr Kurth, liebe Frau Hiller-Ohm, wir sollten
uns nicht immer nur auf die Finanzierungsfrage konzentrieren, denn sonst setzen Sie sich einer Diskussion darüber aus, was Sie als SPD in elf Jahren und Sie als
Grüne in sieben Jahren Regierungsbeteiligung geleistet
haben
({0})
und was Sie gegenwärtig in den Ländern, in denen Sie
Regierungsverantwortung tragen, leisten. Das müssten
wir dann sehr genau beobachten. Wir würden Sie dann
beispielsweise zu Ihrer Position hinsichtlich der Hörberatungsstelle hier in Berlin-Neukölln und zur Kürzung
des Blindengeldes befragen.
({1})
Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Rawert?
Sehr gerne.
Kollege Kober, wir sind sehr gerne bereit, uns beobachten zu lassen, wie wir mit Menschenrechten umgehen; denn das trägt zur Transparenz bei. Meine Frage
lautet: Welche der Maßnahmen können Sie tatsächlich
umsetzen, wenn Sie nicht über zusätzliche Finanzierung
reden wollen?
({0})
Frau Kollegin, Sie haben nicht ganz genau zugehört.
({0})
Ich habe gesagt, dass wir nicht nur Finanzierungsfragen
stellen sollten. Die weiteren Antworten werden Sie
gleich meiner Rede entnehmen können.
({1})
Ich glaube, dass wir auch und gerade in den Bereichen Chancen haben, in denen es nicht immer gleich um
neue Gelder geht. Wenn wir lernen, umzudenken und
neue Perspektiven einzunehmen, dann können wir insbesondere bei der Schaffung neuer Infrastruktur Behinderungen von Menschen ausschließen. Das ist der entscheidende Punkt. Wir müssen lernen, dass die
Behinderung nicht in den Menschen verortet ist, sondern
dass die Behinderung zum großen Teil in der Umwelt
verortet ist, die wir um die Menschen herum errichten.
Kollege Kober, es gibt offensichtlich innerfraktionellen Abstimmungsbedarf. Der Kollege Lindner möchte
Ihnen eine Frage stellen.
({0})
In Ordnung.
Kollege Kober, gerade hat sich die Kollegin Rawert
aus Berlin so engagiert geäußert, als sie nach unserem
Engagement für Menschen mit Behinderung fragte. Wie
finden Sie es, dass Rot-Rot, also SPD und Die Linke, die
sich hier als echte und wahre Verteidiger der Behinderten erheblich exponieren, in Berlin, wo sie zusammen regieren, einen großen Kampf gegen die Hörberatungsstelle in Neukölln führen - Frau Knaake-Werner hatte
sich als linke Senatorin mit großem Engagement gegen
diese Hörberatungsstelle eingesetzt - und auch das Blindengeld gekürzt haben?
({0})
Wie sehen Sie die Realpolitik von SPD und Linken in
Berlin im Zusammenhang mit den Reden, die hier im
Bundestag geschwungen werden?
({1})
Lieber Kollege Lindner, Sie bestätigen im Grunde
meine Ausführungen. Wir sollten nicht mit dem Finger
auf andere zeigen und auch nicht falsche Erwartungen
bei den betroffenen Menschen wecken, dass alles, wenn
man denn nur wollte oder wenn man nur guten Herzens
sei, finanzierbar ist. Sie werden im Laufe der Diskussion
über den Aktionsplan, den die Bundesregierung auf den
Weg bringt, und zukünftig auch in der Diskussion über
die Umsetzung von Maßnahmen aufgrund dieses Aktionsplanes genau beobachten können, was von den Mitbewerbern im politischen Bereich gefordert wird und
was sie dort, wo sie in Regierungsverantwortung sind,
tatsächlich umsetzen. - Vielen Dank, Herr Lindner.
({0})
Vorsorglich weise ich darauf hin, dass ich keine weiteren Fragen bei diesem Redebeitrag zulasse; denn wir
wollen die Redezeit ja nicht auf wundersame Weise verdreifachen. - Bitte.
Ich denke, wir sollten die Chancen nutzen und mit allen politisch Beteiligten - Bund, Länder und Kommunen und den Betroffenen miteinander im Gespräch bleiben.
Wir sollten auch darauf hinweisen, dass die Bundesrepublik weltweit für die Menschen, die von Behinderung
betroffen sind, eine Verantwortung hat. Deshalb ist es
begrüßenswert - das freut mich insbesondere als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe -, dass unser Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit Nachdruck
das Anliegen verfolgt, den Gedanken der Inklusion stärker in die Entwicklungszusammenarbeit einzuführen.
({0})
Insofern freut es mich, dass wir als Koalitionsfraktionen
in Zukunft in diesem Bereich besondere Verantwortung
übernehmen wollen, wie wir es in unserem Antrag ja
auch ausgeführt haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Lehrieder das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede
meine Freude zum Ausdruck bringen, dass neben Herrn
Staatssekretär Fuchtel auch der Behindertenbeauftragte
unserer Regierung, Herr Hubert Hüppe, dieser Diskussion beiwohnt und genau aufpasst, worüber wir diskutieren.
({0})
- Herr Staatssekretär Bahr, Entschuldigung, ich habe
eben nur meine Fachpolitiker gesehen.
Wir stimmen heute über Anträge zu einem Thema ab,
welches in der heutigen Gesellschaft einen besonders
hohen Stellenwert genießt und mir persönlich sehr am
Herzen liegt. Mit dem Antrag der Bundestagsfraktionen
der CDU/CSU und FDP für eine umfassende Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention gehen wir einen
weiteren wichtigen Schritt voran. Menschen mit Behinderung soll damit eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe mitten in der Gesellschaft ermöglicht
werden.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, geschätzte Frau
Präsidentin, gerade auch im Hinblick auf die Zuschauer
Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
der Vereinten Nationen zu zitieren:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Diese Rechte gelten universell. Sie werden als Völkergewohnheitsrecht angesehen. Dennoch zeigt die Realität leider häufig, dass Menschenrechte nicht eingehalten
werden, dass Mehrheiten Minderheiten unterdrücken,
dass wirtschaftliche Faktoren moralische überdecken
und dass der Stärkere den Schwächeren unterdrückt.
Wenn man an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte denkt, fällt der erste Gedanke möglicherweise auf Länder und Regionen, in welchen erhebliche
Missachtungen dieser universellen Rechte vor der Weltöffentlichkeit stattfinden. In unserem Land, welches als
Vorzeigeobjekt gilt, neigt man dazu, sich im Sessel zurückzulehnen. Doch es gibt auch bei uns - meine Vorredner haben darauf bereits hingewiesen - noch einiges
zu verbessern.
