Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung.
Die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen hat am
1. März ihren 75. Geburtstag gefeiert und die Kollegin
Edelgard Bulmahn einige Tage später ihren
60. Geburtstag. Im Namen des gesamten Hauses möchte
ich dazu auch auf diesem Wege noch einmal herzlich
gratulieren und alle guten Wünsche übermitteln.
({0})
Der Kollege Holger Haibach hat mit Wirkung vom
1. März auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als seinen Nachfolger begrüße ich den
Kollegen Helmut Heiderich.
({1})
Ebenso herzlich willkommen heiße ich den Kollegen
Ingo Egloff, der als Nachfolger des Kollegen Olaf
Scholz die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat.
({2})
Die CDU/CSU-Fraktion hat mitgeteilt, dass die Kollegin Sibylle Pfeiffer ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat.
({3})
Als neuer Schriftführer wird der Kollege Peter
Wichtel vorgeschlagen.
({4})
- Alle entsprechenden Tests sind durchgeführt. Sie dürfen da ganz beruhigt sein. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege
Wichtel hiermit gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes und zur Wiederherstellung des Atomkonsenses
- Drucksache 17/5035 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 32
Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zugang zu verwaisten Werken erleichtern
- Drucksache 17/4695 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern stoppen
- Drucksache 17/5039 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen
- Drucksachen 17/1167, 17/1627 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Marieluise Beck ({10}),
Volker Beck ({11}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren auch bei Rüstungsexporten an EU-,
NATO- und NATO-gleichgestellte Länder
konsequent umsetzen
- Drucksachen 17/2438, 17/3291 Berichterstattung:
Abgeordnete Kerstin Andreae
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 27 d und 30 werden abgesetzt.
Außerdem mache ich auf einige geänderte Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 27. Januar 2011 überwiesene nachfolgende
Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({12}) zur Mitberatung überwiesen werden; die Mitberatung des Ausschusses für Gesundheit ({13}) soll entfallen:
Antrag der Abgeordneten Priska Hinz ({14}),
Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungsberichte nutzen - Bildungssystem gerechter und besser machen
- Drucksache 17/4436 überwiesen:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({15})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die am 25. Februar 2011 überwiesene nachfolgende
Unterrichtung soll nunmehr nicht mehr dem Ausschuss
für Kultur und Medien ({16}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tätigkeitsberichte 2008 und 2009 der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen für den Bereich Eisenbahnen gemäß § 14 b des
Allgemeinen Eisenbahngesetzes
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 17/4630 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Der am 24. Februar 2011 überwiesene nachfolgende
Antrag soll nunmehr nicht mehr dem Haushaltsausschuss ({18}) gemäß § 96 GO überwiesen werden; die Mitberatung des Haushaltsausschusses soll jedoch bestehen bleiben:
Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Heidrun
Dittrich, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen
statt Bundesfreiwilligendienst einführen
- Drucksache 17/4845 überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({19})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den
Zusatzpunkt 1 auf:
5 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zur aktuellen Lage in Japan
ZP 1 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes und zur Wiederherstellung des Atomkonsenses
- Drucksache 17/5035 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({20})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Zu der Regierungserklärung liegen je ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der
SPD und der Fraktion Die Linke sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Alle Fraktionen haben namentliche Abstimmung über
ihre Entschließungsanträge verlangt. Insgesamt werden
wir zu den Entschließungsanträgen sieben namentliche
Abstimmungen durchführen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Auch dies ist offenkundig einvernehmlich und damit so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({21})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
Freitag der letzten Woche, 14.45 Uhr Ortszeit, bebte in
Japan die Erde. Seismologen maßen eine Stärke von 8,9,
später korrigiert auf 9,0. Es war das schwerste Erdbeben
in der Geschichte Japans. Sein Epizentrum lag circa
130 Kilometer östlich der Stadt Sendai und circa
400 Kilometer nordöstlich der japanischen Hauptstadt
Tokio. Um 16 Uhr Ortszeit desselben Tages traf eine bis
zu 10 Meter hohe Flutwelle auf die Ostküste der japanischen Hauptinsel Honshu. Sie richtete schwerste Verwüstungen an. Noch am Abend dieses Tages gab es Meldungen, wonach in einem Reaktor des Kernkraftwerks
Fukushima I die Kühlung ausgefallen und im Atomkraftwerk Onagawa ein Feuer ausgebrochen war. Die japanische Regierung rief den atomaren Notstand aus.
In den folgenden Tagen und Nächten erschütterten
zahlreiche, zum Teil schwere Nachbeben das Land - und
das bis heute. Erdbeben und Tsunami haben weite Landstriche von Japans Nordosten verwüstet. Ganze Ortschaften wurden ausgelöscht. Die Zahl der Opfer
schnellt seit Tagen in die Höhe. Wie viele es tatsächlich
sind - wir wissen es nicht. Zu viele Menschen werden
vermisst. Unzählige Häuser und Straßen sind zerstört.
Unendlich viele Menschen haben ihr Obdach verloren.
Strom wird rationiert oder ist ganz weg. Treibstoff,
Trinkwasser, Nahrungsmittel sind knapp.
Rund um das Kernkraftwerk Fukushima wurde die
Evakuierungszone seit Freitag immer wieder erweitert.
Arbeiter dort führen einen ebenso - man kann es nicht
anders sagen - heldenhaften wie verzweifelten Kampf
gegen den atomaren Super-GAU. Sie setzen dabei nicht
nur ihre Gesundheit aufs Spiel, sondern auch ihr Leben
ein. Immer dramatischer entwickeln sich die Ereignisse
dort: ausgefallene Kühlanlagen, Berichte über freiliegende Brennstäbe, die sich immer stärker erhitzen,
Explosionen in verschiedenen Reaktoren, in einem Fall
wohl auch mit der Folge der Beschädigung eines Sicherheitsbehälters, Radioaktivität tritt aus. Es ist davon auszugehen, dass es in drei der Anlagen zu schweren Schäden an den Reaktorkernen gekommen ist.
Was uns angesichts all dieser Berichte und Bilder, die
wir seit letztem Freitag sehen und zu verstehen versuchen, erfüllt, das sind Entsetzen, Fassungslosigkeit, Mitgefühl und Trauer. Die Katastrophe in Japan hat ein geradezu apokalyptisches Ausmaß, und es fehlen die
Worte. Unsere tiefste Anteilnahme, unsere Gedanken
und unsere Gebete sind bei den Menschen in Japan.
({0})
In dieser Stunde schwerster Prüfung steht Deutschland an der Seite Japans. Was immer wir tun können, um
den Menschen in Japan bei der Bewältigung dieser
schier unfassbaren Katastrophe zu helfen, das werden
wir weiter tun. Das habe ich Premierminister Kan übermittelt, und das hat auch der Bundesaußenminister seinem japanischen Kollegen gesagt.
Experten des Technischen Hilfswerks haben in den
vergangenen Tagen vor Ort bei der Suche nach Überlebenden geholfen. Ich danke ihnen, und ich danke den
Helfern anderer Organisationen für ihren Einsatz für die
Menschen in Japan.
({1})
Ich danke allen Helfern des Krisenstabes im Auswärtigen Amt und der Botschaft vor Ort. Sie koordinieren
unsere Hilfe. Sie unterstützen auch alle deutschen
Staatsangehörigen im Krisengebiet bei einer Ausreise,
wenn sie das wünschen.
Auch die Vereinten Nationen haben ein Team nach
Japan entsandt. Es soll die japanische Regierung dabei
unterstützen, die Aufbaumaßnahmen zu koordinieren.
Ebenfalls ihre Hilfe angeboten hat die Europäische
Union.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Folgen dieser
Katastrophe sind überhaupt noch nicht absehbar. Die Betroffenen vor Ort hatten noch fast gar keine Chance, festzustellen, in welchen Bereichen sie tatsächlich weitere
Hilfe genau benötigen. Denn der Albtraum immer neuer
Beben und nuklearer Horrorszenarien hat noch kein
Ende gefunden.
In dieser Lage ist es unverzichtbar, dass wir den Menschen in Japan zeigen: Sie sind nicht allein. Dabei zählt
die Geste jedes Einzelnen. Namhafte deutsche Hilfsorganisationen haben Spendenkonten eingerichtet. Der Bundespräsident hat am Montag dazu aufgerufen, mithilfe
von Spenden über diese Organisationen Soforthilfe für
Japan zu leisten. Ich möchte diesen Aufruf ausdrücklich
unterstützen.
Die Spendenaktionen sollen vor allem den Menschen
in Japan zugutekommen, die durch Beben, Flutwelle und
die nuklearen Folgen ihr Zuhause verloren haben. Wir
sollten ihnen mit unserer unmittelbaren Unterstützung
ein Zeichen der Solidarität senden.
({2})
Das ist Hilfe unter Freunden. Japan war und ist ein enger
Freund Deutschlands, und das sage ich gerade im
150. Jahr des Bestehens unserer diplomatischen Beziehungen.
In dieser Stunde geht es für Unzählige nur um das
nackte Überleben. Beinahe verbietet es sich angesichts
ihrer Tragödie, bereits jetzt an die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Katastrophe zu denken. Ich will es
deshalb hier auch nur kurz tun, obwohl es für die Zukunft Japans von größter Bedeutung ist, wenn die sich
überschlagenden Schreckensmeldungen hoffentlich bald
ein Ende gefunden haben werden.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der dreifachen
Katastrophe sind - kurz gesagt - noch nicht abschätzbar.
Nach vergangenen Naturkatastrophen kam Japans
Volkswirtschaft durch staatliche Wiederaufbauprogramme schnell wieder auf die Beine. Selbst nach dem
schweren Erdbeben um die Stadt Kobe 1995 konnte eine
Rezession verhindert werden. Dennoch - so denke ich muss die Welt dieses Mal darauf vorbereitet sein, dass
die Katastrophe die japanische Wirtschaft vor noch größere Herausforderungen stellt, als dies frühere Katastrophen getan haben.
Japan - auch das dürfen wir nicht vergessen - ist die
drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ich befürchte derzeit nicht, dass die Weltwirtschaft signifikant beeinträchtigt wird. Trotzdem - das ergänze ich ausdrücklich werden wir zusammen mit unseren internationalen Partnern daran arbeiten, wie mögliche Folgen der Katastrophe für die globale Konjunktur bestmöglich minimiert
werden können.
Meine Damen und Herren, die Ereignisse in Japan bedeuten nicht allein für Japan eine unfassbare Katastrophe. Sie sind ein Einschnitt für die ganze Welt, für Europa, auch für Deutschland. Ich habe es in den
vergangenen fünf Tagen wieder und wieder gesagt, und
ich wiederhole es heute: Wir können und wir dürfen
nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir gehen
auch nicht zur Tagesordnung über, weder die Menschen
in Deutschland - das zeigt das außergewöhnlich große
Interesse an allen Sondersendungen im Fernsehen noch die Politik. Auch die Bundesregierung kann das
nicht, und sie ist nicht zur Tagesordnung übergegangen.
Ja, es bleibt wahr: Derart gewaltige Erdbeben und
Flutwellen, wie sie Japan getroffen haben, treffen uns
nach allen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erwartungen nicht. Auch mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die nukleare Katastrophe in Japan ist für
uns in Deutschland nach menschlichem Ermessen nicht
zu rechnen. Wir sind zu weit von dem Ort der Katastrophe entfernt.
Ja, es bleibt wahr: Wir wissen, wie sicher unsere
Kernkraftwerke sind. Sie gehören zu den weltweit sichersten,
({3})
und ich lehne es auch weiterhin ab, zwar die Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten, aber dann Strom aus
Kernkraftwerken anderer Länder zu beziehen. Das ist
mit mir nicht zu machen.
({4})
Ja, es bleibt wahr: Ein Industrieland wie Deutschland,
die größte Wirtschaftsnation Europas, kann nicht von
jetzt auf gleich vollständig auf Kernenergie als Brückentechnologie verzichten, wenn wir unseren Energieverbrauch weiter eigenständig zuverlässig decken wollen.
Ich möchte an dieser Stelle, weil es heute ja sicherlich
auch noch eine Reihe von Auseinandersetzungen geben
wird, noch einmal eines festhalten: In Deutschland gibt
es einen Konsens aller Parteien, dass wir keine neuen
Kernkraftwerke bauen und dass die Kernkraft eine
Brückentechnologie ist, dass die Kernkraft ausläuft.
({5})
- Die Linke hat wie immer eine Sonderrolle. Entschuldigung, dass ich Sie mit einbezogen habe. Das werde ich
natürlich nicht mehr tun.
({6})
Was wir brauchen, ist ein Ausstieg mit Augenmaß.
Ein Land wie Deutschland hat im Übrigen auch den
Verpflichtungen zum Schutz unseres Klimas weiter gerecht zu werden; denn der Klimawandel ist und bleibt
eine der großen Herausforderungen der Menschheit.
({7})
Es geht nicht an, dass wir an einem Tag den Klimawandel als eines der größten Probleme der Menschheit klassifizieren und an einem anderen Tag so tun, als ob das alles nicht gilt. Wir müssen schon mit einer Zunge
sprechen.
({8})
Ja, es bleibt auch wahr: Energie in Deutschland muss
für die Menschen bezahlbar sein, und wir haben kein
Problem gelöst, wenn Arbeitsplätze in andere Länder abwandern, wo die Sicherheit der Kernkraftwerke nicht
besser, vielleicht sogar noch geringer ist.
({9})
Und dennoch: Die Bundesregierung konnte und kann
trotz all dieser unbestrittenen Fakten nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen, und zwar aus einem alles
überragenden Grund:
({10})
Die unfassbaren Ereignisse in Japan lehren uns, dass etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für
unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden
konnte.
({11})
Sie lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich waren, sondern Realität wurden.
Wenn das so ist, wenn also in einem so hoch entwickelten Land wie Japan das scheinbar Unmögliche mögBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
lich, das absolut Unwahrscheinliche Realität wurde,
dann verändert das die Lage.
({12})
Dann haben wir eine neue Lage, dann muss gehandelt
werden. Und wir haben gehandelt. Denn die Menschen
in Deutschland können sich darauf verlassen: Ihre Sicherheit und ihr Schutz waren und sind für die Bundesregierung oberstes Gebot.
({13})
Es gilt der Grundsatz: Im Zweifel für die Sicherheit.
({14})
Deshalb haben wir im Lichte der Ereignisse in Japan
veranlasst, dass alle deutschen Kernkraftwerke noch einmal einer umfassenden Sicherheitsprüfung unterzogen
werden - im Lichte der neuen Lage! Dazu setzen wir die
Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke aus,
({15})
indem wir für den Zeitraum eines dreimonatigen Moratoriums alle Kernkraftwerke, die 1980 und früher in Betrieb gegangen sind, vom Netz nehmen. Besser gesagt:
Wir tun mehr, als ein Moratorium bedeuten würde; denn
ein Moratorium der Verlängerung der Laufzeiten führte
uns zurück auf die Rechtsgrundlage der rot-grünen Regierung. Die wiederum würde jetzt nur zur Folge haben,
dass Neckarwestheim 1 abgeschaltet werden müsste.
({16})
Alle anderen Kernkraftwerke würden heute, zum jetzigen Zeitpunkt, weiterlaufen.
({17})
Was tun wir?
({18})
- Jetzt hören Sie genau zu! Darf ich Sie einfach bitten,
Herr Kelber, dass Sie mal zuhören?
({19})
Was tun wir? Bund und Länder sind sich einig, dass
diese Abschaltung durch rechtliche Verfügung der Aufsichtsbehörden der Länder angeordnet wird. Das Gesetz
über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den
Schutz gegen ihre Gefahren, kurz „Atomgesetz“ genannt, sieht genau das vor, also eine Anlage vorübergehend stillzulegen, bis sich die Behörden Klarheit über
eine neue Lage verschafft haben.
Ich danke an dieser Stelle dem Kollegen Oppermann
ausdrücklich für das Angebot seiner Fraktion an die Koalition, in der nächsten Woche ein gemeinsames, wie Sie
es formulieren, Abschaltgesetz zu verabschieden. Wir
sind dennoch der Auffassung, dass wir dieses Angebot
nicht anzunehmen brauchen, weil wir im beschriebenen
Sinne handeln können - und das umgehend, meine Damen und Herren.
Ich will es noch einmal präzisieren, weil das wirklich
wichtig ist: Die bisher unbestrittene Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke beruht auf der Einhaltung des
Atomgesetzes, der auf dem Atomgesetz beruhenden
Rechtsverordnungen und der erteilten Genehmigungen.
Die Vorkommnisse in Japan haben jedoch gezeigt, dass
Ereignisse auch jenseits der bisher berücksichtigten Szenarien eintreten können.
({20})
- Entschuldigung, die Genehmigungen sind auch zu Ihren Zeiten vergeben worden. - Hieraus resultiert die
Notwendigkeit, die Lage unter Berücksichtigung der aktuellen Ereignisse vorbehaltlos zu analysieren und hieraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.
({21})
Für die dreimonatige Betriebseinstellung der sieben
ältesten Anlagen als vorläufige aufsichtliche Maßnahmen sieht das Atomgesetz in § 19 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3
eine einschlägige Rechtsgrundlage vor. Auf dieser
Rechtsgrundlage kann bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts die einstweilige Betriebseinstellung angeordnet
werden.
Jetzt hören Sie wieder gut zu: Ein derartiger Verdacht
ist nach dem Atomrecht - das ist so genau - dann gegeben, wenn sich wegen begründeter Unsicherheiten im
Rahmen der Risikovorsorge Schadensmöglichkeiten
nicht völlig ausschließen lassen.
({22})
- Hören Sie doch bitte mal zu! Entschuldigung, darf ich
noch einmal wiederholen?
({23})
Es ist eine neue Lage.
({24})
- Im Augenblick rede ich. - Es ist eine neue Lage.
({25})
Hochverehrter Herr Steinmeier, die Kernkraftwerke
- mit Ausnahme von Neckarwestheim - würden nach
der von Rot-Grün geschaffenen Rechtslage heute am
Netz sein. Das ist die Wahrheit.
({26})
Nehmen Sie es doch einfach einmal hin und sagen ebenfalls: Wir haben eine neue Lage. - Das kann man doch
erwarten!
Da sich gerade bei älteren Anlagen die Frage nach
den in der Auslegung berücksichtigten Szenarien in be10886
sonderer Weise stellen kann, haben sich die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Bundesländer
mit Kernkraftwerken
({27})
dazu entschlossen, diese Anlagen für den Zeitraum der
Überprüfung vom Netz zu nehmen. Dies ist Ausdruck
äußerster Vorsorge, der sich die Bundesregierung und
die Ministerpräsidenten zum Schutz der Bevölkerung
verpflichtet sehen.
Ich möchte an dieser Stelle festhalten: Dies ist eine
aufsichtsrechtliche Maßnahme. Dies ist kein Deal, dies
ist keine Absprache, dies ist gar nichts von dem, sondern
dies ist die Anwendung des Atomgesetzes in einer neuen
Lage,
({28})
nicht mehr und nicht weniger. Das ist Verantwortung,
meine Damen und Herren.
({29})
Ich bin mir dazu sowohl in der Sache als auch im Verfahren mit den Ministerpräsidenten der Standortländer
vollkommen einig.
({30})
Bund und Länder sind hier gemeinsam in der Verantwortung.
Deshalb sage ich auch, dass ich nicht verhehle, dass
ich die Debatte des gestrigen Tages über die rechtlichen
Grundlagen des Handelns von Bund und Ländern - die
wird sicherlich gleich fortgesetzt - nur schwer nachvollziehen kann.
({31})
Wir müssen sicher in unserem politischem Handeln alle
juristischen Anforderungen stets ernst nehmen. Darüber
kann und darf es nicht den geringsten Zweifel geben.
Das sage ich, damit da überhaupt kein Missverständnis
entsteht. Aber wir sollten uns in einer Situation äußerster
Gefahrenvorsorge - um diese geht es Bund und Ländern
im Licht der Ereignisse von Japan - nicht juristische
Tricks unterstellen, wo keine juristischen Tricks unterstellt werden können, meine Damen und Herren.
({32})
Dazu gehört im Übrigen auch, dass während des Moratoriums meine Gespräche natürlich nicht, wie das zunächst mit Blick auf die Anwendung des Atomgesetzes
sinnvoll ist, auf den Kreis der Ministerpräsidenten beschränkt bleiben, die vorgestern mit mir beraten haben.
Das gilt für alle Gespräche, die die Bundesregierung in
nächster Zeit führen wird.
Wenn es um die Akzeptanz und Fortentwicklung der
Energiepolitik insgesamt geht, werden natürlich auch gesellschaftliche Gruppen einbezogen: Wirtschaft, Gewerkschaften, Umweltverbände, Kirchen. Natürlich
werden alle Ministerpräsidenten aller Bundesländer einbezogen, zum Beispiel wenn es um neue Leitungen und
Trassen gehen wird. Das wird sehr zeitnah geschehen,
noch vor Ostern.
({33})
Auch hier sollten wir uns nicht immer als Erstes verdächtigen.
Meine Damen und Herren, Sicherheit der Kernenergie hat nicht nur eine nationale, sondern mindestens
ebenso eine internationale Dimension.
({34})
Wir werden daher in Europa, international und auch im
Rahmen der G 20 dafür eintreten, dass die notwendigen
Schlussfolgerungen aus den Ereignissen in Japan gezogen werden.
Ich habe das Thema „Nukleare Sicherheit“ für den
nächsten Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in der nächsten Woche am 24. und 25. März angemeldet. Der Ratspräsident hat der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunkts bereits zugestimmt.
Auf EU-Ebene hat Energiekommissar Oettinger
schnell gehandelt. Ich begrüße, dass er schon begonnen
hat, Gespräche mit den wichtigsten Akteuren zu führen,
und ich unterstütze die Initiative für einen EU-weiten
Stresstest für alle Kernkraftwerke. Wir brauchen in der
gesamten Europäischen Union hohe Sicherheitsstandards, denn bei Sicherheitsrisiken ist nicht nur der Staat,
in dem das Kernkraftwerk steht, betroffen.
({35})
Ich habe mit Nicolas Sarkozy verabredet, dass Frankreich gemeinsam mit Deutschland eine Initiative der
G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerken
einbringt. Der G-20-Präsident, der französische Präsident, hat bereits die Energieminister der G-20-Länder
nach Paris zu einem Sondertreffen eingeladen.
Nach dem dreimonatigen Moratorium werden wir
über die endgültigen Konsequenzen für den Betrieb der
Kernkraftwerke entscheiden.
({36})
Dabei wiederhole ich auch an diesem Ort das, was ich
seit Montag sage: Die Lage nach dem Moratorium wird
eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium, denn
alles kommt auf den Prüfstand.
Sie wird darüber hinaus - das sage ich, damit auch da
kein Missverständnis entsteht - auch eine andere Lage
sein als die Lage zur Zeit des rot-grünen Gesetzes.
({37})
Weder konnten wir nach den Ereignissen in Japan einfach so zur Tagesordnung übergehen, noch ist das rotgrüne Konzept tragfähig für ein Land wie Deutschland,
für die größte Wirtschaftsnation Europas mit dem Anspruch höchster Sicherheitsstandards im Lichte aller Erkenntnisse.
({38})
Wir werden deshalb die bewusst ehrgeizig kurz bemessene Zeit des Moratoriums nutzen, um die Energiewende
voranzutreiben und, wo immer möglich, zu beschleunigen. Denn wir wollen so schnell wie möglich das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen - das ist unser
Ziel -,
({39})
und das mit einem Ausstieg mit Augenmaß.
Klar ist dabei: Wenn jetzt die Sicherheit der Kernenergie neu bewertet wird
({40})
und möglicherweise - ich kann den Ergebnissen des Moratoriums nicht vorgreifen - Anlagen schneller vom
Netz zu nehmen sind, dann müssen wir - das ist die
Schlussfolgerung - auch schneller zu einem System der
Energieversorgung auf der Grundlage erneuerbarer Energien kommen.
({41})
Das heißt: Wir werden die sehr ambitionierten Maßnahmen des Energiekonzepts nicht nur konsequent umsetzen, sondern sie, wo es geht, auch beschleunigen.
Wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien
und der notwendigen Netzinfrastruktur noch schneller
voranbringen. Wir werden für die Umsetzung eine klare
Zeitplanung vorlegen; denn eines ist klar: Wir brauchen
eine Brückentechnologie wie die Kernenergie so lange,
bis wir einen Anschluss gefunden haben. Alles andere
hieße, die Probleme unter den Tisch zu kehren. Das tun
wir nicht. Das widerspräche dem Anspruch der christlich-liberalen Koalition.
({42})
- Sie sind doch bloß neidisch, dass Sie Heiner Geißler
nicht haben. Meine Güte, also wirklich!
({43})
- Darf ich ausreden? Wir reden hier über sehr ernsthafte
Dinge, meine Damen und Herren.
({44})
Ich erinnere noch einmal: Unser Energiekonzept sieht
für das Jahr 2050 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 80 Prozent vor. Das ist extrem anspruchsvoll.
Wenn wir das diskutieren, müssen wir ehrlich über die
Voraussetzungen sprechen; dann müssen wir allerdings
auch ganz konkret werden.
({45})
Das betrifft etwa den Ausbau der Windenergie an
Land und auf See. Wir werden zeigen, wie konkret neue
Windparks errichtet werden können und die Windenergie langfristig zu einer tragenden Säule unserer Stromversorgung ausgebaut werden kann. Schon bald wird ein
großes KfW-Programm starten, mit dem wir den Startschuss für neue Investitionen in Offshorewindparks geben.
Eine wichtige - ich sage: eine unabdingbare - Voraussetzung ist auch der Ausbau der Stromnetze. Wer erneuerbare Energien will, darf sich dem Bau der dafür erforderlichen großen Stromtrassen, die neu errichtet werden
müssen, nicht verweigern.
({46})
Wir müssen in der Perspektive auch über ein System
debattieren, das Strom aus erneuerbaren Energien flexibel zum Verbraucher bringt, ihn bedarfsgerecht speichert
und jederzeit verfügbar verteilt.
Nicht zuletzt ist die Steigerung der Energieeffizienz
unverzichtbar, und zwar durch moderne Technologien in
allen Bereichen, vom Verbraucher bis zur Industrie. Zu
diesem zentralen Handlungsfeld hat der EU-Energiekommissar Oettinger gerade einen neuen Aktionsplan
für Energieeffizienz vorgelegt.
Für all das brauchen wir - das ist mir besonders wichtig - breite Unterstützung und Akzeptanz in der Gesellschaft. Wir wollen kein Dagegen, sondern ein Dafür.
({47})
Die erneuerbaren Energien können wir nur ausbauen,
wenn die notwendigen Stromnetze errichtet werden.
Hierfür müssen alle, die den Ausbau der erneuerbaren
Energien wollen, um mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort werben. Das ist schlicht und ergreifend heute nicht der Fall.
({48})
Die einen werben, die anderen sind dagegen, wo immer
das geht, oder spielen auf Zeit und sagen, man müsse
lange darüber diskutieren.
({49})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aussprache ist
wie vereinbart im Anschluss an die Regierungserklärung
vorgesehen.
({0})
Wann es reicht, Frau Künast, bestimmt die Fraktion,
indem sie entscheidet, wie viel Redezeit sie mir gibt. Sie
haben das nicht zu entscheiden. Das ist auch gut so.
({0})
Schauen Sie sich einmal Ihre Parteitagsbeschlüsse zum
Ausbau der Stromtrassen an.
Stromeinsparung können wir nur dann erreichen,
wenn die Verbraucher aktiv mitmachen. Neue Anlagen,
seien es Windkraftwerke, Pumpspeicherwerke - auch da
bitte ich, zu schauen, wer wo protestiert ({1})
oder hocheffiziente konventionelle Kraftwerke - schauen
Sie sich an, wer alles gegen Kohlekraftwerke ist -,
({2})
können wir nur errichten, wenn alle hier in diesem
Hause dafür eintreten, dass sie gebaut werden.
Meine Damen und Herren, schließlich müssen wir
auch bei einem weiteren Streitthema endlich vorankommen: bei der Entsorgung von radioaktiven Abfällen. Es
kann nicht sein, dass wir diese Aufgabe weiter in die Zukunft und damit auf zukünftige Generationen schieben.
Wir packen daher auch dieses Thema, das Rot-Grün in
unverantwortlicher Weise hat liegen lassen, entschlossen
an.
({3})
Sie haben damals bei dem vermeintlich tragfähigen
Ausstieg in zwei Bereichen nicht die Zukunft im Blick
gehabt und den Kopf in den Sand gesteckt: bei der Entsorgung - da haben Sie ein Moratorium für Gorleben
vereinbart - und, das kann ich Ihnen nicht ersparen, bei
der Sicherheit. Herr Trittin, Sie wissen genau: Damals,
im sogenannten Atomkonsens aus dem Jahre 2000, unterzeichnet 2001, ist vereinbart worden:
Während der Restlaufzeiten
- ich sage noch einmal, heute wäre nur Neckarwestheim 1 abgeschaltet; alle anderen wären am Netz wird der von Recht und Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter gewährleistet; die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen
Sicherheitsstandard und die diesem zugrundeliegende Sicherheitsphilosophie zu ändern.
({4})
… die Bundesregierung wird keine Initiative
ergreifen …
- so war das.
({5})
- Ja, natürlich:
Bei Einhaltung - ({6})
- Hören Sie doch einmal zu! Ich bin nicht so wie Sie,
dass ich Ausschnitte lese. Ich lese weiter:
Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen
gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten
Betrieb der Anlagen.
({7})
Aber: keine neuen Sicherheitsstandards.
({8})
Meine Damen und Herren, heute wird von Ihnen ein
Antrag zur sofortigen Inkraftsetzung des kerntechnischen Regelwerks zur Abstimmung gestellt. Lassen Sie
mich dazu ein Wort sagen. Unter Rot-Grün wurde erst
einmal gar nichts unternommen, außer dass man etwas
ausgearbeitet hat; aber angewandt hat man es nicht.
({9})
Dann ging es in der Großen Koalition um die Frage,
„Was machen wir damit?“, weil sich Herr Gabriel der
Frage „Stillstand in der Sicherheit“ dankenswerterweise
nicht mehr ganz so verpflichtet gefühlt hat.
({10})
- Ich sage das doch ausdrücklich lobend.
({11})
Dann hat Herr Gabriel dieses kerntechnische Regelwerk
zur Erprobung parallel zu den gängigen und geltenden
Sicherheitsvorschriften laufen lassen. Herr Gabriel ist
dafür kritisiert worden, pikanterweise vom ehemaligen
Staatssekretär Herrn Baake von den Grünen. Herr
Gabriel hat im Juni 2009 diese Vorwürfe - ich sage: gerechterweise - ausführlich zurückgewiesen; ich empfehle, die Pressemitteilung des BMU vom 16. Juni 2009
zu lesen, in der steht, dass diese Vorwürfe „haltlos“ sind.
Er hat im Juni 2009 ebenso gesagt, dass dieses Verfahren
15 Monate lang erprobt wird, also nach meinen Berechnungen bis zum September 2010. Dann haben wir, die
neue Regierung, über die Verlängerung der Laufzeiten
debattiert und in diesem Zusammenhang das Atomgesetz bezüglich der Sicherheitsanforderungen verändert
({12})
und dafür gesorgt, dass in § 7 d des Atomgesetzes eine
neue Verpflichtung eingeführt wird - ({13})
- Ich finde wirklich, wir sollten uns in diesem Hause
- dazu sind wir verpflichtet - um die Wahrheit bemühen.
({14})
Das gilt auch für die Opposition.
Wir haben mit der Einführung des neuen § 7 d des
Atomgesetzes neu die Verpflichtung der Betreiber der
Kernkraftwerke zur weiteren Risikovorsorge eingeführt,
sich immer wieder am neuesten Stand von Forschung
und Technik zu orientieren
({15})
- diese Kategorie hat es in diesem Maß noch nicht gegeben - und immer wieder dynamisch auf neue Anforderungen zu reagieren. Das ist die Realität, und das äußert
sich in der Spezifizierung der Sicherheitsanforderungen
für jede einzelne Anlage.
({16})
Wer hier behauptet, wir hätten die Sicherheit nicht im
Blick gehabt, der sagt schlicht und ergreifend die Unwahrheit. Die höchsten Sicherheitsanforderungen gab es
unter der christlich-liberalen Koalition. Das ist die Wahrheit, und die müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen.
({17})
Meine Damen und Herren, es ist gut und nötig und
auch sinnvoll, dass wir uns in energiepolitischen Fragen
um die besten Antworten bemühen. Es ist auch gut und
richtig, dass wir darüber immer wieder streiten. Das
macht Opposition und Regierung aus, und das macht unsere Demokratie lebendig. Auch ich war einmal Vorsitzende einer Oppositionsfraktion und weiß, wie das ist.
Aber eines muss beachtet werden: Sie werfen der Regierung und auch mir persönlich vor, jetzt oder vor sechs
Monaten oder bei der Verabschiedung der Laufzeitenverlängerung oder wahrscheinlich durchgehend die Unwahrheit zu sagen. Sie werfen uns Täuschung, Trickserei, mehr oder weniger Rechtsbruch und natürlich
Wahlkampftaktik und Ähnliches vor.
({18})
- Ja, meine Damen und Herren, schauen Sie sich das genau an. - Ich halte das hinsichtlich der Aufgabe für absolut nicht angemessen. Es geht hier um ein wesentliches
Thema. Es geht hier um eine Situation, in der wir über
Fragen debattieren, die die Welt vor eine neue Lage gestellt haben.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
finde, dass Ihre Art und Weise der Argumentation absolut respektlos ist.
({19})
Ihr Verhalten, das ich in den letzten Tagen gesehen habe,
ist an Niveaulosigkeit nicht zu überbieten.
({20})
Ich rate Ihnen nur eines: Schließen Sie bei dem, was Sie
sagen, nicht dauernd von sich auf andere.
({21})
Höchste Sicherheit für die noch laufenden Kernkraftwerke, höchstes Engagement für erneuerbare Energien
und eine sichere und wettbewerbsfähige Energieversorgung - dies ist meine, dies ist die Formel der christlichliberalen Koalition für einen neuen energiepolitischen
Konsens.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch ein persönliches
Wort. So wichtig und unverzichtbar alle Bewertungen,
Lehren und Maßnahmen hier in Deutschland sind, so
wichtig und unerlässlich ist es, dass wir in dieser Stunde
zugleich nie den Blick für die Leidenden in Japan verlieren, die so schwer geprüft werden.
({22})
Ihnen gilt unser Mitgefühl. Sie können heute und in der
Zukunft auf die Unterstützung Deutschlands zählen.
Herzlichen Dank.
({23})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, für den ersten und den letzten Teil Ihrer
Rede haben Sie die volle Zustimmung nicht nur der
SPD, sondern, wie ich glaube, des ganzen Hauses.
({0})
In der Tat berührt jeden Menschen in Deutschland das
Schicksal der Menschen in Japan ungeheuer. Selten hat
ein Land in Friedenszeiten eine solche Kette von Katastrophen durchleiden müssen wie in diesen Tagen Japan.
Ich sage offen: Ich glaube, wir alle haben in diesen Tagen viel über den Mut und auch die Tapferkeit dieses
Volkes gelernt. Neben Mitgefühl, Trauer und Entsetzen
haben wir auch tiefen Respekt gegenüber der Haltung
und dem Kampf dieser Menschen entwickelt. Wir hoffen, dass es am Ende, obwohl die Hoffnung täglich
schwindet, doch noch gelingt, den Super-GAU, also das
unkontrollierte Austreten ungeheurer Mengen von Radioaktivität, zu verhindern. Deswegen haben Sie, Frau
Bundeskanzlerin, jede Unterstützung des deutschen Parlaments verdient, wenn Sie der japanischen Regierung
Hilfe und Unterstützung anbieten. Wir denken, dass das
die Verpflichtung Deutschlands und auch der internationalen Völkergemeinschaft ist. Wir danken Ihnen ausdrücklich dafür, dass Sie sehr frühzeitig damit begonnen
haben, dafür die Voraussetzungen zu schaffen.
({1})
Ich bin nicht sicher, ob es angemessen ist, wenn wir
uns gegenseitig unterstellen, wir seien respektlos und
würden uns unanständig benehmen. Sie meinten, das gehöre zu Ihrer Rede.
({2})
- Na ja, wenn man im Parlament ein scharfes Wort führt,
muss man gelegentlich überlegen, ob das Ende einer
Rede auch zu dem passt, was man vorher gesagt hat,
Frau Bundeskanzlerin.
({3})
Wir erleben gerade das Ende des Atomzeitalters. Es
war gekennzeichnet durch zwei tiefe Überzeugungen:
erstens, dass die Technik nie versagt, und zweitens, dass
der Mensch nie versagt, und vor allen Dingen, dass nicht
beides zum gleichen Zeitpunkt passiert. Wir haben bitter
lernen müssen, dass diese beiden Grundannahmen des
Atomzeitalters falsch sind: Weder funktioniert die Technik immer, noch versagen Menschen nie. Tun wir nicht
so, als würden uns die Risiken der Atomtechnologie
erstmals in Japan vor Augen geführt.
({4})
Dutzende von Unfällen, viele Beinahekatastrophen und
nicht zuletzt die Katastrophen 1979 in Harrisburg und
1986 in Tschernobyl in der früheren Sowjetunion führen
uns schon seit langer Zeit vor Augen, dass der GAU und
der Super-GAU eben keine rein mathematischen Unwahrscheinlichkeiten sind, sondern ganz reale Gefahren,
die mit unendlichem Leid von Menschen verbunden
sind.
Das berühmte Restrisiko, das der Atomwirtschaft und
den Gläubigen der atomaren Heilslehre in Wissenschaft,
Medien und politischen Parteien so lächerlich und vernachlässigbar vorkam, ist gerade zur ganz realen Katastrophe für Millionen von Menschen in Japan geworden.
Trotzdem sind schon wieder die Beschwichtiger der
Atomwirtschaft unterwegs: Das alles könne in Deutschland und Europa nicht passieren; wir hätten schließlich
keine Erdbeben und Tsunamis. Oder: Wir hätten doch
die sichersten Atomkraftwerke der Welt.
Ich erinnere mich noch gut, dass das schwedische
Atomkraftwerk Forsmark im Jahre 2006 in einer gefährlichen Lage war, weil auch dort die Notstromversorgung
versagte, und zwar völlig ohne Erdbeben und Tsunami.
Als wir damals die deutschen Atomkraftwerksbetreiber
fragten, wie das bei ihnen sei, kam sofort, ohne jede Prüfung, die Antwort: Das kann bei uns nicht passieren. Als wir dann über § 19 Atomgesetz - damals gab es
nämlich die ganz konkrete reale Gefahr, dass die Wechselrichter nicht funktionieren - gefordert haben, das genau zu erfahren, haben sie nach kurzer Zeit kleinlaut zugegeben, dass auch in deutschen Atomkraftwerken
dieses technische Problem existiert hat.
Meine Damen und Herren, das alles war vor Japan.
Auch in Deutschland gab es Wasserstoffexplosionen: in
Brunsbüttel in der Nähe des Reaktordruckbehälters. Es
gab auch bei uns fehlerhafte Installationen, Kühlmittelverluste, mangelhafte Rohrleitungssysteme. Das alles
war vor Japan, und das alles wussten Sie, Frau Bundeskanzlerin. Trotzdem haben Sie damals in der Großen
Koalition versucht, mich dazu zu zwingen,
({5})
zwei der ältesten und gefährlichsten Atommeiler in
Deutschland länger laufen zu lassen:
({6})
Biblis A und Neckarwestheim 1. Sie haben mich schriftlich dazu aufgefordert, die Laufzeiten dieser beiden
Atomkraftwerke zu verlängern.
({7})
Das sind die beiden, bei denen Sie jetzt so stolz darauf
sind, dass Sie sie, neben einigen anderen, für drei Monate vom Netz nehmen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben einer Laufzeitverlängerung von acht Jahren für diese
Reaktoren zugestimmt. Ohne Ihren Deal und - auch das
gehört zur Wahrheit - ohne Ihre Kumpanei mit der
Atomwirtschaft, die durch Tricks, durch geringeres Ausfahren ihrer Kapazitäten, versucht hat, die im Gesetz ursprünglich vorgesehenen Laufzeiten zu überschreiten,
wären diese Reaktoren längst vom Netz.
({8})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben alle, die gegen diese
abenteuerliche Laufzeitverlängerung waren, als Ideologen verleumdet. Ihr Vizekanzler, Herr Westerwelle, hat
diejenigen, die gesagt haben, dass das so nicht geht und
dass wir aus der Kernenergie heraus müssen, wörtlich
als „Geisterfahrer“ bezeichnet. Vor dem Hintergrund Ihrer verbalen Kehrtwende frage ich Sie: Wer waren tatsächlich die eigentlichen Geisterfahrer der deutschen
Energiepolitik in Deutschland?
({9})
Frau Merkel, ich weiß gar nicht, ob es Ihnen auffällt:
Aber vor einem halben Jahr war der rot-grüne Beschluss
zum Ausstieg aus der Atomenergie für Sie unvertretbar,
weil er nach Ihrer Meinung die Atomwirtschaft zu sehr
bedrängte und weil wir längere Laufzeiten für Deutschland doch brauchten. Sie haben diesen Beschluss kritisiert, weil wir zu schnell aussteigen wollten. Heute haben Sie die Chuzpe, SPD und Grüne zu kritisieren, weil
wir angeblich zu langsam ausgestiegen sind. Das ist
doch das Spiel, das Sie hier treiben.
({10})
Frau Dr. Merkel, damit Sie nicht glauben, jeder im
Haus hätte ein schlechtes Gedächtnis: Ich hatte Ihnen als
Bundesumweltminister in der Großen Koalition vorgeschlagen und angeboten, die ältesten Atomkraftwerke
schneller, als es ursprünglich im Gesetz vorgesehen war,
vom Netz zu nehmen. Sie haben das als Kanzlerin verweigert. Wir hätten sie heute schon nicht mehr, wenn wir
das damals gemacht hätten.
({11})
Zum Thema Sicherheitspolitik. Am 28. Oktober 2010
haben Sie hier mit der Mehrheit von CDU/CSU und
FDP die Laufzeitverlängerung durchgepeitscht. Frau
Merkel, ich und wir alle haben Sie damals gewarnt und
gesagt: Bevor Sie generelle Laufzeitverlängerungen beschließen, machen Sie bitte das, was jeder normale
Mensch machen würde, nämlich jedes einzelne Atomkraftwerk darauf zu prüfen, ob deren aktuelle Sicherheitsstandards dem Stand von Wissenschaft und Technik
entsprechen.
({12})
Das haben Sie abgelehnt. Die äußerste Gefahrenvorsorge
müssen Sie nicht jetzt machen, die müssen Sie bei einem
Atomkraftwerk immer machen. Das ist immer Ihre Aufgabe.
({13})
Aber als wir im Parlament zu entscheiden hatten, war
ja längst alles beschlossene Sache. Den Bundestag haben
Sie nur noch pro forma und den Bundesrat überhaupt
nicht mehr beteiligt. Sie hatten schon mit den Herren der
Atomwirtschaft im Hinterzimmer alles dingfest gemacht.
({14})
Damit nicht genug. Sie waren einmal Bundesumweltministerin.
({15})
Dass Sie den Mut haben, hier dem Parlament die Unwahrheit über die Anwendung des § 19 des Atomgesetzes zu sagen, ist schon ein starkes Stück.
({16})
Damals wollten Sie jede Gefahr für den Deal mit der
Atomwirtschaft ausschließen. Deshalb haben Sie die Sicherheitsanforderungen, die wir 2009 in Kraft gesetzt haben - die Arbeit daran wurde übrigens unter dem Kollegen Trittin begonnen; ich habe sie dann abgeschlossen -,
abgeschafft.
({17})
Wir hätten sie übrigens damals gerne ganz ohne Weitergeltung der alten Sicherheitsanforderungen in Kraft gesetzt. Es handelte sich hier um einen Kompromiss, weil
die Ministerpräsidenten von CDU und CSU gesagt haben: Wir wollen überhaupt keine neuen Sicherheitsanforderungen. - Das ist doch die Wahrheit.
({18})
Damals haben wir gesagt: Damit keine Unsicherheiten in der Atomwirtschaft auftreten, machen wir beides.
Wir lassen die alten weitergelten und erproben die
neuen. - Im Herbst letzten Jahres hätten Sie in der Tat
die alten völlig abschaffen müssen und die Bewertung
der Sicherheitslage deutscher Atomkraftwerke auf dem
heutigen Stand von Wissenschaft und Technik vornehmen müssen.
({19})
- Nein, das steht gerade nicht im Gesetz, Herr Kollege
Gröhe. - Die Menschen draußen wissen das nicht; das
darf man ihnen aber nicht vorwerfen. Aber wissen Sie,
wie viele Seiten das kerntechnische Regelwerk mit den
modernen Sicherheitsanforderungen umfasst? Über
1 000 Seiten. Da wird beschrieben, was die Kraftwerksbetreiber bei der Notstromversorgung machen müssen.
Da wird beschrieben, was sie bei den Kühlsystemen machen müssen. Da wird beschrieben, wie sie Sicherheit
konkret verbessern. Das haben Sie abgeschafft. Sie arbeiten mit einem über 30 Jahre alten kerntechnischen
Regelwerk.
({20})
Herr Gröhe, wenn Sie mit uns über so etwas reden, müssen Sie immer davon ausgehen: Wir kennen die Rechtslage sehr genau.
({21})
Dann haben Sie in § 7 d des Atomgesetzes nur einen
Satz, der in Deutschland seit 1973 geltende Rechtslage
ist, hineingeschrieben, statt ein Regelwerk von 1 000
Seiten anzuwenden. Seit dem Urteil über Kalkar müssen
Sie das einhalten, was Sie in den § 7 d Atomgesetz hineingeschrieben haben. Ich habe gar nichts dagegen,
dass das im Atomgesetz steht, aber daran mussten sich
vorher schon alle halten.
Schlimm ist, dass Sie die modernen Sicherheitsanforderungen für die Prüfung von Kernkraftwerken außer
Kraft gesetzt haben.
({22})
Warum haben Sie das getan? Sie haben das getan, weil
die Atomkraftwerksbetreiber Ihnen gesagt haben, dass
eine ganze Reihe von Atomkraftwerken diesen modernen Sicherheitsstandards nicht standhalten können, weil
die Atomkraftwerksbetreiber Ihnen gesagt haben, dass
die alten Meiler nicht auf den Stand von Wissenschaft
und Technik hochgerüstet werden können und dass sie
deshalb endgültig und bereits vor Ablauf der Restlauf10892
zeiten vom Netz hätten gehen müssen. Das hätte die Milliardengeschäfte der Atomwirtschaft geschmälert, und
da haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, etwas gemacht,
was unverantwortlich ist: Sie persönlich haben Sicherheit gegen Geld getauscht.
({23})
Sie sagen jetzt, es gäbe eine tabulose Prüfung. Wenn
Sie mit völlig veralteten Sicherheitsanforderungen - mehr
als 30 Jahre alt - jetzt eine tabulose Prüfung beginnen
wollen, dann brauchen Sie damit gar nicht erst anzufangen, außer Sie setzen als Allererstes das kerntechnische
Regelwerk 2009 wieder in Kraft. Das ist der erste Prüfstein für Ihre Glaubwürdigkeit.
({24})
Die Meiler, die wegen dieses kerntechnischen Regelwerks vom Netz genommen werden müssten, wollen Sie
jetzt gerade einmal für drei Monate vom Netz nehmen.
Die wären aber schon weg, wenn Sie nicht mitgeholfen
hätten, Sicherheitsmängel in diesen Kernkraftwerken zu
vertuschen.
({25})
- Keine Sorge, wir können das alles belegen.
Derjenige, der Ihnen das aufgeschrieben hat, war einer der Cheflobbyisten der deutschen Atomindustrie.
Mit Herrn Hennenhöfer haben Sie ausgerechnet einen
Cheflobbyisten der Atomwirtschaft zum obersten Aufseher der Reaktorsicherheit in Deutschland gemacht.
({26})
Herr Hennenhöfer ist bis heute im Amt und soll jetzt die
Sicherheitsüberprüfung vornehmen, die er vorher verhindern wollte. Wenn Sie, Frau Merkel, auch nur einen
Funken Glaubwürdigkeit zurückerobern wollen, dann
müssen Sie ihn sofort entlassen. Das verlangen wir von
Ihnen!
({27})
Frau Merkel, nicht wir werfen Ihnen vor, dass Sie das
Recht beugen, sondern das tut inzwischen ein früherer
Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Ihr sogenanntes Moratorium wirft ja nicht nur energiepolitische,
sondern auch verfassungsrechtliche Fragen auf. Ich lese
Ihnen jetzt einmal vor, wie nach der öffentlichen Erklärung Ihres Umweltministers § 19 Abs. 3 des Atomgesetzes angewandt werden soll, nämlich
… durch gemeinsames staatliches Handeln … nicht
durch Absprachen, nicht durch Verträge, sondern
unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Verantwortung.
Wenn das so ist, Frau Merkel, dann will ich wissen, wie
die Rechtsakte aussehen. Das will ich allerdings nicht
von Ihrem Atomexperten Mappus in Baden-Württemberg wissen, der ja eine schizophrene Persönlichkeit ist,
nämlich Atomlobbyist und Atomaufsicht zugleich - ich
frage mich, wie das funktionieren soll -,
({28})
sondern Sie, Herr Bundesumweltminister und Frau
Merkel, fordere ich auf, dem Parlament diese Rechtsakte
vorzulegen, und zwar in diesen Tagen, nicht erst in ein
paar Monaten.
({29})
Wenn die Atomwirtschaft das akzeptiert, dann haben
Sie, Frau Merkel, einen historischen Erfolg erzielt, dann
haben Sie wirklich etwas durchgesetzt. Denn dann ist die
Atomwirtschaft zum ersten Mal bereit, zu akzeptieren,
dass festgestellt wird, dass von sieben ihrer Meiler eine
Gefahr für die Bevölkerung, für Leib, Leben und Gesundheit ausgeht. Das wäre ein historisches Ereignis.
({30})
Frau Merkel, Sie haben § 19 Atomgesetz völlig zu
Recht zitiert. Die erste Handlung ist nun, dass Sie, Herr
Bundesumweltminister, den Atomkraftwerksbetreibern
die entsprechenden Anordnungen schicken, und zwar
durch die Länder. Wenn sie das nicht machen, dann müssen Sie sie atomrechtlich weisen. Dann wollen wir einmal sehen, ob die Atomwirtschaft das akzeptiert. Wenn
sie das machen: à la bonne heure!
({31})
Dann haben Sie etwas Historisches erreicht. Wir haben
schon immer gesagt, dass von diesen alten Reaktoren direkte Gefahren ausgehen. Das haben Sie und die Atomkraftwerksbetreiber immer zurückgewiesen.
({32})
Wenn das allerdings nicht der Fall ist, dann haben Sie einen Deal gemacht. Dann wollen wir die Preise kennen.
Meine Damen und Herren, wir wollen also zunächst
wissen, wie das läuft.
({33})
Und dann stellt sich doch, was auch immer Sie jetzt der
Öffentlichkeit erzählen, die Frage: Wie glaubwürdig
sind Sie, wenn Sie das nur für drei Monate tun?
({34})
Wir wollen erstens, dass das sicher ist und dass wir
das nach dem Atomgesetz abschalten, und zwar nicht
nur im Rahmen eines Moratoriums, sondern auf Dauer.
({35})
Wir wollen zweitens zum Ausstiegsgesetz bis 2020
zurückkehren. Denn Ihre Laufzeitverlängerungen sind
keine Brücke, sondern eine Dauereinrichtung mindestens bis 2035 und 2040. Das ist keine Übergangstechnologie. Deswegen wollen wir zum Gesetz zurück. Wir
wollen das nicht irgendwie durch einen zweiten Deal regeln lassen. Das Parlament ist das Gremium, das das zu
entscheiden hat.
Im Übrigen, Frau Merkel, wenn es stimmt, dass Sie
eine Energiewende wollen, warum haben Sie dann im
jetzigen Haushalt gar nichts dafür getan, außer die Möglichkeiten für die Energiewende zu verschlechtern?
({36})
- Das muss man der Öffentlichkeit einmal sagen. Sie haben am Mittwoch die Eckpunkte des Haushalts beschlossen. Heute stellt sich die Kanzlerin hin und sagt, sie
wolle mehr für die Energiewende tun.
({37})
Jetzt sage ich Ihnen einmal, was in den Eckpunkten
steht: Gegenüber 2010 werden die Mittel zur Förderung
erneuerbarer Energien um 700 Millionen Euro runtergefahren,
({38})
werden die Mittel für das 100 000-Dächer-SolarstromProgramm um ein Drittel und für das Gebäudesanierungsprogramm gegen zu hohen Energieverbrauch,
durch das die Menschen richtig Geld sparen könnten,
von 2,2 Milliarden Euro in 2009 auf unter 1 Milliarde
Euro gekürzt. Das ist die Wahrheit über das, was Sie da
machen.
({39})
Gestern, einen Tag nach Verkündigung Ihrer Energiewende, haben Sie dem Kabinett die Eckpunkte vorgelegt und zugestimmt. Sie hätten doch diesen Beschluss,
Frau Merkel, eigentlich verschieben müssen.
({40})
Sie hätten doch sagen müssen: „Jetzt machen wir einmal
ein ordentliches Programm“, oder: „Wir lassen wenigstens die Mittel da, wo sie bisher waren“. Nichts davon
haben Sie getan. Es ist einfach so, dass man nicht einmal
mehr weiß, ob Sie Ihre eigenen Widersprüche eigentlich
noch erkennen.
({41})
Die Glaubwürdigkeit von Politik - ich weiß, dass das
nicht Ihnen allein zugeordnet wird, sondern die Menschen leider immer über „die Politiker“ reden - leidet
enorm, Frau Merkel, wenn Sie dieses Maß an Unseriosität zur Messlatte Ihrer Politik machen. Man kann sich
auf nichts verlassen, was Sie sagen. Deshalb können und
wollen wir uns auch nicht darauf verlassen, dass Sie in
drei Monaten zu klügeren Entscheidungen gekommen
sind als noch drei Monate zuvor. Wir wollen deshalb im
Parlament entscheiden, weil bei Ihnen nicht sicher ist,
was Sie denn morgen denken. Mal sind Sie gegen den
Euro-Rettungsschirm, mal dafür.
({42})
Mal sind Sie für Steuersenkungen, mal dagegen. Mal
sind Sie für Atomenergie, mal dagegen. Weil wir uns
nicht auf Sie verlassen können, wollen wir hier im Parlament selber entscheiden und nicht Ihnen vertrauen. Darum geht es hier in Deutschland.
({43})
Herr Kollege Gabriel, achten Sie freundlicherweise
auf die Redezeit.
Das mache ich.
„Mehrheit ist Mehrheit“, sagt Ihr Kollege. Das zeigt
ja schon, worauf Sie hinauswollen.
({0})
Der Zwischenruf ist interessant. „Mehrheit ist Mehrheit“, sagt er. Das heißt, Sie wollen den Ausstieg nicht.
Ich glaube, dass Sie da die Wahrheit sagen.
({1})
Ich sage Ihnen: So kann man auf Dauer keine Politik
machen. Sie versuchen nur, jetzt wahltaktisch mit den
Ängsten der Menschen umzugehen.
({2})
Das ist etwas, was die Bevölkerung in Deutschland
merkt. Der Titel der Zeit heute ist die Überschrift für das,
was Sie eigentlich machen müssten: „Keine Lügen
mehr!“, Frau Bundeskanzlerin.
({3})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle stehen unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan.
Diese epochale Naturkatastrophe hat Tausende Tote gefordert, Tausende Verletzte, zigtausendfaches menschliches Leid. Unsere Gedanken sind in diesen Tagen bei
unseren japanischen Freunden. Unsere Anteilnahme und
unser Mitgefühl gelten den Hinterbliebenen. Die Bilder,
die wir sehen, zeigen das Ausmaß der Zerstörung: Ganze
Städte sind durch den Tsunami wie weggespült. Diese
Bilder begleiten viele von uns tagtäglich in den Gedanken, genauso das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber einer solchen Naturkatastrophe.
Angesichts einer solch beispiellosen Katastrophe
sollte man einmal innehalten und die Frage aufwerfen,
was in einer solchen Situation tatsächlich zuerst gefordert ist, was wichtig ist. Während die Menschen in Japan
versuchen, diese Situation mit einer bewundernswerten
Disziplin zu bewältigen, und in anderen Ländern das
Mitgefühl an erster Stelle steht, führt die Opposition hier
eine Debatte, die geradezu dazu führen muss, dass die
Menschen in diesem Land Angst bekommen, dass sie
den Eindruck bekommen, das Problem, die Katastrophe,
sei hier. Nein, die Katastrophe ist in Japan. Die Menschen in Japan brauchen jetzt in der akuten Phase und
bei der Bewältigung langfristiger Folgen unsere Unterstützung. Deshalb ist es gut, dass der Krisenstab der
Bundesregierung unter Leitung von Außenminister
Westerwelle sofort Hilfe gegeben und diese Hilfe in den
Vordergrund gestellt hat. An einem solchen Tag ist es
wichtig, an dieser Stelle den Helfern ein herzliches Dankeschön zu sagen.
({0})
Wir sind uns vollkommen einig darüber, dass angesichts der dramatischen Ereignisse in den japanischen
Kernkraftwerken nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden kann. Nun höre ich immer wieder, wir
müssten die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Ja, die
Sorgen der Menschen sind auch unsere Sorgen; sie sind
die Sorgen jedes einzelnen Kollegen und jeder einzelnen
Kollegin hier in diesem Haus.
({1})
Es ist richtig, dass die Regierung in einer solchen Situation schnell und besonnen handeln muss. Wir sind
uns bewusst, dass wir über den Tag hinaus Verantwortung tragen. Insofern ist das Moratorium zum Zweck der
Sicherheitsüberprüfung richtig. Ich bin dankbar dafür,
dass die Bundesregierung sofort die Initiative ergriffen
hat, um eine solche Überprüfung auch auf europäischer
und internationaler Ebene anzustoßen; das ist in gleichem Maße notwendig wie hier in Deutschland.
({2})
Nach wie vor gibt es keine gesicherten Erkenntnisse
darüber, wie sich die Abläufe in den japanischen Kernkraftwerken tatsächlich darstellen, aber wir haben erste
Erkenntnisse: Es gab Probleme trotz Mehrfachredundanzen beim Kühlsystem und bei den Notstromaggregaten.
Die FDP erwartet, dass die Überprüfung, die jetzt durchgeführt wird, den neuesten Sicherheitsstandards entspricht.
({3})
Herr Gabriel, Sie haben hier davon gesprochen, dass
die Bundesregierung etwas „mit den Herren der Atomwirtschaft im Hinterzimmer“ ausgehandelt habe. Deshalb will ich nochmals aus der Vereinbarung zitieren:
Während der Restlaufzeiten wird der von Recht und
Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter
gewährleistet; die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und
die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern.
Dieser Vertrag, Herr Gabriel, trägt die Unterschrift von
Herrn Schröder und Herrn Trittin und ist von Herrn
Steinmeier mit ausgehandelt worden.
({4})
Wenn jemand etwas „mit den Herren der Atomwirtschaft
im Hinterzimmer“ ausgehandelt hat, dann sind Sie es,
nicht diese Bundesregierung.
({5})
Sie haben einen Sicherheitsrabatt gewährt, und jetzt gerieren Sie sich hier als Moralinstanz.
Wir haben bei der Änderung des Atomgesetzes im
letzten Jahr erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Sicherheitsanforderungen dynamisiert,
({6})
indem wir den § 7 d in das Atomgesetz eingefügt haben.
Sie haben hier kritisiert, dass das nur zwei Zeilen seien.
Ein Paragraf hat in der Regel auch nur wenige Zeilen.
Dieses Gesetz wird aber selbstverständlich ausgefüllt
mit einem untergesetzlichen Regelwerk, das den neuesten, modernsten Standards entspricht. Das ist die Sicherheitsphilosophie, die wir anlegen, und diese hohen Sicherheitsstandards werden jetzt nochmals überprüft.
({7})
Mit uns wird es keinen Sicherheitsrabatt geben. Mit
uns wird es aber auch kein hektisches Überbordwerfen
aller Entscheidungen geben. Wir machen erst eine ergebnisoffene Prüfung, und danach werden wir die Konsequenzen ziehen. Ich glaube, dass das ein angemessenes,
überlegtes und konsequentes Vorgehen ist.
Diejenigen, die die sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke fordern, nehmen für sich in Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein. Das hat sich auch in der Debatte heute Morgen gezeigt. Sie sprechen anderen
verantwortungsvolles Handeln ab.
({8})
- Herr Kuhn, weil Sie gerade dazwischenrufen, will ich
Ihnen sagen: Ich finde ein solches Verhalten unerträglich.
({9})
Die Wahrheit ist, dass die Kernkraftwerke auf Basis
einer Risikoanalyse betrieben werden. Dieses Risiko haben wir unter hohen Sicherheitsauflagen in der Vergangenheit als verantwortbar betrachtet. Das gilt nicht nur
für die Koalition, sondern auch für Grüne und SPD. Dadurch, dass Sie einen Atomkonsens vorgelegt haben, haben Sie deutlich gemacht, dass die Kernkraftwerke auch
aus Ihrer Sicht weiterbetrieben werden können. Sie haben gezeigt, dass auch Sie nach einer Risikoanalyse zu
dem Schluss kamen, dass der Betrieb technisch verantwortbar ist. Sonst hätten Sie eine solche Entscheidung
nicht treffen können.
({10})
Genauso richtig ist es, dass jetzt eine Neubewertung dieser hohen Sicherheitsstandards angezeigt ist. Es ist richtig, noch einmal darüber nachzudenken, ob noch mehr
getan werden muss. Genau das tun wir.
Herr Gabriel, Sie haben Ihre bemerkenswerte Rede
mit einer Vielzahl von Diffamierungen gespickt. Sie haben gesagt, dass die Regierung Sicherheitsprobleme vertuscht hat, dass Tricks der Atomwirtschaft gebilligt werden, und Sie haben von Deals gesprochen. Sie sprechen
denen, die zu einem anderen Ergebnis kommen, die Ehre
und die Verantwortung ab. Deshalb will ich Ihnen in aller Ruhe, aber auch mit allem Nachdruck sagen: Diese
Debatte wird von Ihnen in einem Duktus geführt, der
Anstand und den nötigen Respekt vor der Meinung anderer vermissen lässt.
({11})
Auch die Emotionalität dieser Debatte rechtfertigt ein
solches Vorgehen nicht. Das ist ein erschreckendes Beispiel für Ihr Verständnis von demokratischer Kultur und
zeigt, dass Sie nicht regierungsfähig sind.
({12})
Wenn wir über das Energiekonzept sprechen, dann
sprechen wir über Versorgungssicherheit, über Bezahlbarkeit und über Umweltverträglichkeit. Deshalb müssen wir auch einmal darüber reden, was passiert, wenn
diese sieben Kernkraftwerke jetzt vorübergehend stillgelegt werden. Wir wollen vor allen Dingen eines nicht:
Wir wollen nicht, dass Stromimporte aus Kernkraftwerken, die weniger sicher sind, in Deutschland als Ersatz
dienen.
({13})
Im Augenblick führt das Stilllegen dieser Kernkraftwerke dazu, dass in der Grundlast ein Ausgleich durch
eine stärkere Nutzung von Steinkohle und Erdgas, also
durch fossile Energieträger, erfolgt. Wenn dieser Ausgleich je zur Hälfte durch Steinkohle und Erdgas erfolgt,
dann verursacht diese dreimonatige Abschaltung zusätzlich 6,3 Millionen Tonnen CO2-Emissionen. So viel zum
Thema Klima. Auch das muss in einer solchen Debatte
deutlich gemacht werden. Wir brauchen einen Ausgleich
zwischen den verschiedenen Zielen. Dieser Ausgleich
muss auch in Zukunft berücksichtigt werden. Deshalb
rate ich Ihnen dringend, Ihre Position zur Energiepolitik,
beispielsweise bezogen auf die Modernisierung von
Kohlekraftwerken, zu überdenken.
Es gibt mittlerweile eine hocheffiziente neue Generation von Kohlekraftwerken, die deutlich weniger CO2Emissionen ausstoßen. Wenn wir die alten Kraftwerke
durch diese neuen ersetzen würden, dann könnten wir an
dieser Stelle hinsichtlich der Grundlast weiterkommen.
Sie sind es, die im Augenblick in Nordrhein-Westfalen
diese hocheffiziente Technik verhindern.
({14})
Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, und
auch unser Energiekonzept sieht vor, dass die Nutzung
der Kernenergie ausläuft. Aber wir wollten eben nicht
nur vom Zeitalter der erneuerbaren Energien träumen,
sondern wir haben auch gesagt, wir müssen ein Gesamtkonzept haben, wie das tatsächlich erreicht werden kann.
Dieses Gesamtkonzept haben wir im letzten Jahr vorgelegt.
Wir wollen unser Ziel schneller erreichen, aber dann
müssen wir in der Tat über Wasserkraftwerke sprechen,
die von der Opposition bekämpft werden,
({15})
dann müssen wir über Biogasanlagen sprechen, die von
den Grünen bekämpft werden, und dann müssen wir
über die Nutzung von Windenergie sprechen, die wir gerade auch offshore ausbauen wollen. Das haben wir im
Energiekonzept festgelegt. Nur, wenn das kommt, dann
muss man auch dafür sorgen, dass diese Energie zum
Verbraucher kommt, indem die Leitungen entsprechend
ausgebaut werden.
({16})
Deshalb ist es notwendig, dass wir über diese Frage
sprechen und hier auch ein Gesetz auf den Weg bringen,
das diesen Leitungsausbau beschleunigt.
({17})
Ich finde es ganz bemerkenswert, dass jetzt in dem
Energiekonzept der SPD Geld aus dem Bundeshaushalt
für den Leitungsausbau gefordert wird. Das brauchen
wir nicht. Dafür gibt es Netzentgelte.
Ich will Ihnen deutlich sagen: Der Netzausbau, der
zwingend notwendig ist, um die erneuerbaren Energien
weiter voranzutreiben, ist bisher nicht am Geld gescheitert, er ist am Protest gescheitert. Zwischenzeitlich zeigt
sich in Deutschland: Stuttgart 21 ist überall, die Dage10896
gen-Gesellschaft hat sich unter Führung von SPD und
Grünen etabliert.
({18})
Deshalb ist die Gretchenfrage an die Opposition, ob
auch Sie zum Umdenken bereit sind, um ein neues Energiekonzept auf den Weg zu bringen. Beenden Sie den
Dauerprotest
({19})
gegen die Modernisierung der deutschen Energielandschaft!
({20})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir
wollen diese Situation, diese schwierige Lage zum Anlass nehmen, neu nachzudenken. Wir haben unser Energiekonzept überdacht. Wir haben jetzt angeordnet, dass
es nochmals eine Sicherheitsüberprüfung aller Kernkraftwerke gibt, und zwar unter Einbeziehung der Erkenntnisse aus diesem Unglück in Japan.
Ich sage ganz deutlich: Wir wollen das Zeitalter erneuerbarer Energien schneller erreichen. Sie sind gefordert, dazu beizutragen. Wie glaubwürdig Ihre Position
ist, wird daran gemessen, ob auch Sie bereit sind, umzudenken.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Japan
ist eine furchtbare, unvorstellbare Katastrophe passiert.
Die Menschen erlebten ein schweres Erdbeben und in
dessen Folge einen Tsunami mit Tausenden Opfern,
Hunderttausenden Obdachlosen und verheerenden Zerstörungen. Nun werden sie auch noch einen Super-GAU
mit unvorstellbaren Folgen erleben. Millionen Menschen können durch die Radioaktivität an Krebs erkranken - mit allen Folgen.
Dies geschieht den Japanerinnen und Japanern, die als
Einzige schon die furchtbaren Leiden eines Atombombeneinsatzes durch die USA 1945 auf Hiroshima und
Nagasaki erleben mussten. Wir trauern um die zahlreichen Opfer. Unser tiefes Mitgefühl gilt ihren Angehörigen.
Es ist aber unvorstellbar und unverantwortlich, dass
gerade nach den schrecklichen Erlebnissen 1945 japanische Konzerne und japanische Politik den vielfachen
Bau von Atomkraftwerken vorantrieben. Japan hätte der
erste Verweigerer sein müssen.
({0})
Aber nun ist die Katastrophe geschehen. Durch keine
Kritik wird sie ungeschehen. Es trifft vornehmlich immer Unbeteiligte und Unschuldige. Unsere gemeinsame
erste Entscheidung muss sein, den Menschen in Japan
jegliche mögliche Hilfe zu leisten.
({1})
Das Ereignis in Japan ist eine Zäsur, ein Zivilisationsbruch in der Geschichte des industriell-kapitalistischen
Zeitalters. In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts
gelang es deutschen Physikern im Laborversuch, die
erste künstliche radioaktive Kernspaltung auszulösen.
Die Büchse der Pandora war geöffnet. Die erste daraus
folgende Katastrophe war die Entwicklung der Atombombe.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann zwischen
der militärischen und der friedlichen Nutzung der Atomenergie unterschieden. In den 50er-Jahren setzten die Industriestaaten, das heißt sowohl die kapitalistischen als
auch die staatssozialistischen Länder, auf die friedliche
Nutzung der Atomenergie. Doch die Unterscheidung
zwischen unfriedlicher und friedlicher Atomenergie ist
aus zwei Gründen falsch und mit hohen Risiken verbunden, die weder beherrschbar noch kontrollierbar sind.
({2})
Erstens. Wer über die Technologie der friedlichen
Nutzung der Atomenergie verfügt und aus AKW Strom
erzeugen kann, ist potenziell in der Lage, auch Atomwaffen herzustellen. Wir wissen, dass trotz des Nichtverbreitungsvertrages inzwischen mehr Staaten als die fünf
damaligen Atommächte über Atomwaffen verfügen. Außer den USA, Russland, China, Großbritannien und
Frankreich verfügen auch Pakistan, Indien und Israel
über Atomwaffen. Die Beispiele Iran und Nordkorea zeigen, dass diese Gefahren nicht beseitigt sind. Es muss
endlich konsequent damit begonnen werden, alle Atomwaffen in dieser Welt zu vernichten. Erst dann hat die internationale Gemeinschaft das Recht, weltweit den Bau
neuer Atomwaffen zu unterbinden.
({3})
Zweitens. Mit der Unterscheidung zwischen militärischer und friedlicher Nutzung der Atomkraft gab man
sich dem Trugschluss hin, dass die militärische Nutzung
viel riskanter wäre. In vielen Industriegesellschaften,
insbesondere in Frankreich und Japan, erzielte die friedliche Nutzung der Atomkraft zur Stromerzeugung eine
hohe Akzeptanz. Diese Akzeptanz beruhte darauf, dass
man die Risiken bei der friedlichen Nutzung für beherrschbar hielt, sich einen GAU oder gar einen SuperGAU nicht vorstellen konnte. Die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Uran ist falsch. Beides - der
Abwurf einer Atombombe wie ein nicht vorhersehbarer
Unfall in einem Atomkraftwerk - ist hinsichtlich der
Folgen nicht beherrschbar. Unsere Zivilisation kann
stark beschädigt, sogar vernichtet werden.
({4})
Die Frage stellt sich: Hätten wir alle - die Verantwortlichen in Japan, in Deutschland und in allen anderen
Ländern - nicht klüger und sehr viel vorsichtiger sein
müssen? Es gab den Atomunfall im AKW Three Mile
Island bei Harrisburg in den USA im Jahre 1979. Dort
trat - auch ohne Erdbeben, ohne Tsunami - bereits eine
begrenzte Kernschmelze ein, weil die Kühlsysteme versagten. Dann kam die unvorstellbar große Katastrophe
von Tschernobyl vor 25 Jahren mit einer vollständigen
Kernschmelze. Noch immer glüht dieser Reaktor umgeben von einem Betonsarkophag vor sich hin. Die genaue
Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt.
Diese deutlichen Warnungen wollten nicht verstanden
werden. Harrisburg wurde nicht wirklich ernst genommen und bei Tschernobyl einfach die Unfähigkeit der
Russen und der Staatssozialisten unterstellt. Im Unterschied dazu - so konnte man es lesen - bauen die Japaner, die Deutschen und andere nur höchst sichere Atomkraftwerke, bei denen nichts passieren könne. Nun sind
wir in Japan auf tragische Weise vom Gegenteil überzeugt worden. Wir alle dürfen und müssen eine einzige
logische Konsequenz ziehen: Der 11. März 2011 muss
das Ende des nuklearen Industriezeitalters eingeleitet haben.
({5})
Das ist nicht nur eine wissenschaftlich-technische,
sondern auch eine politische, eine Macht- und eine
Menschheitsfrage. Die Atomindustrie besteht aus Unternehmen, die die AKW bauen, und Unternehmen, die die
AKW betreiben. Diese besitzen nicht nur finanzielle und
ökonomische Macht, sie haben nicht nur beträchtlichen
Einfluss auf politische Entscheidungen; sie dominieren
diese und damit auch die Bundesregierung und eine
große Zahl von Abgeordneten.
Schon die Bundesregierung aus SPD und Grünen
traute sich nicht, den Atomausstieg einfach per Gesetz
im Bundestag durchzusetzen. Sie ließ sich auf Verhandlungen mit der Atomlobby ein und schloss mit ihr einen
Ausstiegskompromiss ab. Warum, Herr Trittin, konnten
Sie und Ihre sozialdemokratischen Mitstreiter den Atomlobbyisten nicht einfach sagen, dass die Mehrheit des
Bundestages entscheiden wird? Wir sind das höchste demokratisch gewählte Organ der Bundesrepublik
Deutschland. Warum feilschten Sie mit den nicht gewählten Atomlobbyisten herum, bis Sie einen unzureichenden Ausstiegskompromiss erzielten?
({6})
Warum haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, diesen
Kompromiss auch noch aufgekündigt und auf Drängen
der Atomlobbyisten die Verlängerung der Laufzeiten der
Atomkraftwerke beschlossen? Es ging um nichts anderes
als um Extraprofite der Stromkonzerne Eon, EnBW,
RWE und Vattenfall in Höhe von 120 Milliarden Euro.
Diese Lobbyistenpolitik gefährdet unsere Demokratie.
({7})
Frau Bundeskanzlerin, besitzen Sie doch die Souveränität, den Mut, den Atomlobbyisten klar und deutlich zu
widersprechen, sich hier hinzustellen und Ihren Irrtum
hinsichtlich der Risikogefahren einzuräumen und den
unverzüglichen Ausstieg aus der Gewinnung der Atomenergie zu verkünden. Nur das entspräche Ihrem Amtseid. Nur das könnte Schaden von unserer Bevölkerung
abwenden. Nur dann verhielten Sie sich wie eine Bundeskanzlerin für das gesamte Volk. Ihre heutige Erklärung spricht noch nicht für Ihre Bereitschaft, diesen
notwendigen Weg zu gehen. Ein dreimonatiges Moratorium, unabhängig von der rechtlichen Bewertung,
täuscht und hilft nicht weiter. Wir brauchen keine vorübergehende, sondern eine endgültige Abschaltung der
Atomkraftwerke.
({8})
Unabhängig davon müssen Sie unverzüglich und sofort
einen Strompreisstopp durchsetzen. Die Konzerne haben
genügend Profitpolster. Sie müssen die Verluste tragen,
nicht die Bürgerinnen und Bürger und nicht die anderen
Unternehmen.
({9})
Die Politik muss wieder für die Strompreiskontrolle zuständig werden.
Meine Damen und Herren von der SPD und von den
Grünen, Sie haben beim Bundesverfassungsgericht eine
Normenkontrollklage eingereicht, weil Ihr früherer
Atomkompromiss von der Mehrheit des Bundestages
unter Ausschluss des Bundesrates aufgekündigt wurde.
Diesen Ausschluss und andere Regelungen halten Sie
und wir für grundgesetzwidrig. Wir haben Ihnen angeboten, diese Normenkontrollklage gemeinsam zu erarbeiten. Sie haben dies abgelehnt mit dem Hinweis, das sei
Ihr Thema und nicht unseres. Sie haben tatsächlich nicht
begriffen, dass dies ein Thema für die gesamte Bevölkerung, auch für den linken Teil der Bevölkerung ist.
({10})
Sie haben uns vorgestern, auch im Angesicht der gewaltigen Katastrophe, erklärt, dass wir die Klage nur dann
mit unterschreiben dürften, wenn wir trotz Ihres Beteiligungsverbots ein Drittel der Kosten übernähmen. Überwinden Sie Ihre Kleinkariertheit! Überwinden Sie Ihren
Egoismus! Überwinden Sie Ihren Egozentrismus! Lassen Sie alle, die es wollen, unterschreiben!
({11})
Sie können nicht bei Ihrem alten Kompromiss - mit
Ausnahme der älteren und pannengeprägten AKW bleiben. Auch die neueren AKW können nicht mit langen Fristen - Herr Gabriel, auch nicht zehn Jahre - weiterlaufen. Auch Sie müssen sich einen Ruck geben und
begreifen, dass das nukleare Zeitalter nicht irgendwann,
sondern unverzüglich zu beenden ist.
({12})
Es geht nicht nur um die Frage des Ausstiegs, sondern
zugleich auch darum, ob sich die Politik endlich gegen
die Atomindustrie durchsetzt, ob diesbezüglich das Primat der Politik hergestellt, die Demokratie wieder funktionsfähig wird. Im letzten Jahr konnte während der Finanzkrise jeder erleben, dass die Spekulanten und
Bankenchefs das Geschehen und die Politik dominier10898
ten. Diese sind eng mit den Atomlobbyisten verbunden.
Gemeinsam scheinen sie eine kaum zu durchdringende
ungeheuerliche Macht zu besitzen. Aber sie haben nur
ein wirkliches Interesse: die Steigerung ihres Profits.
Nur wenn die Politik den Mut und die Kraft entwickelt,
die Dominanz dieser Spekulanten, Bankenchefs, Atomlobbyisten und anderer Konzernlobbyisten zu durchbrechen und den Vorrang der demokratischen Institutionen
zu sichern, sind wir für unsere Bevölkerung tätig, retten
wir unsere Demokratie und werden wir unserer Funktion
als Volksvertreterinnen und Volksvertreter im Bundestag
gerecht!
({13})
Die Linke fordert: Erstens. Wir brauchen unverzüglich ein Konzept für die mögliche Hilfe gegenüber den
Japanerinnen und Japanern. Diese Hilfe ist auch zu leisten.
Zweitens. Die Nutzung der Atomkraft für militärische
Zwecke und zur Energieerzeugung muss grundsätzlich
ausgeschlossen werden, um den Ausstieg unumkehrbar
zu machen. Deshalb brauchen wir diese Verpflichtung
im Grundgesetz.
({14})
Das Verbot der Nutzung von Atomenergie ist Bestandteil
der Verfassung von Österreich, einem Mitgliedsland der
EU. Es ist also machbar, wenn der politische Wille dazu
vorhanden ist.
Drittens. Die ältesten und pannengeschüttelten acht
AKW sind sofort und auf Dauer stillzulegen.
({15})
Es handelt sich um Biblis A, Neckarwestheim 1,
Biblis B, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser, Philippsburg 1
sowie Krümmel. Die verbleibenden neun AKW sind unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Verzögern, stillzulegen. Hierzu muss die Bundesregierung einen entsprechenden Atomausstiegsgesetzentwurf bis spätestens
30. April 2011 vorlegen.
({16})
Viertens. Verboten werden muss der Export von
Atomtechnologie. Siemens und andere Unternehmen haben auch für die AKW in Japan Ausrüstungen geliefert.
Sie müssen verpflichtet werden, diesen Produktionszyklus stillzulegen und aus der Technologie auszusteigen.
({17})
Ebenso ist folgerichtig, Frau Bundeskanzlerin, dass wir
keinen Atomstrom importieren dürfen.
Fünftens. Die Bundesregierung muss sich für die Auflösung des Euratom-Vertrages einsetzen, damit die damit
einhergehende Förderung der Atomenergie beendet
wird.
Sechstens. Wir fordern einen Strompreisstopp
({18})
und die Wiedereinführung der Strompreisregulierung
durch die Politik statt durch die Energiekonzerne.
({19})
Siebtens. Wir brauchen unverzüglich ein Energiekonzept der Zukunft, das mit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Umweltverbänden und
kommunalen Energieversorgern erarbeitet werden muss,
also nicht mehr die Handschrift der Energiekonzerne tragen darf. Dazu gehören aus unserer Sicht ein Sofortprogramm für die erneuerbaren Energien, ein umfassendes
Energieeffizienzprogramm, ein Netzumbauplan, die Entwicklung und Etablierung effizienter Speichertechnologien und eine Dezentralisierung und Rekommunalisierung der Energieerzeugung.
({20})
Achtens. Die Bundesregierung muss sich bei der Organisation der Vereinten Nationen und der Europäischen
Union entschieden für einen weltweiten bzw. europäischen Ausstieg aus der Atomenergie für militärische
Zwecke sowie zur Energiegewinnung einsetzen. Das
Gleiche gilt für ein Moratorium für sämtliche weltweit
bzw. europaweit geplanten Neubauten von Atomanlagen egal ob für militärische Zwecke oder zur Energiegewinnung.
({21})
Eine Volksinitiative der europäischen Völker zu diesen
Fragen wäre sehr zu begrüßen.
({22})
Heute haben wir die Chance, zu beweisen, dass wir
spät - für die Japanerinnen und Japaner zu spät - Lehren
aus Ereignissen ziehen können. Heute können wir beweisen: Der Deutsche Bundestag entscheidet nicht länger im Interesse der Atomlobbyisten, sondern im Interesse der Bevölkerung unseres Landes und sendet zur
Lösung einer Menschheitsfrage ein wichtiges Signal
weit über Deutschland hinaus.
({23})
Das Wort hat nun der Kollege Volker Kauder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wenn man abends die Nachrichten einschaltet oder tagsüber im Büro einen Blick auf das Fernsehgerät wirft,
kann man die Bilder, die aus Japan zu uns herüberkommen, kaum aushalten. Man kann sich buchstäblich vorstellen, wie man selber in einer solchen Situation reagieren würde, welche Sorgen und Ängste man um sich,
seine Familie, seine Kinder hätte.
Gleichzeitig erlebt man Menschen, die in einer Ruhe,
wie ich sie bei solchen Katastrophen bisher noch nicht
erlebt habe, versuchen, ihr Land wieder aufzubauen und
die Sache in den Griff zu kriegen. Ich kann nur sagen:
Man ist betroffen und beeindruckt zugleich. Die Bilder,
die aus Japan kommen, verschlagen einem die Sprache.
({0})
Vor diesem Hintergrund habe ich es als eine völlig
normale Reaktion betrachtet, dass der Parteivorsitzende
der SPD, Gabriel, am Sonntag gesagt hat, dass man genau dieses Unfassbare, was in Japan geschehen ist, nicht
instrumentalisieren darf. Ich fand das eine bemerkenswerte Aussage, Herr Gabriel. Leider Gottes hat sie nur
ein paar Stunden gehalten. Das ist das Traurige daran.
({1})
Natürlich ist doch völlig klar, dass man sich die Frage
stellt: Wie geht es nach diesem Drama in Japan weiter in diesem Land, in Deutschland, in Europa und überall in
der Welt? Als ob es nicht schon genug gewesen wäre,
dass durch Erdbeben und Tsunami ein Teil des Landes
einfach weggespült wurde, kommt jetzt auch noch dieses
Drama um das Kernkraftwerk in Japan hinzu.
Um es noch einmal klar zu sagen, Herr Gabriel: Ihre
Aussage stimmt nicht. Wir haben in unserem Energiekonzept klar formuliert: Ausstieg aus der Kerntechnologie und Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Das war vor den Ereignissen in Japan, Herr
Gabriel, nicht danach.
({2})
Ich glaube, dass die Menschen für die Schlachten der
Vergangenheit überhaupt kein Verständnis haben.
({3})
Es kommt auch gerade nicht darauf an, zu sagen, ob man
recht gehabt hat oder nicht.
({4})
Es kommt jetzt auf die entscheidende Frage an: Was lernen wir und was müssen wir aus dem konkreten Vorgang
lernen, und wie sieht die Zukunft der Energieversorgung
in unserem Land und in Europa aus? Das ist die entscheidende Frage.
({5})
Um eine solche Diskussion nach diesem Aufwühlenden, das wir aus Japan sehen, wirklich ernsthaft führen
zu können, war es richtig, Frau Bundeskanzlerin, das Signal zu geben: Wir meinen es ernst mit der Überprüfung,
wir machen nicht einfach so weiter, sondern wir haben
deswegen ein Moratorium beschlossen, sodass wir einen
Teil aussetzen und noch einmal genau überprüfen, wie
die Lage nach den Ereignissen in Japan jetzt aussieht. Das ist richtig, und das tragen wir aus den Koalitionsfraktionen auch mit.
({6})
Natürlich hat es im Vorfeld dieses Energiekonzeptes
Diskussionen über die Frage gegeben, wie Laufzeiten
ausgestaltet werden sollen - auch in unserer Fraktion.
Wir sind zu einem Ergebnis gekommen, von dem wir der
Meinung sind, dass es in der konkreten Situation richtig
war. Umso beeindruckter und dankbarer war ich dann
darüber - das muss ich auch einmal sagen -, dass der
Antrag, der heute vorgelegt wird, am letzten Dienstag in
unserer Fraktionssitzung einstimmig verabschiedet
wurde. Das zeigt: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
steht geschlossen hinter dem, was die Bundeskanzlerin
heute Morgen vorgetragen hat.
({7})
Natürlich erlebe ich Diskussionen, in denen Fragen
gestellt werden. Das ist völlig in Ordnung. Wir haben
uns auf ein Moratorium, eine Denkpause, verständigt.
Dieses Moratorium kann man nur dann ernsthaft durchführen, wenn man nicht schon beim Start weiß, was am
Ende herauskommen soll.
({8})
Das wäre keine Überprüfung, sondern die Fortsetzung
einer Ideologie,
({9})
die wir jetzt gerade nicht brauchen können.
({10})
Natürlich wissen wir, dass es trotz aller Sicherheitsanforderungen - und ich bin der Überzeugung, dass wir
jetzt schon die sichersten Kernkraftwerke haben - in dieser Technologie ein Restrisiko geben kann und gibt.
({11})
Es wird die Frage zu klären sein: Welches Restrisiko tragen wir?
Ich will Ihnen von Rot-Grün einmal etwas sagen:
({12})
Es ist unglaublich, wie Sie sich aufführen. Sie sagen,
Kernenergie sei nicht verantwortbar, haben aber in Ihrem rot-grünen Kompromiss zur Kernenergiepolitik die
Kernkraftwerke 20 Jahre lang weiter am Netz gehalten.
({13})
Was gilt nun eigentlich? Sie haben sich damals - Herr
Trittin spricht ja gleich -, als Sie ausgestiegen sind, diesen Ausstieg mit Verzicht auf Sicherheit erkauft, meine
Damen und Herren von Rot-Grün.
({14})
Wir haben immer formuliert: Wir wollen, dass an der
Sicherheit keinerlei Abstriche gemacht werden. Deswegen habe ich die Differenzierung zwischen alten und
neuen Kernkraftwerken nie akzeptiert.
({15})
Ein Kernkraftwerk muss die bestmögliche Sicherheit haben, ganz egal, wie jung oder wie alt es ist.
({16})
Es überzeugt nicht, wenn Sie sagen: Die alten nehmen
wir vom Netz, ohne zu prüfen, ob sie sicher sind, und die
neuen lassen wir einfach weiterlaufen.
({17})
Unsere Politik heißt: Sicherheit zuerst! Das ist unser
Motto.
({18})
Danach verfahren wir jetzt auch in dem Moratorium.
Dieses Moratorium ist nichts anderes als die Konkretisierung unserer Aussage „Sicherheit zuerst“.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist richtig, was die Bundeskanzlerin gesagt hat: Wir können
nicht blauäugig nach dem Motto „Sicherheit zuerst“ nur
in Deutschland verfahren. Wir sind umgeben von Kernkraftwerken, zum Beispiel von Kernkraftwerken im
Oberrheingraben, auf der anderen Seite des Rheins. Dort
müssen die Fragen nach der Sicherheit genauso gestellt
werden. Die Frage der Sicherheit der Kernenergie ist
keine nationale, sondern inzwischen eine weltweite Herausforderung.
({19})
Sämtliche kleinkarierte Diskussionen nützen da überhaupt nichts.
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schlecht?
Es ist ebenfalls klar, dass wir in dem Moratorium
nicht nur die Frage „Sicherheit zuerst“, sondern auch die
Frage nach der Sicherstellung der Energieversorgung
stellen müssen und werden. Es ist völlig klar, dass wir in
einem Land, das die Arbeitslosigkeit durch den Erfolg
der Industrie überwunden hat, nicht so tun können, als
ob Industrie und Sicherheit von Arbeitsplätzen mit der
Energieversorgung nichts zu tun hätten. Das geht auf
keinen Fall.
({0})
Ich höre bereits die Rufe aus der einen oder anderen
Ecke: Natürlich muss das, wenn wir zum Abschalten
oder früheren Vom-Netz-Nehmen von Kernkraftwerken
kommen, ausgeglichen werden. Ich kann nur sagen:
Wenn wir es in diesem Hause ernst meinen mit den vielen Diskussionen, die wir bezüglich des Klimawandels
bereits geführt haben und die wir noch führen werden,
dann kann man jetzt nicht auf einmal so tun, als ob das
Thema „Sicherstellung der Energieversorgung“ frei von
solchen Überlegungen wäre.
({1})
Das ist es eben nicht. Deswegen geht es nicht nach
dem Motto: Dann müssen mehr Kohlekraftwerke gebaut
werden.
Heute Morgen las ich, was Ministerpräsident Platzeck
gesagt hat. Angesichts der Tatsache, dass 13 000 Arbeitsplätze im Kohleabbau und der -verstromung bestehen, antwortet Herr Platzeck auf die Fragen, ob jetzt
nicht bei der Kohle aufgerüstet werden müsse, wie es
mit der Umwelt aussehe und ob man nicht CCS machen
wolle: Wenn CCS keine beherrschbare Technologie ist,
verwenden wir sie nicht.
({2})
Aber ich sage Ihnen: Einen weiteren Ausbau der Kohleverstromung, ohne dass wir die CO2-Problematik beachten, sehe ich noch nicht, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({3})
Deswegen führt der Weg ganz eindeutig in den schnelleren Ausbau erneuerbarer Energie.