Meine Fraktion möchte mit ihrem Antrag insbesondere eines erreichen: Behinderte Menschen sollen nicht
mehr als Objekte der Fürsorge betrachtet und behandelt
werden. Dieser Umstand führt nämlich zwangsläufig zur
Ausgrenzung aus der Gesellschaft: auf der einen Seite
Bürger, die Fürsorge geben, auf der anderen Seite Bürger, die Fürsorge empfangen. Durch die umfassende
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wollen wir für behinderte Menschen mehr als bloße Akzeptanz in unserer Gesellschaft erreichen. Wir wollen Integration und Inklusion in unsere Gesellschaft; auch
darauf wurde von meinen Vorrednern bereits hingewiesen.
Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung von Anfang an integriert sind, dass sie in den gleichen Kliniken
geboren werden können, in die gleichen Kitas gehen
können, in den gleichen Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten berufliche Bildung erfahren, in den gleichen Berufen arbeiten können, den gleichen Freizeitgestaltungen nachgehen können und beim Renteneintritt
die gleichen Möglichkeiten wie alle anderen Mitbürger
ohne Behinderung haben.
Mit unserem Antrag wollen wir darauf hinwirken,
dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderung nicht
als Sonderrecht, sondern als Menschenrecht verstanden
wird. Wir müssen weiterhin daran arbeiten, Barrieren zu
beseitigen. Dabei geht es um psychische Barrieren, aber
auch um physische Barrieren, die die Mobilität behindern, zum Beispiel um nicht abgesenkte Bordsteinkanten
oder das Fehlen von Aufzügen in öffentlichen Gebäuden.
Ich selbst war als Bürgermeister an einer Dorferneuerungsmaßnahme beteiligt, in deren Rahmen wir einen
Dorfplatz wunderschön gestaltet haben. Ein junger Mitbürger, der aufgrund eines Verkehrsunfalls an den Rollstuhl gebunden war, hat uns gesagt: Ihr habt das zwar
schön gemacht, aber nicht gut. - Dann hat er mir die
Stellen, die er kritisiert, gezeigt. Als er eine Böschung
mit drei Treppenstufen sah, sagte er beispielsweise: Das
ist für mich ein unüberwindbares Hindernis. - So etwas
fällt niemandem von uns auf.
Ein anderes Beispiel war ein Hochbord an einer Brücke. Dazu sagte er: Da komme ich nicht hoch. Hier brauche ich jemanden, der meinen Rollstuhl hochhebt. - Bei
einer Dorfgemeinschaftsfeier wurden wir auf zwei Treppenstufen aufmerksam, aufgrund derer der junge Mann
sagte: Dieses Terrain bzw. diese Ebene ist für mich nicht
erreichbar.
Oft genug - das sage ich, weil vorhin auch der finanzielle Aspekt angesprochen wurde - ist es mit relativ geringen Mitteln und etwas Nachdenken möglich, auch für
Behinderte eine gute Lösung zu finden. So hat es in dem
von mir erwähnten Beispiel gereicht, neben den Stufen
eine kleine Böschung zu teeren, sodass auch für Rollstuhlfahrer die Begehbarkeit gewährleistet war.
Ich habe diese Situation damals nicht mit den Augen
eines Behinderten gesehen. Dafür bitte ich um Verständnis. Allerdings sage ich heute: Es wäre gut, bei allen Planungen des Staates die Strecken, auf denen Barrieren
entstehen könnten, rechtzeitig gemeinsam mit Behinderten zu besichtigen und sie zu fragen: Wie beurteilt ihr
unsere Planungen?
({1})
Ich könnte Ihnen weitere Beispiele nennen, etwa das
Fehlen von Lichtanlagen für hörbehinderte Menschen
oder das Fehlen von Lautsignalen für sehbehinderte
Menschen. Ein weiteres wichtiges Thema wird in Zukunft die Elektromobilität sein. Dabei geht es auch um
die Frage: Was bedeutet die Entwicklung immer leiserer
Fahrzeuge für hörgeschädigte Menschen, die überhaupt
keine Autos mehr hören? Hier gibt es noch einiges zu
tun.
Ich bitte das gesamte Haus - die Kolleginnen und
Kollegen von der Regierungskoalition, aber auch die
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition -, gemeinsam daran zu arbeiten, vernünftige, gescheite Lösungen für die Behinderten in unserer Gemeinschaft zu
finden.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4862, 17/4911 und 17/5043 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern stoppen
- Drucksache 17/5039 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der AbgeVizepräsidentin Petra Pau
ordneten Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen
- Drucksachen 17/1167, 17/1627 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Hempelmann
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Marieluise Beck ({3}),
Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren auch bei Rüstungsexporten an EU-,
NATO- und NATO-gleichgestellte Länder
konsequent umsetzen
- Drucksachen 17/2438, 17/3291 Berichterstattung:
Abgeordnete Kerstin Andreae
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({5})
- Ich würde gern die Aussprache eröffnen. Aber dazu
müsste erst einmal die notwendige Aufmerksamkeit hergestellt werden. Die Gespräche, die zu führen sind, sind
bitte draußen zu führen.
Kollege Lindner, gestatten Sie, dass ich jetzt die Aussprache eröffne?
({6})
- Danke.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Hänsel für die Fraktion Die Linke.
({7})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Seit heute Nacht kennen wir den neuen Beschluss des
UN-Sicherheitsrates für eine Flugverbotszone über
Libyen. Es ist ein umfassendes Mandat und enthält viele
weitere Elemente. Wir sagen: Das ist ein Mandat für einen Kriegseinsatz in Libyen. Dies lehnen wir hier strikt
ab.
({0})
Ich weiß auch nicht, ob der Jubel der Aufständischen
über diese Entscheidung lange anhalten wird. Wir haben
Erfahrungen mit Flugverbotszonen im Irak. Es wurden
viele Stellungen auf dem Boden bombardiert, und viele
unschuldige Menschen sind dabei gestorben. Deswegen
können wir ein solches Mandat nicht unterstützen.
({1})
Wir hätten uns gewünscht, dass es zu einer Ablehnung dieses Mandats gekommen wäre. Dies hängt sehr
eng mit dem Thema, über das wir hier sprechen, nämlich
Rüstungsexporte, zusammen, aber davon haben Sie anscheinend wenig Ahnung. Wie gesagt, ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung hätte das Mandat abgelehnt. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, im
EU-Rat und im NATO-Rat konsequent gegen eine Beteiligung zu stimmen.
({2})
Jetzt komme ich zum entscheidenden Punkt, zu Libyen. Die Geschichte wiederholt sich nämlich: Die westlichen Staaten und die NATO-Staaten rüsten Diktatoren
erst auf, und dann werden sie mittels Krieg wieder abgerüstet. Das ist eine Kriegspolitik, die wir ablehnen.