({4})
- Da brauchen Sie gar nicht so zu rufen.
Ich will Ihnen jetzt eine Zahl vorstellen: Als Sie damals den Ausstieg beschlossen haben - man muss immer
betonen, dass das ein Ausstieg war, der Kernkraftwerke
noch weitere 20 Jahre am Netz hält -, haben Sie relativ
wenig für den Ausbau erneuerbarer Energie getan.
({5})
Sie haben die Photovoltaik - ({6})
- Sehr gut, Frau Künast, Sie geben mir das Stichwort.
({7})
Sie haben den bemerkenswerten Satz gesagt: Die erfolgreiche Automobilindustrie muss schrumpfen, und die
Solarenergie muss wachsen.
({8})
Jetzt sage ich Ihnen, was Sie mit Rot-Grün erreicht
haben. Der Anteil des Stroms, der aus erneuerbaren
Energien stammt, liegt heute bei 17 Prozent.
({9})
Die Solarenergie macht genau 2 Prozent aus, meine Damen und Herren.
({10})
Mit diesem Ausbau werden wir in 20 Jahren nicht bei
mehr als den 50 Prozent sein, die wir brauchen.
({11})
Deswegen muss der Weg rasch zur Windenergie und in
die großen Windparks führen.
Frau Künast und Herr Trittin, ich freue mich schon
darauf, dass Sie mit uns Seite an Seite von Kommune zu
Kommune ziehen und dafür werben, dass wir die dafür
notwendigen Trassen ausbauen. Das ist eine Demonstration für den Ausbau der Infrastruktur, die notwendig ist,
um dieses Land voranzubringen.
({12})
Ich bin sehr gespannt, ob Sie bereit sind, aus der Dagegen-Partei zu einer Dafür-Partei zu werden.
({13})
Das, was die Bundeskanzlerin ausgeführt hat, ist richtig. Es gibt Situationen im privaten und im öffentlichen
Leben, bei denen nachher nichts mehr so ist, wie es vorher war. Deshalb machen wir in diesem Moratorium
Ernst mit der Aussage: Sicherheit zuerst. Wir laden alle
ein, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.
({14})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schlecht für die Fraktion Die Linke.
Herr Kauder, wenn man Ihre Rede anhört, kann man
sicherlich Übereinstimmungen mit Ihnen bei der Bewertung der bedrückenden Situation in Japan finden.
Aber ich muss feststellen: Sie haben aus Ihren Beobachtungen überhaupt nichts gelernt.
({0})
Ihre Philosophie ist nach wie vor, dass man Atomkraftwerke sichermachen könne.
Japan hat Folgendes gezeigt - das war vor 25 Jahren
nach Tschernobyl schon völlig klar; das ist spätestens
nach der Katastrophe in Japan überdeutlich geworden -:
Das einzig Sichere an der Atomkraft sind die Unsicherheit und die gigantische Gefährdung der Bevölkerung.
Sie verfolgen weiterhin die Philosophie, man müsse die
Atomkraft nur sicherer machen; dann könne man sie
auch noch weitere 10, 20 oder 30 Jahre in diesem Lande
tolerieren. Es ist unverantwortlich, was Sie hier vorgetragen haben.
({1})
Das wird auch dadurch überdeutlich, dass sich Ihr Ministerpräsident in Baden-Württemberg, der im Volksmund einmal Rambo-Mappus, ein anderes Mal AtomMappus heißt, im letzten Jahr als Vorkämpfer der Laufzeitverlängerung aufgespielt hat. Er wollte Minister
Röttgen sogar aus dem Kabinett werfen, weil er nicht zackig genug funktioniert hat. Es ist absolut unglaubwürdig, was in Baden-Württemberg passiert. Ihre Bemerkungen hier belegen sehr deutlich, dass man davon
ausgehen muss, dass bestenfalls die Kraftwerke ein bisschen optimiert werden. Aber auch Sicherheitsoptimierungen bieten keine Gewähr dafür, dass nicht apokalyptische Katastrophen auf die Bevölkerung zukommen.
Danke schön.
({2})
Sehr geehrter Herr Kollege, man sollte nicht glauben,
dass Sie während meiner Rede hier auf Ihrem Platz im
Deutschen Bundestag gesessen sind. Ich habe nämlich
das glatte Gegenteil von dem gesagt, was Sie gerade unterstellt haben. Ich habe gesagt, dass wir während des
Moratoriums alles auf den Prüfstand stellen und nach
dem Moratorium auf Grundlage der zusätzlichen Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, entscheiden. Ich
will heute eigentlich keine Schärfe in die Diskussion
bringen.
({0})
- Warten Sie einmal ab, wenn es wirklich ernst wird. Aber eines will ich Ihnen sagen: Jemand, der jeden Tag
demonstriert, dass er offenkundig aus seiner eigenen
Vergangenheit nichts gelernt hat, braucht mir keine Belehrungen zu geben.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich, wie
viele Grüne, kämpfe seit 30 Jahren gegen die Atomenergie. Wir haben in Brokdorf demonstriert, wir haben in
Grohnde im Wendland demonstriert. Wir haben in einem
sehr schwierigen Kompromiss ein Ausstiegsgesetz auf
den Weg gebracht, das zum ersten Mal in der Geschichte
bis dahin unbegrenzte Laufzeiten endlich begrenzt.
({0})
Aufgrund dieses Gesetzes sind die Kraftwerke in
Stade, Obrigheim und Mülheim-Kärlich vom Netz gegangen, in diesem Jahr wären die Kraftwerke Neckarwestheim 1, Biblis A und Isar 1 dazugekommen. Sie wären endgültig stillgelegt worden und müssten nicht nur
drei Monate pausieren.
({1})
Für dieses Engagement haben wir einen Grund: Eine
Technik, bei der nichts schiefgehen darf, ist nicht verantwortbar, sie ist nicht menschengerecht; denn Menschen
und ihre Technik machen Fehler. Ich sage Ihnen dennoch: Ich hätte nie geglaubt, dass in einem Land wie Japan parallel in sechs Reaktorblöcken diese Anlagen außer Kontrolle geraten können. Ich hätte nicht geglaubt,
dass wir in drei Reaktorblöcken heute von einer Kernschmelze ausgehen müssen. Ich hätte auch, ehrlich gesagt, nicht geglaubt, dass wir in eine Situation geraten, in
der drei Brennelementelager nicht mehr zu kühlen sind
und sich entzünden. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass nach Hiroshima Japan mit Fukushima eine
zweite atomare Katastrophe droht. Deswegen muss unser Mitgefühl den Menschen gelten. Wir sollten jenen
Tapferen, die unter Einsatz ihres Lebens - das ist wörtlich zu nehmen: unter Einsatz ihres Lebens - zu retten
versuchen, was vielleicht nicht mehr zu retten ist, danken.
({2})
Dieser Unfall ist eine tiefe Zäsur; die Menschen empfinden das so. Vor zwei Tagen haben spontan über
100 000 Menschen an Mahnwachen teilgenommen.
Aber auch in ganz anderen Kreisen spielt das plötzlich
eine Rolle. Ich bekomme monatlich von einem Finanzberater ein Finanztelegramm in Form einer E-Mail. Was
passiert im März? Da, wo sonst für langfristige Wertpapiere geworben wird, prangt ein Aufkleber, auf dem
steht: „Atomkraft? Nein danke“. Und: Tun Sie was für
den Ausstieg - wechseln Sie Ihren Stromanbieter. Das
zeigt, es gibt in diesem Lande heute einen breiten Konsens, auszusteigen, und zwar wirklich, und es gibt einen
Konsens, schneller auszusteigen.
({3})
Diesen Konsens spüren auch Sie. Herr Mappus hat
gesagt, er sei in einem emotionalen Ausnahmezustand.
In dieser Situation gehört alles auf den Prüfstand. Dazu
gehört auch, dass wir Risiken realistisch betrachten und
darstellen. Den Menschen müssen wir sagen: Ja, es ist
wahr, dass in Deutschland Erdbeben dieser Größenordnung nicht wahrscheinlich sind. Aber es ist auch wahr,
dass das im Rheingraben stehende AKW Biblis über
Jahre nicht gegen die dort möglichen Erdstöße ausgelegt
war, weil über 1 000 armdicke Dübel falsch montiert
waren. Wir haben das nicht mehr durchgehen lassen. Wir
haben die hessische Atomaufsicht gezwungen, diesen
Missstand endlich zu beenden.
({4})
Von wegen Sicherheitsrabatt!
Wir alle mussten jetzt lernen, dass man Kühlwasser
korrekt mit Bor versetzen muss. Das war im Atomkraftwerk Philippsburg 1 nicht die Regel. Ich musste damals
per Bundesaufsicht die baden-württembergische Aufsicht zwingen, dieses AKW so lange vom Netz zu nehmen, bis EnBW endlich für ein richtiges Sicherheitsmanagement gesorgt hat.
({5})
Es gibt Wasserstoffexplosionen, wie in Brunsbüttel
2001. Es gibt auch ein Verhalten wie das von Vattenfall,
das geglaubt hat, es könne den Reaktor einfach weiter
betreiben, bis es von der Aufsicht gezwungen wurde, ihn
vom Netz zu nehmen.
Meine Damen und Herren, verehrte Frau Bundeskanzlerin, die Kraftwerke, von denen ich hier rede, nennen Sie „die sichersten Atomkraftwerke der Welt“.
({6})
Was glauben Sie eigentlich, was die Schweizer oder die
schwedische Regierung über ihre Kraftwerke sagen?
Was glauben Sie, hätte der japanische Ministerpräsident
noch letzte Woche über seine Kraftwerke gesagt? Sie
überschätzen sich und Ihre eigenen Anlagen, wenn Sie
so über die realistischen Risiken in deutschen Atomkraftwerken hinwegreden.
({7})
Sie haben diesen Altanlagen ohne Sicherheitsüberprüfung, ohne Nachrüstauflage, mit abgesenkten Sicherheitsstandards in Ihrem Herbst der Entscheidungen acht
Jahre Laufzeitverlängerung gegeben. Lieber Herr
Kauder, natürlich unterscheiden Sie zwischen Alt und
Neu. Schauen Sie einmal in das von Ihnen verabschiedete Gesetz: Die Anlagen der einen Kategorie haben
eine Laufzeitverlängerung von 14 Jahren bekommen,
und die Anlagen der anderen Kategorie haben eine von
8 Jahren bekommen. Auch Herr Kauder unterscheidet
zwischen Alt und Neu, aber nur bei der Auswahl der Geschenke für die Atomindustrie.
({8})
Wir wollen, dass diese Kraftwerke plus Krümmel jetzt
und endgültig und nicht vorübergehend vom Netz gehen.
Das ist die Voraussetzung für jedes ernsthafte Nachdenken.
Es ist nicht ernsthaft, Frau Bundeskanzlerin, zu behaupten, man schaffe ein dreimonatiges Moratorium. Ich
hätte nicht geglaubt, dass ich jemals in die Situation
komme, dem Kollegen Heinrich Sander von der FDP zuzustimmen. Er hat recht: Eine ernsthafte Sicherheitsüberprüfung von Anlagen ist in drei Monaten nicht möglich; dafür braucht man ein bis anderthalb Jahre. Auf
welcher Grundlage wollen Sie vorgehen? Wollen Sie
vorgehen auf der Grundlage Ihrer mit der letzten Atomgesetznovelle abgesenkten Sicherheitsstandards? Sollen
dann nur die angemessenen und geeigneten Maßnahmen
gelten, oder soll dabei der Stand von Wissenschaft und
Technik gelten?
({9})
Wenn dieser gelten soll, lieber Herr Röttgen, dann
müssen Sie das kerntechnische Regelwerk in Kraft setzen. Das ist übrigens ganz einfach: Sie müssen ein Dokument unterschreiben;
({10})
das kommt dann in den Bundesanzeiger. Sie müssen weder die Bundeskanzlerin noch Herrn Brüderle noch
Herrn Fuchs fragen. Sie können es einfach machen. Es
ist allein Ihre Kompetenz, aber es ist auch Ihre Verantwortung.
({11})
Deswegen sage ich zum Schluss: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben davon gesprochen: Wir brauchen einen
Ausstieg mit Augenmaß. - Ihr Regierungssprecher hat
das Wort „Augenmaß“ präzisiert. Herr Seibert sagt:
Selbstverständlich gilt das Energiekonzept weiter, und
deswegen laufen die Anlagen bis 2040. - Das ist ein
Ausstieg mit Augenmaß?
Das ist übrigens noch nicht einmal die ganze Wahrheit. Wenn die Betreiber der Altkraftwerke - und das
steht allein in ihrem Belieben - diese Laufzeiten auf die
neueren Anlagen übertragen, dann reden wir von Laufzeiten bis 2050. Das ist kein Ausstieg mit Augenmaß;
das ist die Bestandsgarantie für eine gescheiterte Technik.
({12})
Ja, wir müssen raus, und zwar schneller. Das ist unbequem. Das ist unbequem für Sie, weil Sie Ihre Blockade
der Windenergie in Hessen, Bayern und BadenWürttemberg endlich aufgeben müssen, wo weniger als
1 Prozent des Stroms aus Windenergie erzeugt wird.
({13})
Es ist unbequem für die FDP, für Herrn Lindner und
auch für manche Sozialdemokraten, die meinen, damit
könnte man wieder auf die Kohle setzen. Kohle wird den
Ausbau erneuerbarer Energien jedoch ausbremsen. Deswegen geht das nicht.
({14})
Es ist unbequem für die Grünen, weil es jetzt nicht
mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie von
mehr Strom aus Biogas geht. Es ist unbequem für uns
alle, weil wir Leitungen bauen und Pumpspeicherkraftwerke errichten müssen.
({15})
- Ja. - Wir alle werden uns mit unseren Ortsverbänden
darüber auseinandersetzen müssen.
({16})
- Auch Sie im Thüringer Wald mit Ihren FDP-Ratsfraktionen, meine Damen und Herren.
({17})
Herr Kollege Trittin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Es
wird nicht billiger. Es kostet mehr. Wir müssen andererseits aber auch klar sagen: Was ist das gegen die Kosten,
vor denen heute Japan angesichts dieser Katastrophe
steht?
({0})
Deswegen heißt es: Wir müssen raus aus der Atomenergie, schneller als vorgesehen. Das Restrisiko ist nach Fukushima nicht länger zu verantworten. Das ist der richtige Weg.
({1})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
Sicherheitsdebatte geht es nicht darum, ob wir Kernkraftwerke im Rahmen der genehmigten Auslegung sicher betreiben können. Wenn das nicht gewährleistet
wäre, dann hätten Sie, Herr Trittin, und Sie, Herr
Gabriel, die Pflicht gehabt, diese Kraftwerke unverzüglich abzuschalten und keinen Übergang von 20 Jahren zu
gestatten.
({0})
Die Lehre aus Japan ist eine andere. Sie besteht in der
Frage, ob die Annahmen unserer Sicherheitsphilosophie
korrekt sind. Reichen die Sicherheitspuffer aus? Sind die
Puffer für die größtanzunehmenden äußeren Einwirkungen - ich nenne nur: Erdbeben - ausreichend? Genau das
ist das Problem, das Japan ereilt hat. Die Puffer haben
nicht gereicht.
Deshalb genügt es nicht, nach dem bisherigen oder
dem neuen kerntechnischen Regelwerk die Kernkraftwerke zu überprüfen. Nein, auch das Regelwerk selbst
muss überprüft werden; denn es geht um die Annahmen,
die den Sicherheitsregeln zugrunde liegen. Das ist eine
neue Dimension der Diskussion um die Sicherheit unserer Kernkraftwerke.
({1})
Die Sicherheitsüberprüfung ist notwendig, weil die
gleichen Risiken vor diesem Hintergrund anders zu bewerten sind. Die Kernkraftwerke müssen, wenn sie den
neuen Anforderungen an die Sicherheitspuffer nicht ent10904
sprechen, nachgerüstet werden. Wenn sie nicht nachgerüstet werden können oder wenn das wirtschaftlich keinen Sinn macht, dann müssen sie abgeschaltet werden,
unabhängig von möglichen Laufzeiten.
({2})
Die Koalition von Union und FDP hat bereits bei der
Debatte über die Laufzeitverlängerung einen neuen Paragrafen in das Atomgesetz eingefügt, durch den die
Aufsicht die Handhabe dafür hat, so zu handeln, wie wir
es jetzt tun. Aufgrund des alten Atomgesetzes, wie es
unter Rot-Grün existierte, war die Aufsicht nur in der
Lage, die Anlage dem genehmigten Auslegungszustand
entsprechend immer wieder nach Wissenschaft und
Technik nachrüsten zu lassen.
({3})
Die Aufsicht hatte jedoch nicht die Handhabe,
({4})
auch die Sicherheitsannahmen grundlegend zu revidieren. Das ist erst mit § 7 d, den Schwarz-Gelb in das
Atomgesetz eingefügt hat, möglich geworden.
({5})
Das heißt, wir haben schon im letzten Jahr die Voraussetzung dafür geschaffen, dass in einer Situation, wie sie
jetzt eingetreten ist, entsprechend gehandelt werden
kann.
({6})
Wenn wir über Kernenergie sprechen, dann müssen
wir über das Energiekonzept sprechen. Denn klar ist:
Wir betreiben die Kernkraftwerke in Deutschland nicht,
um einigen Unternehmen einen Gefallen zu tun,
({7})
sondern wir betreiben sie, weil das Industrieland
Deutschland darauf angewiesen ist, dass wir eine Energieversorgung bereitstellen, die jederzeit die Nachfrage
deckt. Dabei geht es nicht ausschließlich um die Menge
erzeugter Energie. Es geht um die Stabilität unserer
Energieversorgung. Das ist die Herausforderung, vor der
wir stehen. Wenn wir Atomkraftwerke vom Netz nehmen, geht es nicht einfach um die Erhöhung der Strommenge aus erneuerbaren Energien; vielmehr geht es darum, dass diese Strommengen in das Netz integriert
werden können. Das ist die Herausforderung: Wir müssen die Stabilität unserer Energieversorgung sichern.
Das kann man im Deutschen Bundestag nicht einfach
mit Schnellschüssen mal eben beschließen. Es sind die
Folgen mit zu bedenken.
({8})
Deswegen müssen wir, wenn wir wissen, wie viele
Kraftwerke abgeschaltet werden sollen, das Energiekonzept anpassen. Aber die Grundachse des Energiekonzeptes bleibt auch bei einer vorzeitigen Abschaltung eines
Teils der Kernkraftwerke erhalten: Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Wir haben
schon im bisherigen Energiekonzept beschlossen, dass
im Jahr 2050 kein einziges Kernkraftwerk mehr am Netz
sein wird. Wir haben beschlossen, dass 80 Prozent des
Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen sollen. Das
wollen wir deshalb erreichen, weil wir die CO2-Emissionen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent mindern wollen. Das
ist der Kern des Energiekonzeptes: der Umbau der Energieversorgung hin zu erneuerbaren Energien. Das werden wir als Koalition jetzt beschleunigen.
({9})
Wir dürfen die Debatte um die Kernkraft nicht von
der Debatte um den Klimaschutz loslösen. Das, was vor
wenigen Wochen auch hier im Deutschen Bundestag diskutiert worden ist, ist heute nicht weniger wichtig geworden. Klimaschutz bedeutet eine Zukunftsvorsorge
für kommende Generationen. Er bedeutet auch eine
Zukunftsvorsorge in Bezug auf die Sicherung von Menschenleben, die ansonsten in vielen Ländern durch
Überschwemmungen, Wetterereignisse und ähnliche
Phänomene gefährdet wären. Deshalb geht es bei unserem Energiekonzept um die Versorgungssicherheit, aber
eben auch um den Klimaschutz. Diesen können wir nicht
einfach über Bord werfen. Aus diesem Grunde können
wir nicht einfach die Kohlekraftwerke oder die Gaskraftwerke hochfahren. Nein, wir brauchen mehr erneuerbare
Energien, und das geht nur, wenn die Netze ausgebaut
werden, wenn die Proteste endlich aufhören und Genehmigungsverfahren mit einer Dauer von bis zu acht Jahren der Vergangenheit angehören. Wir müssen den Netzausbau schneller hinbekommen, sonst wird es nicht
mehr erneuerbare Energien in diesem Lande geben.
({10})
Wir werden die Speicherentwicklung vorantreiben.
Wir werden im Erneuerbare-Energien-Gesetz Anreize
für die Integration in das Netz geben und damit dafür
sorgen, dass erneuerbare Energien eingespeist werden,
wenn es notwendig ist. Es gibt daneben die unbequeme
Wahrheit: Wir werden auch die CO2-Abscheidung und -Einlagerung in die Erde als technologische Option brauchen.
Auch hier muss der eine oder andere umdenken, seine
regionalen Interessen zurückstellen und die nationale
Aufgabe des Klimaschutzes und der Versorgungssicherheit sehen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Frank-Walter Steinmeier
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der sich bei
den Bildern dieser Tage an 9/11 erinnert fühlt. An diesem Tag gab es Tausende von Opfern, ein Symbolbauwerk des Westens stürzte in sich zusammen. Wir wussten damals von dieser Stunde an: Die Welt wird nicht
dieselbe sein.
Was wir in Japan mit Grauen und Entsetzen den
stündlich neuen Nachrichten - so auch jetzt wieder - und
Bildern entnehmen, zeigt: Das ist im Vergleich zu 9/11
eine Katastrophe in geradezu quälender Zeitlupe - Tage
ohne Gewissheit über die wirklichen Dimensionen dieser schrecklichen Folgen. Doch ahnen wir in diesen Tagen der Ungewissheit: Auch dieses Mal wird die Welt
danach nicht dieselbe sein.
Was wir erleben, ist ganz ohne Zweifel eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, eine Katastrophe mit
unfassbarem Leid und Tod, eine Katastrophe, die Gewissheiten aus der Vergangenheit radikal infrage stellt.
Angesichts der sich weiter zuspitzenden Schreckensmeldungen ist es schwer, in den Routinen unseres Alltags
immer die richtige Sprache zu finden. Wenn wir an solchen Tagen des tausendfachen Leids gelegentlich um
Worte ringen, dann muss das vielleicht gar nicht schlecht
sein; denn ganz zuvörderst ist dies die Stunde der Anteilnahme und Solidarität. Ich möchte dem Bundestagspräsidenten ausdrücklich für die Worte danken, die er gestern in unser aller Namen gefunden hat.
({0})
Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer, bei den mittlerweile 100 000 Kindern, die nach ihren
Eltern suchen und die jetzt bei den vielen Helferinnen
und Helfern sind. In diesen Stunden sind unsere Gedanken ganz besonders bei denen, die in Fukushima unter
Einsatz ihres Lebens - ich vermute, in Kenntnis aller Risiken - darum kämpfen, das Allerschlimmste zu verhindern. Möglicherweise gelingt ihnen nicht einmal das.
In dieser Situation des Schreckens muss sich das japanische Volk auf unsere Solidarität und unsere Hilfe verlassen können. Nicht nur die Bundesregierung und die
Hilfsorganisationen, sondern auch die Menschen in
Deutschland - da bin ich mir ganz sicher - werden ihre
Hilfsbereitschaft in den nächsten Tagen unter Beweis
stellen.
Die Menschen in Deutschland werden Solidarität
üben. Aber sie sind zugleich besorgt. Sie zeigen zwar
keine Anzeichen von Panik und Hysterie, aber sie sind
verunsichert und irritiert. Japan ist weit entfernt, aber
uns in vielem doch so ähnlich. Manche sagen: in dem
Hang zur Perfektion; andere sagen: auch in der Arbeitsmoral; Dritte sagen: ganz sicherlich, was die wirtschaftliche Stärke angeht.
Wir sind wie Japan ein rohstoffarmes und ein Hochtechnologieland. Weil das so ist, fragen sich jetzt ganz
viele, ob das, was in Japan passiert, auch bei uns passieren kann. Sie fragen eben nicht die Wirtschaft und speziell die Energiewirtschaft, sondern sie fragen uns, die
Politik, ob wir verantworten können, was wir tun.
So sehr ich verstehe, Frau Merkel, dass Ihnen die Diskussion zur Unzeit kommt: Wir werden diese Fragen
nicht einfach wegdrücken können. Das haben auch Sie
in den letzten Tagen lernen müssen. Das Leid in Japan
zu instrumentalisieren, um hier in Deutschland eine Debatte über die Folgen einer falschen Politik nicht führen
zu müssen, das wird nicht gehen, und das wird Ihnen
auch die Bevölkerung nicht durchgehen lassen.
({1})
Herr Kollege Steinmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schlecht?
Ja.
Bitte, Herr Schlecht.
({0})
Herr Steinmeier, Sie haben eben die momentanen
Sorgen der Bevölkerung beschrieben. Diese Sorgen
müsste die Bevölkerung und müssten wir alle gemeinsam nicht haben, wenn der Atomausstieg in den sieben
Jahren Amtszeit von Rot-Grün wirklich vollzogen worden wäre, und zwar unumkehrbar.
({0})
Weshalb haben Sie eigentlich damals in den sieben
Jahren Ihrer Amtszeit nicht Ihr Versprechen aus dem
Wahlkampf 1998, das auch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben wurde - dass Sie so schnell wie
möglich den Atomausstieg vollziehen wollen; „so
schnell wie möglich“ kann ja wohl nicht sieben Jahre
heißen -, gehalten und die AKW-Politik in Deutschland
beendet? Dann hätten Sie dem deutschen Volk all die
Probleme, die wir jetzt mit der Laufzeitverlängerung
usw. haben, ersparen können. Was waren die Gründe,
weshalb Sie das so gemacht haben?
({1})
Herr Kollege, das nenne ich wirklich Mut! Sie kommen aus der Tradition einer Partei, die in für mich unverständlicher Weise immer wieder gesagt hat: Atomkraftwerke in Volkshand sind vertretbar und verantwortbar. Wer das sagt, der hat uns keine Belehrungen zu erteilen!
({0})
Herr Kauder, Sie haben in Ihrer gerade gehaltenen
Rede dafür plädiert, keine Debatte über die Vergangenheit zu führen. Die Debatte, die nicht nur im Deutschen
Bundestag, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit
geführt wird, ist eben keine Debatte über die Vergangenheit, sondern eine Debatte über die verhängnisvoll falsche Politik Ihrer Gegenwart, Herr Kauder. Darum geht
es!
({1})
Ich unterstelle Ihnen, dass Sie nicht all das, was Sie
hier gesagt haben, wirklich ernst meinen. Denn Sie haben in den letzten Tagen gemerkt, dass Sie mit Ihren
energiepolitischen Pirouetten, die Sie auf ganz dünnem
Eis vollführen, nicht wirklich glaubwürdig sind.
Niemandem ist es verwehrt, aus Katastrophen zu lernen, ganz im Gegenteil: Wer aus solchen Katastrophen
nichts lernt, der hat in der Politik nichts zu suchen. Aber
dieses Lernen muss ernsthaft und glaubwürdig sein. Wer
heute das Gegenteil von dem verkündet, was er über
Jahre hinweg vertreten hat, der muss verstehen und akzeptieren, dass es Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit
gibt,
({2})
und der kann auch nicht beklagen, Frau Merkel, dass an
der einen oder anderen Stelle bohrend nachgefragt wird.
Frau Merkel, Ihr Glaubwürdigkeitsproblem, das heute
Morgen noch einmal zutage getreten ist, können nur Sie
selbst aus der Welt schaffen. Sie haben die Atomkraft in
Ihrer gesamten politischen Laufbahn gegen alle Kritik
verteidigt. Sie haben Tschernobyl als Betriebsunfall eines verlotterten Sozialismus abgetan. Sie haben geleugnet und nicht akzeptiert, dass erstmals mit Tschernobyl
die Beherrschbarkeit einer Hochrisikotechnologie infrage gestellt war. Sie haben den Atomkonsens leichtfertig und ohne Not aufgekündigt und die Verlängerung der
Laufzeiten durchgesetzt. Und da können Sie alle miteinander noch so viel darum herumreden: Das werden die
Menschen nicht vergessen. Machen Sie sich darauf
keine Hoffnungen!
({3})
Mein Eindruck war schon im letzten Jahr, dass es Ihnen allen an dem nötigen Verständnis nicht nur für die
gesellschaftspolitische, sondern auch für die ökologische
und am Ende sogar wirtschaftspolitische Dimension dieser Frage und des Atomkonsenses immer schon gefehlt
hat.
Ich habe schon damals, lange vor Japan, Herr Kauder,
befürchtet und sogar gesagt, dass selbst die Energiewirtschaft den Tag verfluchen wird, an dem sie diese Regierung zur Laufzeitverlängerung getrieben hat. Ich habe
nicht geahnt und nicht gewusst, dass dieser Tag so
schnell kommen wird. Ich habe ihn mir nicht einmal herbeigewünscht. Aber heute weiß die Energiewirtschaft:
Sie wird schlechter dastehen als nach den Vereinbarungen, die sie mit dieser Bundesregierung getroffen hat.
({4})
Denn was ist jetzt nach der Katastrophe in Japan eingetreten? Statt Laufzeitverlängerung haben wir eine Unsicherheit, wie wir sie in der Geschichte der deutschen
Energiepolitik lange nicht gehabt haben. Zehntausende
von Menschen sind wieder auf der Straße. Sie können es
ja drehen und wenden, wie sie wollen: Kernkraftbefürwortern wie Herrn Mappus steht doch die blanke Panik
im Gesicht.
Wir haben mit dem Atomkonsens - das sei an alle
diejenigen gesagt, die hier kritisch dazu berichtet haben;
das ist vergessen worden - einen jahrzehntelangen Großkonflikt in dieser Gesellschaft befriedet und gleichzeitig
einen verlässlichen Rahmen geschaffen, auch für die
Wirtschaft - verlässliches Auslaufen der Kernenergie
und gleichzeitig eine Brücke, mit der neue Formen der
Energieerzeugung etabliert werden können. Ganz nebenbei, weil das hier noch niemand erwähnt hat: Nur dem
Atomkonsens ist es zu verdanken, dass ein Reaktor in einem deutschen Erdbebengefahrengebiet, nämlich der
von Mülheim-Kärlich, nicht ans Netz gegangen ist.
Auch der war nach Ihrer Auffassung und nach Auffassung der Energiewirtschaft ein sicherer Reaktor.
({5})
Sie haben einen Konsens aufgekündigt - gegen die
Mehrheit der Bevölkerung. Wenn sie jetzt sagen: „Wir
nehmen die Sorgen der Bevölkerung ernst“, dann ist das
eben - mit Verlaub - nicht glaubwürdig. Diese Sorgen
gibt es nicht erst seit Fukushima; die gibt es seit Sellafield, seit Harrisburg, seit Tschernobyl, seit Forsmark.
Ich könnte die Liste der Namen fortsetzen. Es ist ja gut,
dass Sie jetzt die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen
wollen. Aber dann gehört eben auch - verdammt noch
mal! - ein Wort der Einsicht dazu, warum Sie in der Vergangenheit so leichtfertig über diese Sorgen hinweggegangen sind.
({6})
Frau Merkel, nicht wir, diejenigen, die wir damals
den Atomkonsens auf die Beine gestellt haben und den
Ausstieg aus der Kernenergie vorbereitet haben, haben
uns hier in diesem Hohen Haus und in der Öffentlichkeit
zu entschuldigen. Zu entschuldigen haben sich diejenigen, die das Problem jahrelang, jahrzehntelang ignoriert,
sich über alle Bedenken hinweggesetzt und Laufzeiten
verlängert haben.
({7})
Die haben öffentlich Einsicht zu bekennen.
Wenn Sie sich jetzt hinstellen und in verzweifelter Art
und Weise völlig unglaubwürdig Kritik an Rot und Grün
und den Versuchen, frühzeitig aus der Kernenergie heDr. Frank-Walter Steinmeier
rauszukommen, äußern, ist das nur allzu durchschaubar.
Ich finde es dreist und unanständig.
({8})
Frau Merkel, da gibt es nichts zu lachen, sondern ich
meine das ganz ernst.
({9})
Wer sich so verhält wie Sie in dem mittleren Teil Ihrer
Regierungserklärung heute Morgen, darf nicht seinerseits Respekt vom Parlament und der Opposition verlangen. Darum geht es.
({10})
Herr Kollege Steinmeier, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Herr Goldmann, Respekt darf auch derjenige verlangen, der dieses Parlament ernst nimmt. Da bin ich mit
Ihnen einig.
({0})
Das Parlament nimmt man ernst, indem man das Parlament mit den Fragen der Zukunft der Energiepolitik in
diesem Land beschäftigt und nicht nach dem Muster
handelt: Was kümmert mich das Gesetz von gestern? Es
ist doch peinlich, dass Verfassungsrechtler wie Herr
Morlok und - das beunruhigt Sie noch mehr ({1})
der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
Herr Papier, Sie an den schlichten und einfachen Grundsatz erinnern: Wer per Gesetz Laufzeiten verlängert,
muss sie auch per Gesetz zurücknehmen. Das ist ein
ganz schlichter Grundsatz.
({2})
Frau Homburger, wenn ich es richtig gelesen habe:
Sie haben das „Erbsenzählerei“ genannt. Ich nenne das
Rechtsstaat.
({3})
Wenn man in diesem Hause an einen wichtigen Grundsatz des Rechtsstaats erinnern muss, dann beunruhigt
mich das wirklich - ich hoffe, auch Sie.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kernforderung unseres Entschließungsantrags zur Katastrophe in Japan und den Konsequenzen für Deutschland
ist „ein Innehalten und Nachdenken über das Geschehene.“ Es geht nicht um Hysterie und Hektik, sondern
darum, die Gelegenheit zu einer besonnenen Überprüfung der eigenen Standpunkte zu schaffen. Die logische
Konsequenz aus dem „Innehalten und Nachdenken“ ist
auch das Moratorium bei der Laufzeitverlängerung und
die einstweilige Abschaltung der genannten Kraftwerke.
({0})
Der Bundestagspräsident Norbert Lammert hat uns
gestern daran erinnert, dass wir die Debatte in diesem
Hause mit der „angemessenen Sachlichkeit“ führen sollen. Ich bedaure sehr, dass heute und in den letzten Tagen gerade bei der Opposition von Sachlichkeit und Besonnenheit kaum die Rede sein kann; es ist plumpe
Polemik. Das Geheule und Gejohle von Teilen der Opposition ist beschämend
({1})
und dem Ernst der Lage nicht angemessen.
({2})
Herr Steinmeier, wenn Sie uns unterstellen, dass wir
erst jetzt die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen und
mit diesen Sorgen leichtfertig umgehen; wenn Sie der
Kanzlerin unterstellen, dass sie die Sorgen nicht ernst
nimmt, dann ist das eine Beleidigung und Verleumdung,
die ich gerade von Ihnen in dieser Schärfe niemals erwartet hätte.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zurück zum
Ernst der Debatte. Im letzten Herbst hat die Bundesregierung ein umfassendes, bis 2050 reichendes Energiekonzept vorgestellt, das wir, die Fraktionen der Union
und unseres Koalitionspartners, der FDP, mitgestaltet
und verabschiedet haben; ich selbst durfte daran mitar10908
beiten und bin von der Richtigkeit dieses Konzepts vollkommen überzeugt.
({4})
- Jawohl, immer noch. Denn das Konzept bringt in Einklang, was unabhängig von den Ereignissen in Japan für
die Zukunft unseres Landes entscheidend ist: Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der
Energie. Der Strom aus der Steckdose muss zunächst
einmal in die Steckdose.
({5})
Das Konzept enthält Klimaschutzziele und sieht einen
Ausbau der erneuerbaren Energien in einem bisher nicht
bekannten Maße vor. Das stellt alles in den Schatten,
was von Rot-Grün jemals auf den Tisch gelegt wurde.
Das, was Sie, Herr Steinmeier und Herr Trittin, als
Atomkonsens propagiert haben, war nichts anderes als
eine Mogelpackung. Ihr Energiekonzept war ein Sammelsurium von Ungereimtheiten, Unbezahlbarkeiten
und Unwägbarkeiten.
Es ist richtig - dazu stehe ich -, dass dieser Atomkonsens auch die Verlängerung der Laufzeiten unserer Kernkraftwerke beinhaltet. Dadurch wollten wir uns die für
den Ausbau der Netze erforderliche Zeit und das dafür
notwendige Geld verschaffen; denn die Speicherkapazität muss erhöht und neue Technologien müssen entwickelt werden. Ich habe aber immer auch gesagt - Herr
Trittin, wir haben uns in den letzten 20 Jahren des Öfteren darüber austauschen können -: Grundvoraussetzungen sind der sichere Betrieb der Kernkraftwerke in
Deutschland und die Klärung der Endlagerfrage. Das unterscheidet uns, Herr Trittin. Sie haben gerade selber gesagt, dass Sie seit 30 Jahren gegen die Kernkraft kämpfen. Ganz egal, welche rationalen Argumente dafür oder
dagegen sprechen: Für Sie ist das Thema abgehakt. Das
zeigt, dass die Bevölkerung von Ihnen keine ideologiefreie und ergebnisoffene Diskussion erwarten darf.
Ich sage ganz deutlich, dass es in diesen Tagen vor allem um die Sicherheit geht. Fakt ist, dass wir zurzeit
nicht davon ausgehen müssen, dass von den japanischen
Kernkraftwerken eine Gefahr für uns ausgeht. Fakt ist,
dass wir nicht in einem Erdbebengebiet wohnen. Fakt ist
auch, dass wir in unseren Kraftwerken eine andere Sicherheitslage haben. Aber wir müssen uns trotzdem Zeit
nehmen, um die Situation in Deutschland vor dem Hintergrund des Versagens der Technik in Japan - dabei
geht es vielleicht auch um menschliches Versagen - zu
überprüfen: Sind die Annahmen zur Erdbebensicherheit
in Deutschland richtig? Hat der Klimawandel vielleicht
Auswirkungen auf die Sicherheit unserer Kernkraftwerke? Können terroristische Angriffe auf Kernkraftwerke wirklich ausgeschlossen werden, bzw. sind die
Kernkraftwerke hinreichend abgesichert? Das und anderes mehr müssen wir vor dem Hintergrund der Katastrophe in Japan prüfen, und zwar ergebnisoffen und ohne
Tabus, aber auch ohne Hysterie und ohne Panikmache.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
entlarven sich in diesen Tagen immer wieder selbst. Sie
fordern von uns, dass wir die Ergebnisse des Moratoriums schon jetzt benennen, obwohl diese doch erst nach
Abschluss des Moratoriums zutage treten. Das heißt
doch nichts anderes, als dass Ihnen das Ergebnis der Untersuchungen, die in den nächsten drei Monaten stattfinden, völlig wurscht ist.
({6})
Das zeigt, dass Sie sich hinter kleinkarierten Diskussionen und juristischen Spiegelgefechten verschanzen,
({7})
statt mit uns zu sagen: Die Sicherheitsüberprüfung der
Kernkraftwerke in den nächsten drei Monaten ist unser
gemeinsames oberstes Ziel.
({8})
Auch wenn es wehtut, Herr Trittin, möchte ich Sie
noch einmal an den Vertrag von 2000 erinnern. Wer in
dem Vertrag mit den Kraftwerksbetreibern ohne Not auf
jegliche Sicherheitsverbesserungen in den Kernkraftwerken in der Zukunft verzichtet hat, der hat meiner Ansicht
nach jedes Recht verwirkt, hier den Moralapostel zu
spielen.
({9})
Noch etwas anderes verstehe ich nicht: Sie haben sieben
Jahre Zeit gehabt, die Kernkraftwerke abzuschalten. Zuerst haben Sie die Chance dazu gehabt, danach Herr
Gabriel. Das ist aber nicht passiert.
({10})
- Als Herr Trittin in der Regierung war, gab es keine
Kanzlerin.
({11})
Dafür, dass Sie die Kernkraftwerke nicht abgeschaltet
haben, gibt es einen einfachen Grund: Auch Sie wissen,
dass die deutschen Kernkraftwerke nicht nur aus unserer
Sicht, sondern auch aus Sicht der Internationalen Atomenergiebehörde zu den sichersten der Welt gehören.
Minister Röttgen packt jetzt an, was seine Vorgänger,
Herr Gabriel, und Sie, Herr Trittin, nicht anzufassen gewagt haben, auch die Endlagerfrage.
Wir werden konsequent umsetzen, was jetzt zu tun
ist: erstens aufgrund der Erfahrungen in Japan unsere
Kraftwerke auch in Bezug auf ganz anders geartete
Schadensfälle, die bei uns vielleicht noch nicht so beDr. Christian Ruck
rücksichtigt worden sind, durchchecken, zweitens bei
eventuellen Sicherheitslücken die erforderlichen Konsequenzen einleiten, drittens überprüfen, ob wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien oder bei der Erhöhung
der Energieeffizienz nicht schneller vorangehen können,
und die europäische und internationale Dimension verstärkt betrachten. Ich glaube, Kommissar Oettinger hat
vollkommen recht, wenn er sagt, dass die europäischen
Kernkraftwerke einen generellen Sicherheitscheck brauchen. Es ist aber reine Heuchelei, zu sagen: Wir schalten
unsere Kraftwerke ab; aber die rund 150 europäischen
Kraftwerke von Temelin bis Cattenom können unbegrenzt und ohne Check weiterlaufen. Das ist völlig unsinnig und auch inkonsistent.
({12})
Wir sind bereit, Konsequenzen zu ziehen, wenn die
Überprüfungsergebnisse dies erfordern. Wir tun dies angesichts der Tragweite für unser Land mit der nötigen
Besonnenheit und der nötigen Verantwortung. Ich füge
hinzu, dass allein die Abschaltung der infrage kommenden Kraftwerke für die nächsten drei Monate einen zusätzlichen Ausstoß von 20 Millionen bis 30 Millionen
Tonnen CO2 beinhaltet. Auch das gehört zu den Punkten,
die wir abwägen müssen.
Was die Besonnenheit anbetrifft, so rate ich uns, unsere japanischen Freunde als Vorbild zu nehmen. Ich
habe tiefen Respekt vor der Tapferkeit der Japaner in
dieser schlimmen Situation. Ich habe auch tiefes Mitgefühl für unsere japanischen Freunde in diesem Jubiläumsjahr, dem 150-jährigen Bestehen der deutsch-japanischen diplomatischen Beziehungen. Wir sollten ihnen
jede Hilfe geben, die wir zu geben in der Lage sind, und
damit zeigen, dass wir auch in dieser schweren Stunde
an der Seite Japans stehen.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Japan
sind wieder Uhren stehen geblieben, fünf Minuten vor
drei. Im Hiroshima Peace Memorial Museum kann man
ebenfalls stehen gebliebene Uhren sehen: 8.15 Uhr am
6. August 1945. Dasselbe hochmoderne Land ist von der
militärischen wie auch von der zivilen Nutzung der
Atomkraft gleichermaßen grauenvoll getroffen worden.
Es ist an der Zeit, die Uhren des Glaubens an die Atomkraft zum Stehen zu bringen.
({0})
Frau Merkel und Sie, Herr Röttgen, bemühen sich, zu
überzeugen, dass Sie die Zäsur für die Industriegesellschaften begriffen hätten. Es ist nicht entscheidend, ob
die Opposition Ihnen glaubt. Das fällt schwer angesichts
Ihrer Haltung: Wir sehen jetzt alles anders; aber wir hatten immer recht. Für Sie ist entscheidend, ob die Menschen außerhalb dieses Hauses Ihnen glauben, und ich
frage Sie: Warum sollten sie?
({1})
Sie machen jetzt, was Sie vor dem Gesetz zur Laufzeitenverlängerung hätten tun müssen, und versuchen, dies
als Lehre aus dem Ereignis von Fukushima zu verkaufen. Brauchen Sie erst einen GAU, um Laufzeitverlängerungen und Sicherheitsüberprüfungen zusammenzubringen?
({2})
Als baden-württembergische Abgeordnete möchte ich
einen Blick in mein eigenes Bundesland werfen. In diesen Zeiten ist es für eine CDU-Bundeskanzlerin ganz besonders wichtig, dass die Menschen den Parteikollegen
Frau Gönner und Herrn Mappus glauben, dem badenwürttembergischen Ministerpräsidenten, der eine Laufzeit von 60 Jahren und Ihren Rücktritt, Herr Röttgen,
forderte, weil Sie ihm zu defensiv waren, der den überteuerten Kauf von 45 Prozent der EnBW auf Staatskosten damit begründete, er wolle nicht in Paris oder Moskau nach Energie fragen müssen. Alternativen zu
entwickeln, ist Herrn Mappus beim Regierungshandeln
fremd. Er hat alles getan, das Wachstum der Erneuerbaren in Baden-Württemberg zu verhindern.
({3})
Sein stolzes Verhinderungsergebnis für Baden-Württemberg lautet: 0,7 Prozent Strom aus Windenergie, 52 Prozent Atomstrom. Das ist ein Armutszeugnis.
({4})
Wer soll einer Landesatomaufsicht ihre neue Besorgnis um die Sicherheit der Atomkraftwerke abnehmen,
nachdem sie im letzten Jahr den Abfluss von 270 000 Litern Reaktorwasser aus dem Philippsburger Brennelementebecken kurzerhand vertuschte, weil der Störfall in
Zeiten der Verlängerungsdebatte störte, und die Mängelliste von Neckarwestheim drei Jahre lang in der Schublade ließ und keinerlei Nachrüstung vor dem Geschenk
der Laufzeitverlängerung einforderte?
({5})
Nein, wem die Interessen der Konzerne immer näher
waren als die Wahrnehmung der Kontrolle und Sicherheit, dem nimmt niemand die Krokodilstränen ab.
({6})
Es ist eine Feier wert, dass Neckarwestheim 1 endlich
abgeschaltet wird;
({7})
aber es lässt keinen Glauben an Einsicht zu, wenn
Mappus das in den Kontext eines emotionalen Ausnahmezustandes seiner Bürger stellt.
Wenn Sie es wirklich ernst meinen mit dem Umdenken, damit, dass Sie aus dem GAU von Japan lernen
wollen, dann stimmen Sie unseren Anträgen zu. Beugen
Sie nicht das Atomrecht, und ziehen Sie nicht § 19 des
Atomgesetzes zu etwas heran, wozu er nicht gedacht ist.
Machen Sie kein windiges Moratorium ohne juristische
Grundlage. Nehmen Sie die 11. und 12. Novelle zum
Atomgesetz seriös zurück.
({8})
Überprüfen Sie die Sicherheit der Atomkraftwerke nach
dem neuen kerntechnischen Regelwerk, und schalten Sie
die ältesten sieben Reaktoren und Krümmel dauerhaft
ab. Erst auf dieser Grundlage können wir über das diskutieren, was tatsächlich die Lehre aus Fukushima sein
muss: eine Neubewertung des Risikos Kernschmelze,
die kein Restrisiko mehr ist und für die Schadensvorsorge betrieben werden muss.
Als Konsequenz brauchen wir ein neues Energiekonzept mit einem deutlich schnelleren Atomausstieg, der
übrigens durch die juristische Formulierung der Linken,
die Atomkraftwerke müssten unverzüglich, „ohne
schuldhaftes Verzögern“ abgeschaltet werden, nicht beschleunigt wird. Die Welt hat sich gegenüber dem Jahr
2000 verändert. Das Risiko ist näher, die Frage nach den
Alternativen mit dem Wachstum der erneuerbaren Energien aber auch beantwortbarer.
Wenn wir für Japan etwas tun können, dann das: als
hochindustrialisiertes Land beispielhaft vorangehen und
ein effizientes Energiekonzept auf der Basis erneuerbarer Energien mit Anreizen, Förder- und Ordnungspolitik
umsetzen. Zeigen, dass es geht - das könnte unsere gemeinsame Würdigung der Opfer dieser Katastrophe sein.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe
Frau Kotting-Uhl, auf Ihren Beitrag zum badenwürttembergischen Wahlkampf will ich hier gar nicht
eingehen. Ich muss aber anmerken, dass ich von Ihnen
als einer mir bekannten aufrechten Gegnerin der Kernenergie ein bisschen mehr erwartet hätte, als dass Sie an
dieser Stelle nur Wahlkampfpolitik machen.
({0})
Ich möchte auf den Gesetzentwurf der Grünen, den
Sie am Ende Ihrer Rede immerhin noch gestreift haben,
eingehen. Darin heißt es, die Bundesregierung habe angesichts der aktuellen Geschehnisse in Japan nunmehr
festgestellt, dass sie im Gesetzgebungsverfahren zur
Laufzeitverlängerung Sicherheitsfragen nicht hinreichend beachtet hat. Wenn Sie, die Grünen, das so formulieren, dann muss ich sagen: Wäre die Situation in Japan
nicht so traurig und wäre der Umdenk- und Bewertungsprozess bei uns nicht so ernst, müsste man das als Heuchelei bezeichnen.
Ich stelle fest, dass es ganz bestimmt kein Positionspapier der CDU oder der CSU zum Thema Kernenergie
gibt, in dem nicht klar festgehalten ist, dass Sicherheit
oberste Priorität hat und Sicherheit vor jeder ökonomischen Erwägung steht.
({1})
Was immer wir in den nächsten drei Monaten politisch
entscheiden werden, es wird in der Kontinuität dieser
Politik und unter der schon immer geltenden Überschrift
„Sicherheit ist das erste Gebot“ stehen.
Man wird genügend Schriften finden, in denen es
heißt, die deutschen Kernkraftwerke seien sicher. Jetzt
komme ich zu dem Grund, aus dem ich mich über den
scheinheiligen Gesetzentwurf der Grünen ärgere. Der
bisher gültige Maßstab für die Sicherheit war nicht allein
der Maßstab dieser Bundesregierung. Er war ein gemeinsamer Sicherheitsmaßstab. In der Ausstiegsvereinbarung von 2000 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung ausdrücklich bestätigt, dass die deutschen
Kernkraftwerke auf einem international hohen Sicherheitsniveau betrieben werden. Ich will gar nicht die Vorhaltung wiederholen, dass Sie sich in einem Deal mit
den Versorgern verpflichtet haben, keine Initiative zu ergreifen, um den Sicherheitsstandard und die ihm zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern. Aber
fest steht: Nach dem bisherigen Maßstab muss man unsere Kernkraftwerke als sicher betrachten. Das haben die
früheren Minister Trittin und Gabriel offenkundig genauso gesehen, wie es jetzt Minister Röttgen beurteilt;
sonst hätten wir nämlich keine Kernkraftwerke mehr.
Was mich heute wirklich irritiert hat, war die Aussage
von Herrn Gabriel, er habe schon immer gewusst, dass
von den älteren Kernkraftwerken Gefahren für Leib und
Leben der Bevölkerung ausgehen, und er habe nur nicht
gehandelt, weil die Bundeskanzlerin ihn dazu angewiesen habe. Was ist denn das für eine Verantwortung? Was
ist das für ein Minister? Hat er seinen Amtseid vergessen?
({2})
Diese Frage muss er sich gefallen lassen. Wenn ein
Minister der Überzeugung ist, dass von etwas, das er in
seinem Fachressort zu verantworten hat, Gefahren für
Leib und Leben der Bevölkerung ausgehen, dann kann
er sich doch nicht einfach beiläufig der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin beugen, sondern dann muss er seinen Rücktritt einreichen.
({3})
Sie glauben doch wohl nicht, dass wir Herrn Gabriel
diese plumpe Ausrede an dieser Stelle tatsächlich durchgehen lassen.
Ich sage Ihnen ganz offen, dass wir uns die Frage stellen müssen: Was hat sich seit dem schrecklichen Erdbeben in Japan bei uns geändert? Die Antwort, die man auf
diese Frage geben muss, lautet: nichts und alles. Die
Menschen erleben, dass das Unwahrscheinlichste Realität geworden ist. Die Menschen in Japan und wir alle sehen, dass das Restrisiko eingetreten ist und die Hightechnation Japan die Technik nicht so beherrscht, wie
wir uns das vorstellen. Da ist es natürlich unumgänglich,
über bestimmte Themen nachzudenken: über Sicherheitsreserven, über das „Was wäre wenn?“, über Naturkatastrophen in einem bislang unbekannten Ausmaß,
über deren Kombination, über Anschläge, Flugzeugabstürze und Ähnliches. Mit all diesen Themen müssen wir
uns ohne Panik und Hysterie befassen. An dieser Stelle
muss ich das, was manche Kollegen schon gesagt haben,
unterstreichen: Für ihre Duldsamkeit können wir die Japaner, denen unser Mitgefühl gilt, nur bewundern und
ihnen unseren Respekt aussprechen.
({4})
Das Moratorium über drei Monate und das Abschalten der vor 1980 in Betrieb gegangenen Reaktoren können Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition, gerne als Wahlkampfmanöver verunglimpfen. Sie
können gerne behaupten, das sei bloß ein Mittel, um Zeit
zu gewinnen. Sie können gerne einen Juristenstreit über
die rechtlichen Grundlagen entfachen. Nur dürfen Sie
sich am Ende der drei Monate über eines nicht wundern:
Es wird mit uns kein Weiter-so geben, wie Sie es uns aus
wahltaktischen Gründen an dieser Stelle gerne anhängen
wollen.
Wenn ich das so formuliere, dann bitte ich, aufzumerken: Sie wissen sehr genau, dass ich mich zwar einerseits für die erneuerbaren Energien einsetze, dass ich
aber andererseits kein Kernenergiegegner bin. In meinem Wahlkreis steht das Kernkraftwerk Gundremmingen, das über 1 000 Familien die Existenz sichert und bei
uns in der Bürgerschaft wohl akzeptiert und weit gelitten
ist. Trotzdem rechne ich persönlich mit sehr grundsätzlichen Entscheidungen. Es wäre allerdings unseriös, bereits heute die Konsequenzen der anstehenden Sicherheitsüberprüfung beschreiben zu wollen. - Ein paar
Fakten im Umfeld möchte ich dennoch beschreiben.
Nachdem die Kanzlerin das Moratorium angekündigt
hat, ist der EEX-Großhandelspreis für Strom, welcher
auf Basis der German Power Futures ermittelt wird, innerhalb der beiden letzten Handelstage um 9,5 Prozent
gestiegen; ein weiterer Anstieg ist absehbar. Der EEXPreis für CO2-Emissionsrechte stieg von Montag auf
Dienstag um 8,5 Prozent, Tendenz steigend. Bei zusätzlicher Kohleverstromung wird dieser Anstieg weiteres
Gewicht bekommen. Damit steht doch eines fest: Die
ökonomischen Folgen einer Reduktion von Kernenergiestrom, wie wir sie immer vorhergesehen haben, werden
eintreten.
Ich will nichts zum Anteil des Energiepreises an der
allgemeinen Preisentwicklung sagen. Ich will auch
nichts zum Vorschlag der Linken sagen, Herr Gysi, wieder die Planwirtschaft in Deutschland einzuführen. Das
hatten wir schon, und das ist schon einmal kläglich gescheitert.
({5})
Wir müssen diesen Versuch, der immerhin über 40 Jahre
in diesem Land unternommen wurde, nicht wiederholen.
Ich möchte anmerken, dass nach derzeitigem Stand
die anderen europäischen Staaten nicht aus der Kernenergienutzung aussteigen werden. Das heißt für Deutschland
zweierlei: Erstens. Wir werden Wettbewerbsnachteile erdulden müssen. Zweitens. Einen Sicherheitsgewinn, wie
wir ihn uns wünschen, wird es jedenfalls auf Basis dieser
Konstellation nicht geben. Deshalb bin ich froh, dass sich
die Kanzlerin international für eine entsprechende Politik
einsetzt. Hinzu kommt, dass das Moratorium unsere Versorgungssicherheit tangiert, dass wir nach dem Abschalten von sieben Kraftwerken auf Kante nähen, was insbesondere in Süddeutschland - ich sage das all jenen, die
behaupten, das sei kein Problem, wir würden genug exportieren - zu spüren sein wird.
Noch viel entscheidender ist: Eine Säule des Energiekonzeptes dieser Bundesregierung ist bereits heute in
Teilen weggebrochen, nämlich ein Teil der Finanzierung
der erneuerbaren Energien aus dem Energie- und Klimafonds. Ich sage Ihnen: Wir brauchen nichts so dringend
wie Energieforschung; denn das, was wir bei Anerkennung allen Engagements im Bereich der erneuerbaren
Energien momentan machen, ist nicht der Weisheit letzter Schluss, wenn man von so etwas in der Energiepolitik überhaupt noch reden darf.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Klimke von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen: Vor zweieinhalb Monaten haben wir hier gemeinsam mit dem Vizeaußenminister
Japans die Feierlichkeiten anlässlich des 150-jährigen
Bestehens der deutsch-japanischen diplomatischen Beziehungen begangen. Wir haben hier im Bundestag auch
eine Debatte dazu geführt. Das zeigt, dass wir, Japan und
Deutschland, in den letzten 150 Jahren trotz einer wechselvollen Geschichte gemeinsam und mit großer gegenseitiger Unterstützung erfolgreich große Krisen bewältigt haben. Das liegt auch daran, dass Japan und
Deutschland in dieser Weltgemeinschaft eine seltene,
tiefe und einmalige Freundschaft verbindet und beide
Länder trotz der geografischen Ferne und der kulturellen
Unterschiede viel Verständnis füreinander haben. Diese
Freundschaft ist gerade in dieser Stunde der Not ein
wertvolles Gut; denn neben unserem Mitgefühl und unserer tiefen Trauer möchte ich keinen Zweifel daran lassen, dass die deutsche Politik alles dafür tun wird, dass
die japanische Nation zu alter Stärke zurückfindet.
Die Herausforderungen, die sich aus dieser Naturund Umweltkatastrophe ergeben, werden von den Japanern nicht allein zu bewältigen sein. Angesichts der
schrecklichen Zahlen von Opfern und Geschädigten, der
möglicherweise aufkommenden Rezession in Japan und
der zu erwartenden Umweltschäden stehen die Japaner
nicht vor einem Gesichtsverlust, wenn sie aktiv ausländische Hilfe anfordern und auch annehmen; denn bei jeder Katastrophe in der Welt waren es die Japaner, die als
Erste mit ihren Hilfstruppen und mit finanzieller Unterstützung vor Ort waren. Diese Bereitschaft zur Nothilfe
wird die Welt jetzt zurückgeben.
Angesichts der bedrückenden Opferzahlen und der
Masse der Geschädigten in Japan ist internationale Hilfe
besonders hilfreich und sinnvoll. Wir müssen uns noch
einmal deutlich vor Augen führen: Bisher gibt es 3 300
Todesopfer. Unbestätigte Schätzungen gehen davon aus,
dass es nach Abschluss der Aufräumarbeiten Zehntausende von Toten geben wird. 150 000 Kinder haben ihr
Zuhause verloren. Internationale Wirtschaftsexperten sagen in ihren Schätzungen voraus, dass der Wiederaufbau
der besonders betroffenen Region den japanischen Staat
einen dreistelligen Milliardenbetrag kosten wird. Die internationalen Finanzmärkte beben. 440 Milliarden Euro
wurden durch die Katastrophe bereits vernichtet. Die
Bank of Japan hat 200 Milliarden Euro in die Finanzmärkte gepumpt, damit es zu keinem ernsthaften Crash
kommt. Kurzfristig wird sich die internationale Außenpolitik auf die humanitäre Hilfe beschränken. Mittelund langfristig müssen die internationalen Gremien Anstrengungen unternehmen, die gemäß den Lehren, die
aus der Katastrophe in Japan gezogen werden müssen,
notwendig sind.
Die Freundschaft zu Japan ist in der G 8 unbestritten.
Es gab bereits ein Treffen der zuständigen Außenminister, um den Wiederaufbau aktiv zu unterstützen. Ich
finde es gut, dass der französische Präsident als G-8-Präsident Vorschläge ausarbeitet, um die negativen Folgen
für die Weltwirtschaft zu begrenzen.
Die G 20 steht vor einer weitaus größeren Herausforderung. Ihr muss es gelingen, dass sich die vorübergehende Schwäche Japans nicht zu einer dauerhaften politischen Schwäche auswächst; denn Japan ist
international und vor allen Dingen in der asiatischen Region ein großer und gleichberechtigter Player. Es ist im
deutschen Interesse, dass Japan als Stimme der Demokratie weiter eine prägende Rolle in der Region und in
der Welt einnimmt. Damit dies gelingen kann, müssen
gerade die anderen asiatischen Länder gemeinsam mit
Japan in der G 20 voranschreiten. Indonesien und Indien
werden dies tun. Ich hoffe, dass sich auch China international für seinen asiatischen Nachbarn einsetzen wird
und die Phase der Schwäche Japans nicht für sich ausnutzt.
Lassen Sie mich einige kritische Bemerkungen zu der
bisherigen Rolle der Internationalen Atomenergiebehörde machen, der IAEA, die ihren Sitz in Wien hat. Seit
Tagen zeigt sich, dass die Organisation angesichts der
Ereignisse in den Kernkraftwerken wie gelähmt ist: kein
Experte, keine Expertin in den Krisengebieten, groteske
Pressekonferenzen, Beschwichtigungstaktik. Die Rolle
der IAEA bei der Atomkatastrophe in Japan sorgt für
großen Unmut. Hinter vorgehaltener Hand hören Sie aus
Diplomatenkreisen, dass es inzwischen massive Beschwerden über die Informationspolitik, über die internationale Rolle und vor allen Dingen über die Tatsache
gibt, dass die Organisation ihrer Wächterrolle nicht gerecht wird.
Man spricht in Diplomatenkreisen von PR-Desastern
und der unmöglichen Situation, dass eine Organisation,
die immerhin angeblich 2 200 Experten und 90 Auslandsbüros hat, nicht in der Lage ist, in angemessener
Form Experten nach Japan zu schicken und dort zu helfen. Ich vermute, dass die Organisation dieses Gremiums
nicht in Ordnung ist. Ich glaube, der Sicherheitsrat muss
dieses Thema dringend auf die Tagesordnung setzen.
Die Behörde ist im Ernstfall ein dramatischer Ausfall,
und das darf nicht sein.
({0})
Ich möchte mich beim Auswärtigen Amt und beim
Außenminister dafür bedanken, dass er besonnen und
mit großem Anstand den Deutschen in Japan geholfen
hat und vor allen Dingen auch bei der Koordinierung der
Hilfe für Japan einen kühlen und klaren Kopf bewahrt
hat.
({1})
Lassen Sie mich als Freund Japans abschließend bemerken: Ich glaube, es ist jetzt richtig, dass wir alle, vor
allen Dingen auch dieses Parlament, gegenüber unseren
japanischen Parlamentskollegen deutlich machen, dass
wir dauerhaft, ernst, in Freundschaft und in tiefer Unterstützung an ihrer Seite stehen.
Danke sehr.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Bilder, die verstummen lassen. Das, was wir
in den letzten Tagen gesehen und gehört haben, ist von
einer albtraumhaften Schrecklichkeit. Zunächst einmal
ist es in erster Linie Zeit, den Menschen in Not Hilfe zu
leisten und ihnen, soweit es in unseren Kräften steht, beizustehen.
Japan braucht Hilfe durch die Weltgemeinschaft und
durch uns. Ich bin froh, dass die Bundesregierung sofort
Hilfe angeboten hat. Es ist für uns aber auch Zeit, in aller
Sachlichkeit zu überprüfen, ob und wo wir bei der Kernenergie umsteuern sollen oder müssen.
Allerdings muss ich eines sagen: Die Debatte der letzten Stunden und das Verhalten der Opposition waren absurd. Es erinnert mich an einen Schlagabtausch Konrad
Adenauers im Deutschen Bundestag, als er zu Beginn einer Rede sagte: „Ich habe die Lage geprüft“, und die Opposition schrie: „Nein, nein, nein!“. Dann setzte er wieder an und sagte: „Ich habe die Lage geprüft“, und die
Opposition empörte sich. Daraufhin sagte Konrad
Adenauer: „Hätte ich gesagt, ich habe die Lage nicht geprüft, dann hätten Sie auch revoltiert“.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, so geht es in
dieser Frage nicht. Was auch immer die Bundesregierung heute gesagt und getan hätte, Sie wären aus Prinzip
dagegen gewesen.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion hat sich auch in Oppositionszeiten niemals so verantwortungslos verhalten, wie Sie es
heute getan haben.
({2})
Sie machen Wahlkampf. Wenn ich alles zusammenaddiere, was seitens der Opposition heute selbstherrlich gesagt wurde, und wenn Sie das, was Sie heute gesagt haben, ehrlich meinen, dann hätten Rot und Grün zu ihren
Regierungszeiten alle Kernkraftwerke abschalten müssen.
({3})
Atomare Gefahren werden aber bei Ihnen offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Als Umweltminister
war Herr Trittin Schirmherr der Castortransporte. Damals sollten sie ohne Demonstrationen über die Bühne
gehen. Heute demonstrieren die Grünen wieder gegen
die Castortransporte. Das ist unanständig. Verantwortungsloser und unanständiger geht es nicht.
({4})
Etwas anderes schadet, glaube ich, der Demokratie
insgesamt und jedem einzelnen Abgeordneten: Das Konglomerat von Herrn Gabriel mit Vokabeln wie Hinterzimmer, Lüge und Atomlobby, zusammengemischt zu
einem Brei, schadet allen. Das schadet der ganzen demokratischen Klasse.
({5})
Ich unterstelle keiner Fraktion in diesem Hause, nicht
nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen zu
treffen, zu denen sie gefunden hat. Ich unterstelle auch
Ihnen von der Opposition nicht, dass Sie in Hinterzimmern mit wem auch immer kungeln und keine Entscheidung eigenständig treffen. Unterstellen Sie dies uns bitte
auch nicht. Schließen Sie nicht von sich auf andere,
wenn Sie so handeln sollten.
({6})
- Scheinbar haben Sie einen anderen Ansatz, denn sonst
könnten Sie nicht so einen Brei zusammenrühren.
({7})
Schließen Sie vor allen Dingen nicht von den Dingen, die Sie vielleicht betreiben - ich muss das so
annehmen -, auf die Handlungsweise der Bundeskanzlerin.
Gestatten Sie noch einige Sätze zur juristischen Debatte. Als Nichtjuristin habe ich mehr als einmal
({8})
aus der Juristenriege den Satz gehört: zwei Juristen, drei
Meinungen. Im Zweifel entscheide ich mich natürlich
für die tragfähigsten Argumente und für die Sicherheit.
({9})
Der Weg der Bundeskanzlerin ist verantwortungsvoll,
der Weg der Bundesregierung ist verantwortungsvoll,
und der Weg der Regierungsfraktionen ist verantwortungsvoll.
Danke.
({10})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Thomas Bareiß von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Niemanden von uns lassen die Bilder, die wir in
den letzten drei bis vier Tagen gesehen haben, kalt: ein
Erdbeben von diesem Ausmaß verbunden mit einer tödlichen Flutwelle, über 5 000 Tote und immer noch über
10 000 Vermisste in Japan.
Am Ende dieser Debatte sage ich: Bezeichnend ist,
dass von Rot-Grün heute nur die Frage nach der Sicherheit deutscher Kernreaktoren gestellt wurde. Das finde
ich erbärmlich.
({0})
Trotz aller verständlichen Emotionen in dieser Debatte lassen Sie uns bitte nicht vergessen, dass Sicherheit
eine objektive und keine psychologische Grundlage ist.
An der objektiven Sicherheitslage deutscher Kernkraftwerke hat sich in den letzten sieben Tagen nichts, aber
auch gar nichts verändert.
({1})
Ich sage ganz deutlich: Ich habe aus Überzeugung vor
einem halben Jahr der Laufzeitverlängerung zugestimmt. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass
diese Entscheidung richtig war.
({2})
Sie ist aus meiner Sicht deswegen richtig, weil der Aspekt der Sicherheit von Kernkraftwerken in unserem
Land immer oberste Priorität hat und die Sicherheit noch
vor einem halben Jahr verbessert worden ist.
({3})
Mit diesem Anspruch sind wir heute das Land mit den
höchsten Sicherheitsanforderungen an die Kernenergie.
Aber, liebe Freunde, sicherlich ist unbestritten,
({4})
dass trotz höchster Sicherheitsanforderungen ein Restrisiko bestehen bleibt. Auch Ihnen, Herr Gabriel, sage
ich deutlich: Ich halte dieses Restrisiko bei deutschen
Kernkraftwerken unter deutschen Sicherheitsstandards
nach wie vor für ethisch verantwortbar.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
zu der Einschätzung gelangen, dass dieses Risiko nicht
mehr verantwortbar ist, müssen Sie, wenn Ihnen die Sicherheit der Menschen in unserem Land wichtig ist,
noch heute sofort abschalten und alle Kernreaktoren
vom Netz nehmen. Aber das haben auch Sie, Herr
Trittin, und Sie, Herr Gabriel, in Ihren acht Regierungsjahren nicht gemacht.
({5})
Natürlich ist auch unser Anspruch, das Restrisiko so
gering wie möglich zu halten und weiterhin zu reduzieren.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich das Moratorium
unserer Bundeskanzlerin. Während dieser Zeit muss die
Lage analysiert werden, und es muss aus meiner Sicht
die Frage beantwortet werden, was wir aus der Analyse
lernen können und was die Konsequenz für unsere Sicherheitsstandards und unsere Kernreaktoren ist. Darüber hinaus halte ich es ebenfalls für richtig, dass die
Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem Energiekommissar Oettinger für eine Neubewertung der Reaktorsicherheit auf europäischer und internationaler Ebene kämpft;
denn eines muss uns klar sein: Es wird in Europa auch
weiterhin Kernenergie geben. Wir werden, auch wenn
wir alle Reaktoren abschalten, in Deutschland weiterhin
Kernenergie haben. Ich halte es für nicht verantwortbar,
wenn wir deutsche Kernkraftwerke abschalten und uns
von ausländischen, unsicheren Kraftwerken abhängig
machen.
({6})
Ich glaube, wir brauchen einen offenen Diskussionsprozess. Das kann in der Konsequenz auch heißen, dass
Kernkraftwerke endgültig vom Netz genommen werden.
Wir stehen aber - daran hat sich in den letzten drei Tagen nichts geändert - nach wie vor vor großen Herausforderungen beim Ausbau der erneuerbaren Energien.
Ein Kernbestandteil unseres Energiekonzepts war, die
Brücke in das Zeitalter der regenerativen Energien zu
gestalten. Auch daran wollen wir zukünftig festhalten.
Ich bitte zum Schluss, dass wir die kommenden Debatten sachlich und seriös führen; denn Seriosität habe ich
in den letzten drei Tagen hier im Hause vermisst.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir
nun insgesamt sieben namentliche Abstimmungen und
eine einfache Abstimmung durchführen werden. Bitte
achten Sie darauf, dass die Stimmkarten, die Sie verwen-
den, auch Ihren Namen tragen.
Wir beginnen mit der namentlichen Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP auf Drucksache 17/5048. Dazu liegen uns vier
persönliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-
nung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Sind die Schriftführerinnen und
Schriftführer an Ort und Stelle? - Das scheint der Fall zu
sein. Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die Stimm-
karten einzuwerfen.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten
eingeworfen? - Das ist anscheinend der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, auszuzählen. Das Ergebnis der
Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu
dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/5049. Die Fraktion der SPD hat getrennte
Abstimmungen verlangt. Über Nr. 1 des Entschließungs-
antrags werden wir mittels Handzeichen abstimmen.
1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 10921 A
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Über die Nrn. 2, 3 und 4 des Entschließungsantrags wer-
den wir namentlich abstimmen.
Wir stimmen zunächst über Nr. 1 des Entschlie-
ßungsantrags ab. Diejenigen, die für Nr. 1 des Ent-
schließungsantrags der SPD stimmen, bitte ich um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Letzteres ist offenkundig die Mehrheit gewesen.
Nr. 1 dieses Entschließungsantrags ist damit abgelehnt.
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über
Nr. 2 des Entschließungsantrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/5049.1) - Die Urnen sind weiterhin
besetzt. Ich eröffne diese Abstimmung und gebe gleich-
zeitig bekannt, dass dazu zwei Erklärungen nach § 31
unserer Geschäftsordnung vorliegen, die wir zu Proto-
koll nehmen.2)
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte zur
zweiten namentlichen Abstimmung eingeworfen? - Ich
schließe den Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Wir kommen damit zur dritten namentlichen Abstim-
mung, nämlich über Nr. 3 des Entschließungsantrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5049. Die Urnen
sind besetzt. Deswegen eröffne ich die Abstimmung und
bitte, die Stimmkarten einzuwerfen.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte zur
dritten namentlichen Abstimmung eingeworfen? - Das
ist offenkundig der Fall. Dann schließe ich den Wahl-
gang und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.3)
Wir kommen jetzt unverzüglich zur vierten namentli-
chen Abstimmung, nämlich über Nr. 4 des Ent-
schließungsantrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/5049. Ich bitte, die Stimmkarten einzuwerfen.
Die Abstimmung ist eröffnet.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimm-
karte für die vierte namentliche Abstimmung abgege-
ben? Bei mir melden sich nämlich immer mehr Kolle-
gen, die eine Abstimmung versäumt haben. Deswegen
bitte ich um Aufmerksamkeit. - Wenn alle ihre Stimm-
karte abgegeben haben, schließe ich den Wahlgang und
bitte, mit der Auszählung zu beginnen.4)
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5050. - Die Urnen sind weiterhin be-
setzt. Ich eröffne die Abstimmung - es handelt sich um
die fünfte namentliche - und bitte, die Stimmkarten ein-
zuwerfen.
Haben jetzt alle Mitglieder ihre Stimmkarte einge-
worfen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe
ich den Wahlgang. Ich bitte, mit der Auszählung zu be-
ginnen.5)
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
1) Ergebnis Seite 10923 B
2) Anlage 3
3) Ergebnis Seite 10926 A
4) Ergebnis Seite 10928 B
5) Ergebnis Seite 10930 B
Grünen auf Drucksache 17/5051. Das ist die sechste na-
mentliche Abstimmung. Ich bitte, mit der Abstimmung
zu beginnen.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-
ten zur sechsten namentlichen Abstimmung eingewor-
fen? Gibt es noch Nachzügler? - Das ist offenkundig
nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte,
mit der Auszählung zu beginnen.6)
Wir kommen schließlich zur namentlichen Abstim-
mung über den zweiten Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5052.7)
Das ist die siebte namentliche Abstimmung. Ich eröffne
die Abstimmung und bitte, die Stimmkarten einzuwer-
fen.
Haben nun alle Kolleginnen und Kollegen ihre
Stimmkarte zur siebten namentlichen Abstimmung ein-
geworfen? - Das ist der Fall. Dann schließe ich jetzt die
siebte namentliche Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen.8)
Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben. Ich weise darauf
hin, dass wir in etwa anderthalb Stunden eine weitere namentliche Abstimmung durchführen werden.
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 1. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/5035 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 17/4694 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Aussprache nicht teilnehmen wollen, ihre Beratungen
außerhalb des Plenarsaales fortzusetzen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Volker Beck von Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.
6) Ergebnis Seite 10933 A
7) Anlage 4
8) Ergebnis Seite 10935 B
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! José
Ortega y Gasset sagte einmal:
Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und
Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügigen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Alles andere ist sekundär.
Das Wahlrecht ist das Kernstück der Demokratie. Es
ist greifbares und begreifbares Mittel der Teilnahme der
Bürger am politischen Prozess. Das Wahlsystem als
Ganzes ist Transformator des Volkswillens. In ihm manifestiert sich - in der Stimmabgabe, in der mandatsgemäßen Machtverteilung der politischen Parteien im Parlament - der Wille des Volkes. Fragen des Wahlrechtes
gehören daher zu den Grundfragen der Demokratie.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns am 3. Juli
2008 in seinem Urteil zur fehlenden Verfassungsmäßigkeit des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag aufgegeben, bis zum 30. Juni 2011 die Effekte des negativen
Stimmgewichtes - das ist etwas Kompliziertes, das der
Bürger nicht so einfach versteht - zu beseitigen. Das negative Stimmgewicht bedeutet: Ich wähle eine Partei,
aber eine andere Partei profitiert davon, und bei meiner
Partei fällt ein Mandat weg. - Das verkehrt den Sinn des
Wahlrechts ins Gegenteil. Deswegen müssen wir uns mit
dieser Thematik befassen.
({0})
Wir als Fraktion haben bereits im Februar 2009 erstmals hierzu einen Gesetzentwurf vorgelegt, um dieses
negative Stimmgewicht zu beseitigen und die Chance zu
eröffnen, dass dieser Deutsche Bundestag mit einem verfassungsgemäßen Wahlrecht gewählt wird. Das ist damals gescheitert. Die Kolleginnen und Kollegen der heutigen Koalition meinten damals, das gehe zu schnell; der
Debattenbedarf sei groß, und man müsse das gründlich
erörtern. Nun ist ein Jahr ins Land gegangen. Die Grenze
30. Juni 2011 steht vor uns. Im März dieses Jahres gibt
es wieder keinen Vorschlag der regierenden Mehrheit,
obwohl sich die Geschäftsführer unzählige Male im Dezember und im Januar getroffen haben. Die Koalition ist
sich - genauso wie bei Hartz IV - beim Wahlrecht nicht
einig. Es gibt keinen entsprechenden Vorschlag, den der
Deutsche Bundestag in den Ausschüssen mit Sorgfalt
prüfen kann. Deshalb haben wir heute unseren Vorschlag
erneut vorgelegt, allerdings im Lichte der Anhörung im
Innenausschuss entsprechend verbessert.
({1})
Wir schlagen vor, dass in Zukunft zwei Prinzipien im
Wahlrecht gelten. Zunächst wird nach dem Verhältniswahlrecht festgestellt, wie viele Mandate einer Partei zustehen. Hat sie mehr Direktmandate gewonnen, als ihr
nach dem Verhältniswahlrecht zustehen, dann werden
diese Direktmandate nach der Reihenfolge der Wahlerfolge quasi von hinten weggenommen. Das sieht übrigens auch das bayerische Landeswahlrecht so vor. Der
bayerische Gerichtshof hat dazu gesagt, es sei nicht zu
beanstanden, wenn eine Regelung dazu führt, dass bei
Überhängen die Stimmkreisbewerber in der Reihenfolge
der niedrigsten Stimmzahlen ausscheiden.
({2})
Das ist der erste Prinzip.
Das zweite Prinzip ist: Hat eine Partei in einem Wahlgebiet in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt,
als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen, dann
werden diese Direktmandate mit den Listenerfolgen anderer Bundesländer verrechnet, sodass es zu keiner Vergrößerung der betreffenden Fraktion kommt.
({3})
Warum ist es so wichtig, dass wir diese Überhangmandate abschaffen?
({4})
Ich habe beim Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen
Bundestages eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Ich
zitiere daraus mit Erlaubnis des Präsidiums
({5})
und mache mir diese Erkenntnisse zu eigen. Danach ist,
legt man die jetzigen Wahlumfragen zugrunde, zu befürchten, dass bei der nächsten Wahl zum Deutschen
Bundestag 30 bis 60 Überhangmandate entstehen. Das
heißt, die Zahl der Überhangmandate ist durchaus beachtlich und hat hier im Deutschen Bundestag mindestens Fraktionsstärke. Es besteht die ernsthafte Gefahr,
dass der Wählerwille durch den Effekt der Überhangmandate in sein Gegenteil verkehrt wird, indem ein Teil
des Hauses die Mehrheit der Zweitstimmen erringt, aber
ein anderer Teil des Hauses die Mehrheit der Mandate
hat. Wenn es dazu kommt, dann wird der Hund in der
Pfanne verrückt. Dann sagen unsere Wählerinnen und
Wähler: Das ist keine Demokratie. Wir wollen, dass der
Deutsche Bundestag den Wählerwillen des deutschen
Volkes abbildet.
({6})
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Effekte des
negativen Stimmgewichts kritisiert. Zum einen kann der
Wille des einzelnen Wählers in einem Wahlkreis ins Gegenteil verkehrt werden. Zum anderen - das betrifft einen anderen Prüfmaßstab, der bei der Frage der Überhangmandate von Bedeutung ist - könnten die
Mehrheitsverhältnisse verändert werden. Wir müssen
deshalb eine Lösung wählen, bei der Überhangmandate
vermieden werden.
Unsere Fraktion klebt nicht an dem vorgelegten Vorschlag, auch wenn ihn das Bundesverfassungsgericht in
seinem Urteil ausdrücklich als einen der möglichen Lösungswege bezeichnet hat. Meine Damen und Herren
von der Koalition, wir von der Opposition lassen es Ihnen aber auf keinen Fall durchgehen, dass Sie uns hier
ein Wahlgesetz vorlegen und mit Ihrer knappen Mehrheit beschließen, das dazu führen kann, dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nicht zu einer Mehrheit
Volker Beck ({7})
der Mandate im Deutschen Bundestag führt. Einen solchen Versuch eines Putsches im Wahlrecht werden wir
Ihnen nicht durchgehen lassen.
({8})
Ich fordere Sie auf: Kommen Sie auf der Grundlage
unseres Gesetzentwurfs zurück zum Verhandlungstisch!
Verhandeln Sie mit SPD, Grünen und Linken gemeinsam über die Wahlrechtsreform! Wir haben einen Vorschlag gemacht, Ihrer liegt nicht auf dem Tisch. Lassen
Sie uns diese Frage gemeinsam regeln!
Sie haben die ganze Zeit gepennt. Damit haben Sie
uns in eine Situation gebracht, in der echte Sorgfalt nicht
mehr möglich ist. Die Berücksichtigung weiterer Fragen,
die man an das Wahlrecht stellen könnte - unabhängig
davon, ob das verfassungsrechtlich zwingend ist -, ist
nicht mehr möglich; das kann nicht mehr seriös geprüft
und diskutiert werden. Wir müssen jetzt zu Potte kommen. Sie können Ihre internen Differenzen nicht dazu
nutzen, um hier quasi am letzten Tag, in der letzten
Nacht vor der Sommerpause ein Wahlrecht durchzudrücken, das am Ende einer Überprüfung in Karlsruhe nicht
standhalten wird. Ich sage Ihnen: Wenn Sie ein Wahlrecht beschließen, das den Volkswillen nicht eindeutig
abbildet und dessen Umsetzung nicht garantiert, dann
sehen wir uns in Karlsruhe wieder, und zwar - wenn Sie
bis zum Ende der Wahlperiode durchhalten sollten - vor
der Bundestagswahl.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Krings von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es fällt mir - ich denke, auch den anderen
Rednern in der Debatte - nicht leicht, sich nach der Debatte über die Ereignisse in Japan und die Konsequenzen
in Deutschland wieder einem rein innenpolitischen
Thema - man könnte sagen: einem Luxusproblem der
deutschen Politik - zuzuwenden: dem negativen Stimmgewicht.
Ich darf eine einleitende Bemerkung in eigener Sache
machen. Der Zeitplan ist heute bei uns allen deutlich
durcheinandergeraten. Das führt unter anderem dazu,
dass fast parallel zu dieser Debatte die jährliche Richterwahl im Deutschen Bundestag stattfindet. Ich bitte, es
ausnahmsweise zu entschuldigen, wenn ich etwas früher,
vor Ende der Debatte, verschwinden muss. Das gehört
sich normalerweise nicht; aber ich hoffe, Sie sehen es
mir nach.
Die Grünen sind in Sachen Wahlrecht eine umtriebige
Partei;
({0})
vielleicht hat das etwas mit ihrer eigenen Geschichte zu
tun. Sie haben einen ähnlichen Antrag wie heute schon
einmal am Ende der 16. Wahlperiode und in der
13. Wahlperiode vorgelegt.
({1})
Dabei kommt die Frage auf: Wo bleiben denn die Anträge in der 14. und 15. Wahlperiode? Da haben Sie regiert; da hätten Sie die Mehrheit gehabt, um das „Übel“
- aus Ihrer Sicht - zu beseitigen.
({2})
Sie haben die Möglichkeit nicht genutzt. Man muss also
ganz sachlich und neutral festhalten: Das Thema war Ihnen jedenfalls zu jener Zeit nicht ganz so wichtig.
({3})
Ich habe grundsätzlich Verständnis dafür, dass Sie
dieses Anliegen heute im Deutschen Bundestag vortragen. In der Tat: Die Frist drängt; sie läuft Mitte des Jahres aus.
({4})
Wir können uns jetzt natürlich gegenseitig mangelnden
Fleiß oder mangelnden Willen bei der Lösung des Problems vorwerfen. Aber ich glaube, wir müssen bei einer
ehrlichen Betrachtung der Sache zugeben, dass das nicht
den Kern der Sache trifft. Das Problem ist hochkomplex,
und wer das nicht einsieht, zeigt, dass er sich mit der Sache nicht hinreichend befasst hat.
({5})
2008 hat die große Mehrheit des Deutschen Bundestages, einschließlich der Kollegen der SPD, das geltende
Wahlrecht inklusive des negativen Stimmgewichts in
Karlsruhe verteidigt. Wir wussten genau, dass dieses negative Stimmgewicht kein Betriebsunfall, kein Schönheitsfehler des Wahlrechts ist, sondern die unmittelbare,
fast logische Konsequenz der besonderen Verknüpfung
von Direktwahl und Listenwahl in unserem Wahlrecht.
Man kann ein anderes Wahlrecht wollen. Man kann ein
Mehrheitswahlrecht oder ein reines Verhältniswahlrecht
wollen. Dann würde dieses Problem nicht auftauchen.
Ich glaube aber, dass diese Verknüpfung richtig ist - ich
denke, darüber sind wir uns im Grundsatz einig -, auch
wenn sie systembedingt in Einzelfällen zu einem negativen Stimmgewicht führt.
Am Beginn dieser Wahlperiode haben wir uns mit einigen Kollegen - die Kollegen Ruppert, Uhl und andere
waren dabei - intensiv Gedanken darüber gemacht, welche Lösungen es gibt. Die Sache ist komplex und kompliziert.
({6})
Wir haben festgestellt, dass die meisten Lösungen, die
angeboten werden, entweder noch schlimmere Folgen
haben - das gilt auch für Ihren Vorschlag; darauf komme
ich gleich noch zu sprechen - oder das negative Stimmgewicht gar nicht oder nur zu einem geringen Teil beseitigen.
Hätte es eines Beweises bedurft, dass die Sache
schwierig und nicht einfach zu lösen ist, so haben Sie
diesen Beweis, Herr Kollege Beck, mit diesem wirklich
sehr dürftigen Gesetzentwurf erbracht.
({7})
Ihr Gesetzentwurf lässt - das ist mein erster Kritikpunkt jegliche Auseinandersetzung mit alternativen Lösungsansätzen vermissen. Wenn der Gesetzgeber, gerade wenn
es um die eigene Sache geht, zwischen gänzlich verschiedenen Lösungen auswählen muss, dann ist es auch
im Licht der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe geboten, dass er dabei ein
Mindestmaß an Rationalität und Transparenz erkennen
lässt. Genau das fehlt aber bei Ihrem Gesetzentwurf. Sie
haben auf etwa einer halben Seite eine dünne Analyse
- das ist eher eine Nacherzählung - des Urteils des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vorgenommen.
Es gibt keine Auseinandersetzung mit Alternativen.
Insbesondere fehlt eine Auseinandersetzung mit einer
Alternative, die sich geradezu aufdrängt, wenn man danach fragt, welches die Ursache für das negative Stimmgewicht ist. Die Ursache haben Sie gar nicht angesprochen. Die Ursache ist die Verknüpfung der Landeslisten,
die Reststimmenverwertung. Es ist doch naheliegend,
sich damit auseinanderzusetzen. Wenn das Problem die
Verbindung der Landeslisten ist, könnte die Trennung
der Landeslisten doch die Lösung sein. Es ist immer gut,
wenn die Lösung etwas mit dem Problem zu tun hat. Das
gilt nicht nur, aber insbesondere in diesem Fall.
({8})
Dieses Modell ist immerhin in den ersten beiden Bundestagswahlen erfolgreich angewendet worden. Insofern hätte man sich damit zumindest auseinandersetzen
müssen. Mehr verlange ich von Ihnen gar nicht. Ich
glaube, das ist nicht zu viel verlangt.
Ihr Gesetzentwurf - diesen Vorwurf kann ich Ihnen
leider nicht ersparen - ist auch handwerklich miserabel.
({9})
Ich will aus der Begründung zitieren: „Alternativ wäre
die Fraktion“, also Sie, „gesprächsbereit“, auch eine andere „Lösung zu unterstützen“. Das können Sie in einem
Brief oder einer E-Mail an mich schreiben. Das können
Sie auch in einem Telefonat mit mir sagen. Das steht
aber in einem Dokument,
({10})
das aus Ihrer Sicht die amtliche Begründung eines Gesetzes der Bundesrepublik Deutschland werden soll. Wir
machen uns doch lächerlich, wenn wir so etwas in diesem Hause zur Gesetzesbegründung erheben.
({11})
Da Sie zu diesem Thema schon öfter etwas vorgelegt haben, wäre es gut, wenn Sie die Sache das nächste Mal einem Juristen überlassen oder einen Juristen zumindest
einmal drübergucken lassen - Sie haben in Ihrer Fraktion ja kompetente Kollegen -, bevor wir uns hier damit
befassen.
({12})
Ich komme zum dritten, vielleicht entscheidenden
Kritikpunkt. Das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vorschlagen, ist unter regionalen und föderalen Gesichtspunkten in hohem Maße ungerecht und unfair. Ihr Vorschlag basiert im Kern darauf, dass Überhangmandate,
die in einem Bundesland entstehen, in einem anderen
Bundesland kompensiert werden. Für Überhangmandate sollen in einem anderen Bundesland Listenmandate
weggenommen werden. Abgeordneten, die nach dem
Wahlergebnis eines Bundeslandes bereits gewählt sind,
soll das Mandat also entzogen werden, um Überhangmandate zu kompensieren. Schon heute sind - das ist
richtig - die Länder, in denen es relativ viele Überhangmandate gibt, in föderaler Hinsicht im Vorteil; denn sie
haben aufgrund der Überhangmandate auf Bundesebene
ein größeres politisches Gewicht. Was wäre die Folge Ihres Vorschlages? Dieses Problem würde verschärft.
Die Länder, in denen üblicherweise keine Überhangmandate anfallen, hätten dadurch einen Nachteil. Ich
komme aus einem solchen Bundesland. Nordrhein-Westfalen hatte noch nie ein Überhangmandat. Wir haben ein
ausgewogenes Verhältnis von Erst- und Zweitstimmen.
Hier gibt es Hochburgen beider großen Parteien. Wir
sind bereits tendenziell im Nachteil, weil wir nie Überhangmandate bekommen können. Das kann man als Teil
dieses Wahlsystems akzeptieren. Aber wir wären dann
doppelt im Nachteil, weil wir zusätzlich quasi als Steinbruch für andere Bundesländer mit Überhangmandaten
herhalten müssten. Diese föderale Ungerechtigkeit
taucht in Ihrer Begründung nicht einmal auf. Sie ist meines Erachtens der Hauptkritikpunkt und das Hauptproblem bei Ihrem Vorschlag. Ich frage mich auch, ob es
wirklich demokratisch und föderal fair wäre, wenn beispielsweise ein sächsisches Überhangmandat dazu
führte, dass ein bereits in Nordrhein-Westfalen oder im
kleinen Saarland gewählter Abgeordneter sein Mandat
verlieren müsste.
Wenn man das ganz nüchtern auf die letzte Bundestagswahl anwendet, sieht man: Das führt zu grotesken
Ergebnissen. In Brandenburg hat knapp ein Viertel der
Wähler bei der letzten Bundestagswahl der CDU das
Vertrauen ausgesprochen. Nach Ihrer Lösung würde nur
ein einziger Abgeordneter für Brandenburg im Deutschen Bundestag sitzen. Das hätte bedeutet, dass etwa
330 000 CDU-Wähler in Brandenburg
({13})
von einem einzigen Abgeordneten im Deutschen Bundestag vertreten würden. Im Durchschnitt vertritt in der
Republik ein Abgeordneter etwa 65 000 Wähler. Dieses
eklatante Missverhältnis ist wirklich nicht mehr begründbar und nicht mehr darstellbar.
({14})
Man kann das weiter durchspielen. Bei realistischen
Szenarien sind durchaus Extremfälle denkbar, zum Beispiel dass ein Land knapp die Hälfte der ihm zustehenden Mandate verliert, dass es statt der üblichen 20 Mandate nur noch 11, 12 oder 13 Mandate hat. Das ist eine
eklatante Benachteiligung von bestimmten Bundesländern. Es ist nicht zu akzeptieren, dass ein Drittel oder ein
Viertel der Menschen in einem Bundesland eine Partei
wählt, diese Partei dann aber ohne ein Mandat ausgeht.
In Brandenburg hätte nur ein Wahlkreis verloren werden
müssen, und dann wären die 330 000 CDU-Wähler ohne
jegliche Vertretung im Deutschen Bundestag gewesen.
Das ist das Gegenteil von Demokratie, und das ist nicht
akzeptabel.
({15})
Herr Kollege Krings, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Ich habe ausreichend Redezeit; die brauche ich nicht
zu verlängern.
Die Redezeit wird angehalten.
Das ist ein ganz reizendes Angebot. Aber das ist nicht
notwendig. Vielen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Vorschlag ist - das wird vielleicht noch deutlicher, wenn Sie
es im Zusammenhang hören - ein besonderes Beispiel
für Willkür. Wenn hier Preise für Willkür und für mangelnde demokratische Reife eines Vorschlags
({1})
zu verteilen gewesen wären, hätten Sie beide Preise spielend abgeräumt.
Interessant ist auch, dass Ihnen die wissenschaftlichen
Unterstützer Ihres Vorschlags so langsam, aber sicher
ausgehen. Es gab in der letzten Wahlperiode bei Ihnen
eine Anhörung mit dem Mathematiker Pukelsheim, der
versucht hat, Ihnen da ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Er hat sich inzwischen offenbar von Ihrem Gesetzentwurf distanziert. Sie zitieren ihn auch gar nicht mehr.
Er hat offenbar andere Präferenzen und hat erkannt, dass
es eine föderale Unwucht in ihrem Vorschlag gibt.
({2})
Ich freue mich daher, dass die Einwände gegen diese föderale Ungerechtigkeit, die in der letzten Wahlperiode
nur ich hier im Deutschen Bundestag kritisiert habe, zumindest in der Wissenschaft auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Die Lernkurve bei den Grünen ist wieder
einmal etwas ungünstiger.
({3})
Meine Damen und Herren, vollends lächerlich - jetzt
wird es ganz bitter für Sie - und absurd ist § 7 Abs. 6 Ihres Gesetzentwurfs. Wenn ich darf, zitiere ich:
Erzielt eine Partei bei der Zuteilung mehr Direktmandate, als ihr Sitze nach Absatz 5 zustehen, so
werden die überzähligen Wahlkreissitze der Kandidaten dieser Partei mit dem geringsten prozentualen
Stimmenanteil nicht besetzt; …
Ich will der Mehrheit Ihrer Fraktion zugutehalten, dass
sie diese Vorschrift vielleicht nicht gelesen hat, dass sie
der eine oder andere vielleicht auch nicht verstanden hat.
Das mag sein - es ist eine komplizierte Materie -, aber
ich möchte gern Ihre Fraktionskollegen bösgläubig machen. Das ist der erste Vorschlag in der Geschichte des
Wahlrechts der Bundesrepublik Deutschland - man
könnte auch bis zu den Reichstagswahlen zurückgehen -,
nach dem einem in einem Wahlkreis direkt gewählten
Abgeordneten sein Mandat verweigert wird. Was daran
demokratisch sein soll, möchte ich einmal wissen. Jedenfalls ist es Gift für die demokratische Akzeptanz und
für das Vertrauen der Menschen in die Integrität des
Wahlvorgangs. Diese hanebüchene Regelung kann
durchaus - ich habe zuerst gar nicht glauben wollen,
dass man so etwas ernsthaft vorschlägt; ich habe es dreimal lesen müssen - dazu beizutragen, dass das Vertrauen
der Menschen in den Wahlvorgang abnimmt. Ich glaube
kaum, dass jemand, der als Wähler Opfer Ihrer Regelung
geworden ist, dann noch freudig zur nächsten Bundestagswahl geht. Ihr Vorschlag ist nichts anderes als ein
großes Programm zur Reduzierung der Wahlbeteiligung
in unserem Land.
Das ist natürlich auch für einen Kandidaten misslich.
Er hat einen spannenden Wahlkampf geführt - es kommt
ja gerade in den Wahlkreisen zum Tragen, wo es zwischen zwei oder drei großen Parteien knapp wird -, er
hat, vielleicht knapp, gesiegt, und dann zieht er nicht in
den Bundestag ein. Diese Perspektive des Kandidaten
halte ich aber für gar nicht so wichtig. Ich betrachte das
mehr aus der Perspektive des Wählers - Sie würden sagen: der Wählerinnen und Wähler - in einem Wahlkreis.
({4})
Es könnte zu folgendem Fall kommen: In einem
Wahlkreis hat sich die Mehrheit für einen bestimmten
Kandidaten entschieden, und dann müssen die Wähler
am nächsten Tag in der Zeitung lesen, dass der Kandidat, der ihre Interessen in Berlin vertreten soll, nicht in
den Bundestag einrücken kann, weil irgendwo 500 Kilometer weiter weg so viele Überhangmandate angefallen
sind, dass sein Mandat sozusagen als Kompensationsmasse, als Steinbruch benutzt wird. Das hätte zwei mögliche Folgen.
Folge eins: Der Kandidat, der gewählt worden ist,
kommt nicht in den Bundestag, aber ein anderer Kandidat, der auf einer Liste abgesichert ist, kommt in den
Bundestag und kann die Wahlkreisinteressen vertreten.
Der Gewinner bleibt dann draußen, und der Verlierer
kommt rein. Das wäre geradezu die Verkehrung des
Wahlergebnisses in einem Wahlkreis in sein Gegenteil.
Auch das Gegenteil von demokratischer Akzeptanz wäre
die Folge.
({5})
Folge zwei träte ein, wenn keiner der Kandidaten auf
der Landesliste abgesichert ist. Es ist ja möglich, dass im
Wahlkreis keiner der Kandidaten auf einer Liste abgesichert ist. Dann wäre dieser Wahlkreis ohne jegliche Vertretung im Deutschen Bundestag. Ich frage auch hier, ob
das demokratisch ist.
Gestatten Sie mir diese Bemerkung: Es mag ja sein,
dass eine Fraktion, Herr Beck, die als einzigen direkt gewählten Kandidaten den Kollegen Ströbele hat,
({6})
es vielleicht nicht ganz so wichtig findet, dass viele über
Direktmandate in den Bundestag kommen - das müssen
sie unter sich ausmachen; vielleicht haben Sie auch ein
Problem mit direkt gewählten Kandidaten -,
({7})
aber das, was Sie vorschlagen, wäre nicht gut für die Demokratie, nicht gut für die Akzeptanz des Wahlvorganges.
Was ich hier angesprochen habe, ist keine blanke
Theorie. Bei der letzten Bundestagswahl wären drei
CSU-Abgeordnete nicht in den Deutschen Bundestag
gekommen, obwohl sie in ihren Wahlkreisen gewählt
wurden. Das wäre nicht in Ordnung.
({8})
Das hätte die Wähler vor Ort nicht motiviert, zur Wahl
zu gehen. Das hätte die Wahlbeteiligung bei der nächsten
Bundestagswahl bestimmt nicht gesteigert.
Hätte die CDU deutschlandweit in einem der 16 Bundesländer nur einen Wahlkreis mehr gewonnen, wäre
auch bei ihr ein Direktmandat abgezogen worden. Dann
wäre der gleiche Effekt auch bei der CDU eingetreten.
Insofern betrifft das Phänomen des Abzuges nicht nur
die CSU, wie Sie es in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs fälschlicherweise schreiben, sondern es betrifft
alle Volksparteien.
({9})
Alle Volksparteien, deren Kandidaten Direktmandate in
ihren Wahlkreisen gewinnen können, sind von diesem
Problem betroffen.
Wir haben den Gesetzentwurf der Grünen gewogen
und für zu leicht befunden. Er beweist, wie kompliziert
die Aufgabe ist. Dies erklärt auch, warum wir von den
Koalitionsfraktionen leider - das sage ich bewusst heute noch keinen Gesetzentwurf vorlegen können. Mir
ist es aber lieber, dass wir die Frist des Verfassungsgerichts notfalls bis zur Neige ausschöpfen, als dass wir
dem Deutschen Bundestag ein dürftiges Machwerk vorlegen, wie Sie es heute getan haben.
({10})
Das Wahlrecht - das haben, glaube ich, auch Sie betont, Herr Beck - ist die Grundlage der Demokratie. Das
erfordert, dass die Menschen Vertrauen in die Integrität
des Wahlvorganges haben. Ein Wahlsystem muss daher
für den Bürger nachvollziehbar und durchschaubar sein.
Es darf nicht willkürlich erscheinen. Ich glaube, ich habe
eben hinreichend deutlich gemacht, wie willkürlich das
von Ihnen vorgeschlagene Wahlsystem dem Bürger vor
Ort erscheinen würde. Ein Wahlsystem muss die Sitzverteilung zwischen den Parteien, aber auch zwischen den
Landeslisten dem Wählerwillen gemäß abbilden. Auch
das wird mit Ihrem Gesetzentwurf in föderaler Hinsicht
nicht erreicht. Sie haben die beiden zentralen Probleme
der Wahlrechtsreform nicht gelöst.
Ich stimme Ihnen zu: Wir müssen mit Hochdruck
weiterarbeiten und miteinander reden, um die Sache zu
regeln. Aber tun Sie sich bitte selber einen Gefallen: Ersparen Sie sich die Peinlichkeit und ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, ehe ihn noch mehr Leute lesen!
Vielen Dank.
({11})
Ich komme zurück zu den namentlichen Abstimmungen. Ich gebe die von den Schriftführerinnen und
Vizepräsidentin Petra Pau
Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen bekannt.
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und
der Fraktion der FDP zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur aktuellen Lage in
Japan, Drucksache 17/5048: abgegebene Stimmen 586.
Mit Ja haben 308 Kolleginnen und Kollegen gestimmt,
mit Nein haben 272 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Es gab 6 Enthaltungen. Der Entschließungsantrag ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 586;
davon
ja: 308
nein: 272
enthalten: 6
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({4})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({6})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({7})
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({8})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({9})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({10})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({13})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({14})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({17})
Peter Weiß ({18})
Sabine Weiss ({19})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Vizepräsidentin Petra Pau
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({20})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({21})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({22})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Michael Link ({23})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({24})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({25})
Dirk Niebel
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({26})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({27})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({28})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({29})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({30})
Hubertus Heil ({31})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({32})
Frank Hofmann ({33})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({34})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({35})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({36})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({37})
Michael Roth ({38})
Marlene Rupprecht
({39})
Axel Schäfer ({40})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({41})
Werner Schieder ({42})
Ulla Schmidt ({43})
Carsten Schneider ({44})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({45})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({46})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Vizepräsidentin Petra Pau
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({47})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({50})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({51})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({52})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({53})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Enthalten
CDU/CSU
Josef Göppel
Siegfried Kauder ({54})
FDP
Holger Krestel
Dr. Martin Lindner ({55})
Hans-Joachim Otto
({56})
Dr. Rainer Stinner
Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung,
Nr. 2 des Entschließungsantrags der Fraktion der SPD,
Drucksache 17/5049: abgegebene Stimmen 588. Mit Ja
haben gestimmt 277, mit Nein haben gestimmt 311 Kolleginnen und Kollegen, es gab keine Enthaltungen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 588;
davon
ja: 277
nein: 311
Ja
CDU/CSU
Josef Göppel
Rüdiger Kruse
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({57})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({58})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({59})
Hubertus Heil ({60})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({61})
Frank Hofmann ({62})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({63})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({64})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({65})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Vizepräsidentin Petra Pau
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({66})
Michael Roth ({67})
Marlene Rupprecht
({68})
Axel Schäfer ({69})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({70})
Werner Schieder ({71})
Ulla Schmidt ({72})
Silvia Schmidt ({73})
Carsten Schneider ({74})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({75})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({76})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({77})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({78})
Volker Beck ({79})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({80})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({81})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({82})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({83})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({84})
Manfred Behrens ({85})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({86})
Dirk Fischer ({87})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({88})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Vizepräsidentin Petra Pau
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({89})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({90})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({91})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({92})
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({93})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({94})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({95})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({96})
Anita Schäfer ({97})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({98})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({99})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({100})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({101})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({102})
Peter Weiß ({103})
Sabine Weiss ({104})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({105})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({106})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({107})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({108})
Michael Link ({109})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({110})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({111})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({112})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({113})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({114})
Vizepräsidentin Petra Pau
Wir kommen zu Nr. 3 des Entschließungsantrags der
Fraktion der SPD, Drucksache 17/5049: abgegebene
Stimmen 584. Mit Ja haben 205 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 309, und es gab 70 Enthaltungen.
Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 585;
davon
ja: 205
nein: 310
enthalten: 70
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({115})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({116})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({117})
Hubertus Heil ({118})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({119})
Frank Hofmann ({120})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({121})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({122})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({123})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({124})
Michael Roth ({125})
Marlene Rupprecht
({126})
Axel Schäfer ({127})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({128})
Werner Schieder ({129})
Ulla Schmidt ({130})
Silvia Schmidt ({131})
Carsten Schneider ({132})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({133})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({134})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({135})
Volker Beck ({136})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({137})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({138})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({139})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({140})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({141})
Manfred Behrens ({142})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Vizepräsidentin Petra Pau
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({143})
Dirk Fischer ({144})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({145})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({146})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({147})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({148})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({149})
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({150})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({151})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({152})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({153})
Anita Schäfer ({154})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({155})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({156})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({157})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({158})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({159})
Peter Weiß ({160})
Sabine Weiss ({161})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({162})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({163})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({164})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({165})
Michael Link ({166})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Vizepräsidentin Petra Pau
Jan Mücke
Petra Müller ({167})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({168})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({169})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({170})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({171})
Enthalten
CDU/CSU
Josef Göppel
Rüdiger Kruse
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({172})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Nr. 4 des Entschließungsantrags der Fraktion der SPD,
Drucksache 17/5049: abgegebene Stimmen 593. Mit Ja
haben gestimmt 275, mit Nein 318 Kolleginnen und Kollegen, es gab keine Enthaltungen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 588;
davon
ja: 273
nein: 315
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({173})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({174})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({175})
Hubertus Heil ({176})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({177})
Frank Hofmann ({178})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({179})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({180})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({181})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Vizepräsidentin Petra Pau
Karin Roth ({182})
Michael Roth ({183})
Marlene Rupprecht
({184})
Axel Schäfer ({185})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({186})
Werner Schieder ({187})
Ulla Schmidt ({188})
Silvia Schmidt ({189})
Carsten Schneider ({190})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({191})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({192})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({193})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({194})
Volker Beck ({195})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({196})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({197})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({198})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({199})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({200})
Manfred Behrens ({201})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({202})
Dirk Fischer ({203})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({204})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({205})
Dr. Egon Jüttner
Vizepräsidentin Petra Pau
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({206})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({207})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({208})
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({209})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({210})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({211})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({212})
Anita Schäfer ({213})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({214})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({215})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({216})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({217})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({218})
Peter Weiß ({219})
Sabine Weiss ({220})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({221})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({222})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({223})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({224})
Michael Link ({225})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({226})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({227})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({228})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({229})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({230})
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke, Drucksache 17/5050: abgegebene Stimmen 589. Mit Ja haben
gestimmt 69, mit Nein 316, und 204 Kolleginnen und
Kollegen haben sich enthalten. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Vizepräsidentin Petra Pau
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 588;
davon
ja: 69
nein: 315
enthalten: 204
Ja
SPD
Karin Evers-Meyer
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({231})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({232})
Manfred Behrens ({233})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({234})
Dirk Fischer ({235})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({236})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({237})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({238})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({239})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({240})
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({241})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({242})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({243})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({244})
Anita Schäfer ({245})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({246})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({247})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Vizepräsidentin Petra Pau
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({248})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({249})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({250})
Peter Weiß ({251})
Sabine Weiss ({252})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({253})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({254})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({255})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({256})
Michael Link ({257})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({258})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({259})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({260})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({261})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({262})
Enthalten
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({263})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({264})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({265})
Hubertus Heil ({266})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({267})
Frank Hofmann ({268})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({269})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({270})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({271})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({272})
Michael Roth ({273})
Marlene Rupprecht
({274})
Axel Schäfer ({275})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({276})
Werner Schieder ({277})
Ulla Schmidt ({278})
Silvia Schmidt ({279})
Carsten Schneider ({280})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({281})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Vizepräsidentin Petra Pau
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({282})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({283})
Volker Beck ({284})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({285})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({286})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({287})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({288})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 17/5051: abgegebene Stimmen 588.
Mit Ja haben gestimmt 278, mit Nein 310 Kolleginnen
und Kollegen, Enthaltungen gab es keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 587;
davon
ja: 278
nein: 309
Ja
CDU/CSU
Josef Göppel
Rüdiger Kruse
Dr. Peter Tauber
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({289})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({290})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({291})
Hubertus Heil ({292})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({293})
Frank Hofmann ({294})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({295})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({296})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({297})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({298})
Michael Roth ({299})
Marlene Rupprecht
({300})
Axel Schäfer ({301})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({302})
Werner Schieder ({303})
Ulla Schmidt ({304})
Silvia Schmidt ({305})
Carsten Schneider ({306})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({307})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Vizepräsidentin Petra Pau
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({308})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({309})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({310})
Volker Beck ({311})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({312})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({313})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({314})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({315})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({316})
Manfred Behrens ({317})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({318})
Dirk Fischer ({319})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({320})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({321})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({322})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Bettina Kudla
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({323})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({324})
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({325})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({326})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({327})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({328})
Anita Schäfer ({329})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({330})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({331})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({332})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({333})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({334})
Peter Weiß ({335})
Sabine Weiss ({336})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({337})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({338})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({339})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({340})
Michael Link ({341})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({342})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({343})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({344})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({345})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({346})
Ergebnis der siebten namentlichen Abstimmung, in
diesem Fall über den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5052: abgegebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 273, mit
Nein 311 Kolleginnen und Kollegen, es gab keine Enthaltungen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Vizepräsidentin Petra Pau
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 584;
davon
ja: 273
nein: 311
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({347})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({348})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({349})
Hubertus Heil ({350})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({351})
Frank Hofmann ({352})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({353})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({354})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({355})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({356})
Michael Roth ({357})
Marlene Rupprecht
({358})
Axel Schäfer ({359})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({360})
Werner Schieder ({361})
Ulla Schmidt ({362})
Silvia Schmidt ({363})
Carsten Schneider ({364})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({365})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({366})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({367})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({368})
Volker Beck ({369})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({370})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({371})
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({372})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Vizepräsidentin Petra Pau
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({373})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens ({374})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({375})
Dirk Fischer ({376})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
({377})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({378})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({379})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({380})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({381})
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({382})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({383})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({384})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({385})
Anita Schäfer ({386})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({387})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({388})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({389})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({390})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({391})
Peter Weiß ({392})
Sabine Weiss ({393})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({394})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Vizepräsidentin Petra Pau
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({395})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({396})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({397})
Michael Link ({398})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({399})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({400})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({401})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({402})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({403})
Wir fahren nun in der Debatte fort. Das Wort hat der
Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion.
({404})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Krings, vielen
Dank für Ihre Offenheit. Nach der wortreichen Kritik am
Gesetzentwurf der Grünen haben Sie kurz vor Schluss
Ihrer Rede in zwei einfachen Sätzen doch noch die Hosen heruntergelassen
({0})
und etwas eingeräumt. Sie haben keine Lösung,
({1})
Sie können nichts vorlegen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht vor fast drei Jahren entschieden hat, dass
unser Wahlrecht in Teilen nicht der Verfassung entspricht und repariert werden muss, haben Sie jetzt, drei
Monate vor Ablauf der gesetzten Frist, keine Lösung.
Ich muss sagen: Das ist armselig.
({2})
Wir haben Ihnen schon direkt nach der letzten Bundestagswahl Gespräche angeboten. Wir haben auch Gespräche mit Ihnen geführt. Wir haben als Opposition
Vorschläge gemacht.
({3})
Aber Sie haben dieses Thema vertagt. Seit drei Monaten
führen Sie keine Gespräche mehr, weil Sie, Union und
FDP, sich untereinander nicht einigen können.
({4})
Sie rechnen ununterbrochen hin und her und versuchen,
für die eigene Fraktion in den Verhandlungen den größtmöglichen Vorteil herauszuholen. Sie können sich aber
nicht einigen. Das, Herr Krings, ist kein angemessener
Umgang mit dem Wahlrecht.
({5})
Das Wahlrecht ist nicht irgendein Recht. Nach unserer
Verfassung geht die Staatsgewalt vom Volke aus,
({6})
und sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen
ausgeübt.
({7})
Also: Wahlen sind Verfassungsrecht. Wahlen sind Demokratierecht. Das Wahlrecht muss so gestaltet werden,
dass das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie nicht beeinträchtigt wird.
({8})
Wenn sich die Bürgerinnen und Bürger das Wahlgesetz anschauen, dann stellen sie fest: Dort steht, dass die
gesetzliche Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages 598 beträgt. 299 Abgeordnete werden in Wahlkreisen direkt gewählt, und 299 werden mit der Zweitstimme über die Landeslisten gewählt. Würde man bei
voll besetztem Plenum nachzählen, würde man feststellen: Es sind nicht 598 Abgeordnete, sondern 621. Vor
14 Tagen waren es noch 622. Dann ist allerdings der
Freiherr von und zu Guttenberg zurückgetreten und hat
sein Bundestagsmandat niedergelegt.
({9})
Normalerweise kommt dann ein Nachrücker von der
Landesliste und ersetzt den Abgeordneten, der sein Mandat niedergelegt hat. Bei Herrn zu Guttenberg ist das
nicht passiert. Das liegt jetzt nicht an der Einzigartigkeit
oder Unersetzlichkeit von Herrn zu Guttenberg, sondern
daran, dass Herr zu Guttenberg aus einem Landesverband kommt, nämlich aus Bayern,
({10})
wo die CSU drei Überhangmandate erzielt hat. Solange
es Überhangmandate gibt, werden verlorene Mandate infolge von Mandatsniederlegungen nicht ersetzt. Das
heißt, der Deutsche Bundestag ist eine variable Größe.
({11})
Wir werden schon in 14 Tagen das zweite Schauspiel
erleben: Dann wird Frau Julia Klöckner,
({12})
wenn sie als Oppositionsführerin in den rheinland-pfälzischen Landtag wechselt,
({13})
ihr Mandat niederlegen, und - das werden Sie feststellen auch für sie rückt niemand nach.
({14})
Denn auch in Rheinland-Pfalz hatte die CDU Überhangmandate.
Insgesamt hat die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen
Bundestag 24 Überhangmandate.
({15})
So viele gab es im Deutschen Bundestag noch nie.
({16})
Um 24 Überhangmandate durch Zweitstimmen zu erzielen, müsste man 1,6 Millionen Zweitstimmen erhalten.
Sie haben 24 Extra-Mandate, für die Sie keinerlei Wähler aktivieren mussten.
({17})
Das ist eine grobe Verzerrung des politischen Wählerwillens in Deutschland.
({18})
Davon hat in der Vergangenheit auch die SPD profitiert.
({19})
Das macht die Sache aber nicht gut, Herr Kollege, und
deshalb plädieren wir auch mit Blick darauf, dass die
SPD nach den augenblicklichen Umfragen schon wieder
in den Genuss von Überhangmandaten kommen würde,
dafür, neben dem negativen Stimmgewicht gleichzeitig
die grob ergebnisverzerrende Wirkung von Überhangmandaten zu beseitigen.
({20})
Wir machen dies also auch zu unserem eigenen Nachteil
für den Fall, dass wir wieder in den Genuss von Überhangmandaten kommen sollten.
({21})
Das kann also kein Maßstab sein.
({22})
Wir dürfen das nicht allein durch die parteipolitische
Brille betrachten, sondern wir sollten mit Sorge sehen,
dass im Fünfparteiensystem, das wir bedauerlicherweise
haben
({23})
- ja, mit der CSU ist es sogar ein Sechsparteiensystem -,
der Trend zum Stimmensplitting stärker ausgeprägt sein
wird.
({24})
Die Konsequenz wird sein, dass wir noch mehr Überhangmandate bekommen, und der Kollege Beck hat
schon darauf hingewiesen: Es besteht die konkrete Gefahr, dass Regierungsmehrheiten nach Zweitstimmen
durch Überhangmandate umgedreht werden können und
wir dann eine in ihrer Legitimität angezweifelte Mehrheit haben. Darauf eine Regierung zu stützen, würde
Deutschland ganz sicher direkt in die Verfassungskrise
führen.
Deshalb sagen wir: Die Überhangmandate müssen
wir jetzt gleich mit angehen. 24 Überhangmandate, die
Sie jetzt haben, das bewegt sich schon sehr stark auf die
Fünfprozentgrenze zu. Mit anderen Worten: Die Inhaber
von Überhangmandaten sind so etwas wie die sechste
oder, wie Sie wollen, siebte Fraktion hier im Deutschen
Bundestag. Sie sind ein Fremdkörper in unserem Wahlrecht. Es geht jetzt darum, die Gelegenheit der verfassungsrechtlichen Reparatur des Wahlrechts zu nutzen,
um diesen Fremdkörper aus unserem Wahlrecht zu entfernen.
({25})
Wir schlagen deshalb vor, dass Überhangmandate
durch Ausgleichmandate kompensiert werden sollen.
({26})
Allerdings ist auch das kein Vorschlag, der überhaupt
keine Probleme mit sich bringt. Es gibt übrigens keine
Lösung ohne Probleme; das muss man fairerweise einmal sagen.
({27})
Auch das, was Sie überlegen, hat positive, aber auch negative Ansätze.
Wir wollen Ausgleichsmandate schaffen, sodass die
Proportionalität der abgegebenen Zweitstimmen wiederhergestellt wird, damit sich der Deutsche Bundestag so
zusammensetzt, wie es die Wählerinnen und Wähler mit
ihren Zweitstimmen entschieden haben. Das ist unser
Ziel. Wir wollen Ausgleichsmandate für die Überhangmandate schaffen. Wir wissen: Bei 24 Überhangmandaten kommt man auf ungefähr 45 Ausgleichsmandate.
({28})
Das würde zu einer erheblichen Vergrößerung des Deutschen Bundestages führen.
({29})
Das streben wir jedoch nicht an. Deshalb sagen wir:
In der übernächsten Wahlperiode müssen wir uns an die
Arbeit machen und die Zahl der Wahlkreise verringern.
({30})
- Nein, nicht alle Wahlkreise, aber es ist ein erhebliches
Stück Arbeit.
({31})
- Wenn Sie ein demokratisches Wahlergebnis auch im
Deutschen Bundestag abgebildet haben wollen, dann
müssen Sie sich schon Mühe geben. Im Augenblick ist
das jedenfalls nicht so. - Das ist also unser Vorschlag.
Was die Grünen vorschlagen, ist eine mögliche Lösung, aber nicht die beste. Die Konsequenz, dass ein direkt gewählter Abgeordneter sein Mandat hier nicht
übernehmen kann, ist jedenfalls nicht basisdemokratisch.
({32})
Ich darf hier an eine der vier Wurzeln der Grünen erinnern. Immerhin ist das aber ein Vorschlag. Sie haben dagegen noch gar keinen Vorschlag.
({33})
Herr Krings, ich darf jetzt einmal an das anknüpfen,
was Sie bisher zur Diskussion gestellt haben, dass Sie als
Koalition nämlich darüber nachdenken, das deutsche
Wahlvolk auf 16 autonome Teilgebiete zu verteilen, die
rechtlich voneinander abgegrenzt sind.
({34})
Das würde zu ganz erheblichen Konsequenzen führen.
({35})
Es ist so, dass wir ein Bundesstaat sind und ein Bundesvolk haben. Ihr Vorschlag bedeutete also eine Föderalisierung unseres Wahlrechtes, und die Konsequenz
wäre auch, dass die Fünfprozentklausel dann natürlich
nicht mehr bundesweit,
({36})
sondern landesweit gelten würde.
({37})
Das heißt, eine verfassungsfeindliche und verfassungswidrige Partei wie die NPD - noch ist das leider nicht
festgestellt worden - würde dann in den Ländern, in denen sie Chancen hat, in den Deutschen Bundestag einzuziehen, Schwerpunktwahlkämpfe durchführen.
({38})
Bewahren Sie uns vor einem solchen Wahlrecht mit solchen Konsequenzen. Bitte nicht!
({39})
Ich meine, wir sollten alles dafür tun, dass wir am
Ende zu einer einvernehmlichen Lösung kommen. Wir
streben das nach wie vor an.
Wir sind davon überzeugt, dass wir uns mit unserem
Vorschlag nicht zu 100 Prozent durchsetzen können,
aber ich glaube, es wäre für die Demokratie gut, wenn
wir uns über die grundsätzlichen Spielregeln, wie politischer Einfluss in Deutschland demokratisch verteilt werden soll, vernünftig verständigen könnten. Wir sind dazu
bereit. Sie müssen sich jetzt aber ein bisschen bewegen;
in drei Monaten läuft die Frist ab.
({40})
Nachdem schon bei den Neuregelungen zu Hartz IV
die Frist um Monate versäumt wurde, sollten wir nicht
erneut eine vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist
verstreichen lassen und dadurch das Bundesverfassungsgericht missachten. Bewegen Sie sich also! Wir sind zu
Verhandlungen bereit.
Vielen Dank.
({41})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Ruppert das
Wort.
Vizepräsidentin Petra Pau
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Wahlrecht - das haben alle Vorredner zu
Recht betont - ist einerseits ein hochpolitisches Recht,
das andererseits aber möglichst im breiten Konsens aller
Demokraten zu regeln ist. Es ist so etwas wie die Grammatik des demokratischen Diskurses. Der Bürger muss
diese Regeln kennen und verinnerlichen. Er muss wissen, wie sich sein Wahlverhalten in ein konkretes Wahlergebnis umsetzt und was seine Erst- und seine Zweitstimme inhaltlich bewirken. Wenn man das ernst nimmt,
dann muss man wissen, dass jedwede Änderung am
Wahlrecht auch Auswirkungen auf eine eingeübte Praxis
des Wählers hat: Der Wähler muss sich bei der Beantwortung der Frage, wie er nun in Zukunft wählen muss,
umstellen.
Ich glaube, hier ist es wie mit der Grammatik der
Sprache oder der Rechtschreibung: Abrupte Änderungen
und ein Systemwechsel - bei einem an sich bewährten
Wahlrecht - bieten sich hier nicht an, weil wir damit
auch an der Legitimation des Verfahrens rütteln würden.
({0})
Deswegen sollten wir aus meiner Sicht keinen Systemwechsel vornehmen, obwohl uns das Bundesverfassungsgericht klar gesagt hat, dass die Bandbreite möglicher Wahlsysteme in der Bundesrepublik, die
verfassungsgemäß wären, durchaus groß ist.
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich dieses
Wahlrecht bewährt hat und dass wir deswegen den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass nehmen
müssen, sozusagen minimalinvasiv an der Stelle gegen
das Problem vorzugehen, an der es entsteht.
Ich zitiere aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil
- das hätte Herr Beck vielleicht auch noch einmal lesen
sollen -:
Der Effekt des negativen Stimmgewichts lässt sich
daher nicht isoliert beheben, sondern erfordert
grundlegende Vorarbeiten, die die verschiedenen
Vor- und Nachteile in den Blick nehmen.
Leider sind die Grünen diesem Rat nicht gefolgt; sie haben isoliert einen einzelnen Vorschlag vorgelegt.
({1})
Was mich daran auch in kollegialer Hinsicht ausgesprochen ärgert, ist, dass das Zugehen auf Herrn Beck
am Rande des Plenarsaals, das Telefonieren mit seinem
Büro und die Gesprächsangebote bei allen gleichen Interessen, die wir beide als Vertreter kleiner Parteien durchaus haben - auch wenn Sie sich derzeit stärker fühlen
mögen, als Sie sind -, immer huldvoll mit der Aussage
beantwortet wurde, die Zahlen bzw. Berechnungen
könne man liefern, aber Gesprächsbedarf sei derzeit
nicht vorhanden.
({2})
Mehrere Initiativen gerade von mir und meiner Fraktion, auf die Grünen zuzugehen, und alle Gesprächsangebote haben Sie abgelehnt. Gleiches ist mir mit dem
Kollegen Wieland als zuständigem Berichterstatter passiert, der auch zweimal Gesprächsangebote abgelehnt
hat. Deshalb sollten Sie nicht so tun, als ob Sie keine Gesprächsangebote bekommen hätten.
({3})
Kollege Ruppert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Ja, gerne.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich,
nachdem wiederholt die angesetzten Gespräche abgesagt
und die bereits für den Dezember versprochenen Formulierungen der Koalition weder im Dezember noch im Januar oder Februar übermittelt wurden, den Parlamentarischen Geschäftsführern mitgeteilt habe, dass wir unseren
Vorschlag zur Debatte stellen werden, damit das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet wird?
Wir haben ausdrücklich betont, dass wir jederzeit zu
Gesprächen bereit sind. Aber da die Gesprächstermine
abgesagt und die zugesagten Formulierungen nicht übermittelt wurden - das ist aber notwendig, damit die Diskussion über die Vorschläge der Koalition stattfinden
kann -, haben wir gesagt: Jetzt müssen wir das Gesetzgebungsverfahren einleiten, damit das Hohe Haus die
wahlrechtlichen Fragen in angemessener Form prüft.
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
der Weg, den unser Gesetzentwurf vorsieht, am Schluss
des Urteils ausdrücklich als eine der zwei Hauptideen
des Verfassungsgerichtes hierzu erwähnt wird? An anderer Stelle werden noch weitere Ideen wie das Grabenwahlsystem erwähnt, denen wir beide als Vertreter kleinerer Parteien wahrscheinlich nicht nähertreten wollen.
Wir sind auch zu Gesprächen mit Ihnen jederzeit bereit. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn wir den Vorschlag der Koalition kennen und wissen, ob es auf der
Grundlage dieses Vorschlags Gesprächsmöglichkeiten
und Veränderungsmöglichkeiten gibt. Bislang steht die
Koalition beim Wahlrecht nackt da.
Sehr geehrter Herr Beck, zunächst einmal muss man
festhalten: Alle angebotenen Gespräche wurden Ihrerseits abgesagt. Ich habe mehrere Fachgespräche mit Verfassungsrechtlern und Mathematikern geführt und versucht, mich tief in das Thema hineinzudenken. Ich habe
daran Interesse als Demokrat, der zwar nicht persönlich,
aber aus historischer Sicht die Situation einer Großen
Koalition kennt, bei der es in den 60er-Jahren seitens der
Volksparteien Initiativen zur Änderung des Wahlrechts
gegeben hat. Ich war bereit, mit Ihnen darüber ins Gespräch zu kommen.
Wie Sie und auch Herr Oppermann richtig gesagt haben, gibt es nicht die eine Lösung, die alle Probleme behebt. Aber wir müssen miteinander darüber reden, welche Vor- und Nachteile bestehen. Das geht aber nicht,
wenn Sie jeden Gesprächstermin absagen.
({0})
- Zwei Termine haben Sie abgesagt, einen hat Herr
Wieland abgesagt.
({1})
Jetzt kommen wir zu Ihrem Vorschlag. Zunächst einmal muss man noch einen Aspekt isoliert betrachten. Die
OSZE hat uns kritisiert, weil wir die Wahlzulassung und
Wahlprüfung in Deutschland nicht regeln. In einem Bericht zur Bundestagswahl 2009 hat die OSZE festgestellt, dass weder die Wahlzulassung noch die Wahlprüfung in Deutschland ausreichend geregelt sind.
Unser Verfassungsgericht ist zwar mit den bestehenden Regelungen einverstanden, wie wir wissen, aber es
ist kein Ruhmesblatt, sage ich, wenn etwa im Falle der
Pauli-Partei keine Möglichkeit besteht, gegen eine Entscheidung des Bundeswahlausschusses vorzugehen. Das
wurde uns auch mehrfach ins Stammbuch geschrieben.
Aber leider verlieren Sie im grünen Gesetzentwurf kein
einziges Wort zu diesem dringenden und wichtigen
rechtsstaatlichen Problem.
({2})
Ich kann Ihnen sagen - auch das hätte ich in den Gesprächen mit Ihnen gern erörtert -:
({3})
In der Tat gibt es auch dort große fachliche Schwierigkeiten. In ein knappes zeitliches Verfahren mit 72 Tagen
vor der Wahl müssen Sie die Zulassung eines Rechtsschutzes etwa zum Bundesverwaltungsgericht integrieren.
({4})
Sie müssen das auch in Einklang mit Art. 41 GG bringen, der die Wahlprüfung dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundestag und nicht etwa dem Bundesverwaltungsgericht zuweist.
Also liegen viele Probleme im Detail. Sie wären es
wert, fachlich, in aller Ruhe und möglichst konsensorientiert debattiert zu werden. Nur, dazu sind wir - vielleicht bin ich zu sehr von der Perspektive des kleinen
Berichterstatters geprägt - meiner Meinung nach nicht
gekommen. Das lag nicht an den Berichterstattern. Ich
habe zum Beispiel mit Frau Fograscher sehr interessante
Gespräche geführt, in denen wir uns über diese Probleme ausgetauscht haben. Frau Fograscher sagt die Termine also nicht ab.
Insofern glaube ich, dass es noch nicht zu spät, aber
an der Zeit ist, jetzt zu einer Lösung zu kommen, die
nicht nur punktuell ein Problem in den Blick nimmt, wie
Sie es getan haben, sondern die mehrere Dinge beachtet:
Berliner Zweitstimme - das haben Sie aus meiner Sicht
völlig zu Recht und richtig mit gelöst -, Wahlprüfung,
Wahlzulassung sowie die Frage des negativen Stimmgewichts.
Bei Ihrem Vorschlag haben Sie leider einen Fehler gemacht. Sie haben sich zwei Berater geholt - so lese ich es
zumindest -, nämlich Herrn Meyer und Herrn Pukelsheim.
Herr Pukelsheim wird im Vorschlag zur 16. Legislaturperiode erwähnt, Herr Meyer im zweiten Teil, mit dem
Sie die CSU-Überhangmandate adressieren. Sie haben
nur leider den Fehler gemacht, dass Sie die beiden problematischsten Teile von deren Vorschlägen kombiniert
haben. Das hat Ihnen Herr Krings sachlich richtig und
nachvollziehbar vorgeführt.
({5})
Sie haben die beiden verfassungsrechtlich prekärsten
Dinge kombiniert und kommen so zu einer Lösung, die
in dieser Form sicherlich nicht verfassungsgemäß wäre.
({6})
342 000 Wähler in Brandenburg sollen genauso viel
Gewicht haben wie 62 000 Wähler in Baden-Württemberg. Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass Sie das
Problem des negativen Stimmgewichts auf der einen
Seite beheben, um dann einen derart ungleichen Erfolgswert an anderer Stelle wieder einzuführen? Wenn Sie das
nachrechnen würden, würden Sie selbst feststellen, dass
ein solcher Vorschlag untragbar und grotesk ist.
({7})
Auch beim Problem der Überhangmandate kurieren
Sie ein Phänomen,
({8})
über das man durchaus reden kann. Aber mit der föderalen Unwucht, die dadurch entsteht, führen Sie einen
neuen Fehler ein.
({9})
- Genau, darauf komme ich noch zu sprechen. Sie entsteht bei Ausgleichsmandaten nicht.
({10})
Insofern ist die Lösung mit Blick auf die Ausgleichsmandate eindeutig zu bevorzugen.
Allerdings - jetzt komme ich auf die Ausgleichsmandate zu sprechen - kurieren die Ausgleichsmandate,
Herr Oppermann, im strengen Wortsinn der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das negative
Stimmgewicht nicht.
({11})
Sie kurieren das Ergebnis und das Verhältnis untereinander, also sozusagen die Folgen. Wenn man nur den einzelnen Abgeordneten betrachtet, bleibt das folgende
Phänomen: Es kann sich schädlich auswirken, dass ein
CDU-Wähler die CDU gewählt hat, weil er seiner Partei
in der Summe aller Mandate ein Mandat weniger beschert hat.
({12})
- Doch.
({13})
- In der Summe wird es ein Mandat weniger. Sie kurieren dann die Folgen, indem Sie das wieder in ein richtiges Verhältnis zueinander setzen. Aber wenn Sie den
Wortlaut der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lesen, müssen Sie zumindest darüber diskutieren,
ob das wirklich das Problem beseitigt. Sonst wäre Ihr
Vorschlag meiner Ansicht nach einer der wichtigen, die
zu debattieren sind.
Allerdings setzten Sie sich einem Vorwurf aus; das
hat der Kollege Krings auch schon in einem Zwischenruf
gesagt. Wenn Sie ausgleichen, gibt es in einem Bundestag, der viele Überhangmandate umfasst, einen sehr großen Hebel für den Ausgleich.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das man der CSU nicht
wünschen will; das wird nie passieren, keine Angst. Sie
sinkt bei den Zweitstimmen auf 30 Prozent ab.
({14})
Das ist wirklich ein rein hypothetisches Modell. Nehmen
wir also an, sie sinkt auf 30 Prozent ab, gewinnt aber
nach wie vor alle Wahlkreise. Dann werden nach dem
Modell der Grünen reihenweise die Mandate ihrer direkt
gewählten Abgeordneten aberkannt, was sicherlich - das
hat Herr Krings schon gesagt - zu untragbaren Ergebnissen führt.
({15})
Aber nicht nur das: Sie erzielt auch 15 oder 16 Überhangmandate, die dann im Verhältnis zu einer Partei wie
der SPD, die vielleicht 45 Prozent erreicht hat, ausgeglichen werden müssen. Das bedeutete, dass Sie alleine für
die SPD einen Ausgleich von 60 oder 70 Mandaten
schaffen müssten.
({16})
Das heißt in dem einen Fall, dass Überhangmandate
auftreten, erzeugen Sie einen enormen Hebel zur Vergrößerung des Parlaments. In dem anderen Fall, dass keine
Überhangmandate auftreten, gibt es diesen Hebel nicht.
Deswegen kuriert Ihr Vorschlag, den Bundestag auf 450
oder 500 Mitglieder zu verkleinern, das Problem in der
Sache nicht ernsthaft. Verkleinern Sie den Bundestag auf
500 Mitglieder, dann bleiben Sie in dem einen Fall bei
500, in dem anderen Fall aber erreichen Sie 680 Mitglieder. Diese Bandbreite zu erklären, ist meiner Meinung
nach nur schwer möglich.
({17})
Ich will einige Takte zu dem sagen, was meiner Meinung nach jetzt folgen muss. Es gibt einen relativ schmalen Korridor von denkbaren Lösungsansätzen.
Sie haben das Trennungsmodell angeführt. Bei einem
unitarischen Wahlvorgang ist es uns aus meiner Sicht
möglich, die 5-Prozent-Hürde auf die Bundesebene zu
verlagern. Das ist kein verfassungsrechtliches Problem.
Es gibt aber bei sehr kleinen Wahlgebieten verfassungsrechtliche Probleme, weil die 5-Prozent-Hürde dort faktisch angehoben wird.
Sie können ein Ausgleichsmodell erarbeiten, das nur
einen geringeren Ausgleich vorsieht, oder bei Ihrem
Ausgleichsmodell Modifikationen vornehmen.
All diese Systeme führen verfassungsrechtlich aber
zu Kollateralschäden, die es gegeneinander abzuwägen
gilt. Das hätten wir lieber im Gespräch miteinander und
nicht im Streit untereinander gemacht.
({18})
Insofern fand ich das Vorpreschen gerade für eine Partei
wie die Grünen, die an einem demokratischen Konsens
interessiert ist, äußerst unangebracht. Wir sollten den
Diskussionsprozess insofern jetzt beschleunigen und intensivieren.
({19})
Vielen Dank.
({20})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Wawzyniak das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir Linken wollen ein einfaches, demokratisches und transparentes Wahlrecht. Die Vorschläge der
Linken hierzu kommen ungefähr ab Minute sieben meiner Rede.
Die Bürgerinnen und Bürger können derzeit maximal
alle vier Jahre direkt auf Politik Einfluss nehmen, indem
sie uns für vier Jahre ein Mandat geben. Fakt ist: Das
Wahlrecht ist unübersichtlich und kompliziert. Doch reden wir bedauerlicherweise nicht deshalb hier darüber,
sondern - das ist zu Recht gesagt worden - weil uns das
Bundesverfassungsgericht einen Auftrag gegeben hat,
nämlich den Auftrag, das Problem zu lösen, dass unter
Umständen ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem
Verlust an Sitzen der Landesliste oder ein Verlust an
Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landesliste führt. Das nennt man negatives Stimmgewicht der
Zweitstimmen, also der Stimmen, die man für die Landesliste einer Partei abgibt.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns vorgegeben,
bis zum 30. Juni eine Lösung zu finden. Die Grünen haben dankenswerterweise wenigstens einen Vorschlag auf
den Tisch gelegt, auch wenn dieser nicht wirklich überzeugend ist. Was wollen die Grünen? Die Grünen wollen, dass die Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis auf Bundesebene angerechnet werden, und einige
von diesen, wenn man mehr Direktmandate als Zweitstimmen bundesweit hat, wegfallen. Aus diesen bundesweit so errechneten Sitzen der Parteien werden dann
wieder per Verhältnisrechnung die Sitze auf Landesebene bestimmt. Ob der Vorschlag verfassungsgemäß ist
- darauf ist hier schon hingewiesen worden -, muss bezweifelt werden. Das Verfahren, das die Grünen vorschlagen, klingt kompliziert,
({0})
und es ist kompliziert. Genau das ist das Problem.
({1})
Die Bürgerinnen und Bürger, die Wählerinnen und Wähler können überhaupt nicht nachvollziehen, was gemäß
Ihrem Gesetz passieren soll.
Nehmen wir ein zunächst theoretisches Beispiel: Die
Linke gewinnt bei einer Bundestagswahl 76 Listenplätze
und 80 Direktmandate.
({2})
In diesem Fall würden die vier Direktmandate mit dem
schlechtesten prozentualen Ergebnis, die die Linke gewonnen hat, herausfallen. Jetzt könnten wir sagen: Das
ist uns egal.
Ich gebe Ihnen nun ein einfacheres Beispiel: Bei der
Bundestagswahl 2009 hätte es nach dem Modell der
Grünen beispielsweise den Abgeordneten Singhammer
von der CSU getroffen.
({3})
Jetzt erzählen Sie mir einmal, wie Sie das den Wählerinnen und Wählern des Wahlkreises München-Nord erklären wollen.
({4})
Soll man sich vor diese Wählerinnen und Wähler stellen
und sagen: „Entschuldigung, Sie haben Herrn
Singhammer zwar direkt ins Parlament gewählt, aber leider hat die CSU zu viele Listenmandate, und deswegen
sitzt Herr Singhammer jetzt nicht im Parlament“? Ganz
ehrlich, wer soll denn nach so einer Entscheidung noch
einmal wählen gehen?
({5})
Ich finde, ein CSU-Bashing ist an der einen oder anderen
Stelle angebracht, aber bitte bei Inhalten und nicht bei so
einem wichtigen Punkt wie dem Wahlrecht.
({6})
Jetzt lassen wir das Verfassungsrecht einmal kurz beiseite und betrachten ein politisches Argument gegen das
Argument der Grünen. Die Nichtanerkennung gewonnener Direktmandate stärkt das Parteimonopol. Querköpfe
in den eigenen Reihen finden häufig keinen Platz auf den
Landeslisten, sondern gewinnen Mandate meist direkt.
Die Stimmen für diese Kandidaten würden bei Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs unter Umständen überhaupt nicht mehr zur Geltung kommen. Ich finde, an dieser Stelle werfen Sie, die Grünen, das Problem der
Listenverbindung CDU/CSU völlig zu Recht auf; aber
die Lösung geht allein zulasten Bayerns und hat wenig
mit Gerechtigkeit zu tun. Wir Linken lassen keine Lösung zulasten Bayerns zu.
({7})
Es ist ja nicht so, dass in der Wissenschaft nicht auch
andere Lösungen debattiert werden. Es gibt den Vorschlag, ein reines Mehrheitswahlrecht einzuführen. Das
lehnt die Linke ab. Es gibt den Vorschlag, ein reines Verhältniswahlrecht einzuführen. Ich persönlich kann dem
sehr viel abgewinnen. Wir, die Linke, debattieren darüber aber noch. Es gibt den Vorschlag, ein Grabenwahlsystem einzuführen. Dieses System finden wir nicht
überzeugend. Es gibt den Vorschlag, eine Bundesliste
einzuführen. Diesen Vorschlag lehnt die Linke ab. Außerdem gibt es den Vorschlag, Listenverbindungen abzuschaffen. Auch das lehnen wir ab. Worüber wir ebenfalls
diskutieren, ist die Schaffung von Ausgleichsmandaten.
({8})
Die spannende Frage ist, wann die Koalition einen
Antrag vorlegt. Die Grünen haben wenigstens, wie ich
schon gesagt habe, etwas vorgelegt. Ich befürchte, dass
wir Folgendes erleben werden - in diesem Parlament ein
normales Schauspiel -: Kurz vor knapp kommt ein Antrag. Er wird an die Ausschüsse überwiesen. Dann findet
eine Anhörung statt. Diese Anhörung wird nicht ausgewertet, und dann wird hier ruck, zuck ohne seriöse Debatte entschieden. - Dieses Verfahren lässt Bürgerinnen
und Bürger außen vor, im Übrigen auch Parteien; denn
dann entscheiden allein die Fraktionen.
Wir als Linke debattieren seit mehr als einem halben
Jahr über das Wahlrecht. Wir debattieren darüber, dass
Änderungen am Wahlrecht an mehr Stellen als allein in
Bezug auf das negative Stimmgewicht nötig sind. Wir
finden, dass die Gestaltung unseres Wahlrechts eine
Frage der Demokratiegestaltung ist. Es muss beim Wahlrecht darum gehen, wie wir Bürgerinnen und Bürgern
mehr Einfluss auf Politik geben.
({9})
Bürgerinnen und Bürger engagieren sich: Tausende
waren bei Antiatomprotesten. 20 000 haben das Bündnis
„Dresden Nazifrei!“ bei der Blockade unterstützt.
Circa 20 000 haben an der Demonstration „Freiheit statt
Angst“ teilgenommen. Die Wahlbeteiligung hingegen
sinkt. Dass die Wahlbeteiligung sinkt, hat sicherlich etwas mit Schröders Basta-Politik zu tun, und auch „Muttis Moratoriumspolitik“ wird daran nichts ändern.
({10})
- Ich habe noch ein bisschen Redezeit. Warten Sie ab. Wir haben jedoch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich
Bürgerinnen und Bürger zwar engagieren, aber entweder
weniger oder gar nicht in Parteien. Das ist ein Problem.
Wir müssen uns fragen, ob nicht das Wahlrecht eine
Möglichkeit bietet, die Demokratie zu demokratisieren.
Reden wir doch einmal über das Verfahren der Zulassung von Parteien. Man trifft sich im Bundeswahlausschuss, in dem die im Bundestag vertretenen Parteien
über die Zulassung ihrer Konkurrenz entscheiden,
({11})
und das nach den Kriterien des § 2 Parteiengesetz, in
dem es um so wichtige Fragen wie die Ernsthaftigkeit
der politischen Zielsetzung geht. Ehrlich gesagt, finde
ich es schon absurd, dass die Parteien über die eigene
Konkurrenz entscheiden. Dass diese Entscheidung anhand dieser interpretierbaren Kriterien getroffen wird, ist
viel absurder. Der Gipfel der Unverschämtheit ist aber,
dass Parteien, die vom Bundeswahlausschuss nicht zugelassen werden, nicht einmal die Chance haben, sich
einzuklagen. Mindestens das hätten die Grünen in ihrem
Gesetzentwurf aufgreifen müssen.
({12})
Wir, die Linke, debattieren seit einem halben Jahr
über die Demokratisierung des Wahlrechts. Ich verspreche Ihnen: Wir legen Ihnen mehr auf den Tisch als nur
Antworten auf die bereits gestellten Fragen.
Wir debattieren darüber, wie der Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Parteilisten erhöht werden
kann, und wir debattieren darüber, ob es dazu sinnvoll
ist, drei Stimmen innerhalb einer Landesliste verteilen
zu können.
Wir debattieren darüber, ob es das Wahlrecht vereinfachen würde, wenn die Erststimme entfallen würde.
Wir debattieren darüber, wie konkret der Rechtsschutz einer Partei bei Nichtzulassung zur Wahl aussehen kann und ob wir die Wahlausschüsse wirklich benötigen.
Wir debattieren darüber, ob die 5-Prozent-Hürde in
Deutschland tatsächlich erforderlich ist, um die Demokratie zu bewahren.
Wir debattieren, ob neben dem aktiven Wahlalter
auch das passive Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden
soll.
({13})
Wir debattieren, ob das Wahlrecht für Menschen, die
legal länger hier in Deutschland leben, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, eingeführt werden soll.
Seien Sie sicher, in Kürze erhalten Sie einen umfassenden Vorschlag von uns!
Es geht aber um mehr als das Wahlrecht. Für uns ist
das Wahlrecht nur ein Bestandteil der Erneuerung der
Demokratie. Wir finden, dass ein umfassendes Demokratisierungskonzept nötig ist. Dazu gehören für uns beispielsweise die Ausweitung des Petitionsrechts, mehr
Möglichkeiten zu direkter Demokratie, das Verbot von
Leihbeamten in Ministerien und das Verbot von Spenden
von Unternehmen an Parteien.
Wir wollen auch einen Demokratisierungs-TÜV bei
allen Gesetzen, die beschlossen werden, und eine Bundesregierung, die ihr Handeln an Recht und Gesetz
orientiert.
({14})
Mit einem Demokratisierungs-TÜV beispielsweise wäre
Hartz IV gescheitert, und nicht nur, weil Hartz IV Armut
per Gesetz ist. Hartz IV ist nämlich auch ein Demokratiebeteiligungsausschlussgesetz. Gerade im ländlichen
Raum ist es mit dem Regelsatz fast unmöglich, sich an
politischen Entscheidungsprozessen und Aktionen zu
beteiligen. Schauen Sie sich einmal an, wie viel im Regelsatz für Fahrtkosten vorgesehen ist. Außerdem - wir
reden ja über Wahlen - stellt die Anrechnung von Aufwandsentschädigungen für die Wahrnehmung kommunaler Mandate, zumindest teilweise, eine Unverschämtheit dar, weil sie eine Schlechterbehandlung ist.
({15})
Die Grünen springen zu kurz mit ihrem Gesetzentwurf. Er ist inhaltlich nicht überzeugend. Es ist mehr nötig als eine Änderung des Wahlgesetzes anhand der von
Ihnen aufgeworfenen Fragen. Die Regierungskoalition
sollte schnell etwas auf den Tisch packen. Wir alle sind
aufgefordert, das Wahlrecht umfassend zu reformieren.
Ich bitte Sie: Denken Sie über die Einführung eines Demokratie-TÜV nach!
({16})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Darauf komme ich noch zu sprechen.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben ein in der Tat kompliziertes
Rechtsproblem zu lösen. Als Jurist sagt man gewöhnlich: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.
Ein Blick ins Grundgesetz erleichtert vielleicht die Klärung dieser komplizierten Rechtsfrage. Art. 38 Abs. 1
Satz 1 lautet:
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher
und geheimer Wahl gewählt.
Es geht also darum, wie wir unser Wahlrecht organisieren, um diese Grundsätze unserer Demokratie zu erfüllen.
Nun haben die Grünen einen Vorschlag gemacht, der
nicht ganz taufrisch ist. Er kommt uns bekannt vor; denn
er ist ziemlich wortgleich vor zwei Jahren, wie ich
glaube, schon einmal eingebracht worden.
({0})
- Ein Plagiat in eigener Sache.
Es ist also nicht so, dass Sie, Kollege Beck, sich ganz
neue Gedanken gemacht haben, über die wir uns jetzt
unbedingt austauschen müssen. Dennoch müssen wir
uns damit beschäftigen, und ich setze mich gern mit Ihrem Antrag auseinander.
({1})
Sie sagen, dass im Falle von Überhangmandaten vom
Volk gewählte Abgeordnete, die einen Wahlkreis direkt
gewonnen haben, nicht in dieses Hohe Haus einziehen
dürfen sollen.
({2})
Man muss sich die Absurdität dieses Vorschlags einmal
zu Gemüte führen. In Ihrem Vorschlag heißt es:
Erzielt eine Partei bei der Zuteilung mehr Direktmandate, als ihr Sitze nach Absatz 5 zustehen, so
werden die überzähligen Wahlkreissitze der Kandidaten dieser Partei mit dem geringsten prozentualen
Stimmenanteil nicht besetzt; …
Man muss sich das einmal vorstellen. Von einer Partei
wurden 20 oder 30 Personen gewählt, und man sucht
sich die heraus, die den geringsten prozentualen Anteil
haben. Diese sind zwar vom Volke gewählt, können aber
nicht ins Parlament einziehen. Das ist allen Ernstes Ihr
Vorschlag, meine Damen und Herren!
Was ist das für ein Signal, das Sie nach außen senden?
Was haben Sie für eine Beziehung zum Wählervolk?
Was für eine Beziehung haben Sie zum Wahlkreis? Wie
ernst nehmen Sie die Mehrheitsentscheidung von Wählern bei einer demokratischen Wahl im jeweiligen Wahlkreis? Die Wähler entscheiden sich doch aus guten
Gründen für diesen oder jenen Kandidaten. Dann werden die Stimmen zusammengezählt, und man kommt zu
einem Ergebnis. Der Wähler hat sich entschieden, und
sei es nur mit einer Stimme - diese Mehrheitswahl ist ein
ehernes Prinzip der Demokratie -: Der Kandidat A oder
die Kandidatin B soll uns im deutschen Parlament vertreten.
Jetzt sagen Sie, wenn es zu viele Überhangmandate
gebe, müssten diese ausgeglichen werden. Das würde
dazu führen, dass die Wähler in dem einen oder anderen
Wahlkreis Pech gehabt haben, es für sie dumm gelaufen
ist.
({3})
- Eben, Wahlkreis zweiter Klasse. - Das heißt, die Erststimmen der Minderheit verfallen ebenso wie die Erststimmen der Mehrheit. Damit werden alle Erststimmen
eines gesamten Wahlkreises in den Papierkorb geworfen.
Das kann man doch nicht allen Ernstes vorschlagen.
Herr Ströbele, reden Sie mit Ihrem Kollegen Beck!
({4})
Stellen Sie sich einmal vor, man würde mit Ihnen, dem
glorreichen grünen Abgeordneten Ströbele, dem einzigen direkt gewählten Abgeordneten der Grünen, so verfahren,
({5})
indem in Ihrem Wahlkreis sowohl die Erststimmen für
die anderen als auch die Erststimmen für den großen
Ströbele unter den Tisch fallen gelassen würden, weil
Sie dort so knapp abgeschnitten haben.
Ich kann mir schon vorstellen, dass die Partei der
Grünen ein gestörtes Verhältnis zum direkt gewählten
Abgeordneten hat.
({6})
- Weil Sie nur einmal eine Erfahrung mit einem direkt
gewählten Abgeordneten gemacht haben, nämlich mit
Herrn Ströbele. Man schaue sich einmal an, wie er von
seiner Fraktion behandelt wird, wie oft er für die Grünen
im Parlament sprechen darf. Er ist ein unsicherer Kantonist, weil er vom Volk direkt gewählt ist, und deswegen
ist er keine schützenswerte Persönlichkeit.
Ihr Vorschlag ist wirklich wirr. Ich bitte Sie: Ziehen
Sie Ihren Antrag zurück! Sie können damit nur Schaden
anrichten.
({7})
Der Antrag ist auch deswegen verwunderlich, weil
die Grünen doch eigentlich die Partei sind, die sich auf
die Fahnen geschrieben hat: mehr direkte Demokratie,
mehr unmittelbarer Bezug zwischen Volk und RegierenDr. Hans-Peter Uhl
den, mehr direkte Einflussnahme der Menschen draußen
im Lande auf das, was wir hier tun. Aber nun wollen Sie
beschließen, dass das Mandat einer Person, für die sich
die Menschen in einem Wahlakt klar entschieden haben,
zusammen mit den anderen, die zu viel sind, da sie aus
arithmetischen Gründen nicht ins Schema passen, gestrichen wird. Damit treffen Sie die von der Mehrheit des
Volkes direkt Gewählten. Das ist doch kein grüner Gedanke; das ist ein völlig abwegiger Gedanke. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie auf eine solche Idee kommen können.
Dann sagen Sie, die Wähler in dem Wahlkreis, die das
Pech gehabt haben, dass keiner ihrer Kandidaten ins Parlament gekommen ist, können ja 50 Kilometer weiter
fahren, in den Nachbarwahlkreis, wo die Wähler vielleicht mehr Glück gehabt haben, weil sie ihren Kandidaten in den Bundestag bringen konnten. Ist das Ihr Vorschlag als Notlösung für diese Fälle?
({8})
Nach der Evidenztheorie ist dieser Idee, wie man als
Jurist sagt, die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben. Sie ist völlig abwegig.
({9})
Herr Wieland, Sie sind doch auch ein guter Jurist. Warum haben Sie nicht gegen diesen wirren Vorschlag Protest eingelegt?
({10})
Frustrieren Sie die Wähler nicht durch solche Vorschläge; denn Sie würden ihnen die Wirkungslosigkeit
ihrer Stimme vor Augen führen, wenn Sie so etwas zum
Gesetz machen würden.
({11})
Ich rede hier nicht pro domo. Ich bin in einem großstädtischen Wahlbezirk, in München, viermal direkt gewählt worden. Ich habe mit Ihrem Vorschlag keine Probleme; nicht dass Sie denken, ich hätte Angst davor. Wir
haben in Bayern - es wurde schon von der Kollegin der
Linken angesprochen - alle 44 Wahlkreise direkt gewonnen, ohne Ausnahme. Dadurch haben wir viele Überhangmandate. Wir haben das einmal durchgerechnet.
Wenn Ihr Vorschlag Gesetz würde, würde es auf die
CSU, auf Bayern, auf uns angewandt werden. Schauen
wir einmal, wer diejenigen sind, die jetzt im Parlament
sitzen und das geringste Wahlergebnis haben. Da sind in
der Tat der Kollege aus München-Nord, der Kollege
Singhammer, und der Kollege aus München-Ost, der
Kollege Frankenhauser, zu nennen. Wenn es drei wären,
wäre noch die Kollegin Dagmar Wöhrl aus Nürnberg betroffen. Sie alle wären dann nicht mehr im Parlament.
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich
könnte damit leben, zusammen mit dem Kollegen
Gauweiler München im Deutschen Bundestag allein zu
vertreten.
({12})
Aber ist das wirklich Ihr Hauptinteresse? Wollen Sie das
wirklich?
({13})
Ich könnte, wie gesagt, gut mit der Schlagzeile leben:
Gauweiler und Uhl vertreten München im Parlament.
({14})
- Bei uns beiden wird es Ihnen nicht gelingen; das ist
das Problem, das Sie haben.
({15})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir sollten
uns dem Auftrag, den das Bundesverfassungsgericht uns
gegeben hat, mit allem Ernst widmen. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass Überhangmandate
verfassungswidrig sind, und es hat nicht gefordert, Überhangmandate abzuschaffen. Es hat nur die abwegige, bizarre Situation bei der Nachwahl in Dresden zum Anlass
genommen, festzustellen: Ein Wahlsystem, bei dem eine
Partei davor warnt, ihr die Zweitstimme zu geben, weil
sie durch mehr Zweitstimmen einen Nachteil hat, kann
nicht richtig sein. Das ist in der Tat eine bizarre Situation. Die Ursache dafür muss beseitigt werden. Daran
sollten alle Parteien arbeiten.
Ich halte es für ganz schädlich, bei der Reform des
Wahlrechts eine knappe Mehrheitsentscheidung herbeizuführen. Wahlrecht ist materielles Verfassungsrecht.
Jede Mehrheit im Parlament sollte bemüht sein, so viele
Stimmen der Opposition wie möglich für ein verändertes
Wahlsystem zu gewinnen. Unser Wahlsystem hat uns
60 Jahre lang gute Dienste erwiesen. Die Kombination
aus Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht ist zugegebenermaßen etwas kompliziert, aber dem Grunde
nach gar nicht so schlecht. Wir sollten uns zusammensetzen und den Effekt des negativen Stimmgewichts
- vielleicht nicht vollständig, aber zu großen Teilen ausgleichen. Wenn wir uns zusammensetzen - die Grünen haben sich zwei-, dreimal einer Teilnahme an Besprechungen mit uns verweigert; das sollte hier auch einmal erwähnt werden -,
({16})
sollte es möglich sein, mit möglichst vielen Fraktionen
dieses Hohen Hauses ein neues Wahlrecht zu kreieren.
Wir sind daran interessiert. Wir wollen keinen Alleingang der Koalition. Wir wollen mit allen Kräften in die10948
sem Parlament dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts gerecht werden
({17})
und das negative Stimmgewicht - aber nur dieses - beseitigen.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in diesen Tagen sicherlich andere Themen,
die die Menschen bewegen, als das Wahlrecht. Aber das
Wahlrecht ist nun einmal Grundlage unserer Demokratie. Es ist Voraussetzung für die demokratische Teilhabe
der Bürgerinnen und Bürger. Das Wahlrecht muss garantieren, dass der Wählerwille in diesem Hause abgebildet
wird. Es regelt die Legitimation von uns allen hier im
Hause. Herr Krings, es handelt sich eben nicht um ein
Luxusproblem.
Wahlrechtsfragen sind natürlich immer auch Machtfragen. Das Wahlrecht entscheidet über die Mehrheitsverhältnisse im Haus. Deshalb betrifft dieses Thema alle
Fraktionen. Daher haben wir in der Vergangenheit Änderungen im Wahlrecht stets gemeinsam vorgenommen.
Herr Uhl, das Gesprächsangebot, das Sie heute gemacht
haben, nehmen wir von der SPD natürlich gerne an.
Aber es hat sehr lange gedauert, bis Sie uns dieses unterbreitet haben.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2008 das
sogenannte negative Stimmgewicht für verfassungswidrig erklärt. Ich will noch einmal den Grund nennen: Bei
bestimmten Konstellationen kann ein Zuwachs bei den
Zweitstimmen einer Partei dazu führen, dass sie ein
Mandat verliert. Auf der anderen Seite kann die Nichtabgabe einer Stimme für die Partei, die der Wähler eigentlich unterstützen will, von Vorteil sein. Dieser Effekt
wurde bei der Nachwahl 2005 in Dresden offensichtlich.
Dadurch werden die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletzt. Deshalb hat der Zweite
Senat des Bundesverfassungsgerichts den Gesetzgeber
verpflichtet, bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu finden.
Leider müssen wir aber heute, gut drei Monate vor
Ablauf dieser Frist, feststellen: Die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen tun nichts. Es gibt keinen Gesetzentwurf, nicht einmal Eckpunkte. Auch in der
heutigen Debatte habe ich keinen entsprechenden Vorschlag gehört. Es gab Gespräche zwischen den Fraktionen. Sie sind nicht weitergeführt worden. Ich weiß nicht,
mit wem Herr Ruppert Gespräche geführt hat, aber man
muss das einmal auf eine vernünftige Basis stellen. Es
gab Gespräche zwischen den Parlamentarischen Geschäftsführern, und wir können natürlich untereinander
jederzeit Gespräche führen. Aber wir werden nicht zu einer Lösung kommen, wenn es dafür keinen offiziellen
Rückhalt von oben gibt.
Was können wir tun? Es gibt natürlich - das ist schon
angesprochen worden - rechnerische, theoretische Möglichkeiten, das Wahlrecht zu ändern, um ein negatives
Stimmgewicht zu vermeiden. Wir wollen aber das System, das sich auch nach unserer Ansicht bewährt hat,
nicht gänzlich aushebeln, indem wir ein reines Mehrheitswahlrecht oder ein reines Verhältniswahlrecht einführen. Wir wollen im System bleiben, aber zugleich
auch die Problematik der Überhangmandate regeln.
Überhangmandate können einer Fraktion an die Regierung verhelfen, auch wenn sie nicht die Mehrheit der
Wählerstimmen hat. Überhangmandate können zu wechselnden Mehrheiten im Bundestag führen. Scheidet ein
Abgeordneter, in dessen Bundesland es Überhangmandate gibt, aus dem Bundestag aus, so gibt es keinen
Nachrücker über die Landesliste. Es ist schon angesprochen worden, dass es zum Beispiel für Herrn zu
Guttenberg keine Nachbesetzung gibt. Bei knappen Regierungsmehrheiten könnte das dazu führen, dass sich
während einer Legislaturperiode die Mehrheiten verändern.
Was schlagen die Grünen jetzt vor? Sie wollen die
Überhangmandate einer Partei mit den Listenmandaten
dieser Partei in einem anderen Bundesland verrechnen.
Das hätte zur Konsequenz, dass eine Partei, die in einem
Bundesland ein Überhangmandat erzielt, in einem anderen Bundesland ein Listenmandat weniger erhält. Das ist
zwar rechtlich machbar, weil das Bundesvolk und nicht
die Ländervölker wählen. Aber die Akzeptanz in den
Landesverbänden, die vermutlich keine Überhangmandate haben werden und auf Listenmandate verzichten
müssten, geht gegen null.
Sie regeln in dem vorgelegten Entwurf die Schwachstelle Ihres letzten Entwurfs neu, nämlich die Frage, wie
Überhangmandate verrechnet werden sollen, wenn eine
Partei nur in einem Bundesland antritt. Das betrifft ja
insbesondere die CSU. Sie schlagen vor, dass, wenn
Überhangmandate entstehen, nur so viele direkte Bewerber ein Mandat erhalten, wie ihre Partei Mandate über
Zweitstimmen bekommt.
Ich spreche jetzt nicht so sehr für die CSU, aber dieser
Fall kann natürlich auch in Bezug auf alle anderen Parteien eintreten, auch hinsichtlich der SPD in Bayern.
Deshalb wollen wir das nicht. Es ist den Bürgerinnen
und Bürgern nämlich nicht vermittelbar, dass ein Direktkandidat, den sie mit Mehrheit im Wahlkreis gewählt haben, diesen Wahlkreis im Bundestag dann nicht vertritt.
Wir schlagen Ihnen ein zweistufiges Verfahren vor;
Kollege Oppermann hat das mehrfach auch schon
schriftlich getan. Für die Wahl des nächsten Bundestages
wollen wir die Überhangmandate zunächst durch Ausgleichsmandate ausgleichen. Diese zusätzlichen Ausgleichsmandate würden den Bundestag vergrößern; das
ist richtig. Deshalb bieten wir an, in einem zweiten
Schritt die Anzahl der Wahlkreise zu reduzieren, um den
Bundestag auf die Größe von knapp 600 Abgeordneten
zurückzuführen.
Wir haben heute viel darüber diskutiert, wo die
Schwierigkeiten und Nachteile der einzelnen Modelle
liegen. Wir haben allerdings keinen wirklichen Vorschlag vonseiten der Koalitionsfraktionen gehört. Ich
schlage Ihnen deshalb vor, noch einmal in ernsthafte Gespräche einzutreten und uns noch einmal Sachverstand
von außen zu holen. Lassen Sie uns deshalb noch einmal
eine Anhörung terminieren und uns wirklich darum bemühen, dieses spezielle Problem, dessen Lösung uns das
Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat, noch vor der
nächsten Bundestagswahl zu lösen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4694 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis d sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung ({0}) Nr. 4/2009 und
zur Neuordnung bestehender Aus- und Durchführungsbestimmungen auf dem Gebiet des
internationalen Unterhaltsverfahrensrechts
- Drucksache 17/4887 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
vorläufige Durchführung unmittelbar geltender Vorschriften der Europäischen Union über
die Zulassung oder Genehmigung des Inverkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln
- Drucksache 17/4985 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Lange, Dirk Fischer ({3}), Arnold Vaatz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick
Döring, Werner Simmling, Oliver Luksic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sicherheit im Eisenbahnverkehr verbessern Streckennetz mit Sicherungssystemen ausstatten
- Drucksache 17/5046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Sönke Rix, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rechtsextremistische Einstellungen im Sport
konsequent bekämpfen - Toleranz und Demokratie nachhaltig fördern
- Drucksache 17/5045 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({5})
Innenausschuss
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 32
Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zugang zu verwaisten Werken erleichtern
- Drucksache 17/4695 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 33 a bis o auf.
Es handelt um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich weise darauf
hin, dass wir über Tagesordnungspunkt 33 e namentlich
abstimmen werden. Bitte begeben Sie sich erst zu den
Urnen, wenn ich die namentliche Abstimmung aufrufe.
Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des BVL-Gesetzes
- Drucksache 17/4381 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7})
- Drucksache 17/5034 Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Kirsten Tackmann
Friedrich Ostendorff
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5034, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf 17/4381 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthaltung der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertsechzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 17/4403, 17/4499 Nr. 2, 17/4774 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4774, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/4403 nicht zu verlangen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das ganze Haus hat
zugestimmt. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({9}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Verbraucherfreundliche Rücknahmepflicht
des Einzelhandels für Energiesparlampen
durchsetzen
- Drucksachen 17/2121, 17/3684 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Rief
Waltraud Wolff ({10})
Dr. Erik Schweickert
Nicole Maisch
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3684, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/2121 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({11}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner,
Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bürgerfreundliches Rücknahmesystem für gebrauchte Energiesparlampen im Handel einrichten
- Drucksachen 17/1583, 17/3278 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3278, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1583 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen bei uneinheitlicher Stimmabgabe der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({12}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm,
Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gegen Armut und soziale Ausgrenzung - So-
ziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertrags-
werk aufnehmen
- Drucksachen 17/902, 17/4773 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Johann Wadephul
Dr. Eva Högl
Alexander Ulrich
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4773, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/902 abzulehnen.
Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die
Linke namentlich über die Beschlussempfehlung ab. Zu
dieser Abstimmung liegen mir Erklärungen nach § 31
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
unserer Geschäftsordnung vor.1) Ich bitte die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein-
zunehmen. - Kann ich die Abstimmung eröffnen? Sind
alle notwendigen Schriftführer an den vorgesehenen
Plätzen versammelt? - Das ist der Fall. Dann ist die Ab-
stimmung eröffnet.
Darf ich fragen, ob alle anwesenden Mitglieder des
Hauses ihre Stimme abgegeben haben? - Ich höre keinen
Protest. Dann ist das also der Fall. Ich schließe die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis
der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort.
Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkt 33 f bis o.
Tagesordnungspunkt 33 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
({13})
Sammelübersicht 224 zu Petitionen
- Drucksache 17/4864 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 224 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 225 zu Petitionen
- Drucksache 17/4865 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 225 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 226 zu Petitionen
- Drucksache 17/4866 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 226 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 227 zu Petitionen
- Drucksache 17/4867 -
1) Anlagen 5 bis 8
2) Ergebnis Seite 10954 D
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 227 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 228 zu Petitionen
- Drucksache 17/4868 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 228 ist bei Enthaltung
der Linken mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 229 zu Petitionen
- Drucksache 17/4869 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 229 ist gegen die Stimmen der SPD-Fraktion mit den Stimmen der anderen
Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 230 zu Petitionen
- Drucksache 17/4870 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 230 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
von Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 231 zu Petitionen
- Drucksache 17/4871 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 231 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 232 zu Petitionen
- Drucksache 17/4872 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 232 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 33 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 233 zu Petitionen
- Drucksache 17/4873 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht 233 ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf:
a) -Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung ({23})
- Drucksache 17/4182 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung ({24})
- Drucksache 17/4802 - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung ({25})
- Drucksache 17/1411 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({26})
- Drucksache 17/5067 ({27}) -
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Daniel Volk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Finanzausschusses ({28})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Steuerhinterziehung wirksam und zielgenau
bekämpfen
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht
dem Zufall überlassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen
- Drucksachen 17/1755, 17/4670, 17/1149, 17/1765,
17/5067 ({29}) Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Daniel Volk
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP liegt ein Entschließungsantrag der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({30})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf beweisen die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP erneut, dass unionsgeführte Bundesregierungen seit 2005 die Steuerhinterziehung energisch bekämpfen.
({0})
Ich nenne einige Beispiele: Wir haben die Strafverfolgung bandenmäßiger Hinterziehung von Umsatz- und
Verbrauchsteuern auf eine rechtlich tragfähige Grundlage - § 370 Abs. 3 der Abgabenordnung - gestellt. Wir
haben erstmals die Möglichkeit der Anordnung der Telekommunikationsüberwachung bei schweren Steuerhinterziehungstatbeständen eingeführt. Wir haben die Verjährungsfrist für besonders schwere Steuerhinterziehung
auf zehn Jahre verlängert. In diesem Jahr haben wir es
erreicht, dass der Informationsaustausch mit zahlreichen
Finanzzentren nach OECD-Standard erfolgt.
Suaviter in modo, fortiter in re, wie schon die alten
Römer sagten, also verbindlich im Umgang, aber hart in
der Sache, das ist dabei unser Motto. Wir beleidigen weder die Indianer noch die Republik Burkina Faso mit ihrer Hauptstadt Ouagadougou; dafür bekämpfen wir die
Steuerhinterziehung wirkungsvoll.
Zentrales Thema dieses Gesetzentwurfs war die
Frage, ob wir die strafbefreiende Selbstanzeige gemäß
§ 371 Abgabenordnung beibehalten wollen oder nicht.
Grundsätzlich halten wir, die Koalitionsfraktionen, an
der Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige fest,
da wir den an der Steuerhinterziehung Beteiligten einen
Berichtigungsweg offenhalten wollen. Außerdem liegt
die strafbefreiende Selbstanzeige im staatlichen, fiskalischen Interesse, da viele Sachverhalte ansonsten nicht
aufgedeckt würden, auch nicht bei einem wesentlich
größeren Ermittlungseinsatz. Deshalb führt dieser Weg
letztendlich zu einem höheren Steueraufkommen. Gerade in letzter Zeit erfolgten als Folge des Ankaufs der
CDs Zehntausende von Selbstanzeigen, die zu Mehreinnahmen von mehreren Milliarden Euro führten.
Wir halten daher grundsätzlich an der strafbefreienden Selbstanzeige fest. Diese ist entgegen einer weit verbreiteten Meinung auch kein Fremdkörper im Strafrecht.
Wir haben im Strafrecht zahlreiche Regelungen, wo
auch nach Vollendung der Tat noch durch tätige Reue ein
gesetzlicher Anspruch auf Strafbefreiung entsteht,
({1})
etwa, Herr Poß, bei der freiwilligen Aufgabe der Geldfälschung, auch wenn das gefälschte Geld bereits in Umlauf gebracht worden ist. Wenn der Täter dann das Tatwerkzeug vernichtet, hat er immer noch einen Anspruch
auf Strafbefreiung. Ein anderes Beispiel ist die Selbstanzeige bei Geldwäsche oder bei der Verhinderung von
Subventionsbetrug.
({2})
Also, die strafbefreiende Selbstanzeige entspricht einem allgemeinen Grundsatz des Strafrechts, dass es in
bestimmten Fällen im staatlichen Interesse liegt, die tätige Reue auch mit einem Strafbefreiungsanspruch zu
honorieren.
Auch die die Steuern verwaltenden Länder befürworten das letztlich. Herr Poß, ich zitiere da Ihren Finanzminister von Rheinland-Pfalz, den Herrn Kühl,
({3})
wortwörtlich:
Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbefreiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich
profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst anzeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver
als der Einsatz von Ermittlern.
So Herr Kühl, SPD.
({4})
Dementsprechend hat auch der Bundesrat am 11. Februar 2011 mit überragender Mehrheit einen entsprechenden Gesetzentwurf gebilligt.
Der heute hier zu beratende Gesetzentwurf geht auf
eine Initiative meiner Fraktion vom März des vergangenen Jahres zurück, bei der wir gesagt haben, wir wollen
die strafbefreiende Selbstanzeige grundsätzlich beibehalten, aber wir wollen sie dahin gehend einschränken,
dass sie nicht mehr als Teil einer Hinterziehungsstrategie
missbraucht werden kann.
Deshalb haben wir damals drei Maßnahmen vorgeschlagen. Wir wollen erstens den Ausschluss der Teilselbstanzeige. Wir wollen eine Straffreiheit nur bei umfassender Selbstanzeige.
Wir wollen zweitens den früheren Ausschluss der
Selbstanzeige, nicht erst beim Erscheinen des Prüfers,
sondern bereits bei der Bekanntmachung der Prüfungsanordnung.
Wir wollen drittens einen Zuschlag zu den Hinterziehungszinsen, um den Steuerhinterzieher wirtschaftlich
stärker zu belasten.
Lassen Sie mich mit dem Ausschluss der Teilselbstanzeige beginnen. In der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses wurde der Ausschluss der Teilselbstanzeige
noch einmal präzisiert.
Bis Anfang letzten Jahres hatte die Rechtsprechung
des BGH Teilselbstanzeigen als wirksam angesehen. Es
reichte also aus, dass ein Konto angegeben wurde, dann
war man insoweit straffrei. Das galt auch während der
Amtszeit Ihres - das sage ich in Richtung der linken
Seite des Hauses - Bundesfinanzministers Lafontaine.
Der sah damals offenbar keinen Anlass, an dieser doch
relativ großzügigen Regelung irgendetwas zu ändern.
Mit Grundsatzbeschluss vom 20. Mai 2010 hat der
BGH das eingeengt. Er hat eine ausreichende Teilselbstanzeige nur noch dann angenommen, wenn der Steuerpflichtige seine unvollständige Einkommensteuererklärung dahin gehend berichtigt, dass er bislang gänzlich
verschwiegene Zinseinkünfte nicht nur eines Kontos angibt, sondern aller Konten. Der BGH verlangt also zumindest seit Mai des letzten Jahres eine vollständige
Selbstanzeige der gesamten Tat, also etwa die komplette
Einkommensteuererklärung für einen Veranlagungszeitraum.
Unser Gesetzentwurf wird hier noch deutlicher. Für
eine wirksame Selbstanzeige ist es künftig erforderlich,
dass alle unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart
vollständig offenbart werden. Anknüpfungspunkt ist die
einzelne hinterzogene Steuer, sodass mit der Neuregelung nunmehr alle unverjährten Steuerverkürzungen einer Steuerart, also zum Beispiel alle verkürzten Einkommensteueransprüche der noch nicht verjährten
Veranlagungszeiträume, offenbart werden müssen. Nur
noch dann tritt die strafbefreiende Wirkung der Selbstanzeige ein.
Dabei - das sei hinzugefügt - bedeutet „in vollem
Umfang“ natürlich nicht, dass auf Euro und Cent alles
angegeben werden muss. Bagatellabweichungen sind
nach wie vor möglich. Aber es muss für alle noch offenen Veranlagungszeiträume die Selbstanzeige erklärt
werden. Es wird also keine Salamitaktik bei der Selbstanzeige mehr geduldet, bei der scheibchenweise vorgegangen wird.
Herr Schick, als Folge dieser deutlichen Ausweitung
ist eine Übergangsregelung erforderlich,
({5})
weil eine Strafbarkeit nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz
im Voraus bestimmt sein muss. Nulla poena sine lege.
Diese Übergangsregelung musste also auch aus verfassungsrechtlichen Gründen eingeführt werden.
Lassen Sie mich zum zweiten strittigen Punkt kommen: zur zusätzlichen Zahlung in Höhe von 5 Prozent
der hinterzogenen Steuern. Darüber wurde am intensivsten diskutiert. Politischer Wille der Koalitionsfraktionen
war, den Steuerhinterzieher wirtschaftlich stärker zu belasten als den bloß säumigen Steuerzahler.
Wir haben deshalb gestern im Finanzausschuss vorgeschlagen, dass bei Steuerhinterziehungen über 50 000
Euro pro Tat, das heißt pro Steuerart und pro Veranlagungszeitraum, eine zusätzliche Zahlung in Höhe von
5 Prozent auf den Hinterziehungsbetrag erstmalig eingeführt wird. Die Betragshöhe von 50 000 Euro knüpft an
die Rechtsprechung des BGH zu dem Regelbeispiel des
§ 370 Abs. 3 Nr. 1 Abgabenordnung an, wo das Merkmal des „großen Ausmaßes“ bei 50 000 Euro hinterzogener Steuer als erfüllt angesehen wird.
Rechtstechnisch wird diese Zusatzzahlung wie folgt
ausgestaltet. Für eine Steuerverkürzung mit einem Hinterziehungsvolumen von über 50 000 Euro je Steuerart
und Veranlagungszeitraum wird künftig nach einer
Selbstanzeige allein nicht mehr die Rechtsfolge Straffreiheit eintreten. Vielmehr wird nach dem neuen
§ 398 a Abgabenordnung, der § 153 a Strafprozessordnung nachempfunden ist, nur noch dann von der Strafverfolgung abgesehen, wenn neben der Entrichtung von
Steuern und Hinterziehungszinsen eine Zahlung in Höhe
von 5 Prozent der jeweiligen verkürzten Steuern zugunsten der Staatskasse erfolgt. Wir fassen also die schweren
Steuerhinterzieher deutlich härter an als bisher.
({6})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Herr Präsident, ich bin punktgenau zum Schluss gekommen.
Das ist übertrieben, Sie haben eine Minute überzogen.
({0})
Punktgenau ist auch dieser Gesetzentwurf. Wir wählen punktgenau den richtigen Weg zwischen der Beibehaltung der strafbefreienden Selbstanzeige und ihrer
Einschränkung, um künftig den Missbrauch als Teil einer Hinterziehungsstrategie zu verhindern.
Danke.
({0})
Wenn das punktgenau ist: Sie haben Ihre Rede um
22 Prozent überzogen, wie ich sofort im Kopf ausgerechnet habe.
Zwischendurch gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung zur Beschlussempfehlung
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Gegen Armut und soziale Ausgrenzung - Soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnehmen“,
Drucksachen 17/902 und 17/4773, bekannt: abgegebene
Stimmen 561. Mit Ja haben gestimmt 434, mit Nein haben gestimmt 64, Enthaltungen 63. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 561;
davon
ja: 434
nein: 64
enthalten: 63
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({4})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({5})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({6})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({7})
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({8})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({9})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
hierse
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({10})
Anita Schäfer ({11})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({12})
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({13})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({14})
Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({15})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({16})
Peter Weiß ({17})
Sabine Weiss ({18})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Lothar Binding ({19})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({20})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({21})
Hubertus Heil ({22})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({23})
Frank Hofmann ({24})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({25})
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange ({26})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({27})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({28})
Marlene Rupprecht
({29})
Axel Schäfer ({30})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({31})
Werner Schieder ({32})
Ulla Schmidt ({33})
Silvia Schmidt ({34})
Carsten Schneider ({35})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({36})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Waltraud Wolff
({37})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({38})
Florian Bernschneider
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({39})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({40})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({41})
Michael Link ({42})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({43})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({44})
Dirk Niebel
hierse
Hans-Joachim Otto
({45})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({46})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({47})
Nein
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({48})
Dr. Ilja Seifert
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({49})
Volker Beck ({50})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({51})
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({52})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({53})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nun erteile ich als nächstem Redner in dieser Debatte
dem Kollegen Martin Gerster für die SPD-Fraktion das
Wort.
({54})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Herr Kolbe, wenn man Ihnen hier zuhört, kann man sich eigentlich nur wundern. Sie sagen,
wie toll und wie schön diese Koalition sei, wie toll dieses Schwarzgeldbekämpfungsgesetz sei. Der Beifall aus
den Reihen der Koalition war ja auch phänomenal; er
war richtig tosend.
({0})
Wenn man sich die Entwicklung dieses Gesetzentwurfes und das Ergebnis genauer anschaut, könnte man
leicht auf die Idee kommen, bei dem Titel Ihres Gesetzentwurfes handele es sich um einen Tippfehler. Man
könnte denken, dass Sie statt Schwarzgeldbekämpfungsgesetz eigentlich ein Schwarz-Gelb-Bekämpfungsgesetz
meinten.
({1})
Um es mit den Worten des französischen Politikers
Edgar Faure zu sagen: Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn beide bekommen, was sie eigentlich gar
nicht haben wollten. - Selten passte dieses Zitat so gut
wie bei diesem schwarz-gelben Schwarzgeldbekämpfungsgesetz.
({2})
Auf die Abstimmung mussten wir - mit „wir“ meine
ich die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler lange genug warten. Wir erinnern uns: Ein Jahr ist vergangen seit der Ankündigung einer Initiative durch die
Unionsfraktion. Damals, Anfang 2010 - wir wissen es
genau -, kamen die sogenannten Steuer-CDs auf den
Markt, die reuigen Sünder waren unterwegs und erstatteten Selbstanzeige. Es gab vollmundige Ankündigungen.