({3})
Gaddafi hätte gar keine Kampfflugzeuge, mit denen
er jetzt gegen die demokratischen Bestrebungen vorgehen und die Menschen bombardieren könnte, wenn wir
sie nicht geliefert hätten, wenn ihn die NATO-Staaten
also nicht aufgerüstet hätten.
({4})
Deshalb brauchen wir eine Zäsur in der deutschen Außenpolitik, genauso wie wir eine Zäsur in der Atompolitik brauchen. So kann es nicht mehr weitergehen.
({5})
Minister Westerwelle hat vorhin wörtlich gesagt:
Wir sind nicht in der Lage, überall auf der Welt die
Unterdrückung zu beseitigen.
Aber die Bundesregierung ist in der Lage, weltweit Waffen zu verschicken. Wir sind an Position drei, was Rüstungsexporte in die Welt angeht, und das ist ein Skandal.
({6})
Deswegen kommt dieser Antrag genau zur richtigen
Zeit.
Wir fordern einen sofortigen Stopp aller Rüstungsexporte, einen Stopp der umfangreichen militärischen Zusammenarbeit und einen Stopp der Ausbildungshilfe für
Polizei und Militär, wie wir es in Libyen, Ägypten und
Tunesien erlebt haben. Daher kommt der Antrag heute
genau richtig.
({7})
- Dass Sie das hier als Quatsch bezeichnen, zeigt, wie
ignorant Sie sind und was für eine Klientelpolitik Sie für
die Rüstungskonzerne machen.
({8})
Die Liste der Länder und Krisenregionen, in die wir
Waffen und Rüstungstechnologie schicken, nimmt kein
Ende. Ich kann sie hier aufzählen: Ägypten, Jemen, Vereinigte Arabische Emirate, Israel, Indien, Pakistan, Türkei. Alles dies sind Regionen, in denen es Konflikte gibt
und in denen es zu Menschenrechtsverletzungen kommt.
An deren Spitze steht auch noch Saudi-Arabien.
({9})
Es ist völlig unverantwortlich, was Sie hier machen, und
wir wollen das beenden.
({10})
Die Menschen, die in ihrer konkreten Existenz betroffen sind und sich dagegen wehren, werden dann auch
noch durch die Grenzschutzagentur FRONTEX der Europäischen Union davon abgehalten, nach Europa zu gelangen. Auch dieses Vorgehen lehnen wir ab. Dies ist
eine menschenverachtende Politik gegenüber Flüchtlingen, die aufgrund der Konflikte, für die wir mitverantwortlich sind, nach Europa kommen.
({11})
Herr Minister Westerwelle verlor in seiner Regierungserklärung kein Wort zu Saudi-Arabien. Er hat kein
Wort zum Einmarsch in Bahrain gesagt. Im Gegenteil:
Die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien gehen weiter.
Heckler & Koch aus Baden-Württemberg liefert Gewehre nach Saudi-Arabien. Es soll sogar eine Fabrik für
die Produktion einer der tödlichsten Waffen - es geht um
G-36-Gewehre - gebaut werden. Wir sagen: Das kann so
nicht weitergehen. Wir müssen diese Rüstungspolitik beenden. Rüstungsexporte sind Milliardengeschäfte mit
dem Tod. Wer diese genehmigt, macht sich mitverantwortlich für Krieg, Konflikte, Elend und Tod.
({12})
Kollegin Hänsel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - Ich komme nämlich aus
Baden-Württemberg, und ich kenne unsere Rüstungsschmieden.
({0})
Ich habe oft genug mit der Friedensbewegung dagegen
demonstriert. Wir fordern: Wir müssen in BadenWürttemberg nicht nur die AKW abschalten, sondern
auch die Rüstungsschmieden schließen.
({1})
Dafür wird die Friedensbewegung bei den Ostermärschen auf die Straße gehen, und dafür kämpft auch eine
starke Linke im Landtag von Baden-Württemberg.
Danke.
({2})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Fritz das
Wort.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum
Schluss haben wir ja noch einmal erfahren, was die Motivation für diesen Antrag der Linken war.
({0})
Ich habe eigentlich gedacht, Herr van Aken, dem ich ja
das Engagement abnehme, würde heute hier sprechen.
Es ist auch richtig, dass man sich in diesen Dingen engagiert; das tun wir alle. Die Art und Weise verstehe ich
aber nur bei Herrn van Aken, weil er das Thema einmal
als Kampagnenchef einer Organisation bearbeitet hat,
und auf diese Weise kann er das auch am besten.
Mit diesen Anträgen werden Sie der Sache, um die es
geht, überhaupt nicht gerecht. Sie reichen allemal als
Kampagnenaufruf oder als Rede im Rahmen einer Demonstration, aber nicht für die Darstellung und die Bewältigung eines höchst komplizierten Problems. Mit einer einfachen Forderung in einem Satz ist hier nicht
geholfen.
({1})
Das gilt sowohl für den Antrag mit dem Titel „Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern
stoppen“ - Sie wissen selbst, dass das ein Show-Antrag
ist - als auch für den Antrag der Grünen mit dem Titel
„Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen“, über den wir hier schon einmal gesprochen haben, was ich deshalb nicht vertiefe.
Sie wissen - auch aus der letzten Debatte von vor einem Jahr -, dass der Rüstungsexportbericht und der Jahresabrüstungsbericht von der Datenlage her so unterschiedlich sind, dass sie gar nicht zum gleichen
Zeitpunkt vorgelegt werden können, es sei denn, Sie
wollten, dass der Jahresabrüstungsbericht sehr viel später vorliegt. Insofern wäre es gut gewesen, wenn Sie diesen Antrag im Laufe der Diskussion zurückgezogen hätten.
Zu dem dritten Antrag kann ich nur sagen: Hier treffen Sie, wie Sie aus eigener Regierungserfahrung wissen, die Praxis der Bundesrepublik Deutschland ziemlich genau. Das müssen wir uns eigentlich gar nicht
gegenseitig bestätigen.
Mir geht es jetzt darum, auf den einen oder anderen
Zusammenhang hinzuweisen, um zu zeigen, dass das
Thema nicht so einfach ist und sich in solch allgemeinen
Anträgen - den letzten nehme ich aus - nicht erschöpft.
Worum geht es? Wir müssen doch zunächst einmal
gemeinsam feststellen, dass die Bundesrepublik
Deutschland kein Land ist, das mit aller Macht Waffen in
die Welt liefert. Das ist doch ein völlig falsches Bild, das
Sie zeichnen.
({2})
Im Gegenteil: Diese Politik, die wir hier in historischer
Verantwortung betreiben und die durch eine bewusste
Hinwendung zum Friedensgebot gekennzeichnet ist, hat
zu einer äußerst restriktiven Exportpolitik geführt, die
übrigens über die verschiedenen Regierungen hinweg
weiterentwickelt worden ist.
({3})
- Sie haben heute schon genug dazu gesagt.