CSU-Kollege Michelbach - er ist heute leider nicht da;
er wird wissen, warum - forderte damals in der ARD die
komplette Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige.
({3})
Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller sagte,
Steuerflüchtlinge dürften nicht mehr straffrei davonkommen. Wörtlich sagte er den Satz - er ist fast maßgeschneidert im Hinblick auf Ihren jetzigen Gesetzentwurf,
Ihren Änderungsantrag und die heutige Debatte -: Der
Staat darf sich seinen Anspruch, Unrecht zu bestrafen,
nicht abkaufen lassen. - Wo Herr Müller recht hat, hat er
recht. Das muss man ganz klar sagen.
({4})
Wir, die SPD-Fraktion, haben einen Gesetzentwurf
zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige vorgelegt. Dieser Vorstoß wird von den Praktikern der
Steuer-Gewerkschaft und vielen anderen zweifelsfrei
unterstützt. Es hat allerdings unglaublich lange gedauert,
bis Schwarz-Gelb überhaupt etwas zu Papier gebracht
hat. Ich will anmerken: Womöglich auch vom Urteil des
BGH getrieben - sonst wäre von Ihnen vielleicht gar
nichts gekommen -, haben Sie ein Papier vorgelegt. Unfertig, unsicher und unabgesprochen war Ihr Gesetzentwurf in der ersten Lesung. Von einer Abschaffung der
strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung,
wie ursprünglich angekündigt, war bei Ihnen letztendlich kein Wort mehr zu lesen.
Drei Anhörungen zu diesem Thema im Finanzausschuss haben wir hinter uns. Sachverständige haben uns
eindringlich und wiederholt darauf hingewiesen, welch
fachliche Unzulänglichkeiten Ihr Gesetzentwurf beinhaltet und welche heute schon absehbaren Probleme es bei
der Umsetzung Ihres Gesetzentwurfes in der Praxis geben wird. Doch von all dem wollten Sie nichts wissen.
Ihnen ging es in den Anhörungen - das war der Eindruck von vielen - um etwas anderes. Beide Fraktionen,
die Union auf der einen Seite, die FDP auf der anderen
Seite, haben ihre eigenen Sachverständigen in den Stellungskrieg geschickt, als es um die Frage „Strafzuschlag: ja oder nein?“ ging. Das war in den Anhörungen
des Finanzausschusses das eigentliche Thema. So war
die Gefechtslage.
({5})
Eines war deutlich spürbar: Kopf und Hinterteil der
Koalition marschierten los. Das Problem war nur: Sie
marschierten in unterschiedliche Richtungen. Dann bewegt sich bekanntermaßen gar nichts.
({6})
Im Übrigen: Wer Kopf und wer Hinterteil ist, das überlasse ich an dieser Stelle Ihnen.
({7})
Es ist kein Wunder, Herr Kollege Wissing, dass wir dieses Thema in der letzten Sitzungswoche leider nicht abschließend beraten konnten, weil Sie sich noch nicht einig waren. Aber ich billige Ihnen gerne zu - Sie haben es
gesagt -: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
({8})
Das ist richtig, solange das Ergebnis stimmt.
({9})
Gleich vorweg: Es stimmt nicht.
({10})
Ihr Ziel haben Sie nämlich gründlich verfehlt. Dies gilt
auch im Hinblick auf die Ankündigungen und die gewaltigen Erwartungen, die Sie in dieser Frage selbst geweckt haben. Hier haben Sie kläglich versagt.
({11})
Die größte öffentliche Beachtung fand der Eiertanz
um den Strafzuschlag. Ich gebe Ihnen einen kurzen
Rückblick auf die formulierten Ansprüche und die Wirklichkeit der Kompromissfindung innerhalb der Koalition. In der Zeitschrift Das Parlament hat der FDP-Kollege Daniel Volk noch am 28. Februar dieses Jahres, also
vor weniger als drei Wochen, einen Aufschlag abgelehnt. Wörtlich wurde er wie folgt zitiert:
Der Verwaltungszuschlag ist ein verkappter Strafzuschlag.
({12})
Das passt nicht zu der strafbefreienden Erklärung.
Klaus-Peter Flosbach und Manfred Kolbe von der CDU
sagten dazu wörtlich in derselben Ausgabe der Zeitschrift Das Parlament:
Es ist ein Gebot der Steuergerechtigkeit, dass die
Nachzahlung eines Steuerhinterziehers nicht
ebenso behandelt wird wie die Nachzahlung eines
ehrlichen Steuerzahlers.
({13})
Nur, die Wahrheit ist: Das Problem, dass Steuersäumige finanziell schlechter gestellt sind als der zur Selbstanzeige bereite Steuerkriminelle, beheben Sie mit dem
jetzt auf dem Tisch liegenden Gesetzentwurf überhaupt
nicht.
({14})
Sie treten letztendlich Ihr selbst formuliertes Gebot der
Steuergerechtigkeit mit Füßen. Aus meiner Sicht noch
schlimmer: Demjenigen, der mehr Geld als den neuen
Grenzbetrag von 50 000 Euro auf dem Hinterzieherkerbholz hat, wird die relativ bequeme Möglichkeit eröffnet,
sich gegen Zahlung eines 5-Prozent-Zuschlags von der
Strafverfolgung freizukaufen. Ich frage mich: Welche
Botschaft soll denn davon ausgehen? Wie sagte es doch
der CDU-Ministerpräsident Peter Müller vor einem
Jahr? Ich wiederhole es gerne noch einmal. Er mahnte,
der Staat dürfe sich seinen Anspruch, Unrecht zu bestrafen, nicht abkaufen lassen.
Oder anders: Wer strategisch und in großem Maßstab
Steuern hinterzieht, sollte vielleicht besser gleich die
5 Prozent mit einplanen. Nur wer sich den Zuschlag
nicht leisten kann, wird bestraft. Ihr Koalitionskompromiss - ich denke, das wird deutlich - hat nur ein einziges
Motiv: Angst vor Gesichtsverlust. Generalprävention,
werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, sieht anders aus - effektive Bekämpfung von Steuerhinterziehung auch.
({15})
Geradezu gebetsmühlenartig haben Sie in der Vergangenheit immer wieder beschworen, Steuerhinterziehung
sei kein Kavaliersdelikt. Damit haben Sie natürlich
recht. Denn Steuerhinterziehung ist eine Straftat, die unserem Gemeinwesen das dringend benötigte Geld für
wichtige Aufgaben und Vorhaben entzieht. Sie ziehen
daraus aber leider nicht die notwendigen Konsequenzen.
Ihre Versuche, den Gesetzentwurf zu verteidigen, sind
untauglich.
Herr Kolbe, Sie haben wieder das Prinzip der tätigen
Reue beschworen. Ich sage Ihnen ganz klar: Diese Reue
ist reine Fiktion, genauso wie die Behauptung, der Steuerhinterzieher sei künftig gezwungen, vollständig reinen
Tisch zu machen. Ich zitiere nochmals die Kollegen
Flosbach und Kolbe vom 7. März in der Zeitschrift Das
Parlament:
Strafbefreiung soll nur derjenige erwarten dürfen,
der noch alle verfolgbaren Steuerhinterziehungen
der Vergangenheit vollständig offenbart.
In der Praxis ist dieser Anspruch nicht umsetzbar.
({16})
Sie wissen das spätestens seit der Anhörung, aber Sie haben öffentlichkeitswirksam die Kulisse einer allumfassenden Beichte reumütiger Steuersünder aufgebaut - eine
Kulisse, die sich in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht
wiederfindet.
Ich sage Ihnen voraus: Die Steuerverwaltungen werden sich bei Ihnen noch ganz herzlich bedanken, wenn
die ersten Widersprüche eingegangen und die ersten
Streitfälle anhängig sind. Die Sachverständigen haben in
der Anhörung dazu alles Notwendige gesagt, aber Sie
tragen es auf dem Rücken der Beamtinnen und Beamten
aus.
Angesichts dieser mageren Bilanz des Gesetzentwurfs wäre es besser gewesen, Sie hätten den Mut aufgebracht, einen klaren Schnitt zu machen und die strafbefreiende Selbstanzeige abzuschaffen, wie wir es in
unserem Gesetzentwurf fordern.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat nun Kollege Volker Wissing für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über dieses Thema wurde hier schon viel gesprochen;
das ist ganz klar. Wir haben intensive Beratungen im Finanzausschuss geführt. Nur, lieber Kollege Gerster, Sie
erwecken hier den Eindruck, als hätte die SPD bei diesem Thema jemals gehandelt. Sie reden nur darüber. Die
Koalition hingegen handelt und legt einen konkreten Gesetzentwurf vor. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen,
die es mit der Bekämpfung von Steuerhinterziehung
nicht ernst meinen, und uns, die Fakten schaffen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir verfolgen mit dem Gesetzentwurf genau das, was wir den ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern schuldig sind: Wir sorgen daDr. Volker Wissing
für, dass kein ehrlicher Bürger unter Verdacht gerät, nur
weil er vergessen hat, etwas beim Finanzamt einzureichen. Deshalb bleibt es bis 50 000 Euro bei der strafbefreienden Selbstanzeige für ehrliche Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler, meine Damen und Herren.
({1})
Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass der Ehrliche in
Deutschland nicht länger der Dumme ist, und erhöhen
die Sanktionen. Schwere Fälle der Steuerhinterziehung
werden trotz strafbefreiender Selbstanzeige in Zukunft
schärfer sanktioniert.
Es darf nämlich nicht so wie unter SPD-Finanzministern bleiben. Damals konnte man die strafbefreiende
Selbstanzeige als Geschäftsmodell nutzen. Wer künftig
50 000 Euro an Steuern hinterzieht, bleibt nicht mehr
straffrei, nur weil er sich selbst anzeigt. In diesen Fällen
gilt künftig, dass die Steuerhinterziehung auch bei Selbstanzeige strafbar bleibt. Nur wer sich selbst offenbart und
zusätzlich zu den fälligen Zinsen eine Geldbuße zahlt,
kommt künftig um eine Verurteilung herum. Es kommt
also zur strafverfahrensrechtlichen Einstellung gegen
Geldauflage. Das ist die Konstruktion, die wir gewählt
haben. Das haben Sie noch nicht verstanden. Deswegen
haben Sie hier wenig Sinnvolles gesagt.
({2})
Die unwürdige Situation, dass erst ein Beamter zu
Hause klingeln muss, damit man als entdeckt gilt, wird
von uns abgeschafft. Künftig kann man eine strafrechtliche Prüfungsanordnung zustellen, und dann ist die Falle
zu. Das erhöht das Entdeckungsrisiko, und jeder, der etwas zu offenbaren hat, sollte die Chance nutzen und sich
jetzt ehrlich machen. Unter Schwarz-Gelb wird es ernst
mit der Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das ist
das Signal, das auch von dieser Debatte ausgehen muss.
({3})
Wir haben uns viel Mühe mit der Beratung dieses Gesetzentwurfs gemacht, und das nicht, weil wir unterschiedliche Auffassungen gehabt hätten, sondern weil es
eine komplizierte Sache war. Wir mussten eine verfassungskonforme Lösung finden, wir mussten eine praxistaugliche Lösung finden, und wir mussten - das war der
FDP besonders wichtig - für die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einen fairen Weg der Verschärfung finden. Nicht die Kriminalisierung, die Verdächtigung der Ehrlichen, sondern die Sanktion der Unehrlichen war unser Ziel. Genau das haben wir erreicht.
({4})
Ein Zuschlagen im Falle einer bloßen Korrektur der
Steuererklärung hätte dazu geführt, dass jeder Arbeitnehmer, der eine Kleinigkeit korrigiert hätte, unter dem
Verdacht gestanden hätte, dass er die Korrektur nach einer vorsätzlichen Täuschung vorgenommen hat.
({5})
Wir wollten nicht die Verdächtigung der ehrlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern die schärfere Sanktionierung derjenigen, die systematisch Steuern
hinterziehen. Sie verhalten sich unehrlich.
({6})
Mit der jetzt gefundenen Lösung wird schärfer sanktioniert. Das Geschäftsmodell der Steuerhinterziehung
gibt es in Deutschland nicht mehr. Die Teilehrlichkeit
wird nicht mehr belohnt. Das alles ist uns gelungen. Wir
haben damit eine Lösung erreicht, durch die der Anständige nicht zum Verlierer gemacht wird. Das ist gute Gesetzgebung.
({7})
Wenn einige Sachverständige, die bei der Anhörung
im Finanzausschuss anwesend waren, diese Debatte verfolgen, dann kann ich ihnen sagen: Herzlichen Dank für
all den Sachverstand, den Sie uns zur Verfügung gestellt
haben. Ihre wertvollen Hinweise sind hier ganz konkret
in die Gesetzgebung mit eingeflossen.
({8})
Deswegen haben wir den Entwurf nach der Anhörung
auch noch einmal korrigiert und uns mit der Beratung
Zeit genommen. Wir haben im Ziel keine Unterschiede
gehabt, aber wir wollten die Interessen der ehrlichen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler eben auch berücksichtigt finden, und wir wollten eine verfassungskonforme Lösung.
Sie von der SPD tun hier so, als wären Sie diejenigen,
die die Bekämpfung der Steuerhinterziehung immer verfolgt hätten.
({9})
Seit Jahren reden Sie darüber, passiert ist in der Regierungsverantwortung unter SPD-Finanzministern nichts.
({10})
- Frau Kressl, die SPD hat es mit den Grünen nicht geschafft, die strafbefreiende Selbstanzeige zu verschärfen,
und Sie haben es auch nicht in der Großen Koalition geschafft, dieses Problem zu lösen.
Jetzt kann man sich natürlich fragen, warum das so
ist. Wenn man sich Ihren Alternativvorschlag näher anschaut, dann wird das klar. Sie wollen nämlich keine
wirkliche Lösung und schlagen etwas vor, was nicht
geht. Beantworten Sie doch einmal glaubwürdig folgende Fragen:
Sie wollen die strafbefreiende Selbstanzeige abschaffen. Warum machen Sie einen solchen Vorschlag, durch
den die Verfassung verletzt wird, nach der sich kein Bürger selbst belasten muss und nach der er gleichzeitig an
der vollständigen Erhebung seiner Steuerdaten mitwirken muss? Warum lehnen denn amtierende Finanzminister Ihren Vorschlag ab? Warum haben Sie in elf Jahren
eigener Verantwortung das, was jetzt angeblich ein so
guter Vorschlag ist, nicht umgesetzt? An der CDU/CSU
kann das in der letzten Legislaturperiode jedenfalls nicht
gelegen haben; sie war schnell mit uns einig.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Richard Pitterle für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Wissing, ich befürchte,
Schwarz-Gelb hat ein neues Geschäftsmodell eingeführt.
Das wird sich künftig vielleicht „5 plus“ nennen, aber
dazu komme ich noch.
Die Möglichkeit, durch eine Selbstanzeige der Bestrafung zu entgehen, ist ein Privileg. Von diesem Privileg
profitieren überwiegend Menschen mit viel Geld. Weil
sie das Geld mehr lieben als ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, werden sie zu Steuerhinterziehern, oder sie
entziehen sich der Steuerpflicht, indem sie aus steuerlichen Gründen ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, wie
manches Supermodel oder mancher Supertrainer.
Die Hartz-IV-Empfänger, die sich etwas dazuverdienen, ohne es der Agentur für Arbeit mitzuteilen, haben
dieses Privileg nicht. Sie werden knallhart wegen der Erschleichung von Sozialleistungen angeklagt und müssen
sich vor Gericht verantworten. Finden Sie das gerecht?
Wir nicht. Deshalb gehört nach Meinung der Linken die
strafbefreiende Selbstanzeige abgeschafft. Diese wird
von zu vielen als taktisches Instrument benutzt, wenn es
darum geht, dem Staat die Steuern, die ihm zustehen,
vorzuenthalten.
Steuerhinterziehung ist kriminell. Sie ist kein Kavaliersdelikt. Bei keiner anderen Straftat weiß der Täter
von vornherein, dass die Straftat schon dann, wenn er
nur eine Bedingung erfüllt, ohne Folgen bleibt. Das bedeutet, dass die strafbefreiende Selbstanzeige dazu beiträgt, Steuerhinterziehung attraktiv zu machen. Sie macht
die Hinterziehung ein Stück weit kalkulierbar und nimmt
dem Risiko der Entdeckung den Schrecken.
Durch Berichte über CDs in den Medien wissen die
Steuerhinterzieher, ob ein Entdeckungsrisiko besteht und
dass sie dem Staat eventuell doch ihre verheimlichten,
ins Ausland transferierten Einkünfte anzeigen sollten.
Würde die strafbefreiende Selbstanzeige ganz abgeschafft, hätte dies zwei Folgen: Die Steuerhinterziehung
würde gefährlicher, sodass sich weniger Menschen
trauen, Steuern zu hinterziehen. Dadurch erhöhten sich
die Steuereinnahmen für den Staat. Deshalb hat die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige eine generalpräventive und eine fiskalische Wirkung.
Damit komme ich zum springenden Punkt: Nur das
Risiko der Entdeckung bringt dem Staat die gewünschten Steuereinnahmen. Das letzte Jahr war das beste Beispiel: Nach den Berichten in den Medien über SteuerCDs ging eine Flut von 30 000 Selbstanzeigen ein. Der
größte Teil der hinterzogenen Gelder kam aus den bekanntgewordenen Herkunftsländern und Geldinstituten.
Statt nur ein bisschen an der Selbstanzeige herumzudoktern, muss die Wahrscheinlichkeit, dass Steuerhinterziehung aufgedeckt wird, erhöht werden. Deshalb verlangen wir, dass die Finanzämter mehr Personal bekommen, um effektiv Steuerhinterzieher verfolgen und
aufdecken zu können.
Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich auf einem internationalen automatischen Informationsaustausch
in Steuersachen zu bestehen. Der vorgelegte Gesetzentwurf führt nicht dazu, dass sich die Steuerhinterzieher in
Deutschland bei ihren kriminellen Machenschaften weniger sicher fühlen. Die Regierungskoalition behauptet
zwar, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verhindern
zu wollen, dass die strafbefreiende Selbstanzeige als Instrument der Steuergestaltung missbraucht wird. Aber
selbst nach Ihren jüngsten Nachbesserungen im Finanzausschuss besteht ein Widerspruch zwischen Text und
Begründung des Gesetzentwurfs. In der Begründung
heißt es wörtlich - ich zitiere -:
Nur wer sich für eine vollständige Rückkehr in die
Steuerehrlichkeit entscheidet, kann sich der Straffreiheit sicher sein.
Nach dem Text des Gesetzentwurfs wird man jedoch
schon straflos gestellt, wenn man die falschen Angaben
zu einer Steuerart vollständig berichtigt.
Es geht gar nicht um das in der Diskussion angesprochene Argument der Nichtzahlung der Hundesteuer.
Aber erklären Sie mir doch bitte, warum jemand, der
seine Angaben zur Einkommensteuer korrigiert, aber
nicht seine Hinterziehung bei der Umsatzsteuer offenbart, straflos gestellt wird. Das ist nach Ihrem Gesetzentwurf der Fall.
So ist aus der von Ihnen behaupteten bissigen Verschärfung ein Papiertiger geworden. Sie gaukeln den
Bürgerinnen und Bürgern vor, etwas zu unternehmen.
Ich frage Sie: Warum haben Sie nicht einmal vorgesehen, dass die Korrektur der falsch erklärten Steuerangaben mit einer Versicherung an Eides statt ergänzt wird?
Das würde das Risiko der Strafbarkeit derjenigen erhöhen, die sich nicht vollständig offenbaren.
Sie haben die Dreistigkeit, zu behaupten, mit Ihrem
Gesetzentwurf wäre dem Taktieren mit der Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung ein Riegel vorgeschoben.
Damit das Taktieren wirklich beendet wird, muss die
strafbefreiende Selbstanzeige abgeschafft werden.
({0})
Die Regierung verweist darauf, dass der Staat vom Instrument der strafbefreienden Selbstanzeige profitiere,
weil Quellen aufgedeckt würden, die der Staat nicht erschlossen hätte. Aber auch hier täuschen Sie die ÖffentRichard Pitterle
lichkeit. In anderen Staaten gibt es dieses Instrument
nicht, aber es gibt dort eine Bestimmung, dass das Gericht bei einer Selbstanzeige von der Bestrafung absehen
kann. Ich sage Ihnen, worin der Unterschied liegt: Das
Ganze findet nicht zwischen der Finanzverwaltung und
dem Steuerhinterzieher statt, sondern ist ein öffentliches
gerichtliches Verfahren. Dadurch wird auch klar, dass es
sich nicht um ein Kavaliersdelikt handelt.
In Kanada ist übrigens die Möglichkeit, durch eine
Selbstanzeige der Strafbarkeit zu entgehen, auf ein einziges Mal beschränkt. Warum nehmen Sie sich das nicht
zum Vorbild? Wie viele Brücken wollen Sie den Unehrlichen noch bauen?
Die Bundesregierung schafft es sogar, den kriminellen Steuerhinterzieher weiterhin besser zu behandeln als
einen säumigen Steuerehrlichen. Bei steuerehrlichen
Bürgerinnen und Bürger, die ihre Einkünfte dem Staat
offenlegen, wird die Steuer festgesetzt. Wenn sie mit der
Zahlung der festgesetzten Steuer in Verzug kommen,
müssen sie darauf 12 Prozent pro Jahr an Säumniszuschlag zahlen.
Der kriminelle Hinterzieher jedoch, der sich selbst anzeigt, zahlt mit 6 Prozent Hinterziehungszinsen pro Jahr
nur die Hälfte. Im Gesetzentwurf schlagen Sie vor, bei
hinterzogenen Steuern von über 50 000 Euro einen Zuschlag von 5 Prozent einzuführen, um straffrei zu bleiben. Dann zahlt er also 11 Prozent insgesamt. In jedem
Fall muss er weniger bezahlen als der steuerehrliche
Bürger, der gerade nicht flüssig ist. Wir fordern, dass der
Zuschlag schon für den ersten Euro hinterzogener Steuern gelten muss. 5 Prozent sind zu wenig; 12 Prozent
sind angemessen. Ihre Ablehnung eines höheren Zuschlags zeugt nur davon, wie egal Ihnen Steuerehrlichkeit und Steuergerechtigkeit sind.
({1})
Unsere Zustimmung für diese Politik bekommen Sie
nicht.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Gerhard Schick für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
werde als Erstes einen Satz zum Thema Geldwäsche sagen, das mir sehr am Herzen liegt. Ich glaube, dass wir
in Deutschland einen massiven Fehler machen, indem
wir in Bund und Ländern dieses Thema nebenbei in dem
einen oder anderen Gesetz behandeln. Denn in der
Summe ebnen Bund und Länder organisierter Kriminalität den Weg nach Deutschland und unterstützen damit im
Ausland genau die Strukturen, die wir angeblich so
falsch und problematisch finden. Deswegen müssen wir
uns das Thema Geldwäsche noch einmal gründlicher
vornehmen. In diesem Gesetzentwurf ist nur ein kleiner
Schritt enthalten. Wir fordern die umfassende Behandlung des Themas aber für die nächsten Beratungen im
Ausschuss ein.
Der Kern dieses Gesetzentwurfs ist die strafbefreiende Selbstanzeige. Was Sie da machen
({0})
in der Öffentlichkeitsarbeit und in Ihren heutigen Reden,
ist ein großer Bluff.
({1})
Sie stellen wenige Punkte der Verschärfung in den
Vordergrund, die teilweise bereits der Bundesgerichtshof
festgelegt hat, und Sie machen den Leuten damit vor,
dass es wirklich darum ginge, systematisch durchzugreifen. Aber an vielen Passagen in diesem Gesetzentwurf
stellen wir fest, dass das Gegenteil der Fall ist.
({2})
- Genau. Deswegen komme ich auf die einzelnen Punkte
zu sprechen.
Aber die rechtlichen Verhältnisse werden sich durch
dieses Gesetz an manchen Stellen verschlechtern. Herr
Wissing, ich finde es sehr interessant, wie Sie argumentieren, Stichwort: die ehrlichen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Welcher Arbeitnehmer und welche
Arbeitnehmerin hat denn die Möglichkeit, pro Jahr
50 000 Euro Steuern zu hinterziehen?
({3})
Werfen Sie doch einmal einen Blick in die Statistik. Die
meisten Menschen wären froh, wenn Sie so viel im Jahr
verdienen würden.
({4})
Aber Sie appellieren hier an die ehrlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das Gros der Menschen
hat von dieser Regelung überhaupt nichts; seien Sie doch
ehrlich.
({5})
Wenn Sie wenigstens Ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden würden; das aber tun Sie nicht. Ich zitiere
aus dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP.
Unterzeichnet haben ihn Volker Kauder, Hans-Peter
Friedrich und Birgit Homburger. Darin heißt es:
… dem Steuerhinterzieher darf durch seine Hinterziehungsstrategie gegenüber einem bloß säumigen
Steuerpflichtigen, der eine ordnungsgemäße Erklärung abgegeben hat, kein wirtschaftlicher Vorteil
entstehen.
({6})
Das setzen Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht um.
({7})
- Sie setzen es unterhalb der Grenze von 50 000 Euro
pro Jahr nicht um, weil es da bei der bisherigen Regelung bleibt, nämlich Hinterziehungszinsen in Höhe von
6 Prozent und Säumniszuschlag in Höhe von 12 Prozent.
({8})
Sie setzen es aber noch nicht einmal bei den Fällen
über 50 000 Euro um; denn dann gelten 11 Prozent, das
heißt, der Säumniszuschlag in Höhe von 12 Prozent ist
immer noch höher. Sie sind also an Ihren eigenen Ansprüchen gescheitert.
Das gilt auch für den zweiten Anspruch, den Sie damals formuliert haben - ich zitiere wieder -:
Strafbefreiung soll nur noch derjenige erwarten
dürfen, der alle noch verfolgbaren Steuerhinterziehungen der Vergangenheit vollständig offenbart.
Das schränken Sie jetzt auf eine einzige Steuerart ein.
Das heißt eben nicht: alle Hinterziehungen. Damit verschlechtern Sie die Lage gegenüber der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes einmal mehr, der sagt:
Die Benennung aller denkbaren Handlungsvarianten zur Korrektur von unrichtigen und unvollständigen Angaben … macht deutlich, dass das Gesetz
die vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit
will. Nur unter dieser Voraussetzung wird der Täter
straffrei.
Die vollständige Ehrlichkeit, die auch in der Begründung zu dem Gesetzentwurf steht, ist nicht mehr erforderlich, wenn dieses Gesetz in Kraft tritt.
({9})
Notwendig wäre es, einzuschränken, dass man das
mehrmals im Leben tun kann. Reue heißt doch nicht,
dass ich am nächsten Tag gleich wieder damit anfange.
Warum ist es nicht möglich, einen klaren Schnitt zu machen, damit man die Tat nicht mehrfach wiederholen
kann?
Ich komme auf den Kernpunkt, den wir mit einem
Änderungsantrag in den Vordergrund gestellt haben, weil
wir ein Verhalten besonders unanständig finden: Durch
die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann sich
jemand, der nur sein Konto bei der Credit Suisse aufgedeckt hat, aber nicht das Konto bei der UBS, nicht mehr
auf seine unehrliche Teilselbstanzeige berufen. Es bedarf
einer Übergangsfrist; da haben Sie, Herr Kolbe, vollkommen recht. Aber so, wie Sie die Übergangsfrist ausgestalten, wird diese Trickserei bei der Selbstanzeige für
die Zukunft unter Bestandsschutz gestellt. Damit verstoßen Sie wieder gegen einen Grundsatz, den Sie in der
Öffentlichkeit hochhalten, nämlich dass sich Trickserei
nicht mehr lohnen soll. Doch genau das schreiben Sie in
dem Gesetzentwurf fest. Sie sagen, etwas anderes sei
verfassungsrechtlich nicht möglich.
Eine Zwischenfrage von Herrn Kolbe. Bitte schön.
Herr Kollege Schick, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf eine Tat bezieht, also einen Veranlagungszeitraum bzw. eine Einkommensteuererklärung - und
nur auf diese eine Tat -, während in unserem Gesetzentwurf verlangt wird, dass alle Veranlagungszeiträume einer Steuerart angegeben werden müssen, damit es zu einer wirksamen Selbstanzeige kommt? Es gibt also eine
deutliche Ausweitung gegenüber der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs, auch gegenüber dem Beschluss
vom 20. Mai.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war noch von
mehreren Steuerarten die Rede. An dieser Stelle schränken Sie es ein. Damit kommt es nicht zur vollständigen
Steuerehrlichkeit. Das ist genau der Punkt, den wir einfordern.
({0})
Ich will auf den Punkt, den ich angesprochen habe,
zurückkommen. Sie sagen, es bedürfe eines Vertrauensschutzes für die Leute, und Sie beziehen sich auf den alten Rechtsgrundsatz: nulla poena sine lege. Aber die unechte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich möglich. Es
bedarf einer Abwägung. Durch die Übergangsfristen
kann man dieses Problem, wie wir es vorgeschlagen haben, lösen. Wir schlagen vor, dass die Menschen, die
eine unehrliche Teilselbstanzeige abgegeben haben, sich
innerhalb von zwölf Monaten vollständig ehrlich machen müssen. Das lehnen Sie ab, weil Sie einen Bestandsschutz für Tricksereien festschreiben wollen. Damit wird deutlich, um was es hier insgesamt geht.
({1})
- Die Rechtsauffassung - das ist in der Anhörung
deutlich geworden - ist genau von zwei, juristisch
durchaus kundigen Sachverständigen geäußert worden,
nämlich dass die Übergangsregelung, die Sie schaffen,
in der Praxis Probleme schafft und einen falschen Anreiz
setzt. Es wurde deutlich, dass man rechtlich beide Wege
gehen kann, aber Sie entscheiden sich für den problematischen Weg. Das ist der Punkt.
({2})
Ich finde, wir müssen diesen Gesetzentwurf auch vor
dem Hintergrund des Zustands des Steuervollzugs in
Deutschland, an dem sich dringend etwas verändern
muss, bewerten. Der Bundesgerichtshof hat 2007 festgestellt: Der Steuervollzug in Deutschland ist gesetzwidrig, weil ein gleichmäßiger Vollzug nicht möglich ist. Dr. Gerhard Schick
Vor diesem Hintergrund ist es natürlich wichtig, dass wir
hier Gesetze machen, die an den Kern des Problems herangehen und die Entdeckungswahrscheinlichkeit erhöhen, anstatt falsche Anreize zu setzen, sodass die Ehrlichen die Dummen sind. Das muss verhindert werden.
({3})
Das Wort hat nun Kollege Peter Aumer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, das wir heute beschließen, geht auf eine Initiative
der Union zurück. Es zeigt konsequentes Handeln und
ist eine Antwort auf die Flut von Selbstanzeigen nach
dem Auftauchen der Steuerhinterziehungs-CDs.
({0})
- Das ist eine Frage der Einschätzung. Sie schätzen das
so ein und wir so. Ich glaube, wir sind auf der richtigen
Seite.
Wir haben frühzeitig eine Verschärfung der Voraussetzungen für die strafbefreiende Selbstanzeige gefordert, und wir setzen das, was wir gefordert haben, auch
in konkrete Taten um. Das, was die christlich-liberale
Koalition verspricht, das hält sie auch.
Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren ihren
Teil dazu beigetragen, Steuerlücken zu schließen. Die
Doppelbesteuerungsabkommen mit unseren europäischen Nachbarn sind nahezu abgeschlossen. Aber das alles allein reicht nicht aus. In den sieben Jahren von RotGrün schaffte es die damalige Bundesregierung nicht,
Steuerunehrlichkeit erfolgreich zu bekämpfen. Nun, in
der Opposition, kann es Ihnen nicht weit genug gehen,
und Sie verlangen, dass die strafbefreiende Selbstanzeige gänzlich abgeschafft wird. Die SPD-Finanzminister der Länder sehen dies jedoch anders. Wieder einmal
typisch SPD: Die Rechte weiß nicht, was die Linke tut.
({1})
Oder besser: die Pragmatiker gegen die Utopisten.
Herr Gerster, Sie sprachen vorhin von Anspruch und
Wirklichkeit in Ihrer Regierungszeit. Der Anspruch, den
Sie an sich stellen sollten, wurde nicht in die Wirklichkeit umgesetzt. Wir reden nicht nur, wir handeln.
({2})
Das zeigt ganz klar, dass bei uns Anspruch und Wirklichkeit sehr nahe beieinanderliegen.
({3})
Die christlich-liberale Koalition hat sich Steuergerechtigkeit zum Ziel gesetzt; Herr Poß, ich hoffe, auch
die Opposition agiert in diesem Sinne. Das bedeutet,
dass an eine strafbefreiende Selbstanzeige hohe Anforderungen zu stellen sind.
Der eingebrachte Gesetzentwurf basiert auf drei
Grundlagen:
Erstens. Wir korrigieren Defizite im deutschen
Rechtssystem bei der Bekämpfung von Geldwäsche und
Terrorismusfinanzierung. Die Erweiterung des Geldwäschestraftatbestandes im vorliegenden Gesetzentwurf
wird ein wichtiger Beitrag, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland noch wirksamer zu bekämpfen.
Zweitens. Die christlich-liberale Koalition konkretisiert das Steuerstrafrecht zielgenau. Das erfolgt aufgrund
eines Urteils des Bundesgerichtshofs im Mai 2010; Kollege Kolbe hat dies vorher schon angesprochen. Darin
entschied das Gericht, dass sich Steuersünder mit einer
Selbstanzeige vor einer Bestrafung nicht mehr einfach so
retten können. Die Selbstanzeige muss alle den Behörden verheimlichten Konten betreffen, und sie muss vor
der Entdeckung der Straftat erfolgen. Eine Selbstanzeige
während einer polizeilichen Durchsuchung genügt nicht.
Zukünftig ist ein Steuersünder nur noch dann straffrei,
wenn er die komplette Steuerart im nicht verjährten
Steuerzeitraum zurückzahlt. Damit werden nur diejenigen zu Steuerhinterziehern, die versuchen, ihr zu versteuerndes Geld in verschiedenen Staaten am Fiskus vorbeizuschleusen. Dieser Hinterziehungstaktik muss ein
Riegel vorgeschoben werden.
Wir, meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, setzen das um, was der Bundesgerichtshof entschieden hat. Die vom BGH festgestellte Steuerhinterziehung großen Ausmaßes - das sind Hinterziehungen
von über 50 000 Euro - werden durch die christlichliberale Koalition mit einem Strafzuschlag in Höhe von
5 Prozent der hinterzogenen Steuer belegt. Herr
Dr. Schick, Sie haben in Ihren Ausführungen etwas
durcheinandergebracht: Bei denen, die Steuerhinterziehung von unter 50 000 Euro begehen, gibt es diesen
Strafzuschlag nicht.
Außerdem haben wir Rechtssicherheit geschaffen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsauffassung
der Bundesregierung bestätigt. Die vom Bund gekauften
Steuer-CDs dürfen zur Aufklärung von Steuerhinterziehung benutzt werden. Anstatt auf Amnestie zu setzen,
wie Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von
Rot-Grün, erhöhen wir den Druck auf die Steuerhinterziehungstaktiker. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Auch Hinterziehungstaktiker müssen erkennen,
dass der Staat ernst macht im Kampf gegen die Steuerhinterziehung. Somit haben wir unser Ziel erreicht, dass
ein Steuerhinterzieher nach einer Selbstanzeige nicht
besser dasteht als der steuerehrliche Bürger.
Die christlich-liberale Koalition macht ernst im
Kampf gegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Wir
wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber auch
das Funktionieren unseres Gemeinwesens durch ausge10964
glichene Haushalte und Steuerehrlichkeit sichern. Unser
Gesetzentwurf enthält hierzu wirksame und zielgenaue
Schritte. Wir reden nicht nur, sondern handeln auch.
Deswegen bitten wir Sie, für unseren Gesetzentwurf zu
stimmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wissing hat mich
ein bisschen provoziert, etwas anders vorzugehen, als
ich es ursprünglich dachte.
({0})
Ich will ihn nämlich an das Gesetz erinnern, das CDU/
CSU und SPD im Jahr 2008 gemacht haben. Die Überschrift lautet: Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz.
Damit sollte die Steuerverkürzung bekämpft werden.
({1})
Jetzt werden Sie sagen: 2008 ist wahnsinnig spät, das
war lange Zeit nach Rot-Grün. - Denn ich habe dieses
Gesetz auch genannt, damit die FDP keine Mühe haben
soll, sich später daran zu erinnern. Ich will aber auch auf
die 16-jährige CDU/CSU-FDP-Geschichte verweisen.
Sie müssen auch immer gucken, woher man kommt.
Was fanden wir denn 1998 vor? Was wir vorgefunden
haben, haben wir sofort 2001 und 2003 korrigiert.
Ich erinnere Sie an das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz aus dem Jahr 2003 und an das Steueränderungsgesetz aus dem Jahr 2003. Ich erinnere Sie an so etwas Sensibles wie an die Datenbank ZAUBER, bei der
es um Risikoprofile geht, mit denen man abschätzen
kann: Wer tut etwas in der Welt, das illegal ist?
Ich erinnere Sie insbesondere an die Unternehmensteuerreformen. Es gibt doch nichts Schöneres, als einen
Gewinn vermeintlich legal ins Ausland zu verschieben.
Das heißt, man nutzt zwar die Infrastruktur in Deutschland, um den Gewinn zu erzielen, aber man will die
Steuern, die darauf zu zahlen sind, nicht entrichten. Die
FDP war immer aggressiv dagegen, dass wir diese Steuergestaltungsmodelle verhindern.
({2})
Erinnern Sie sich daran, was wir den Betriebsprüfern
an die Hand gegeben haben, wie wir die Abgabenordnung geändert haben. Noch etwas Sensibles möchte ich
nennen: die LUNA zur länderübergreifenden Namensabfrage. Das alles sind Dinge, die in den 16 Jahren unter
Schwarz-Gelb überhaupt keine Rolle gespielt haben. Die
ganze taktische Vorausschau von Steuerkriminalität
hatte man gar nicht im Blick. Roland Koch hat das ja
noch genutzt bei seiner Verschiebung von Spenden in die
Schweiz.
({3})
Man muss aufpassen, was da wirklich passiert ist. Wir
haben ein Kontenabrufverfahren. Wir haben eine EURichtlinie zur Zinsbesteuerung auf eine Weise entwickelt, dass Sie heute überhaupt erst die Möglichkeit haben, über so etwas nachzudenken, wie Sie es tun.
Es gab Abkommen mit der Schweiz, Liechtenstein,
San Marino, Monaco und Andorra. Das waren Oasen,
von denen Sie früher behauptet haben, diese spielten für
Deutschland gar keine Rolle.
Ich will Ihnen noch etwas ganz Grundsätzliches sagen, etwas, für das wir Peer Steinbrück heute noch dankbar sein müssen: Das war die Idee, bei der OECD so etwas zu initiieren wie die schwarzen Listen. Das hat doch
überhaupt erst dazu geführt, dass wir heute viele Doppelbesteuerungsabkommen korrigieren können, dass es
mehr Transparenz zwischen den Ländern gibt, dass wir
über einen automatischen Informationsaustausch nachdenken können. Das gab es früher gar nicht.
Sie hatten lange Zeit, aber nichts getan. Ich habe Ihnen gerade belegt, was wir alles getan haben. Es ist
schön, dass Sie das alles jetzt als Basis für Ihre Gesetzgebung nutzen können. So muss es auch sein, wenn sich
die Fraktionen, die die Regierung wählen, in den Legislaturperioden abwechseln.
({4})
Es gibt noch eine weitere Sache. Sie haben nämlich
vorhin von Arbeitnehmern gesprochen, die wir besonders belastet hätten.
({5})
- Ja, genau.
Im Gesetzentwurf der SPD steht aber etwas ganz anderes. Hätten Sie ihn gelesen, dann wüssten Sie, dass wir
die leichtfertige Steuerverkürzung als Ordnungswidrigkeit auffassen. Da gibt es überhaupt gar keine Strafe in
dieser Art und Weise. Sie wissen, dass auch die Steuerkorrektur als Ordnungswidrigkeit aufgefasst wird. Deshalb bitte ich Sie, das formell zurückzunehmen. In unserer Familie würde man sagen: Das war eine glatte Lüge.
({6})
Weil das ein brisantes Thema ist und weil das international von einer viel größeren Bedeutung ist als das, was
ich zur Korrektur dessen, was Herr Wissing gesagt hat,
einbringen konnte, will ich noch einen anderen Aspekt
ansprechen. Ich war letzten Dienstag in Brüssel. Dabei
ist mir etwas aufgefallen, was im Zusammenhang mit
DBA, internationaler Steuergestaltung bzw. -hinterziehung eine ganz große Rolle spielt: der Blick auf
Lothar Binding ({7})
Deutschland. Ich habe noch niemals in Brüssel erlebt,
dass über Deutschland so viele Witze gemacht wurden
wie jetzt, dass so viele hämische Bemerkungen über die
Kanzlerin gemacht wurden von prominenten Teilnehmern an dieser Konferenz, dass so viele ablehnende Vorschläge gemacht wurden.
({8})
Im Übrigen - da können Sie Ihren Kollegen fragen - haben Vertreter von Opposition und Regierungskoalition
diese Angriffe in Brüssel sehr gut abgewehrt. Aber dass
es sie gibt, ist das Drama. Sie werden nicht erleben, dass
ich in Brüssel als Oppositionspolitiker auftrete; nein, ich
vertrete unser Land. Hier müssen wir aber kritisch darüber reden.
Da ist etwas beim Umgang mit dem Ausland passiert,
sodass es dort kein Vertrauen mehr gibt.
Ich glaube, daran müssen wir wieder arbeiten. Das
liegt nicht daran, dass unsere Exekutive schlecht verhandelt. Auch die Berater von Herrn Koschyk im Finanzministerium sind im Regelfall exzellent. Vielmehr liegt
es daran, wie wir uns international aufstellen. Darüber
müssen wir reden. Denn Schwarzgeld, Steuerhinterziehung, Steuerbetrug, Steuergestaltung und Verlagerung
von Gewinn und Einkommen werden gelegentlich so abgetan, als wären das abstruse Vorstellungen oder als
schummele jemand da nur ein bisschen. Die Menschen
vergessen, dass, wenn das in Schutz genommen wird, sie
diejenigen sind, die dann zur Kasse gebeten werden.
Denn immer wenn einer etwas hinterzieht, muss das von
einem anderen bezahlt werden. Wer sich daran erinnert,
geht mit diesen Themen sensibler um.
Herr Binding, Sie erinnern sich bitte an die Zeit.
Vielen Dank für die Erinnerung.
({0})
Für jeden, der sich daran erinnert, lohnt es sich, den Entschließungsantrag der SPD noch einmal zu lesen, denn
darin ist sehr viel Weiterführendes zu finden.
Schönen Dank.
({1})
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Binding, zu dem Thema „Tonfall gegenüber dem Ausland“ möchte ich nur kurz daran
erinnern, dass Ihr SPD-Finanzminister Steinbrück
({0})
von der „Kavallerie“ gesprochen hat, was, glaube ich, zu
weitaus mehr diplomatischen Verstimmungen geführt
hat als vieles andere. Insofern sollte man bei der Betrachtung dieses Themas etwas ehrlicher sein.
({1})
Ich glaube, das war kein guter Hinweis von Ihnen.
({2})
Wenn ich mir die Redebeiträge von der Opposition
anhöre, habe ich das Gefühl, dass Sie im Wesentlichen
die Praxisnotwendigkeiten nicht vor Augen haben. Mit
dem Bild, das Sie hier zeichnen, unterstellen Sie, dass es
bei der strafbefreienden Selbstanzeige nur um die kriminellen Steuerhinterzieher gehe, die ihr Vermögen ins
Ausland schaffen, um es dort unversteuert zu lagern. Ich
möchte nur kurz an Folgendes erinnern: Tatsächlich geht
es um die kleinen Arbeitnehmer, die kleinen Handwerker, die kleinen Selbstständigen,
({3})
die mit einem Steuersystem konfrontiert werden, das
wohl nach einhelliger Auffassung einige Kompliziertheiten aufweist. In einem solchen Steuersystem ist die
Gefahr, dass man unbeabsichtigt einen Fehler macht, erheblich. Deswegen wollen wir für die Veranlagungspraxis das Instrument der strafbefreienden Selbstanzeige
beibehalten, und zwar genau bis zu einem Steuerhinterziehungsbetrag von 50 000 Euro. Herr Kollege Schick,
davon profitieren gerade die kleinen Arbeitnehmer.
({4})
Es sind die kleinen Arbeitnehmer, die geschützt werden,
wenn es um einen Steuerhinterziehungsbetrag von 5 bis
50 000 Euro geht.
({5})
Wir wollen, dass diejenigen, deren Steuerhinterziehungsbeträge bei über 50 000 Euro im Jahr liegen - da
sind wir uns einig, dass das eben nicht die kleinen Arbeitnehmer und Unternehmer sind -, härter angepackt
werden. Das ist für uns der entscheidende Punkt.
Möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Volk, nachdem Sie gerade diejenigen als
die kleinen Arbeitnehmer bezeichnet haben, die über
50 000 Euro Steuern hinterziehen, Dr. Daniel Volk ({0}):
Nein, unter 50 000 Euro!
- frage ich Sie: Könnte es sein, dass Sie in Ihrer Rede
Bruttoeinkommen und Steuerhinterziehungsbeträge verwechselt haben?
({0})
Entschuldigung, Frau Kollegin Kressl, ich habe doch
davon gesprochen, dass das Instrument für diejenigen mit
einem Steuerhinterziehungsbetrag von unter 50 000 Euro
gelten soll. Sie müssen mir einfach zuhören. Das Entscheidende an der Sache ist - ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer Frage, Frau Kollegin -, dass gerade diese
unteren Einkommensschichten im Zweifel keine Steuerberatung in Anspruch nehmen, sondern ihre Steuererklärung selber machen. Das heißt, diese stehen besonders in
der Gefahr, eine fehlerhafte Steuererklärung abzugeben.
({0})
Frau Kollegin Kressl, die Grenze von 50 000 Euro
- das wissen Sie genauso gut wie ich - stammt aus der
Rechtsprechung. Das ist nämlich die Grenze zu einem
schweren Fall von Steuerhinterziehung.
({1})
Die von uns vorgesehene Grenze orientiert sich also an
der Rechtsprechung in Deutschland.
Sie müssen daran denken, dass auch der kleine Kassenwart eines Vereins eine Steuererklärung abgeben
muss. Er muss möglicherweise innerhalb einer bestimmten Frist eine Umsatzsteuervoranmeldung abgeben. Dabei können sehr schnell Fehler unterlaufen. Für diese
Steuerpflichtigen wurde die entsprechende Regelung geschaffen.
Wir behalten die strafbefreiende Selbstanzeige praxistauglich in dem unteren Einkommensbereich bei. Aber
die schwerkriminellen Steuerhinterzieher fassen wir, weil
es keine Straffreiheit, sondern allenfalls eine Befreiung
von der Strafverfolgung gibt, wenn eine entsprechende
Geldauflage gezahlt wird. Etwas Entsprechendes gibt es
auch in anderen Deliktsbereichen, etwa die Einstellung
nach § 153 a Strafprozessordnung.
({2})
Herr Kollege Pitterle, Ihren Vorschlag, dass derjenige,
der eine strafbefreiende Selbstanzeige stellt, an Eides
statt versichern soll, dass er ansonsten keine Steuerstraftaten begangen hat, halte ich für besonders „fruchtbar“.
Ich würde vorschlagen, dass wir das auf alle Bürger ausweiten. Alle Bürger sollten regelmäßig eine eidesstattliche Versicherung abgeben, dass sie keine Straftat begangen haben. Das wäre doch eine hervorragende Idee. Da
es dabei darum geht, die Sicherheit des Staates zu gewährleisten, müssen wir dafür eine eigenständige Behörde einrichten. Weil es um die Staatssicherheit geht,
empfehle ich, diese Behörde als Behörde für Staatssicherheit zu bezeichnen. Das wäre genau der richtige Begriff.
Ich will damit sagen: Ihr Verständnis von Rechtsstaatlichkeit ist konträr zu unserem Verständnis. Rechtsstaatlichkeit heißt für uns: Wir unterstellen jedem Bürger zunächst einmal nicht Strafbarkeit, sondern wir unterstellen ihm erst einmal Ehrlichkeit. Wir wollen jedem
Bürger die Möglichkeit geben, dass er sich selber in die
Steuerehrlichkeit zurückbegibt. Das machen wir mit diesem Gesetz.
({3})
Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat nun das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Trotz Haushaltskrise, trotz Wirtschaftskrisen und Finanzkrisen arbeiten wir in der christlich-liberalen Koalition an einer Vereinfachung des Steuerrechts. Wir werden auch weiterhin daran arbeiten - das ist für alle
wichtig -, dass diejenigen, die diesen Staat mit Sozialabgaben und Einkommensteuer stützen, insbesondere die
Bezieher mittlerer Einkommen, in den nächsten Jahren
entlastet werden.
({0})
Das setzt aber voraus, dass wir auf der anderen Seite
dafür sorgen müssen, dass diejenigen, die Steuern zahlen
müssen, es auch tun und dass das Steuersubstrat für den
Staat erhalten bleibt.
({1})
Diejenigen, die Steuern hinterziehen, müssen zur Kasse
gebeten werden. Das ist einer der wichtigsten Punkte für
uns, wenn wir eine Entlastung erreichen wollen.
({2})
Genau dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, setzen wir jetzt mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz konsequent um.
({3})
Es geht um Schwarzgeldbekämpfung, und es geht um
Steuerhinterziehung. Kollege Binding, in diesem Gesetz
- das ist der zentrale Punkt - geht es um Steuerhinterzieher, die nicht entdeckt sind, das heißt, die keine Steuern
zahlen. Wie hat Herr Steinbrück gesagt? Lieber
25 Prozent von x als 100 Prozent von nix. Es geht für
uns um die zentrale Frage: Soll jemand, der Steuern hinterzogen hat, die Möglichkeit haben, durch eine Selbstanzeige straffrei auszugehen?
({4})
Wir hatten eine Anhörung mit vielen Experten. Diese
haben deutlich gemacht: Genau das ist der richtige Weg.
Gebt den Menschen eine Chance, durch eine Selbstanzeige wieder zur Steuerehrlichkeit zurückzukehren! Dieser Meinung waren Wissenschaftler, Praktiker sowie vor
allen Dingen die Damen und Herren von der Finanzverwaltung, von der OFD. Allerdings haben Sie recht: Die
Steuer-Gewerkschaft war nicht dieser Meinung.
Die Experten wollten eine Brücke zur Steuerehrlichkeit haben. Lothar Binding, Herr Poß, Herr Scheelen,
mehrfach ist hier in der Geschichte herumgekramt worden. Ich brauche allerdings gar nicht weit in die Geschichte zurückzugehen, sondern muss nur auf das Jahr
2003 verweisen. Damals gab es eine Steueramnestie von
Rot-Grün.
({5})
- „Das war ein guter Versuch“, sagt Lothar Binding.
({6})
Deswegen lese ich einmal vor, was Rot-Grün damals vorgeschlagen hat - ich zitiere aus der Drucksache 15/1521,
Seite 1 -:
Der Gesetzentwurf
- zur Steueramnestie soll dazu beitragen, durch eine attraktive Regelung
für die Vergangenheit einen Anreiz zu bieten, in die
Steuerehrlichkeit zurückzukehren und damit einen
Beitrag zum Rechtsfrieden zu leisten.
So steht es im Gesetzentwurf von Rot-Grün.
Das zweite Zitat - ich habe noch eine ganze Reihe dabei - lautet folgendermaßen: Dieses in die Zukunft gerichtete Angebot zur Rückkehr in die Steuerehrlichkeit
sei gegenüber denjenigen, die in der Vergangenheit Steuern hinterzogen hätten, äußerst fair. Gleichzeitig könne
der ehrliche Steuerzahler mit dieser Regelung leben,
weil die fiskalische Belastung zukünftig auf eine höhere
Anzahl Steuerpflichtiger verteilt werde.
Darum geht es. Wir wollen diejenigen, die Steuern
hinterzogen haben, dazu bewegen, sich selbst anzuzeigen, damit sie in die Steuerehrlichkeit zurückfinden und
anschließend wieder Steuern in diesem Staat zahlen. Das
ist der Inhalt des Gesetzes, und das haben Sie damals
auch so gesehen. Deswegen bin ich überrascht, dass Sie,
Herr Gerster, nicht nur unsere Verfahrensweise angreifen
und inhaltlich wenig sagen, sondern auch eine neue
Position vortragen, die bisher nicht Ihre Position gewesen ist und die dem, was Praktiker, Wissenschaftler und
die Finanzverwaltung sagen, völlig entgegensteht.
({7})
Das ist einfach eine populistische Wende. Normalerweise müssten Sie rote Ohren bekommen; denn Ihre
Amnestie ging weit über das hinaus, was heute durch die
strafbefreiende Selbstanzeige geschehen soll. Bei einer
strafbefreienden Selbstanzeige haben wir folgende Situation: Die Betroffenen zahlen die Steuern für bis zu
zehn Jahre zuzüglich 6 Prozent Zinsen für jedes Jahr
nach, demnächst außerdem noch einen Zuschlag von
5 Prozent.
Allein die Steuer-CDs - es hieß ja nur, die CD ist gekauft worden - haben im vergangenen Jahr 26 400 Steuerzahler dazu bewogen, sich selbst anzuzeigen. Im
Durchschnitt mussten sie 80 000 Euro Steuern und Zinsen nachzahlen. Es waren insgesamt 2 Milliarden Euro,
die in die Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden
gekommen sind. Deswegen waren auch die Länder an
einer solchen Lösung interessiert: Sie haben in diesem
Fall allein 850 Millionen Euro bekommen, die Kommunen 300 Millionen Euro.
({8})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schick zulassen?
Zu Ihrem Antrag von damals? - Bitte.
({0})
Herr Flosbach, meinen Sie, dass ein schlechtes Gesetz
der Vergangenheit es rechtfertigt, heute ein schlechtes
Gesetz vorzulegen? Ich habe das damalige Gesetz nicht
für richtig gehalten, aber Ihr heutiges Gesetz ist schlecht,
und darum geht es.
Vielen Dank. - Das ist ein ausgesprochen gutes Gesetz. Sie müssen nur auf die Praktiker aus der Anhörung
hören, die deutlich gesagt haben: Das ist genau der richtige Weg. Machen Sie nicht, wie von Herrn Gerster vorgeschlagen, den Fehler, die Selbstanzeige abzuschaffen.
Das gibt ein Chaos im Steuerrecht. Behalten Sie die
Selbstanzeige bei. Sie ist die einzige Möglichkeit, wieder zur Steuerehrlichkeit zurückzufinden. Sonst müssen
Sie möglicherweise, wie von Herrn Pitterle vorgeschlagen - Sie hätten wahrscheinlich am liebsten alle hinter
Mauern -, Tausende und Abertausende von Fahndern
einsetzen.
Wir wollen die Leute in die Steuerehrlichkeit zurückführen, und das ist der zentrale Punkt dieses Gesetzes.
({0})
Liebe Kollegen von der SPD, wir haben 2007, 2008
und 2009 viele gute Dinge gemacht, von der Telefonüberwachung über die Verlängerung der Verjährungsfrist
bei Steuerhinterziehung auf zehn Jahre bis hin zu den
Auskunftsabkommen mit Luxemburg und Liechtenstein;
jetzt kommt noch eines mit der Schweiz hinzu. Wir sind
auf dem richtigen Weg, das Risiko zu erhöhen. Das wollen wir doch auch. Wir wollen das Risiko der Entdeckung erhöhen. Deswegen sollten wir aber trotzdem
nicht die strafbefreiende Selbstanzeige abschaffen.
Wir haben im Rahmen der Diskussion erfahren, dass
es immer noch Lücken im Gesetz gibt. Deswegen haben
wir drei zentrale Änderungen - auch nach dem BGH-Urteil - vorgenommen.
Wir haben gesagt: Wenn der Prüfer vor der Tür steht,
ist es zu spät. Dann gibt es keine Selbstanzeige mehr.
Bisher war es so: Wenn eine Prüfungsanordnung erfolgte, hatte der Steuerpflichtige immer noch die
Chance, sich selbst anzuzeigen. Das schaffen wir ab.
Wenn die Prüfungsanordnung erfolgt ist, ist die Chance
zur Selbstanzeige nicht mehr gegeben. Das heißt, wir
verschärfen hier drastisch.
Das Zweite ist die Teilselbstanzeige. Wenn einer in
die Schweiz Geld verschoben hat und dazu eine Selbstanzeige macht, gleichzeitig beispielsweise nach
Luxemburg Geld verschoben, sich dafür aber nicht
selbst angezeigt hat, gilt für diesen Tatbestand die
Selbstanzeige nicht. Er ist nach wie vor strafrechtlich zu
verfolgen.
Drittens gibt es den neuen Strafzuschlag ab einem Betrag von 50 000 Euro - so hat der BGH die besonders
schweren Fälle bezeichnet -, mit dem wir weitere 5 Prozent kassieren.
Wir haben in der Koalition festgehalten: Es soll teuer
werden. Es soll teurer werden im Vergleich zu allen, die
bisher pünktlich ihre Steuern gezahlt haben.
Wer die Anhörung aufmerksam verfolgt hat, wird
auch mitbekommen haben, dass der Vertreter der Oberfinanzdirektion deutlich gesagt hat: Es geht hier um Einkünfte aus Kapitalvermögen. Es geht nicht um die KfzSteuer, Hundesteuer oder andere. - Das ist der Punkt.
Hier geht es darum, die größeren Beträge für diesen
Staat zu erhalten. Gerade die Praktiker aus Steuerverwaltung und Finanzverwaltung haben gesagt: Versucht
nicht, fahrlässige Steuerverkürzungen oder Fehler zu kriminalisieren! Es geht darum, denjenigen, die Fehler machen, auch die Möglichkeit zu geben, durch eine Berichtigung ihrer Steuererklärung in der Veranlagung wieder
zur Steuerehrlichkeit zurückzufinden oder ihren Fehler
einzugestehen. Sie müssen nicht strafrechtlich verfolgt
werden.
({1})
- Das freut mich, dass auch Sie das wollen. Dann wäre
es gut, wenn Sie unserem Gesetz zustimmten.
({2})
Es ist wichtig, dass auch die Länder dem zustimmen
wollen. Es geht hier auch darum, wie wir unseren Staat
finanzieren. Es ist eine wichtige Maßnahme dieses Gesetzes, dass wir Steuersündern die Rückkehr in die Steuerehrlichkeit ermöglichen wollen.
Wir brauchen die damit zu erzielenden Steuereinnahmen, etwa für die Familien. Wir haben Anfang letzten
Jahres die Familien um 4,6 Milliarden Euro entlastet.
1,6 Milliarden Euro wurden im Rahmen von Hartz IV
für die Bildungsangebote bereitgestellt. All dies müssen
wir finanzieren. Dazu brauchen wir eben auch diejenigen, die beispielsweise bisher Steuern hinterzogen haben, aber in Zukunft ihre Steuern wieder zahlen wollen
und damit einen Beitrag für diesen Staat leisten.
Wer in diesem Wirtschaftssystem die Chance nutzt,
Geld zu verdienen, wer in diesem Sozialsystem lebt, wer
Rechte in diesem Staat für sich in Anspruch nimmt,
Herr Kollege.
- ist verpflichtet, seinen Beitrag für diesen Staat zu
leisten.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche
und Steuerhinterziehung. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/5067 ({0}), den Gesetzentwurf auf
Drucksache 17/4182 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die zustimmen wollen, bitte ich um das
Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wenn Sie zustimmen wollen,
mögen Sie bitte aufstehen. - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen
und Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/5085. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Entschließungsantrag gegen die Stimmen von SPD,
Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5067
({1}), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/4802 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Sie ist einstimmig angenommen.
Dann komme ich zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung der Abgabenordnung ({2}). Der Finanzausschuss
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5067 ({3}), den Gesetzentwurf
auf Drucksache 17/1411 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist abgelehnt. Zugestimmt haben die
SPD und die Fraktion Die Linke; die übrigen Fraktionen
des Hauses haben abgelehnt. Damit entfällt die dritte Beratung.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Finanzausschusses fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1755
mit dem Titel „Steuerhinterziehung wirksam und zielgenau bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt
haben CDU/CSU und FDP, abgelehnt SPD, Linke und
Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4670 mit dem Titel „Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen“.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und
FDP, dagegen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1149 mit dem
Titel „Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht dem
Zufall überlassen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung wurde angenommen. Die Fraktion
Die Linke hat dagegen gestimmt, die übrigen Fraktionen
dafür.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe g
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/1765 mit dem Titel „Steuerhinterziehung wirksam
bekämpfen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Was war jetzt bei der SPD: War nur eine dafür oder
alle? - Seid ihr zu faul? Ich frage also noch einmal: Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
({4})
Wollt ihr eine Auszeit? - Also: Die Beschlussempfehlung wurde angenommen. Die Koalitionsfraktionen sowie die SPD haben der Beschlussempfehlung im Wesentlichen zugestimmt.
({5})
Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung einrichten
- Drucksache 17/5022 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({7}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol,
Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
sichern - Deutschland braucht eine moderne
Zukunftsstrategie zur Infrastrukturfinanzie-
rung
- Drucksachen 17/782, 17/1479 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhold Sendker
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({8}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol,
Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Mobilität nachhaltig gestalten - Erfolgreichen
Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwickeln
- Drucksachen 17/1060, 17/2226 Berichterstattung:
Abgeordneter Steffen Bilger
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache hierzu eine Dreiviertelstunde vorgesehen. 10970
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem dem
Kollegen Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das
Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Wir Sozialdemokraten haben unseren Antrag
mit dem Satz überschrieben: „Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden - Zukunftskommission zur Reform
der Infrastrukturfinanzierung einrichten“. Das ist unser
Ziel.
Wir stellen im Hinblick auf den Erhalt und Ausbau einen steigenden Investitionsbedarf fest. Wir erleben, dass
Schwarz-Gelb den Stillstand organisiert. Dabei brauchen
wir eine gesellschaftliche Reformdebatte; sie ist dringend notwendig.
Wir müssen die Basis der wirtschaftlichen Prosperität
in Deutschland mit einer guten Infrastruktur sichern. Wir
wollen Mobilität sozial gerecht und ökologisch sinnvoll
organisieren. Wir wollen die umweltfreundlichen Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße weiter stärken,
und wir wollen Bundesstraßen mit nachgeordneter Bedeutung abstufen, was eine alte Forderung der Reformkommission ist. Wir wollen deutlich mehr Geld für
Lärmschutzmaßnahmen an Straßen und Schienenwegen
ausgeben. Wir brauchen die Akzeptanz der Menschen in
unserem Land für Investitionen in die Infrastruktur. Jeder von uns, der mit den Menschen draußen im Land redet, weiß, dass diese Menschen fragen: Was macht ihr,
um uns vor Lärm zu schützen? Habt ihr spezielle Programme? Weitet ihr die Programme aus? Wann sind
Lärmschutzmaßnahmen bei uns dran? - Wir wollen die
Menschen früher am Planungsprozess beteiligen - diese
Lehre haben wir aus den Erfahrungen im letzten Jahr gezogen -, aber wir wissen auch, dass wir die Planungszeiten verkürzen müssen. Außerdem wollen wir, dass die
Bundesregierung dem Bundestag turnusmäßig einen verkehrsträgerübergreifenden Netzzustandsbericht vorlegt.
Der letzte Punkt ist: Wir brauchen eine bedarfsgerechte
Finanzierung der Investitionen in die Infrastruktur. Eine
Finanzierung nach Kassenlage ist gerade für die Verkehrsinfrastruktur fatal.
Herr Minister, ich freue mich, dass Sie an dieser Debatte teilnehmen. Wir erwarten, dass Sie noch in dieser
Legislaturperiode ein Konzept zur Sicherung der Infrastrukturfinanzierung vorlegen. Wir müssen - das ist die
Voraussetzung - gemeinsam mit der Gesellschaft ein
Leitbild für die Mobilität im 21. Jahrhundert erarbeiten.
Wir erwarten, dass Sie, der verantwortliche Minister,
eine Zukunftskommission zur Weiterentwicklung der Infrastrukturfinanzierung in Deutschland einsetzen.
Herr Bundesminister Ramsauer, was ist Ihr Ziel? Vor
einigen Tagen charakterisierte jemand Ihre Politik folgendermaßen - ich will das gerne zitieren -: Ohne Ziel
stimmt jede Richtung.
({0})
Das ist die Situation. Dabei wissen wir doch alle, dass
nur eine gute Verkehrsinfrastruktur wirtschaftliches
Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand in Deutschland voranbringt. Wir haben einen steigenden Investitionsbedarf. Wer will das eigentlich leugnen? Der von
Ihnen verantwortete Haushalt zeigt, dass der Bereich der
Verkehrsinfrastruktur unterfinanziert ist, auch wenn Sie
über die Presse bekunden, dass das Haushaltsvolumen
nun bei über 10 Milliarden Euro liegt. Das ist gegenüber
9,75 Milliarden Euro eine Steigerung. Wir wissen aber,
dass dieser Zuwachs durch Preissteigerungen fast komplett aufgefressen wird.
Das bedeutet, dass wir etwas tun müssen. Ich erwarte
von Ihnen, dass Sie bald etwas tun. Diese Legislaturperiode dauert schon anderthalb Jahre. Dafür ist zu wenig
geschehen. Wenn wir uns anschauen, was Sie von
Schwarz-Gelb in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben
haben, und überlegen, welche Projekte umgesetzt wurden - wir haben der Bundesregierung entsprechende
Fragen gestellt -, stellen wir fest, dass dabei nichts herausgekommen ist. Wir haben das Ergebnis der Bemühungen der Koalitionsfraktionen wie folgt abgefragt:
Erstens. Wie sieht es mit der Kreditfähigkeit der
VIFG aus? - Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen,
ist die Antwort.
Zweitens. Wie sieht es mit den Direktzuweisungen
der Lkw-Mauteinnahmen an die VIFG im Haushalt 2010
aus? - Sie sind nicht vorgesehen.
Drittens. Wie sieht es mit dem Finanzierungskreislauf
aus? - Er verfehlt bei sinkenden Mauteinnahmen und zusätzlichen Steuermitteln, die auch weiter benötigt werden, seine Wirkung.
Viertens. Gibt es Prioritäten bei der Umsetzung von
Verkehrsprojekten? - Es werden keine Prioritäten gesetzt.
Fünftens. Ist eine Ausweitung der ÖPP vorgesehen? Fehlanzeige, keine Initiative. Die Bundesregierung, so
heißt es, erarbeitet derzeit keine diesbezügliche Gesetzesinitiative.
Sechstens. Wie sieht es mit der zweiten Staffel der
ÖPP-Projekte aus? - Man tritt auf der Stelle. Ausschreibungen sind noch nicht erfolgt.
Siebtens. Was ist mit der Abstufung bei den Bundesfernstraßen, die in dem Beschluss von Bundestag und
Bundesrat vorgesehen ist? - Sie ist zurzeit nicht vorgesehen. Die Gespräche sind noch nicht abgeschlossen, heißt
es.
Achtens. Gibt es eine Kappung der Gewinnabführungsverträge zwischen DB Holding und DB Netz? Das
ist nicht unsere Position, aber Ihre. Bundesminister
Ramsauer verkündet per Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, diese Pläne seien vom Tisch. In der offiziellen Antwort der Bundesregierung heißt es: Ergebnisse liegen noch nicht vor.
Neuntens. Was ist mit der LuFV Straße? - Diese ist
derzeit nicht geplant.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, was planen
Sie denn? Es herrscht Schweigen. Es kommt nichts. Wir
haben zurzeit kein Konzept der schwarz-gelben Regierung zur Finanzierung der Infrastruktur, zur Steigerung
der Finanzierungsmöglichkeiten in diesem Land vorliegen, und das ist ein Problem, weil uns das zurückwirft.
Sie haben unseren Antrag im Ausschuss mit Ihrer
schwarz-gelben Mehrheit abgelehnt. Das kann ich noch
nachvollziehen. Dass aber die eigene Bundesregierung
dem Auftrag der schwarz-gelben Mehrheit - und den
Antrag haben Sie selber beschlossen - nicht nachkommt,
ihn gar ignoriert, ist erstaunlich und ein bemerkenswerter Vorgang.
Herr Minister, Sie sind ein Getriebener der Not und,
wie ich manchmal den Eindruck habe, ein wenig zu mutlos. Ich hoffe, dass das nicht auch in Ideenlosigkeit mündet. Ich habe den Wunsch und die Bitte, dass Sie alles
tun, damit hier in Deutschland ein gesamtgesellschaftlicher Konsens gefunden werden kann.
Herr Kollege!
Ja, ich komme zum Schluss, sehr geehrte Frau Präsidentin.
Man erzählt sich, dass Sie ein Klavierspieler sind und
das Klavierspiel beherrschen. Wenn man Ihre Politik anschaut und sie mit dem Musizieren vergleicht, sage ich
nur: Mit den kleinen Musikstücken - französisch: Bagatellen - sind Sie nun wirklich am Ende. Ich glaube, Sie
müssen jetzt langsam zum Konzert kommen;
Herr Kollege!
- denn das ist gerade in der Verkehrspolitik absolut
notwendig.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Patrick Schnieder hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden
uns, verehrter Herr Kollege Beckmeyer - so dachte ich
jedenfalls nach Lektüre des Antrags und zu Beginn Ihrer
Rede -, auf der gleichen Linie, nämlich dass die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland eine herausragende
Bedeutung hat, dass sie, wie Sie beschrieben haben, die
Lebensader für Gesellschaft und Wirtschaft ist, Voraussetzung für Wohlstand und Chancen in unserem Land,
und dass wir kräftig investieren müssen. Allerdings
muss ich feststellen, dass Sie diesem Anspruch, den Sie
mit dem, was Sie hier vorgetragen haben, formulieren, in
keinster Weise gerecht werden.
({0})
Dem wird auch der Antrag, den Sie vorgelegt haben,
in keinster Weise gerecht. Es werden Wahrheiten formuliert, die wir alle kennen, Wahrheiten, die wir benannt
haben, die wir auch freimütig einräumen, nämlich dass
wir gern noch mehr Geld hätten, um es in die Verkehrsinfrastruktur zu stecken. Aber Sie suggerieren, wir würden die Investitionen zurückfahren. Auf der ersten Seite
Ihres Antrags heißt es:
Das Investitionsvolumen ist ausgehend von rund
12 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 9,75 Milliarden Euro im Jahr 2011 gesunken.
Damit wollen Sie uns weismachen, dass wir die Leistungen zurückfahren. Das Gegenteil ist der Fall. Unsere Investitionen sind so hoch wie in den vergangenen Jahren
nicht mehr, und das perspektivisch bis 2014. Ich darf daran erinnern, dass in den Jahren 2001 bis 2008 die Investitionslinien deutlich darunter lagen, und da waren sozialdemokratische Verkehrsminister für den Etat
verantwortlich.
({1})
Sie blenden bei dieser Diskussion vollkommen aus,
wie es um unsere finanzielle Situation bestellt ist. Sie
ignorieren die Schuldenbremse. Ich erinnere mich noch
gut an die Haushaltsdebatte, die wir hier geführt haben.
Wir haben als Koalition dafür gekämpft - und sind auch
erfolgreich gewesen; der Minister hat hervorragend verhandelt -, dass wir das Investitionsvolumen auf diesem
Stand beibehalten können. Wir haben dennoch Mut gezeigt - hier werden wir unserer Verantwortung gerecht und nehmen die notwendigen Einsparungen im Etat vor,
um die Voraussetzungen der Schuldenbremse einzuhalten. Dafür haben wir in anderen Bereichen Prügel kassiert. Man kann aber nicht so tun, als hätten wir im Verkehrsbereich nichts geplant und nur Einsparungen
vorgenommen.
({2})
- Ja, Herr Beckmeyer, wir sehen das genauso wie Sie.
Der Bundesverkehrswegeplan ist überzeichnet. Das ist
ein Erbe der rot-grünen Regierung aus dem Jahre 2003.
Sie werfen uns das jetzt vor die Füße und sagen: Löst
heute das Problem. - So kann es nicht gehen.
Sie sagen, es gebe einen Stillstand in der Verkehrspolitik. Das erlebe ich in meinem Wahlkreis, in meiner Region, dort, wo sozialdemokratische Ministerpräsidenten
regieren.
({3})
Ich nehme das Beispiel A 1 zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz; wir warten seit Jahren, seit
Jahrzehnten auf den Lückenschluss. Warum? Weil in
Düsseldorf blockiert wird, und zwar seit der Übernahme
der Regierungsgeschäfte im Mai 2010 auf ein Neues.
({4})
Wir erleben das beim Hochmoselübergang. Dort sind die
Grünen dagegen.
({5})
Wir erleben das in der Region Trier. Überall dort, wo Rot
und Grün das Sagen haben wollen, rudern sie zurück.
({6})
Der Antrag ist voller Widersprüchlichkeiten. Sie fordern mehr Transparenz, mehr Akzeptanz - dem kann
man durchaus zustimmen -, aber gleichzeitig kritisieren
Sie die Einführung eines Finanzierungskreislaufs Straße.
({7})
- Herr Beckmeyer, gerade dadurch, dass wir die Einnahmen aus der Maut in den Straßenbau stecken, vergrößern
wir die Transparenz und Akzeptanz. Sie wollen die Verkehrsträger gegeneinander ausspielen. Das machen wir
nicht mit. Das wird es mit uns nicht geben.
({8})
Herr Beckmeyer, Sie fordern eine Berücksichtigung
ökologischer Belange. Sie fordern eine verstärkte Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Aber ich lese kein einziges
Wort - ich habe auch in Ihrer Rede nichts dazu gehört zur Elektromobilität. Ich wundere mich über Ihr Verhältnis zum Lang-Lkw, durch den wir gerade im Lastgeschäft Verkehre vermeiden können.
({9})
Statt drei Fahrten muss man nur zwei unternehmen.
({10})
- Herr Herzog, das ist eine Frage der Begrifflichkeit.
Das zeigt, wie man dazu steht.
Wer von Umweltschutz, von CO2-Vermeidung redet,
kann sich diesen Themen nicht verweigern.
({11})
Deshalb sage ich: Die Koalition ist auf einem guten
Weg. Wir stehen für Fortschritt in der Verkehrspolitik.
Stillstand produzieren Sie. Wir unternehmen jede Kraftanstrengung, um die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland leistungsfähig zu halten. Wir tun dies unter realistischen und ehrlichen Rahmenbedingungen.
Vielen Dank.
({12})
Die Kollegin Sabine Leidig hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Ich bin froh, dass die SPD-Fraktion erneut Gelegenheit gibt, über die grundlegende Ausrichtung der Verkehrspolitik zu reden; denn ich glaube, dass
dies absolut notwendig ist. Ich glaube allerdings nicht,
dass es um mehr Geld für die Infrastruktur geht, sondern
um eine Frage ganz grundsätzlicher Natur: Wohin treibt
unsere Verkehrs- und Mobilitätspolitik? Ich will jetzt gar
nicht auf einzelne Maßnahmen eingehen - wir haben das
im Rahmen verschiedener Anträge gemacht -, sondern
auf zwei Beiträge aufmerksam machen, die mich in dieser Woche in der Enquete-Kommission, die sich mit den
Problemen von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität beschäftigt, haben aufhorchen lassen.
Der erste Beitrag stammt von Professor Schneidewind,
dem Präsidenten des Wuppertal-Instituts. Er hat deutlich
gemacht, dass die Klima- und Umweltbelastungen gerade im Verkehrsbereich nicht verringert werden, und
zwar deshalb, weil Belastungen verschoben werden
- wir führen diese Diskussionen gerade im Zusammenhang mit E 10 und dem Biosprit - und weil die Energieeinsparungen durch mehr Fahrerei aufgefressen werden.
Der zweite Hinweis kam vom Sachverständigen
Herrn Michael Müller, der darauf aufmerksam gemacht
hat, dass die größte Herausforderung völlig unterschätzt
wird, nämlich die Tatsache, dass die Erdölförderung seit
2004 nicht mehr zunimmt und die Endlichkeit dieses
Rohstoffes gerade für den Mobilitätssektor sehr harte
Konsequenzen hat. Diese Konsequenzen beginnen nicht
erst, wenn der letzte Tropfen Öl verbraucht ist, sondern
schon dann, wenn die Preise drastisch ansteigen.
Es geht also nicht nur darum, den Verkehr von der
Straße auf die Schiene oder von der Luft auf das Wasser
zu verlagern. Es geht nicht nur um einen besseren ÖPNV
- darum geht es natürlich auch -, es geht nicht nur um
Lärmschutz - darum geht es auch -, und es geht nicht
nur um mehr Transparenz, damit die Leute neue Verkehrsprojekte akzeptieren. Vielmehr geht es eigentlich
darum, Konzepte zu entwickeln, um Verkehr zu reduzieren bzw. zu vermeiden.
({0})
Das ist in der Verkehrspolitik allerdings ein völliges
Tabu. Stattdessen wird irrwitzigen Verkehrswachstumsprognosen hinterherbetoniert. Ich will nur darauf hinweisen: Sie gehen von 3 Prozent mehr privaten Pkw,
80 Prozent mehr Güterverkehr und einer Verdopplung
des Flugverkehrs in den nächsten 10 bis 15 Jahren aus.
Das ist doch völliger Wahnsinn.
Der naheliegendste Vorschlag, um den Verkehr zu reduzieren, wäre, endlich Kostenwahrheit zu praktizieren.
Auch dazu hat sich die SPD geäußert. Ich zitiere an dieser Stelle den ehemaligen Bundespräsidenten Horst
Köhler, der beim Internationalen Verkehrsforum im Mai
letzten Jahres Folgendes gesagt hat:
Wer Menschen oder Waren befördert, der zahlt
heute Treibstoff, Personal, Verkehrsträger, Gebühren. Er zahlt aber wenig bis gar nicht für Luftverschmutzung, Lärmbelästigung, Gesundheitskosten,
Umwelt- und Klimaschäden. Nur deswegen kann
es … billiger sein, Krabben aus der Nordsee nicht
an der Nordsee, sondern in Marokko pulen zu lassen und anschließend doch in Deutschland zu verkaufen. Ein wertvolles Hin und Her? Ich finde
nein …
Horst Köhler sagte weiter:
Im Gegensatz zur Stromsteuer, die die Bahn bezahlen muss, ist Kerosin weiterhin von der Energiesteuer befreit - ebenso übrigens wie Schiffstreibstoff. Wäre es im Sinne der Gleichbehandlung der
Verkehrsträger nicht gerecht, die Aussetzung der
Energiesteuer für Kerosin und Schiffstreibstoff zu
beenden? Am besten so international wie möglich.
Ich weiß, das bedeutet schwierige Verhandlungen.
Aber wir sollten es anpacken …
So Horst Köhler.
({1})
Er ist übrigens kurz danach zurückgetreten,
({2})
nachdem Herr Joachim Hunold, der Chef von Air Berlin,
in der Öffentlichkeit massiv Kritik geübt hat. Ich muss
Ihnen sagen: Ich schließe nicht aus, dass die Automobilund Flugzeugkonzerne in der Bundesrepublik genauso
viel Druck aufbauen wie die Atom- und Energiekonzerne im Energiesektor
({3})
und damit die Demokratie und der notwendige Umbau
genauso massiv behindert werden.
Ein weiteres wichtiges Mittel zur Reduzierung von
Verkehr wäre, dass wir unsere Städte umgestalten. Hier
müssen die Verkehrsinfrastrukturen verändert werden.
Wir brauchen viel bessere Bedingungen, beste Bedingungen für Leute, die nicht motorisiert unterwegs sind,
für Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer, für Fußgängerinnen und Fußgänger. Wenn nur jede zweite innerstädtische Autofahrt, die weniger als 5 Kilometer lang ist - ich
bitte Sie, jetzt zuzuhören -, stattdessen mit dem Fahrrad
unternommen würde, würde in den Städten bereits ein
Viertel weniger Autos fahren. Dieser Anteil entspricht
einer gigantischen Zahl. Das wäre ein sehr großer Beitrag zum Klimaschutz und zur Verbesserung der Lebensqualität. Aber dazu braucht man Investitionsprogramme.
Dazu müssten die Städte umgestaltet werden.
({4})
Dazu brauchen wir Fahrradringe. Dazu brauchen wir den
Vorrang von Fahrrad und Fußgängern. Das können die
Kommunen aber nicht alleine stemmen. Hier müsste der
Bund beispringen und Geld investieren.
({5})
Zum Thema Elektroautos hat sich der Deutsche
Städtetag in der letzten Woche beachtlicherweise ausgesprochen kritisch geäußert. In einer Stellungnahme heißt
es:
Auch ein elektrisch angetriebenes Auto bleibt ein
Gefährt mit vier Rädern. Als solches verbraucht es
Flächen sowohl im ruhenden als auch im fließenden
Verkehr und erhöht den ohnehin schon viel zu großen Kfz-Bestand in den Städten weiter.
Insofern setzen Sie auf ein völlig falsches Pferd, und
das sagen Ihnen Ihre Kommunalpolitiker auch ganz
deutlich.
({6})
Zum Schluss möchte ich noch das Thema Geschwindigkeit ansprechen; denn auch hier wird dem Wahn gefolgt, dass „immer schneller“ immer besser sei. Gigantische Mengen an Investitionsmitteln werden in die
Hochgeschwindigkeit gesteckt, und zwar sowohl auf der
Straße als auch auf der Schiene. Das ist ausgesprochen
fragwürdig. Auch hier ist ein völliges Umdenken nötig;
denn Geschwindigkeit hat mit der Verbesserung der Lebensqualität gar nichts zu tun. Man weiß inzwischen,
dass es trotz der Tatsache, dass die Verkehre schneller
fließen, zu keiner Zeitersparnis kommt. Vielmehr ist es
so, dass die Menschen die gleiche Zeit für Mobilität aufwenden, dass sie dabei aber viel weitere Wege zurücklegen. Wir haben aber kein besseres Leben durch schnelleres Rasen.
Ich muss sagen: Mir wäre es lieber, Herr Beckmeyer,
es würde einen Stillstand, ein Innehalten in der Verkehrspolitik geben. Das gibt es aber nicht. Die Regierungskoalition hat den Finanzierungskreislauf Straße beschlossen und setzt weiter auf den Auto- und LkwVerkehr.
Frau Kollegin!
Wenn es wirklich um die Zukunftsfähigkeit des Landes geht, dann brauchen wir ein Moratorium, das keinen
einzigen Kilometer Aus- und Neubau von Autobahnen
vorsieht, bevor nicht ein Verkehrswendekonzept auf dem
Tisch liegt, das für die Zukunft taugt.
({0})
Der Kollege Werner Simmling hat nun das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Ihre Aussage zum Stillstand der Verkehrspolitik ist
wohl nicht so ganz ernst gemeint.
({0})
- Ich kann das nicht nachvollziehen, zumal die hohe Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur - ich glaube, da sind
wir uns hier alle einig, meine Damen und Herren - ganz
unbestritten ist.
Wir alle wissen von der Unterfinanzierung, unter der
wir leiden. Dazu bedurfte es nicht der Anträge, die uns
hier vorliegen. Im Kabinett hat der Bundesverkehrsminister - er ist jetzt leider nicht da ({1})
für eine Erhöhung der Investitionslinie gekämpft und sie
für 2012 durchgesetzt. Aber - wir wissen es alle - das
reicht bei weitem nicht. Wir alle hätten gerne mehr Geld.
({2})
Der Staat hat dafür Sorge zu tragen - ich denke, das
ist hier allgemeine Auffassung -, dass die notwendige
Verkehrsinfrastruktur geschaffen und erhalten wird. Der
unzureichende Ausbau muss aber nicht nur eine Frage
der fehlenden Mittel sein, wenn man innovative Lösungen zulässt.
({3})
Ihren Aufruf zu einer beschleunigten Umsetzung der
politischen Prozesse hin zu einer Strategie für eine zukunftsfähige Verkehrsinfrastruktur unterschreiben wir
alle; der politische Wille dazu ist, so glaube ich, auch interfraktionell vorhanden. Sie selbst erwähnen in Ihren
Anträgen den Bundestagsbeschluss der Regierungsfraktionen. Die Aufträge sind zur Genüge klar formuliert.
({4})
Es geht hier um die Herstellung des Finanzierungskreislaufs Straße, die Beseitigung der Haushaltsabhängigkeit
bedarfsgerechter Verkehrsinvestitionen,
({5})
mehrjährige Planungssicherheit für Investitionsprojekte,
Planungsbeschleunigung sowie die Weiterentwicklung
der Priorisierung von Investitionsprojekten im Rahmen
des nächsten Bundesverkehrswegeplanes, um nur einige
zu nennen.
Wir befinden uns doch mitten in der Debatte und auch
in der Umsetzung all dieser Punkte. Sie fordern an dieser
Stelle plakativ ein Leitbild „Mobilität des 21. Jahrhunderts“, obwohl Sie doch genau wissen, dass die Bundesregierung nichts verabschieden wird und kann, wofür
das angekündigte Weißbuch Verkehr der Europäischen
Kommission entscheidende Bedeutung hat.
({6})
Eine Festlegung auf bestimmte ordnungs- und steuerpolitische Maßnahmen im Verkehrsbereich findet eben
auf EU-Ebene statt und muss abgewartet bzw. dort erst
einmal verhandelt werden. Ich frage mich sowieso, weshalb die Fraktion der SPD diesen Forderungskatalog erst
jetzt aufstellt - das wurde vorher schon gesagt -, obwohl
sie bis zum Herbst 2009, also über elf Jahre, den Verkehrsminister stellte.
({7})
Was wollen Sie denn tatsächlich? Sie artikulieren beispielsweise folgenden Vorwurf:
Die Einführung eines Finanzierungskreislaufs
Straße durch die Bundesregierung, der die Einnahmen aus der Lkw-Maut lediglich für Investitionen
in die Straße vorsieht, schwächt das Gesamtverkehrsnetz und macht die Schiene damit komplett
von den Steuereinnahmen der öffentlichen Hand
abhängig.
Was das an der Stelle soll, verstehe ich nicht.
({8})
Der Bereich Schiene hat gezeigt, dass es positiv sein
kann, wenn Mautmittel, also Trassenentgelte, für Investitionen zur Verfügung stehen, weil sie von den Begehrlichkeiten bei der jährlichen Haushaltsplanung entkoppelt werden und somit ein verlässlicher Finanzierungskreislauf entsteht. Warum soll das nicht auch für Straßen
gelten?
({9})
Der Verkehrsträger Straße ist erheblich konjunkturanfälliger als der Verkehrsträger Schiene. Eine verlässliche
Finanzierungsgrundlage für die Unterhaltung und den
Ausbau der Bundesfernstraßen ist daher entsprechend
dringlich. Zudem werden die fehlenden Mautmittel in
den Bereichen Schiene und Wasserstraßen durch zusätzliche Haushaltsmittel ergänzt. Sie argumentieren hier
also mit einer krassen Fehldarstellung.
({10})
Darüber hinaus denken wir, die CDU/CSU und die
FDP, darüber nach, wie man die Mittel beim Verkehrsträger Schiene erhöhen kann, zum Beispiel durch die
Kappung der Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge. Das würde nämlich dafür sorgen, dass die MitWerner Simmling
tel im Netz bleiben. Sie stellen es wieder so dar, als
würde der Staat bei Unabhängigkeit der DB Netz gar
keine Mittel mehr als Subventionen bereitstellen. Das
stimmt nicht. Der Verkehrsträger Schiene wird immer
subventioniert bleiben; beispielsweise werden die Regionalisierungsmittel für den ÖPNV weiter fließen.
Zum Schluss noch ein weiteres bemerkenswertes Zitat aus Ihrem Antrag:
Dabei entlasten die Investitionen aus der Lkw-Maut
in die Schieneninfrastruktur den Verkehrsträger
Straße und führen in der Gesamtbilanz auch für die
Logistikunternehmen auf der Straße zu Kostenersparnissen. Weniger Verkehr auf der Straße führt zu
weniger Staus und zu einem besseren Zustand der
Straße. Daraus folgen Kostenersparnisse durch
Zeitgewinn und weniger Verschleiß am rollenden
Material.
Sie sagen also - ich übersetze das einmal ins Verständliche -: Durch die Mittel aus der Lkw-Maut, die in die
Schieneninfrastruktur geflossen sind, wird der Verkehrsträger Straße entlastet, weil sich dort dann weniger Verkehr abspielt. Gleichzeitig haben die Logistikunternehmen einen Vorteil, weil sie weniger auf der Straße
befördern. - Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen. Ich glaube, da schießen Sie sich schräg
von hinten durch die Brust ins Auge.
({11})
Ich meine, auf eine solche Verkehrsinfrastrukturpolitik
können wir in einem solch hochindustrialisierten Land
gerne verzichten.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es mutet schon etwas seltsam an, dass ausgerechnet die Vertreter der Partei, die immer ganz laut
Steuersenkungen fordert, die Steuerdisziplin verwässert
und gleichzeitig fordert, dass der Haushalt saniert werden muss, wortreich beklagen, dass nicht genug Geld für
Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung
steht.
({0})
Was jetzt bitte? Mehr Geld oder Steuersenkungen
oder weniger Schulden? Alles passt auf jeden Fall nicht
zusammen.
Noch seltsamer mutet es an, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Vertreter der Regierungsparteien wortreich beklagen, dass die Opposition nicht für alles eine
Lösung hat. Es mag ja sein, dass wir in unseren Anträgen nicht für alles eine Lösung haben; aber es stellt sich
die Frage: Wer regiert denn dieses Land? Wer trägt denn
die Regierung? Die Regierung und die Vertreter der Regierungsfraktionen sind es, die dieses Land regieren
müssen. Sie dürfen nicht darauf hoffen, dass wir Ihnen
die gesamte Arbeit abnehmen.
({1})
Wenn man sich dann anschaut, was jetzt eigentlich
dringend notwendig wäre, dann wird es ganz düster bei
diesen beiden Parteien. Wir wissen, dass die Verkehrsinfrastruktur für lange Zeiträume geplant und gebaut wird.
Eine Eisenbahntrasse oder Ähnliches wird für die
nächsten 50 bis 100 Jahre errichtet. Eine Autobahn soll
mindestens 40 bis 50 Jahre halten.
Wenn man sieht, wie die vielen Milliarden investiert
werden, wird es ganz duster. Wissen wir, welche Entwicklungen in 30 oder 40 Jahren auf uns zukommen?