({4})
Sie werden doch auch nicht bestreiten können, dass
wir in den letzten 20 Jahren sowohl bei den Kriegswaffen als auch bei Rüstungsgütern als auch bei Dual-useGütern einen dauernden Fortschritt, eine dauernde Erhöhung der Kontrolldichte und eine dauernde Verbesserung
der Möglichkeiten, zu kontrollieren, aufzuklären und zu
verhindern, erreicht und kriminellen Entwicklungen, die
es immer wieder gegeben hat, Einhalt geboten haben.
Das wird doch wohl niemand bestreiten wollen.
Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass in der EU
nach gemeinsamen Regeln gearbeitet wird. Das ist ganz
zentral. Denn was hilft es, in einem Bereich, den wir in
Europa zusammenführen wollen - die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, zu der natürlich auch die
Rüstung und die Ausstattung von Streitkräften gehören -,
auf der Grundlage unterschiedlicher Verfahren und eines
unterschiedlichen rechtlichen Rahmens und auch mit unterschiedlichen industriepolitischen Ansätzen, was ja leider der Fall ist, zu handeln? Deshalb haben wir uns - die
letzten drei Regierungen - für die Dual-use-Verordnung
und den Kodex eingesetzt und dafür gesorgt, dass daraus
eine verpflichtende gemeinsame Position der Europäischen Union geworden ist.
Wir haben alles getan, um zu transparenten und nachvollziehbaren Regelungen zu kommen, aus deutscher
Sicht mit dem Ziel, den Exportdruck bei den Großmächten, die aus früherer Zeit Überkapazitäten haben, zu verringern. Mich beruhigt überhaupt nicht, dass es seit dem
Ende des letzten Jahres so aussieht, als würde diese gemeinsame Linie der Europäischen Union infrage gestellt, weil mit dem Abkommen über eine engere Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Großbritannien auf
militärischem Gebiet der multilaterale Weg verlassen
wird. Dies lässt eher erwarten, dass die beiden Länder
versuchen wollen, aus ihren Fähigkeiten, die sie tatsächlich haben, ihre wirtschaftliche Entwicklung zu generieren.
Das steht in völligem Unterschied zu Deutschland.
Wir haben immer auf die gemeinsame Politik, Kooperation, multilaterale Beschaffung und gegenseitige Begrenzung und Kontrolle gesetzt.
Es ist nun einmal so - das können auch Sie nicht bestreiten -, dass jemand in einer gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik, die auch einen militärischen Bereich umfasst, was auch in Zukunft der Fall sein wird,
dann eine besondere Rolle spielt, wenn er militärische
Fähigkeiten hat. Deshalb ist die Frage, ob man noch in
irgendeinem Bereich Systemführerschaft hat und ob man
Teil solch einer Kooperation sein kann, nicht unwesentlich. Sie ist ein sehr wichtiger Bestandteil des Einflusses
nicht nur auf die gemeinsame Politik, sondern auch auf
die gemeinsame Kontrolle und Begrenzung von Rüstungsexporten.
Auch wenn man sich diese Zusammenhänge klarmacht, gilt, dass trotzdem alles andere sorgfältig zu betrachten ist. Deshalb hat der Deutsche Bundestag Schritt
für Schritt mit dazu beigetragen, dass die Kontrolldichte,
die Berichtspflichten und die Nachvollziehbarkeit dessen, was geschieht, verbessert werden.
Wir haben Kampagnen unterstützt, die letztlich zu
Vereinbarungen geführt haben, zum Beispiel im Zusammenhang mit Landminen. Man kann nicht sagen, dass
die Bundesrepublik Deutschland untätig gewesen sei.
Sie können im Protokoll über die Beratung Ihres letzten
Antrags vom Februar nachlesen, was die Bundesregierung tut, um im Bereich Kleinwaffen zu Regelungen zu
kommen. Dann werden Sie merken, dass wir das Problem kennen, ihm nachgehen und versuchen, zu internationalen Vereinbarungen zu kommen.
Wenn die NATO bzw. die Europäische Union mit einer gemeinsamen Politik Schritt für Schritt nicht nur diesen Bereich begrenzt und ihn immer stärker auf die Bedarfe von NATO und Europäischer Union konzentriert,
sondern durch ihre gesamte Politik und in Zukunft auch
durch eine aktive Außen- und Sicherheitspolitik dazu
beiträgt, dass es weltweit weniger Bereiche gibt, in denen Waffen gebraucht werden - übrigens nicht nur, weil
jemand Böses damit im Sinn hat, sondern auch deshalb,
weil Staaten das Recht haben, selbst zu entscheiden, was
sie für ihre Verteidigung brauchen -, dann sind wir,
glaube ich, gemeinsam auf dem richtigen Weg.
Ich attestiere der Bundesregierung eine verantwortliche Politik und bin sicher, dass es auch dabei bleibt.
Danke schön.
({5})
Die Kollegin Bulmahn hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
- Entschuldigung. Das war mein Fehler. Der Kollege Jan
van Aken hat später die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Es hat erhebliche Fortschritte bei
der Einschränkung von Rüstungsexporten und deren
Kontrolle gegeben. Trotzdem zeigen die Zahlen zu den
aktuellen Rüstungsexporten, die das renommierte
schwedische Forschungsinstitut SIPRI diese Woche vorgelegt hat, dass zwischen 2006 und 2010 das Volumen
des weltweiten Handels mit Waffen und anderen Rüstungsgütern um 24 Prozent gestiegen ist. Deutschland
liegt dabei mit einem Anteil von 8 Prozent am Weltrüstungshandel im Jahr 2009 auf dem dritten Platz der globalen Rüstungsexportstatistik. Das ist Anlass, darüber zu
diskutieren; das sage ich ausdrücklich.
({0})
Aber, Herr van Aken - dies sage ich an die Adresse
der Linken -, Sie machen es sich mit Ihrem Antrag wirklich zu einfach.
({1})
Anstatt Vorschläge zu machen, wie wir die Rüstungsexporte sachgerecht einschränken und wie wir die Kontrolle verschärfen können, sagen Sie einfach: Wir exportieren nicht.
({2})
Bei aller Liebe: Das ist ein naiver Vorschlag. Ich kann
deshalb nur wiederholen, dass es sich dabei um einen
Show-Antrag handelt.
({3})
Es würde sich lohnen, in der Sache miteinander zu streiten, wie man dieses Regime noch verbessern kann.
({4})
Ich sage ausdrücklich, dass uns diese Zahlen alarmieren müssen. Sie sind auch Anlass zum Handeln.
({5})
Wir wissen, dass wir ein Kontrollregime haben. Aber
wir wissen auch, dass wir dieses Kontrollregime noch
verbessern und teilweise verändern müssen. Denn gerade Deutschland hat einen zu hohen Anteil am weltweiten Handel mit kleinen und leichten Waffen. Wir erleben
immer wieder, zu welch fatalen Konsequenzen das führen kann.