({2})
Es geht um Entwicklungen, zu denen auch die Bundesregierung oder die Bundeskanzlerin, als sie sich noch Klimakanzlerin nannte, eingestanden haben, dass sie real
sind. Wir wissen, dass wir bis zum Jahr 2050 - das ist
auf der einen Seite mit 40 Jahren noch sehr lange hin,
auf der anderen Seite ziemlich nah, was die Verkehrsinfrastruktur und die Planungszeiträume angeht - den
CO2-Ausstoß um 95 Prozent senken müssen, nicht etwa,
um den Klimawandel zu verhindern, sondern um ihn in
einem für unser Überleben und das unserer Kinder erträglichen Maß zu halten. Das wissen wir. Wenn Sie mir
nicht glauben: Es ist, wie gesagt, der Beschluss der Bundesregierung.
Angesichts dessen muss man sich fragen, wie wir die
für unseren Wohlstand entscheidende Mobilität sinnvollerweise aufrechterhalten können. Weil die jetzige Mobilität zu über 90 Prozent vom Erdöl abhängt und in dem
sehr kurzen Zeitraum von 40 Jahren der CO2-Ausstoß
um 95 Prozent gesenkt werden muss, müssen wir uns etwas anderes überlegen.
({3})
Was haben Sie uns vorgelegt? Sie haben vorgeschlagen, dass die Mautmittel zu 100 Prozent in den Bereich
Straße fließen sollen. Das ist alles, was wir an etwas
grundlegenderen Reformen in der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung von dieser Regierung gehört haben. Das
heißt, Sie stecken mehr Geld in die Straße, die extrem
erdölabhängig ist.
({4})
Was machen Sie sonst? Die Bahn muss eine Zwangsdividende von 500 Millionen Euro abgeben. Wird sie dadurch gestärkt?
Was ist mit den positiven Maßnahmen, die Sie sogar
in Ihrem Koalitionsvertrag festgehalten haben, wie die
Aufhebung der Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge? Nichts passiert. Das ist die Tragik. Sie setzen
nicht einmal das wenige Positive um, das Sie beschlossen haben.
({5})
Es ist sogar noch mehr Positives in Ihrem Koalitionsvertrag enthalten. Ich will das durchaus sagen: Manches
darin ist positiv. Die nichtbundeseigenen Eisenbahnen
sollen eine eigene Finanzierung bekommen. Das ist sehr
sinnvoll. Aber was passiert? Nichts. Wie man aus dem
Verkehrsministerium hört, ist nicht ein einziger Referent
damit beschäftigt.
Was soll das? Wenn Sie schon einmal etwas Positives
beschließen, warum setzen Sie nichts davon um?
({6})
Deshalb muss man leider den Schluss ziehen: Der
Stillstand in der Verkehrspolitik ist in dem Bereich, wo
Maßnahmen nötig sind, umfassend. Da, wo Sie etwas
tun, tun Sie das Falsche. Das Richtige, das Sie beschlossen haben, setzen Sie nicht um.
Deshalb fordere ich Sie auf: Kehren Sie um! Machen
Sie eine vernünftige Verkehrspolitik! Wir werden Ihnen
aus der Opposition heraus weiter mit konstruktiven Anträgen helfen.
({7})
Wenn Sie selber keine Ideen haben, setzen Sie unsere
Anträge um!
Danke.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Reinhold
Sendker das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer Feststellung beginnen:
Dass Sie als SPD den angeblichen Stillstand in der Verkehrspolitik der christlich-liberalen Regierung proklamieren, den man in langen Regierungsjahren selbst zu
verantworten hat, ist für mich alles andere als glaubwürdig. Selbst Frau Kollegin Leidig ist Ihren Vorwürfen,
Herr Beckmeyer, und Ihrem Plädoyer für den Stillstand
nicht gefolgt.
({0})
Im Übrigen kann auch von mangelnder Initiative und
fehlender Zukunftsstrategie keine Rede sein. Ich will das
gerne mit einigen Argumenten begründen.
Erstens. Es kann nicht geleugnet werden, dass die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur der letzten Jahre
einen sehr positiven Beitrag zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland geleistet haben
und es der Koalition danach gelungen ist, die Investitionslinie auf hohem Niveau zu erhalten und in 2012
wieder auf 10 Milliarden Euro erhöhen zu können.
Sie wenden ein, das seien aber keine 12 Milliarden
Euro wie vor einigen Jahren, meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD-Fraktion, wissen aber genau,
dass das mit dem Fortfall der Konjunkturfördermittel erklärbar ist.
Darüber hinaus sollten Sie auch nicht vergessen, dass
in diesem Jahr, 2011, mehr investive Mittel für die Verkehrsinfrastruktur als in den Jahren vor der Krise zur
Verfügung stehen. Dies ist ein großer Erfolg, den wir uns
in der heutigen Debatte nicht zerreden lassen.
({1})
Natürlich - das hat Kollege Schnieder schon deutlich
gemacht - hätten wir gern noch mehr Geld zur Verfügung. Insofern ist es für uns von ganz hoher Bedeutung,
mit den vorhandenen Investitionsmitteln vor allem die
Qualität der Bestandsnetze von Schiene, Straße und der
Wasserwege zu sichern sowie Engpässe zu beseitigen.
Ich stimme Ihnen in Ihrer Antragsformulierung ausdrücklich zu, dass „der gestiegene Bedarf nach einem
nachhaltigen Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner
an Verkehrswegen … angemessen mit zu berücksichtigen“ ist, nicht zuletzt durch den Bau von Umgehungsstraßen.
Ich frage aber: Was sind diese plakativen Forderungen wert, wenn Sie dort, wo Sie regieren, zum Beispiel
in Nordrhein-Westfalen - das ist für die nächste Woche
angekündigt -, bedeutende Umgehungsstraßenprojekte
auf Eis legen? Da kann ich nur feststellen: Tut nach unseren Worten, aber nicht nach unseren Werken. Das ist
alles andere als glaubwürdig.
({2})
Mit Blick auf die Substanzerhaltung unserer Verkehrswege stehen wir natürlich auch neueren Ansätzen
der Optimierung von Bestand und Ausbau, die jetzt diskutiert werden, mit großem Interesse gegenüber, vor allem wenn sie ein Einsparpotenzial und darüber hinaus
mehr Transparenz bieten.
Ein weiterer Punkt ist von Bedeutung, nämlich die öffentlich-private Partnerschaft, kurz: ÖPP. Sie sprechen
sich in Ihrer Antragsformulierung für eine Beteiligung
von privatem Kapital im Rahmen von ÖPP aus, soweit
die Lösung effizienter und kostengünstiger ist. Das sehen wir genauso.
Sie wissen, dass nach den ersten vier erfolgreichen
Projekten nun die zweite Staffel am Start ist, die auch
wirtschaftliche Anreize bietet, weil allein schon die Bündelung der baubedingten Staus auf einen kürzeren Zeitraum volkswirtschaftlichen Nutzen stiftet. Das ist für
uns wichtig.
Weniger erfreulich ist es aber dann, wenn wir wieder
einmal von der Zurückhaltung in Nordrhein-Westfalen
erfahren. Verkehrsstaatssekretär Horst Becker wurde
jüngst zitiert: Wir sind keine Freunde dieses Modells.
({3})
Bei allem, was auch immer darauf folgt, dürfen wir
im Ergebnis feststellen: Von Stillstand kann in der von
uns verantworteten Verkehrspolitik mit Blick auf die
ÖPP gar keine Rede sein.
({4})
Ich komme nun auf meinen dritten Punkt zu sprechen.
Die Koalition hat den Finanzierungskreislauf Straße - Sie
haben es eben gesagt - und damit mehr Transparenz hergestellt, und das ist gut so.
Sie fordern in Ihrem Antrag auch mehr Transparenz.
Im gleichen Antrag kritisieren Sie den jetzt realisierten
Finanzierungskreislauf Straße, der aber gerade mehr
Transparenz stiftet. Ich finde, das passt nun wirklich
nicht zusammen. Wer Transparenz will, muss auch dafür
eintreten, dass die Lkw-Maut, die für die Straßennutzung
gezahlt wird, der Straße zufließt. Alles andere ist den
Bürgern nicht zu vermitteln und bleibt im Ergebnis intransparent.
({5})
Erlauben Sie mir, abschließend in der Kürze der Zeit
bei der modernen Verkehrspolitik noch einen vierten
Punkt anzusprechen, Stichwort: Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft VIFG. Die Koalitionsvereinbarung der christlich-liberalen Regierung sieht einen Prüfauftrag zur Herstellung eines Finanzierungskreislaufs
Straße
({6})
unter direkter Zuweisung der Lkw-Maut an die VIFG
vor.
({7})
Den ersten Teil haben wir bereits erledigt.
Dabei geht es ganz besonders um die Frage, inwieweit
durch die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft mehrjährige Planungs- und Finanzierungssicherheit - das ist
von hoher Bedeutung - beim Straßenbau erreicht werden
können.
({8})
Daher lautet mein Fazit: Genau das sind zukunftsweisende Ansätze. Das ist moderne Verkehrsinfrastrukturpolitik. Das ist alles andere, meine sehr verehrten Damen
und Herren der Opposition, als Stillstand.
({9})
So werden wir auch zukünftig für eine hohe Investitionslinie kämpfen und neue zielführende Ansätze der
Verkehrsinfrastrukturpolitik verfolgen.
Dafür steht unser Minister. Wir unterstützen ihn gerne
dabei.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Der Kollege Michael Groß hat das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Simmling, Sie fordern innovative Konzepte und Lösungen. Wo sind die Konzepte?
({0})
Sie haben in der Koalitionsvereinbarung darauf hingewiesen, dass wir Prioritäten setzen müssen. Wo ist Ihre
Prioritätensetzung? Sie haben darauf hingewiesen, dass
wir transparente Kriterien brauchen. Wo sind die transparenten Kriterien? Sie, Herr Schnieder, und Sie, Herr
Sendker, weisen immer auf die lange Regierungszeit von
Rot-Grün hin. In NRW haben Sie fünf Jahre lang die
Verantwortung getragen.
({1})
Ihre Minister sind durch NRW gereist und haben vieles
versprochen, unter anderem alle Ortsumgehungen, die
zur Diskussion standen. Mich wundert, was Herr
Ramsauer gestern in dapd angekündigt hat. Ich zitiere:
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer ({2})
will die schweren Frostschäden auf den Bundesfernstraßen notfalls mit Mitteln für den Neubau von
Ortsumgehungen ausbessern.
Ist das Ihre Antwort? Ist das die Logik, der Sie folgen?
({3})
- Nein, ich sage nur, was Ihr Minister dazu sagt. - Ihr
Minister ist als Infrastrukturminister angetreten. Es fehlen aber nach Aussagen der Experten und Fachverbände
mindestens 3 Milliarden Euro im Jahr. Sie haben gerade
eine Haushaltsverbesserung von circa 300 Millionen
Euro pro Jahr angekündigt. Sie können rechnerisch
nachvollziehen, dass das bei weitem nicht ausreichen
wird.
Die Staudatenbank des ADAC zeigt den Handlungsbedarf: Von 1 000 als Engpässe definierten Autobahnkilometern sind nur 430 Kilometer im Vordringlichen
Bedarf des Bundesverkehrswegeplans. Auf Anfragen
antworten Sie, dass Bauprojekte des Vordringlichen Bedarfs mit abgeschlossener Planung nicht durchgeführt
werden könnten, weil kein Geld vorhanden sei. In NRW
wird sich die Umsetzung des RRX verzögern, weil Sie
zugesagte 15 Millionen Euro dem Land NRW vorenthalten. Damit verhindern Sie, dass circa 31 000 Personenfahrten täglich auf die Schiene verlagert werden können.
Sie setzen auf die Finanzierungskreisläufe. Nach dem
Finanzierungskreislauf Straße soll auch die Schiene einen bekommen. Ein Teil der 500 Millionen Euro der von
der Deutschen Bahn abzuführenden Dividende soll dem
Ministerium verbleiben. Die Dividende soll ab 2015 auf
750 Millionen Euro erhöht werden. Ein großer Teil
bleibt im allgemeinen Haushalt und fließt nicht in die
wichtigen Schienenprojekte. Eine Frage zu Ihrer Problemlösung stellen Sie sich nicht: Was passiert eigentlich mit den Wasserstraßen?
29 aktuell überprüfte und bedarfsgerechte Bahnprojekte, die umgesetzt werden sollen, haben ein Investitionsvolumen von 26 Milliarden Euro. Hinzu kommen
noch Kosten für die im Bau befindlichen Projekte. Die
Bahn kündigt zusätzlich ein „Wachstumsprogramm
Schiene“ an und will Alternativrouten zu den überlasteten Hauptverkehrsachsen für den Güterverkehr durch
Deutschland ausbauen. Die zusätzlichen Kosten betragen 2,2 Milliarden Euro. Wie wollen Sie außerdem die
Rheintalbahn und die Hafenhinterlandanbindung finanzieren? Die Finanzierungskreisläufe werden den notwendigen Ausbau der Schiene nicht stärken und beschleunigen, sondern schwächen. Sie verhindern einen
integrierten Netzansatz.
Ebenso ist für uns nicht erkennbar, wie Sie eigentlich
die Vorgaben der Europäischen Union umsetzen wollen.
Das neue Weißbuch liegt im Entwurf vor. Dort ist formuliert, dass der großstädtische Verkehr bis 2050 im
Wesentlichen CO2-frei ausgestaltet sein soll. Ein europäisches Kernnetz soll bis 2030 funktionstüchtig umgesetzt sein. 30 Prozent des Straßengüterverkehrs bei Strecken über 300 Kilometern sollen bis 2030 auf Schiff
oder Bahn verlagert sein und bis 2050 sogar über die
Hälfte. Wie wollen Sie das tun?
({4})
Mobilität ist eine zentrale Frage der Zukunft. Sie
muss den wachsenden Anforderungen gerecht werden.
Sie muss bezahlbar, umweltverträglich, sicher und zuverlässig sein. Lärmschutz ist dabei eine wichtige Voraussetzung. Wir brauchen schnellstens Schwachstellenanalysen und Engpassreduzierungen, und wir brauchen
die geforderte Reformdebatte zur Mobilität. Das könnte
eine Zukunftskommission zur Infrastrukturfinanzierung
tun, um einen breiten Konsens in der Diskussion herzustellen. Die Lösung kann nicht sein, dass der Masterplan
Güterverkehr und Logistik durch den Minister lediglich
in einen Aktionsplan Güterverkehr und Logistik umbenannt wird, der uns inhaltlich auch noch zurückwirft.
Klapp-rechner statt Laptops, Aktionsplan statt Masterplan, das kann nicht die Antwort sein.
Danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was uns als Bundesbürger, als Verkehrsteilnehmer
- mit Ausnahme der Kollegin Leidig, wie ich eben gelernt habe -, eint, ist Ärger über Stau auf Straßen wegen
Baustellen
({0})
- nein, Sie treten in die Pedale -, über unpünktliche und
volle Züge, über Verspätungen im Flugverkehr.
({1})
All das beklagen wir im Einzelfall. Dieses Phänomen ist
auch nicht neu.
Genauso wenig neu ist das Sammelsurium, das Sie,
lieber Kollege Beckmeyer, uns heute vorgelegt haben.
Keine Ihrer Forderungen ist neu. Allein die Antwort auf
die Frage, wie Sie das alles finanzieren wollen, bleiben
Sie wieder einmal schuldig. Auch wenn Sie es nicht hören wollen: Elf Jahre Ihrer eigenen Regierungskunst haben uns etwas hinterlassen: eine offene Baustelle; aufgrund des Bundesverkehrswegeplanes von Rot-Grün
stehen wir jetzt im Stau. Diesen Stau wird unser Verkehrsminister zusammen mit dieser Koalition auflösen,
lieber Kollege Beckmeyer.
({2})
- Ja. Der Verkehrswegeplan stammt trotzdem aus Ihrer
Regierungszeit, lieber Kollege Hermann, nicht aus unserer.
Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause darin einig
- diejenigen, die ganz links sitzen, lasse ich einmal außen vor -, dass wir eine nachhaltige Finanzierung einer
besseren Verkehrsinfrastruktur brauchen. Dafür zu sorgen, ist eine politische Daueraufgabe, die nicht auf einmal zu lösen sein wird. Auch über die Bedeutung der
Verkehrsnetze dürfte hier kein Streit bestehen.
({3})
Aber im Gegensatz zu Ihnen, lieber Kollege
Beckmeyer, wissen wir nicht nur um diese Bedeutung
({4})
- der Kollege Schnieder hat schon vorhin die Linien
ganz deutlich gezeichnet -, sondern wir handeln auch:
Wir verstetigen nämlich auf hohem Niveau.
({5})
- Ja, wir verstetigen auf hohem Niveau.
Lieber Kollege Hermann, bei Ihnen waren die Ansätze niedrigschwelliger: 2001 bis 2008 9,4 Milliarden
Euro, jetzt 9,7 Milliarden Euro.
({6})
Lieber Kollege Beckmeyer, das Jahr 2009 mit den
12 Milliarden Euro ist nicht der Maßstab. Sie selber wissen ganz genau, dass in diesem Betrag Mittel des
Konjunkturpakets II enthalten waren.
({7})
Genauso wenig redlich ist es, zu sagen: 8 Milliarden
Euro sind im Schienenverkehr gebunden. Wodurch sind
sie denn gebunden? Wer hat sie denn gebunden? Wer
trägt denn die Verantwortung? Schauen Sie in den Spiegel! Dann wissen Sie, wer dafür verantwortlich ist, dass
diese Mittel bereits gebunden sind.
Wendet man sich der Gretchenfrage in Ihrem Antrag,
des Pudels Kern, zu, nämlich der Finanzierung, dann
stellt man fest: Da kommt nichts. Sie haben lediglich
eine vage Vorstellung von der Einrichtung einer Kommission.
({8})
Herr Kollege Beckmeyer, ich mache Ihnen und dem
Kollegen Groß folgenden Vorschlag: Wir gehen am
Mittwochvormittag vom Raum 600 im Paul-Löbe-Haus
quer hinüber in den Raum 200. Dort tagt der Ausschuss
für Arbeit und Soziales, dem auch ich angehöre. Dort
werden rund 45 Prozent unseres Haushaltsvolumens beraten. Reden Sie dort mit Ihren Kolleginnen und Kollegen darüber, dass wir Geld für die Infrastruktur brauchen; denn auch bei Ihnen gibt es keine wunderbare
Geldvermehrung.
({9})
Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Mit jeder in die Verkehrswege investierten Milliarde Euro werden rund 20 000 Arbeitsplätze …
gesichert.
Herr Kollege Beckmeyer, machen Sie mit! Das ist ein
Regelsatz, der Arbeit schafft für die Infrastruktur. Dann
sind wir sofort dabei. Gehen wir nächsten Mittwoch gemeinsam rüber in den anderen Raum und reden darüber.
({10})
Auch hier brauchen wir nicht noch einmal anzusetzen;
denn ist es alles mehrfach vorgetragen worden.
Natürlich gibt es im Bereich ÖPP noch Potenzial. Wir
werden es heben. Da bin ich mir sicher.
Wir sind alle für die Verlagerung von Verkehr auf die
Schiene und auf die Wasserstraße, weil wir wissen, dass
wir den Zuwachs der Verkehre auf der Straße alleine
nicht bewältigen können. Ich kann Sie nur auffordern,
vor Ort mitzugehen und für den Schienenausbau zu werben und nicht dieses Katz-und-Maus-Spiel zu betreiben
nach dem Motto: Wir sind zwar für den Ausbau, aber
nicht hier.
Kollege Hofreiter hat gerade von der Macht der Bürgerinitiativen gesprochen. Ich kann das auch anders nennen. Das ist die Macht, all das zu verhindern, was Sie
hier plakativ darstellen. Herr Kollege Hofreiter, ehrlich
gesagt finde ich das nicht seriös.
({11})
- Sie haben vorhin den Einwurf gebracht: die Macht der
Bürgerinitiativen.
Zeigen Sie gemeinsam mit uns den Mut! Gehen Sie
gemeinsam mit uns den schwierigen Weg der Finanzierung! Wir alle hätten gerne mehr Geld. Gehen Sie nächsten Mittwoch gemeinsam mit mir zur größten Haushaltsposition. Wir alle wissen um die Notwendigkeit der
Verkehrsinfrastruktur. Wir alle wissen um die Notwendigkeit der Verkehrsnetze. Wir gehen es mutig an. Wir
werden uns innerhalb des Finanzierungsrahmens bewegen, den wir gemeinsam mit Ihnen im Zusammenhang
mit der Schuldenbremse festgelegt haben. Wir wissen,
dass wir dazu den richtigen und mutigen Minister haben.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5022 an die in der Tagesordnung aufge-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Erhalt und
Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sichern - Deutschland
braucht eine moderne Zukunftsstrategie zur Infrastruk-
turfinanzierung“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/1479, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/782 abzulehnen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und
die Linke. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt.
Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 c, zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion der
SPD mit dem Titel „Mobilität nachhaltig gestalten - Er-
folgreichen Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fort-
entwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/2226, den Antrag
auf Drucksache 17/1060 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls an-
genommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen.
Dagegen gestimmt hat die SPD-Fraktion. Enthalten ha-
ben sich Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum
besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat
sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und
asylrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/4401 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Daniela Kolbe ({0}),
Gabriele Fograscher, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für ein erweitertes Rückkehrrecht im Aufenthaltsgesetz
- Drucksache 17/4197 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf
Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
({1})
- Drucksache 17/207 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
({2})
- Drucksache 17/1557 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 17/5093 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({4})
Memet Kilic
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt
verwirklichen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein wirksames Rückkehrrecht und eine
Stärkung der Rechte der Opfer von Zwangsverheiratungen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Memet Kilic, Volker Beck ({6}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN
Für eine wirksame und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im
Aufenthaltsgesetz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,
Volker Beck ({7}), Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam
schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative
- zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({8}), Memet Kilic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Residenzpflicht abschaffen - Für weitestgehende Freizügigkeit von Asylbewerbern und
Geduldeten
- Drucksachen 17/2325, 17/4681, 17/1571,
17/2491, 17/3065, 17/5093 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({9})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Memet Kilic
Hierzu ist verabredet worden, eine Dreiviertelstunde
lang zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Hans-Peter
Friedrich.
({10})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In den letzten Jahrzehnten haben
Menschen aus aller Welt in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Sie haben durch ihre Arbeit und ihr gesellschaftliches Engagement, sei es in Vereinen, Kultureinrichtungen oder Sozialinitiativen, einen Beitrag zum
Wohle unseres Landes geleistet und sich an der Gestaltung unserer Gesellschaft, ihrer neuen Heimat, beteiligt.
({0})
Menschen unterschiedlicher Religionen und unterschiedlicher Kulturen leben in unserem Lande friedlich
zusammen.
({1})
Der Respekt vor unterschiedlichen religiösen Überzeugungen und kulturellen Traditionen ist ein Grundpfeiler
unserer toleranten und weltoffenen Gesellschaft. Die Religionsfreiheit ist ein elementar wichtiger Pfeiler unserer
freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
({2})
Das Pflegen von mitgebrachten Traditionen ist ein
Recht, das in diesem freien Land ein jeder hat.
Aber wir sind uns wohl auch einig, dass alle Menschen, die in unserem Lande leben, sich nach unseren
freiheitlich-demokratischen Werten richten müssen.
({3})
Die Mehrheit der in unserem Land lebenden Migranten
hat sich bereits erfolgreich in die Gesellschaft integriert.
Gleichwohl kennen wir auch Defizite. Sie anzusprechen
und zu beseitigen, ist unser Auftrag. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Jungen und Mädchen aus Migrantenfamilien eine echte Chance bekommen, hier in unserem
Land erfolgreich ihren Weg zu gehen. Wir wollen ein
wirkliches Miteinander, kein Nebeneinander und schon
gar nicht ein Gegeneinander. Deswegen muss es darum
gehen, gemeinsam pragmatische Lösungen zu finden,
um Integrationspolitik in unserem Land noch erfolgreicher zu machen.
Die Änderungen, über die wir heute sprechen, sind in
einem sorgfältigen Reifeprozess geplant und vorbereitet
worden.
({4})
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der nach meiner
festen Überzeugung geeignet ist, die Integration der
Menschen in unserem Land zu fördern und voranzubringen.
({5})
Fördern und Fordern, das sind ehrliche und gute Koordinaten für eine erfolgreiche Integrationspolitik,
({6})
übrigens nicht nur in Bezug auf die Integration von Migranten, sondern auch in Bezug auf alle Menschen, die
in der Mitte der Gesellschaft aufgenommen werden sollen.
({7})
Wir fördern die Integration der bei uns lebenden Migranten, indem wir sie nicht alleinlassen. Wir schaffen
Rahmenbedingungen, die den Menschen eine erfolgreiche Eingliederung in unsere Gesellschaft ermöglichen.
Zugleich fordern wir die Bereitschaft, sich selbst aktiv
um Integration zu bemühen. Jeder Migrant trägt selbst
die Verantwortung für seine erfolgreiche Integration in
unsere Gesellschaft.
Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, umfasst
verschiedene Regelungsbereiche:
Erstens. Wir gewähren Ausländerinnen, die in
Deutschland integriert waren und in ihr Herkunftsland
verschleppt und zwangsverheiratet wurden, ein eigenständiges Rückkehrrecht. Gleichzeitig führen wir einen
eigenen Straftatbestand „Zwangsheirat“ ein.
({8})
Das klare Signal, das wir damit geben, lautet: Wer junge
Frauen zwangsverheiratet oder solches Handeln unterstützt, kann sich nicht auf andersartige kulturelle oder religiöse Traditionen berufen, sondern er begeht strafbares
Unrecht, das unsere Gesellschaft nicht zu tolerieren bereit ist.
({9})
Zweitens. Wir verlängern die Mindestbestandsdauer
einer Ehe, die erforderlich ist, um ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht zu erhalten, auf drei Jahre. Damit verringern wir den Anreiz zur Eingehung einer Scheinehe
und erhöhen die Möglichkeit der Aufdeckung.
({10})
Wir fordern von denjenigen, die sich um Zuzug nach
Deutschland bemühen, dass sie dies unter Beachtung der
geltenden Zuwanderungsregeln tun. Wer eine Ehe allein
zu dem Zweck eingeht, ein Aufenthaltsrecht zu begründen, unterläuft diese Regel. Deswegen machen wir mit
unserem Gesetzentwurf deutlich, dass wir diesen Missbrauch mit aller Entschiedenheit bekämpfen.
({11})
Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kilic zulassen?
Nein danke.
Drittens. Wir gewähren bislang nur geduldeten Jugendlichen, die sich schon lange in Deutschland aufhalten, erfolgreich die Schule besuchen, einen Schul- oder
Berufsabschluss haben und gut integriert sind, ein eigenes Aufenthaltsrecht. Wenn sie bisher geduldet waren
und sich gut integriert haben, erhalten sie also jetzt ein
eigenes Aufenthaltsrecht. Denn es gehört zu unserer
Politik des Förderns und Forderns, dass erbrachte Integrationsleistungen entsprechend belohnt werden.
({0})
Viertens. Zu unserer Politik des Forderns gehört es,
dass wir Verstöße gegen Integrationsverpflichtungen
künftig stärker sanktionieren. Wir verlangen von den
hier lebenden Ausländern, dass sie sich mit den Grundwerten unserer Gesellschaft vertraut machen und
Deutsch lernen. Denn wer auf Dauer hier leben will,
muss Deutsch sprechen können. Der Besuch der Integrationskurse ist deshalb für noch nicht integrierte Ausländer verpflichtend.
Klar ist: Integration ist ein langer Prozess, und Integration braucht vielfältige Begegnungen: im privaten
Bereich, in der Nachbarschaft, in der Schule, im Verein
und im Beruf. Gerade deswegen ist das Erlernen der
deutschen Sprache der wichtigste Schlüssel zur Integration.
({1})
Aus diesem Grunde machen wir deutlich, dass es auf
eine erfolgreiche Teilnahme an diesen Integrationskursen ankommt. Vor allem verlangen wir, dass ausreichende Deutschkenntnisse erworben werden. Von denjenigen, denen das nicht gelingt, werden wir künftig
regelmäßig weitere Integrationsbemühungen einfordern. Ihre Aufenthaltserlaubnis wird deshalb jeweils nur
um maximal ein Jahr verlängert, bis sie den Integrationskurs erfolgreich abgeschlossen haben oder nachweisen
können, dass ihre Integration anderweitig erfolgt ist. Wir
schaffen damit einen Anreiz, sich zügig in die Lebensverhältnisse in Deutschland zu integrieren.
Keiner wird wohl leugnen, dass sich nur derjenige in
unsere Gesellschaft einbringen und sie aktiv mitgestalten
kann, der auch Deutsch spricht. Wer die aktive Bereitschaft zum Erwerb der deutschen Sprache nicht klar und
unmissverständlich einfordert, der schädigt letztlich die
Migranten selbst. Er beraubt sie der Möglichkeit, sich
sozial und wirtschaftlich zu integrieren. Er lässt zu, dass
diese Menschen Gefahr laufen, dauerhaft von Sozialleistungen abhängig zu sein. Das will keiner von uns.
Der vorliegende Gesetzentwurf bietet pragmatische
Lösungsansätze für eine solide und wahrhaftige Integrationspolitik. Ich möchte Sie herzlich bitten, diesen Gesetzentwurf zu unterstützen.
Vielen Dank.
({2})
Rüdiger Veit hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister, das war Ihre erste Rede als
Bundesinnenminister in diesem Haus. Deswegen habe
ich alle Veranlassung, Ihnen namens der SPD-Fraktion
bei aller Gegensätzlichkeit in der Sache, über die noch
zu reden sein wird, gutes Gelingen zu wünschen.
({0})
Soweit es in meiner Macht steht, setze ich mich dafür
ein, mit Ihnen konstruktiv zusammenzuarbeiten, wenn
dieses Bemühen entsprechend erwidert wird.
Es gibt durchaus Unterschiede in der Sache. Das wird
auch heute deutlich. Wenn ich Ihnen das im Hinblick darauf, dass Sie den Gesetzentwurf hier begründet haben,
sage, dann ist das nicht als ein persönlicher Angriff zu
verstehen; denn der Beitrag der übrigen hier Versammelten zu diesem Gesetz, von dem Sie gesprochen haben,
war wesentlich größer. Sie haben die Vorschriften in diesem Gesetz jetzt für sich selbst nachvollzogen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet
eine Reihe von durchaus lobenswerten Ansätzen. Aber
dabei bleibt es meistens. Unter plakative Überschriften
stellen Sie eine Reihe von Regelungen zur Bekämpfung
von Zwangsheirat, zur Schaffung einer gesonderten Altfallregelung und zur Lockerung der Residenzpflicht. In
der konkreten Ausgestaltung all dieser Instrumente nehmen Sie aber wieder die Hälfte zurück von dem, was Sie
eigentlich regeln wollen. Man hat den Eindruck: Sie
wollen ein paar Stichworte aus der Koalitionsvereinbarung abarbeiten und diese Themen - Beerdigung in der
Holzklasse - möglichst noch vor dem 27. März irgendwie erledigt sehen. Das wird allein daran deutlich, dass
die wirklich gute Anhörung, die wir zu allen Gesetzentwürfen durchgeführt haben, von uns allen nur unzureichend ausgewertet werden konnte, weil der Zeitablauf
- die Anhörung war am Montag - gar nichts anderes zulässt.
({1})
Trotzdem gab es einige Versuche. Es gibt aber bis zum
heutigen Tag keine Erklärung, warum das so furchtbar
eilig ist. Wir hätten das genauso gut in der nächsten Sitzungswoche machen können.
Ich will begründen, warum ich von plakativen Überschriften gesprochen haben. Die Regelung zur Bekämpfung der Zwangsheirat ist gut und schön; dafür sind wir
alle. Wir haben einen eigenen Gesetzentwurf dazu eingebracht und vertreten diesen in erster Linie. Herr Minister, Sie haben eben gesagt, dass die Opfer von Zwangsheirat vornehmlich in Deutschland gut integrierte junge
Frauen sind. Warum muss man dann aber noch einmal
eine positive Integrationsprognose über sie abgeben, damit sie zurückkehren können? Das leuchtet mir überhaupt nicht ein. Wenn wir das Rückkehrrecht gerade deshalb einräumen, weil die betroffenen Frauen unter
Androhung von Gewalt oder durch List aus Deutschland
verbracht wurden und dann zwangsverheiratet worden
sind, dann frage ich mich, warum wir ihnen bei dem Versuch der Rückkehr, die technisch schwierig genug ist,
noch eine positive Integrationsprognose abverlangen.
Das kann ich nicht nachvollziehen.
({2})
Zur Verlängerung der Ehebestandszeiten wird meine
Kollegin Aydan Özoğuz noch etwas sagen. Mir sei nur
der Hinweis erlaubt, dass selbst die Kirchen in ihrem
Schreiben vom 11. März 2011 - bei aller Achtung vor
dem Institut der Ehe - sagen, dass man, wenn ausländische Frauen von ihren Männern mit Gewalt hier in
Deutschland festgehalten werden, nicht noch einen Tatbeitrag dazu leisten darf, dass sie noch ein Jahr länger in
dieser verzweifelten Situation ausharren müssen. Das
wird meine Kollegin gleich näher ausführen.
({3})
Lassen Sie mich zu der Altfallregelung kommen, die
Sie uns anbieten. Kollege Grindel hat die humanitäre
Seite der Koalition entdeckt und sieht darin einen besonderen Vorstoß. Ich gebe zu, dass Sie dem, was wir von
Ihnen schon lange erwarten, endlich näherkommen. Sie
wollen keine stichtagsbezogene Altfallregelung, sondern
eine, die alle - auch in der Zukunft - erfasst. Das ist zunächst im Grundsatz zu begrüßen.
({4})
Aber warum beschränken Sie das dann auf Antragsteller
zwischen 15 und 21 Jahren? Warum sagen Sie nicht genauso wie wir, dass derjenige, der hier in Deutschland
mindestens einen Hauptschulabschluss erworben hat,
bleiben kann? Warum sagen Sie nicht genauso wie wir,
dass ein minderjähriger geduldeter Ausländer nach vier
Jahren bei einer positiven Integrationsprognose ebenfalls
hier in Deutschland bleiben kann? Warum nicht diese
wesentlich umfassendere Regelung?
({5})
Ich will auf weitere Einzelheiten unseres Gesetzentwurfs eingehen. Nach vielen Änderungen im Ausländerund Aufenthaltsrecht brauchen wir endlich einen Schnitt
und müssen mit dem Institut der Kettenduldung in
Deutschland ein für alle Mal Schluss machen. Dieser Situation müssen wir uns stellen.
({6})
Das ist Ihnen nicht gelungen. Es gibt einen nicht ganz
produktiven Kompromiss aus den Vorstellungen von
CDU/CSU und FDP. Wenn ich das einmal sagen darf:
Die FDP, die wir in der letzten Legislaturperiode gelegentlich als Mitstreiter an unserer Seite hatten, kann ich
heute leider nicht mehr wiedererkennen.
({7})
Wir durften in der Vergangenheit erleben, dass die FDP
gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen und uns versucht hat, gerade die Kolleginnen und Kollegen von der
Union von vernünftigen Regelungen im Ausländerrecht
zu überzeugen. Das spiegelt sich in dem, was hier und
heute vorliegt, aber nicht unbedingt wider.
So geht das bei allen Themen, die in dem Gesetzentwurf angesprochen sind, weiter. Ich nenne nur das Stichwort „Residenzpflicht“. Da gehen Sie heran.
({8})
Da gibt es leichte Lockerungen bei den Regelungen für
Arbeitsaufnahme und Ausbildung.
({9})
Aber wir müssten viel weiter gehen. Dieses Institut ist
längst überholt. Schon heute sind viele Landkreise und
Länder - das geschieht sogar länderübergreifend - im
Begriff, diese Regelung zu ändern, weil sie keinen Sinn
mehr macht. Wir gehen nicht so weit und sagen, dass das
alles abgeschafft werden muss und dass wir überhaupt
keine Beschränkungen des Aufenthalts mehr brauchen.
Schon aus Gründen der Steuerung der damit verbundenen finanziellen Lasten wollen auch wir eine Wohnortzuweisung für Asylbewerber und Geduldete, damit sie
sich nicht beispielsweise in Großstädten vermehrt ansiedeln. Aber eine Residenzpflicht in dem Sinne, dass Asylbewerber und Geduldete den Kreis oder die Stadt ohne
Ausnahmegenehmigung und ohne große Verwaltungsverfahren nicht verlassen dürfen, lehnen wir ab. Wir
werden mit entsprechenden Gesetzentwürfen auf Sie zukommen.
Kurzum - damit ich meiner Kollegin die Redezeit
nicht wegnehme; das habe ich ihr versprochen -: Richtige kleine Trippelschritte unter ganz großen Überschriften, das ist im Grunde genommen der Duktus des Werkes, das Sie hier vorgelegt haben. Wir halten an unseren
Vorlagen fest, insbesondere an der Regelung betreffend
die Wiederkehr von Opfern nach Zwangsheirat, aber
auch an der sehr viel ausdifferenzierteren Regelung für
Altfälle, für Geduldete.
Wir bitten um Zustimmung zu unseren Vorlagen. Ihrem Gesetzentwurf können wir aus den genannten Gründen leider nicht zustimmen.
Danke sehr.
({10})
Der Kollege Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Herr Minister, auch seitens der FDP-Fraktion gratulieren wir Ihnen herzlichst zu Ihrem neuen Amt. Wir
wünschen Ihnen viel Erfolg. Auf gute, spannende Zusammenarbeit!
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition aus Union und FDP hat eine neue Integrationspolitik auf den Weg gebracht. Insofern hätten Sie zu Beginn keine bessere Rede halten können.
({1})
Wir werden die Chancen der Zuwanderung für unser
Land besser nutzen und den Zusammenhalt unserer
durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft stärken;
Fördern und Fordern gehören zusammen. Das tun wir
mit dem vorliegenden Gesetzespaket. Wir schaffen hiermit den Einstieg in eine dauerhafte bundesgesetzliche
Bleiberechtsregelung. Erstmals wird für minderjährige
und heranwachsende geduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Die rot-grüne Koalition
hat das nicht zustande gebracht. Die christlich-liberale
Koalition dagegen eröffnet Perspektiven für Menschen,
die in unser Land gekommen sind.
({2})
Wir helfen Frauen in Not. Die Gleichberechtigung der
Frau ist einer der wesentlichen Bestandteile unserer
Rechts- und Werteordnung, deren Vermittlung auch eine
der entscheidenden Integrationsaufgaben ist. Zwangsheirat wird explizit als Straftat benannt.
({3})
Besonders wichtig ist uns die Verbesserung des Opferschutzes. Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen, sondern auch den Opfern eine Perspektive geben. Es
wird erstmalig ein eigenständiges Wiederkehr- und
Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geben. Die bisherige Regelung, wonach der
Aufenthaltstitel für verschleppte junge Frauen nach
sechs Monaten automatisch erlischt, ermöglichte es leider bis heute, diese Zwangslage noch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtperspektive zu nehmen.
Nachdem über das Rückkehrrecht schon sehr lange diskutiert wird, ist es der christlich-liberalen Koalition nun
zu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die
Betroffenen geschaffen zu haben.
({4})
Jetzt erhalten Opfer von Zwangsheirat und Verschleppung wieder eine Chance, sich zu befreien. Dem dient
übrigens auch die Verlängerung der Antragsfrist für die
Aufhebung der Ehe.
Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete und
Asylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Damit steigern wir
die Chancen von jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unserer Gesellschaft
weiterzuentwickeln.
Wir haben uns auf die Verlängerung der Ehemindestbestandszeit auf drei Jahre zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels geeinigt. Das hilft, Scheinehen besser zu bekämpfen.
({5})
Opfern häuslicher Gewalt, die es leider in viel zu großer
Zahl gibt und die als Argument gegen die Anhebung der
Ehemindestbestandszeit angeführt werden, kann durch
die Härtefallregelung geholfen werden. Und die Sachverständigenanhörung hat gezeigt: Die jetzt getroffene,
per Änderungsantrag aufgenommene gesetzliche Klarstellung wird zu einem stärkeren Schutz der Frauen beitragen. Wir mahnen die Ausländerbehörden an dieser
Stelle zu einer großzügigen Handhabung.
({6})
Zentrales integrationspolitisches Anliegen der FDP
ist das Beherrschen der deutschen Sprache. Eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhält nur noch derjenige, der sich hinreichend auf Deutsch verständigen
kann oder sich hier einbringt. Natürlich muss niemand
aus Deutschland ausreisen, weil er nicht perfekt Deutsch
spricht. Aber diejenigen, die sich nicht integrieren wollen, erhalten in Zukunft nur eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis.
({7})
Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr von
ideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik.
Mulitkultiromantik oder Desintegration durch Wegschauen helfen uns nicht weiter.
Hartfrid Wolff ({8})
({9})
- Lieber Herr Wieland, Sie bestätigen das gerade.
Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht bestehende Defizite der Integrationspolitik ohne Scheuklappen an. Es gilt, die Chancen der Zuwanderung für unser
Land besser zu nutzen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage des Kollegen
Veit zulassen?
Das muss jetzt nicht sein.
({0})
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, werden in
ausgewogener Weise Maßnahmen zur Förderung der Integration ergriffen. Die Koalition aus CDU/CSU und
FDP will die Chancen der Integration für ausländische
Menschen in Deutschland verbessern. Der Schlüssel für
gesellschaftlichen Zusammenhalt ist die erfolgreiche Integration. Hierfür stellen wir die Weichen.
Vielen Dank.
({1})
Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Veit hat hier eben dargelegt, dass wir heute über
einen Gesetzentwurf beraten, der im Schweinsgalopp
durch den Bundestag getrieben wurde. Am Montag hatten wir eine Anhörung, bei der fünf von sieben Sachverständigen grundlegende Kritik an diesem Gesetzentwurf
geäußert haben. Ein Protokoll der Anhörung liegt bis
heute nicht vor. Das heißt, wir können die Anhörung
überhaupt nicht vernünftig auswerten.
({0})
Herr Wolff, Sie haben in Ihrer Rede sehr deutlich gemacht, warum Sie dieses Gesetzesvorhaben hier schnell
durchziehen wollen. Man kann sich des Eindrucks nicht
erwehren, dass es Ihnen vor allem um die Wahlen in
Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg geht, dass Sie
auf Stimmungsmache gegen vermeintliche Integrationsverweigerer setzen, die Sie - auch in der Anhörung nicht einmal beziffern konnten. Seit Monaten fahren Sie
gemeinsam mit dem Kollegen Grindel diese Kampagne.
Damit betreiben Sie meiner Meinung nach rechtspopulistischen Stimmenfang.
({1})
Im Unterschied zum Kollegen Veit sieht die Linke in
diesem Gesetzentwurf ein Dokument der Absage an eine
offene und humane Integrationspolitik. Ich komme damit zu den Verschärfungen, die Sie jetzt einführen wollen, insbesondere bei der Aufenthaltserlaubnis, die so
lange nur um ein Jahr verlängert werden soll, bis die Bestätigung eines erfolgreichen Sprachtests vorgelegt worden ist. Man muss sich einfach einmal vorstellen, was es
bedeutet, wenn Menschen immer wieder zur Ausländerbehörde laufen müssen. Ausgerechnet die Fraktionen der
Union und der FDP haben noch vor wenigen Monaten,
als wir hier über den Haushalt beraten haben, nicht zugestimmt, als es darum ging, ausreichende finanzielle Mittel für Integrationskurse zur Verfügung zu stellen.
({2})
- Ich bin jetzt dran. - Sie haben die Mittel zur Deckung
von Fahrtkosten und Kinderbetreuungskosten gekürzt.
({3})
Eine ausreichende finanzielle Ausstattung ist notwendig.
Wenn man sich die Wartelisten anschaut und sieht, wie
viele Menschen an Integrationskursen teilnehmen wollen, dann kann man nicht permanent von Integrationsverweigerern in unserer Gesellschaft reden und diese an
den Pranger stellen. Dazu sage ich nur: Sarrazin lässt
grüßen! - Wir von der Linken lehnen das ab.
({4})
Zum angeblichen Schutz für Zwangsverheiratete, den
Sie einführen wollen. Ich meine, es handelt sich hier um
reine Symbolpolitik. Sie selber sagen im Übrigen in Ihrem Gesetz, dass wir bereits einen Straftatbestand haben,
der Zwangsheirat unter Strafe stellt.
({5})
Die Frage ist, ob ein neuer Straftatbestand die Frauen
vor Zwangsverheiratung schützt. In Wahrheit geht es
hier meiner Meinung nach in erster Linie nicht um die
Opfer von Zwangsehen. Dasselbe gilt im Übrigen für die
hier schon angesprochene Verlängerung der Ehebestandszeit. Bislang mussten ausländische Ehepartner,
die einen deutschen Partner haben, zwei Jahre hier sein,
um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu bekommen.
Jetzt haben Sie die notwendige Ehebestandszeit auf
drei Jahre erhöht und damit für eine Verschärfung gesorgt. Alle - Menschenrechtsorganisationen, die Kirchen, aber auch die Sachverständigen bei der Anhörung
am Montag - haben gesagt: Das verlängert das Leid der
Frauen; denn diejenigen, die in Zwangsehen leben und
Gewalt erfahren, müssen dadurch garantiert noch länger
in ehelicher Abhängigkeit verbleiben und haben nicht
die Möglichkeit, sich von ihren Ehemännern zu trennen.
Es ist die reinste Heuchelei, wenn Sie hier so tun, als
würden Sie sich für diese Frauen einsetzen. Im Gegenteil: Mit Ihrem Gesetz verschärfen Sie ihre Situation. Sie
machen es den Frauen schwerer.
Ich will ganz deutlich sagen: Es gibt keine empirischen Untersuchungen, die Ihre These von den vielen
sogenannten Scheinehen belegen. Das ist uns auch in der
Anhörung am Montag bestätigt worden. Dort wurde gesagt, dass häufig zu schnell von Verdachtsfällen die
Rede ist und sich im Nachhinein herausstellt, dass der
Verdacht falsch war.
Ein Wort zum Bleiberecht für Jugendliche, das hier
schon angesprochen wurde. Es ist wirklich eine Meisterleistung, Jugendlichen, die gute Schulleistungen erbringen, die Verantwortung für ihre Geschwister und ihre Eltern aufzubürden. Sie sollen das Bleiberecht für
Geschwister und Eltern erwirken. Ich frage mich, welch
ein Verständnis von Pädagogik Sie haben. Wissen Sie eigentlich, was es bedeutet, wenn Kinder und Jugendliche
unter einem derartigen Druck schulische Leistungen erbringen müssen? Ich halte es für unerträglich, dass Sie
Politik auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen
betreiben. Das lehnt die Linke ab.
({6})
Frau Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Zum Schluss möchte ich sagen, dass uns dieser Gesetzentwurf in allen Punkten nicht weit genug geht.
Frau Jelpke!
Er zielt in die falsche Richtung.
Frau Jelpke!
Wir sind der Meinung, dass man ihn unbedingt ablehnen muss.
Frau Jelpke!
Es ist schon angekündigt worden, dass es weitere Anträge gibt. Das wird auch die Linke so halten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. - Frau Präsidentin, ein bisschen mehr Toleranz!
({0})
Das war der Wunsch nach mehr Toleranz bei der Redezeit.
({0})
- Ich habe Ihnen das Ende Ihrer Redezeit mit einem Signal angekündigt. Sie haben viele Sätze zu Ende sprechen können, bevor ich versucht habe, Sie akustisch darauf hinzuweisen, dass Ihre Redezeit weit überschritten
war.
Das Wort hat der Kollege Josef Winkler für
Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, auch namens
meiner Fraktion biete ich konstruktive Zusammenarbeit
an. In der nächsten Sitzungswoche - oder wann auch immer Sie vorhaben, den Innenausschuss zu besuchen können wir über Ihre Perspektiven für die Innenpolitik
Deutschlands diskutieren. Das, was heute auf der Tagesordnung steht, haben Sie aufgrund des Zeitablaufs nicht
maßgeblich mitgestalten können. Dennoch will ich mich
darauf konzentrieren.
Sehr geehrte Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Sie wollen Regelungen zum besseren Schutz
der Opfer von Zwangsverheiratungen und eine Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche einführen.
Die Absicht ist lobenswert. Wir haben aber feststellen
müssen, dass Sie die Regelungen, die eigentlich möglichst vielen helfen sollten, so eng gefasst und handwerklich so schlecht gemacht haben, dass jeweils nur ein
sehr kleiner Teil der Betroffenen davon profitieren wird.
Darüber muss man hier einmal sprechen.
({0})
Das gilt zum Beispiel für das Rückkehrrecht der Opfer einer Zwangsheirat. Es widerspricht der Zielsetzung
eines effektiven Schutzes der Frauen, die zum Zweck
der Heirat verschleppt wurden, dass das Rückkehrrecht
von einer positiven Integrationsprognose abhängig gemacht werden soll und nicht ohne Einschränkung als
Rechtsanspruch ausgestaltet ist. Schließlich geht es vor
allem darum, dass es sich hierbei um Opfer handelt, und
nicht darum, ob die Integrationsprognose positiv ist. Das
ist schlecht gemacht.
({1})
Es fehlt auch eine Beweislastregelung zugunsten der
Opfer von Zwangsheirat, die sich nicht ausschließlich
auf Fälle körperlicher, häuslicher Gewalt bezieht. In vielen Fallkonstellationen werden die Frauen durch psychischen Druck in eine ausweglose Situation gebracht. Ihr
Vorschlag bzw. die Ergänzung in der Begründung, die
Sie, Herr Kollege Wolff, vorgenommen haben, hilft den
Frauen nicht.
({2})
Wie soll das attestiert werden? Das ist wirklich schwierig. Das wird in der Regel nicht helfen.
Es fehlt auch eine aufenthaltsrechtliche Regelung für
die aus einer Zwangsehe hervorgegangenen Kinder. Das
heißt, die Frau, die im Ausland lebt, dort Kinder bekommen hat und aus der Zwangsehe ausbrechen will, kann
eben nicht ohne Weiteres nach Deutschland zurückkommen. Sie müsste erst den Sorgerechtsstreit gewinnen, das
Visumverfahren für sich und ihre Kinder betreiben und
dann natürlich noch die von Ihnen so geschätzte positive
Integrationsprognose vorweisen. Das ist wirklich Stuss
und wird diesen Frauen nicht helfen. In dem Punkt bin
ich mir mit dem Kollegen Veit von der SPD-Fraktion
völlig einig.
({3})
Die SPD-Fraktion wird, glaube ich, unserem Antrag
hierzu auch zustimmen.
({4})
Ein anderer Punkt, der bereits angesprochen wurde.
Ich finde es schäbig, dass Sie mit der Verlängerung der
Mindestehebestandszeit die Abhängigkeit der Opfer von
Zwangsverheiratung von ihrem Ehepartner um ein Jahr
verlängern. Die Meinung der Kirchen hierzu wurde eben
vorgetragen. Von wegen christlich-liberal!
({5})
Nur weil Sie vermuten - übrigens gegen die Daten aller
Ermittlungsbehörden in der gesamten Bundesrepublik -,
dass es heute mehr Scheinehen als früher gibt, müssen
sich nun die zwangsverheirateten Frauen ein Jahr länger
prügeln lassen. Das ist schlicht und ergreifend schäbig
gegenüber diesen Frauen.
({6})
Ihre Härtefallregelung greift nicht, Herr Wolff. Sie greift
nicht!
({7})
Wir werden das in einem Jahr überprüfen. Dann werden
Sie sehen: Ihre Härtefallregelung ist Stuss,
({8})
und die Änderungen, die von der Opposition vorgelegt
wurden und die auch die Sachverständigen in der Anhörung im Innenausschuss vorgetragen haben, hätten helfen können. Betreiben Sie keine Symbolpolitik! Tun Sie
nicht so, als hätten Sie geholfen!
({9})
Die betroffenen Frauen müssen Anzeige bei der Polizei erstatten und ärztliche Atteste vorlegen. Es muss ein
besonders schwerer Fall sein, und es dürfen keine Zweifel bestehen. Erst dann greift die Härtefallregelung. Dass
sie bisher selbst bei schweren Fällen körperlicher Gewalt
nicht gegriffen hat, haben Sie versucht zu korrigieren.
Aber die Hürden sind viel zu frauenfeindlich gestaltet.
Die Frauen müssen sich nicht mehr zwei Jahre verprügeln lassen, sondern drei Jahre, bis sie einen eigenständigen Aufenthaltstitel erwerben. Das ist nicht christlich,
und das ist nicht liberal.
({10})
Sie konnten das auch nicht begründen. Sie sagen nur, es
lägen Anhaltspunkte aus der ausländerbehördlichen Praxis vor und es gebe so viele Scheinehen, dass man das
innerhalb von zwei Jahren nicht aufklären könne; deswegen müsse man das auf drei Jahre ausweiten.
({11})
- Das kann sowieso widerrufen werden. Das ist richtig,
Herr Kollege Veit.
Ich will noch einen Punkt ansprechen. Den Vorschlag
des Bundesrats, der eine Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche vorsieht, haben Sie aufgegriffen.
Allerdings haben Sie ihn verschlechtert. Der Bundesrat
hat vorgeschlagen, dass die „überwiegende Lebensunterhaltssicherung“ vonseiten der Eltern ausreichen soll. Das
ist eine realistische Regelung, weil die Menschen über
Jahre vom Arbeitsmarkt ferngehalten wurden. Sie schlagen vor, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt vollständig sichern sollen. Das führt dazu, dass für die Eltern
das Bleiberecht nicht erreichbar ist und dass sie spätestens mit der Volljährigkeit ihrer Kinder mit der Abschiebung rechnen müssen.
Herr Kollege.
Oder sie werden nur geduldet. Das ist ein unsicherer
Aufenthalt und keine Zukunftsperspektive.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Ich
finde, heute ist ein schlechter Tag für die Integrationspolitik in Deutschland. Sie sollten wirklich nicht so weitermachen.
({0})
Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Hans-Peter Friedrich, natürlich auch von der
CDU/CSU-Fraktion herzlichen Glückwunsch zum
neuen Amt als Bundesinnenminister. Spannend muss unsere Zusammenarbeit nicht unbedingt sein, sondern sie
muss gut, vertrauensvoll und harmonisch sein. Ich bin
ganz sicher, dass das gelingen wird. Wir werden eine
wunderbare Zusammenarbeit
({0})
zwischen Franken und allen anderen in unserer Arbeitsgruppe haben. Glück auf für Ihre wichtige Aufgabe!
({1})
Wenn ich das richtig verstanden habe, Frau Kollegin
Özoğuz, ist Ihr Ehemann heute zum Innensenator in
Hamburg berufen worden. Grüßen Sie ihn herzlich von
uns! Gratulieren Sie ihm dazu! Ich bin ganz sicher:
Wenn er in Zukunft abends nach Hause kommt und von
seinen Problemen als Innensenator berichtet, wird er sagen: Die Handlungsmöglichkeiten, die die mir in Berlin
eröffnet haben, sind eigentlich ganz gut.
({2})
Ich glaube, dass wir heute eine Vielzahl von Vorschlägen vorlegen, auf die Sie in Ihrer Regierungszeit sehr
stolz gewesen wären. Herr Kollege Veit, Herr Kollege
Winkler, wenn Sie ehrlich sind, geben Sie das zu. Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche,
({3})
eine Rückkehrmöglichkeit für Zwangsverheiratete und
Zwangsverschleppte
({4})
und Verbesserungen bei der Residenzpflicht für Asylbewerber - Sie hätten sich in einer rot-grünen Sänfte durch
Kreuzberg tragen lassen, wenn Sie das zu Ihrer Regierungszeit hinbekommen hätten. Das möchte ich klar sagen.
({5})
Das Bleiberecht für gut integrierte ausländische Jugendliche ist eine fundamentale humanitäre Verbesserung und bedeutet ein großes Stück Zukunftssicherung
für viele junge Menschen mit Migrationshintergrund.
Erstmals schaffen wir eine gesetzliche Regelung für die
Zukunft und nicht nur eine Altfallregelung mit einem
Stichtag, die sich häufig als zu starr erwiesen hat.
({6})
Wir verbinden auch nicht mehr den Aufenthaltstitel
gut integrierter Jugendlicher mit dem Schicksal der Eltern; denn es hat oft zu Leid geführt, wenn der Jugendliche keine Perspektive in Deutschland hatte, weil sich
seine Eltern hier nicht ordnungsgemäß verhalten hatten.
Es wird in Zukunft genau umgekehrt sein. Erstmals ist
die Integrationsleistung des Jugendlichen entscheidend.
Er wird belohnt, wenn er erfolgreich die Schule besucht
und die Gewähr dafür bietet, sich in die Lebensverhältnisse bei uns in Deutschland einzufügen.
({7})
In Zeiten des demografischen Wandels brauchen wir
jeden Jugendlichen. Wir machen Ernst damit. Jeder bekommt die Chance, sein Glück in Deutschland zu machen. Das haben wir als christliche Demokraten und als
freie Demokraten hinbekommen. Sie haben das nie hinbekommen, um das ganz deutlich zu sagen.
({8})
Es ist wahr: Die Integrationsanforderungen an die Jugendlichen sind hoch. Sie müssen erhebliche Integrationsleistungen nachweisen. Diese Anforderungen sorgen dafür, dass wir Pull-Effekte vermeiden. Wir wollen
einen Anreiz für Integration schaffen. Wir wollen Zuwanderung in die Sozialsysteme verhindern. Aber wir
wollen mit dieser Bleiberechtsregelung diejenigen fördern, die sich anstrengen und die es verdienen, dafür belohnt zu werden.
Das Gleiche gilt für die Eltern der gut integrierten Jugendlichen; was Sie hier dazu gesagt haben, ist falsch.
Sie werden in Zukunft in Deutschland bleiben dürfen,
weil das Bleiberecht ihrer Kinder ansonsten ins Leere
laufen würde.
({9})
Aber wir sagen den Eltern: Wenn ihr euren Lebensunterhalt selbst bestreiten könnt, wenn ihr keine Straftaten begangen habt, wenn ihr die Behörden nicht täuscht, dann
könnt ihr über den Status des Geduldeten hinaus ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erwerben. Das ist der entscheidende Punkt. Die Eltern dürfen in jedem Fall bleiben, weil die Bleiberechtsregelung für ihre Kinder sonst
ins Leere laufen würde. Aber ein eigenständiges Aufenthaltsrecht setzt auch eigenständige Integrationsleistungen voraus. Wir setzen einen Anreiz, sich zu integrieren.
({10})
Insofern machen wir an dieser Stelle auch bei den Eltern,
wie bei den Kindern, ernst mit dem Grundsatz „Fördern
und Fordern“. Das halte ich für eine richtige und zukunftsweisende Integrationspolitik.
({11})
Mit dem neuen Aufenthaltsrecht stärken wir die Integrationskurse. Wir sorgen dafür, dass die Ausländerbehörden endlich konsequent überprüfen, ob ein Neuzuwanderer seiner Pflicht, einen Integrationskurs zu
besuchen, nachkommt. Wir schreiben vor, dass Neuzuwanderer nur noch für ein Jahr eine Aufenthaltserlaubnis
erhalten und deren Verlängerung davon abhängt, dass sie
den Integrationskurs ordnungsgemäß besucht haben.
({12})
Es ist nicht so, wie von einigen Organisationen
fälschlich verbreitet, dass der Aufenthalt vom erfolgreichen Bestehen der Abschlussprüfung abhängt. Das spielt
bei der Niederlassungserlaubnis eine Rolle. Das war
schon immer so; das ist geltende Rechtslage.
({13})
Künftig wird aber schneller auffallen, wenn sich jemand
beharrlich weigert, seiner Pflicht zum Besuch des Integrationskurses nachzukommen. Wir werden also erstmals das bekommen, was Sie immer anmahnen: belastbare Zahlen über Integrationsverweigerer. Wir geben
den Ausländerbehörden ein Instrument, um dagegen
vorzugehen und dafür zu sorgen, dass die Integrationsangebote, die wir vorhalten und in die wir viele Hundert
Millionen Euro investieren, angenommen werden. Ich
halte das für genau den richtigen Weg.
({14})
Mit dem neuen Aufenthaltsrecht stärken wir die
Rechte von Zwangsverheirateten, und wir bekämpfen
konsequent Scheinehen. Wir wissen von den Visastellen
unserer Botschaften, gerade aus den Hauptherkunftsländern der nachziehenden Ehegatten, dass die Zahl der
Scheinehen nach wie vor hoch ist und der Nachweis
schwerfällt.
({15})
Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Veit?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Veit.
Herr Kollege Grindel, habe ich das eben aus Ihrem
Munde richtig verstanden, dass Sie bis zum heutigen
Tage überhaupt keine Zahlen oder Schätzungen dazu haben, wie viele Integrationsverweigerer in dem von Ihnen
beschriebenen Sinne es überhaupt gibt? Das würde sich
mit den Auskünften Ihrer Sachverständigen vom Montag
decken.
({0})
Ich habe gesagt, dass solche Untersuchungen zum
ersten Mal von allen Ausländerbehörden in Deutschland
durchgeführt werden. Bisher gab es das punktuell. Auf
diesem Wege haben wir valide Zahlen bekommen.
({0})
Wir wissen: Ja, es gibt Integrationsverweigerung.
({1})
Alle Ausländerbehörden müssen nun nach einem Jahr
genau überprüfen: Sind die Neuzuwanderer, die nicht
ausreichend Deutsch sprechen, ihrer Pflicht, einen Integrationskurs zu besuchen, tatsächlich nachgekommen?
({2})
Nach einem Jahr werden wir also wissen, wer von denen, die verpflichtet waren, einen Integrationskurs zu besuchen, sich beharrlich geweigert hat.
({3})
Wir werden zum ersten Mal flächendeckend für ganz
Deutschland sehr genau wissen, wie viele Personen dieser Pflicht nicht nachgekommen sind. Natürlich gibt es
bestimmte Gründe, die es unmöglich machen können, einen Integrationskurs zu besuchen, zum Beispiel eine
Schwangerschaft oder gesundheitliche Probleme. Uns
geht es aber darum, festzustellen, wer sich beharrlich
weigert.
Die Ausländerbehörden werden mit diesen Personen
intensive Gespräche führen, um sie davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, Deutsch zu lernen. Wer dies kritisiert, der will nicht nur nicht wissen, wie viel Integrationsverweigerung es gibt, sondern der hilft auch nicht
dabei, alle Zuwanderer dafür zu gewinnen, die deutsche
Sprache zu lernen, etwas über unsere Gesetze und die
verfassungsrechtlichen Grundlagen zu erfahren. Das ist
das Ziel. Wir wollen die Menschen nicht nach Hause
schicken. Wir wollen gern Zahlen zur Integrationsver10990
weigerung. Wir wollen, dass alle Zuwanderer die vorhandenen Integrationsangebote tatsächlich annehmen
und die Ausländerbehörden dies überprüfen. Das ist das
Ziel unserer Gesetzesänderung.
({4})
Ich komme zum Thema Scheinehen zurück. Wir wissen von den Visastellen, die die Entwicklung sehr genau
beurteilen und beobachten können, dass die Zahl der
Scheinehen nach wie vor hoch ist. Eine der wenigen
neuen Erkenntnisse, die wir in der Anhörung gewonnen
haben, ist, dass die Ausländerbehörden in der Tat sagen:
Wir brauchen mehr Zeit, um Scheinehen aufdecken zu
können. - Diese zusätzliche Zeit werden wir ihnen mit
unserer Gesetzesänderung einräumen.
({5})
Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Kilic vom Bündnis 90/
Die Grünen?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Grindel, in Ihrem Gesetzentwurf führen
Sie aus, dass die Zahl der Fälle, in denen der Verdacht
einer Scheinehe besteht, zugenommen hat. In diesem
Zusammenhang hat die Linke die Bundesregierung gefragt, weshalb sie vor diesem Hintergrund die Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre verlängern will.
Auf diese Frage hat die Bundesregierung geantwortet,
im Jahre 2010 habe es circa 5 000 und im Jahre 2000
circa 1 000 solcher Fälle gegeben. Als wir, die Grünen,
eine ähnliche Frage gestellt haben, hat das Innenministerium eine andere Zahl erwähnt. Uns wurde für das Jahr
2009 die Zahl 529 genannt.
({0})
- Ermittlungsverfahren, ja. - Daraufhin haben wir noch
einmal gefragt, weil uns keine schlüssige Zahl genannt
werden konnte. Herr Ole Schröder hat unsere Frage
heute wie folgt beantwortet: Es gibt dazu überhaupt
keine Statistik; wir können das nicht schlüssig darlegen.
({1})
In Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie aber, die Zahl
dieser Fälle habe zugenommen. Müssen wir das so verstehen, dass Sie Ihre letzte Patrone ins Blaue schießen?
Ist es anständig, wenn der Gesetzgeber eine solche Begründung anführt?
Herr Kilic, ich habe schon mehrfach, bei der Einbringung des Gesetzentwurfes und auch eben, gesagt - eigentlich müssten auch Sie diese Informationen haben;
Sie sind ja des Öfteren in der Türkei -, dass Sie die Mitarbeiterinnen unserer Visastellen in Istanbul, Ankara und
Izmir, die für Visa zum Zwecke der Familienzusammenführung bzw. des Ehegattennachzuges zuständig sind
- es sind fast nur Frauen, die dort tätig sind -, einmal
fragen sollten, wie ich es getan habe: Wie hoch schätzen
Sie die Zahl der Scheinehen?
({0})
Schließlich haben sie in ihrer jahrelangen Tätigkeit umfangreiche Erkenntnisse gewonnen.
({1})
Die Mitarbeiterinnen werden Ihnen sagen: Diese Zahl
dürfte in den letzten Jahren stabil geblieben sein.
Wenn Sie dann sagen, es habe im Jahr 2000 5 000
Verdachtsfälle gegeben - damals galt eine vierjährige
Mindestehebestandszeit; die Ausländerbehörden hatten
also vier Jahre Zeit, um solche Scheinehen aufzudecken und wir hätten jetzt, bei nur zwei Jahren Mindestehebestandszeit, nur 1 000 Verdachtsfälle, dann ist das doch
ein Argument zu meinen Gunsten. Denn das ist klar:
Wenn man mehr Zeit hat, um Verdachtsfällen nachzugehen, dann deckt man auch mehr auf. Genau diese Möglichkeit wollen wir den Ausländerbehörden eröffnen.
({2})
Um auch das zu sagen, lieber Kollege Winkler: Die
Härtefallregelung in § 31 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz präzisieren wir, indem wir die häusliche Gewalt als Regelbeispiel in das Gesetz hineinschreiben. Der Tatbestand
der häuslichen Gewalt gab den Frauen übrigens schon
vorher die Möglichkeit, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu erhalten. Deswegen sind diese Frauen hinreichend geschützt.
({3})
In der Anhörung haben die Auskunftspersonen keinen
einzigen Fall benennen können, in dem die Härtefallregelung nicht hinreichend berücksichtigt worden und ins
Leere gelaufen wäre. Insofern ist es unfair und nicht in
Ordnung, wenn Sie unsere Gesetzesänderung hier als
schäbig bezeichnen. Das Gegenteil ist der Fall: Die
Frauen, die in der Ehe unter Gewalt und anderen schweren Nachteilen leiden, sind hinreichend geschützt. Daran
ändert sich mit unserer neuen gesetzlichen Regelung
überhaupt nichts. Das war uns wichtig.
({4})
Insofern möchte ich abschließend sagen: Wir haben
mit diesem Gesetzentwurf eine Vielzahl von Anregungen aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen
aufgenommen. Wir haben Anregungen aus dem Bereich
der Innenministerien aufgenommen. Daher bin ich mir
ganz sicher: Mit der Bleiberechtsregelung, mit den Verbesserungen für Opfer von Zwangsheirat und Zwangsverschleppung und bei der Residenzpflicht
({5})
wird es zu einer positiven Entwicklung im Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern kommen. Der
Grundsatz, den der Minister hier eingefordert hat, nämlich „Fördern und Fordern“, findet sich in unserem Gesetzentwurf exakt wieder, und deshalb bitte ich um Zustimmung.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Aydan Özoğuz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Friedrich, ich schließe mich natürlich den guten
Wünschen meiner Fraktion an. Ich denke, wir werden
hier durchaus noch einiges auszudiskutieren haben; über
gewisse Dinge, die Sie gleich am Anfang Ihrer Amtszeit
gesagt haben, möchte ich noch sprechen, aber an anderer
Stelle.
Lieber Herr Grindel, ich sage es vorweg: Ich werde
Sie auch in Zukunft nie darüber befragen, was Ihre Frau
abends zu den Dingen sagt, die Sie hier am Tag von sich
geben.
({0})
Ich sage das nur mal; ich kenne Sie schließlich ein bisschen. Wir sollten es dabei belassen.
({1})
- Ich habe es ja freundlich gesagt.
Es steht am Ende fest, dass hier ein Gesetz unnötig
durchgepeitscht wird; das haben alle Sachverständigen
am Montag gesagt.
Ich habe mich gewundert, wie geduldig diese Sachverständigen eigentlich waren, zumal die CDU/CSUFraktion in der letzten Stunde nur noch mit einer Person
in dieser Anhörung vertreten war.
({2})
Sie haben den Sachverstand überhaupt nicht gewürdigt.
Sie haben in der letzten Woche viele Punkte nachgereicht, und diese Punkte sollten die Sachverständigen
mit behandeln. Sie haben selber gesagt, dass das gar
nicht möglich war. Daher hätte etwas mehr Respekt vor
dem, was uns Sachverständige liefern, gezeigt, dass Sie
es mit diesem Gesetz ernst meinen. Dass Sie es nicht
ernst meinen, zeigt, dass Sie es heute in aller Eile durchpeitschen müssen. Auch heute gibt es auf die Frage, warum darüber nicht vernünftig gesprochen wird, nicht
eine inhaltliche Antwort.
({3})
Kurz gesagt: Dass es gut ist, dass das Rückkehrrecht
eingeführt wird, wurde erwähnt. Es sollte aber unabhängig davon gestaltet werden, wie alt die Betroffenen sind.
An dieser Stelle noch der kurze Hinweis: Es ist auch
egal, ob sie volljährig sind, wenn sie nach Deutschland
eingereist sind. Das wurde hier noch nicht explizit gesagt, und daher möchte ich es hier erwähnen. Es ist doch
vollkommen unabhängig davon. Denn selbst wenn sie
nach Ihren Kriterien integriert wären, wäre das kein Hindernis. Insofern könnten Sie sich hinsichtlich dieses
Punktes wirklich ein wenig bewegen.
Dass der eigene Straftatbestand „Zwangsheirat“ Symbolpolitik ist, wurde hier schon mehrfach gesagt, und
zwar zu Recht. Sie tun immer so - auch Herr Friedrich
hat das heute getan -, als wäre das vorher überhaupt kein
Thema gewesen. Sie wissen: Es war schon ein Straftatbestand.
({4})
Jetzt haben Sie symbolisch einen eigenen Straftatbestand
eingeführt und meinen, damit etwas verhindern zu können. Kein Sachverständiger - auch keiner von Ihren hat diese Prognose bestätigt. Es bleibt also erst einmal
abzuwarten.
({5})
- Nein, das haben sie nicht bestätigt. Da waren wir wohl
in verschiedenen Anhörungen.
({6})
Sie haben eben gesagt, dass Sie mit sehr vielen NGOs
gesprochen haben. Ich frage mich wirklich, mit welchen.
Gerade weil Sie das Christliche hier immer wieder wiederholen: Die Prälaten der EKD und des Kommissariats
der deutschen Bischöfe haben am 11. März 2011 an uns
alle geschrieben. Sie haben gesagt, dass die Annahme
Aydan Özoðuz
vollkommen haltlos ist, dass man mit der Erhöhung der
Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre etwas
verhindern kann. Es bringe die Frauen in eine schlechte
Lage, hieß es, und man solle das auf gar keinen Fall machen.
Es haben uns sehr viele Organisationen geschrieben.
Wir haben mit ihnen darüber gesprochen. Man fragt
sich: Mit wem haben Sie gesprochen? Vielleicht haben
Sie ja mit welchen gesprochen, aber das, was sie gesagt
haben, haben Sie in dieses Gesetz dann aber nicht eingearbeitet. Das kann man festhalten.
({7})
Bei der Anhörung wurde auch gesagt, dass man doch
auch einmal mit der Gruppe der potenziell Betroffenen
oder mit denjenigen sprechen sollte, die mit diesen direkt zusammenarbeiten. Es gibt beispielsweise ein Aktionsbündnis muslimischer Frauen, das sich gegründet
hat und sogar vom Bundesministerium gefördert wird.
Sie haben nie mit ihnen gesprochen, wie ich erfahren
habe. Auch die haben noch einmal gesagt: Diese Frauen
haben Angst, sich zu melden; sie haben Angst vor Abschiebung. Es wird eher so sein, dass sie noch ein drittes
Jahr in diesem Gefängnis der Ehe bleiben, als dass ihnen
mit dieser Regelung wirklich geholfen wird. - Was Sie
da machen, geht also einfach nicht.
({8})
Die Zahlenspielerei und Ihren Hinweis auf Visastellen finde ich schon besonders bemerkenswert.
({9})
Die Bundesregierung sagt ja selber, belastbare Zahlen
könne man nicht nennen.
({10})
Was macht dann der Abgeordnete Grindel? Er fährt in
die Visastelle und fragt: Was habt ihr denn für Zahlen?
Die antworten: Wir verdächtigen soundso viele. - Das
sind dann für Sie all die Scheinehen. Das kann doch nun
nicht wirklich irgendeine belastbare Größe für unser Arbeiten hier im Bundestag sein. Das halte ich für absurd.
({11})
Letzter Punkt. Die Integrationskurse.
({12})
Sie haben eben noch einmal von Anreizen gesprochen.
Das Wort „Anreiz“ ist ja gefallen. Wenn man den Leuten
dann, wenn sie den Deutschtest bestehen, die Aufenthaltserlaubnis gibt - übrigens nur für bis zu einem Jahr;
Sie sagen ja: „bis zu einem Jahr“; es ist einmal festzuhalten, dass Sie nicht „ein Jahr“ sagen -, dann schafft das
Ihrer Meinung nach einen Anreiz. Was Sie damit in
Wirklichkeit erreichen, ist doch Folgendes: Diejenigen,
die mit guter Bildung hierherkommen und eine gute Voraussetzung haben, eine fremde und zudem schwere
Sprache wie Deutsch schnell zu lernen, sollen schnell
raus aus dieser Sache sein, eine solche Aufenthaltserlaubnis längerfristig haben und hier gut bleiben und arbeiten können. Die anderen werden an einem Gängelband gehalten.
Frau Özoğuz.
Ich bin sofort beim letzten Satz. - Damit schaffen Sie
so etwas wie eine zweite Kettenduldung.
({0})
Es wird also immer scheibchenweise etwas dazugegeben. Sie verhindern, dass diejenigen arbeiten können;
denn niemand gibt ihnen Arbeit, wenn sie keine ordentliche Aufenthaltsperspektive haben. Sie verhindern, dass
sie wirklich Anreize haben, sich hier viel besser zu integrieren.
Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
Das wird für die gesamte deutsche Gesellschaft in
meinen Augen kein Vorteil sein.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Serkan Tören von der FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Aydan, ich war am Montag auch in der Anhörung. Dort
haben uns die Sachverständigen ganz eindeutig gesagt,
dass ein eigener Straftatbestand „Zwangsehe“ eine Signalwirkung hat und ganz klar zeigt, dass unsere Gesellschaft mit so etwas nicht klarkommt und dass wir das
auch strikt unterbinden wollen.
({0})
Dass wir ein Problem mit Scheinehen haben, zeigt ja
auch der Beispielsfall eines ehemaligen SPD-Abgeordneten aus Hamburg. Ich glaube, dass das durchaus vorhanden ist; darüber brauchen wir uns hier auch nicht zu
streiten.
({1})
Sprachkenntnisse sind und bleiben die Voraussetzung
für ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland.
Dieses Kriterium gilt übrigens für alle Einwanderungsländer. Ob Neuseeland oder Kanada: Für eine Permanent
Residence, also eine Niederlassungserlaubnis, werden
mindestens grundlegende Sprach- und Landeskenntnisse
gefordert.
Ich halte diese Voraussetzung für sachlich völlig richtig. Es ist unerträglich, wie insbesondere die Kollegen
der Linken immer wieder versuchen, dieses Kriterium
als Schikane gegenüber Zuwanderern darzustellen.
({2}): Das ist es doch
auch!)
Deutsche Sprachkenntnisse sind die Voraussetzung
für Teilhabe am Arbeitsmarkt und an der Gesellschaft.
Diejenigen, die das leugnen, handeln verantwortungslos.
({3})
Wenn wir Zuwanderer verpflichten, Deutsch zu lernen,
und kostenintensive Angebote schaffen, dann müssen
wir auch klare Erwartungen und Ziele definieren und vor
allem auch deren Einhaltung überprüfen, mit allen Konsequenzen, und zwar zeitnah. Es soll künftig nach einem
Jahr erfolgen. Ich halte das nicht nur für die Motivation
der Zuwanderer für wichtig, sondern auch - das sage ich
in aller Deutlichkeit - für die Arbeit der Ausländerbehörden vor Ort.
Die meisten Zuwanderer nehmen die Kurse ernst und
wollen unsere Sprache zügig lernen.
({4})
Für alle anderen gibt es nun klare Anreize.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Bleiberecht für
Minderjährige war längst überfällig. Jetzt werfen uns
aber einige Propheten und Hobbystatistiker vor, das vorliegende Gesetz sei kein echter Fortschritt;
({5})
denn letztlich würden nur sehr wenige Jugendliche davon profitieren, weil wir den erfolgreichen Schulbesuch
voraussetzen, das aber nicht bis auf die letzte Schul- und
Kopfnote definieren.
Die Welt ist jenseits von Zeugnissen und Urkunden
komplizierter, als es Ihre Fantasie vielleicht zulässt. Das
gilt insbesondere für junge Menschen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus. Genau deshalb legen wir das
Kriterium „erfolgreich“ auch nicht bis ins letzte Detail
fest. Die Behörden vor Ort brauchen den Spielraum, um
den Realitäten dieser Schüler Rechnung zu tragen. Da
mag es Krankheit, Traumata oder eine unzureichende
Förderung geben. Vielleicht musste der Jugendliche in
seiner Schulkarriere eine Klasse wiederholen. Das alles
kann und sollte vor Ort und im Einzelfall berücksichtigt
werden.
Uns zu unterstellen, wir wollten den Kreis der begünstigten jungen Menschen absichtlich besonders klein
halten, ist nicht nur falsch,
({6})
es ist auch den vielen Tausend Jugendlichen und ihrer
berechtigten Hoffnung gegenüber unwürdig.
Mit diesen Regelungen sagen wir nicht: Seht zu, wo
ihr bleibt und wie ihr zurechtkommt! - Nein, insbesondere wir Liberale sagen: Bemüht euch, so gut ihr könnt,
und nehmt eure Chancen wahr! Dann habt ihr eine sichere und gute Zukunft in Deutschland.
({7})
Das ist keine Sanktion. Es ist ein Anreiz, eine Einladung und ein großartiges Versprechen.
In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämp-
fung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Op-
fer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer
aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften.
Zuvor will ich noch mitteilen, dass eine Erklärung
nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegt, die wir zu Pro-
tokoll nehmen.1)
Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5093, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4401
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der SPD für ein erweitertes Rückkehrrecht im Aufent-
haltsgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/5093, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/4197 abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
1) Anlage 10
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
tionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der SPD zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5093, den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 17/207
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Wiederum entfällt die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5093, den Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1557 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Auch hier
entfällt die weitere Beratung.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2325 mit dem Titel „Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt verwirklichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe f empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4681 mit dem Titel „Für ein wirksames Rückkehrrecht und eine Stärkung der Rechte der Opfer von
Zwangsverheiratungen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Innenausschuss unter
Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1571 mit dem Titel „Für eine wirksame
und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der
SPD-Fraktion angenommen.
Unter Buchstabe h empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2491 mit dem Titel „Opfer von
Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen sowie Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe i seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3065 mit dem Titel „Residenzpflicht abschaffen Für weitestgehende Freizügigkeit von Asylbewerbern
und Geduldeten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch
diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine gerechte Angleichung der Renten in
Ostdeutschland
- Drucksache 17/4192 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Roland Claus von der Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Linke fordert in der Tat gleiche Renten für
gleiche Lebensleistungen in Ost und West. Ich stelle erst
einmal erstaunt fest, dass der neue Bundesinnenminister,
der bis eben hier auf der Regierungsbank saß, die sein
neuer Arbeitsplatz ist, inzwischen den Plenarsaal verlassen hat. Ich weiß, dass der Bundesinnenminister für den
Osten zuständig ist. Vielleicht muss ihm jemand erklären, dass es sinnvoller wäre, hier zu bleiben.
({0})
Ich weiß, dass derjenige, der die Begriffe Ost und
West in den Mund nimmt, zuweilen als Ewiggestriger
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
angesehen wird. Aber zweigeteiltes Rentenrecht ist noch
immer Realität in dieser Republik und nicht irgendein
Phantomschmerz der Linken.
Ich will Ihnen von der jungen Frau Tina H. aus
Naumburg an der Saale erzählen. Tina H. wurde am
16. November 1989 geboren, eine Woche nach dem
Mauerfall. Im September 2006 begann sie ihre Berufsausbildung, und ab diesem Datum erwarb sie Rentenansprüche. Das war der Tag, an dem ihr gesagt wurde: Mit
deinem Eintritt in das Berufsleben musst du Rentenabschläge Ost in Kauf nehmen. Du bist uns 11 Prozent weniger wert. Du kriegst weniger.
({1})
- Natürlich ist das verkürzt, aber Fakt ist doch auch: Das
ist 21 Jahre nach der deutschen Einheit so etwas von absurd, dass Sie von der Koalition nicht dazwischenrufen,
sondern sich einfach nur schämen sollten. Das muss Ihnen einmal so gesagt werden.
({2})
Wenn Sie selbst den Nachwendegeborenen gleiches
Recht verweigern, dann ist das ein Anachronismus, den
wir überwinden wollen.
({3})
Ich darf Sie erinnern: In Ihrem eigenen Koalitionsvertrag steht auf Seite 84 der Satz:
Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein.
({4})
Nichts ist bisher geschehen. Aber auf die Frau Bundeskanzlerin - das weiß ich wohl - haben im Osten viele
Menschen vertraut. Sie hatten die Erwartungshaltung:
Sie weiß doch, was bei uns los ist. Sie muss sich doch
für uns einsetzen. - Alles bisher Fehlanzeige. Sie ist damit verantwortlich für sehr viel Enttäuschung und Frust
in den neuen Bundesländern.
({5})
Ich will Sie auch daran erinnern, dass es Bundeskanzlerin Merkel war, die am 9. Deutschen Seniorentag teilnahm, der im Juni 2009, drei Monate vor der Bundestagswahl, stattfand. Dort hat sie eine Lösung für die
Angleichung der Ostrenten noch in der ersten Hälfte der
Legislaturperiode versprochen.
({6})
Nichts ist bisher geschehen. Deshalb erwarte ich, dass
von der Kanzlerinnenpartei, der CDU, in dieser Debatte
hier jetzt Klarheit geschaffen wird.
({7})
Die Linke hat diese Problematik bekanntlich von Anfang an benannt ({8})
mir ist es seit Volkskammerzeiten 1990 bekannt - und
bringt nun einen Vorschlag ein, der von mehreren Gewerkschaften und Sozialverbänden ausgearbeitet wurde,
in dem gewissermaßen schon ein Kompromiss steckt.
Zugleich wird damit aber auch klar, dass in diesem
Bündnis ein Weg gefunden wurde, der gangbar ist. Wir
wissen, er ist nicht einfach, aber wir wollen diesen Weg
gehen und das Problem im Zeitraum 2012 bis 2016 gelöst wissen.
Der Lösungsweg wird in unserem Antrag beschrieben: Es muss eine deutliche Verbesserung der Lage der
Ostrentner von heute geben, die Hochwertung der Ostlöhne soll weiter bleiben, und es soll eine steuerfinanzierte, stufenweise Zuschlagsregelung für die Jahre 2012
bis 2016 geben. Dagegen erheben sich zuweilen Einwände; die Argumente sind aber hinlänglich ausgetauscht.
({9})
Wir dürfen hierbei nicht außer Acht lassen, dass im
Osten im Moment sehr viele auf ein Leben in Altersarmut hinarbeiten. Vergessen wir nicht: Nur 50 Prozent der
Beschäftigten haben überhaupt einen Arbeitsvertrag mit
Tarifbindung. Wir haben einen Lohn- und Einkommensabstand zwischen Ost und West von inzwischen etwa
800 Euro monatlich. Wir haben im Osten im Vergleich
zur gesamten Bundesrepublik einen doppelt so hohen
Teilzeit- und Leiharbeitsanteil. Das alles führt dazu, dass
Rentenansprüche künftig so gering sind, dass Altersarmut entsteht. Das ist ein Zustand in dieser Republik, den
wir einfach nicht hinnehmen und nicht dulden wollen.
({10})
Ich habe schon im Vorfeld gehört, unsere Forderungen seien billiger Wahlkampf. Dazu sage ich Ihnen nur
eines: Billig ist das wirklich nicht, was wir hier vorschlagen.
({11})
Wenn Wahlkampf heißt, den Leuten vor der Wahl die
Wahrheit zu sagen und die Lügen der Regierung Lügen
zu nennen, dann können Sie das auch Wahlkampf nennen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Ziel ist klar - wir sind uns an dieser Stelle
auch einig -: eine gerechte Angleichung der Renten in
Ostdeutschland.
({0})
Sie haben die entsprechende Passage aus unserer Koalitionsvereinbarung zitiert. Wir sind auf dem Weg dahin,
dieses Ziel zu erreichen. Es geht uns darum, dass eine
Gleichbehandlung von Ost und West stattfindet, das
heißt, dass es zu einem einheitlichen Rentenwert in Ost
und West kommt.
Gleichwohl sage ich aus ostdeutscher Perspektive, die
ich repräsentiere: Angleichung heißt nicht automatisch,
dass ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner mehr Geld
bekämen. Der Sachverständigenrat kam zu verschiedenen Ergebnissen und stellte unter anderem fest, dass die
jetzigen Rentner aus den neuen Bundesländern nicht automatisch mehr Rente bekämen, da ein höherer Rentenwert durch weniger Entgeltpunkte - ich weiß, da sind
wir anderer Meinung als Sie - ausgeglichen werden
müsste. Es ist nur recht und billig, dass Sie das den Bürgerinnen und Bürgern ebenfalls sagen.
({1})
Die unterschiedliche Bewertung der Löhne in Ost und
West weiterhin festzuschreiben, wie Sie es fordern,
würde meiner Meinung nach gerade nicht zu einer
Gleichbehandlung führen, um die es uns - Stichwort:
Gerechtigkeit - doch eigentlich gehen sollte. Die Angleichung - so sehen wir das; ich weiß nicht, was Sie
sich vorstellen - führte dazu, dass diejenigen, die jetzt in
Frankfurt an der Oder Anwartschaften erarbeiten, eben
nicht oder nur nach einem längeren Arbeitszeitraum
Renten in der gleichen Höhe bekommen wie diejenigen,
die in Frankfurt am Main Anwartschaften erarbeiten.
Das ist ebenfalls ungerecht.
({2})
Wenn Sie, liebe Kollegen von der Linken, den Eindruck erwecken, dass es möglich sei, nur die Entgeltpunkte bzw. Rentenpunkte anzugleichen, ohne dabei die
Höherwertung der Einkommen anzutasten, schüren Sie
eine Illusion - unter anderem eine finanzielle -, sowohl
bezogen auf den Einzelbürger als auch auf die Kassen.
({3})
Letztlich belügen Sie ein Stück weit Ihre Wähler, weil
das so nicht machbar ist. Das Ganze ist illusorisch, nicht
nur im Hinblick auf das Finanzvolumen. Wenn man an
einem Mobile auf der einen Seite etwas kappt,
({4})
dann kann man nicht davon ausgehen, dass es auf der anderen Seite keinen Ausschlag gibt; schließlich wird die
Balance nicht gewahrt. Wir haben es nicht mehr nur mit
den Unterschieden zwischen Ost und West zu tun; inzwischen gibt es in Deutschland auch andere Unterschiede.
Sich nur darauf zu berufen, dass die Spaltung zwischen
Ost und West noch da ist - sie ist tatsächlich noch da -,
ist nicht legitim; das ist nämlich nicht das Einzige, was
man in die Waagschale werfen muss. Sie wollen Ungerechtigkeit verhindern. Darin sind wir mit Ihnen einig.
Folgte man Ihren Vorschlägen, bliebe aber die Ungerechtigkeit aufseiten der alten Bundesländer bestehen.
Das Problem ist: Die differenzierte Entgeltberechnung im Osten geschah in der Hoffnung, dass es zu einer
Lohnsteigerung kommt, die bis heute aufgrund einiger
Behinderungen in der gewünschten Schnelligkeit nicht
eingetreten ist. Aufgrund bestimmter Faktoren ist es also
nicht schnell genug geschafft worden, das Ziel der Rentenangleichung zu erreichen. Im Ziel als solchem sind
wir mit Ihnen aber einig.
Was die Problembeschreibung angeht, liegen wir nah
beieinander. Sie werfen uns vor, seit 20 Jahren nichts getan zu haben. Dabei stellen Sie eine Verbindung zum
Thema Altersarmut her; das haben Sie hier ebenfalls eingebracht. Wir haben aber darüber geredet. Die Kommission für die Entwicklung von Konzepten gegen Altersarmut macht sich an die Arbeit. Auch wenn dieses Thema
erst in einer Weile auf uns zukommt, gehen wir es also
jetzt schon an. Zu sagen, nichts sei geschehen, ist einfach ein bisschen lapidar.
({5})
Wir haben uns mit unserem Koalitionspartner unterhalten. Ich habe mit Kollegen aus der SPD-Fraktion gesprochen. Wir haben mit Verdi Gespräche über das von
Ihnen als Maßstab bezeichnete Verdi-Modell geführt.
({6})
Wir haben mit Bürgern verschiedenster Zugehörigkeit
Gespräche geführt, mit Bürgern aus dem Osten wie aus
dem Westen, mit Bestandsrentnern sowie mit zukünftigen Rentnern. Wir haben festgestellt: Viele in den neuen
Bundesländern sind ungehalten. Das liegt aber auch daran, dass Sie diese Haltung ein Stück weit schüren.
Wenn wir uns aber einzig und allein darum kümmern,
führt das dazu, dass Bürger aus dem Westen genauso ungehalten reagieren. Ich möchte aus einer Bürgerzuschrift
zitieren: Das Baumaterial für die Brücke der Rentenüberleitung nach 1990 war Geld, viel Geld. Dieses Geld
kam ausschließlich aus dem Westen. Der Osten war
pleite, wie ein Staat nur pleite sein kann. - Da wird auf
das gleiche Pferd gesetzt und nicht verstanden, warum
wir noch einmal nur die eine Seite betonen wollen. Auch
aus dieser Perspektive müssen wir als Bundespolitiker
denken.
Im Ziel sind wir uns relativ einig. Bei der Bewertung
sind wir uns nicht ganz einig. Über den Lösungsweg
sind wir uns überhaupt nicht einig. Wir wollen gerne
sorgfältig arbeiten und dann einen Vorschlag präsentieren.
({7})
Heute Morgen gab es eine Pressemitteilung der
Volkssolidarität, in der Professor Dr. Gunnar Winkler
mit den Worten wiedergegeben wird:
Bis heute liegt dem Bundestag lediglich ein Antrag
der Fraktion DIE LINKE vor, während sich alle anderen bislang zurückhalten.
Das ist nicht wahr. Wir arbeiten. Wir wollen aber erst
dann etwas vorlegen, wenn es wirklich eine gute Diskussionsgrundlage darstellt.
({8})
Jemand sagte mir gestern: Gutes Rechnen und Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
({9})
- Nein, wir wollen nicht verzögern. Wir wollen aber, wie
es immer wieder angekündigt wird, zur Mitte der Legislatur dieses Ding sauber vorstellen.
({10})
In der heutigen Pressemitteilung der Volkssolidarität
heißt es außerdem:
Wir wissen um die Schwierigkeiten einer gerechten
Lösung, …
Von Vertrösten oder davon, die Umsetzung durch Untätigkeit zu übergehen, kann keine Rede sein. Die Schwierigkeit besteht darin, eine wirkliche Gleichbehandlung
umzusetzen.
Unser Ziel ist weiterhin - wie in der Koalitionsvereinbarung geschrieben - eine weitgehende Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ost und West bis zum Jahr 2019.
Wir suchen nach Möglichkeiten, die auf der einen Seite
einen Weg bieten, die Bestandsrenten nicht zu mindern,
und die auf der anderen Seite die Anwartschaften, die
jetzt erarbeitet werden, nicht von vornherein verschlechtern.
({11})
Das wirkt für viele wie die Quadratur des Kreises. Das
ist aber unsere Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben und der wir uns stellen.
Im Ziel sind wir uns einig, aber nicht im Weg. Die
Übertragung des Rentensystems - das habe ich auch aus
Ihren Mündern gehört - war eine große Leistung, auch
wenn noch etwas Arbeit dabei bleibt. Die Löhne sind
nach 1990 enorm gestiegen. Daran konnten auch Rentnerinnen und Rentner teilhaben. Das war nicht selbstverständlich. Auch da ist noch etwas nachzulegen.
({12})
Genau an dieser Stelle gilt es, anzusetzen. Das haben Sie
auch in Ihrem Antrag angesprochen. Dies geht zum einen durch Angleichung und zum anderen durch Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt.
Sie wissen aus unseren Stellungnahmen im Sozialausschuss, dass es uns besonders wichtig ist, das Sozialsystem über Arbeit stabiler zu machen und damit auch die
Renten für die Menschen in Ostdeutschland zu stützen.
Diesen Weg gilt es weiterzugehen. Über die Richtung
sind wir uns einig, über den Weg leider noch nicht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt von der
SPD-Fraktion.
({0})
Guten Tag, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 20 Jahre nach der Wiedervereinigung kann
man es den Rentnerinnen und Rentnern in den neuen
Bundesländern wirklich nicht mehr zumuten, dass immer noch unterschiedliche Rentenberechnungssysteme
existieren. Das ist so.
({0})
Lieber Roland Claus, auf der einen Seite reden wir
von Ungerechtigkeiten. Auf der anderen Seite sagen Sie
aber: Die Höherwertung im Osten soll bleiben. Dann
würden neue Ungerechtigkeiten entstehen, zusätzlich zu
denen, die zurzeit schon stattfinden. Die Leute in den
neuen Bundesländern, die 100 Prozent Tarif bekommen,
erhalten natürlich später deutlich mehr Rente als jemand,
der in Frankfurt am Main arbeitet.
({1})
Das ist so, und das können wir auch nicht wegdenken.
Lassen wir es einmal dabei.
Ich glaube auch nicht, dass sich die Deutschen schämen müssen. Gerade die Rentenleistung - das haben die
Väter der Einheit durchaus so gewollt - war ein großer
Solidaritätsakt. Diesen muss man einfach anerkennen.
Wer das nicht macht, verkennt die Lage.
({2})
Silvia Schmidt ({3})
Wir brauchen - ich habe es schon in meiner letzten
Rede deutlich gemacht - endlich ein einheitliches Rentenrecht, um Ost und West in unserer Gesellschaft zusammenzuführen.
Sehr verehrter Herr Heinrich, Sie haben das Modell
des Sachverständigenrates angesprochen. Dieses beinhaltet im Grunde genommen eine rein technische Lösung. Im Klartext verlangt es von den Rentnern und
Rentnerinnen in den neuen Bundesländern, dass sie auf
die höhere Bewertung ihrer Verdienste um die fehlenden
ungefähr 11 Prozent verzichten. Das halte ich für ungerecht. Hier müssen wir zügig nach neuen Lösungsmöglichkeiten suchen. Dabei werden auch Sie sicher mitmachen.
({4})
Wir können allerdings sehr schnell dafür sorgen - das
habe ich bereits beim letzten Mal angesprochen; das findet sich auch im Positionspapier der SPD-Landesgruppe
Ost -, dass zum Beispiel die Kindererziehungszeiten und
die Wehrpflichtszeiten in Ost und West einen einheitlichen Rentenwert erhalten. Auf beiden Seiten haben Mütter Kinder erzogen - ich glaube, da gibt es wirklich
keine Unterschiede -, und ebenso gab es auf beiden Seiten die Wehrpflicht; diese anderthalb Jahre müssen in
gleicher Weise angerechnet werden. Hier können wir
schnell handeln. Es gibt keinen sachlichen Grund, da
eine Trennung vorzunehmen.
({5})
Wir können an diesen Beispielen sehr deutlich machen,
dass die Lebensphasen in Ost und West gleich viel wert
sind. Die Angleichung der Kindererziehungszeiten würde
im Schnitt pro Person 240 Euro im Jahr mehr kosten. Ich
denke, das kann sich eine Solidargemeinschaft durchaus
leisten.
Die Rentensystemangleichung, das heißt die Angleichung der Rentenwerte auf der Basis von Entgeltpunkten, sowie die Höherwertung niedriger ostdeutscher Einkommen stellen eine sehr schwierige Aufgabe dar.
Darüber müssen wir - da sind wir alle uns im Deutschen
Bundestag wohl einig - noch heftig diskutieren, um eine
gerechte Lösung zu finden.
Den Vorschlag von Verdi finde ich persönlich sehr
gut. Er ist auf zehn Jahre angelegt. In Ihrem Vorschlag
hingegen, lieber Roland Claus, wird von fünf Jahren ausgegangen. Das ist etwas zu kurz gesprungen.
({6})
Wenn wir die Lebensarbeitszeit der Rentner und Rentnerinnen im Bestand ansehen und in diesem Zusammenhang von Redlichkeit sprechen, dann müssen wir uns
auch die Frage stellen, ob es redlich ist, davon auszugehen, dass diese Aufgabe innerhalb von fünf Jahren gestemmt werden kann. Das schafft keiner; da sollten wir
ganz ehrlich sein. Der Haushalt gibt das im Moment
nicht her. Das sollten wir unbedingt zur Kenntnis nehmen.
({7})
Wir haben neue Vorschläge vorgelegt, auf die ich
ganz kurz eingehen möchte. Ich hatte bereits in meiner
letzten Rede angesprochen, dass wir vorschlagen, für
bestimmte Personengruppen - bei einigen stimmen wir
natürlich nicht überein -, zum Beispiel mithelfende Familienmitglieder, Balletttänzerinnen und -tänzer oder
Krankenschwestern, einen Solidarfonds aufzulegen.
({8})
Denn es kann doch Frauen und Männern, die 35 oder
40 Jahre gearbeitet haben, nicht zugemutet werden, später zum Amt gehen und Grundsicherung beantragen zu
müssen. Wir erwarten, dass man hier noch einmal tief in
die Tasche greift und 500 Millionen Euro in diesen
Fonds steckt, um diesen Frauen und Männern entgegenzukommen.
Ich will noch einen anderen wichtigen Bereich ansprechen. Im Grunde genommen brauchen wir entweder
eine Mindestrente, wie sie bis 1991 bestanden hat und
auch noch fortgeführt wird - allerdings nicht mehr in
dem Maße -, oder eine Sockelrente, damit Altersarmut
in Zukunft gar nicht mehr entstehen kann.
({9})
Das wird ein Problem für die Kommunen sein. Das müssen wir erneut angehen.
({10})
Die SPD hat im Willy-Brandt-Haus beschlossen, gemeinsam mit der Kommission für Konzepte gegen Altersarmut einen Lösungsweg zu suchen. Diesen werden
wir dann sicherlich mit Ihnen gemeinsam gehen können.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
in den letzten Wochen und Monaten oft genug über das
Thema Rentenangleichung in Ost und West diskutiert
und wissen, dass es für uns alle kein leichtes Thema ist.
Wir wollen Gerechtigkeit walten lassen, und zwar, wenn
es geht, für alle. Ich bin deshalb froh, dass die Koalition
aus CDU/CSU und FDP zum Beispiel Verbesserungen
im Bereich des Opferentschädigungsgesetzes vorgenommen hat. Egal ob jemand in Frankfurt am Main oder in
Frankfurt an der Oder Opfer einer Gewalttat geworden
ist: Er bekommt von der Unfallversicherung die gleiche
Entschädigung.
Dieser Weg, den Sie da eingeschlagen haben, ist ein
richtiger Weg. Wir sollten diesen Weg gemeinsam weitergehen. Die Rentnerinnen und Rentner müssen sich auf
die Politik verlassen können. Für sie ist es nicht nachvollziehbar, wenn Schwarz-Gelb so entscheidet und
dann Rot-Grün vielleicht anders entscheidet. RentnerinSilvia Schmidt ({12})
nen und Rentner brauchen Sicherheit. Das sind wir ihnen
schuldig.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Claus, weil Ihre Aussagen seltsam anmuten, will
ich zunächst an Ihre Adresse Folgendes sagen: Die Unterschiede zwischen Ost und West in der Rente hatten
und haben wir nur, weil 1961 „angeblich“ niemand die
Absicht hatte, eine Mauer zu bauen.
({0})
Auf der einen Seite dieser Mauer wurde in den folgenden vier Jahrzehnten eine Volkswirtschaft vor die
Wand gefahren. Sie können auch sagen: an die Mauer
gefahren. Auf der anderen Seite der Mauer ist ein Staat
mit stabilen sozialen Sicherungssystemen entstanden,
({1})
der selbst die große Herausforderung der Überführung
der Altersanwartschaften aus der ehemaligen DDR in
das System des SGB VI gemeistert und geschultert hat.
Das ist eine riesige Leistung.
({2})
Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass sich
heute die politischen Erben derjenigen, die damals die
Mauer gebaut haben, hier hinstellen und sagen: Ihr erhöht die Renten nicht schnell genug.
({3})
Herr Claus, so kann man es nicht machen. Das ist politisch nicht glaubwürdig. Sie fischen hier im Trüben.
Aber niemand, der das System ernsthaft beleuchtet, wird
Ihnen das abnehmen.
({4})
Wir wollen unverändert eine zügige und zeitnahe Angleichung des Rentenrechts in Ost und West. Das ist der
Punkt, auf den wir uns im Koalitionsvertrag mit den
Kollegen der Union verständigt haben. Herr Claus, eine
Legislaturperiode umfasst vier Jahre.
({5})
Wir haben erst eineinviertel Jahre dieser Legislaturperiode hinter uns; wir wollen auch noch in den kommenden zweidreiviertel Jahren weiter an dem arbeiten, was
wir uns im Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 vorgenommen haben. Wir wollen und werden ein einheitliches
Rentenrecht einführen.
Die FDP-Fraktion hat mit einem Antrag im Juni 2008
als erste Fraktion im Deutschen Bundestag deutlich gemacht, wie sie sich das vorstellt. Wir glauben nämlich,
dass es 20 Jahre nach der deutschen Einheit Zeit ist, ein
einheitliches Rentenrecht mit einheitlichen Rentenwerten, mit einheitlichen Entgeltpunkten und mit einer einheitlichen Beitragsbemessungsgrenze einzuführen. Bei
Wahrung aller Ansprüche, also bei Wahrung aller Anwartschaften, die Rentner in den neuen Bundesländern,
aber auch Erwerbstätige mit Rentenanwartschaften erworben haben - mit einem Wort: bei Besitzstandswahrung -, soll ab einem Stichtag im ganzen Bundesgebiet
ein gleicher Beitrag einen gleichen Rentenanspruch erbringen. Ich denke, das ist eine klare und faire Lösung.
Das kann die Richtschnur für das sein, was wir tun wollen.
({6})
Dem hat sich übrigens der Sachverständigenrat der
Bundesregierung in seinem Jahresgutachten 2008/09 angeschlossen. Ich zitiere von Seite 365 dieses Gutachtens:
Da sich der in den ersten Jahren nach der Vereinigung einsetzende Prozess einer Angleichung der in
Ostdeutschland gezahlten Löhne in den letzten Jahren zunehmend verlangsamt hat, seit dem Jahr 2005
zum Stillstand gekommen zu sein scheint und einer
zunehmenden Heterogenität der regionalen Entlohnungsstrukturen in beiden Gebietsständen gewichen ist, führt das in den neuen Ländern geltende
Rentenrecht zu verteilungspolitisch kaum zu vermittelnden Effekten.
Auf Seite 376 des gleichen Gutachtens des Sachverständigenrats heißt es:
Eine … Option besteht darin, eine besitzstandswahrende Umbasierung der rentenrechtlichen Größen
sowohl in den alten wie in den neuen Ländern zu einem bestimmten Stichtag … auf bundesweit einheitliche Größen durchzuführen.
Das ist genau das, was die FDP zuvor schon vorgeschlagen hatte.
Einen Punkt, der für uns ganz wichtig war und den
wir auf Vorschlag der Kollegen aus den neuen Ländern
in unserer Fraktion aufgenommen haben, hat der Sachverständigenrat weggelassen: eine Abfindungsregelung
für Entgeltpunkte Ost, die zum Umstellungsstichtag
noch eine Anpassungserwartung haben. Wir wollen hier
ein Wahlrecht schaffen, was ich nach wie vor für eine
faire Lösung halte. Man soll sich für diese Anpassungserwartung entweder mit einer Einmalzahlung abfinden
lassen oder die weitere Entwicklung des Entgeltpunktes
Ost abwarten können. Mit dieser Lösung werden die Anwartschaften der Versicherten in den neuen Bundesländern fair berücksichtigt.
Den Weg, den Sie, Herr Claus, vorschlagen, halte ich
allerdings für nicht gangbar. Sie haben gesagt, dass das
auch etwas kostet. Ja, es kostet etwas.
({7})
Sie haben die Zahlen nicht genannt. Das sind in der
Endausbaustufe, also nach fünf Jahren, erwartungsgemäß etwa 6 Milliarden Euro pro Jahr, und zwar steuerfinanziert.
({8})
Wenigstens ist das Ganze nicht auch noch beitragsfinanziert, denn dann wäre das Äquivalenzprinzip ganz offensichtlich verletzt. Im Ergebnis hätte man nun unterschiedliche Rentenzahlungen für gleiche Beiträge, und
das ist etwas, was man nur schwer vermitteln kann.
Ich sage das auch vor dem Hintergrund - das ist
meine letzte Bemerkung in dieser Debatte - des Gutachtens des Bundesrechnungshofes, das den Kollegen im
Haushaltsausschuss im April 2010 zugeleitet wurde. Darin ist sehr deutlich gesagt worden - ich zitiere aus dem
Bericht des Rechnungshofes an den Haushaltsausschuss -:
Es besteht die Gefahr, dass die Gruppe der Beschäftigten, die auf Westniveau bezahlt werden, so groß
ist, dass die Regelungen über die Entgeltpunkte Ost
und über die Beitragsbemessungsgrenze Ost nicht
mehr mit dem ursprünglichen Zweck vereinbar
sind, dem Durchschnittsverdiener Ost einen gleich
hohen Rentenertrag wie einem Durchschnittsverdiener im alten Bundesgebiet zu verschaffen.
({9})
Herr Claus, dieses Problem, das der Bundesrechnungshof schon im letzten Jahr beschrieben hat, würden
Sie mit Ihrer stufenweise steuerfinanzierten Lösung
noch weiter verschärfen. Am Ende wäre das gar nicht
mehr darstellbar. Deswegen können wir Ihrem Vorschlag
nicht zustimmen. Nehmen Sie Vernunft an. Sehen Sie
sich das, was wir vorgeschlagen haben, einmal in Ruhe
an. Ich glaube, das ist ein fairer und gerechter Weg, auf
den man sich verständigen könnte. Aber Ihre Vorschläge
können unsere Zustimmung nicht finden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang StrengmannKuhn von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl ich nur vier Minuten Zeit habe, muss man den Zuschauerinnen und Zuschauern erst einmal ganz kurz erklären, worüber wir hier überhaupt reden.
({0})
Entgeltpunkte, allgemeiner Rentenwert, Stufenmodell
etc.: Das ist alles unglaublich kompliziert.
({1})
Vor 20 Jahren gab es eine Debatte darüber, wie man
die Ost-Mark in D-Mark umrechnet. Viele Ökonomen
haben davor gewarnt, das eins zu eins zu machen. Politisch war das aber nicht anders möglich. In der Rente ist
das aber nicht eins zu eins geschehen, sondern man hat
gesagt, dass man die Rente während einer Übergangszeit
für Ost und West unterschiedlich berechnet.
({2})
Dementsprechend wurde für die Rente eine D-Mark im
Osten anders angesetzt als im Westen.
({3})
Diese Übergangsfrist gilt immer noch. Deswegen finden
wir es sehr richtig, dass, wie im Koalitionsvertrag steht,
jetzt endlich ein einheitliches Rentenrecht in Ost und
West hergestellt werden soll.
Der Unterschied im Rentenrecht ist Folgender: Im
Laufe seines Lebens sammelt man Entgeltpunkte, und
diese Entgeltpunkte werden am Ende mit dem aktuellen
Rentenwert multipliziert. Bei den Entgeltpunkten zählt
ein im Osten verdienter Euro mehr für die Rente - im
letzten Jahr noch 19 Prozent mehr - als ein im Westen
verdienter.
Auf der anderen Seite ist der aktuelle Rentenwert im
Osten um zehn Prozent geringer. Im letzten Jahr betrug
er 24,13 Euro im Osten und 27,20 Euro im Westen. Das
führt also dazu, dass bei der Rente die Menschen im Osten insgesamt quasi bevorzugt werden, denn 1 Euro im
Osten führt zu einer höheren Rente als 1 Euro im Westen. Wir halten das für ungerecht und möchten sowohl
diese Aufwertung als auch die unterschiedliche Behandlung bei der Rente mit unterschiedlichen Rentenwerten
abschaffen.
({4})
Man muss allerdings an beides herangehen.
Das Problem ist: Der Satz im Koalitionsvertrag ist
toll, es gibt aber immer noch kein Konzept der Bundesregierung.
({5})
- Stellen Sie eine Frage, Herr Kolb. - Richtige Vorschläge gibt es noch nicht. Es gibt ein paar Andeutungen. Das, was Herr Heinrich gesagt hat, klang relativ
sympathisch. Das nähert sich sehr dem Konzept der GrüDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
nen an. Das Konzept der FDP liegt davon allerdings
noch weit weg. Von der Regierung haben wir bisher
noch gar nichts dazu gehört. Es gab Antworten auf Anfragen, die lauteten: Es ist alles kompliziert und muss
gerecht sein. - Das ist richtig. Es ist kompliziert, und es
muss auch gerecht sein. Aber wir erwarten von der Regierung endlich einmal Vorschläge.
({6})
Umgekehrt macht die Linke jetzt einen Vorschlag.
Den halten wir allerdings auch nicht für überzeugend.
Denn erstens wollen wir ein einheitliches Rentenrecht so
schnell wie möglich. Die Rentenversicherung braucht
ein bisschen Zeit, jedoch wäre eine Änderung zum Beispiel zum 1. Juli nächsten Jahres möglich. Wir brauchen
nicht, wie die Linke das jetzt vorschlägt, ein Stufenmodell bis 2016, das die Grenze zwischen Ost und West
noch weiter zementiert. Nach Ihrem Vorschlag gäbe es
auch nach 2016 noch immer kein einheitliches Rentenrecht. Sie wollen einfach nur den aktuellen Rentenwert
vereinheitlichen.
({7})
Das ist immer noch keine Einheit. Sie wollen die Grenze
beibehalten.
Die Kollegin Schmidt sagte vorhin, das sei alles viel
zu schnell, was die Linke fordere. Sie wolle lieber noch
länger warten. Auch das ist nicht unsere Position.
Wir wollen möglichst bald, so schnell wie möglich
ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West.
({8})
Der zweite Punkt, den wir für unbefriedigend halten,
ist schon angesprochen worden. Nach dem Konzept der
Linken wird wieder einmal Geld ausgeschüttet, ohne zu
sagen, wo es denn herkommt. Herr Claus sagte selber, es
sei nicht ganz billig. Aber wo das Geld denn herkommen
soll, sagt er nicht.
Man sieht also: Die Regierung hat kein Konzept. Die
Linke hat ein Konzept, das falsch ist. Bei der SPD weiß
man nicht so genau, wie das Konzept aussieht. Es ist
also gut, dass es die Grünen gibt, die Konzeptpartei.
({9})
Wir werden nächste Woche einen Antrag vorlegen, mit
dem wir unser Konzept zur Diskussion stellen.
({10})
Dann können wir im Ausschuss noch einmal darüber reden. Wie gesagt, der Herr Heinrich war ja schon so weit,
dass er sich unserem Konzept sehr genähert hat. Vielleicht können wir ihm ein paar Ideen vermitteln. Ich
freue mich auf die weitere Debatte dazu.
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Max Straubinger hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin gespannt auf die Vorschläge von Herrn
Strengmann-Kuhn. In der Regel sind Sie immer dagegen.
({0})
Das wissen wir ja in diesem Haus. Von daher werden wir
die Beratungen abwarten.
Die Linken fordern heute wieder populistisch eine
Rentenangleichung, die eine gravierende Besserstellung
der Menschen im Osten im Rentensystem bedeuten
würde, nämlich die Angleichung des Rentenwertes auf
Westniveau bei gleichzeitiger Beibehaltung der Höherbewertung der Ostzahlungen.
({1})
Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist sicherlich
nicht im Sinne eines von den Bürgerinnen und Bürgern
getragenen und auch verstandenen Rentensystems. Mit
Ihrem Antrag würde eine gewaltige Spaltung in
Deutschland vollzogen werden. Das lehnen wir natürlich
ab.
({2})
- Das ist das Interesse der Linken in unserem Lande.
({3})
Man muss auch darlegen, dass gerade die jetzigen
Rentnerinnen und Rentner und die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner, die in Ostdeutschland leben, erst
durch die Wiedervereinigung eine wichtige und gute Altersversorgung bekommen haben. Denn im bankrotten
System der DDR waren sie in der Vergangenheit auf die
Almosen angewiesen, die der Fünfjahresplan den Rentnerinnen und Rentnern zugestanden hat.
({4})
Das ist die Realität, Herr Kollege Claus.
Wenn wir über die Rentenüberleitung und die Angleichung der Renten in Ost und West reden, dann sollten
wir auch anfügen, dass die durchschnittlichen Renten
der Menschen im Osten höher sind als im Westen. Das
ist eine große solidarische Leistung auch der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler im Westen. Dazu stehen
wir.
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie sollten in unserem Land keine Spaltung betreiben.
Der Kollege Strengmann-Kuhn hat bereits verdeutlicht, dass das unterschiedliche Lohnniveau in Ost und
West im jetzigen Rentenrecht gut berücksichtigt wird. Ich
möchte es den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der
Tribüne anhand von Zahlen verdeutlichen: Der Durchschnittslohn im Westen liegt heute bei 31 000 Euro. Damit erwirtschaftet man im Westen einen Entgeltpunkt in
der Rentenversicherung. Der Durchschnittsverdienst im
Osten liegt bei 26 000 Euro. Damit erwirtschaftet man
im Osten ebenfalls einen Entgeltpunkt.
({6})
Das bedeutet: Es werden gleiche Verhältnisse geschaffen, obwohl ungleiche Beitragszahlungen erfolgt sind.
Dazu stehen wir. Herr Kollege Claus, die gesellschaftliche Spaltung, die die Fraktion der Linken mit ihrem Antrag herbeireden will, gibt es also nicht. Damit sollen nur
dumpfe Gefühle geweckt werden, mit denen Sie im
Wahlkampf bei den Bürgerinnen und Bürgern punkten
wollen.
({7})
Das wird aber nicht verfangen - davon bin ich überzeugt -, denn die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR, in Ostdeutschland, wissen, dass sie sich auf
das deutsche Rentenversicherungssystem verlassen können und sie darüber hinaus eine gerechte Leistung für
das bekommen, was sie in ihrem Leben erwirtschaftet
haben.
Verehrte Damen und Herren, es ist schon unverschämt, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Wir haben
da noch ein kleines Finanzierungsproblem.“ Kollege
Kolb hat dargelegt, dass die Umsetzung Ihres Antrags zu
Mehrausgaben der Steuerzahler in unserem Land in
Höhe von 6 Milliarden Euro führen würde.
({8})
- Pro Jahr, wohlgemerkt. - Das wird von Ihnen verbrämt.
({9})
Wir zahlen bereits Steuermittel in Höhe von 80 Milliarden Euro in unser Rentensystem, um damit für Solidarität in unserer Gesellschaft zu sorgen. Es ist aber notwendig, darauf hinzuweisen, dass die Finanzierung unseres
Rentenversicherungssystems vor allem über Beitragszahlungen und weniger über Steuermittel gewährleistet
werden muss.
({10})
Mit der Beitragsbezogenheit wird letztendlich die Grundlage für eine vernünftige Rente geschaffen. Davon wird
aber mit Ihrem Antrag verstärkt Abstand genommen.
Deswegen lehnen wir Ihren Antrag auch unter diesem
Gesichtspunkt ab.
Ich möchte auf einen weiteren wichtigen Punkt eingehen. Damit wir den Bürgerinnen und Bürgern auch zukünftig gute Rentenleistungen bieten können, ist es entscheidend, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des
Landes zu erhalten. Ich erinnere mich noch an die Debatte, die wir heute frühmorgens geführt haben: Der
Kollege Gysi hat hier seine eigene wirtschaftspolitische
Philosophie dargelegt. Demnach soll der Siemens-Konzern auf Exporte von Maschinen und Anlagen für Kraftwerke verzichten. Damit würden wichtige, ertragreiche
Arbeitsplätze in unserem Land vernichtet, die dazu angetan sind, unser Rentenversicherungssystem zu stützen
und den Menschen soziale Sicherheit zu geben.
({11})
Daran zeigt sich sehr deutlich: Sie wollen wieder zurück
zum alten sozialistischen System und damit die Menschen sozusagen in Armut gleichmachen.
({12})
Das werden wir verhindern. Wir lehnen deshalb Ihre Anträge ab. Die Menschen können sich auf unser bewährtes
Rentenversicherungssystem verlassen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4192 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP
Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zur Ergänzung von
Artikel 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ({1}) hinsichtlich der Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({2})
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Präsident Dr. Norbert Lammert
Euro ist - Ratsdok. 17620/10 ({3}),
Anlage 1 hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes ({4}) i. V. m. § 10 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit
von Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Herstellung des Einvernehmens bezüglich
der Ergänzung von Artikel 136 AEUV zur
Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({5}) verantwortlich gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether
Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist - Ratsdok. 17620/10 ({6}),
Anlage 1 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
- zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard
Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herstellung des Einvernehmens zwischen
Bundestag und Bundesregierung zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für
die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG
i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksachen 17/4880, 17/4881, 17/4882,
17/4883, 17/5094 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({7})
Michael Link ({8})
Dr. Diether Dehm
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD zu
ihrem eigenen Antrag vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache 45 Minuten dauern. - Auch dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Michael Link für die FDP-Fraktion.
({9})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die FDP
setzt als Europapartei fest und konsequent auf die europäische Integration. Ein ganz zentraler Teil der europäischen Integration ist die gemeinsame Währung. Diese
gemeinsame Währung ist in schweres Fahrwasser geraten. Ich lege aber großen Wert darauf, zu sagen: Wir haben es nicht mit einer Euro-Krise zu tun.
({0})
Das ist eine Verschuldungskrise, teilweise auch eine
Banken- und Wirtschaftskrise. Die Ursache für diese
Verschuldungskrise liegt weit vor dem Jahr 2008, in dem
die Finanzkrise begonnen hat.
({1})
Ursachen waren extrem laxe und nachlässige Ausgabenprogramme, eine überbordende Staatsverschuldung und
ein fortgesetztes Verstoßen gegen den Stabilitäts- und
Wachstumspakt. In den letzten Jahren hat die Europäische Kommission zwar 26 Defizitverfahren eingeleitet,
die Euro-Gruppe hat darauf aber exakt null Mal mit
Sanktionen reagiert.
Aus meiner Sicht ist es wichtig, immer wieder zu sagen: Wir haben keine Euro-Krise, aber wir haben eine
Krise, was die Art und Weise angeht, wie wir mit unseren Regeln umgehen. In zahlreichen Mitgliedstaaten haben wir eine Verschuldungskrise. Das gilt übrigens auch
für die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere seit
der Regierungszeit von Rot-Grün, und wir müssen heute
hart arbeiten, um das aufzuarbeiten.
({2})
FDP- und CDU/CSU-Fraktion wollen, dass mit einem
Europäischen Stabilisierungsmechanismus die Lehre aus
dieser Verschuldungs- und Bankenkrise gezogen wird.
Der ESM und der Pakt für den Euro müssen ganz entscheidend dazu beitragen, dass die Stabilität im EuroWährungsgebiet wiederhergestellt wird und künftige
Verschuldungskrisen vermieden werden. Dadurch kann
die europäische Integration gefestigt werden.
Die EU benötigt daher dringend bessere Regeln, die
Gläubiger wie Schuldner zu mehr Vorsicht bei der Kreditvergabe anhalten. Keinesfalls - ich unterstreiche das darf eine Erleichterung bei der Kreditvergabe ermöglicht
werden.
({3})
Michael Link ({4})
Der ESM darf kein Superkreditinstrument werden. Zur
Disziplinierung der Regierungen mit Blick auf übergroßes Schuldenmachen bedarf es wirksamer, sanktionsbewehrter Schuldenschranken im Stabilitätspakt und im jeweiligen nationalen Recht. Die FDP-Fraktion unterstreicht deshalb ausdrücklich - das wird auch in dem
Koalitionsantrag deutlich -, dass wir im Bereich der automatisierten Sanktionen vorankommen müssen. Das sehen wir übrigens ebenso wie unsere Kollegen im Europäischen Parlament. Die sehr guten Vorschläge von
Kommissar Rehn zur sogenannten Reverse Majority
- Rückholbarkeit von Sanktionen nur innerhalb von
zehn Tagen mit umgekehrter Mehrheit - zielen aus unserer Sicht in die richtige Richtung. Dadurch geraten wir
erst gar nicht in die Verschuldungskrise.
Viel wichtiger als der ESM und die darin enthaltenen
Reparaturinstrumente ist die Vorsorge. In den nächsten
Wochen und Monaten müssen wir diesbezüglich - das
sage ich an die Adresse der Bundesregierung - noch intensiv arbeiten, damit wir zu automatisierten Sanktionen
kommen können.
({5})
Die Erfahrung hat gezeigt, dass Regeln wie die des
Stabilitätspakts bei entsprechendem Willen politisch so
interpretiert werden können, dass sie ihre Wirksamkeit
faktisch verlieren. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir
die Kontrollfunktion der Märkte wirken lassen. Die Anleger müssen mit ihren Anlagen im Risiko stehen. Nur
dann lassen sie bei der Kreditvergabe Vorsicht walten.
Nur dann werden Zinsen verlangt, die dem Risiko des jeweiligen Schuldners entsprechen, um sich gegen den
Verlust der Forderungen abzusichern. Nur durch risikogerechte Zinsen wird das Schuldenmachen auf ein für
das jeweilige Land erträgliches Maß begrenzt. Dieser
Mechanismus funktioniert automatisch und besser, als
jeder Pakt es jemals könnte.
Eine zentrale Forderung der Koalition war deshalb
immer, dass eine absehbare und kalkulierbare obligatorische Begleitbeteiligung der Gläubiger erfolgt. Das ist in
dem ESM-Verfahren enthalten. Wir hätten uns das
durchaus noch stärker vorstellen können - das sage ich
auch ganz deutlich -, aber wir wissen, dass man bei europäischen Lösungen natürlich auch immer gewisse
Kompromisse eingehen muss. Umso klarer muss sein
- dies sage ich insbesondere mit Blick auf das Bundesfinanzministerium und die letzten Verhandlungsschritte
bei der Euro-Gruppe am 21. März -, dass wir an diesem
Punkt keinerlei Aufweichungen mehr zulassen dürfen.
({6})
Herr Kollege Link, lassen Sie Zwischenfragen zu?
Gern.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben zur Gläubigerbeteiligung gesprochen. Ich würde mich dafür interessieren, wie die
Position Ihrer Fraktion dazu ist, dass die irische Regierung der Auffassung ist, dass es bei den irischen Banken
eine Gläubigerbeteiligung geben kann, die anderen europäischen Regierungen das aber bisher in der Sache ablehnen, also gerade die Gläubigerbeteiligung, die Sie
einfordern, konkret verhindert wird. Wie steht Ihre Fraktion dazu?
Die Dinge, die jetzt zur Gläubigerbeteiligung in dem
Beschluss stehen - darin stehen sehr lange Passagen zur
Gläubigerbeteiligung -, sind in der Theorie sehr gut.
Bleiben sie allerdings Rhetorik, dann droht dieser gesamte ESM so, wie wir ihn jetzt machen, zu scheitern.
Die Gläubigerbeteiligung muss effizient sein und darf
- deshalb habe ich das gerade vorhin gesagt - politisch
nicht manipuliert werden. Die Weiche zwischen temporär zahlungsunfähig und dauerhaft insolvent darf nicht
immer wieder von der Euro-Gruppe in die Richtung gestellt werden, dass es keine Gläubigerbeteiligung gibt
und dass man sich anders durchwurschteln kann. Das
wollen wir dezidiert nicht.
Wir wollen aber auch nicht - das ist ja auch Teil Ihrer
Frage, Herr Kollege Schick - die Art von Gläubigerbeteiligung, wie sie beispielsweise in dem Teil Sekundärmarktaufkauf, Buy-back-Aktionen angelegt war. Diese
Art von Gläubigerbeteiligung ist für uns keine wirkliche,
sie ist keine harte Gläubigerbeteiligung. Sie ist letztlich
etwas, was aus unserer Sicht auch gegen das No-bailout-Gebot verstoßen würde.
Ich würde jetzt gern mit meiner Rede fortfahren.
({0})
Es ist für uns extrem wichtig - ich habe das Bail-outVerbot erwähnt -, dass wir das No-bail-out-Gebot in den
Verhandlungen sichern konnten. Das No-bail-out-Gebot
gilt, und der neue Art. 136 AEUV wird nicht eine Art
Spezialgesetz, eine Lex specialis, zum Art. 125. Es wird
keine Relativierung des Bail-out-Verbots, jedenfalls
nicht mit unserem Koalitionsantrag, den wir heute vorlegen, geben. Deshalb erwarten wir auch, dass dort, wo
noch Fragen sind - zum Beispiel bei den Primärmarktanleihen -, bei der Umsetzungsgesetzgebung entsprechende Präzisierungen erfolgen. Es muss deutlich werden, dass es auch bei diesen Primärmarktanleihen nicht
um organisierte große Programme geht, sondern um
Ausnahmefälle unter Konditionen und dadurch auch ein
klarer Abstand sowohl zum Bail-out-Verbot gewahrt ist
als auch umgekehrt das Ultima-Ratio-Prinzip gewährleistet ist. Denn es war für uns auch ein absolut zentraler
Punkt, dass alle Hilfsmaßnahmen, gerade wenn es um
Darlehen des ESM geht, nur als Ultima Ratio erfolgen.
Michael Link ({1})
({2})
Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Koalitionsantrag sehr deutlich gemacht - wir werden auch auf dem
weiteren Weg der Umsetzung darauf achten -, dass es
notwendig ist, dass der Bundestag vor jeder Aktivierung
des ESM im Wege seiner Zustimmungspflicht konstitutiv beteiligt wird, das heißt, ein Parlamentsvorbehalt gesetzt wird. Betroffen ist hierbei nicht mehr und nicht weniger als das Königsrecht des Parlaments, die
Haushaltssouveränität.
Betroffen ist auch - das Verfassungsgericht hat immer
wieder darauf hingewiesen - Art. 20 des Grundgesetzes,
das Demokratiegebot. Wir werden deshalb großen Wert
darauf legen, dass die Ratifizierung der Vertragsänderung, zu der wir heute das Einvernehmen erteilen wollen, und die Umsetzungsgesetzgebung in einem Schritt
erfolgen, um dadurch immer ein ganz konkretes Kontroll- und Mitwirkungsrecht des Bundestages zu gewährleisten.
Im Übrigen wünschen wir, dass wir den Pakt - das
möchte ich nur einflechten - so gestalten, dass wir den
Staaten, die heute noch nicht Teil der Euro-Zone sind,
den Beitritt erleichtern können. Ich erinnere immer wieder daran: Europäische Integration lebt auch davon, dass
wir alle 27 mitnehmen. Ich weiß, es gibt diesbezüglich
große Bedenken bei den Partnern. Wir müssen deshalb
unbedingt immer darauf achten, dass wir es auch denjenigen, die heute noch nicht am Pakt und an der EuroZone teilnehmen, ermöglichen, noch aufzuspringen. Wir
müssen das leicht und erreichbar machen.
Mit der Verabschiedung des Antrags der Koalition
und unter den in ihm formulierten Rahmenbedingungen
stellen wir das gesetzlich gebotene Einvernehmen mit
der Bundesregierung für die Änderung des Art. 136
AEUV her und werden unserer Integrationsverantwortung gerecht. Wir danken insbesondere der Frau Bundeskanzlerin, dem Bundesaußenminister und dem Bundesminister der Finanzen für den in den Verhandlungen
bisher zurückgelegten weiten Weg und für die erreichten
Ergebnisse. Wir wissen, dass diese Verhandlungen
schwer sind und herausfordernd bleiben. Wir werden als
FDP-Fraktion die Verhandlungen deshalb weiterhin aktiv unterstützen und begleiten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Michael Roth ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europäischer Stabilitätsmechanismus - was für ein technokratisches Wort. Worum geht es? Es geht um Solidarität
im wohlverstandenen Sinne, nicht nur im wohlverstandenen europäischen Sinne, sondern auch im wohlverstandenen nationalen Sinne. Es geht um Solidarität, weil
wir als Exportnation ein Interesse an stabilen Märkten
haben müssen, weil wir an Wohlstand und sozialer Stabilität in allen europäischen Mitgliedstaaten ein Interesse
haben müssen, weil wir an einem starken Euro und an einer Europäischen Union, die sich nicht ständig mit sich
selbst beschäftigt, sondern auch in der Lage ist, ihrer internationalen Verantwortung gerecht zu werden, ein Interesse haben müssen.
({0})
Insofern hat mich die Diskussion der vergangenen
Monate, die maßgeblich auf das Konto von CDU/CSU
und FDP geht, befremdet. Wenn wir von Solidaritätsunion sprechen, sprechen Sie von Transferunion. Sie
flirten mit dem Boulevard nach dem Motto: Gutes deutsches Geld hat in Griechenland, in Spanien und in Irland
nichts zu suchen. Die sollen sich gefälligst selbst um ihre
Probleme kümmern und sie selbst lösen.
Es ist uns nicht leichtgefallen, Ihren Weg, den Sie
eben als lang beschrieben haben, zu verfolgen. Das war
eher ein Zickzackkurs.
({1})
Die berühmte Springprozession ist nichts dagegen. Sie
haben einmal erklärt, dass es überhaupt keinen Rettungsschirm geben soll. Dann haben Sie sich nach langem
Ach und Weh für einen Rettungsschirm ausgesprochen.
Dann hat die Bundeskanzlerin erklärt: Ja, Rettungsschirm schon, aber er ist zeitlich befristet bis 2013.
({2})
Jetzt wurde ein Stabilitätsmechanismus, also ein Rettungsschirm, implementiert, der über 2013 hinaus dauerhaft gilt. Sie haben lang und breit erklärt - das findet
sich auch in Ihren Anträgen -, der ESM, der Rettungsschirm, dürfe um keinen einzigen Euro aufgestockt werden. Jetzt wird der ESM aufgestockt; aus Sicht der SPD
geschieht dies aus guten Gründen.
Bei Ihnen weiß man nie, was Sie eigentlich wollen.
Sie müssen einmal klären: Werden Sie Ihrer eigenen Tradition als europafreundliche Partei gerecht, die in Europa nicht einen Teil des Problems, sondern einen Teil
der Lösung sieht,
({3})
oder wollen Sie weiterhin mit dem Boulevard, mit der
Bild-Zeitung flirten, weil Sie meinen, Sie könnten dadurch Ihr populistisches Mütchen kühlen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CSU, FDP und leider auch
Teilen der CDU?
({4})
Man muss deutlich sagen: Es gibt nur noch wenige
Europaparteien hier in diesem Parlament. Das sind die
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
({5})
Michael Roth ({6})
und sicherlich auch die Partei Bündnis 90/Die Grünen.
Sie hingegen haben sich von Ihrer eigenen Verantwortung verabschiedet.
({7})
Sie müssen nur in ein einziges Nachbarland fahren,
um das zu sehen. Das deutsch-französische Tandem
funktioniert nicht mehr. Sprechen Sie einmal mit Ihrem
Parteifreund Jean-Claude Juncker. Er wird Ihnen ins
Stammbuch schreiben, wie das früher lief und wie es
heute unter Bundeskanzlerin Merkel läuft. Ich appelliere
an Sie: Werden Sie Ihrer eigenen Tradition gerecht.
Dann kann etwas Gutes daraus werden. Aber, Kollege
Link, erklären Sie uns nicht in acht Minuten nur, was Sie
nicht wollen. Sagen Sie uns doch einfach einmal, was
Sie wollen und wo Sie Europa konstruktiv mitgestalten
wollen.
({8})
Dazu habe ich in Ihrem Redebeitrag leider - das sage ich
trotz aller persönlichen Wertschätzung - relativ wenig
gehört.
Es gibt den Wunsch zu Zwischenfragen, Herr Kollege
Roth.
Okay.
Bitte schön.
Herr Kollege Roth, ist Ihre Partei bzw. Ihre Fraktion
ihrer europäischen Verantwortung dadurch gerecht geworden, dass sie sich bei den Beschlussfassungen im Zusammenhang mit den Rettungsaktionen im Falle Griechenlands hier im Hause verantwortungslos enthalten
hat, oder wie wurde sie ihrer Verantwortung gerecht?
({0})
Lieber Herr Kollege, da fragen Sie den Falschen. Ich
habe der Griechenland-Hilfe nämlich zugestimmt.
({0})
Ich habe aber großes Verständnis für meine Fraktion, die
es sich in dieser Frage nicht leicht gemacht hat.
({1})
- Mir ist eine aufrechte Position als frei gewählter Abgeordneter lieber,
({2})
als in Ihrem Windschatten bei der Harakiripolitik, die
von der Bundeskanzlerin betrieben wurde, mit unterzugehen.
({3})
- Ich persönlich habe zugestimmt, auch wenn es mir, lieber Herr Kollege, weniger darum ging, der Bundeskanzlerin den Weg zu ebnen. Mir war wichtiger, dass die Europäische Union eine Solidaritätsunion ist und dass
Partner, die in eine Krise geraten sind, Hilfe bekommen,
allerdings nicht einfach so, sondern mit einer entsprechenden Konditionierung, mit Bedingungen.
Die Bundesregierung hat meine und unsere Zustimmung auch bei einer anderen mehr als berechtigten Forderung, nämlich im Hinblick auf Zinsvergünstigungen
für Irland. Irland kann nur dann Solidarität von der Europäischen Union erwarten, wenn man endlich bereit ist,
die FDP-Politik in Irland zu beenden und die Körperschaftsteuer von 12,5 Prozent im Interesse des Landes
und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger angemessen zu erhöhen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind bereit, diesen Europäischen Stabilitätsmechanismus vom Grundsatz her mitzutragen. Deswegen werden wir dem Antrag
der Bundesregierung auf Einvernehmensherstellung
heute zustimmen. Aber wir knüpfen unsere Zustimmung
an die Erfüllung bestimmter Erwartungen. Wir erwarten,
dass die Bundesregierung ihrer Verpflichtung gegenüber
dem Deutschen Bundestag endlich gerecht wird und den
Bundestag in EU-Angelegenheiten frühestmöglich und
umfassend unterrichtet. An dieser Stelle will ich ein
Dankeschön an den Bundestagspräsidenten aussprechen,
({5})
der im Interesse aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien deutlich gemacht hat, dass das Armutszeugnis, das sich die Bundesregierung beim sogenannten
Pakt für Wettbewerbsfähigkeit selbst ausgestellt hat,
nicht der Maßstab im Hinblick auf ihre Pflichten zur Unterrichtung des Bundestages sein kann und darf.
({6})
In allen Hauptstädten und allen EU-Institutionen wird
über einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit diskutiert, und
die Medien berichten breit darüber. Aber die Bundesregierung stellt sich hin und sagt: Wir können Ihnen keine
Informationen zukommen lassen, weil es diesen Pakt gar
nicht gibt. - Inzwischen gibt es auch einen Pakt für den
Euro. Wir sind am 11. März dieses Jahres erstmals darüber unterrichtet worden. Ich weiß, dass es Kolleginnen
und Kollegen in der FDP-Fraktion, aber auch bei CDU
und CSU gibt, die mit uns einer Meinung sind. Insofern
Michael Roth ({7})
habe ich Ihren Beifall gerade vermisst, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Darüber hinaus sind wir der Auffassung: Der Stabilitätsmechanismus ist notwendig. Auch die Aufstockung
ist notwendig. Aber dies allein reicht nicht:
Erstens. Wir brauchen eine angemessene Parlamentsbeteiligung. Wir müssen auch die Lehren aus der verheerenden Unterrichtungspolitik der Bundesregierung in
den vergangenen Wochen und Monaten ziehen. Ich
appelliere an CDU/CSU und FDP, hier eine interfraktionelle Verständigung herbeizuführen. Wir sind zu Gesprächen bereit. Wir sollten auch die richtigen Konsequenzen aus dem Status quo ziehen. Hier haben Sie uns
auf Ihrer Seite.
Zweitens. Wir brauchen nicht nur einen Pakt für den
Euro, sondern auch einen Pakt für Wachstum und soziale
Stabilität.
({9})
Eine Konsolidierung kann nur mit nachhaltigem Wachstum erfolgreich sein. Ich bin beeindruckt, was die griechische Regierung den Bürgerinnen und Bürgern zuzumuten und welch hohen Preis sie dafür zu zahlen bereit
ist. Aber wir erkennen doch schon jetzt, dass all die Anstrengungen, die wir in Bundesrat und Bundestag wahrscheinlich niemals durchbekämen, nicht ausreichen, um
dieses Land aus der Krise zu führen.
Insofern darf eine notwendige Konsolidierung nicht
zu einer Austeritätspolitik führen, die jegliches Wachstum hemmt, die die Länder in einen Teufelskreislauf
führt und die diese Länder weiterhin zum sozialen
Schlusslicht der Europäischen Union werden lässt. Hier
brauchen wir eine andere Politik, die den sozialen Bereich in den Blickpunkt nimmt, die Wachstum in den
Blickpunkt nimmt und die auch die soziale Stabilität in
den Blickpunkt nimmt.
({10})
Des Weiteren fordern wir eine Beteiligung der Krisenverursacher. Deshalb nehmen wir Sie, liebe Bundesregierung, beim Wort. In den Schlussforderungen zum
Gipfel steht zu lesen, dass die europäische Finanztransaktionsteuer sondiert wird. Wir erwarten einen entsprechenden Vorschlag der EU-Kommission. Darüber hinaus
erwarten wir, dass sich die Bundesregierung vorbehaltlos hinter das Ziel einer europäischen Finanztransaktionsteuer stellt und dass diejenigen, die diese Krise maßgeblich verursacht haben, stärker in die Pflicht
genommen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Gleichermaßen brauchen wir eine entsprechende
Gläubigerbeteiligung. Ich gebe es offen zu: Diesbezüglich sind wir mit unseren Diskussionen in allen Fraktionen noch nicht am Ende angelangt. Hier wäre sicherlich
ein bisschen mehr Fürsorge und ein bisschen mehr Sensibilität auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern
durchaus angebracht. Denn diese sagen zu Recht: Es
kann ja nicht angehen, dass nur die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler sowie die Staaten für das aufzukommen haben, was andere verursacht haben, die Gläubiger
und Banken aber weitgehend ungeschoren davonkommen. - Das ist mit unseren Vorstellungen von Solidarität
in der Europäischen Union auch in Bezug auf den europäischen Stabilitätsmechanismus unvereinbar.
({12})
Ein Letztes - und das ist für uns als ein wirtschaftlich
sehr starkes Land sicherlich nicht ganz einfach -: Auch
die Länder mit einem Leistungsbilanzüberschuss stehen
in der Verantwortung.
({13})
Es kann nicht angehen, dass die Lohnentwicklung mit
der Produktivitätsentwicklung nicht mehr in ein Verhältnis zu setzen ist. Es kann für die gesamte Europäische
Union nicht gut sein, dass die Bundesrepublik Deutschland in den letzten zehn Jahren eine Nettolohnentwicklung von minus 4 Prozent hatte, der EU-Durchschnitt
aber bei rund 20 Prozent Plus liegt. Daher muss deutlich
werden: Wohlstand und nachhaltiges Wachstum können
nur erreicht werden, wenn auch die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sowie die sozial Schwächeren von
diesem Wachstumsmodell profitieren.
Insofern erwarten wir von der Bundesregierung eine
bessere Beteiligung des Parlaments. Wir erwarten, dass
Sie nicht nur Nein sagen, dass Sie nicht nur zögern und
zaudern, sondern dass Sie in den EU-Institutionen wieder das Maß an Überzeugungsfähigkeit erreichen können, das Ihre Vorgängerregierungen vorbildlich erreicht
haben. Hier arbeiten Sie weit unter den Möglichkeiten
Deutschlands
- und weit unter den Möglichkeiten, die einer deutschen Bundesregierung zustünden.
Vielen Dank.
({0})
Ich wollte Ihnen noch die Gelegenheit einer informellen Verlängerung der Redezeit durch Zulassung einer
Zusatzfrage zuschustern.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Michael Meister für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sollen heute unser Einverständnis
({0})
zur Änderung der europäischen Verträge zur Errichtung
des europäischen Stabilitätspaktes erteilen. Ich will zunächst einmal feststellen: Wir als Unionsfraktion sind
der Meinung, dass wir einen dauerhaft stabilen Euro haben wollen. Dies bedeutet: Wir bekennen uns zum Euro.
Wir bekennen uns zum stabilen Euro, und wir bekennen
uns zur Dauerhaftigkeit dieser Währung.
({1})
Ich glaube, es ist richtig, dass wir an dieser Stelle Solidarität nicht missverstehen, Kollege Roth, indem wir
sagen: Falsche Strukturen werden wir mit viel Geld dauerhaft aufrechterhalten.
({2})
Vielmehr verstehen wir Solidarität so, dass wir motivieren und Anreize setzen, damit sich falsche Strukturen zu
richtigen Strukturen verändern. Denn dann ist Solidarität
nicht mehr erforderlich. Das heißt, wir müssen die Länder und Staaten ermutigen, das Richtige zu tun. In diesem Sinne sind wir bereit, Solidarität zu üben, aber
nicht, indem wir zu einer Transferunion werden und dauerhaft falsche Strukturen mitfinanzieren.
({3})
Ich will hier ausdrücklich sagen, dass an der No-bailout-Klausel festgehalten wird und dass sie durch diese
Vertragsänderung nicht tangiert wird. Das ist für uns extrem wichtig.
Herr Kollege Meister, darf der Kollege Sarrazin Ihnen
schon zu diesem frühen Zeitpunkt Ihrer Rede eine Zwischenfrage stellen?
Es verwundert mich, dass er so wissbegierig ist, aber
ich will ihn nicht hindern. Bitte sehr.
({0})
Vielleicht will er ja gar nichts wissen, sondern Ihnen
etwas mitteilen.
({0})
Herr Präsident, ich muss das hier als Frage formulieren.
Nein, nicht einmal das.
Herr Kollege, Sie haben ja eindrucksvoll davon geredet, dass man falsche Strukturen nach der Erkenntnis,
dass sie falsch sind, nicht weiter aufrechterhalten soll.
Wir wissen jetzt ja, dass die EZB inzwischen über
70 Milliarden Euro an Staatsanleihen in ihrem Portfolio
hat, das inzwischen ein so hohes Risiko trägt, dass das
EZB-Stammkapital im Dezember verdoppelt werden
musste. Damit die EZB wieder eine größere politische
Unabhängigkeit erhält, gab es den Vorschlag, dass sie
durch einen Aufkauf, der durch die EFSF finanziert
wird, von diesen Titeln zum Teil entlastet werden
könnte. Das haben Sie unglaublicherweise abgelehnt.
Sehen Sie es nicht auch so, dass Sie dadurch die falsche Struktur, dass die EZB ein politischer Player am
Markt wird, aufrechterhalten, anstatt die politische Unabhängigkeit der EZB zu wahren?
Lieber Herr Kollege Sarrazin, ich bin nicht Mitglied
des EZB-Rates, sondern ich bin Abgeordneter des Deutschen Bundestages, und ich bin fest davon überzeugt,
dass die Grundsäule unserer europäischen Währung und
die Stabilität, von der ich vorhin sprach, dadurch gewährleistet werden, dass wir als Politik die Unabhängigkeit der Zentralbank wahren.
({0})
Deshalb habe ich niemals die Empfehlung an den Zentralbankrat gegeben, sich in die von Ihnen skizzierte
Lage zu bringen. Es ist auch nicht meine Aufgabe als
politisch Verantwortlicher, Handlungsoptionen der Europäischen Zentralbank in welcher Weise auch immer zu
fordern oder zu bewerten.
Das ist mein Verständnis von Unabhängigkeit, und
wir als Politiker sollten alles dafür tun, dass wir die Europäische Zentralbank nicht in eine Lage führen, in der
sie selbst glaubt, etwas tun zu müssen, um den Geldwert
zu stabilisieren.
({1})
Das ist unsere Verantwortung, und dazu tragen wir zum
Beispiel bei - ich sehe den Kollegen Barthle an -, indem
wir eine ordentliche Fiskalpolitik in Deutschland betreiben.
({2})
Meine Damen und Herren, wir beschließen heute die
Ultima Ratio, und zwar deshalb, weil wir glauben, dass
wesentliche Stufen der Prävention vorgeschaltet werden
müssen.
Die erste Prävention ist der Pakt für den Euro. Ich
glaube, dass der Pakt für den Euro richtig ist, weil wir
hier über die Best Practice reden. Wir wollen uns also
hin zum Besten und nicht zum Durchschnitt bewegen,
und wir sagen: Er ist offen für jeden, der mitwirken will,
und nicht nur für die Euro-Länder. Ich glaube, dass das
ein guter Ansatz ist, um dafür zu sorgen, dass die einzelnen Volkswirtschaften im Euro-Raum leistungsfähiger
werden, wodurch Fehlentwicklungen, wie wir sie jetzt
haben, von vornherein präventiv vermieden werden.
Herr Kollege Roth, deshalb ist es richtig, dass wir uns
über die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften Gedanken machen. Sie bezieht sich doch nicht
nur auf den Euro-Raum, wie Sie das skizziert haben. Wir
brauchen ein gemeinsames Niveau und müssen vielleicht ein paar Leistungsbilanzüberschüsse abbauen. Unsere Wettbewerber sitzen aber außerhalb Europas. Es
stellt sich doch die Frage, inwieweit der Euro-Raum gegenüber China, den USA und anderen Ländern überhaupt wettbewerbsfähig ist. Ich glaube, deshalb ist es
richtig, dass wir uns zum Besten hin bewegen und an der
Wettbewerbsfähigkeit arbeiten.
Wir haben ein riesiges Problem hinsichtlich der Demografie und arbeiten in Deutschland daran. Das ist sehr
schwierig und tut uns sehr weh, weil die Sozialsysteme
tangiert werden. Ich glaube aber, dass wir die Frage beantworten müssen, wie wir im Sinne einer vernünftigen
Solidarität dauerhaft leistungsfähige, nachhaltige Sozialsysteme in Europa haben können. Das ist doch eine vernünftige Aufgabe, die wir im Sinne einer besseren Situation für unsere Volkswirtschaften gemeinsam angehen
sollten. Deshalb ist der Pakt für den Euro ein richtiger
Schritt der Prävention.
({3})
Zweitens. Wir leisten Prävention, indem wir den
Maastricht-Vertrag endlich wieder stärken. 2003/2004
wurde er bedauerlicherweise massiv geschwächt, und
zwar indem Deutschland plötzlich zu Konsequenzen gedrängt wurde, die sich aus dem Maastricht-Vertrag ergaben. An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir den Vertrag
wieder stärken, indem zum Beispiel das Kriterium Gesamtschulden stärker in den Fokus rückt. Wir müssen
von politischen Einflüssen wegkommen hin zu einem
quasi automatischen Entscheidungsverfahren, bei dem
Politik eine weniger große Rolle spielt.
Wir müssen aber auch unsere Vorbildrolle ausbauen.
Statt von anderen ein besseres Verhalten zu fordern,
müssen wir von uns selbst ein besseres Verhalten im
Sinne der Fiskalpolitik einfordern. Das ist die Aufgabe,
vor der wir stehen. Dazu bekennen wir uns auch.
({4})
Ich glaube, es ist auch notwendig, dass wir für die
einzelnen Länder mehr Transparenz schaffen, damit früher erkennbar wird, ob ihre Entwicklung gut oder weniger gut ist, damit die Kapitalmärkte viel früher über die
Zinsfestlegung der Risikolage des Landes entsprechend
positives oder weniger positives Verhalten adäquat bewerten. Denn dann werden die jeweiligen Regierungen
viel früher ihren Kurs ändern müssen, statt auf eine Notlage zuzusteuern, wie wir sie in Griechenland oder Irland erlebt haben.
Wenn ich von Irland spreche, will ich einen weiteren
Punkt nennen, der in dieser Debatte bisher nicht vorgekommen ist, der aber zwingend dazugehört. Sie haben es
kurz angesprochen. Ich glaube, es reicht nicht, den Blick
allein auf die Fiskalpolitik und den Maastricht-Vertrag
zu richten. In Irland war das alles in Ordnung. Auch die
volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit war gegeben.
Aber der Bankensektor ist aus dem Ruder gelaufen, und
plötzlich musste das nationale Bankensystem gestützt
werden.
Deshalb müssen wir, was die Aufsicht über den Finanzsektor angeht, eine bessere Regulierung für den
Finanzsektor erarbeiten. Sonst wird all das, was wir zugunsten der Euro-Stabilisierung tun, nicht wirksam sein.
({5})
- Ja, das machen wir auch. Wir haben die europäische
Aufsicht installiert. Sie ist mittlerweile in Arbeit. Wir
sind auch dabei, entsprechende Aufsichtsregeln und Regeln für das Finanzsystem zu entwickeln. Ich glaube, wir
sind auf einem guten Weg, und es ist vernünftig, das gemeinsam zu tun. Denn niemand von uns hat das, was
jetzt eingetreten ist, vorhergesehen.
Wir kommen nun zu dem eigentlichen Punkt, dem
ESM. Ich stelle ihn deshalb ans Ende, weil er kein Regelwerk sein soll, das wir regelmäßig zur Stabilisierung
des Euro einsetzen, sondern die Ultima Ratio. Ja, wir
wollen einen dauerhaften, festen Mechanismus schaffen,
aber wir wollen nicht, dass er dauerhaft in Anspruch genommen wird. Vielmehr wollen wir erstens vermeiden,
dass er in Anspruch genommen wird, und zweitens soll
er, wenn er in Anspruch genommen wird, das Land nach
kurzer Zeit wieder in die Lage versetzen, ohne ihn auszukommen.
Deshalb wollen wir Voraussetzungen schaffen, die
dem Problem des Landes gerecht werden und eine Gefährdung der gesamten Euro-Zone vermeiden. Wir fordern aber auch harte Auflagen für das jeweilige Land,
sich einem Anpassungsprogramm zu unterziehen. Ich
glaube, dass das der richtige Ansatz ist, um dieser Zielsetzung genügen zu können.
Eine letzte Bemerkung: Wir haben dafür Sorge getragen, dass sich kein Automatismus entwickeln kann. Der
Stabilitätsmechanismus kann nur mit unserer Zustimmung aktiviert werden. Auch das halte ich für wichtig
und richtig.
({6})
Ich freue mich - erlauben Sie mir, abschließend darauf hinzuweisen, dass ich das toll finde, Herr Roth -,
dass Sie angekündigt haben, dem ESM zustimmen zu
wollen. Ich halte es für gut, wenn wir in Deutschland
eine möglichst breite parlamentarische Basis dafür haben.
Wir sprechen heute über das Außenverhältnis der
Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Union.
Dazu geben wir heute eine Stellungnahme ab.
Wir haben zu klären, wie wir die Diskussionen in
Deutschland selbst führen. Dabei stellt sich die Frage,
wie stark wir den Deutschen Bundestag an den Entscheidungen, die zu treffen sind, beteiligen. Diese Diskussion
müssen wir aber nach innen führen. Ich bin der Meinung, dass wir bei solch grundlegenden Entscheidungen
unser Parlament mit einbeziehen. Dafür werden wir
Sorge tragen. Ich freue mich auf die Debatte, die wir gemeinsam führen werden.
Vielen Dank.
({7})
Nur zur Erläuterung: Ich bitte um Nachsicht, dass ich
nach Überschreiten der vorgesehenen Redezeit nicht
auch noch Zwischenfragen aufrufe. Ich glaube, das versteht sich unter dem Gesichtspunkt des beschlossenen
Zeitmanagements im Ergebnis von selbst.
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
nehme es vorweg: Die Linke wird dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen,
({0})
weil wir damit zum wiederholten Male nicht die Ursachen der Krise angehen, sondern wieder nur ein einziges
Symptom falsch behandeln.
Es ist schon fast absurd, Herr Meister, wenn Sie sagen: Wir wollen keine Transferunion. - Irgendwann
müssen doch auch Sie einsehen: Wenn Deutschland dauerhaft immense Außenhandelsüberschüsse erwirtschaftet, dann ist in der Europäischen Union eine Transferunion unumgänglich. Das zu verschweigen und immer
wieder so zu tun, als wäre es nicht so, ist tatsächlich ein
Märchen. Aber daran glaubt fast niemand mehr.
({1})
Es geht auch nicht darum, dass wir tatsächlich die Ursachen bekämpfen. Es geht einmal mehr darum, dass wir
die Märkte beruhigen sollen. Ich kann mich gut daran
erinnern, dass der Herr Finanzminister im Europaausschuss gesprochen hat. Dabei war folgende Aussage
wesentlich: Wir müssen das tun, um die Märkte zu beruhigen.
Das zeigt im Prinzip, dass wir aus der Krise nichts gelernt haben. Die Märkte können weiterhin Staaten vor
sich hertreiben. Sie können weiterhin ihre Spielchen an
den Börsen treiben. Und wir wollen mit so einem Instrument etwas verändern? Nein, im Gegenteil: Sie werden
sich auch in Zukunft Wege suchen, um die einzelnen
Länder gegeneinander auszuspielen und den Euro zu
schwächen, um ihre Börsengeschäfte zu machen. Jeder
seriöse Banker, mit dem man sich unterhält, sagt auch,
dass das alles nur Sonntagsreden gewesen seien, die
auch Sie im Bundestag immer wieder verbreitet haben,
als sich die Finanzkrise zu einer Wirtschaftskrise entwickelt hat, dass es genau so weitergehe wie vorher.
Im Gegenteil: Das ist falsch. Es geht nicht genau so
wie vorher weiter. Vorher wusste die Finanzwelt nicht,
ob sie das am Schluss bezahlt bekommt. Mittlerweile
weiß sie, dass sie genau so wie vorher weitermachen
kann. Der Steuerzahler zahlt es, und Sie heben heute
wieder für so ein Geschäft die Hand.
Wie oft haben wir - Michael Roth hat angesprochen,
dass wir auch das Soziale mitdenken müssen - als Linke
im Bundestag gesagt, dass uns der Lissabon-Vertrag
keine Antwort auf solche Fragen gibt? Wie oft haben wir
gesagt: Wenn wir das Soziale mitdenken müssen, brauchen wir zum Beispiel auch die soziale Fortschrittsklausel? Immer hieß es, wir könnten die Verträge nicht verändern. Jetzt werden die Verträge verändert, ohne das
Soziale mitzudenken.
({2})
Heute Nachmittag haben wir die Chance gehabt, die
soziale Fortschrittsklausel zu beschließen. Die Allparteienkoalition des Lissabon-Vertrags hat heute Mittag mit
Nein gestimmt. Michael Roth, die SPD sollte sich schämen, dass man vor der Europawahl den Gewerkschaften
die Hand für eine soziale Fortschrittsklausel gereicht hat
und heute dagegen stimmt.
({3})
Das ist diese unglaubwürdige Politik. Es war wieder
einmal Wählerbetrug von der SPD und von den Grünen
beim Thema der sozialen Fortschrittsklausel.
({4})
Nun geht es wieder um eine Vertragsänderung, die
nicht dazu dient, die EU sozialer zu machen, sondern
dazu, einen dauerhaften Bankenrettungsplan einzuführen. An den Beispielen Irland und Griechenland kann
man jetzt schon sehen, wer für diese Bankenrettung immer wieder aufs Neue bezahlt:
({5})
die Steuerzahler, die Beschäftigten, die Arbeitslosen, die
Rentnerinnen und Rentner, Studierende und Kinder. Die
Profiteure der Krise müssen weiterhin nichts zahlen. Da
haben manche Vorredner das Richtige gesagt, aber es
werden keine Maßnahmen ergriffen, mit denen man das
ändern kann.
An die Bundesregierung gerichtet sage ich: Es ist geradezu absurd, dass die gute Idee einer europäischen
Wirtschaftsregierung von der Bundeskanzlerin derart
pervertiert wird, wie es im Zusammenspiel mit Frankreich geplant ist - oder auch nicht.
({6})
Wie kommt man auf die Idee zu glauben, die deutschen Rezepte seien europaweit erfolgreich einzusetzen?
Glaubt denn jemand wirklich, dass sich der Euro stabilisieren wird, wenn man Menschen in ganz Europa jetzt
empfiehlt, bis 70 zu arbeiten? Glaubt denn wirklich jemand, dass man in ganz Europa empfiehlt, mit SteuAlexander Ulrich
erdumpingprozessen den Euro zu stabilisieren? Glaubt
denn jemand wirklich, dass mit Sozialabbau die Wachstumskräfte entfaltet werden können? Glaubt denn
jemand wirklich, dass man mit einem Import von ungesicherten Arbeitsverhältnissen, Leiharbeit und Niedriglohnbereichen Wachstumskräfte entfalten kann?
Wer diese Rezepte in eine europäische Wirtschaftsregierung einbringen kann, wird die Krise auf eine Art und
Weise verschärfen, die wir bisher nicht kennen. Die
Krise wird nicht beendet werden, sondern die Reichen
werden reicher, und die Armen werden ärmer. Griechenland, Portugal, Irland und andere Länder werden nie ihre
Probleme beseitigen können.
({7})
Ich komme zum Schluss: Die Linke lehnt die vorgelegte Vertragsänderung ab. Wir erwarten, dass wir europaweit an die Ursachen der Krise gehen. Dazu gehört
auch, dass wir endlich das Thema umsetzen, über das
Herr Schäuble immer sagt, er würde dafür kämpfen: die
Finanztransaktionsteuer. Das ist auch nur Placebopolitik.
Die Bundesregierung kämpft nicht dafür. Das wäre jedoch eine wesentliche Maßnahme, um die Märkte tatsächlich zu beruhigen. Denn Zocker müssen endlich ruhiggestellt werden, aber diese Bundesregierung reicht
ihnen weiterhin die Hand.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Manuel Sarrazin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Grüne stimmen dem vorgelegten Antrag über
die Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Ergänzung von Art. 136 AEUV zu. Wir
befürworten die Einführung einer Rechtsgrundlage für
einen permanenten Notfallschirm für den Euro. Dass mit
dieser Änderung nicht die Union, sondern die Staaten ermächtigt werden, halten wir nicht für die beste Lösung.
Wir Grüne hätten uns eine europäische Lösung gewünscht, vor allem weil wir damit die maßgebliche Kontrolle des Europäischen Parlaments über diese Institution
ermöglicht hätten.
({0})
Aber weil sich die Regierungen - leider auch diese
Bundesregierung - von Anfang an geweigert haben, der
EU mehr Kompetenzen zu geben, ist die vorliegende
Änderung der Weg, den wir gehen müssen. Auch wir gehen ihn mit. Es ist nicht der beste Weg, aber in dieser Situation der bestmögliche.
Damit Ihnen das ganz klar ist: Wir billigen damit
nicht Ihren Weg einer Renationalisierung europäischer
Entscheidungen, wir billigen damit nicht Ihre neue Liebe
für die Unionsmethode, und wir werden diese Methode
in Zukunft sogar verstärkt bekämpfen, weil sie nicht der
Weg ist, der Europa voranbringt.
({1})
Wir sind für die Einführung eines europäischen Stabilitätsmechanismus. Warum? Schauen Sie sich einmal das
vergangene Jahr an. Niemandem von Ihnen ist vorzuwerfen, wenn er dazulernt. Aber wenn man das Gerede
der Koalition der letzten Monate mit dem vergleicht,
was Sie heute hier beschließen, dann muss ich sagen,
dass ich es schon dreist finde, dass Sie nicht einmal den
Mut haben, hier zu bekennen: Wir haben dazugelernt,
weil wir dazulernen mussten.
({2})
Ich erinnere an das nationale Geschrei gegen Griechenland, das Ausschließen eines permanenten Schirms und
vieles mehr. Herzliche Glückwünsche, Kollegen, Sie
sind zurück in der Realität. Aber auch: Willkommen zurück in Europa.
({3})
- Ich gebe zu: Ich habe viel im letzten Jahr dazugelernt.
Ich möchte einmal von Ihnen hören, dass das, was Sie
heute beschließen, zum Glück nichts mehr mit dem zu
tun hat, was vor einem Jahr von den Kollegen der FDPFraktion und von Herrn Schlarmann erzählt wurde. Geben Sie das doch einfach zu.
({4})
Aber seien wir ganz ehrlich: Könnten wir uns eigentlich vorstellen, dass ein Scheitern des Euro sinnvoll sein
könnte? Könnten wir, Grüne und SPD, uns vorstellen,
dass der Bundestag die Rolle der Bundesregierung aus
dem Frühjahr 2010 wiederholt? Nein. Ihr ewiges Zögern
war teuer genug für Deutschland und Europa. Deswegen
werden wir diese Rolle von Ihnen hier nicht wiederholen.
({5})
Ihre Politik hat genug Porzellan zerschlagen. Oftmals
reden Sie von deutschen Interessen, aber Sie wahren dabei nicht einmal deutsche Interessen. Nehmen wir das
Beispiel, das gerade genannt wurde, nämlich dass die
EZB inzwischen ein massives Interesse daran hat, Staaten aufrechtzuerhalten, damit sie nicht zusammenbricht,
weil sie einen hohen Anteil von Anleihen aufgekauft hat.
Nehmen wir die Frage der Gläubigerbeteiligung, die
Herr Schick gerade dargestellt hat. Auch in diesen Punkten vertreten Sie weiterhin ideologische Positionen, die
Lösungen verhindern. Das kann man Ihnen immer noch
vorwerfen.
({6})
Wir haben darüber hinaus in den letzten Monaten bemerkt, wie Sie den Deutschen Bundestag behandelt haben. Der Bundestag - das ist dokumentiert - wurde wiederholt gesetzeswidrig seiner Informationsrechte
beraubt. Die Bundesregierung muss aufhören, sich nicht
an das EUZBBG zu halten und es sogar noch offenkundig durch die Konstruktion einer Lex specialis - § 5
Abs. 4 EUZBBG - falsch zu interpretieren. Wir sagen:
Verbessern Sie das, ansonsten werden wir Probleme haben, künftig noch die wichtigen europäischen Entscheidungen so verfassungsfest durch dieses Haus zu bringen,
dass auch Karlsruhe sie akzeptieren kann.
({7})
- Was wollten Sie? Stellen Sie doch eine Zwischenfrage.
({8})
- Jetzt kommt sie, wunderbar. - Können Sie, Herr Präsident, die Zwischenfrage bitte während der nächsten
25 Sekunden aufrufen?
Das Bestellen von Zwischenfragen sieht die Geschäftsordnung eigentlich nicht vor. Aber bei meiner
sprichwörtlichen Liberalität wollen wir das einmal ausprobieren.
({0})
Herr Präsident, ich habe der Geschäftsordnung entnommen, dass man auch Zwischenbemerkungen machen
darf. Darauf haben Sie ja hingewiesen.
Herr Kollege Sarrazin, wie kommen Sie eigentlich
dazu, uns so schulmeisterlich zu belehren? Schließlich
haben Sie noch nicht einmal dem bisherigen Rettungsschirm zugestimmt. Wie kommen Sie angesichts Ihrer
bisherigen Verweigerung dazu, uns in Aussicht zu stellen, an praktischer Europapolitik mitzuwirken? Geben
Sie dafür doch einmal eine Erklärung ab.
({0})
Sehr geehrter Herr Wadephul, unsere Fraktion hat
dem Euro-Rettungsschirm damals nicht zustimmen können,
({0})
weil eine Mehrheit kritisierte, dass kein Rahmenvertrag
vorliege und damit die Handlungsgrundlage nicht klar
sei. Aus meiner persönlichen Sicht war das damals nicht
ganz richtig. Als uns aber der Rahmenvertrag vorgelegt
wurde, hatte sich die historische Situation insofern weiterentwickelt, als, um das Triple-A-Rating zu erhalten,
dem Direktorium der EFSF weitgehende Kompetenzen
zugebilligt werden mussten - aus meiner Sicht zu Recht -,
wofür aus meiner Sicht eine Ratifizierung gemäß Art. 59
Abs. 2 Grundgesetz durch den Deutschen Bundestag
notwendig gewesen wäre.
Um unsere grundsätzliche Zustimmung zur EFSF und
um auch unsere grundsätzliche Zustimmung zu diesen
weitgehenden Kompetenzen zu dokumentieren sowie
um auf das Versagen der Bundesregierung, die Ratifikation durch den Bundestag einzuholen, hinzuweisen, haben wir kurz vor der Sommerpause im letzten Jahr den
EFSF-Rahmenvertrag als Entwurf eines Zustimmungsgesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht. Das
heißt, wir haben den Deutschen Bundestag gebeten, den
Vertrag zur Schaffung des Fonds „Europäische FinanzStabilitäts-Fazilität“ mit Sitz in Luxemburg zu ratifizieren, und Sie haben das abgelehnt. Werfen Sie uns nicht
vor, wir hätten uns nicht getraut, uns hinzustellen und zu
sagen: Wir stehen zum Rettungsschirm. - Aufgrund Ihrer Schluderei hatten wir zunächst formale Gründe für
unsere Ablehnung. Wir haben noch versucht, Ihnen eine
goldene Brücke zu bauen, und Sie haben die Möglichkeit ausgeschlagen, darüberzugehen.
({1})
Ich komme zum Schluss. Ein Bundeskanzler sagte
einmal:
Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie
wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine
Notwendigkeit für alle.
Das sagte Konrad Adenauer 1963. Wenn Sie, verehrte
Damen und Herren von der Koalition, im Jahre 2011
wieder einen europapolitischen Kurs beschreiten wollen,
der Deutschland gerecht wird, dann folgen Sie den Anträgen von SPD und Grünen.
Danke sehr.
({2})
Das Wort erhält der Kollege Thomas Silberhorn für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Kollegen Michael Roth und Manuel
Sarrazin haben uns gerade mit starken Worten erklärt,
was notwendig wäre, um Deutschland auf den richtigen
europapolitischen Kurs zu bringen,
({0})
und dass sie sich selbst für gute Europäer halten; aber
leider haben sie sich jeweils in ihrer eigenen Fraktion
nicht durchsetzen können.
({1})
So kann man Europapolitik nicht betreiben.
Wir beraten heute einen Antrag, der, soweit ich das
überblicken kann, erstmals ein Verhandlungsmandat für
die Bundesregierung formuliert, bevor die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat, also zum Treffen der EUStaats- und Regierungschefs, reist. Ich finde, das ist stilbildend. Das steht dem Bundestag gut zu Gesicht. Das
macht deutlich, dass wir als Parlamentarier selbstbewusst unserer Verantwortung nachkommen.
({2})
Wir warten nicht einfach ab, was der Regierung, die wir
natürlich schätzen und die wir unterstützen, am Verhandlungstisch einfällt, um es hinterher abzunicken, sondern
wir formulieren im Vorhinein unsere Erwartungen. Wir
legen Maßgaben fest; so heißt es in diesem Antrag. Wir
unterstützen damit ausdrücklich die Verhandlungslinie
der Bundesregierung. Wir setzen ihr zugleich höflich,
aber bestimmt Grenzen. Ich denke, das ist ein guter
Kurs. Das sollten wir auch künftig beibehalten, wenn es
um die Verhandlung europäischer Verträge geht.
Die geplante Vertragsänderung und die Errichtung
des Europäischen Stabilisierungsmechanismus sind ein
Konstrukt, das wir nochmals sehr genau überdenken
müssen, spätestens dann, wenn es um die Beantwortung
der Frage geht, wie das mit dem vertraglichen Verbot der
Schuldenübernahme zu vereinbaren ist; das Verbot der
Schuldenübernahme soll ja ausdrücklich nicht angetastet
werden.
Deshalb bin ich persönlich gegen den Ankauf von
Staatsanleihen, weil nach meiner Bewertung ein Ankauf
von Staatsanleihen bedeutet, dass man neue Schulden
übernimmt und dass aus nationalen Schulden vergemeinschaftete europäische Schulden werden.
Deswegen stelle ich zumindest die Frage, weshalb der
Ankauf von Staatsanleihen nach Auffassung der Bundesregierung keine Schuldenübernahme sein soll. Ich
stelle die weitere Frage, wann nach Auffassung der Bundesregierung denn dann überhaupt eine Übernahme von
Schulden vorliegen soll. Wenn man das Verbot der
Schuldenübernahme so interpretiert, dass nur dann,
wenn Schulden realisiert werden, sie auch übernommen
werden, dann wäre diese Regelung doch ziemlich ausgehöhlt. Deswegen müssen wir noch einmal gut überlegen,
ob das der richtige Schritt ist.
({3})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn wir
über diesen Stabilisierungsmechanismus Finanzhilfen
gewähren, dann kann das natürlich nur dann Sinn machen, wenn die berechtigte Erwartung besteht, dass ein
Staat, dem geholfen wird, auch wieder auf die Füße
kommt, dass er selbst wieder am Finanzmarkt Kapital
erhalten kann, dass er wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
zurückgewinnt. Wenn das alles nicht mehr gelingt, wenn
absehbar ist, dass ein Staat seine Schulden dauerhaft
nicht tragen kann, dann muss auch eine Umschuldung
möglich sein.
({4})
Deswegen plädiere ich nach wie vor dafür, dass wir
Regelungen für eine Umstrukturierung von Staaten und
eine Umschuldung von Banken schaffen, wenn es denn
nicht anders geht. Eine solche Umschuldung würde auch
bedeuten, dass man eine Gläubigerbeteiligung ermöglicht. Denn es ist schon schwer vermittelbar, dass wir mit
Steuermitteln das Risiko von denen übernehmen, die mit
Staatsanleihen hohe Zinserträge erwirtschaftet haben,
während diese Gläubiger selbst keinen angemessenen
Beitrag zur Lösung des Problems leisten.
({5})
Ich sage: Wer hohe Risiken eingeht, um damit hohe Zinserträge zu erwirtschaften, der muss dann, wenn sich
diese Risiken realisieren, auch mithaften. Das müssen
wir umsetzen.
({6})
Schließlich geht es darum, dass der Deutsche Bundestag seine Beteiligungsmöglichkeiten wahrt und sich ausreichende Beteiligungsrechte sichert, wenn dieser Europäische Stabilisierungsmechanismus errichtet werden
soll bzw. er im konkreten Einzelfall aktiviert werden
soll. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass in jedem Fall einer Finanzhilfe der Deutsche Bundestag angemessen beteiligt werden muss.
({7})
Über die Einzelheiten werden wir uns unterhalten.
Aber das muss Kern der Diskussion der nächsten Tage
sein, die wir fraktionsübergreifend führen sollten.
({8})
Herr Kollege Silberhorn, erlauben Sie zum Schluss
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schick?
Sehr gern.
Bitte schön, Herr Schick.
Herr Kollege, ich habe vorhin schon einmal versucht,
beim Kollegen von der FDP-Fraktion herauszufinden,
wie denn angesichts der Haltung zur Gläubigerbeteiligung, die Sie gerade beschrieben haben und die ich auch
teile, Sie die Position der europäischen Regierungen und
meines Wissens auch der Bundesregierung einschätzen
und bewerten, dass die Gläubiger irischer Banken gerade
nicht beteiligt werden, sondern dass das Petitum der irischen Regierung bisher nicht positiv beantwortet worden
ist, die Gläubiger irischer Banken beteiligen zu können.
Zum Hintergrund. Wenn wir die Gläubiger dieser
Banken beteiligen, sinkt die Last für den irischen Staat.
Damit sinkt das Risiko, dass der deutsche Steuerzahler
im Falle Irlands zur Kasse gebeten wird.
Dass das nicht getan worden ist, leuchtet mir nicht ein
angesichts der Grundposition, die Sie jetzt noch einmal
vorgetragen haben.
Herr Kollege, ich stehe hier, um meine Position darzulegen. Deswegen erkläre ich nochmals mit Nachdruck,
dass ich es für richtig und für notwendig halte, dass
dann, wenn mit Steuermitteln ausgeholfen wird, damit
ein Teilverzicht von Gläubigern auf ihre Forderungen
einhergehen muss. Das ist am Ende nur auf europäischer
Ebene verhandelbar und entscheidbar.
({0})
Ich muss als Parlamentarier aber doch dieses Interesse
formulieren dürfen. Schön, dass wir da einer Meinung
sind.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Beteiligung des Bundestages sagen. Es geht nicht nur um die
Errichtung und die Aktivierung dieses Europäischen Stabilisierungsmechanismus. Wir müssen im Zusammenhang damit nochmals unsere Beteiligung an der bereits
etablierten Europäischen Finanz-Stabilisierungs-Fazilität überdenken. Wir müssen auch im Blick behalten,
dass die Vertragsänderung eine recht unbestimmte Formulierung beinhaltet, die erst dann bestimmbar wird,
wenn es konkret um Finanzierungshilfen geht. Deswegen ist hier eine Beteiligung des Bundestages notwendig.
Lassen Sie uns auch beim Pakt für den Euro für eine
angemessene Beteiligung des Bundestages sorgen. Denn
wenn die Bundesregierung sich in Brüssel mit den anderen Partnern in Bereichen koordinieren will, die in die
nationale Zuständigkeit fallen, dann ist das einerseits
eine Selbstverpflichtung der Bundesregierung, andererseits wird sie damit aber auch die Erwartung verbinden,
dass der Deutsche Bundestag nachvollzieht und umsetzt,
was als Ergebnis dieser Koordination auf europäischer
Ebene herausgekommen ist. Das erfordert, dass der
Deutsche Bundestag im Vorhinein ausreichend informiert und angemessen beteiligt wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Bettina Kudla von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mit der vorliegenden Vertragsänderung soll
erreicht werden, dass ein permanenter Stabilitätsmechanismus für die 17 Euro-Länder geschaffen wird. Zwar
hat die Wirtschafts- und Finanzkrise die Einrichtung dieses Mechanismus beschleunigt; gleichwohl - jetzt bitte
zuhören, Herr Roth! - geht es um weit mehr als einen
bloßen Mechanismus. Es geht darum, die EU zukunftsfähig zu machen und für dauerhafte Stabilität zu sorgen.
Wir haben für die 27 EU-Staaten bereits einen einheitlichen Binnenmarkt und werden ab Mai dieses Jahres
auch einen einheitlichen Arbeitsmarkt haben. 17 Staaten
haben eine einheitliche Währung. Diese Währung - das
kann man nicht oft genug betonen - gilt es stabil zu halten.
({0})
Von einer instabilen Währung wären alle Bürger betroffen, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern.
Die Kaufkraft der Währung muss erhalten bleiben, damit
die Bürger für ihr verdientes Geld bei stabilen Preisen einen adäquaten Gegenwert bekommen.
Vieles wurde schon gesagt; das werde ich in meiner
Rede nicht mehr ansprechen.
Ein Grundproblem ist, dass nahezu alle europäischen
Staaten seit Jahren mehr ausgegeben haben, als sie eingenommen haben, wodurch sie drastische Schuldenberge angehäuft haben.
({1})
Eine Verkleinerung der Schuldenberge öffnet die Sicht
auf eine zukunftsorientierte Politik. Eine solche Politik
brauchen wir.
({2})
Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass mit den Beschlüssen des Europäischen Rates folgendes Ziel formuliert
wurde: Alle müssen einen weiteren Beitrag zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen leisten.
Damit werden die Staaten gezwungen, sich den Kernproblemen der öffentlichen Haushalte zu widmen. Die
größten Ausgabeposten und damit die größten Probleme
der öffentlichen Haushalte sind: Rente, Arbeitsmarkt,
Krankenversicherung und teilweise auch der Finanzmarkt.
Die anderen europäischen Länder, insbesondere diejenigen mit schrumpfender Bevölkerung, haben fast alle
mit diesen Problemen zu kämpfen. Wenn wir uns zukünftig an einem Stabilitätsmechanismus beteiligen, ist
es nur folgerichtig, dass in anderen Ländern keine Bedingungen herrschen dürfen, die dann im Grunde auf unsere Kosten gehen.
Nun zum Stabilitätsmechanismus selbst. Die detaillierte Ausgestaltung des künftigen ESM wird in Kürze
im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens durch den
Bundestag zu beschließen sein. Die inhaltlichen Eckpunkte zum ESM sind in dem Antrag der Regierungsfraktionen festgelegt. Zwei Punkte wurden jetzt mehrfach angesprochen. Den Ankauf von Staatsanleihen auf
dem Primärmarkt halte ich durchaus für vertretbar; denn
das ist im Grunde eine Überbrückungsmaßnahme für einen Staat, der sich am Kapitalmarkt finanzieren will, um
sich über eine kurzfristig schwierige Zeit zu retten. Ein
Ankauf auf dem Sekundärmarkt wäre keinesfalls vertretbar.
({3})
Zur Gläubigerbeteiligung - auch dieses Thema wurde
schon angesprochen -: Wenn man Gläubiger zu einem
zu frühen Zeitpunkt beteiligen würde, dann würde es unter Umständen eine Kettenreaktion im Bankensektor geben, die zu entsprechenden Verwerfungen führt. Deswegen ist es richtig, dass ab Mitte 2013 entsprechende
Klauseln in Anleihen aufgenommen werden, damit sich
die Gläubiger und andere Marktteilnehmer auf eine
eventuelle Beteiligung einstellen können. Dann wird die
Lage auf dem Kapitalmarkt stabil bleiben.
Was unseren eigenen Beitrag zum ESM betrifft: Wir
werden wie auch andere Staaten Bürgschaften in enormer Höhe ausstellen und gegebenenfalls auch Einzahlungen in die künftige Stabilitätsgesellschaft vornehmen.
Ein Ausreichen von Geldern aus dieser Gesellschaft
wird aber nur als Ultima Ratio unter strengsten Bedingungen und unter der Maßgabe erfolgen - ich glaube,
das ist der deutliche Unterschied zu den Vorschlägen in
den Anträgen der Opposition -, dass in erster Linie das
betreffende Land seine Probleme selber lösen muss.
({4})
Im Hinblick auf die geäußerte Kritik, dass automatische Sanktionen fehlen, sei angemerkt: Der Pakt ist so
ausgestaltet, dass ein Land, welches sich unter den Rettungsschirm begibt, weitgehende Eingriffe in seine Souveränität hinnehmen muss. Mit Verlaub: Vorschläge in
den Anträgen der Opposition wie Euro-Bonds oder die
soziale Fortschrittsklausel hemmen eher das Wirtschaftswachstum und schützen die Interessen unserer
Bürger nicht.
({5})
Die von der Bundesregierung durchgesetzte gesetzliche Verankerung einer Schuldenbremse auch in anderen
europäischen Ländern wird maßgeblich zur Trendumkehr bei der Verschuldung der Staaten beitragen. Diese
Trendumkehr muss schnellstmöglich erreicht werden,
damit sich die Staaten selbst am Kapitalmarkt finanzieren können. Wir erwarten diese Trendumkehr in zwei bis
drei Jahren. Allerdings ist der ESM dauerhaft angelegt.
Daher ist es umso wichtiger, dass der Deutsche Bundestag in jedem einzelnen Fall entscheiden muss, ob ein
Land Hilfe aus der Stabilitätsgesellschaft bekommt.
Auch das haben wir in unserem Antrag vorgesehen.