({6})
Rot-Grün hat im Jahr 2000 mit den „Politischen
Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ den Rüstungs- und Waffenexport erheblich restriktiver geregelt.
Es war richtig, dass wir das getan haben.
({7})
Wir haben damals drei wichtige Entscheidungskriterien festgelegt, die seitdem bei Rüstungsexporten geprüft und berücksichtigt werden müssen. Zunächst ist
das wichtige Kriterium der Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland zu nennen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, dürfen keine Waffen in dieses
Land exportiert werden.
({8})
Weiterhin muss die Frage, ob ein Export im Empfängerland eine nachhaltige Entwicklung be- oder verhindert - das ist eine Forderung, die von Entwicklungspolitikern jahrelang vorgetragen wurde -, geprüft und
berücksichtigt werden.
({9})
Abschließend muss die Frage geprüft werden: Dient die
Lieferung dem Ziel des Friedenserhalts und der Konfliktvermeidung?
Die Verantwortung der jeweiligen Bundesregierung
mit Blick auf die Entscheidung, ob Rüstungsexporte
durchgeführt werden dürfen oder nicht, ist durch diese
klaren Vorgaben deutlich gewachsen, auch wenn wir
durchaus selbstkritisch feststellen müssen, dass es
schwierig ist, die Einhaltung dieser Grundsätze zu überprüfen.
Ich plädiere ganz ausdrücklich dafür, nicht von diesen
Kriterien abzurücken, sondern ich halte sie für wichtig
und notwendig. Wir müssen aber überlegen, wie wir
diese Kriterien weiterentwickeln und präzisieren können.
({10})
Vor allem müssen wir überlegen - das ist ein wichtiger
Punkt -, wie wir mehr Transparenz bei der Frage herstellen können, welche Rüstungsexporte in welchem Umfang stattfinden.
({11})
In Richtung der Koalition sage ich: Sie haben in Ihrem schwarz-gelben Koalitionsvertrag beschrieben, dass
es eine verantwortungsbewusste Genehmigungspolitik
geben solle. Dagegen ist auf den ersten Blick nichts einzuwenden. Natürlich muss es sich um eine verantwortungsbewusste Politik handeln.
Aber ich sage ausdrücklich: In der Genehmigungspraxis kann „Verantwortung“ weniger bedeuten als „restriktiv“. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den es sich lohnt,
miteinander zu erörtern. Denn ich hoffe, dass es eine
breite Übereinstimmung in diesem Hause gibt, dass wir
eine restriktive Rüstungspolitik wollen.
({12})
Im Augenblick erleben wir schreckliches Leid und
schreckliche Ereignisse in Libyen. Das unterstreicht, wie
wichtig es ist, an den geschriebenen Grundsätzen festzuhalten und auch weiterhin eine restriktive Rüstungsexportpolitik durchzuführen.
({13})
Ich sage ausdrücklich, dass es mich mit großer Sorge
erfüllt, dass das Volumen der Hermesbürgschaften für
deutsche Rüstungsgeschäfte erheblich angestiegen ist.
Die Bürgschaften haben sich von 21 Millionen Euro im
Jahre 2008 auf rund 1,92 Milliarden Euro im Jahre 2009
erhöht.
Wenn der Zugang zu diesen Ausfallbürgschaften
durch die veränderten Formulierungen sogar noch erleichtert werden soll, wird sich diese Subventionierung
von Rüstungsgeschäften durch den Steuerzahler noch
weiter verstärken.
({14})
- Lieber Kollege Lindner, niemand in diesem Hause ist
schwerhörig. Wenn Sie sich mit Ihrem Kollegen unterhalten möchten, reden Sie doch bitte etwas leiser.
({15})
- Bitte. Ich finde, bei diesem Thema lohnt es sich, miteinander zu sprechen und nicht über andere Themen zu reden.
Restriktionen bei der Exportkontrolle sind nicht immer einfach umzusetzen. Das, was die Bundesregierung
an Erleichterungen angedacht hat, würde eine strengere
Rüstungsexportkontrolle verhindern. Das halten wir für
unverantwortlich. Deshalb darf das nicht geschehen.
({16})
Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen: Der fortschreitende Umbau der Bundeswehr und die damit verbundene Umrüstung machen eine genaue Begleitung
und Beobachtung notwendig. Keinesfalls darf der Umbau der Bundeswehr zu erhöhten Rüstungsexporten führen. Wir alle wissen, dass nach der deutschen Einheit die
Auflösung der Volksarmee zu erhöhten Rüstungsexporten geführt hat.
({17})
Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, dass das nicht
ein zweites Mal geschieht.
({18})
Die Begrenzung und die Kontrolle von Rüstungsexporten ist ein unmittelbarer Beitrag zur Sicherung des
Friedens und zur Prävention von gewalttätigen Konflikten. Deshalb: Die Transparenz über Rüstungsexporte
muss verbessert werden. In dem jüngsten Bericht der
Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung,
GKKE, ist das sehr gut formuliert worden. Dort heißt es:
Der jüngste Rüstungsexportbericht der Bundesregierung
liefert zwar wort- und zahlenreich viele Informationen,
doch jenseits dessen, dass er wieder nicht zeitnah erschienen ist, wecken anhaltende Rechenfehler und Unstimmigkeiten der Zahlen Zweifel an seiner Zuverlässigkeit. - Diese Beschreibung trifft leider zu. Deshalb muss
das verändert werden. Wir brauchen eine kohärente Datenerhebungsbasis und -methode, damit wir als Parlament und damit als politische Entscheider wirklich sichere Unterlagen und verlässliche Zahlen haben. Das ist
ein ganz wichtiger Punkt, der hier erreicht werden muss.
({19})
Es gibt einen weiteren Punkt, der verändert werden
muss. Bis heute wird der Deutsche Bundestag immer
erst nachträglich über die durchgeführten Rüstungsexporte informiert, leider oft erst sehr lange nachdem sie
durchgeführt worden sind. Das heißt, wir brauchen nicht
nur die Pflicht zur zeitnahen Berichterstattung, sondern
wir müssen auch erreichen, dass, so wie auch in anderen
europäischen Parlamenten, der Deutsche Bundestag
parallel zu den Entscheidungen informiert wird und auch
die Möglichkeit der Einflussnahme hat. Ich halte das für
einen ganz entscheidenden Punkt, um tatsächlich Transparenz herzustellen und das politische Ziel der effektiven Rüstungsexportkontrolle und das Ziel restriktiver
Rüstungsexporte tatsächlich zu realisieren.
Die Vorschläge, die die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung gemacht hat, gehen genau in diese
Richtung. Ich will sie ausdrücklich unterstützen. Ich begrüße sie sehr und hoffe, dass wir hier vielleicht doch zu
einer gemeinsamen Entscheidung kommen.