Schönen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union auf Drucksache 17/5094. Ich
informiere darüber, dass dazu zwei persönliche Erklä-
rungen nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegen, die
wir zu Protokoll nehmen.1)
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die Annahme des Antrages der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4880 mit dem
Titel „Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zur Ergänzung von Artikel 136 des
Vertrages über die Arbeitsweise des Europäischen
Union ({0}) hinsichtlich der Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({1}) - hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23
Abs. 3 GG …“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/4881 mit dem Titel „Herstellung des Einvernehmens bezüglich der Ergänzung
von Art. 136 AEUV zur Einrichtung eines Europäischen
Stabilitätsmechanismus ({2}) verantwortlich gestal-
ten“. Zu dem Antrag liegt ein Änderungsantrag der Frak-
tion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer
stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/5095? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan-
trag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der
SPD-Fraktion und von Bündnis 90/Die Grünen.
Damit kommen wir zur Abstimmung über Nr. 2 der
Beschlussempfehlung: Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/4881. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
tion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und
von Bündnis 90/Die Grünen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4882 zum Ent-
wurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Än-
derung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi-
schen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der SPD-Fraktion und von Bündnis 90/Die Grünen ge-
gen die Fraktion Die Linke.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/4883 mit dem Titel „Herstellung des Einverneh-
mens zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrages über die
Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines
Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren
1) Anlage 11
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Währung der Euro ist“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und von Bündnis 90/
Die Grünen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit
({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln - Pflege-Transparenzkriterien optimieren
- Drucksachen 17/1427, 17/4925 Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Heinz Lanfermann von der FDP-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer gut, zu
späterer Stunde noch einmal über die Pflege zu sprechen, insbesondere nachdem Gesundheitsminister
Philipp Rösler das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege erklärt
hat und die Dinge durch die in guter Atmosphäre geführten Gesprächsrunden, die allseits gelobt werden, auf einen guten Weg gebracht hat.
Wir werden in diesem Jahr noch öfter über die Pflege
sprechen. Wir werden auch darüber sprechen, wie wir
den finanziellen und demografischen Herausforderungen
begegnen wollen; auch dies wird ein spannendes Thema
werden.
({0})
Selbstverständlich werden wir auch über Qualitätsverbesserungen sprechen. Wir werden außerdem darüber
sprechen, wie wir den Pflegebedürftigkeitsbegriff ausfüllen werden.
({1})
Darüber könnte man jetzt noch vieles sagen. Aber der
Anlass dieser Debatte ist ja - das will ich nicht verschweigen - ein Antrag, der kaum noch geeignet ist, eine
ganze Debatte zu füllen.
({2})
Es handelt sich um einen Antrag der SPD, der aus dem
April des letzten Jahres stammt. Bevor er jetzt sozusagen
aus Zeitgründen verfällt, hat die SPD-Fraktion ihn noch
einmal ins Plenum zurückgeholt.
Er ist allerdings in allen wesentlichen Punkten überholt. Vieles stimmte schon nicht, als Sie ihn geschrieben
haben. Eigentlich hätten Sie ihn im Ausschuss für erledigt erklären müssen, aber Sie konnten sich nicht von
ihm trennen.
({3})
Deshalb hören Sie heute noch einmal die Kritik. Im
Ausschuss wurde selbst von den anderen Oppositionsfraktionen, von den Grünen und von den Linken, erhebliche Kritik an der Qualität dieses Antrags geübt. Vielleicht hören wir das alles gleich noch einmal.
Kommen wir aber zur Sache selbst. Wir sind uns doch
ohnehin alle darüber einig, dass die Transparenz im Pflegebereich noch weiter erhöht werden soll, dass die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen natürlich ein Recht
haben, zu erfahren, wo sie gute Pflege erwarten können
und wie die einzelnen Einrichtungen einzuschätzen sind,
und zwar insbesondere dann, wenn der Pflegefall eintritt.
Denn wir wissen, dass das häufig besonders kurzfristig
sein kann, dass man von dieser Situation oft überrascht
wird, zum Beispiel nach Schlaganfällen. Insofern kann
Transparenz gar nicht groß genug geschrieben werden.
({4})
Im Übrigen gilt das auch für die Anbieter selbst, denen
wir immer wieder empfohlen haben, von sich aus voranzugehen, auf Transparenz zu setzen, auch weil es natürlich Wettbewerb gibt. Das ist auch gut so. Die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen, die sich ja meist darum
kümmern, sollen wählen können und sollen insofern als
Kunden verstanden werden und nicht als Objekte, die irgendwie zu versorgen sind. Das Internet bietet zum Beispiel neue Möglichkeiten, die genutzt werden. Man kann
sich erkundigen, welche Angebote denn in der Umgebung - das ist meist wichtig - vorhanden sind. Natürlich
war das auch das Ziel, als man die Pflege-Transparenzvereinbarung oder - wie man so schön sagt - den PflegeTÜV eingeführt hat.
Meine Damen und Herren, gerade auch meine Kollegin von der SPD, natürlich steht der Pflege-TÜV seit seiner Einführung, insbesondere die Bewertungssystematik zur Berechnung der Noten, in der Kritik. Das kann
bei einem neuen System auch nicht verwundern, das
bundesweit unter zum Teil unterschiedlichen Bedingungen angewandt wird. Selbstverständlich ist für mich,
dass zum Beispiel daran festgehalten werden muss, dass
die Prüfungen unangemeldet erfolgen, oder dass niemand schlechte pflegerische Leistungen durch gutes
Essen - so erfreulich das sein mag - oder eine schöne
Aussicht ausgleichen kann. Es ist unstrittig, dass es beim
Bewertungssystem einen gewissen Nachbesserungsbedarf gibt.
Den zu konkretisieren und ein entsprechendes Verfahren zu finden, war und ist Aufgabe der Selbstverwaltung,
die aber leider aufgrund einer gewissen Selbstblockade
in ihren Reihen diese Aufgabe nicht bewältigt hat.
Dabei ist der Vorwurf der SPD, das Ministerium sei
untätig gewesen, objektiv falsch. Wer auch immer sich
bemüht hat - Frau Widmann-Mauz, Herr Kapferer oder
wer auch immer -, für Einigkeit zu sorgen, zu moderieren, zu helfen - es hat nicht funktioniert. Deswegen haben wir jetzt gehandelt.
In dem Infektionsschutzgesetz, das gestern im Kabinett beschlossen wurde, gibt es einen Artikel, mit dem
dieses Problem jetzt gelöst wird. Sie wissen: Bisher
mussten Veränderungen einstimmig beschlossen werden. Das hat sich nicht bewährt. Der funktionierende
Konfliktlösungsmechanismus heißt jetzt Schiedsstelle.
Wir wollten keine Verordnung; wir wollten nichts von
oben herab machen. Wir wollten nicht, dass die Regierung etwas macht. Wir wollten, dass die Selbstverwaltung zum Zuge kommt, und wir wollten Gruppen oder
Verbände natürlich auch nicht ausschließen.
Aber sie müssen einsehen: Irgendwann ist Schluss. Es
muss zügig gehandelt werden. Deswegen haben wir gewisse Zeitvorstellungen, bis wann man sich einigen
muss oder wann man eine Schiedsstelle anrufen kann.
Man sollte durchaus noch einmal darüber diskutieren,
was richtig ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wir
werden uns im Ausschuss bei den Beratungen sicherlich
noch damit auseinandersetzen. Sie sind alle herzlich eingeladen, an diesem - in dem Falle - kleinen Reformvorhaben der Regierung mitzuarbeiten.
Ich glaube, wir werden gemeinsam sehen, dass dieser
Konfliktlösungsmechanismus die Selbstverwaltung
stärkt. Auch das ist gut für die Pflege, für die Betroffenen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lanfermann hat gerade betont, dass die Koalitionsfraktionen das Jahr der Pflege ausgerufen haben. Ich
muss feststellen: Unser Antrag ist genau richtig. Denn
gestern hat das Kabinett nach vielen Monaten des Wartens endlich eine Lösung für das Problem vorgelegt, das
wir im Bereich der Qualität und Transparenz in der
Pflege beobachten mussten: Es kann zu einer Blockadehaltung kommen. Wir werden in den nächsten Wochen
und Monaten darüber zu diskutieren haben, ob die
Schiedsstellenlösung unseren Ansprüchen wirklich gerecht wird.
Unser Antrag vom April letzten Jahres hat vorweggenommen, was im Herbst für alle offensichtlich wurde:
Die Vereinbarungen zu Qualität und Transparenz sind in
zwei ganz wichtigen Punkten wirklich mangelhaft; sie
führen deshalb nicht zu dem Ergebnis, das wir uns gewünscht haben. Das gewünschte Ergebnis wäre nämlich
gewesen, die Transparenz von Einrichtungen und ambulanten Pflegediensten zu erhöhen, damit ihre Qualität
richtig eingeschätzt werden kann. Das sollte dazu führen, dass Angehörige und Pflegebedürftige zum Beispiel
über das Internet erfahren können, welche Einrichtung
für sie die richtige ist.
Ich darf es an dieser Stelle sagen: Es war für uns alle
- für alle Fraktionen - immer ein wichtiges und richtiges
Anliegen, für mehr Transparenz und Qualität zu sorgen;
dies hat uns geeint. Daher sollten wir uns jetzt auf den
Weg machen und in der Tat die richtige Lösung finden.
Dafür streiten wir; denn es ist richtig: Die Bewertungskriterien, die vereinbart worden sind, lassen oftmals
nicht den Blick in die Einrichtung zu.
Ich möchte das am Beispiel einer Einrichtung hier aus
Berlin festmachen. Da werden im Qualitätsbereich 1
- Pflege und medizinische Versorgung - zum Beispiel
folgende Noten vergeben: Ist der Umgang mit Medikamenten sachgerecht? Note: 4,1. Werden erforderliche
Dekubitusprophylaxen durchgeführt? Note: 3,4. Werden
erforderliche Prophylaxen gegen Stürze durchgeführt?
Note: 3,6. Wird die Pflege im Regelfall von denselben
Pflegekräften durchgeführt? Note: 4,8. Im Gegensatz
dazu werden in den weicheren Bereichen, zum Beispiel
bei der Angehörigenarbeit, Noten wie 1,0 vergeben. Gesamtnote: 1,3.
Das sind genau die Kriterien, an denen es zu arbeiten
gilt. Wir sagen: Es kann nicht sein, dass bestimmte
Wohlfühlkriterien dazu führen, dass Mängel im pflegerischen Bereich überdeckt werden; deswegen ist dieser
Punkt so wichtig. Wir haben die Bewertung der Qualität
von Pflegeeinrichtungen gemeinsam mit Schwarz im
Pflege-Weiterentwicklungsgesetz auf den Weg gebracht, welches dem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz
nachfolgte. Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass die Bausteine für mehr Qualität und Transparenz in der Pflege
stimmig sind; sie dürfen nicht dazu führen, dass Angehörige keinen richtigen Blick in die Einrichtung erhalten, denn dann könnten wir es gleich lassen.
({0})
Ich wollte mit meinem Beispiel deutlich machen: Die
gravierenden pflegerischen Mängel dürfen nicht von
weichen Kriterien überdeckt werden; das darf nicht sein.
Deshalb kam es schon nach Veröffentlichung der ersten
Pflegenoten im Jahr 2010 unter Fachleuten zu intensiven
Diskussionen. Die Fachwelt hat gesagt: Das muss überarbeitet werden.
Schlecht ist, dass sich die Bundesregierung so viel
Zeit für die Überarbeitung genommen hat und jetzt die
Reform an ein Gesetz anhängen muss. Es wäre wichtig
gewesen, schon im Herbst darauf hinzuwirken, dass wir
in diesem Bereich eine Nachbesserung erhalten.
({1})
Die Frage ist in der Tat, ob die Schiedsstellen die richtige Lösung sind. Schiedsstellen sind zur Moderation
zwischen Blöcken angelegt.
({2})
Schiedsstellen sind dazu aufgerufen, einen Kompromissvorschlag zu erarbeiten. Neue Lösungen sind nicht gefragt. Schiedsstellen brauchen Zeit. Ob dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Aussagekraft der
Ergebnisse steigt, wage ich zu bezweifeln. Wegen der
Zweifel an der Schiedsstellenlösung fordern wir, auch
andere Lösungen in Betracht zu ziehen und zum Beispiel
den Vorschlag der A-Länder nach einer bundesrechtlichen Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung
aufzugreifen oder das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege zu beauftragen. Eines ist klar:
Wir müssen alles tun, um der Verpflichtung, der wir uns
im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz gemeinsam verschrieben haben, gerecht zu werden.
({3})
Für meine Partei und meine Fraktion ist klar: Über
Qualität in der Pflege kann und darf nicht verhandelt
werden. Sie steht für einen Kompromiss nicht zur Verfügung. Wenn wir Qualität einfordern, dann meinen wir
auch Qualität. Davon rücken wir nicht ab. Die Bevölkerung hat auch in diesem Bereich ein Recht auf Information und Transparenz.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Willi Zylajew von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
gerade einen Beitrag der Kollegin Mattheis gehört, der,
verehrte Frau Mattheis, überhaupt nichts mit dem Antrag
zu tun hatte, den wir heute beraten.
({0})
- Doch. Ich habe ihn sogar dabei. Ich kann Ihnen den
Antrag gerne zur Verfügung stellen.
({1})
In dem Antrag steht etwas über Qualität und Transparenz in der Pflege, zur konsequenten Weiterentwicklung
und zur Optimierung. In dem Antrag steht - wenn Sie
wollen, lesen Sie das nach -: „Der Deutsche Bundestag
stellt fest: …“
({2})
Das ist aber auch schon alles. Er enthält keine Forderungen. Dann steht hier: „Der Deutsche Bundestag ist der
Auffassung … Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf …“. Etwas Substanzielles ist in Ihrem
Antrag nicht enthalten. Dort steht nichts von dem, was
Sie eben gesagt haben.
({3})
Frau Mattheis, SPD und CDU/CSU haben in der Großen Koalition den Pflege-TÜV gemeinsam eingerichtet.
Wir wollten die Leistungen stationärer und ambulanter
Einrichtungen erfassen und vergleichbar machen - das
war unser gemeinsames Ziel -, und zwar durch unangemeldete Prüfungen. Der Pflege-TÜV ist eine wichtige
Hilfe für Angehörige; das wissen wir alle. Wir wollen
ihn weiterentwickeln. Die Heime profitieren davon.
Qualitätsunterschiede werden abgebildet. Schwächen,
aber auch positive Dinge werden deutlich. Jeder gute
Träger müsste interessiert daran sein, bewertet und benotet zu werden.
Die SPD erkennt das auch an. In Ihrem Antrag steht
unter II., dass die Transparenzvereinbarungen geeignet
sind, um Qualität und Qualitätsunterschiede abzubilden.
Ihr Antrag enthält aber überhaupt keinen Vorschlag, wie
wir die Dinge verbessern können. Sie haben eben nur
das Verfahren erläutert, das zwischenzeitlich angewendet wurde.
Wir wollten nicht - das wollten Sie übrigens auch
nicht -, dass Ministerialbeamte die Begriffe Qualität und
Transparenz für den Bereich der Pflege definieren. Wir
haben das der Selbstverwaltung überlassen, also den
Fachleuten bei den Krankenkassen und den Fachleuten
bei den Leistungserbringern, von denen einige heute hier
sind. Jetzt hat sich gezeigt, dass die Transparenzkriterien
optimiert werden müssen. Damit waren fast alle Träger
einverstanden. Nur zwei kleine Trägerverbände, der Verband Deutscher Alten- und Behindertenhilfe und der Arbeitgeber- und Berufsverband Privater Pflege, waren anderer Auffassung. Das Ministerium hat dann sehr
beherzt eingegriffen
({4})
- ja, nicht in der Basta-Manier des Herrn Schröder - und
die Fachleute gebeten, sich darauf zu verständigen, die
Kriterien weiterzuentwickeln. Dies ist passiert.
Wir richten eine Schiedsstelle ein. Gestern hat das
Kabinett Entsprechendes auf den Weg gebracht. Wir
sind gespannt, welche Optimierungsvorschläge Sie für
die Schiedsstelle haben. Das werden wir uns dann in
Ruhe anschauen. Uns ist die Frist von drei Monaten
wichtig. Um es noch einmal zu sagen: Die Träger und
Leistungserbringer haben, wenn sie Änderungswünsche
haben, drei Monate Zeit, sich zu verständigen. Danach
wird es eine Schiedsstellenentscheidung geben. Das ist
der vernünftigste, durch Fachleute geprägte Weg.
({5})
Aber auch dazu steht nichts in Ihrem Antrag. Im Antrag
heißt es nur - ich wiederhole mich -: „Der Deutsche
Bundestag stellt fest: … Der Deutsche Bundestag ist der
Auffassung, dass …“ Das war es. Dass Sie heute ein bisschen klüger sind, akzeptiere ich gern.
Ich will an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen, dass die Leistungserbringer mit dem, was wir tun,
zum größten Teil ausgesprochen zufrieden sind. Es gibt
eine neue Befragung der Basis, nicht der Funktionäre.
Danach sind in Westfalen-Lippe 98 Prozent der Einrichtungen der Meinung, die Prüfung sei fachkompetent. Sie haben den praktischen Nutzen, den Wert der Prüfung
herausgestrichen. 53,2 Prozent meinen, der Wert der
Prüfung sei hoch, 37,9 Prozent meinen, er sei eher hoch,
7,5 Prozent meinen, er sei eher gering, und nur
1,4 Prozent meinen, der Wert sei gering. Insofern hat die
Basis dieses Verfahren längst angenommen.
Wir schaffen Transparenz, wir optimieren. Wir orientieren uns nicht an dem, was Sie im Antrag geschrieben
haben, sind nicht zufrieden mit banalen Feststellungen,
die nicht weiterhelfen, sondern machen die Transparenzvereinbarungen in der Weiterentwicklung zu einem hervorragenden Instrument für Pflegebedürftige und deren
Angehörige. Sie haben ja die Quittung für Ihren Antrag
bekommen. Nicht einmal die Kolleginnen und Kollegen
der anderen Oppositionsfraktionen haben Ihrem Antrag
im Ausschuss auch nur eine Stimme gegeben. Dieses Ergebnis spricht doch für sich. Die Qualität dieses Antrags
ist schon vor einem Jahr dürftig gewesen; heute ist der
Antrag überholt.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Senger-Schäfer
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Menschen, die gepflegt werden, müssen das
bekommen, was sie brauchen. Die Grundvoraussetzung
dafür ist, dass gute Pflege erkennbar wird. Genau daran
müssen sich die Pflegeeinrichtungen messen lassen. Woran sonst sollten sich Angehörige halten, wenn sie den
bestmöglichen Pflegeplatz für Mutter oder Vater suchen?
Wie wir alle wissen, wird die soziale Dienstleistung
Pflege in Deutschland knallhart über den Wettbewerb organisiert. Wir sagen: Das geht nicht.
({0})
Pflege ist eine öffentliche Daseinsfürsorge, und sie
darf nichts mit Profitmacherei zu tun haben. Herr
Lanfermann, auch wenn Sie sagen, dass Pflegebedürftige in erster Linie Kunden sind: Für uns sind Pflegebedürftige in erster Linie Menschen.
({1})
- Das müssen Sie gerade sagen.
({2})
Für mich ist dann ganz logisch, dass durch das Sichtbarmachen von guter und schlechter Qualität in Pflegeeinrichtungen es eben nicht der Markt sein kann, der dafür sorgt, dass schlechte Pflege verschwindet. Mit der
gesetzlichen Pflegeversicherung, die sich sozial nennt,
aber nicht den tatsächlichen Pflegebedarf eines Menschen abdeckt, werden die Pflegebedürftigen gegen die
Pflegekräfte ausgespielt, und umgekehrt. Solange das so
ist, brauchen wir im Interesse der Pflegebedürftigen und
des Pflegepersonals eine Weiterentwicklung der Pflegenoten.
({3})
So wie die Pflegenoten heute erhoben werden, ergeben sie ein unklares Abbild der Pflege. Es ist noch immer möglich, schlechte Pflege beispielsweise in der
Wundversorgung mit einem gut sichtbaren Speiseplan zu
kaschieren. Bei der Weiterentwicklung der Pflegenoten
hakt es, und zwar gewaltig. Ich verstehe nicht, warum
über die Weiterentwicklung der Pflegenoten überhaupt
noch gestritten wird. Noch viel weniger verstehe ich, wie
zwei kleine Arbeitgeberverbände - sie wurden genannt -, die nicht einmal 5 Prozent der Pflegeeinrichtungen vertreten, die Weiterentwicklung der Pflegenoten
blockieren können.
({4})
Das Ganze führt doch im Ergebnis zu einem Vertrauensverlust und zu Skepsis gegenüber den Pflegeeinrichtungen.
({5})
Was gut gemeint ist, kann so schlicht keine Wirkung zeigen.
({6})
Allen ist klar: Gute, qualitativ hochwertige Pflege
hängt entscheidend von qualifiziertem und motiviertem
Personal ab. Dafür steht die Linke seit jeher.
({7})
- Ja, das ist so. - Die äußerst schwere und aufopferungsvolle Arbeit des Pflegepersonals kann, gerade im Interesse der Pflegebedürftigen, nicht hoch genug wertgeschätzt werden.
Bringen wir es doch einmal auf den Punkt: Wir befinden uns mitten im Pflegenotstand. Die Hauptursachen
dafür sind schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung und die daraus resultierende fehlende Attraktivität des Pflegeberufs. Wir meinen, dass es deshalb zwingend notwendig ist, die Arbeitsbedingungen bei den
Pflegenoten zu berücksichtigen.
({8})
Eine Pflegerin, die im Minutentakt arbeiten muss, die für
An- und Auskleiden und Körperpflege nur wenige Minuten zur Verfügung hat, wird auf Dauer so im Stress
sein, dass ihr kaum Raum bleibt für ausführliche Gespräche und Fürsorge, die zu Pflegende so dringend brauchen. Das macht die Qualität der Pflege aus meiner Sicht
entscheidend aus; denn die Arbeitsbedingungen in der
Pflege haben Einfluss auf die Pflegequalität.
Dieser wichtige Aspekt wird im Antrag der SPD zwar
erwähnt, findet sich dann aber in den Forderungen leider
nicht wieder.
({9})
Die Linke kann sich daher nur enthalten.
({10})
Darüber, was die Bundesregierung nun zur Zukunft
der Pflegenoten vorschlägt, wird an anderer Stelle zu
diskutieren sein. Sie alle können sich ganz sicher sein,
dass wir jeden Ihrer Vorschläge im Interesse der zu Pflegenden und der Pflegekräfte äußerst kritisch begleiten
werden.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg
von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Pflege-Transparenzvereinbarung, besser bekannt als Pflege-TÜV - er wurde schon mehrmals genannt -, sollte Transparenz erzeugen. Mit dieser
Verheißung war man angetreten. Anhand einer einzigen
Pflegenote sollte die Qualität einer Pflegeeinrichtung
oder eines Pflegedienstes zu erkennen sein. Diese eine
Note setzt sich aus einer Fülle von Einzelnoten für unterschiedliche Leistungsbereiche zusammen. Keine Rücksicht wurde darauf genommen, was miteinander verglichen und gegeneinander aufgewogen wurde, ob nun
Äpfel mit Birnen oder Speisepläne mit Demenzkonzepten. Anstatt in der Pflege für Transparenz zu sorgen, vernebelt der Pflege-TÜV die wahre Situation im Pflegealltag. Transparenz wird auf eine transparente
Dokumentation reduziert. Die Frage ist, was für den
Nutzer und die Nutzerin am Ende dabei herauskommt.
Diese Frage ist unbeantwortet geblieben.
({0})
Der Fehler beim Pflege-TÜV ist unserer Ansicht nach
schon bei seiner Geburt zu finden. Es sollte in allererster
Linie um die Verbraucherinnen und Verbraucher gehen;
ihnen sollte er dienen. Doch bei der Erarbeitung der Kriterien wurden wichtige Geburtshelfer außen vor gelassen, zum Beispiel die für uns wichtigste Gruppe, die Verbraucherverbände und die Selbsthilfeorganisationen.
Diese wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie hatten gerade einmal ein Stellungnahmerecht. Größere Zugeständnisse räumte man ihnen nicht ein, und das ganz
nach dem Motto: zwar für euch, aber bitte ohne euch.
Wir haben von Anfang an kritisiert, dass die Kostenträger und die Leistungserbringer die Bewertungskriterien unter sich ausmachen. Dieser Mangel wird leider
auch durch den Antrag der SPD-Fraktion nicht geheilt.
({1})
Dies steht auch im Hinblick auf die weitere Überarbeitung der Transparenzkriterien leider nicht auf der
Agenda. Ich frage: Wann beziehen wir endlich die
Adressaten und Adressatinnen des Pflege-TÜV mit ein?
Grüne Politik ist für uns immer auch Politik für Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir begrüßen Regelungen, die wirklich darauf abzielen, Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher herzustellen. Deshalb ist
es wichtig, diese Zielgruppe nicht länger in die Irre zu
führen. Genau das tut derzeit die Gesamtnote des PflegeTÜV. Wir Grüne plädieren dafür, die Gesamtnote als
Erstes abzuschaffen.
({2})
Die Gesamtnote hat ihr Ziel, mehr Transparenz zu schaffen, verfehlt. Sie verleitet dazu, sich nicht detailliert mit
den Einzelbereichen zu beschäftigen. Der Heimalltag ist
nun einmal komplex; er lässt sich nicht schnell in eine
Note packen. Es wäre vermessen, zu meinen, dass man
aufgrund dieser Note ein Urteil darüber fällen könnte,
wie gut in einem Heim gearbeitet wird oder wo genau
die Defizite eines Pflegedienstes sind. Aber diese Gesamtnote gaukelt uns den Durchblick vor.
Uns geht es darum, auch Lebensqualität zu beurteilen.
Pflege, die es schafft, Lebensqualität zu bieten und zu erhöhen, ist eine gute Pflege.
({3})
Lebensqualität und Wohlbefinden sind aber in hohem
Maße subjektiv. Genau darin liegt die Schwierigkeit. Lebensqualität bedeutet nicht für jede und jeden das Gleiche. Prüfungen und Benotungen sind im Sinne des Verbraucherschutzes zwar wichtig. Sie dürfen aber nicht
dazu führen, dass die Lebenswelt dadurch standardisiert
oder normiert wird. Dann wird der Pflege-TÜV zum
Selbstzweck, und dann dient er überhaupt nicht zur Hilfe
für die Betroffenen. Wenn der Pflege-TÜV wirklich zum
Wegweiser werden soll, dann ist noch sehr viel zu tun,
und das zusammen mit den Nutzerinnen und Nutzern.
Im Übrigen: Herr Lanfermann, Sie sprachen vom Jahr
der Pflege.
({4})
Es wird sich zeigen, wie dieses Jahr der Pflege mit Inhalten gefüllt wird,
({5})
und zwar im Sinne der Nutzerinnen und Nutzer, der Pflegebedürftigen, der Angehörigen und der Pflegenden. An
diesen Inhalten wird man Sie letztendlich messen.
Vielen Dank.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gute Pflege braucht Qualität. Gute Pflege
braucht Instrumente, um Qualität zu sichern und weiterzuentwickeln. Deswegen haben wir interne Qualitätsmanagementverfahren, Expertenstandards und Qualitätsprüfungen. Aber für den Verbraucher, gerade für die
Pflegebedürftigen und deren Angehörige, ist es wichtig,
dass Leistungen im ambulanten wie im stationären Bereich und ihre Qualität verständlich, übersichtlich und
vergleichbar beurteilt werden können. Der Verbraucher
möchte bei der nicht immer einfachen Suche nach der
passenden Pflege eine Entscheidungshilfe bekommen.
Deswegen haben wir Pflegequalität sichtbar gemacht
und für Transparenz der Pflegeleistungen gesorgt. Deswegen hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung rund 18 000 Pflegeeinrichtungen auf Transparenz überprüft und 14 000 Transparenzberichte im
Internet veröffentlicht. Das ist ein echter Beitrag zu
mehr Transparenz in der Pflege.
({0})
Die Transparenzvereinbarungen und ihre Weiterentwicklung haben wir bewusst in die Hände der Selbstverwaltung gelegt. Dort wollen wir sie auch belassen. Denn
die Selbstverwaltung verfügt wie kaum jemand anders
über die Möglichkeit, Sachverstand mit praxistauglichen
und flexiblen Lösungen zu verbinden. Das ist ihre Aufgabe und Verantwortung zugleich. Aus dieser Verantwortung werden wir sie nicht entlassen.
Zu verantwortlichem Handeln der Selbstverwaltung
gehört auch, zu begreifen, dass die Qualität der Pflege
und nicht zuletzt auch die Transparenz für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen stets weiterentwickelt
werden müssen. Wie in der Pflege selbst muss auch bei
den Transparenzvereinbarungen das Ergebnis stimmen,
und hieran mangelt es. Hieran mangelt es beispielsweise
bei dem System der Zufallsstichprobe, wie sie bislang in
den Vereinbarungen verankert ist. So werden wichtige
Kriterien wie Flüssigkeitsversorgung, Ernährungszustand und Wundliegen gerade im ambulanten Bereich
nur unzureichend erfasst. Die Gefahr des Übersehens
von gravierenden Pflegemängeln ist deshalb groß. Zudem ist die Vergleichbarkeit der Prüfergebnisse nicht gewährleistet. Schlechte Bewertungen können aufgrund
der Mittelwertbildung einfach ausgeglichen werden, und
durch die Durchschnittsbildung werden Einrichtungen
mit einem größeren Anteil an Pflegefällen mit großem
Risiko benachteiligt.
All das gefährdet die Glaubwürdigkeit des Transparenzinstruments als solches. Die Träger, die hieran nichts
ändern wollen, leisten gerade den Pflegeeinrichtungen,
die gute Arbeit leisten, einen Bärendienst.
({1})
Denn diese Einrichtungen haben zu Recht einen Anspruch darauf, dass sich gute, qualitätsvolle Leistung
auch lohnt. Deshalb muss eine klare Unterscheidbarkeit
zu schlechteren Einrichtungen gegeben sein. Auch darin
liegt die Verantwortung der Selbstverwaltung.
({2})
Es war gut, dass das Bundesministerium für Gesundheit von Beginn an den Umsetzungsprozess eng begleitet
und immer wieder auf die Wahrnehmung von Verantwortung der Leistungspartner gedrängt hat. Umso enttäuschender ist es, dass sich die Selbstverwaltung letztlich selbst blockiert. Das liegt zum einen daran, dass
aufgrund der Vereinbarungen das Einstimmigkeitsprinzip angewendet werden muss, und zum anderen daran,
dass auch das Kündigungsrecht keine wirkliche Wirkung
entfalten kann, da das alte Recht bis zur Geltung einer
neuen Vereinbarung weiterhin gilt. Es ist allerdings nicht
akzeptabel, dass diese Selbstblockade besteht. Wir wollen diese Eigenblockade mit einer Schiedsstellenlösung
überwinden. Diese Schiedsstellenlösung entspricht dem
Wunsch relevanter Teile der Selbstverwaltung und ist ein
Konfliktlösungsmechanismus, der der Systematik des
SGB XI Rechnung trägt. Durch die Möglichkeit der
Fristverkürzung bei der Anrufung der Schiedsstelle besteht die Chance auf eine rasche Auflösung der derzeitigen Blockade.
Wenn Sie nun, liebe Frau Kollegin Mattheis, kritisieren, dass Schiedsstellenlösungen unter Umständen zu
Kompromissen verleiten, dann stellen Sie indirekt die
gesamte Konzeption infrage. Selbstverständlich ist die
Transparenzvereinbarung, so wie sie angelegt ist, auf
eine Vereinbarung der Selbstverwaltung bezogen. Daher
verabschieden Sie sich wieder von einem Stück dessen,
was wir in der Großen Koalition vereinbart haben. Das
finde ich etwas schade.
({3})
Ich erwarte nun, dass sich die Selbstverwaltung ihrer
Verantwortung bewusst ist und dementsprechend handelt. Ich erwarte von der Selbstverwaltung, dass das derzeit unzureichende System der Zufallsstichprobe durch
ein geeigneteres System ersetzt wird und dass Verrechnungsmöglichkeiten und Überstrahlungseffekte in Zukunft nicht mehr gegeben sind. Ich bin mir sicher, dass
das Bundesministerium für Gesundheit diesen anstehenden Weiterentwicklungsprozess weiterhin eng begleiten
wird, und ich bin mir gewiss, dass die Hausspitze auf
diese Weise der Selbstverwaltung den notwendigen Rahmen aufzeigt, in dem Veränderungen notwendig und
sinnvoll sind. Diesen Prozess werden nicht zuletzt wir
vonseiten der christlich-liberalen Koalition entsprechend
begleiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem An-
trag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Qualität und
Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln -
Pflege-Transparenzkriterien optimieren“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4925, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1427 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Lin-
ken und der Grünen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/4981 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/2766 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Andreas
Scheuer das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die freiwilligen Feuerwehren, aber auch die Rettungsdienste und das Technische Hilfswerk leisten mit ihren
Einsätzen einen unschätzbaren Dienst für unsere Gesellschaft. Nicht selten setzen sie bei ihrem Einsatz Leib und
Leben aufs Spiel: für andere, für den Nächsten. Ich
möchte auch unseren Einsatzkräften, die im Katastrophenschutz tätig sind, vor allem den Mitgliedern des
THW, für ihren Einsatz und für ihre Bereitschaft, auch in
Japan zu helfen, danken. Herzlichen Dank dafür.
({0})
Leider gibt es immer weniger junge Ehrenamtliche,
die über eine zum Führen der Einsatzfahrzeuge notwendige Fahrerlaubnis verfügen. Lediglich ältere Fahrerlaubnisinhaber, die ihre Fahrerlaubnis vor dem
1. Januar 1999 erworben haben, können aufgrund des
Bestandsschutzes auch schwerere Fahrzeuge mit dem
Führerschein der alten Klasse 3 fahren. Da diese Fahrer
den freiwilligen Feuerwehren nunmehr aus Altersgründen langsam nicht mehr zur Verfügung stehen, müssen
jüngere Fahrer nachrücken, die aber nicht mehr über die
benötigte Fahrerlaubnis für die zwischenzeitlich aus
technischen Gründen auch schwerer gewordenen Einsatz-fahrzeuge verfügen. Nicht nur in meinem Heimatland Bayern, in dem rund 300 000 Ehrenamtliche in den
freiwilligen Feuerwehren aktiv sind, führt dies zu dramatischen Engpässen bei den Einsatzfahrten. Das ist
eine aus meiner Sicht nicht akzeptable Situation, für die
es jetzt endlich eine vernünftige Lösung gibt. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
setzt die Vorschläge der Ehrenamtlichen um.
({1})
Ursache für diese Entwicklung ist die sogenannte
2. EU-Führerschein-Richtlinie von 1991, nach der das
Fahrerlaubnisrecht und insbesondere die deutschen
Fahrerlaubnisklassen zum 1. Januar 1999 an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben anzupassen waren. Seither
dürfen mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B für Pkw nur
noch Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse
von bis zu 3,5 Tonnen gefahren werden. Für Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse zwischen
3,5 Tonnen und 7,5 Tonnen ist hingegen eine Fahrerlaubnis der Klasse C 1 und für Kraftfahrzeuge über 7,5 Tonnen eine Fahrerlaubnis der Klasse C erforderlich. Diese
Rechtsänderung wurde von der Europäischen Union eingeführt. Aus europarechtlichen Gründen ist es leider
ausgeschlossen, der Forderung nachzukommen, eine
Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass Angehörige der
freiwilligen Feuerwehren, der nach Landesrecht anerkannten Rettungsdienste und des Katastrophenschutzes
mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B Einsatzfahrzeuge
mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 4,25 Tonnen fahren dürfen.
Die in der vergangenen Legislaturperiode beschlossene Rechtsgrundlage für eine Sonderfahrberechtigung
zum Führen von Einsatzfahrzeugen der freiwilligen Feuerwehren bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von bis
zu 4,75 Tonnen bzw. 7,5 Tonnen reicht nach meiner Einschätzung und auch aus Sicht der betroffenen Organisationen nicht aus, um die Einsatzfähigkeit der betroffenen
Organisationen tatsächlich zu verbessern.
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf werden die
Vereinbarungen der Koalitionsfraktionen im Koalitionsvertrag umgesetzt. Es werden weitere Erleichterungen
für Ehrenamtliche geschaffen, die kostengünstig und unbürokratisch zu handhaben sind.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die betroffenen Organisationen eine organisationsinterne Einweisung und
- das ist das Entscheidende - auch eine organisationsinterne Prüfung auf Einsatzfahrzeugen mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen durchführen
können.
So wird ein einfaches und kostengünstiges Verfahren
geschaffen, mit dem den jeweiligen Bedürfnissen vor
Ort entsprechend mit den vorhandenen Einsatzfahrzeugen ausgebildet und geprüft werden kann. Dabei wird
zwischen einer Sonderfahrberechtigung bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 4,75 Tonnen einerseits und
bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 7,5 Tonnen andererseits differenziert, da die Anforderungen an die
Fahrerinnen und Fahrer mit der Höhe des Fahrzeuggewichts zunehmen.
Im Gegensatz zu vorherigen Regelungen aufgrund
des tatsächlich geltend gemachten Bedarfs werden jetzt
auch Anhänger in die Fahrberechtigungen aufgenommen.
({2})
Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, in Anlehnung an
das in Deutschland bewährte System der professionellen
Ausbildung die Ausbildung auch durch Fahrlehrer vornehmen zu lassen.
Die Ermächtigung zur Ausstellung der Fahrberechtigungen wird dabei unmittelbar auf die Landesregierungen übertragen. So wird sichergestellt, dass den jeweiligen regionalen Gegebenheiten Rechnung getragen wird
und möglichst passgenaue Regelungen getroffen werden
können. Wir appellieren an die Landesregierungen, diese
Basisvereinbarung, die wir jetzt treffen, zum Wohl der
Ehrenamtlichen zügig umzusetzen.
({3})
Ich werbe daher um Ihre Zustimmung zu dem unbürokratischen Gesetzentwurf, der sicherstellt, dass das ehrenamtliche Engagement wieder für mehr junge Freiwillige beim Technischen Hilfswerk, bei den nach
Landesrecht anerkannten Rettungsdiensten, den freiwilligen Feuerwehren sowie den Organisationen des Katastrophenschutzes interessant wird. Wer sich engagiert
gewinnt, vor allem mit den Gesetzentwürfen der christlich-liberalen Koalition und ihrer Bundesregierung.
({4})
In diesem Sinne freuen wir uns, dass wir für die Ehrenamtlichen einen weitreichenden Vorschlag beschließen, der schon lange diskutiert wird und den wir jetzt
endlich umsetzen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Anwesende! Als ich
eben von einer Besuchergruppe, die uns jetzt auf der Tribüne zuhört, gefragt wurde, worum es in der Debatte
geht, habe ich flapsig gesagt: um den Feuerwehrführerschein. Aber wir sollten einmal klarstellen, worum es
sich handelt. Es handelt sich nicht um eine neue Art der
Fahrerlaubnis, sondern um eine Ausnahmeregelung zum
bestehenden Führerscheinrecht.
Ich möchte kurz - der Staatssekretär hat damit begonnen - weiter auf die Historie eingehen. Vor etlichen Jahren wurde in Brüssel unter Beteiligung der damaligen
schwarz-gelben Bundesregierung ein neues Führerscheinrecht verhandelt. Der Grund waren Sicherheitsbedenken, dass mit steigendem Kraftfahrzeugverkehr die
jetzigen Fahrerlaubnisklassen nicht mehr die Realität abbildeten.
Das Resultat wurde eben erläutert. Unter anderem
kann man mit dem PKW-Führerschein Klasse B nur
noch Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse
führen.
Die Zustimmung zur Neuregelung auch durch die damalige Bundesregierung war gut und richtig. Die Folgen
hat auch der Herr Staatssekretär eben dargelegt.
Nach immerhin elf Jahren des neuen Rechtes gibt es
inzwischen immer weniger Ehrenamtliche mit den alten
Führerscheinklassen, die noch die Fahrzeuge bis
7,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse führen können. Das
ist problematisch, weil wir in der Bundesrepublik
Deutschland unseren Rettungsdienst zum Beispiel in der
Feuerwehr, im Technischen Hilfswerk, im DRK, in der
DLRG und in vielen anderen Organisationen hauptsächlich ehrenamtlich regeln. Die Leistungsfähigkeit war somit gefährdet.
Dazu kommt, dass die Feuerwehrfahrzeuge immer
schwerer und die regulären Fahrerlaubnisse immer teurer werden. Die Rettungsdienste waren also in einer sehr
schwierigen Situation.
Es war die Große Koalition, die darauf reagiert hat,
und zwar mit der fünften Änderung des StVG. Dadurch
wurden die Länder ermächtigt, Sonderfahrerlaubnisse zu
erteilen, um den Ehrenamtlichen im Rettungsdienst zu
erlauben, die Fahrzeuge zu führen.
Das Ergebnis war ein Kompromiss in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten: mit den Verbänden der Verkehrssicherheit, mit den betroffenen Rettungsorganisationen und der Politik. Der Inhalt lautete, dass bis
4,75 Tonnen eine organisationsinterne Einweisung ausreichte. Damit durften nur Einsatzfahrzeuge gefahren
werden. Laut Auskunft des BMVBS haben lediglich
Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und BadenWürttemberg von dieser Regelung Gebrauch gemacht.
Das sind lediglich vier von 16 Bundesländern, die diese
Möglichkeit hatten.
({0})
Die zweite Regelung bis 7,5 Tonnen sah eine vereinfachte Fahrausbildung und eine vereinfachte Prüfung
vor. Hierbei konnte aber eine Umschreibung zur privaten
Nutzung erst nach einer gewissen Zeit möglich gemacht
werden.
Diese zweite Regelung wurde aber niemals umgesetzt, weil das BMVBS die Ermächtigungsverordnung
für die Länder nie erlassen hatte. Wir wissen also gar
nicht, ob diese Regelung der Großen Koalition ausrei11024
chend gewesen wäre, um das Problem der Rettungsdienste zu beheben.
Trotzdem haben wir jetzt eine neue Regelung vor uns
liegen.
({1})
Die jetzige Regelung hat einen erheblichen Vorteil: Sie
ist nahezu kostenfrei. Die alte Regelung sah Kosten für
eine reduzierte Schulungs- und Prüfungsgebühr vor. Bei
der neuen Regelung führt, wenn es möglich ist, der Kollege bzw. die Kollegin die Schulung mit einem ganz normalen Einsatzfahrzeug durch, also ohne Möglichkeit für
den Schulenden, die Fahrt zu beeinflussen oder selbst
die Prüfung abzunehmen. Organisationsintern entstehen
nahezu keine Kosten.
Aber die Feuerwehrfahrzeuge werden immer schwerer, insbesondere die wasserführenden Fahrzeuge. Diese
Regelung schafft nur für gut die Hälfte aller Fahrzeuge,
nämlich etwa 13 000, Abhilfe. Auf bundesdeutschen
Straßen sind jedoch auch Feuerwehrfahrzeuge über
7,5 Tonnen in einer Größenordnung von 11 000 Fahrzeugen unterwegs. Auch über diese sollten wir reden.
Wir sollten in den Ausschussberatungen genau prüfen, ob die vorgelegten Regelungen zumutbar sind. Was
meine ich damit? Geprüft werden muss, ob sie zum einen für die Begünstigten zumutbar sind. Der Begünstigte
ist der Ehrenamtliche, der seine Freizeit opfert und nicht
selten auch seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Wir möchten ihn nicht in schwierige Situationen bringen. Was
meine ich damit? Ein junger Mensch mit zwei Jahren
Fahrerlaubniserfahrung und einer kurzen Einweisung
durch einen Kollegen fährt einen Lkw mit 7,5 Tonnen in
der Einsatzfahrt mit Sirene und Blaulicht unter starkem
nervlichem Druck, denn er stellt sich die Frage: Was erwartet mich am Einsatzort?
Was das bedeutet, weiß ich sehr genau, zumindest
was den Pkw angeht, weil ich in meiner Tätigkeit als Polizeibeamtin sehr viele Einsatzfahrten gemacht habe.
Obwohl ich daran gewöhnt war, weil ich es vier- bis
fünfmal in der Woche tun musste, war das schon sehr belastend. Wie erst wird es für die jungen Leute sein, die es
mit wesentlich weniger Schulung machen müssen?
({2})
Aus der Studie der BASt ergibt sich, dass bei Fahrten
mit Sonderrechten ein achtmal höheres Risiko besteht,
einen Unfall mit Schwerverletzten zu verursachen. Man
muss sich die Frage stellen: Kann es Probleme geben,
wenn einer der Unfallbeteiligten lediglich eine Sonderfahrerlaubnis hat und Zweifel an seiner Eignung zum
Führen dieses Fahrzeugs geltend gemacht werden?
Aber wir sollten auch prüfen, ob diese Regelungen
zumutbar für die Schulenden sind. Denn sie befinden
sich in einer Zwickmühle. Es sind Kollegen, es sind
Ausbilder, und es sind Prüfer. Als Kollegen wollen sie
niemanden verprellen oder in die Pfanne hauen. Als
Ausbildende wollen sie sichere Feuerwehrwagenführende ausbilden. Und als Prüfende stehen sie erheblich
unter Druck, weil sie wissen, dass ihre Wehr dringend
neue Fahrzeugführende benötigt.
Insofern möchte ich mit Ihnen die Frage diskutieren:
Ist die Regelung ausreichend, oder brauchen wir nicht
vielmehr bundesweit einheitliche Richtlinien über die
Ausgestaltung dieser Einweisungsfahrten? Und brauchen wir nicht unabhängige Prüfer und Prüferinnen, die
anschließend das Ergebnis dieser Einweisung begutachten müssen?
Ich bitte Sie, noch intensiver als der Staatssekretär auf
die Frage einzugehen, ob diese Regelung konform zum
EU-Recht ist. Ich erinnere Sie daran: Im August hat der
Bundesrat einen Entwurf im Bundestag eingebracht, der
wie der jetzige aussah. Das Ministerium hat ihn zurückgezogen, weil es europarechtliche Bedenken hatte, die
jetzt laut Auskunft des BMVBS ausgeräumt sind. Aber
das Ministerium hat mir auch mitgeteilt, dass sich andere
Häuser, zum Beispiel das BMJ, noch nicht geäußert haben.
Weiterhin stellt sich die Frage: Warum kam es zur
Änderung der Rechtsauffassung? Haben wir eventuell
die Kommission gefragt,
({3})
oder verabschieden wir wieder eine Regelung, die gut
gemeint ist, die aber dann wieder von der Kommission
als europarechtswidrig gestoppt wird?
Meine Herren und Damen, Sie sehen: Es gibt eine
Menge Diskussionsstoff. Ich freue mich auf die Beratungen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Oliver Luksic von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute über die Entwürfe der Bundesregierung
und des Bundesrates zur Schaffung des sogenannten
Feuerwehrführerscheins. Beide Entwürfe stimmen in ihren grundlegenden Zielen überein. Wir wollen die Möglichkeit schaffen, dass in Zukunft bei der freiwilligen
Feuerwehr, bei Rettungsdiensten, beim THW und bei
sonstigen Katastrophenschutzeinheiten engagierte Ehrenamtliche für ihre dortige Arbeit einen Führerschein
für Fahrzeuge bis 4,75 Tonnen bzw. 7,5 Tonnen machen
können. Die Koalition setzt damit einen weiteren Punkt
aus der Koalitionsvereinbarung im Verkehrsbereich um.
({0})
Wir tun dies, um die Einsatzfähigkeit der freiwilligen
Feuerwehren und anderer Dienste dauerhaft aufrechterhalten zu können; denn seit 1999 dürfen mit den neu erOliver Luksic
worbenen Pkw-Führerscheinen nur Fahrzeuge bis
3,5 Tonnen gefahren werden. Allerdings übertreffen in
der Praxis selbst die kleineren Einsatzfahrzeuge leicht
diese Grenze. Das liegt neben der verstärkten Ausstattung mit Fahrerassistenzsystemen auch an der Ausrüstung, die zu Einsätzen mitgenommen werden muss.
Nach Angaben des Deutschen Feuerwehrverbandes benötigen aber bundesweit über 16 000 Fahrzeuge fünf
oder mehr mögliche Fahrer, um ständig einsatzfähig zu
sein, also um rund um die Uhr Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger gewährleisten zu können.
Es musste also eine Lösung gefunden werden, wie wir
den Freiwilligendienst in den verschiedenen Rettungsund Katastrophenschutzorganisationen zukunftsfest machen. Das tun wir mit diesem Gesetz. Spätestens wenn
die jetzt noch aktiven Jahrgänge, die im Besitz einer
Fahrerlaubnis für die Einsatzfahrzeuge über 3,5 Tonnen
sind, aus dem Dienst ausscheiden, brauchen wir weiterhin gut ausgebildete Nachwuchskräfte, die die Einsatzfahrzeuge führen können. Daher sehen sowohl der Entwurf der Bundesregierung als auch der des Bundesrates
eine Lösung vor, nach der sowohl organisationsintern
eingewiesen als auch geprüft wird. Das spart Kosten, das
baut Bürokratie ab, und das ist genau das, was wir als
christlich-liberale Koalition wollen.
({1})
Wir haben immer wieder gehört, dass durch diese
Vorgehensweise die Verkehrssicherheit gefährdet werde,
doch ich meine, es sind verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger, die den Dienst in den Feuerwehren versehen. Außerdem stehen in beiden Gesetzentwürfen
klare Anforderungen an diejenigen, die einweisen und
prüfen dürfen. Es ist also nicht so, dass in Zukunft
schlecht ausgebildete Einsatzfahrer auf den Fahrzeugen
sitzen. Vor allem ist uns wichtig, dass dieses Vorgehen
den klammen Kommunen Geld spart, die sonst in der
Praxis häufig Nachschulungen oder Fortbildungen zum
Erwerb von Führerscheinen gerade bei der freiwilligen
Feuerwehr bezuschussen oder ganz übernehmen. Ich
kenne das aus meiner Tätigkeit im Rat meiner Heimatgemeinde. Wir gewährleisten mit dem sogenannten Feuerwehrführerschein dauerhaft die Sicherheit der Bevölkerung bei Bränden und Unfällen, und wir entlasten die
Kommunen. Das ist gerade für unsere Koalition ein
wichtiger Ansatz.
({2})
Ich möchte den Blick noch auf einen weiteren Aspekt,
der eben genannt wurde und uns allen sehr wichtig ist,
lenken, nämlich die Stärkung des Ehrenamtes. Es muss
uns gelingen, dass in Zukunft weiterhin junge Leute sagen: Ja, ich möchte mich für die Gesellschaft engagieren
und ein Ehrenamt übernehmen. Das muss das Ziel aller
Parteien hier im Hause sein. Hierfür müssen wir Anreize
schaffen. Ich glaube, der Feuerwehrführerschein ist ein
solcher Anreiz. Gerade in kleineren Gemeinden spielen
Organisationen wie die Feuerwehr oder das THW für
das Leben im Dorf und den Zusammenhalt in der Gemeinde, auch zwischen den Generationen, eine wichtige
Rolle. Wir müssen gerade in diesem Zusammenhang an
die Aussetzung der Wehrpflicht denken. Es ist gut, dass
wir sie ausgesetzt haben. Das ist ein Erfolg der Regierung. Aber durch deren Aussetzung fällt eine Rekrutierungsquelle zum Beispiel für das THW weg, nämlich die
Verpflichtung zu einem langjährigen Ersatzdienst.
Ich glaube, auch unter diesem Aspekt sollten wir die
Einführung des Feuerwehrführerscheins vorantreiben,
damit das Ehrenamt gestärkt wird.
({3})
Lassen Sie mich zum Abschluss kurz auf die Diskussion eingehen, die auch im Bundesrat geführt wurde. Der
federführende Verkehrsausschuss hat eine bundeseinheitliche Lösung gefordert, auch wenn im Gesetzentwurf
des Bundesrates weiterhin die Länderlösung vorgesehen
ist. Zwar kann man über eine bundeseinheitliche Lösung
diskutieren, aber es ist sinnvoll, eine Länderlösung anzustreben. Eine solche Lösung stärkt die Länderhoheit und
ermöglicht passgenaue Lösungen für jedes Bundesland.
Allerdings werden die Länder nicht davon abgehalten,
sich eng abzusprechen, damit es zu keiner völligen Zersplitterung der Rechtslage kommt. Ich hoffe, bei diesem
Thema finden wir einen breiten Konsens zwischen den
Fraktionen. Es geht um die Sicherung der Einsatzfähigkeit unserer Rettungsorganisationen und um die Stärkung des Ehrenamtes.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der großen Einigkeit über dieses Thema
gestatten Sie mir, dass ich mich kurzfasse. Es macht
nämlich wenig Sinn, hier sämtliche Details meiner Vorrednerinnen und Vorredner zu wiederholen.
({0})
- Es ist etwas ungewohnt, als Oppositionspolitiker aus
dieser Richtung Applaus zu bekommen. - Das meiste,
was gesagt wurde, war sachgemäß und richtig.
Im Gegensatz zu meiner Kollegin von der SPD sehe
ich keinen sonderlich großen Diskussionsbedarf. Es gibt
einzelne Punkte wie die EU-Konformität und die einheitlichen Prüfrichtlinien, über die in der Tat diskutiert
werden muss; aber das sind Details. Ich denke, die damit
verbundenen Probleme wird man im Verkehrsausschuss
in absehbarer Zeit einvernehmlich lösen können.
Es ist zu Recht gesagt worden: Die freiwilligen Feuerwehren hatten bei der Vereinheitlichung der Umsetzung des europäischen Rechts das Nachsehen. Ehrenamtlich engagierte junge Menschen mit der alten Führerscheinklasse 3 gibt es immer weniger. Ich selber - man
merkt an meinem Dialekt, dass ich in der DDR aufge11026
wachsen bin - hatte einen Führerschein für Fahrzeuge
bis 2,8 Tonnen. Mit dem Tag der Deutschen Einheit war
ich berechtigt, Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen zu steuern,
ohne jemals auf einem solchen Lkw gesessen zu haben.
Es gab auch keine Fahrprüfung. Das war halt so. Das
war für mich eine sehr positive Erfahrung. Diese Regelung ist, wie gesagt, korrigiert worden.
Das Problem für die Betroffenen ist allerdings gleichzeitig banal und fatal: Wer als junger Mensch nicht gerade eine Betätigung als Kraftfahrerin oder Kraftfahrer
in der Transportbranche anstrebt, der wird die Kosten
und die Mühen einer zusätzlichen offiziellen Führerscheinausbildung sicherlich nicht in Kauf nehmen. Eine
Lösung, die den Angehörigen der freiwilligen Feuerwehren und weiterer Dienste das Führen von Fahrzeugen
bis 4,75 Tonnen ermöglicht, erweist sich offensichtlich
als nicht ausreichend - darauf haben auch die Vorredner
hingewiesen -, weil viele Einsatzfahrzeuge einfach aufgrund der Entwicklung die Gewichtsgrenzen überschreiten. Die Fahrzeuge, die angeschafft werden, werden in
der Tendenz immer schwerer. Als Lösung bietet sich einzig und allein die Anhebung der Gewichtsgrenze im
Rahmen des sogenannten Feuerwehrführerscheins auf
7,5 Tonnen an. Dazu gibt es gar keine Alternative.
Kritisiert wurde die Möglichkeit der organisationsinternen Ausbildung und Prüfung. Natürlich wäre der optimale Weg eine ordentliche Ausbildung durch professionelle Fahrlehrer. Wir reden allerdings hier im Parlament
über eine Notlösung. Eine professionelle Ausbildung,
wie sie sicherlich wünschenswert wäre, ist für die meisten Organisationen und auch für die betroffenen ehrenamtlichen Helfer im Prinzip schlichtweg nicht finanzierbar.
Zur Wahrheit gehört auch: Den Inhabern des alten
Führerscheins Klasse 3 wurde die Lkw-Fahrberechtigung
erteilt, ohne dass die Auszubildenden jemals eine Ausbildung für einen 7,5-Tonner hatten.
({1})
Eine organisationsinterne Ausbildung und Prüfung ist im
Prinzip eine Verbesserung des Standards, der bis 1999
gegolten hat.
Gestatten Sie mir eine letzte Anmerkung, weil das
vielleicht an diesem Punkt ein bisschen zur Gretchenfrage wird. Im Gegensatz zum Kollegen Luksic würde
ich empfehlen, eine bundesweit einheitliche Regelung
anzustreben und dies nicht in die Länderhoheit zu geben.
Ich kann nicht erkennen, wie sich eine freiwillige Feuerwehr in einem Ort in Thüringen unterscheidet von einer
freiwilligen Feuerwehr in einem Ort im Saarland. Das
funktioniert alles nach demselben Prinzip. Deshalb sehe
ich keinen Grund, ländereinheitliche Regelungen zu machen. Lassen Sie uns das bundesweit einheitlich regeln.
Die freiwilligen Feuerwehren, das Technische Hilfswerk
und die ganzen Organisationen arbeiten alle nach demselben Prinzip. Die Notwendigkeit für eine länderspezifische Hoheit kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Es ist keine Frage: Feuerwehren, Technisches Hilfswerk, DLRG und Katastrophenschützer bilden eine wichtige Grundlage für die Sicherheit in unserem Land. Sie kommen dorthin, wo
andere weglaufen. Das sollte uns auch einen Applaus
des Hauses wert sein.
({0})
Diese Helfer sind auch immer wieder Botschafter unseres Landes. Sie helfen, wenn andere Länder in Not geraten sind. Diese Tage werden völlig überschattet von
der Katastrophe in Japan. Auch hier sind unsere Helfer
vor Ort. Diese Helfer können in kürzester Zeit Menschen
retten, versorgen und erste Schritte zur Normalität gehen. Mit einer guten Infrastruktur in der Not- und Katastrophenhilfe tragen wir ganz entscheidend zur Erhaltung und Sicherung unseres Wohlstandes bei.
({1})
Voraussetzung für einen guten Katastrophenschutz
sind viele freiwillige Helfer, die gut ausgestattet und gut
ausgebildet sind. Gleichzeitig wissen wir, dass besonders die freiwilligen Feuerwehren auch eine wichtige soziale Aufgabe wahrnehmen. Viele junge Menschen haben hier eine Möglichkeit, sich zu engagieren und sich
zu bilden. Nicht wenige finden als Helferinnen und Helfer ihren Sinn des Lebens. Das müssen wir unterstützen.
({2})
Deswegen müssen wir eine Lösung finden, wie wieder mehr Menschen die Einsatzfahrzeuge fahren dürfen.
Meine Vorredner und Vorrednerinnen haben relativ deutlich aufgezeigt, worin die Schwierigkeiten liegen. Auf
diese möchte ich deshalb nicht eingehen. Pragmatische
Lösungen begrüßen wir an dieser Stelle, wenn sie nicht
zulasten der Sicherheit gehen.
Für mich gibt es beim vorliegenden Entwurf durchaus
Fragen, die wir nicht so einfach vom Tisch fegen können. So ist zum Beispiel das Unfallrisiko bei Einsatzfahrten unter Blaulicht achtmal so hoch wie bei normalen Fahrten. Dazu werden Katastrophenschützer oft
Extremsituationen ausgesetzt, auf die sie gut vorbereitet
werden müssen. Auch die oft hohen Fahrgeschwindigkeiten und die Anforderungen an die Reaktionsfähigkeit
benötigen eigentlich eher eine bessere Ausbildung, als
dass darauf verzichtet werden kann.
Im Ernstfall sind manche sonst überfordert und verschlimmern die Probleme, statt schnell und gezielt zu
helfen. Als Helfer braucht man deswegen eine gründliDr. Valerie Wilms
che theoretische und praktische Ausbildung und sollte
psychologisch geschult werden. Ich habe hierbei Vertrauen in die Fähigkeiten der Feuerwehren, diese Ausbildung selbst zu übernehmen. Wir sollten aber darauf achten, dass wir nicht nur handeln, weil es eine kostengünstige Lösung ist. Wir wollen kein Dumping zulasten
der Sicherheit.
Als Grüne sehen wir daher Diskussionsbedarf und
wollen hierzu gern im zuständigen Fachausschuss beraten. Wir erkennen klar den Bedarf für eine Lösung. Da
müssen wir ran. Wir müssen dies aber in aller Ruhe tun
und die Ansätze abwägen. Ich hoffe dabei auf die Bereitschaft der Koalitionsfraktionen. Ich gehe davon aus, dass
wir daraus gelernt haben und durchgepeitschte Gesetze
nicht mehr der Stand der Dinge sind.
Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt einen Ansatz,
den wir in den Ausschüssen beraten werden. Wir Grüne
arbeiten hieran gern konstruktiv mit. Dabei sollten wir
ernsthaft die Frage diskutieren, ob wir eine bundeseinheitliche Richtlinie brauchen oder ob wir das den Ländern überlassen sollten. Lassen Sie uns gemeinsam an
einer guten Lösung für unsere Ehrenamtler vor Ort arbeiten.
Vielen Dank.
({3})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Gero Storjohann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles ist hier
gesagt worden. Die älteren Kollegen erinnern sich noch
an die Anfangsdebatten zum Feuerwehrführerschein.
({0})
Wir sind jetzt dabei, ein gutes Gesetz auf den Weg zu
bringen. Ein schlanker und unbürokratischer Feuerwehrführerschein wäre längst möglich gewesen, scheiterte
aber an der ehemals sozialdemokratischen Hausführung
im Bundesverkehrsministerium.
({1})
Die christlich-liberale Koalition unterstützt - das
kann nicht oft genug gesagt werden - mit dem neuen
Feuerwehrführerschein die vielen Tausend Bürgerinnen
und Bürger, die sich bei den technischen Hilfswerken,
beim Katastrophenschutz oder bei unseren Feuerwehren
ehrenamtlich für unsere Gesellschaft engagieren. Sie tragen mit ihrer Arbeit zu unser aller Sicherheit bei. Gerade
im ländlichen Raum sind die Feuerwehren und die Rettungsdienste ein wichtiger und fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens.
({2})
Unsere Aufgabe - so sehe ich es - ist, diese Arbeit zu
unterstützen.
({3})
Ein besonderer Dank ist in diesem Zusammenhang
dem Bundestagskollegen und jetzigen Staatssekretär
Andreas Scheuer auszusprechen, der in unseren Arbeitsgruppen immer wieder deutlich gemacht hat, dass wir
hier eine bessere Lösung benötigen, als bisher vereinbart.
({4})
Laut einer Schätzung wären 16 000 Einsatzfahrzeuge
in der Gewichtsklasse 3,5 bis 7,5 Tonnen von der Neuregelung betroffen. Das bedeutet, dass rund 100 000 ehrenamtliche Einsatzkräfte davon profitieren würden. Für
jedes Fahrzeug müssen in der Regel fünf Personen mit
Fahrerlaubnis zur Verfügung stehen, damit es im Falle
des Falles einsatzfähig ist. Nichts wäre schlimmer, als
wenn ein Einsatz anstünde und niemand das Fahrzeug
bewegen könnte. Selbstverständlich kann man sich auf
die Straße stellen, einen Lkw anhalten und den Fahrer
innerhalb kürzester Zeit dienstverpflichten. Aber darauf
möchte man sich nicht unbedingt verlassen.
Ich halte es für sachgerecht, die Kompetenz, den Feuerwehrführerschein durch Rechtsverordnungen spezifisch auszugestalten, bei den Ländern zu belassen. Das
wurde hier schon kritisch diskutiert. Der Feuerwehrführerschein sollte in diesem Fall aber in allen Bundesländern anerkennungsfähig sein. Denn Feuerwehrleute
müssen ja durchaus beruflich flexibel sein und möchten,
wenn sie sich zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bewegen, nicht jedes Mal mit einer anderen Rechtsverordnung konfrontiert werden.
({5})
Wir halten es sehr wohl für sinnvoll, dass die Bundesländer hier eigenverantwortlich tätig sind. Denn die Fahrzeuge in Bayern zeichnen sich durch eine andere Funktionsfähigkeit aus als die in Schleswig-Holstein. Die einen
haben Flüsse zu sichern, die anderen Deiche.
Die SPD ist die einzige Fraktion, die Zweifel bezüglich der Verkehrssicherheit bei Einsatzfahrten angebracht hat. Ich glaube nicht, dass es spezielle Untersuchungen in Bezug auf Feuerwehreinsatzfahrten gibt; die
Untersuchungen beziehen sich allgemein auf Blaulichtfahrten. Hier geht es in erster Linie um Personen, die in
diesem Bereich hauptberuflich tätig sind. Schon heute
gibt es Unfallgeschehen bei Einsatzfahrzeugen im Bereich Polizei und Feuerwehr; das ist nicht zu bestreiten.
Deswegen brauchen wir eine Topausbildung.
({6})
Diese erfolgt bei den Feuerwehren auch. Der Führerschein allein sichert nicht die Befähigung, das Fahrzeug
im Einsatz unter Stress sicher zu lenken.
({7})
Aber wir sprechen hier in erster Linie von Fahrzeugen
im ländlichen Bereich. Die Verkehrssituation dort ist
nicht vergleichbar mit der in Hamburg, München oder
Köln. Im ländlichen Bereich kann man solche Einsätze
üben. Wenn die jungen Leute Fahrzeugführer werden
wollen, können sie dort entsprechend vorbereitet werden.
({8})
Die feuerwehrtechnische Ausbildung halten wir sehr
wohl für sinnvoll. Wir haben auch keinen Zweifel daran,
dass die Feuerwehr die bestmögliche Ausbildung garantieren wird. So habe ich jedenfalls meine Feuerwehr
kennengelernt. Sie ist korrekt und achtet darauf, dass alles gut abgewickelt wird.
({9})
Meine Damen und Herren, auch ich weiß, dass dieser
Feuerwehrführerschein von den Kommunalpolitikern,
hauptsächlich Bürgermeistern, aber auch von den Feuerwehrkameraden förmlich herbeigesehnt wird. Deswegen
ist hiermit eine gründliche Beratung, aber auch eine
schnelle Umsetzung versprochen. Trotzdem wird das
Gesetz nicht durchgepaukt; denn wir haben schon eine
lang andauernde Diskussion geführt und sollten jetzt zu
einer Entscheidung kommen.
({10})
Die Kommunen werden es uns danken. Da ich schon
jetzt Wahlkreisabgeordnete der SPD erlebe, die die Segnungen des neuen Feuerwehrführerscheins als eigene
Idee verkaufen, möchte ich die Prognose wagen, dass
wir hier im Parlament zu einer breiten Mehrheit kommen. Es hilft auch den Teams der Feuerwehrkameraden,
wenn sie wissen: Sie bekommen unsere breite Unterstützung. Die Punkte, die angesprochen wurden, werden wir
noch würdigen müssen. Glück auf in den Ausschussberatungen!
({11})
Wir sollten es kurzfristig schaffen, ein gutes Gesetz auf
den Weg zu bringen.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/4981 und 17/2766 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Klaus Barthel,
Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit
Seltenen Erden offenhalten
- Drucksachen 17/4553, 17/4910 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Breil
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaus Breil von der FDP-Fraktion das
Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir - damit meine ich die christlich-liberale Koalition und unsere Bundesregierung - wissen: Die stark gestiegene Nachfrage nach Seltenen Erden hat in den
vergangenen Monaten zu einem raschen Preisanstieg geführt. Wir wissen auch, dass das protektionistische Verhalten der Volksrepublik China der deutschen Industrie
Sorgen bereitet. China ist derzeit der einzige Exporteur
Seltener Erden. Deshalb fürchtet die Industrie um ihre
Versorgung mit diesen wichtigen Rohstoffen.
Es ist offensichtlich, dass hier die Politik zusammen
mit der Wirtschaft reagieren muss.
({0})
Aber mit Verlaub: Bundeswirtschaftsminister Rainer
Brüderle hat im Oktober letzten Jahres seine Rohstoffstrategie veröffentlicht und entsprechende Rohstoffdialoge initiiert. Der Antrag der SPD läuft diesen Initiativen hinterher.
({1})
Rohstoffversorgung ist die Zukunftsaufgabe. Das ergibt sich schon alleine aus folgendem Zusammenhang:
Wachsende Weltbevölkerung bedeutet wachsender Energie- und Rohstoffbedarf. Dabei sind noch unter keiner
Bundesregierung, schon gar nicht unter Rot-Grün, so
viele Initiativen zur Rohstoffversorgung gestartet worden wie unter Rainer Brüderle. Zusätzlich zu den Aktivitäten der auch im weltweiten Vergleich hochkompetenten Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
in Hannover hat der Bundeswirtschaftsminister vieles
auf den Weg gebracht: Rohstoffdialoge, Rohstoffstrategie, Rohstoffagentur, eine eigene Unterabteilung „Rohstoffpolitik“ im Ministerium und bilaterale RohstoffpartKlaus Breil
nerschaften. Das sind unsere Antworten auf die
drängenden Fragen der Rohstoffversorgung.
Bei den Rohstoffpartnerschaften möchte ich zudem
auf die hervorragende Arbeit eines weiteren liberalen
Bundesministers hinweisen: Dirk Niebel hat in seinem
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung auf die Fehler der Vergangenheit reagiert.
({2})
Höhere Investitionen in Entwicklungsländer sollen zuallererst privatwirtschaftlich angestoßen werden. Nur
dadurch werden die Strukturen vor Ort stabilisiert. Voraussetzung dafür ist aber Transparenz. Sie verhindert illegale Aktivitäten. Wirtschaftswachstum aus der eigenen
Mitte ist der Schlüssel, um Armut sukzessive abzubauen.
Investitionen vor Ort, besonders in den vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsketten, schaffen Arbeitsplätze. Sie führen zu Folgeinvestitionen und damit zu
Weiterentwicklungen. Rohstoffpartnerschaften werden
so zu Win-win-Situationen.
Wir fordern von den Partnerregierungen aber die Einhaltung von Menschenrechten, gutes und transparentes
Regierungshandeln und die Bekämpfung von Korruption. Wir müssen vor allem ganz besonders darauf achten, dass Umwelt- und Sozialstandards angemessen
hohen Maßstäben genügen; sonst darf es keine Unterstützung geben.
Die Bundesregierung hat jedenfalls ihre Hausaufgaben gemacht. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD, dürfen das natürlich gerne durch nachlaufende Anträge bestätigen.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie kurz auf
den aktuellsten Stand bringen. Die Bundesregierung ist
derzeit in Gesprächen über bilaterale Rohstoffpartnerschaften. Ein Beispiel dafür ist Mongolia. Dort liegt neben der weltweit wichtigsten neu entwickelten Kupfermine Oyu Tolgoi die Bayan-Obo-Mine mit einem der
attraktivsten Vorkommen Seltener Erden. Dies alles
zeigt: Die Bundesregierung bedarf ihrer Fingerzeige
nicht, auch dann nicht, wenn es um die Erleichterung des
Handels mit Seltenen Erden geht.
Noch in diesem Jahr beginnen zwei weitere Minen
außerhalb Chinas mit der Förderung Seltener Erden. Es
bleibt abzuwarten, wie sich dies auf Verfügbarkeit und
Preise auswirken wird.
So birgt die gegenwärtige Situation sicher auch Chancen für andere Länder, ihre Vorkommen umweltverträglicher zu explorieren. Gleichwohl: Die Situation der letzten Monate ist für uns und ganz besonders für die
deutsche Wirtschaft ein deutlicher Weckruf. Es war ein
Fehler der Industrieunternehmen, das erste Glied in der
Wertschöpfungskette der Rohstoffwirtschaft ohne Not
aufzugeben. Für eine Rückwärtsintegration ist es heute
zu spät. Die Kosten dafür wären schlicht zu hoch. Also
werden wir uns dafür einsetzen, einseitige Abhängigkeiten und Handelsbarrieren abzubauen. Im Übrigen müssen wir dafür sorgen, dass Sanktionen vonseiten der
WTO auch greifen.
Dafür stehen wir Liberale, dafür stehen unsere Bundesminister Rainer Brüderle und Dirk Niebel, und dafür
steht die ganze Bundesregierung.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Ende unserer Beratungen über unseren Antrag zu fairem
Rohstoffhandel in Plenum und Ausschüssen ist zweierlei
deutlich: Erstens, Herr Breil, müsste die Koalition eigentlich froh sein, dass wir die Debatte über die künftige
Rohstoffversorgung in Deutschland und über die weltweite Rohstoffpolitik einmal von den Homepages des
Wirtschaftsministeriums und der Institute in den Deutschen Bundestag geholt haben und unabhängig von den
schubweisen Panikattacken auf den Börsenparketten behandeln. Zweitens müsste die Koalition, wenn sie ihre
Redner und ihre Reden ernst nimmt, unserem Antrag eigentlich zustimmen. Argumente dagegen haben wir bis
heute nicht gehört. Wir haben bemerkt, dass viele in der
Koalition insgeheim froh sind, dass wir dem Bundeswirtschaftsminister endlich einmal Dampf machen, damit er es nicht länger bei flotten Sprüchen und der Verkündung irgendwelcher Strategien belässt.
In der Kürze folgende Anmerkungen: Die Engpässe
und die Preisexplosion bei den Seltenen Erden sind nur
die Spitze des Eisbergs. Mit Recht stellt eine aktuelle
Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik fest - ich
zitiere -:
Die Allokation von Ressourcen gilt als eines der
größten Sicherheitsrisiken des 21. Jahrhunderts.
Wenn erst einmal die Produktion wichtiger Güter, wie
zum Beispiel elektronischer Geräte, wegen Rohstoffengpässen eingeschränkt werden müsste, dann stiege der
Druck allenthalben sehr schnell. Wenn es erst einmal eng
geworden ist, dann kann sich der Druck auch in Richtung Panikreaktionen und falscher Risikobereitschaft
auswachsen.
Auf nationaler Ebene können wir das Rohstoffproblem nicht lösen, aber wir können einen Beitrag zur Lösung leisten. Der Ruf nach der Wirtschaft und den freien
Weltmärkten reicht nicht, weil das Drama der rohstoffreichen Länder unter dem Regime freier Märkte gerade
darin besteht, dass die Menschen dort - mit wenigen
Ausnahmen - nichts von dem Rohstoffreichtum haben
und dass es gerade die Rohstofflieferländer sind, die
weit überdurchschnittlich am Mangel an Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand leiden. Der Verdacht liegt nahe, dass der Rohstoffreichtum und diese Mängel etwas miteinander zu tun ha11030
ben und dass die Gefahr groß ist, dass genau dies zu
Instabilität und zu Verwerfungen führt, wie wir das gerade in Nordafrika erleben. Hat nicht gerade jener freie
Markt zu den Fehlentwicklungen geführt, die wir heute
beklagen, nämlich dass wir die Erkenntnisse über die
Knappheiten übersehen haben, dass es Monopole und
Oligopole bei der Gewinnung und dem Handel mit Rohstoffen gibt, dass es Spekulationen gibt?
Wenn wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen heute vom ungehinderten Zugang zu sicherer Rohstoffversorgung für die Industrie sprechen, dann meinen
wir damit bestimmte Bedingungen: weltweit geltende
faire Regeln, möglichst weitgehende Ausschaltung von
Spekulation und die Vermeidung von einseitigen politischen Eingriffen, von welcher Seite auch immer.
({0})
Drittens. Eine dieser Regeln ist die Transparenz über
Vorkommen, Handelsströme und Verbrauch, über Finanzströme und Verteilung der Erträge. Dies finge bei
uns damit an, dass die Erkenntnisse unserer steuerfinanzierten Deutschen Rohstoffagentur und der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, allgemein zugänglich sind und nicht nur ausgewählten bzw.
unmittelbar interessierten Kreisen. Die Forderung nach
offenen Märkten und Transparenz verträgt sich nicht mit
der Geheimnistuerei, der wir dort teilweise begegnen.
Zur internationalen Transparenzinitiative, EITI, wird
Kollege Raabe noch einiges sagen. Nur so viel: Verbal
unterstützt die Koalition diese Transparenz. Aber wer
genau zuhört, erkennt, dass Schwarz-Gelb mit Transparenz immer nur die anderen meint. Wie sonst wäre es erklärbar, dass es ausgerechnet die Bundesregierung ist,
die auf europäischer Ebene bisher auf der Bremse steht,
wenn es um die volle Unterstützung von EITI durch die
EU geht,
({1})
wenn es um die Schaffung wirksamer Regeln zur Korruptionsbekämpfung in der EU geht? Selbst in den USA
gibt es mit dem Dodd-Frank-Act solche Regeln schon
seit über einem Jahr. Heute, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, wäre die Chance für ein klares
Wort in dieser Frage, zur Haltung der Bundesregierung
zu diesen Initiativen und zu Wahrheit und Klarheit bei
der Haltung in der Europäische Union.
Viertens wären noch Energieeffizienz und Recycling
zu erwähnen. Ein Blick auf die Reden in der ersten Beratung über diesen Antrag ergibt: Da sind spannende Sachen über erneuerbare Energien und über Erneuerbarkeit
insgesamt gesagt worden, nämlich dass das alles wahnsinnig teuer sei. Dann wurde wieder auf die billige
Atomenergie angespielt. Lesen Sie es noch einmal nach
und korrigieren Sie es bitte! Das wäre sehr hilfreich.
({2})
Zum Schluss darf ich noch einmal die SWP zitieren.
Ihrer Meinung nach bedarf es „eines integrierten Ansatzes für eine Rohstoffstrategie, die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, Umwelt- und Technologiepolitik miteinander verbindet, also
ressortübergreifend wirkt“.
Ich finde, wir sollten endlich anfangen, daran zu arbeiten.
({3})
Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man täglich die Zeitungen aufschlägt und in
die Wirtschaftsteile blickt, stellt man fest: Rohstoffe sind
das Megathema an allen Fronten.
({0})
Dabei geht es nicht nur um Seltene Erden, sondern um
Rohstoffe insgesamt. Wenn man sich die Rangfolge der
zehn wertvollsten Unternehmen der Welt genau anschaut, stellt man fest, dass in diesem Jahr von den
Top 10 immerhin fünf Unternehmen mit der Förderung,
der Verarbeitung und dem Verkauf von Bodenschätzen
befasst sind. 2006 war es nur ein Unternehmen in den
Top 10. Daran kann man also sehen: Rohstoffe sind zum
einen ein wichtiges Thema und zum anderen ein guter
Stoff, Geschäfte zu machen.
Herr Barthel, damit wir uns nicht falsch verstehen:
Der von Ihrer Fraktion gestellte Antrag, den Sie verteidigt haben, ist im Grunde nicht falsch, sondern veraltet.
Die Dinge, die Sie fordern - ich komme gleich darauf -,
sind nämlich zum großen Teil schon in Arbeit bzw. sind
schon erledigt. Es ist interessant, dass die rot-grüne Regierung damals nicht in der Lage war, eine Rohstoffstrategie zu entwickeln. Erst die christlich-liberale Koalition
hat das Thema angepackt. Sie hat im Dialog mit Politik,
Wirtschaft und allen beteiligten Partnern eine Rohstoffstrategie auf den Weg gebracht, über die wir heute
diskutieren können.
({1})
Meine Damen und Herren, die Rohstoffstrategie der
Bundesregierung ist ein ganzheitlicher Ansatz für die
Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft. Sie geht
beispielsweise in die aktuelle Technologieoffensive oder
in die aktuelle Mittelstandsoffensive des Bundeswirtschaftsministeriums ein. Ebenso sind organisatorische
Maßnahmen im Bundeswirtschaftsministerium getroffen
worden. Es wurde eine Unterabteilung „Rohstoffpolitik“
eingerichtet. Herr Barthel, so etwas hat es unter RotGrün nie gegeben.
Sie haben korrekt angemerkt, dass die Sicherung der
Rohstoffbasis „zuallererst Aufgabe der Unternehmen“
ist; darin stimmen wir überein. Dazu muss man sagen:
Die Politik kann nur flankierend wirken, also nur unterstützende Maßnahmen ergreifen.
Ich komme zu drei Punkten aus Ihrem Antrag. Erstens. Sie fordern Rohstoffpartnerschaften und Rohstoffabkommen sowie einen „offenen und fairen Zugang im
Rohstoffhandel“. Es wird schon seit einiger Zeit über
Rohstoffpartnerschaften verhandelt. Dafür brauchen wir
nicht Ihren Anstoß. Bevor man wirklich über Rohstoffpartnerschaften verhandeln kann, muss die Wirtschaft
ihre Bedarfe formulieren; sie muss sich darüber klar
sein, über welche Rohstoffe, über welche Mengen verhandelt werden soll. Herr Barthel, die erste Rohstoffpartnerschaft steht kurz vor ihrem Abschluss bzw. ist schon
sehr weit ausverhandelt. Dann werden wir doch einmal
sehen, ob Sie diese Partnerschaft wirklich unterstützen.
Sie machen einen bemerkenswerten Schwenk. Sie
verknüpfen in Ihrem Antrag erstmalig die Außenpolitik
und die Entwicklungszusammenarbeit mit der Rohstoffpolitik. Eine solche Verknüpfung haben Sie bisher immer geleugnet. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie die SPD-Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit hier im Plenum stand und jeglichen Zusammenhang geleugnet hat. Wir danken Ihnen für diesen
Schwenk; denn er macht die Arbeit in Zukunft möglicherweise leichter.
Sie wissen, dass hinsichtlich des freien Zugangs zu
Rohstoffmärkten ein Verfahren der WTO gegen China
läuft. Auch hier ist die Bundesrepublik Deutschland, die
Bundesregierung aktiv geworden.
Zweitens. Sie fordern die Nutzung heimischer Lagerstätten; das ist ein ganz spannendes Thema. Ich halte das
für einen guten Vorschlag. Er wird übrigens umgesetzt.
Vielen Dank, dass Sie mit Ihrem Antrag den Abbau von
Rohstoffen in Sachsen unterstützen. Wir werden uns das
gut merken. Jeder Abbau von Rohstoffen ist ein Eingriff
in die Natur. Wir sind sehr gespannt, zu sehen, ob Sie die
Abbauaktivitäten vor Ort unterstützen oder ob die SPD,
die Grünen oder die Linken vielleicht in vorderster Front
stehen, wenn es darum geht, den Abbau von Rohstoffen
sowie neue Aufschlüsse zu verhindern. Dann zeigt sich
möglicherweise ein Gegensatz zwischen der Politik, die
Sie draußen machen, und dem, was Sie hier am Pult erzählen.
({2})
Wir haben in Deutschland ein großes Problem. Große
Teile des Landes sind in Flora-Fauna-Habitat-Schutzgebiete eingeteilt. Wir werden darüber diskutieren müssen,
ob Sie uns unterstützen, wenn es darum geht, möglicherweise auch in Natura-2000-Gebieten Rohstoffabbau zu
betreiben und dort Rohstoffvorkommen zu erschließen.
({3})
Drittens. Sie thematisieren das Recycling. Recycling
ist wichtig und richtig. Herr Barthel, hier hoffen wir auf
Ihre Unterstützung, wenn es im Deutschen Bundestag
zur Lesung der Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes
kommt. Dann werden wir sehen, wie viel Ihre Unterstützung wert ist.
Ich komme zu einer Maßnahme, die Sie nicht gefordert haben - die Bundesregierung hat sie unabhängig
von Ihnen ergriffen -, der Einrichtung der Deutschen
Rohstoffagentur. Die Deutsche Rohstoffagentur wird der
deutschen Wirtschaft die Daten liefern, die notwendig
sind, um zu sehen, welche Rohstoffe in welcher Menge
auf der Welt vorhanden sind, wo abgebaut werden kann,
wo man sich an welchen Neuaufschlüssen beteiligen
kann. Gerade bei den Seltenen Erden - das wissen Sie
ganz genau - gibt es weltweit Lagerstätten, also nicht
nur in China. Um den Engpass abzubauen, der auch
durch China verursacht wird, muss es jetzt darum gehen,
neue Lagerstätten zu erschließen. Wir werden sehen, wie
Ihre Unterstützung an dieser Stelle letztendlich aussieht.
Herr Barthel, in Ihrem Antrag fordern Sie, dass die
Bundesregierung Instrumente bereitstellt, die dazu dienen, die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit Rohstoffen zu gewährleisten. Ich kann Ihnen sagen, welche
Instrumente es gibt - die Bereitstellung dieser Instrumente hätten Sie in Ihrem Antrag gar nicht fordern müssen -: Es gibt Hermesbürgschaften, es gibt die ungebundenen Finanzkredite, und es wird eine Explorationsunterstützung geben. Das sind die Instrumente, die im
Moment erforderlich sind, damit sich die deutschen Unternehmen auf dem Rohstoffmarkt stärker einbringen
können.
({4})
Fazit: Das Thema Rohstoffsicherung ist längst ein bedeutender Teil der politischen Agenda der christlich-liberalen Koalition. Anträge Ihrer Fraktion dazu brauchen
wir nicht. Es ist notwendig, dass wir das Rohstoffthema
insgesamt betrachten und die Diskussion nicht auf die
Seltenen Erden verengen. Die christlich-liberale Koalition beachtet diesen Grundsatz. Herr Barthel, weil Ihr
Antrag veraltet ist, können wir ihm leider nicht zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Stellen
wir die Debatte einmal wieder vom Kopf auf die Füße,
Herr Lämmel.
({0})
Richtig ist: China fördert derzeit 90 Prozent der Seltenen
Erden. Richtig ist aber auch: China verfügt nur über
knapp 30 Prozent der Reserven an Seltenen Erden. Die
deutsche Industrie freute sich wie andere auch über die
billigen Rohstoffe. Niemand scherte sich auch nur einen
Deut um die katastrophalen Arbeits- und Umweltbedingungen, unter denen sie in China gefördert werden. Den
Rest der Seltenen Erden hat man in der Erde gelassen,
weil die Lieferung aus China viel billiger war. Diese Ab11032
hängigkeit hat nicht China produziert, diese Abhängigkeit ist selbst gewählt. Statt jetzt darüber zu klagen oder
China die Schuld zuzuschieben, hätten Sie besser vorher
eine andere Rohstoffpolitik gemacht.
({1})
Kollege Barthel, die von Ihnen geforderte weitergehende Handelsliberalisierung als Lösung verbessert den
Zustand aber nicht. Wer einen fairen Handel will, muss
erst einmal anerkennen, dass die Rohstoffe den Rohstoffländern gehören. Da wir dies anerkennen, haben
diese Länder aus unserer Sicht auch die Legitimation,
Exportbeschränkungen zu verfügen und regulierende
Maßnahmen zu erlassen.
Sie, Kollege Lämmel, führen die Diskussion, als
ginge es um den freien Zugriff unserer Wirtschaft auf
unsere Rohstoffe, die scheinbar nur aufgrund eines
Missverständnisses der Natur im Boden anderer Länder
liegen.
({2})
Statt einer verschärften Konkurrenz um den Zugang
zu begrenzten Rohstoffen, brauchen wir auf internationaler Ebene partnerschaftliche Regeln und die Einführung sozialer und ökologischer Mindeststandards in
Handelsverträgen. Statt Freihandel brauchen wir eine
faire Beteiligung der Entwicklungs- und Schwellenländer an den Gewinnen und eine Verhinderung von Rohstoffspekulationen.
({3})
Hauptziel einer Rohstoffpolitik sollte nicht Beschaffungskonkurrenz, sondern die drastische Reduzierung
des Ressourcenverbrauchs sein.
({4})
Derzeit verbrauchen einige wenige Industrieländer innerhalb weniger Jahrzehnte hemmungslos die begrenzten Ressourcen der Welt. Trotz des Bekenntnisses zur
Rohstoffeffizienz ist der absolute Verbrauch an Rohstoffen in der EU der 27 in den letzten Jahren um mehr als
10 Prozent gestiegen. Einen weiteren wichtigen Beitrag
muss der Ausbau eines umfassenden Recyclingsystems
für die wichtigen Metalle leisten. Kollege Breil, ich weiß
zwar, dass Ihnen das ein Gräuel ist, aber an dieser Stelle
muss der Staat steuernd eingreifen. Er muss Anreize
schaffen und darf nicht, wie in Ihrer Rohstoffstrategie
- die eine Luftnummer ist - leere Versprechungen machen.
({5})
Wir brauchen konkrete politische Maßnahmen. Wir
müssen Rohstoffeffizienz bei der öffentlichen Beschaffung zwingend vorschreiben. Wir brauchen eine Förderung des ökologischen Umbaus der Industrie durch eine
regulierende Industriepolitik, eine Besteuerung des Rohstoffverbrauchs, was die EU-Kommission vorgeschlagen
hat, und viele andere Maßnahmen. Wir haben jetzt Gelegenheit, in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ eine Konzeption zu entwickeln,
mit der dann - hoffentlich gemeinsam - bessere Ergebnisse vorgelegt werden können, als sie mit diesem Antrag, aber vor allem auch im Rahmen der Rohstoffstrategie der Bundesregierung vorgelegt worden sind.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Nestle von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Staatssekretär Pfaffenbach hat in der letzten Sitzung des Wirtschaftsausschusses gesagt, Deutschland sei ein rohstoffarmes Land.
({0})
Das ist typisch für den Tunnelblick von Schwarz-Gelb.
({1})
Diese Perspektive ist nicht nur einseitig. Sie geht an der
Realität vorbei;
({2})
denn wir verfügen über Rohstoffe hier vor Ort. Eine
Tonne Handyschrott enthält 60-mal mehr Gold als eine
Tonne Golderz, außerdem weitere knappe Rohstoffe wie
Tantal. Recycling als Rohstoffgewinnungsstrategie hat
enormes Potenzial - in Deutschland und darüber hinaus.
({3})
Allein in Europa werden nur 40 Prozent des Elektronikschrotts korrekt recycelt. Nach Schätzungen der UN landen weltweit jedes Jahr 40 Millionen Tonnen Elektrogeräte im Müll. Die ausgedienten Telefone, Computer oder
Fernseher enthalten viele wertvolle und teils sehr seltene
Metalle, die in großen Mengen zurückgewonnen werden
und so der Wirtschaft zur Verfügung stehen könnten.
({4})
Auch für die Umwelt ist es besser, die Rohstoffe, die wir
schon haben, mit innovativen Verfahren aus dem Müll
wieder herauszulösen, als sie unter steigenden Belastungen für die Umwelt auszugraben. Damit wir dieses Potenzial nutzen können, brauchen wir aber eine andere
Rohstoffstrategie, als die Bundesregierung sie vorgelegt
hat. Die Kernbotschaft einer modernen Ressourcenstrategie ist: Ressourceneffizienz, Recycling, Substitution.