Kollegin Bulmahn, jetzt müssen Sie doch zum
Schluss kommen. Ich habe den Ordnungsruf, den Sie für
mich übernommen haben, schon draufgeschlagen.
({0})
Ich will einen letzten Punkt ganz kurz ansprechen.
Ein Satz.
Er bezieht sich auf die internationale Kontrolle des
Waffenhandels, den Arms Trade Treaty. Hier kommt es
darauf an, dass wir eine möglichst große Zahl von Staaten auf grundlegende Prinzipien zur Begrenzung und
Kontrolle von Rüstungstransfers verpflichten und damit
völkerrechtlich bindende Richtlinien für alle Rüstungsexporte entwickeln.
Kollegin Bulmahn, jetzt ist meine Geduld wirklich erschöpft.
Es lohnt sich, darüber zu diskutieren, weil es darum
geht, Sicherheit herzustellen und Menschenleben zu
schützen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege van Aken.
Herr Fritz, ich bin grundsätzlich gegen jede Art von
Rüstungsexporten, weil ich es grundsätzlich falsch finde,
dass Deutschland auch nur einen einzigen Euro daran
verdient, dass sich andere Menschen gegenseitig totschießen.
({0})
Das beiseite genommen, bin ich jederzeit bereit, zu
schauen, an welchen einzelnen Punkten man etwas verbessern könnte. Dass die deutsche Rüstungsexportkontrolle - das haben Sie gesagt - eine der strengsten der
Welt sei, ist eine Legende. Das wissen Sie genauso gut
wie ich. Ein Land, das die drittmeisten Waffen in alle
Welt exportiert und nur noch von den USA und Russland
getoppt wird, kann keine strenge Rüstungsexportkontrolle haben. Ich habe in den letzten Monaten sehr viele
Beispiele dafür vorgelegt. Sie wissen es, und ich weiß
das. Deswegen muss es darum gehen, an einzelnen
Punkten tatsächlich streng und restriktiv zu werden.
Herr Fritz - ich kann verstehen, dass Sie hier eher als
Lobbyist der Rüstungsindustrie auftreten -, ich möchte
Sie ganz konkret nach einem Punkt fragen, den Ihr Außenminister eben erwähnt hat. Der Außenminister hat in
der vorherigen Debatte gesagt: Wir sind auch bei den
Menschen in Bahrain, die sich gegen das dortige diktatorische Regime auflehnen. Sie wissen und ich weiß, dass
Saudi-Arabien mittlerweile in Bahrain einmarschiert ist.
Auch Sie wissen, dass Deutschland in den letzten fünf
Jahren Waffen für 470 Millionen Euro an Saudi-Arabien
geliefert hat. Wir alle hier sind uns einig: Die Bundesregierung hat Rüstungsexporte nach Tunesien, nach Ägypten und nach Libyen gestoppt. All das war richtig. Wenn
Saudi-Arabien jetzt aber Waffen einsetzt, um den Aufstand in Bahrain zu bekämpfen, müssten wir dann nicht
hier und heute entscheiden, dass von Deutschland keine
Waffen mehr nach Saudi-Arabien exportiert werden dürfen?
Ein letzter Punkt. Wichtig ist doch auch, endlich den
Bau der deutschen Waffenfabriken in Saudi-Arabien zu
stoppen. Im Moment werden dort zwei Fabriken gebaut:
eine, in der das Sturmgewehr G 36 hergestellt werden
soll, und eine weitere, in der die Munition dafür produziert werden soll. Wenn dieser Bau heute nicht gestoppt
wird, kann Saudi-Arabien im nächsten Jahr anfangen,
beides zu produzieren. Dann kann es 50 Jahre lang dieses hochmoderne deutsche Sturmgewehr in alle Welt exportieren. Wenn Sie und Herr Westerwelle es wirklich
ernst damit meinen, dass wir auf der Seite der Menschen
in Bahrain stehen, dann sollten Sie unserem Antrag zustimmen; das wünsche ich mir. Wir sollten einfach sagen: Ab sofort keine Exporte mehr nach Saudi-Arabien.
Könnten Sie dem zustimmen oder nicht? Wenn nicht,
warum nicht?
({1})
Kollege Fritz, Sie haben das Wort.
Herr van Aken, Sie wissen natürlich genau, dass diese
Ja/Nein-Frage so nicht zu beantworten ist. Wenn Sie eine
Rede in dieser Debatte gehalten hätten, dann hätten Sie
das alles vortragen können. Eigentlich haben Sie sich
nur zu dieser Kurzintervention gemeldet, um Ihren Vortrag nachzuholen.
Wenn Sie bestreiten, dass wir eine restriktive Politik
betreiben, dann bitte ich Sie wirklich einmal, Vergleiche
mit anderen Staaten dieser Welt anzustellen. Es gibt sicher Länder, die in Sachen Transparenz noch weiter
sind. Wie die Kollegin eben beschrieben hat, gibt es Parlamente, die vor der Durchführung wichtiger Projekte
einbezogen werden. Über all das kann man reden. Aber
man kann nicht durch die Verabschiedung von Anträgen
im Nachhinein Verträge annullieren. Man kann an einem
Freitagnachmittag auch nicht mal eben die Republik in
einem Punkt aus den Angeln heben.
Länder haben berechtigterweise Interessen, natürlich
auch im Rüstungsbereich. Da Ihre Fraktion die Souveränität dieser Länder nicht beeinträchtigen kann, werden
Sie daran nichts ändern.
Das Wort hat der Kollege Dr. Lindner für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!
Ich weiß leider nicht, warum wir uns zu dieser Stunde
noch so intensiv mit diesem lächerlichen Schaufensterantrag der Linken beschäftigen sollen,
({0})
Dr. Martin Lindner ({1})
der nur einem einzigen Zweck dient, nämlich mit Blick
auf Baden-Württemberg Wahlkampf zu betreiben; das
hat die Kollegin deutlich gemacht. Es hätte gereicht,
dass Sie einfach diesen völlig undifferenzierten, belanglosen Antrag einbringen. Dann hätten Sie der Klientel,
um die es Ihnen geht, zeigen können, was Sie für wunderbare Kerle und Frauen sind.
Tatsächlich geht es in dieser Frage um eine sehr diffizile und wichtige Angelegenheit. Es geht um Kriegswaffen im engeren Sinne. Sie vermischen alles. Es ist Ihnen
völlig egal. Wie gesagt, geht es Ihnen darum gar nicht.
Davon abzugrenzen sind sonstige Rüstungsgüter. Das
Ganze beginnt beim Militärhosenknopf, geht über weitere Ausrüstungsgegenstände bis hin zum Tanklastwagen und Ähnlichem. Schließlich geht es um die sogenannten Dual-use-Produkte. Das sind Güter, die man
sowohl militärisch als auch nichtmilitärisch verwenden
kann. Es geht dabei um Funktechnik, um Tanklastwagen, um Stahlpressen und anderes. All dies ist beiderseits verwendbar.
({2})
- Frau Präsidentin, fordern Sie Ihre Fraktion dazu auf,
mir die Gelegenheit zu geben, hier ungestört zu reden.
Zurzeit ist keine Fraktion meine Fraktion; vielmehr
versuche ich, hier ganz allgemein die Ordnung aufrechtzuerhalten.
({0})
Gut. Dann machen Sie das.
Das gilt heute allerdings für alle Seiten dieses Hauses,
wenn ich das anmerken darf.
Letztlich geht es hier gar nicht um diesen Antrag.
Dieser Antrag ist nicht geeignet, uns in dieser Frage
wirklich weiterzubringen, weil er all das auslässt.
Frau Kollegin Bulmahn, wenn Sie mit Verweis auf
diesen Report sagen, zwischen 2006 und 2010 seien die
Exporte gestiegen, dann fragen Sie sich doch einmal,
wer damals im Bundessicherheitsrat saß. Da saß Außenminister Steinmeier. Mich wundert es in diesem Zusammenhang, wenn erst Jahre später, wenn man in der Opposition ist, solche Sprüche geklopft werden.
Ich sage Ihnen ganz klar: Nach Maßgabe der Differenzierung zwischen Kriegswaffen, sonstigen Rüstungsgütern und Dual-use-Produkten sind wir als Freie Demokraten natürlich immer dabei, wenn es darum geht, die
Sicherheitsinteressen unseres Landes und unserer Verbündeten zu wahren. Im Zweifel werden wir immer die
Sicherheit dem kaufmännischen Interesse voranstellen.
So haben wir das in der Vergangenheit gemacht. Auch
diese Bundesregierung hat das immer gemacht.
Außerdem werden wir uns immer dagegen verwahren
und aufpassen, dass wir nicht eine Technologie exportieren, die später in kriegerischen Auseinandersetzungen
dieses Land so verändert, dass es deutlich gefährlicher
als zuvor ist.
Wir werden aber natürlich auch die wirtschaftlichen
Interessen unserer Unternehmen bei dieser Frage im
Blick haben. Es wird natürlich nicht so sein, dass all die
Exporte gestoppt werden, die Sie vorschlagen. Wir sind
eine Exportnation, und wir bekennen uns dazu, Exportnation zu sein. Wir setzen uns sogar dafür ein, dass weiter exportiert wird, meine Damen und Herren. Das ist
ganz klar.
({0})
Sie sagen, Israel dürfe keine Rüstungsprodukte mehr
bekommen. Wir haben jedoch eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Wir werden Israel selbstverständlich auch wehrtechnisch unter die Arme greifen.
({1})
Soweit dies im Kampf gegen den Terrorismus und die
Piraterie erforderlich ist, werden wir auch Länder wie
Saudi-Arabien technisch unterstützen.
({2})
Es ist bekannt, dass EADS einen Küstenschutzauftrag in
Milliardenhöhe erhalten hat. Das ist auch richtig. Wir
können nicht diese Länder als Partner im Kampf gegen
Terrorismus und Piraterie betrachten und ihnen auf der
anderen Seite Ausrüstung, Funktechnik und Ähnliches
verwehren. Diese Güter werden wir natürlich weiterhin
liefern.
Wir werden auch weiterhin NATO-Verbündeten Zugang zu unseren Waffensystemen ermöglichen. Das ist
doch verrückt. Wir können uns doch nicht im Deutschen
Bundestag einen Kopf über die Frage machen, was
NATO-Partner erwarten können. Das werden wir auch
nicht zulassen. Wir werden auch den Export von Dualuse-Produkten zulassen, wenn es nicht einen evidenten
Hinweis gibt, dass diese Produkte rüstungstechnisch verwendet werden. Darauf können Sie sich verlassen. Wir
werden nicht - was Sie im Sinne haben - der deutschen
Industrie und der deutschen Exportwirtschaft den Hahn
abdrehen.
Frau Bulmahn, es ist witzig: Sie haben mich vorhin
dafür kritisiert, dass ich die ganze Zeit geredet habe. Selber machen Sie jetzt aber auch nichts anderes. Sie müssen zumindest die Erwartungen erfüllen, die Sie an andere stellen.
({3})
Frau Bulmahn, es kommt natürlich auch nicht infrage,
dass bei einem rein exekutiven Handeln das Parlament
vorab befasst wird.
Dr. Martin Lindner ({4})
({5})
Wir haben hier sehr zuverlässige Verfahren über das
Bundesausfuhramt. Wir haben Verfahren, nach denen
das Auswärtige Amt und das Bundeswirtschaftsministerium zu Entscheidungen kommen. Das ist exekutives
Handeln. Darüber wird anschließend berichtet. Es ist
aber nicht so, dass der Deutsche Bundestag bei einzelnen
Rüstungsexportfragen an die Stelle der Exekutive tritt.
Das sage ich an dieser Stelle auch ganz klar.
({6})
Schließlich geht es der Linken nicht um einen Sachbeitrag.
({7})
Sondern es geht darum, in Baden-Württemberg noch ein
paar Pünktchen zu machen. Ich frage Sie, Frau Kollegin,
die Sie Verdi-Mitglied sind, wie ich es gerade festgestellt
habe, ob Sie das auch Ihren IG-Metall-Kollegen in den
Betrieben sagen, um die es geht. Sagen Sie das auch Ihren IG-BCE-Kollegen? Nein.
Es geht auch um Arbeitsplätze. Es geht um Menschen, die in diesen Unternehmen arbeiten, und das sind
nicht wenige Rüstungsschmieden, sondern das sind alle
metallverarbeitenden Unternehmen und Unternehmen
der chemischen Industrie. Den Kollegen, denen Sie sonst
immer den Mindestlohn versprechen, wollen Sie hier
den wirtschaftlichen Saft abdrehen. Darum geht es doch.
Das sagen Sie denen natürlich nicht.
({8})
Wir treten als FDP für die Wahrung der Sicherheitsinteressen dieses Landes und unserer Verbündeten ein. Wir
verwahren uns auch gegen den Vorwurf, wir würden
blind einfach exportieren.
Kollege Lindner, achten Sie bitte auf die Zeit.
Aber wir haben natürlich unsere Unternehmen, die in
diesem Bereich tätig sind, im Blick. So kommen wir zu
einer vernünftigen, ausgewogenen Politik - in der Zukunft ebenso wie in der Vergangenheit.
Herzlichen Dank.
({0})
Bevor wir diese Debatte ernsthaft und mit der angemessenen Aufmerksamkeit zu Ende bringen, möchte ich,
ohne dass ich den sicherlich im Protokoll vermerkten
Zuruf des Kollegen Wunderlich wiederholen möchte,
diesen ausdrücklich rügen.
Das Wort hat die Kollegin Katja Keul.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Lindner, Ihr Beitrag gerade war,
glaube ich, der beste Beweis dafür, dass Ihre Koalition
keine restriktive Rüstungsexportpolitik beabsichtigt.
({0})
Unsere heutige Debatte steht im Lichte der Ereignisse
in Libyen. Es macht wütend, mit ansehen zu müssen,
wie die Menschen dort auch mithilfe deutscher Waffen
und deutscher Ausrüstung unterdrückt und bekämpft
werden. So mussten wir erst gestern lesen, dass 2009 unter anderem Panzerabwehrraketen aus dem Hause EADS
samt der dazugehörigen Abschussanlagen über Frankreich nach Libyen geliefert wurden. Die Schusswaffen
von Heckler & Koch sind natürlich auch wieder mit von
der Partie.
Die deutsche Rüstungsexportpolitik hat sich viel zu
weit von ihrem Anspruch hinsichtlich einer restriktiven
Politik entfernt. Zu oft werden wirtschaftliche Interessen
in den Vordergrund gestellt und menschenrechtliche Kriterien verdrängt. Symptomatisch ist dabei die Federführung des Wirtschaftsministeriums statt des Auswärtigen
Amtes in Sachen Exportkontrolle.
({1})
Ob Brüderle, Guttenberg oder Westerwelle: Alle ließen
sich bei ihren letzten Reisen nach Indien durch Vertreter
der Rüstungsindustrie begleiten und rührten ordentlich
die Werbetrommel.
Die Minister sollten ihren Ehrgeiz lieber für neue Abrüstungsinitiativen und für die Konversion von Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie aufbringen.
({2})
Stattdessen will die Koalition das deutsche Kontrollsystem entschlacken, indem sie Vorschriften im Außenwirtschaftsgesetz streicht, die deutsche Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten benachteiligen.
Die Verbringung von Rüstungsgütern innerhalb der
Union soll erleichtert werden.
({3})
Aber auch bei Lieferungen an unsere Freunde in
NATO und EU müssen wir die deutsche Exportpraxis infrage stellen. Im Falle Griechenlands haben die milliardenschweren Waffenlieferungen deutscher Firmen zum
Staatsbankrott beigetragen.
({4})
Im gesamten Jahr 2009 hat Deutschland nicht einen einzigen Antrag auf Genehmigung von Rüstungsexporten
nach Griechenland abgelehnt. Als hätten wir nie von einer Euro-Krise gehört, ist Griechenland auch 2010 weltweit der größte Importeur deutscher Rüstungsgüter.
({5})
Im März 2010, als wir zeitgleich im Deutschen Bundestag das erste Mal Finanzhilfen für Griechenland debattierten, verkaufte ThyssenKrupp
({6})
Griechenland zwei weitere U-Boote im Wert von
1,3 Milliarden Euro.
Die Bundesregierung selbst verkaufte zu diesem Zeitpunkt noch ausgesonderte Panzerhaubitzen der Bundeswehr für 10 Millionen Euro an Griechenland. Dabei fordert der Gemeinsame Standpunkt der EU für
Waffenausfuhren, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
des Empfängerlandes zu berücksichtigen. Gerade die
Bundesregierung, damals schon mit 25 Milliarden Euro
größter einzelner Kreditgeber, hätte wissen müssen, dass
sich Griechenland die - pro Kopf gerechnet - größte Armee Europas nicht ansatzweise leisten konnte.
Als Konsequenz fordern wir Grünen in unserem Antrag, dass der Gemeinsame Standpunkt der EU auch auf
Rüstungsexporte innerhalb der EU konsequent angewandt wird.
({7})
Insgesamt bestehen erhebliche Defizite bei der Transparenz und den Möglichkeiten öffentlicher Kontrolle der
Rüstungsexporte. Die Bundesregierung gibt ihre Gründe
für einzelne Exportgenehmigungen grundsätzlich nicht
preis, sondern entscheidet geheim im Bundessicherheitsrat. Auf diesem Weg ist Deutschland zum drittgrößten
Waffenexporteur der Welt geworden. Das darf nicht so
bleiben.
({8})
Die Forderung der Linken nach einem Handelsverbot
für sämtliche Rüstungsgüter scheint mir doch sehr davon
geprägt, dass die Linke nicht wirklich damit rechnet, ein
solches Verbot praktisch umsetzen zu müssen.
Uns Grünen ist vor allem mehr parlamentarische
Kontrolle der Rüstungsexporte wichtig. Der Bundestag
muss in die Genehmigungsverfahren einbezogen werden.
({9})
Kollegin Keul, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fischer zu?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Keul, ist Ihnen bekannt, dass in den
vergangenen zwei Jahren Deutschland die höchsten Rüstungsexporte hatte und dass diese Tatsache aus Aufträgen resultiert, die während der rot-grünen Regierungszeit genehmigt worden sind? Wie erklären Sie diesen
Sinneswandel?
({0})
Wenn das so gewesen ist, müssen wir das ändern.
({0})
Der unter grüner Regierungsbeteiligung - das ist ein
wichtiger Punkt - eingeführte jährliche Rüstungsexportbericht wird viel zu spät vorgelegt. Wir fordern in unserem Antrag die Vorlage dieses Berichtes parallel zum
Abrüstungsbericht im Frühjahr.
({1})
Die Zahlen liegen allesamt bereits vor. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, die Vorlage des Berichtes über Monate hinauszuzögern.
Kollegin Keul, jetzt müssen Sie bitte auf die Zeit achten.
Weitere konkrete Vorschläge zur Verbesserung der
Kontrollmechanismen sind in Arbeit. Sie sind alle herzlich eingeladen, daran mitzuwirken. Lassen Sie uns gemeinsam für eine restriktive und für eine an der Friedenspolitik ausgerichtete Rüstungskontrolle Sorge
tragen.
Vielen Dank.
({0})
Bevor ich die Debatte schließe, verweise ich all diejenigen, die im Moment ein wenig aufgeregt sind, auf § 27
unserer Geschäftsordnung, der das Thema Worterteilung
und Wortmeldung, darin auch Kurzinterventionen und
Zwischenfragen, zum Inhalt hat. In der nächsten Sitzungswoche können wir dann sicher entsprechend wieder in die Debatte einsteigen.
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5039 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Zusatzpunkt 4: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1627, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1167 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Gemeinsamer Standpunkt der EU für Waffenausfuhren
auch bei Rüstungsexporten an EU-, NATO- und NATOgleichgestellte Länder konsequent umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3291, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2438 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion
Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungspunkt 31 abzusetzen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. März 2011, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.