Die Industrie muss ressourcensparender arbeiten und
schon beim Design der Produkte über die Wiederverwertbarkeit nachdenken. Hierfür und nicht für das Graben nach den Ressourcen sollte die Wirtschaftspolitik in
erster Linie Anreize setzen,
({5})
zum Beispiel mit Ordnungspolitik und finanziellen Anreizen wie einer besseren Förderung von ForschungsIngrid Nestle
und Entwicklungsausgaben. Das ist auf Dauer aussichtsreicher als die Beschaffungsstrategie. Die Bundesregierung setzt mit dem Fokus auf die Beschaffung von Rohstoffen die falsche Priorität. Aber leider springt auch die
SPD auf diesen Zug auf. Auch sie unterschätzt die Potenziale von Ressourceneffizienz, Recycling, Substitution.
({6})
Natürlich muss auch die von uns Grünen vorgeschlagene Innovationsstrategie durch eine Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen flankiert werden. Vor allem für
kleine und mittlere Unternehmen brauchen wir funktionierende offene Rohstoffmärkte. Aber Rohstoffpartnerschaften, wie jetzt mit Kasachstan angedacht, dürfen
nicht exklusiv sein und damit die offenen Märkte gefährden. Sie müssen Win-win-Situationen für alle Beteiligten schaffen. Das heißt, auch die Menschen in den Abbauländern müssen davon profitieren, durch transparente
Zahlungsströme, durch ökologisch und sozial verantwortbare Abbaubedingungen. Solche Partnerschaften
dürfen den berechtigten Anspruch der Menschen auf Demokratie und Mitbestimmung in ihren Ländern nicht behindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ihrem Antrag steht sehr viel Richtiges, aber wir würden
die Schwerpunkte anders setzen. Die Antwort auf Ressourcenverknappung muss heißen: weniger verwenden,
wiederverwenden und durch günstigere Rohstoffe ersetzen.
({7})
Sie vernachlässigen darüber hinaus die europäische Perspektive, und Sie setzen auf die überholte Philosophie
„mehr für uns“.
({8})
- Nein, wir haben den Antrag durchaus gelesen. - Wir
richten den Fokus eher auf die Ressourceneffizienz, das
„Wenigerverwenden“, das Wiederverwenden und das
Ersetzen durch günstigere Rohstoffe; denn wir können in
den Industrieländern nicht länger erwarten, dass aufgrund eines überproportionalen Verbrauchs ein überproportionales Recht auf Zugang zu Rohstoffen besteht.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es mag paradox klingen, dass ausgerechnet in vielen der ärmsten Länder dieser Erde die meisten
Rohstoffe liegen. Ich glaube, dass wir alle uns fragen
müssen: Warum sind viele Länder arm, warum sind die
Menschen in diesen Ländern arm, obwohl dort Rohstoffe wie Öl, Gold und Diamanten oder eben auch Seltene Erden vorhanden sind? Für viele Entwicklungsländer sind Rohstoffe leider mehr Fluch als Segen.
Natürlich kann man es sich leicht machen und sagen,
dass die dortigen Regierungen dafür sorgen müssen,
dass mehr entsprechende Steuern erhoben und die Umweltstandards eingehalten werden. Aber ein Teil der
Wahrheit ist auch, dass es deutsche, dass es unsere Konzerne sind, die in diesen Länder Rohstoffe abbauen, und
dass Unternehmen hier von diesen Rohstoffen profitieren
({0})
und sich zu wenig Gedanken darüber machen, was vor
Ort in diesen Ländern passiert. Deswegen können wir
das nicht, wie es in der Rohstoffstrategie der Bundesregierung steht, allein der Privatwirtschaft überlassen.
Vielmehr brauchen wir verbindliche Regeln, damit Umwelt- und Sozialstandards eingehalten werden und die
Rohstoffe endlich den Menschen zugutekommen, die sie
fördern, und den Ländern, aus denen sie stammen.
({1})
Ich möchte kurz aus einem Artikel zitieren, in dem
die Situation im Zusammenhang mit dem Abbau in
China beschrieben wird. Hier steht:
Aber auch dort, wo der chinesische Staat die Förderung der Seltenen Erden direkt kontrolliert, geschieht dies unter völliger Missachtung von Umweltschutz und Gefährdung der Anwohner. …
unweit der Stadt Baotou. Auch hier werden die Seltenen Erden nicht mit umweltschonenden Methoden isoliert, sondern durch Auswaschen mit Schwefelsäure, Nitratsalzen und anderen Chemikalien.
Anschließend wird die Brühe einfach in einen
künstlichen See gepumpt, für den ein Staudamm errichtet wurde. Der Giftsee ist inzwischen zwölf Kilometer lang - auch dies ein Weltrekord. Er ist nicht
nur voller Chemie, sondern enthält auch Tonnen radioaktiven Thoriums, das so gut wie immer in den
Seltene-Erden-Erzen enthalten ist.
Wenige Kilometer von der Kloake entfernt lagen
bis vor kurzem mehrere Dörfer, die sich den unrühmlichen Namen „Krebsdörfer“ erwarben.
Denn dort sind viele Menschen elendig an Krebs gestorben.
Ich sage deshalb: Wir dürfen nicht zulassen, dass
diese Zustände in China und in anderen Entwicklungsländern vorherrschen, dass wir mit unseren Handys und
unserer Produktion entsprechender Güter dazu beitragen.
Herr Lämmel, Sie haben zitiert, dass auch wir der
deutschen Wirtschaft zum Beispiel Hermesgarantien geben möchten. In unserem Antrag steht aber, dass staatli11034
che Garantien nur dann gegeben werden dürfen, wenn
sich die Unternehmen strikt dazu verpflichten, die
OECD-Leitlinien, den Global Compact der Vereinten
Nationen, die EITI-Vereinbarungen für Transparenz und
Umwelt- und Sozialstandards einzuhalten. Nur dann
dürfen diese Bürgschaften gegeben werden.
({2})
Ich sage an dieser Stelle: Diese Bundesregierung geht
mit Hermesbürgschaften ganz anders um, als wir es damals zusammen mit den Grünen in unseren Richtlinien
2001 vorgesehen haben. Wir haben Hermesbürgschaften
nur gegeben, wenn die ökologischen und sozialen Kriterien gestimmt haben. Sie geben Hermesbürgschaften
mittlerweile nur nach den Kriterien, dass dadurch die
Außenwirtschaft gefördert wird und möglichst viele Profite gemacht werden. Sie schrecken nicht einmal davor
zurück, Hermesbürgschaften für den Bau von Atomkraftwerken in Brasilien und auch anderswo in der Welt
zu geben. Das ist ein Skandal. Wir dürfen nicht mit deutschen Steuergeldern die Umwelt belasten, Menschen
ausbeuten und Atomkraftwerke in Entwicklungs- und
Schwellenländern bauen.
({3})
Wir haben in unserem Antrag natürlich keine umfassende Antwort auf die Rohstoffstrategie der Bundesregierung gegeben; da haben wir einen noch viel breiteren
Ansatz. Es ist wichtig, dass wir nicht immer nur mit guten Worten Appelle an die deutsche Industrie und Wirtschaft richten, sondern dass wir fordern und sagen, dass
das eine mit dem anderen verbunden ist.
Wir verstehen unter Rohstoffpartnerschaften - das
möchte ich zum Schluss noch sagen - Partnerschaften,
die über die Einhaltung der Transparenzregelungen nicht
nur der Entwicklung des Landes dienen, sondern über
die Verteilung der Gewinne - das steht in unserem Antrag - auch der Bevölkerung zugutekommen. Auch darüber müssen wir mit den Regierungen reden.
Ich hoffe, dass wir bald auch hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz verabschieden - der Kollege Barthel
hat es angesprochen -, mit dem alle Unternehmen, die an
der Börse notiert sind, verpflichtet werden, ihre Geldzahlungen offenzulegen. Wenn selbst die USA ein solches Gesetz verabschieden,
Herr Kollege.
- werden auch wir in Deutschland das tun können.
Das sind wir den Menschen in Deutschland, vor allem
aber in den Entwicklungsländern schuldig. Dafür sollten
wir gemeinsam kämpfen.
Herr Kollege!
Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion der SPD mit dem Titel „Fairen Rohstoffhandel sichern - Handel mit Seltenen Erden offenhalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4910, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4553 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die CDU/CSU, die FDP, Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke angenommen. Die SPD hat
dagegen gestimmt.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen
- Drucksache 17/4979 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Andreas Scheuer.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Neuregelung
mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen soll
die Autobahnmaut für schwere Lkw auch auf Teile der
Bundesstraßen ausgedehnt werden. Es handelt sich um
eine Erweiterung des mautpflichtigen Straßennetzes.
Alle anderen Merkmale wie die Mautsätze und die
Bemautung nur von Lkw ab 12 Tonnen bleiben unverändert. Es sollen auch nur Abschnitte von Bundesstraßen
bemautet werden, die ausbaumäßig einer Autobahn nahekommen.
Diesem Projekt, der Maut auf Bundesstraßen, liegt
die Überlegung zugrunde, dass insbesondere zu Autobahnen Bundesstraßen führen, die den Fahrkomfort einer Autobahn bieten. Das hat auch der BundesrechParl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer
nungshof schon lange aufgezeigt. Er hat die Möglichkeit
der Aufstufung zu Bundesautobahnen thematisiert,
durch die der Bund weitere Mauteinnahmen erzielen
könnte.
Jedoch erfüllen viele dieser gut ausgebauten Bundesstraßen nicht sämtliche rechtlichen und technischen Voraussetzungen, die eine Autobahn zu erfüllen hat. Zu
nennen wären zum Beispiel Anbauverbotszonen, höhenfreie Knotenpunkte und sonstige Ausbaustandards, zum
Beispiel Mindestkurvenradien. Wir haben also gut ausgebaute Bundesstraßen, die aber im Gegensatz zur Autobahn nicht bemautet werden können, weil wir diese Straßen nicht zu Autobahnen aufstufen können, da das
geltende Recht bis auf geregelte Ausnahmen in der
Mautstreckenausdehnungsverordnung eine Bemautung
nicht vorsieht. Diese Situation ist auch vor dem Hintergrund des erheblichen Finanzbedarfes für Erhalt und
Ausbau der betroffenen Verkehrsinfrastruktur mehr als
unbefriedigend.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf regelt die Ausdehnung der Lkw-Maut auf mindestens vierstreifige
Bundesstraßen, die sich in der Baulast des Bundes befinden, mit Anbindung an eine Bundesautobahn, damit wir
räumlich einen Bezug zum mautpflichtigen Autobahnnetz herstellen können.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu diesem
Gesetzentwurf weitere Kriterien für einen zu bemautenden Bundesstraßenabschnitt vorgeschlagen: eine Mindestlänge von 5 Kilometern, eine bauliche Richtungstrennung und Verzicht auf eine Bemautung im
innerstädtischen Bereich. Die Bundesregierung hat die
Anliegen geprüft und wird dem Deutschen Bundestag
Änderungen am mautpflichtigen Streckennetz durch die
Regelung zusätzlicher Kriterien, wie jetzt folgt, empfehlen: Mindestlänge von 4 Kilometern, durchgehende bauliche Richtungstrennung, also ein durchgehender Mittelstreifen, und keine Bemautung von Strecken innerorts.
Zudem soll empfohlen werden, die im Gesetzentwurf
vorgesehene Bemautung von mittelbar an das Autobahnnetz angebundenen Strecken nicht mehr vorzusehen.
Mit diesen vorgesehenen und empfohlenen Änderungen werden im Gesetz die zu bemautenden Strecken ausschließlich abstrakt-generell geregelt. Eine Auflistung
wie bei den ursprünglich mittelbaren Strecken soll es
nicht geben, auch nicht im Wege einer Rechtsverordnung. Es ist aber vorgesehen, die einzelnen mautpflichtigen Bundesstraßenabschnitte, die schon in den sogenannten Mauttabellen veröffentlicht sind, zusätzlich
rechtssicher im elektronischen Bundesanzeiger bekannt
zu machen.
Mit der Regelung des zusätzlichen Kriteriums eines
durchgehenden Mittelstreifens kommt der zu bemautende Bundesstraßenabschnitt einem autobahnähnlichen
Zustand noch näher. Durch die zusätzlichen Abgrenzungsmerkmale wie Mindestlänge, Herausnahme von
Ortsdurchfahrten und Herausnahme der mittelbaren
Strecken wird auch den Befürchtungen der Länder hinsichtlich Mautausweichverkehren Rechnung getragen.
Beim Stichwort Mautausweichverkehre möchte ich
auf Folgendes hinweisen: Mautausweichverkehre stellen
seit Einführung der Lkw-Maut auf Bundesautobahnen
kein Flächenproblem dar; laut den konstatierten Untersuchungen liegt der verlagerungsbedingte Anstieg des
Lkw-Verkehrs bei weniger als 4 Prozent. Auch zukünftig
wird kein besonderer Anreiz zur Verlagerung erwartet.
Wir werden dies allerdings prüfen und die Untersuchung
zur Verlagerungswirkung vorlegen.
({0})
Unter Berücksichtigung dieser zusätzlichen Kriterien
sollen rund 1 000 Kilometer Bundesstraße zukünftig
bemautet werden.
({1})
Das sind rund 1 000 Kilometer weniger als ursprünglich
geschätzt. Mit dieser Reduzierung tragen wir gleichzeitig der Speicherkapazität der Fahrzeuggeräte Rechnung.
Inzwischen liegen erste Einschätzungen der Gutachter zu den erwarteten Fahrleistungen vor. Danach erwarten wir trotz alledem jährlich rund 100 Millionen Euro
Mehreinnahmen, die in der mittelfristigen Finanzplanung ausgewiesen sind.
Abschließend noch ein paar Worte zum Thema „Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur“. Der Bedarf an
Mitteln für den beabsichtigten Aus- und Neubau der Verkehrsinfrastruktur erfordert neue und ergänzende Finanzierungsinstrumente zur Sicherung und Stärkung der
Verkehrsinfrastruktur.
Wie hier alle wissen, wurde die Lkw-Maut vor mehr
als sechs Jahren unter anderem zur Sicherung der Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur eingeführt. In diesem
Sinne muss es in der Konzeption des vorgelegten Entwurfes weiterentwickelt werden.
Zur Reduzierung der Haushaltsabhängigkeit der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung und zur Schaffung mehrjähriger Planungssicherheit wollen wir Nutzerfinanzierungskreisläufe stärken. Mit dem Bundeshaushalt 2011
haben wir einen ersten Schritt zur Herstellung eines Finanzierungskreislaufs Straße eingeleitet. Die Mauteinnahmen, die bisher für Investitionen in Schiene und
Wasserstraße verteilt wurden, fließen nunmehr zu
100 Prozent in die Straße.
({2})
Dies führt zu mehr Transparenz bei der Verwendung der
Mauteinnahmen, und ich halte es für gerecht, dass die
Brummifahrer wissen, dass 100 Prozent ihrer Mautabgabe in die Straßen, in die Erhaltung, in den Neubau und
in die Baustellen, fließen. So ist die Transparenz gewährleistet.
Die christlich-liberale Koalition und die Bundesregierung setzen das um, was die Verkehrspolitiker schon
längst fordern. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang noch einmal persönlich bei Gero Storjohann bedanken, der meine Ausführungen zum Feuerwehrführerschein bei Tagesordnungspunkt 13 sehr gelobt hat.
({3})
Ich denke, wir werden auch im Ausschuss bei den Themen „Maut“ und „Bemautung der vierspurigen Bundesstraßen“ eine gute Diskussionsebene finden.
Glück auf! Wir werden damit die Finanzbasis für die
Infrastruktur weiter stärken.
({4})
Der Kollege Uwe Beckmeyer hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Scheuer - - Herr Dr. Scheuer - Entschuldigung -,
({0})
1 000 Kilometer sind es geworden. 3 000 Kilometer waren einmal geplant. Grundsätzlich ist ja nichts dagegen
zu sagen, dass Sie sich nach neuen Einnahmequellen
umschauen. Ich habe vorhin schließlich gesagt, dass ich
Sie geradezu dazu auffordere, sinnvolle Sachen zu machen. Die Frage ist nur, wie es passiert? - Ich habe dazu
ein paar Fragen. Vielleicht kann im Rahmen der heutigen Debatte der eine oder andere Koalitionsvertreter
- Sie können dazu schließlich nicht mehr reden - noch
etwas dazu sagen.
Erstens. Auf der Sparklausur der Bundesregierung
2010 wurde diese vierspurige Bundesstraßenmaut schon
für den 1. Januar 2011 angekündigt; daraus ist bekanntlich nichts geworden.
Nun planen Sie die Einführung zum 1. Juli 2011. Weil
das Problem ja häufig im Detail liegt, interessiert uns
Sozialdemokraten, ob die vielen ungeklärten rechtlichen
und technischen Fragen inzwischen eigentlich so geklärt
wurden, dass man davon ausgehen kann, dass diese
Maut tatsächlich zum 1. Juli 2011 eingeführt werden
kann. Dass dieser Termin verschoben worden ist, deutet
ja zumindest darauf hin, dass da noch einiges nicht klar
ist. Im Haushalt 2011 haben Sie hier Einnahmen in Höhe
von 50 Millionen Euro eingeplant. Wir hoffen, dass Sie
das auch realisieren können.
Zweitens. Mit dem Beschluss des Gesetzentwurfes
durch das Kabinett ist nicht klar, auf welchen Bundesstraßen die Lkw-Maut eingeführt werden soll. Zu Recht
fordern Ihr eigenes Bundesland Bayern und andere Bundesländer, dass sie wenigstens an der Zusammenstellung
der Liste beteiligt werden. Die Frage an Sie ist: Sind
diese Länder beteiligt worden?
({1})
Sie sind die vor Ort Betroffenen, die mit den Konsequenzen auf dem nachgeordneten Straßennetz leben
müssen. Das muss man einfach berücksichtigen.
Diese vierspurigen Bundesstraßen gibt es ja nicht
überall, sondern nur an ganz bestimmten neuralgischen
Punkten. Sie haben vorhin von Strecken über vier Kilometern gesprochen - nicht in den Städten. Also denke
ich einmal, dass wir es mit Versatzstücken zu tun haben,
die irgendwo angeschlossen sind und Verkehr auf nachgeordneten Straßen der Länder hervorrufen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum
das Gesetz im Bundesrat nicht zustimmungsbedürftig
ist. Aus dem, was im Gesetzentwurf steht, habe ich geschlossen, dass die Ausdehnung auf Bundesstraßen im
Bundesrat zustimmungsbedürftig ist. Ich denke, das ist
auch eine Frage, die geklärt gehört.
Drittens. Bisher sind in keinem Fall Untersuchungen
darüber durchgeführt worden, welche Auswirkungen die
Einführung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bundesstraßen für das nachgeordnete Netz wie Kreis- und Landesstraßen usw. hat. Sollen auch vierspurige Bundesstraßen
innerhalb von größeren Städten - das haben Sie jetzt
ausgeschlossen - oder Ortsumgehungen - das ist meines
Erachtens noch unklar - bemautet werden? Auch das ist
meines Erachtens noch unklar.
Viertens. Wie groß werden die technischen Aufwendungen sein, die für eine Erhebung der Lkw-Maut auf
vierspurigen Bundesstraßen notwendig sind? Dazu habe
ich hier heute auch nichts gehört.
({2})
Wird es Mautbrücken geben müssen? Wird es lediglich Kontrollen durch das BAG geben, und wird damit
das Risiko der Kontrollen zu 100 Prozent auf den Staat
übertragen? Das sind ebenfalls Fragen, die ich aus dem
Kreise des Bundeskabinetts bisher nicht beantwortet bekommen habe.
Fünftens. Bis heute ist nicht klar, in welcher Höhe bei
der Erhebung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bundesstraßen Systemkosten anfallen. Bisher heißt es im Gesetzentwurf lediglich, dass 8,5 Millionen Euro an Vollzugskosten beim BAG entstehen. Bei Einnahmen von
rund 100 Millionen Euro sind das 8,5 Prozent. Darin
sind noch nicht die Kosten enthalten, die ein Unternehmen, das im Auftrag des Bundes die Lkw-Maut erhebt,
in Rechnung stellen wird. Auch das ist nicht geklärt.
Sechstens. Bis heute verweigert die Bundesregierung
jegliche konkrete Aussage dazu, wie die rechtlichen
Rahmenbedingungen für eine Vergabe der Erhebung der
Lkw-Maut auf vierspurigen Bundesstraßen aussehen.
Wird es eine Direktvergabe geben? Muss europaweit
ausgeschrieben werden? Das ist dem Parlament gegenüber bisher überhaupt noch nicht eindeutig geklärt. Auch
hierzu erwarte ich von der Bundesregierung eine Auskunft.
({3})
- Vielleicht weiß sie es nicht.
Siebtens. Bisher ist nicht bekannt, welche Belastungen auf die Unternehmen des Transport- und LogistikgeUwe Beckmeyer
werbes zukommen werden. Laut dem Wegekostengutachten der Bundesregierung ist die Mauthöhe auf
Bundesstraßen allerdings generell doppelt so hoch wie
auf Bundesautobahnen, weil dort weniger Schwerlastverkehr stattfindet. Die Frage an die Bundesregierung
ist: Wann werden Sie einen Entwurf für eine neue Mauthöheverordnung auf den Weg bringen, dem Deutschen
Bundestag, dessen Zustimmung nach der Gesetzeslage
zumindest aus unserer Sicht erforderlich ist, vorlegen
und die Länder entsprechend informieren? Ich habe den
Eindruck, dass es noch sehr viele Fragen gibt, die Sie
immer noch nicht geklärt haben und dass bei Ihnen im
Hause anscheinend eine große Unsicherheit unter den
Fachleuten existiert. Die Fragen, die ich stelle, stellen
ebenfalls die Kolleginnen und Kollegen aus den Verbänden. Auch sie fragen sich, ob Sie möglicherweise dabei
sind, das Gewerbe in diesem Zusammenhang hinter die
Fichte zu führen. Insofern bitte ich um Aufklärung zu
diesem Gesetzentwurf.
({4})
Ich möchte nicht, dass Sie den Eindruck gewinnen,
dass Sie im Deutschen Bundestag eine unseriöse Verkehrspolitik betreiben können, ohne dass es jemand
merkt.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Patrick Döring für die FDPFraktion.
({0})
Ob er seinem Namen an diesem Tag gerecht wird und
eine missionarische Rede hält, werden wir sehen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich will mich bemühen, die Debatte, die um diese Uhrzeit überwiegend im
geschlossenen Kreis der Ausschussfreunde stattfindet
- über die vielen interessierten Gäste freut man sich
selbstverständlich, die Bürgerinnen und Bürger ohnehin -,
zu nutzen, um ein paar Fragen, die aufgeworfen worden
sind, zu beantworten.
Zunächst bedanke ich mich bei der Bundesregierung
dafür, dass bereits erkannt worden ist, dass der Gesetzentwurf vor der zweiten und dritten Beratung noch an einigen Stellen verbessert werden kann, wozu wir als
FDP-Fraktion in jedem Fall bereit sind. Aus den Änderungen, die der Herr Staatssekretär vorgetragen hat, lassen sich schon einige Fragen, die der geschätzte Kollege
Beckmeyer gestellt hat, beantworten.
Eingangs muss man festhalten - das ist erkennbar -,
dass die Umsetzung dieser in der Sparklausur beschlossenen Änderung tatsächlich deutlich komplizierter ist,
als dies seinerzeit erwartet wurde. Das hängt damit zusammen, dass zum Beispiel umfangreich gutachterlich
geklärt werden musste, ob im Rahmen des bestehenden
Konsortialvertrages mit Toll Collect die Erhebung an
Toll Collect übertragen werden kann. Das ist nach meiner Kenntnis inzwischen durch ein ausführliches Rechtsgutachten geklärt. Wir können im Rahmen dessen, was
mit Toll Collect vereinbart worden ist, auch diese Ausweitung des Mautnetzes vornehmen, ohne Änderungen
am Vertrag durchzuführen, was in der Tat gegebenenfalls Ausschreibungskonsequenzen gehabt hätte.
Es war außerdem zu klären, welche der ungefähr
3 000 Kilometer vierstreifigen Bundesstraßen wir tatsächlich bemauten wollen. Deshalb begrüße ich für die
FDP-Fraktion ausdrücklich, dass die Bundesregierung
den Gesetzentwurf, dem eine Liste und eine weitere Anlage beigefügt sind - einige von Ihnen wissen, dass ich
das ohnehin nicht gerne habe -, zu einem Gesetzentwurf
weiterentwickelt hat, der klar definiert, welche Straßen
bemautet werden sollen. Die entscheidende Regelung
lautet: Mittelbar an Bundesautobahnen anschließende
vierstreifige Bundesstraßen, die jeweils zwei baulich getrennte Fahrstreifen aufweisen, sind zu bemauten.
({0})
Wenn das so ist, lieber Kollege Beckmeyer, dann ergibt sich jedenfalls nach meiner Überzeugung keine negative Auswirkung auf Landes- und Kreisstraßen, weil
die in der Regel nicht für Substitutionsverkehre geeignet
sind, da sie gerade nicht unmittelbar an Bundesautobahnen anschließen.
Die Frage wäre berechtigt gewesen, wenn man eine
lange Liste erstellt hätte. Aber wenn man sich darauf bezieht, dass ausschließlich die vierstreifigen Bundesstraßen in Verlängerung oder als Zubringer zu Autobahnen
bemautet werden, dann ergibt sich die Substitution an
anderer Stelle aus meiner Sicht nicht.
Das ist nach unserer festen Überzeugung auch der
entscheidende Punkt bei der Beteiligung der Länder. Mit
dieser Definition und durch die reine Änderung des
Mautgesetzes ist das nicht mehr nötig. Bei einer Liste
wäre das - darin stimme ich mit Ihnen überein - aller
Voraussicht nach nötig gewesen. Wir wären auch gar
nicht darum herumgekommen. Denn wir alle haben
Briefe von Landräten und Landesverkehrsministern bekommen, in denen die Herausnahme einzelner Streckenabschnitte gefordert wurde. Ich habe keinen einzigen
Brief bekommen, in dem jemand vorschlägt, einen Streckenabschnitt zu bemauten. Das hätte am Ende ein heftiges Gerangel gegeben.
Insofern streben wir eine klare gesetzliche Definition
an. Wir werden im Ausschuss sicherlich die notwendigen Änderungen vorschlagen und hoffen auf Ihre Unterstützung.
({1})
Nun zur Frage der Mauthöheverordnung. Es ist in der
Tat richtig, dass der Hinweis auf die Bundesstraßen in
der Mauthöheverordnung aufgeführt ist. Ich bin aber
auch der festen Überzeugung, dass das, was für die Bundesstraßen im Allgemeinen gelten mag, für die vierstreifigen, durch baulich getrennte Fahrstreifen ausgezeichneten Bundesstraßen nicht gilt, sondern dass hier ganz
sicher analog die ermittelten Mauthöhesätze übernommen werden können. Übrigens ist das keine Benachteiligung der Nutzerinnen und Nutzer. Wenn wir jetzt willkürlich einen höheren Satz festlegen würden, wäre das
sicherlich klageanfällig. Wenn wir aber unter den Empfehlungen des Mauthöhegutachtens für Bundesstraßen
bleiben und nur die Mauthöhe für Bundesautobahnen
nehmen, ist das aus meiner Sicht keine Benachteiligung
des Gewerbes, sondern ein positiver Aspekt, der dazu
führt, dass die echten Wegekosten dieser Strecke wahrscheinlich nicht abgebildet werden; dazu müsste der
Mautsatz wohl höher sein. Aber aus unserer Sicht ist es
nicht sinnvoll, für diese 1 000 Kilometer jetzt neue
Mauthöheermittlungsverfahren einzuleiten. Wir nehmen
den Satz, der bei der baulichen Analogie, nämlich einer
vierstreifigen Autobahn, gilt. Das ist gut für das Gewerbe und aus unserer Sicht rechtssicher, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Es zeigt sich, wie sinnvoll der Finanzierungskreislauf
Straße ist, denn mit dieser Maßnahme organisieren wir
gemeinsam mit dem Gewerbe zusätzliche Mittel für den
Ausbau der Straßeninfrastruktur. Das hilft den Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern. Das hilft den betroffenen Kommunen. Das will diese Koalition, nämlich zusätzliche
Mittel für Straße, Schiene und Wasserstraße organisieren: im Bundeshaushalt oder von den Nutzerinnen und
Nutzern.
Ich möchte abschließend einen Gedanken äußern. Wir
erleben immer wieder, dass planungsrechtlich die Ausweitung einer vorhandenen zweistreifigen Bundesstraße
auf die Dreistreifigkeit deutlich leichter als die Erweiterung zur Vierstreifigkeit ist. Wir sollten uns alle gemeinsam - nicht nur, aber auch wegen der Mauteinnahmen darüber Gedanken machen, ob es klug und vernünftig
ist, dass man die Erweiterung einer vorhandenen zweistreifigen Autobahn auf eine dreistreifige über die Unterhaltungsmittel in der Regel ohne Planfeststellungsverfahren machen kann, man aber in dem Moment, in dem
man eine zweistreifige Bundesstraße zu einer vierstreifigen Bundesstraße machen will, ein Planfeststellungsverfahren anschieben muss.
Im Rahmen dessen, was wir heute Morgen zum
Thema Planungsbeschleunigung in ganz anderem Kontext - das will ich zugeben - besprochen haben, wäre es
vielleicht des Schweißes der Edlen wert, darüber nachzudenken, die Hürden etwas niedriger zu legen, um mehr
vierstreifige Bundesstraßen zur Entlastung der betroffenen Kommunen einerseits, aber auch zur Erhöhung der
Einnahmen für den Verkehrshaushalt andererseits zu ermöglichen.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Herbert Behrens hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung legt uns heute einen Gesetzentwurf vor - ein halbes Jahr zu spät und dann auch
noch Murks.
({0})
Ihre Bundesstraßenmaut bringt weder ausreichende Einnahmen noch verhindert sie, dass die schweren Lkw
weiter durch Dörfer und Städte donnern.
Sie haben Veränderungsbedarf angekündigt. Hier einige Vorschläge:
Erstens. Der Bundesverkehrsminister begnügt sich
zunächst mit 2 000 Kilometern Bundesstraßen. Das sind
gerade einmal 5 Prozent aller Bundesstraßen. Statt konsequent Mautflucht zu verhindern und Lkw-Verkehr zur
Finanzierung der Verkehrskosten heranzuziehen, betreiben Sie Flickschusterei.
({1})
- Genau das wollen wir.
({2})
In diesem Gesetz kommt überhaupt nicht vor, welche
Belastungen die Menschen zu ertragen haben, die mit
schweren Lkw vor der Haustür leben müssen, weil die
Spediteure ihre Fahrer über Land schicken. Um der
Maut auszuweichen, nutzen sie einspurige Bundesstraßen.
Ich nenne als Beispiel die Bundesstraße 5. Das ist die
klassische Strecke für Mautpreller zwischen Hamburg
und Berlin. Die B 5 fehlt - bis auf einen einzigen kurzen
Abschnitt - in der Liste der Mautstrecken. Erklären Sie,
Herr Minister oder Herr Staatssekretär, das einmal den
Bewohnerinnen und Bewohnern in Lauenburg und in
Ludwigslust!
Mautflüchtlinge benutzen aber auch Landesstraßen.
In meiner Heimatstadt Osterholz-Scharmbeck kämpfen
Anwohnerinnen und Anwohner der L 135 gegen 800
schwere Lkw, die täglich auf der Strecke zwischen Bremen und Bremerhaven pendeln, obwohl sie auf der parallel gelegenen A 27 hätten fahren sollen.
In einem Bericht des Ministeriums über Verlagerungen durch Mautausweichverkehr gibt es dazu eine genaue Auflistung. Würden wir nur die am stärksten betroffenen Strecken, also die mit mehr als 500 schweren
Lkw pro Tag, nehmen, dann müssten zum Beispiel in
Niedersachsen doppelt so viele Strecken zusätzlich
bemautet werden, wie jetzt von Ihnen vorgeschlagen.
Unsere Forderung zur Gesetzesvorlage: Die Liste der
Streckenabschnitte, also die Liste der 80, muss überarbeitet werden.
({3})
Auch die Auswirkungen auf Ballungsgebiete müssen untersucht und die Einbeziehung von Ortsdurchfahrten in
kommunaler Baulast muss überprüft werden. Das hat ja
auch der Bundesrat im vergangenen Monat gefordert.
Zweitens. Die Maut ist nicht hoch genug. Das sagt
selbst eine Studie aus dem Bundesverkehrsministerium.
Bei der dort vorgenommenen Wegekostenberechnung
kommen 30 Cent pro Kilometer heraus. 30 Cent pro Kilometer müssten Spediteure also eigentlich zahlen; heute
sind es im Schnitt gerade einmal 18 Cent auf Autobahnen. Wir fordern, die Mauthöhe auf Bundesstraßen auf
Grundlage der realen Wegekosten zu berechnen. In der
Schweiz gibt es übrigens eine flächendeckende Maut,
die drei- bis viermal höher ist als die aktuelle auf bundesdeutschen Autobahnen. Die Einnahmen daraus fließen auch in das gesamte Verkehrssystem und nicht nur in
die Straße.
Drittens. Wir halten die Lkw-Maut für ein absolut
sinnvolles Instrument, aber es muss konsequent zu einer
ökologischen Verkehrslenkung genutzt werden.
({4})
Die Spreizung der Maut nach Schadstoffklassen war ein
erster Schritt. Wir fordern: Die Maut muss zu einem
Steuerungsinstrument im Transportwesen weiterentwickelt werden. Mauteinnahmen sind nicht ausschließlich
für den Straßenbau da; sie gehören in das Verkehrssystem insgesamt: in die Schiene, in die Straße und in die
Wasserwege.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz zeigt,
dass die Bundesregierung im Klein-Klein verharrt. Das
ist auch auf europäischer Ebene der Fall. So schlägt beispielsweise die EU eine Eurovignette für alle Transporter ab 3,5 Tonnen vor. Wie kommt das bei Herrn
Ramsauer an? Wir hören von ihm nur: Blockade.
({5})
Die EU versucht, Staukosten und die Kosten für Lärm
und Umweltschäden in die Eurovignette einzubeziehen.
Was kommt aus Deutschland? Wieder Blockade.
({6})
Der Bundesverkehrsminister hätte heute die Chance
gehabt, dazuzulernen. Es ist jetzt an ihm, ob er weiter
herummurkst oder ein Gesetz auf den Weg bringt, das
den Verkehr beruhigt und vielen Menschen das Leben
einfacher macht.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vielen Dank für den Applaus.
Nachdem der Herr Staatssekretär heute schon ausführlich gelobt worden ist,
({0})
auch ein Lob von unserer Seite; denn wir halten die Ausweitung der Maut auf Bundesstraßen durchaus für ein
richtiges Instrument. Das ist ein Schritt in die richtige
Richtung. Wir loben euch sogar, wenn ihr einmal etwas
richtig macht.
({1})
Das Problem ist nur, dass man auf der halben Strecke
stehen bleibt. Wir haben weitaus mehr Bundesstraßen.
Letztendlich müsste man konsequent sein und die Maut
auf die gesamten Bundesstraßen ausweiten.
({2})
Das wäre von entscheidender Bedeutung für die Steuerung des Verkehrs.
Die Situation auf der B 5 ist bereits erwähnt worden.
Auch ich war einmal in Lauenburg und habe mir das angeschaut. Man findet wenig Bundesstraßen, auf denen in
solcher dichten Folge Lkw fahren. Es gibt also durchaus
Bundesstraßen, die nicht vierstreifig sind, auf denen erheblicher Lkw-Verkehr stattfindet und auf denen nach
allen Aussagen und allen Zahlen auch Lkw-Ausweichverkehr vorhanden ist. Den Anwohnern dieser Straßen
wird wieder nicht geholfen. Deshalb wäre zu fordern,
dass neben den vierstreifigen Bundesstraßen zumindest
auch die Bundesstraßen, auf denen ein massiver LkwAusweichverkehr vorhanden ist, in die Bemautung aufgenommen werden. Das wäre jederzeit möglich.
({3})
Wenn man sich die Stellenentwicklung beim Bundesamt für Güterverkehr anschaut, ist des Weiteren zu fragen, ob insgesamt das Modell, wie es gewählt worden
ist, wirklich effizient ist. Wenn wir uns anschauen, wie
viele Stellen da ausgeschrieben sind und wie viele Leute
zusätzlich eingestellt werden müssen, dann stellt sich
durchaus die Frage, ob das Modell, das mit Toll Collect
gewählt worden ist, wirklich geeignet ist, um die LkwMaut zu einem wirtschaftlich vertretbaren Maß auf die
Bundesstraßen auszuweiten.
In Kürze werden die Ausschreibungen stattfinden; zumindest wird der momentan gültige Mautvertrag verlängert. Vielleicht muss man sich überlegen, ob das Modell
weiterzuentwickeln ist. Es ist dringend an der Zeit, dass
man sich im Verkehrsministerium Gedanken darüber
macht. Es gibt große Fragezeichen. Man schaue sich einmal an, welch hoher Prozentsatz der Mauteinnahmen an
den Betreiber fließt. Zu klären ist, ob das alles effizient
genug ist und ob damit eine effiziente Ausweitung, wie
wir sie uns vorstellen, wirklich möglich ist.
Was sind unsere Vorstellungen? Unsere Vorstellungen
sind einfach: Die Lkw-Maut ist auf alle Bundesstraßen
auszuweiten. Die Lkw-Maut ist auf Fahrzeuge bis
3,5 Tonnen auszuweiten. Wir stellen fest, dass im Moment eine starke Umschichtung hin zu Fahrzeugen
knapp unter 12 Tonnen stattfindet; 11,5-Tonnen-Fahrzeuge sind plötzlich sehr beliebt. Dieser Entwicklung
wäre damit ein Riegel vorgeschoben. Diese Ausweitung
der Maut wäre rechtlich und technisch möglich. Mit einem etwas geschickteren Mauterhebungssystem wäre sie
auch ökonomisch sinnvoll.
Des Weiteren erwarten wir von der Bundesregierung,
dass sie die ökonomisch kontraproduktive Nichterhöhung der Maut für die Euro-3-Fahrzeuge zurücknimmt.
Man hat gedacht, man tue insbesondere dem Gewerbe
etwas Gutes. Man stellt nun aber fest, dass man dem einheimischen Gewerbe damit - es hat weitgehend umgestellt, und Euro-5- und Euro-6-Fahrzeuge sind schon in
der Überlegung - eigentlich nichts Gutes getan hat;
({4})
man hat ihm mit der sinnlosen Rücknahme der Erhöhung
der Maut für Euro-3-Fahrzeuge einen Bärendienst erwiesen.
({5})
- Wir sprechen mit den Mittelständlern. Die Mittelständler sind viel weiter als Sie; sie haben weitgehend moderne Fahrzeuge.
Was hat man mit dieser Nichterhöhung erreicht? Man
hat insbesondere die Konkurrenz gestärkt, die mit alten,
mit schlechten, mit abgeschriebenen Fahrzeugen unterwegs ist. Man hat diejenigen Unternehmen, die moderne
Fahrzeuge einsetzen, also Unternehmen, die investiert
haben, geschwächt. Man hat noch etwas Weiteres bewirkt: Dem Bundeshaushalt wurde sinnlos Geld entzogen, Geld, das wir dringend für den Unterhalt des Straßennetzes benötigen.
({6})
Erweitern Sie Ihr Konzept: Bemautung aller Bundesstraßen, Ausweitung der Maut auf 3,5-Tonner und stärkere Spreizung der Mauthöhen. Das hätte nämlich eine
stärkere ökologische Lenkungswirkung.
Danke.
({7})
Der Kollege Thomas Jarzombek hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte
mit Blick auf die Kollegen der Grünen eigentlich einige
schöne Zitate vorbereitet, war aber auf so viel Lob von
Ihrer Stelle gar nicht gefasst. Das nehmen wir doch erfreut zur Kenntnis.
Herr Kollege Hofreiter, ich gehe gerne auf Ihr Argument ein, was die Rücknahme der Mauterhöhung für die
Euro-3-Lkws betrifft. Genau das war ja Wunsch der
Transportwirtschaft. Wir reden hier ja nicht über die
Fahrzeuge, die ganz große Strecken fahren, sondern über
das Drittel der Fahrzeuge der deutschen Transporteure,
die nach der Euro-3-Norm ausgerichtet sind, deren Fahrleistung aber nur 16 Prozent der Streckenkilometer ausmacht. Sie müssen also auch an den kleinen Betrieb mit
wenigen Fahrzeugen, die eher im innerstädtischen Bereich auf kurzen Strecken fahren, denken.
({0})
Sie erfahren an dieser Stelle eine deutliche Entlastung.
({1})
Ich glaube, dass das, was wir hier tun, richtig ist. Ich
freue mich darauf, dass Sie beide, Kollege Hofreiter,
Kollege Behrens - eine Koalition habe ich hier heute
ausgemacht -, demnächst einen Gesetzentwurf einbringen, in dem geregelt wird, dass erstens alle Bundesstraßen und zweitens alle Lastwagen bis 3,5 Tonnen bemautet werden. Darauf sind wir gespannt. Wenn das
geschieht, können wir hier eine ehrliche Diskussion darüber führen, wer was will. Insofern lade ich Sie dazu
ein, diesen Gesetzentwurf einzubringen. Dann haben wir
eine tolle Basis, hier miteinander zu diskutieren.
Warum wir das Ganze überhaupt machen, ist relativ
klar. Ein Unterschied ergibt sich allerdings zwischen
dem, was wir tun, und der damaligen Konstruktion noch
unter Bodewig. Bodewig hat es in der Bundestagsdebatte im Jahre 2001 - die Autobahnmaut für Lkw war ja
Ihre Erfindung, meine Damen und Herren von RotGrün ({2})
gesagt:
Das hat eine positive Wirkung; denn diese Bewertung führt dazu, dass wir mehr investieren können,
und zwar richtig. Es geht um zusätzliche Einnahmen, …
({3})
Diese zusätzlichen Einnahmen, die Sie mit der LkwMaut generieren wollten, sind bei den Finanzpolitikern
im Laufe der Zeit immer mehr verschwunden.
({4})
Deshalb ist es so wichtig, dass wir für den Einstieg in einen geschlossenen Finanzierungskreislauf bei den Verkehrsträgern gesorgt haben, damit die zusätzlichen Mittel, die jetzt durch die Einbeziehung der Bundesstraßen
erhoben werden, tatsächlich auch beim Straßenbau ankommen und nicht bei den Sozialpolitikern oder irgendwo anders versickern.
({5})
Das macht den allergrößten Unterschied zwischen Ihnen
und uns aus.
Herr Kollege Beckmeyer, Sie haben das Verfahren der
Ausschreibung kritisiert. Ich sage einmal, wie das damals unter Ihnen abgelaufen ist. Das Autobahnmautgesetz ist im Jahre 2002 vom Deutschen Bundestag beschlossen worden. Funktionsfähig war das System Toll
Collect tatsächlich erst zum 1. Januar 2005. Dazwischen
lagen fast drei Jahre. Sie wollen uns doch wohl nicht
ernsthaft den Ratschlag geben, wir sollten das jetzt wiederholen und ein neues System europaweit ausschreiben und das auch noch für 1 000 Kilometer!
({6})
Das ist doch total unsinnig. Das wird niemand machen.
Dafür wird niemand eine neue Struktur aufbauen. Deshalb ist unser Vorgehen richtig.
({7})
Es ist auch realistisch, dass nach einer konservativen
Schätzung in den Haushalt 50 Millionen Euro für dieses
Jahr und 100 Millionen Euro für die Folgejahre eingestellt wurden. Ich glaube, dass sich die Bundesregierung
an dieser Stelle realistische Ziele gestellt hat.
({8})
- Das ist schön. Ich hätte mich auch gefreut, wenn Sie
eine Zwischenfrage gestellt hätten, anstatt pausenlos wie
auch immer geartete Kommentare abzugeben. Das wäre
mit Sicherheit ein eleganterer Weg gewesen, die Diskussion zu führen.
({9})
Ich möchte natürlich die Zeit nutzen, die ich noch
habe.
({10})
- Ich habe noch zwei Minuten. Vorsicht.
({11})
Ich möchte insbesondere der Bundesregierung und
Herrn Staatssekretär Dr. Scheuer für die wirklich exzellente Arbeit danken,
({12})
und zwar, Herr Kollege Beckmeyer, weil genau diese Änderungen noch kommen. Wir sind nicht beratungsresistent und haben im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens - ({13})
- Jetzt hören Sie doch einmal auf, ständig dazwischenzurufen. Sie sind ja schlimmer als Waldorf und Statler.
({14})
- Da hat der Kollege Döring absolut recht. Die späte
Stunde sollte uns zur Ernsthaftigkeit zurückbringen.
({15})
- Das war an Herrn Beckmeyer gerichtet.
Es ist ein Zeichen für ein vernünftiges Vorgehen, dass
die Kriterien für die Straßen - Herr Kollege Döring hat
es dargestellt - jetzt noch einmal deutlich verändert wurden, dass wir jetzt ein praktikableres Verfahren haben
und dass auch die Streckenlängen verändert wurden. Das
zeigt, dass wir als Fraktion mit der Bundesregierung ein
gutes Einvernehmen haben und nicht mit dem Kopf
durch die Wand wollen. Wo hat man das sonst schon?
Das Letzte, was noch anzusprechen ist, ist die stetige
Kritik an Toll Collect, die ich auch im Ausschuss gehört
habe. Toll Collect ist ein System, das von der rot-grünen
Koalition eingeführt wurde. Ich glaube, dass das System
ein gutes System ist und dass wir uns das nicht immer
schlechtreden lassen sollten.
({16})
Ich glaube, dass es eine Menge Potenziale für die Zukunft hat. Ich hoffe, dass wir über das Schiedsverfahren
bald zu einem Einvernehmen kommen.
({17})
Ich wünsche mir, dass wir diese Technologie etwas mehr
schätzen und nicht leichtfertig glauben, dass man Systeme aus anderen Ländern, die zwar gut funktionieren,
aber auf ganz anderen Netzen, einfach übertragen könne.
Ich freue mich auf den Gesetzentwurf, mit dem Sie
alle Bundesstraßen bemauten. Bis dahin sind wir auf
dem richtigen Weg.
Meine Damen und Herren, einen schönen Abend
noch. Vielen Dank.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4979 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Heidrun
Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Aufgaben und Zusammensetzung der Altersarmutskommission - Altersarmut umfassend
und mit den richtigen Mitteln bekämpfen
- Drucksachen 17/4422, 17/4926 Berichterstattung:
Abgeordneter Anton Schaaf
Die Reden werden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Peter Weiß, Ulrich Lange, Anton Schaaf, Heinrich Kolb,
Matthias Birkwald und Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Zum 1. Juli 2011 werden die Renten in Deutschland
um rund 1 Prozent ansteigen, und auch in Zukunft ist
nach den Modellrechnungen im Rentenversicherungsbericht 2010 von einem Rentenanstieg um 29 Prozent bis
2024 oder entsprechend einer durchschnittlichen Steigerungsrate von knapp 1,9 Prozent pro Jahr auszugehen.
Das sind erfreuliche Nachrichten angesichts der Tatsache, dass im Rentenversicherungsbericht vor zwei
Jahren noch Nullrunden für die Rentnerinnen und Rentner prognostiziert wurden. Gleichzeitig steigt die Rücklage in der Rentenversicherung weiter an. Aus heutiger
Sicht kann davon ausgegangen werden, dass schon im
Laufe des Jahres 2012 die Rücklage den Stand von
1,5 Monatsausgaben übersteigt. Damit könnte zum
1. Januar 2013 der Rentenversicherungsbeitrag abgesenkt werden.
Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen
die gesetzliche Rentenversicherung nahezu unbeschadet
die Finanz- und Wirtschaftskrise überstanden hat. Auch
der Sozialbeirat hat in seinem Bericht zum Rentenversicherungsbericht 2010 festgestellt, dass „hervorzuheben
({0}), dass die Rentenversicherung die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise unbeschadet überstanden hat.
Dies hat nicht nur in den Medien Anerkennung gefunden, die zum Teil der Rentenversicherung lange Zeit kritisch gegenüberstanden. Die Rentenversicherung wurde
als ,Fels in der Brandung’ beschrieben. Auch die Bevölkerung weiß wieder den Wert der Rentenversicherung
mehr zu schätzen. Nach der jüngsten Postbank-Studie
,Altersvorsorge in Deutschland 2010/2011’ bewerten
drei Viertel der Bevölkerung die Rentenversicherung als
eine ideale Form der Alterssicherung. Damit liegt die
Rentenversicherung weit vor allen anderen Systemen
der Alterssicherung.“
Angesichts dieser Feststellungen ist es umso verwunderlicher, dass die Linken in ihrem Antrag einen grundlegenden Kurswechsel in der Rentenpolitik und einen
Umbau der Deutschen Rentenversicherung fordern. Wir
wollen, dass die Rentensysteme und die Altersvorsorge
insgesamt armutsfest bleiben und Armut im Alter vermieden werden kann. Altersarmut ist ein wichtiges und
komplexes Thema, und deshalb ist es richtig, dass CDU/
CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag die Einsetzung einer Regierungskommission zur Vermeidung von
Altersarmut beschlossen haben.
Was aber nicht passieren darf, ist, dass man - wie es
die Linken tun - Altersarmut als Begründung dafür
nimmt, die deutsche Rentenversicherung zu einer Auszahlungsstelle für Pauschalrenten zu machen. Die gesetzliche Rente in Deutschland ist lohn- und beitragsbezogen. Darauf vertrauen auch die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die in die Rente einzahlen. Ebenso
kurzsichtig ist es, eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung zu fordern und die Stärkung der privaten
und der betrieblichen Altersvorsorge abzulehnen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und
FDP auch festgeschrieben: „Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch die veränderten wirtschaftlichen und demografischen Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigenden Altersarmut besteht. Deshalb
wollen wir, dass sich die private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der
Grundsicherung erhalten, das bedarfsabhängig und
steuerfinanziert ist.“
Unser Rentensystem basiert auf drei Säulen. Eine alleinige Sicherung des eigenen Lebensstandards im Alter
durch die gesetzliche Rente kann allein schon aufgrund
der demografischen Entwicklung und des Generationenvertrages nicht funktionieren. Der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, Dr. Herbert Rische,
schreibt dazu: „Die Lebensstandardsicherung bei Eintritt der Altersrente wie der Erwerbsminderung kann vor
dem Hintergrund der Entwicklung des Rentenniveaus
künftig im Regelfall nicht mehr allein durch die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung gewährleistet
werden, auch wenn die gesetzliche Rentenversicherung
die stärkste Säule der Sicherung bei Alter und Erwerbsminderung bleiben wird.“
Peter Weiß ({1})
Nach einer Prognose der Deutschen Rentenversicherung Bund wird sich die Bedeutung der einzelnen Teilsegmente im Drei-Säulen-System - gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und private
Altersvorsorge - in Zukunft immer mehr verlagern. Lag
der Anteil der gesetzlichen Rentenversicherung am gesamten Alterssicherungssystem 2005 noch bei 85 Prozent so wird er 2035 nur noch bei 65 Prozent, im Jahre
2050 sogar nur noch bei 56 Prozent liegen. Dementsprechend werden sich die Anteile der betrieblichen Altersvorsorge von im Jahre 2005 von 10 Prozent auf 24 Prozent für 2035 und sogar auf 31 Prozent für 2050 erhöhen. Bei der privaten Altersvorsorge liegen die Zahlen
bei 5 Prozent in 2005, 11 Prozent in 2035 und 13 Prozent in 2050.
Diese Entwicklungen zeigen, dass alle Säulen der Alterssicherung zur Lebensstandardsicherung und zur
Vermeidung von Altersarmut beitragen müssen. Deshalb
ist es auch richtig, dass die Bundesregierung private
und betriebliche Zusatzversorgung mit erheblichen Förderungen stützt, wie beispielsweise die Förderung mit finanziellen Zuschüssen - Riester-Zulagen -, die Förderung mit Extra-Steuerersparnissen - zusätzlicher
Sonderausgabenabzug - oder die Basis-Rürup-Rente.
Richtig ist auch, dass die gesetzliche Rente die wesentliche Säule der Alterssicherung ist und bleibt. Deshalb
gilt es, auch die gesetzliche Rentenversicherung zu stärken.
Ein besserer Schutz vor Altersarmut ist das zentrale
rentenpolitische Vorhaben dieser Koalition. Dazu brauchen wir aber keine Panikmache und keine unrealistischen Forderungen, sondern ein echtes Gesamtkonzept.
Ein solches zu erstellen und die Grundlage für weiteres
Handeln zu erarbeiten, ist Ziel der Regierungskommission zur Vermeidung von Altersarmut, die in den kommenden Wochen durch die Bundesregierung eingesetzt
wird.
Derzeit sind nur 2,3 Prozent der Rentnerinnen und
Rentner wegen zu geringer Alterseinkünfte auf zusätzliche staatliche Unterstützung angewiesen. 1957, vor der
Einführung der dynamischen Rente, waren über 70 Prozent der Seniorinnen und Senioren in Deutschland auf
zusätzliche staatliche Hilfen angewiesen. Auch dies
zeigt noch einmal, wie erfolgreich die gesetzliche Rentenversicherung zur Vermeidung von Altersarmut beigetragen hat. Wir wollen, dass das auch in Zukunft so
bleibt. Wir wollen, dass die gesamte Problematik von Altersarmut, Erwerbsminderung und Langzeitarbeitslosigkeit fachkundig, umfassend und mit Blick auf eine zukunftsfähige und bedarfsgerechte Lösung angegangen
wird. Denn nur so kann dieses ernsthafte und komplexe
Thema bewältigt werden.
CDU/CSU und FDP unterstützen das Vorhaben, eine
Regierungskommission einzusetzen. Nach Vorlage des
Berichts der Kommission werden wir als Parlament deren Vorschläge diskutieren und bewerten. Es liegt dann
an uns als Parlamentariern, welche Vorschläge wir aufgreifen und was wir als Gesetz beschließen. An dieser
klaren Aufgabenteilung zwischen einer Fachkommission
und der Verantwortung von uns Abgeordneten wollen
wir nichts ändern. Eine Verwischung oder Vermengung
von Verantwortlichkeiten, wie das die Linke beantragt,
lehnen wir ab.
Was die Zusammensetzung der neuen Regierungskommission anbelangt, hat die Bundesregierung bereits
mehrfach geäußert, dass die derzeitigen Planungen
auch vorsehen, im Rahmen der Beratungen auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzuhören und/
oder gegebenenfalls schriftliche Gutachten einzuholen
sowie betroffene Institutionen - zum Beispiel die Rentenversicherungsträger - und die Sozialpartner, Sozialverbände und Kirchen zu beteiligen. Es wäre auch nicht
sachgerecht, externen Sachverstand aus dem Bereich
der zusätzlichen Altersvorsorge von vornherein auszuschließen. Dies würde auch die Bedeutung der zusätzlichen betrieblichen und privaten Altersvorsorge für die
Alterssicherung insgesamt verkennen. Mögliche Probleme und Risiken müssen nicht nur innerhalb, sondern
auch außerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung genau analysiert werden - nur so können
tragfähige und passgenaue Lösungsansätze zur Vermeidung von Altersarmut insgesamt entwickelt werden.
Wir, die Koalitionsfraktionen, sind davon überzeugt,
dass die Regierungskommission wegweisende Empfehlungen zur Vermeidung von Altersarmut in der Zukunft
erarbeiten wird. Wir sind fest entschlossen, dazu im Parlament noch in dieser Legislaturperiode konkrete Gesetzesbeschlüsse zu fassen.
Heute debattieren wir zum wiederholten Male zur Altersarmut in Deutschland, weil die Linken mal wieder
einen Antrag eingereicht haben. Diese Fraktion wird
einfach nicht müde, ihre kommunistischen Forderungen
wieder und wieder vorzutragen. Aber dadurch werden
sie nicht besser. Und da Sie auch keine stichhaltigen Argumente anführen, werden Sie auch niemanden von Ihren leeren Worthülsen überzeugen.
Aber kommen wir zu Ihrem Antrag. Gut daran ist,
dass wir uns mit der Altersarmut beschäftigen. Dieses
Problem ist in unserer Gesellschaft vorhanden, und wir
müssen ihr heute begegnen, damit die Altersarmut in
den kommenden Jahren nicht ansteigen, sondern reduziert wird. Aus diesem Grund wird die Bundesregierung
eine Regierungskommission bilden und nicht eine Parlamentskommission. Hierzu werden dann Fachleute herangezogen, die diese Kommission beraten. Das Ziel der
Regierungskommission wird es sein, alle Rentensysteme
in der Bundesrepublik Deutschland in die Betrachtung
einzubeziehen. Dies betrifft auch die Riester-, Betriebsund Erwerbsminderungsrenten. Es wird einen Think
Tank geben - eine Diskussion ohne Tabus mit dem Ziel,
wirksame Maßnahmen gegen die Altersarmut zu finden.
Ich möchte an dieser Stelle sehr deutlich darauf hinweisen, dass die beste Absicherung gegen die Altersarmut auch schon die Berufstätigkeit ist. Wir haben die Arbeitslosigkeit auf ein Niveau gesenkt, wie es keiner
erwartet hatte, und dies trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir werden auch weiter dahin wirken, dass
die Arbeitsplätze in Deutschland gesichert und dass
Zu Protokoll gegebene Reden
neue Stellen geschaffen werden. Die von Ihnen so oft in
die Waagschale geworfene Forderung nach einem Mindestlohn wirkt sich da nur negativ aus, würde Arbeitsplätze vernichten und zu vermehrter Altersarmut führen.
Deshalb sprechen wir uns dagegen aus.
Ja, wir fordern von unseren Bürgerinnen und Bürgern, auch für die Alterssicherung einen privaten Beitrag zu leisten. Dies ist notwendig. Dafür vermeiden wir
aber eine drastische Erhöhung der Rentenbeiträge, die
sonst notwendig wäre. Mit der Einführung der RiesterRente ist ein Instrument geschaffen worden, mit dessen
Hilfe der Altersarmut begegnet werden kann. Dieses Instrument zu verunglimpfen ist nicht gerechtfertigt. Die
Zahlungen aus der Riester-Rente ergänzen die Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung sehr sinnvoll
und verringern im Wesentlichen die Gefahr der Altersarmut. Um dies zu gewährleisten, haben wir das Schonvermögen von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr
angehoben. Diese Verdreifachung führt dazu, dass ein
60-Jähriger bis zu 45 000 Euro für das Alter ansparen
darf. Das ist eine sinnvolle und effektive Vorsorge gegen
Altersarmut.
Es muss nicht alles staatlich reguliert werden, wie
das die Linken fordern. Die meisten Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sind durchaus selbst in der Lage, privat die zu erwartende Rente zu ergänzen. Ob dies über
Lebensversicherungen oder die eigene Immobilie ist,
sollen unsere Bürgerinnen und Bürger selbst entscheiden. Denjenigen, denen es nicht gelingt, ordentlich
selbst vorzusorgen, müssen wir die helfende Hand reichen. Aber die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger
sorgt lieber auf dem Sektor für die Altersvorsorge vor,
der ihm selbst am sichersten und profitabelsten erscheint. Lassen wir ihnen dieses Recht auf Selbstbestimmung.
Was Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
betreiben, ist doch ein Etikettenschwindel. Sie kennen
doch die demografische Entwicklung und wissen genau,
dass langfristig die Anzahl derer, die die Rente finanzieren, zurückgehen wird und die Anzahl der Rentner ansteigen wird. Wenn wir bei Ihren Forderungen bleiben,
würde der Rentenbeitrag ins Unermessliche steigen.
Deshalb haben wir den Nachhaltigkeits- sowie den
Riester-Faktor in den letzten Jahren bei der Berechnung
der Einkommen im Alter einbezogen. Wir wollen eine solide Sicherung der Einkommen im Alter und setzen auf
ein Splittung in gesetzliche Rentenversicherung und private Vorsorge.
Ob und wo es noch sinnvolle und bezahlbare Möglichkeiten zur Vermeidung der Altersarmut bei uns in
Deutschland gibt, wird jetzt von der Regierungskommission erarbeitet. Lassen wir ihr für diese wichtige Tätigkeit die Zeit, um gründlich zu recherchieren und sich mit
den Fachleuten aus allen Bereichen ausführlich zu beraten. Versuchen Sie, Ihr Strickmuster zu durchbrechen,
und vermeiden Sie eine polemische Debatte. Diskutieren
Sie mit uns die kommenden Vorschläge zum Nutzen unserer Bürgerinnen und Bürger und zur Vermeidung der
Altersarmut.
Mit dem vorliegenden Antrag erkundigt sich die
Fraktion Die Linke nach Aufgabe und Zusammensetzung der von der Bundesregierung angekündigten Altersarmutskommission.Die Linke kritisiert auch die fehlende Beteiligung des Parlaments an der geplanten
Einsetzung der regierungsinternen Kommission. Unseres Erachtens aber ist weniger die Zusammensetzung
der Kommission ein Problem als deren Aufgabenstellung. Angesichts der politischen Vorgaben im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP für deren Arbeit
ist für uns eine Beteiligung ohnehin nicht sinnvoll. Daher können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Weil wir
aber die zugrunde liegende Analyse für richtig halten,
enthalten wir uns der Stimme.
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP wurde
vereinbart, gegen Altersarmut vorzugehen; das ist erfreulich. Aber außer dieser Absichtserklärung wurde
bisher noch nichts geliefert.
Die Bundesregierung hat es offenbar nicht eilig. Im
April dieses Jahres soll die Kommission ihre Arbeit aufnehmen, der Abschlussbericht wird erst im September
2012 vorliegen. Die Regierungskoalition stellt sich ihrer
Verantwortung viel zu spät. Eine Umsetzung noch in dieser Legislaturperiode ist daher kaum zu erwarten.
Deutschland ist stabiler als andere Länder durch die
Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Allerdings
kommt die aktuell gute wirtschaftliche Lage den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in zu geringem Maß
zugute. Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte haben nach wie vor große Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. In atypischen Beschäftigungsverhältnissen
liegen die Stundenverdienste um ein Drittel niedriger.
Über 20 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten sind im Niedriglohnsektor beschäftigt.
Langzeitarbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung hinterlassen deutliche Spuren in den Erwerbsbiografien der Beschäftigten. Kräftige finanzielle Einbußen
bei der Altersversorgung sind die Folge.
Altersarmut wird in Zukunft vor allem im Osten zum
Problem. Berechnungen des DIW haben ergeben, dass
in der Alterskohorte der Jahrgänge 1952 bis 1971 jeder
dritte Mann - 31,4 Prozent - und fast jede zweite Frau
- 46,6 Prozent - einen Rentenzahlbetrag aus der gesetzlichen Rentenversicherung von unter 600 Euro erhalten,
also mit seinem Renteneinkommen unterhalb der Grundsicherung bleiben wird.
Von herausragender Bedeutung für die Vermeidung
von Altersarmut sind:
Erstens eine Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die dem Leitbild der „guten Arbeit“ verpflichtet ist.
Dazu gehören die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und die Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Dann können die Versicherten auch
wieder mit höheren Renten rechnen.
Zweitens - auch wenn der eigentliche Schlüssel zur
Bekämpfung von Altersarmut auf dem Arbeitsmarkt liegt
- muss sozialpolitisch flankierend eingegriffen werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Daher müssen wir bereits entstandene Absicherungslücken in der Rente schließen. Wir schlagen vor, die Rente
nach Mindestentgeltpunkten bis zum 1. Januar 2011
fortzuführen sowie Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit
innerhalb der Gesamtleistungsbewertung besser zu bewerten. Darüber hinaus stellt auch die Erwerbsminderung ein Risiko für Altersarmut dar. Dem müssen wir mit
besseren Erwerbsminderungsrenten begegnen.
Die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag sind kaum
dazu geeignet, Altersarmut zu bekämpfen. Die Leitmotive Ihrer Vereinbarungen zur Alterssicherung - privat
vor solidarisch und Almosen statt Leistungsgerechtigkeit - degradieren die gesetzliche Rente zum Nebenschauplatz der Alterssicherung. Dies lässt kaum positive
Erwartungen aufkommen.
Die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP
getroffenen Vorfestlegungen bestätigen, dass Sie - auf
Kosten der Versicherten - Konflikten innerhalb der Bundesregierung aus dem Weg gehen. Daher fehlt ein klares
Bekenntnis zur gesetzlichen Rente als erster und wichtigster Säule der Alterssicherung. Der Koalitionsvertrag
von CDU, CSU und FDP wirft mehr Fragen auf, als er
beantwortet:
Die private und betriebliche Altersvorsorge soll sich
auch für Geringverdiener lohnen. Entsprechende Freibeträge müssten dann aber auch für Einkünfte aus der
gesetzlichen Rente gelten.
Sie wollen die kapitalgedeckte Altersvorsorge stärken. Inwiefern sogenannte Soloselbstständige aber die
finanziellen Mittel für die zusätzliche Altersvorsorge
aufbringen können, ist fraglich. Tatsächlich ist die staatlich geförderte Altersvorsorge nur sinnvoll, wenn sie zusätzlich betrieben wird.
Geprüft wird, ob und wie die Absicherung gegen das
Erwerbsminderungsrisiko in der staatlich geförderten
Vorsorge kostenneutral verbessert werden kann. Das bedeutet wohl in der Konsequenz Leistungskürzungen.
Sie wollen diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, mit einer neuen Fürsorgeleistung vor Altersarmut bewahren. Ein neben der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
zusätzliches steuerfinanziertes System soll dafür sorgen,
dass ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung
erreicht wird. Damit schaffen Sie eine Grundsicherung
erster und zweiter Klasse.
Aus all diesen Vorgaben wird deutlich, in welch eng
gestecktem Rahmen Sie nach Lösungen suchen. Sie
scheuen davor zurück, den Bürgerinnen und Bürgern zu
erklären, was Sie mit Ihren Vorgaben bezwecken - vermutlich haben Sie Angst vor der öffentlichen Diskussion.
Sie übertragen Ihre Arbeitsmarktpolitik konsequent auf
die Alterssicherung. Wer einen gesetzlichen Mindestlohn verweigert und einen immer weiter wachsenden
Niedriglohnsektor akzeptiert, dem fällt auch bei der Alterssicherung nur die Fürsorge ein: hier prekäre Beschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit, dort Alterseinkommen als Almosen.
Bisher waren individuelle Lebensleistung und verantwortungsvolle Alterssicherungspolitik verantwortlich
dafür, dass ältere Menschen in Deutschland heute in der
Mehrzahl finanziell gut abgesichert sind. Wir wollen,
dass dies so bleibt. Und wie wir seit dem 23. CDU-Parteitag wissen: Die Parteibasis der CDU sorgt sich ebenfalls um die Zukunft der Alterssicherung. Eine Fülle von
konkreten Maßnahmen wurde hier vorgeschlagen, die
die Regierungskommission in ihre Überlegungen mit
aufnehmen soll, um zukünftige Altersarmut wirksam zu
bekämpfen. Greifen Sie diese Vorschläge auf und gestalten den Auftrag der Kommission offener. Im Übrigen:
Wenn Sie hinter den Vorschlägen des CDU-Parteitags
stünden, hätten Sie unserem Antrag zur Bekämpfung der
Altersarmut im vergangenen Herbst getrost zustimmen
können.
Jede Alterssicherungspolitik muss an Legitimationsgrenzen stoßen, wenn selbst jahrzehntelange Beitragszahlung nicht mehr zu einer Altersversorgung oberhalb
der Armutsgrenze führt. Unser Anliegen ist es, Menschen zu ermöglichen, von ihrer Arbeit auch zu leben
und zugleich für das Alter vorzusorgen. Die Schließung
von Lücken in der Erwerbsbiografie und eine faire Entlohnung sind Voraussetzungen für eine angemessene finanzielle Absicherung im Alter. Zusätzlich müssen wir
dem Wandel der Arbeitswelt Rechnung tragen und die
gesetzliche Rentenversicherung zur Erwerbstätigenversicherung ausbauen; denn Altersarmut findet sich vor
allem dort, wo keine Anwartschaften aus der gesetzlichen Rente vorhanden sind.
Die Vermeidung von Armut ist eine zentrale Aufgabe
der Politik. Wir wissen, dass es für ältere Menschen spezielle und in Zukunft steigende Risiken gibt. Deshalb
wird die Bundesregierung in den nächsten Wochen eine
Regierungskommission einsetzen, die sich mit dieser
wichtigen Materie fundiert auseinandersetzen wird.
Eine Ausweitung des Auftrages und der Zusammensetzung dieser Kommission im Sinne der Fraktion der Linken lehnen wir ab.
Der Ansatz der Linken ist kurativ nachsorgend. Unser
Ansatz ist präventiv. Und genau das halte ich nicht nur
für den liberalen Ansatz, sondern auch für die einzige
realistische Lösung dieses wachsenden Problems: Jedem Bürger die Chance zu geben, seine eigene Altersversorgung auf eine ausreichende und ihm als geeignet
erscheinende Basis zu stellen.
Einen wichtigen Schritt haben wir schon zu Beginn
dieser Wahlperiode gemacht, nämlich den Freibetrag
beim Schonvermögen im SGB II, der verbindlich der Altersvorsorge dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr verdreifacht. Eigenständige Altersvorsorge darf nicht bestraft
werden - schon gar nicht, wenn jemand auf das Arbeitslosengeld II angewiesen ist.
Die aktuelle Situation ist undramatisch. Nur etwa
2,5 Prozent der über 64-Jährigen sind auf Leistungen
der Grundsicherung angewiesen. Die Statistiken besagen auch, dass geringe Renten durchaus häufig mit anderen Einkommen oder Vermögen zusammentreffen. DaZu Protokoll gegebene Reden
von lassen wir uns nicht täuschen. Die geringe Zahl
Betroffener mildert für den Einzelnen nicht die Tragik
seiner Situation. Diejenigen, deren politisches Geschäft
in der Dramatisierung und Beschwörung sozialer Missstände besteht, dürfen sich und die Öffentlichkeit aber
eben auch nicht täuschen. Kleine Renten bedeuten keineswegs automatisch Armut. Die nötigen Korrekturen
auf das staatliche Rentensystem zu beschränken geht an
der Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland
vorbei.
Ich behaupte nicht, dass eine geringe Rente unproblematisch wäre, aber der reduzierte Blick auf Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung greift
zu kurz. In einer Anhörung ist uns gesagt worden, dass
die Bezieher geringer gesetzlicher Renten statistisch ein
deutlich höheres Haushaltseinkommen haben als die Bezieher mittlerer Renten.
Zur Feststellung von Altersarmut müssen neben dem
regelmäßigen Einkommen auch das Vermögen und andere Einkommensarten berücksichtigt werden. Das bestätigen ausdrücklich die Gutachter. Auch der Alterssicherungsbericht 2008 wies aus, dass Rentner mit
weniger als 250 Euro gesetzlicher Rente im Schnitt ein
Gesamteinkommen von fast 1 400 Euro im Monat hatten.
Die Altersarmutskommission wird unter anderen zwei
Fragen zu beantworten haben: Wie können wir befördern, dass sich private und betriebliche Altersvorsorge
auch für Geringverdiener lohnt? Und wie sichern wir allen, die langjährig Vollzeit gearbeitet haben, ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung, ohne an anderen Stellen Ungerechtigkeiten zu schaffen?
Ich habe mir noch einmal die vorliegenden Initiativen
der Oppositionsparteien angeschaut. Das ist alles nicht
kreativ. Nach einleitenden Sätzen mit den üblichen sozial klingenden Floskeln folgt der altbekannte Apparat
linker Forderungen. Unter anderem behaupten sie auch,
die Einführung von Mindestlöhnen helfe bei der Vermeidung von Altersarmut. Das ist nicht durchdacht und
führt zum Gegenteil von Armutsbekämpfung, wenn in
der Folge Arbeitsplätze verschwinden.
Ein Diskussionspunkt, den die Opposition taktisch
sehr hoch aufhängt, ist die Zahlung der RV-Beiträge für
erwerbsfähige ALG-II-Bezieher. Ich verstehe den prinzipiellen Ansatz, dass der Träger einer den Lebensunterhalt sichernden Sozialleistung in der Regel auch die Beiträge zu anderen Sozialversicherungen abdecken soll.
Wäre das ein heiliger Grundsatz, hätte die Große Koalition den ersten Sündenfall begangen. Ich teile aber nicht
die Theorie, dass ein RV-Beitrag von 2,09 Euro pro Jahr
der Arbeitslosigkeit Altersarmut vermeiden kann.
Der heute zu behandelnde Antrag hat zum Inhalt, der
Bundesregierung Vorgaben sowohl dazu zu machen, wie
sich die Regierungskommission zusammenzusetzen hat,
als auch dazu, welche Inhalte dort beraten werden sollen. In Wirklichkeit geben Sie der Kommission die von
Ihnen gewünschten Ergebnisse vor. Expertenmeinungen,
die nicht in das linke Weltbild passen, werden als böse
Klientelinteressen bezeichnet. Allen Bundesregierungen
der letzten Jahre wird nachgesagt, nur auf die Interessen
der Banken- und Versicherungswirtschaft zu hören. Ich
weise das zurück. Ihre Antragsbegründung ist unsachlich und böswillig.
Auch die Strapazierung des Begriffes „Solidarität“
muss kommentiert werden. Ihre „Solidarität“ bedeutet
neben massiven Steuererhöhungen für Facharbeiter,
mittlere Beamte und kleine Selbstständige auch Beitragserhöhungen, in diesem Fall der Rentenversicherung.
Das erwähnen Sie im Antrag nicht. Aber es ist klar und
anderswo auch nachlesbar. Die Realisierung Ihrer Ideen
erzwingt höhere Beiträge. Allein für die Rentenversicherung hat Ihr Vorsitzender Klaus Ernst im November mal
eben 0,5 Prozent höhere Beiträge für akzeptabel erklärt.
Dieser Tage bezeichnete Herr Kollege Birkwald ein Prozent höhere Beiträge als unproblematisch. SPD und
Linke fordern in unterschiedlicher Ausprägung unbefristete Aufwertungen der Rentenanwartschaften von
Geringverdienern. Damit durchbrechen Sie das Prinzip
der Äquivalenz. Das heißt, Sie schaffen echte Ungerechtigkeiten, ohne wesentliche Beiträge zur Armutsvermeidung bewirken zu können.
Ich komme zum Ausgangsgedanken zurück. Was gegen Altersarmut hilft, sind stabile Erwerbsbiografien
und sichere Einkommen. Eine gute wirtschaftliche Entwicklung, die sich entsprechend auf dem Arbeitsmarkt
niederschlägt, bewirkt mehr als noch so gut gemeinte
nachträgliche Korrekturen.
Altersarmut ist bereits heute ein Problem. Seit die
„Grundsicherung im Alter“ in Kraft getreten ist, ist die
Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die auf sie angewiesen sind, um über 55 Prozent gestiegen. Im Jahr 2003
gab es knapp 260 000 Betroffene, Ende 2009 waren es
schon fast 400 000. Bereits heute sind 15 Prozent der
Menschen über 65 Jahre in Deutschland armutsgefährdet - beinahe genauso viele wie im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Armut im Alter ist aufgrund des fortgeschrittenen Lebensalters und begrenzter Möglichkeiten,
an dieser Situation noch etwas zu ändern, in der Regel
verfestigte Armut. Das Problem ist seit langem bekannt.
Ebenso bekannt ist, dass in Zukunft mit einer rasant steigenden Altersarmut - insbesondere in Ostdeutschland zu rechnen ist.
Deswegen ist der Plan der Bundesregierung, eine Altersarmutskommission einzusetzen, die Vorschläge zur
Bekämpfung der Altersarmut entwickeln soll, nicht
falsch. Doch ihre Zielsetzung bleibt diffus, und die geplante Beteiligung von Lobbyisten aus der Versicherungswirtschaft verheißt nichts Gutes. Zudem wird die
Kommission zu spät eingesetzt, und die Verzögerung des
Abschlussberichts bis September 2012 lässt befürchten,
dass tatsächlich wirksame Maßnahmen letztlich doch
wieder unter den Kabinettstisch fallen werden.
Altersarmut ist politisch gemacht. Langzeiterwerbslosigkeit, die Ausbreitung von Niedriglohnbeschäftigung
und die von der rot-grünen Bundesregierung beschlossene und von späteren Regierungskoalitionen fortgesetzte langfristige Absenkung des Rentenniveaus führen
dazu, dass viele Beschäftigte keine armutsfesten Renten
Zu Protokoll gegebene Reden
aus der gesetzlichen Rentenversicherung mehr erhalten
und auf die unzureichende „Grundsicherung im Alter“
angewiesen sind. Die Versicherten im Osten stehen in einer besonderen Gefahr, künftig im Alter in Armut zu leben. Frauen sind, waren und werden auch in Zukunft
weiter stark von Altersarmut betroffen sein. Erwerbsgeminderte werden ebenfalls sehr häufig Renten unterhalb
des Existenzminimums beziehen.
Die bisher bekannte Zielsetzung geht in die falsche
Richtung. Denn statt zu prüfen, wie die gesetzliche Rentenversicherung so reformiert werden kann, dass sie den
Lebensstandard im Alter wieder sichert und langjährigen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern ein Rentenniveau bietet, das deutlich über dem Niveau der
„Grundsicherung im Alter“ liegt, will sie die private
und betriebliche Altersvorsorge weiter stärken. Wer hier
nicht mitziehen kann, wer keine Mittel für eine private
Vorsorge aufzubringen vermag, wird mit einer stigmatisierenden Fürsorgeleistung abgespeist. Stattdessen will
die Linke ein Leben in Würde für alle statt nur für einige.
Die Linke stellt deshalb klare Anforderungen an eine
sinnvolle Kommissionsarbeit. Wir wollen das Verfahren
beschleunigen und das Thema Altersarmut aus den ministeriellen Hinterzimmern herausholen. Deshalb muss
die Kommission demokratisch zusammengesetzt sein:
Gewerkschaften, Arbeitgeber- und Sozialverbände, Seniorenorganisationen und Wissenschaft sowie alle Parteien des Deutschen Bundestages müssen beteiligt werden. Lobbyisten der Versicherungswirtschaft darf keine
weitere Einflussmöglichkeit gegeben werden.
Wir wollen Klarheit in der Analyse: Die politischen
Ursachen von Altersarmut müssen benannt werden - insbesondere die verfehlte Rentenpolitik durch den Paradigmenwechsel seit 2001, mit dem das Ziel der Lebensstandardsicherung mit der gesetzlichen Rente aufgegeben
worden ist und die Privatisierung der Alterssicherung
ebenso eingeführt wurde wie eine nach wie vor stigmatisierende und unzureichende „Grundsicherung im Alter“. Ein besonderes Augenmerk muss auf die Situation
von Frauen und auf die Menschen in Ostdeutschland gelegt werden.
Wir formulieren ein klares Ziel: Wir wollen Lebensstandardsicherung und Altersarmutsvermeidung durch
Reformen der gesetzlichen Rente und des Arbeitsmarktes erreichen. Die Kommissionsarbeit muss dem Dreiklang „gute Löhne, gute Arbeit, gute Rente“ folgen.
Dazu gehören unweigerlich die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns sowie ein energischer Ausbau der Konzepte zur Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Die Kommission muss darüber hinaus das Konzept einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung ebenso prüfen wie innerhalb dieses Konzepts
anzulegende Elemente der Mindestsicherung. Gerade
für Ostdeutschland muss endlich ein Konzept entwickelt
werden, mit dem die Renten in Ostdeutschland möglichst
schnell auf das Westniveau angehoben werden können.
Ich begrüße, dass die Bundesregierung mit der Einberufung der Altersarmutskommission das Problem der
Altersarmut anerkennt. Das ist ein notwendiger Schritt,
um endlich auch zu einer Diskussion über Maßnahmen
gegen Altersarmut zu kommen.
Ich begrüße, dass die Bundesregierung mit der Kommission das Problem der Altersarmut endlich anerkennt,
auch wenn einige aus den Regierungsfraktionen das
Problem offenbar immer noch kleinreden.
Ich begrüße, dass die Bundesregierung eine Altersarmutskommission einsetzt, auch wenn ich Zweifel habe,
wie ernst die Bundesregierung ihr Engagement auf diesem Gebiet meint. Ich darf nur daran erinnern, dass dieselbe Bundesregierung gerade im letzten Jahr beschlossen hat, die Rentenbeiträge für Arbeitslosengeld-IIBeziehende zu streichen. Das wird unweigerlich zu mehr
Altersarmut führen.
Und ich muss auch daran erinnern, wie die Bundesregierung derzeit agiert bezüglich der EU-2020-Strategie
zur Reduzierung der Armut. Die Bundesregierung ist offenbar nicht bereit, ihren fairen Anteil an dem anvisierten Ziel einer Reduzierung der Armut in Europa um 20
Millionen zu leisten.
Dies alles lässt mich zweifeln, wie ernst der Bundesregierung ihr Engagement gegen Altersarmut ist.
Ich bekomme allerdings auch Zweifel, wenn ich den
Antrag der Fraktion Die Linke lese, den wir heute verhandeln. Was mich stutzen lässt, ist, dass die in dem Antrag zuerst genannte Forderung die nach einem
Vorschlag der Kommission für die Lebensstandardsicherung ist. Ich finde das bemerkenswert, wo es bei der
Kommission doch explizit um die Bekämpfung der Altersarmut gehen soll. Eine Rentenpolitik, die sich dem
Ziel der Lebensstandardsicherung verschreibt, kann für
einen Teil der Rentner eine Antwort auf die drohende Altersarmut sein. Klar ist aber auch, dass bei einer solchen Strategie viele herausfallen und im Alter arm sein
werden. Ich möchte das nicht zu hoch bewerten - und
die Linkspartei nennt in ihrem Antrag auch anderes -,
aber stutzen lässt mich diese Rangfolge doch.
Altersarmut ist ein Problem, und wir müssen endlich
auch handeln. Derzeit sind 2 Millionen ältere Menschen
in Deutschland arm. Es ist zwar richtig, dass die Armut
bei Kindern höher ist. Und es ist sicher auch richtig,
dass die empörende Kinderarmut uns als Gesellschaft
vor eine noch dringlichere Aufgabe stellt. Aber ich
warne davor, das Problem der Altersarmut kleinzureden
oder die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen.
Armut im Alter ist anders als in anderen Lebensphasen. Altersarmut ist verfestigte Armut. Ältere, die arm
sind, haben in der Regel keine Chance mehr, die Armut
zu überwinden. Das unterscheidet sie grundlegend von
allen anderen Altersgruppen. Altersarmut ist dauerhafte, unbefristete, ja für die Betroffenen lebenslängliche Armut. Ich bin überzeugt davon, dass die älteren
Menschen, die arm sind, in ihrem Leben auf die eine
oder andere Weise einen Beitrag zu unserer Gesellschaft
geleistet haben. Manche haben Kinder erzogen, andere
haben Angehörige gepflegt, wieder andere haben sich
politisch oder sozial engagiert. Manche haben lange
Jahre für wenig Geld gearbeitet. Manche haben jahrelang erfolglos versucht, wieder eine Arbeit zu finden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dadurch entstehen Lücken in den Rentenbiografien, und
ich finde es empörend, dass die Leistungen dieser Menschen nicht anerkannt werden und hingenommen wird,
dass sie im Alter in Armut leben müssen.
Bezüglich der nächsten Jahre erwartet uns nach allen
Prognosen ein deutlicher, ein überproportionaler Anstieg der Altersarmut.
Gerade heute ist die neue Studie der OECD „Renten
auf einen Blick“ erschienen. Darin ist nachzulesen, dass
Deutschland bei der Absicherung der zukünftigen Rentner mit niedrigem Einkommen im internationalen Vergleich äußerst schlecht dasteht. In der EU bildet
Deutschland das Schlusslicht. Unter den OECD-Ländern sichert nur Japan die derzeitigen Niedrigverdiener
schlechter ab. Damit schneidet Deutschland zum Beispiel auch schlechter ab als Mexiko und Polen. Altersarmut in Deutschland ist vorprogrammiert.
Und dabei ist bei der Projektion der OECD noch
nicht einmal berücksichtigt, dass die Versicherungsbiografien in den letzten Dekaden immer lückenhafter geworden sind: immer mehr unterbrochene Erwerbsbiografien, immer mehr Langzeitarbeitslosigkeit, immer
mehr Teilzeiterwerbstätige, immer mehr Soloselbstständige, immer mehr in der Leiharbeit Beschäftigte, immer
mehr im Niedriglohnsektor Beschäftigte.
Diese Erwerbsbiografien lassen sich nicht mehr retten. Diese Erwerbsbiografien lassen sich auch nicht
mehr retten durch eine wie auch immer geartete Wirtschafts- oder Arbeitsmarktpolitik. Die Rentenbiografien
der letzten Dekaden sind nämlich schon geschrieben.
Und die Massenarbeitslosigkeit der letzten Jahrzehnte
hat sich in die Rentenbiografien eingeschrieben. Das ist
nicht mehr zu ändern. Zu ändern ist aber, ob dies zu Altersarmut führt. Und wenn die Kommission der Bundesregierung dafür Konzepte vorlegt, begrüße ich das ausdrücklich.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4926,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4422 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen; dagegen hat die Linke
gestimmt, und enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die SPD-Fraktion.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Europäische-Betriebsräte-Gesetzes - Umsetzung der Richtlinie 2009/38/EG
über Europäische Betriebsräte ({0})
- Drucksache 17/4808 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-
den zu Protokoll zu nehmen. Johann Wadephul, Josip
Juratovic, Heinrich Kolb, Jutta Krellmann, Beate
Müller-Gemmeke und Parlamentarischer Staatssekretär
Brauksiepe sind die Rednerinnen und Redner.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/4808 vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs,
Volker Beck ({3}), Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weitere iranische Flüchtlinge aus der Türkei
in Deutschland aufnehmen
- Drucksachen 17/2439, 17/4087 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe ({4})
Hartfrid Wolff ({5})
Josef Philip Winkler
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden. Es handelt sich um die Reden von Helmut
Brandt, Daniela Kolbe, Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und
Tom Koenigs.2)
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4087, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2439
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen; die Oppositionsfraktionen haben
dagegen gestimmt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in
Europa und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 17/4978 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
1) Anlage 12
2) Anlage 13
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wie in der Tagesordnung steht, sollen die Reden zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Wadephul, Lehrieder,
Schaaf, Molitor, Birkwald und Müller-Gemmeke.
Die Europäische Union hat im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bereits einen ganzen Sockel verbindlicher
Mindeststandards im Arbeits- und Gesundheitsschutz
sowie im Arbeitsrecht verabschiedet. Diese Standards
gelten für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
der EU gleichermaßen. Die Mitgliedstaaten können natürlich darüber hinausgehen. Aber 20 Tage Jahresurlaub, Grundlagen für den Kündigungsschutz und gewisse Arbeitszeitregelungen sind immer schon Teil der
Verträge. Die Europäische Union hat auch Regeln für
die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Mitwirkung
der Sozialpartner geschaffen. Der Europäische Betriebsrat gehört ebenso dazu wie der „soziale Dialog“.
Bereits mit der Lissabon-Strategie - also mit der Strategie, in der es darum geht, Europa zu einem wirtschaftskräftigen und dynamischen Kontinent zu machen,
wobei der Anspruch sogar lautet, ihn zum dynamischsten Kontinent weltweit zu machen - haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Beschäftigungs- und Sozialpolitiken besser zu koordinieren. Um mehr und
bessere Arbeitsplätze in Europa zu schaffen, arbeiten die
Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft seit langem an einer koordinierten Beschäftigungsstrategie und stimmen
ihre Beschäftigungspolitik aufeinander ab. Diese Koordinierung hat über die Lissabon-Strategie ein ganz starkes Momentum bekommen. Kernstück dieses Prozesses
sind die beschäftigungspolitischen Leitlinien als wesentlicher Bestandteil der EU-2020-Strategie, die die Lissabon-Strategie abgelöst hat. Wir können also festhalten:
Es gibt durchaus einen Sockel sozialer Standards, Regeln für die Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Regeln für die Koordinierung der sozialen
Sicherheit, finanzielle Hilfen zur Unterstützung der sozialen Kohäsion und europäische Ziele im Bereich der Koordinierung der Beschäftigungs- und Sozialpolitiken.
Wie weit aber soll ein soziales Europa auch aus sozialen Regelungen auf der europäischen Ebene bestehen?
Sozialer Zusammenhalt im Rahmen der Globalisierung
und soziale Sicherheit in Europa sind elementare Herausforderungen, auf die wir nach der globalen Finanzund Wirtschaftskrise in Europa kurz- und mittelfristig
Antworten finden müssen, um Europa für die nächsten
zehn Jahre zukunftsfähig aufzustellen. Wie erhalten und
entwickeln wir unser europäisches Sozialstaatsmodell
unter den Bedingungen der Globalisierung? Wie weit
soll ein soziales Europa auch aus sozialen Regelungen
auf der europäischen Ebene bestehen?
Nach meiner Überzeugung geht es bei der Ausgestaltung der sozialen Dimension nicht in allen Fragen um
eine Verlagerung der Kompetenz von der nationalen auf
die europäische Ebene, also auf die Ebene der Kommission. Viele soziale Regelungen auf der nationalen Ebene
sollten bestehen bleiben, auch wegen der in ihrem Aufbau und in ihrem Gewachsensein sehr unterschiedlichen
Strukturen der Sozialsysteme. Wir brauchen aber angesichts gewachsener Mobilität immer wieder neue Mindeststandards. Dies zeigt sich beispielsweise bei dem
Problem der Portabilität betrieblicher Renten und Pensionen. Dies ist ein wichtiger Punkt, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bestimmte Grundrechte überhaupt zu ermöglichen.
Der Koordinierung der sozialen Sicherung in den
Mitgliedstaaten kommt dabei eine erhebliche Bedeutung
zu. Die soziale Sicherung in der Europäischen Union ist
in den Verordnungen ({0}) Nr. 883/2004 und Nr. 987/
2009 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit geregelt. Ziel dieser Verordnungen ist es, die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten zu koordinieren, damit niemand, der von seinem Recht auf Freizügigkeit in
der Europäischen Union Gebrauch macht, hierdurch
unangemessene sozialrechtliche Nachteile hat. Diese
Verordnungen sind ein wichtiges Beispiel für ein Handlungsfeld der europäischen Sozialpolitik. Denn nur
durch verbindliche Regelungen auf europäischer Ebene
kann sichergestellt werden, dass das Recht auf Freizügigkeit - eine der großen europäischen Grundfreiheiten im Hinblick auf die soziale Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Selbst-ständigen
bei ihren erworbenen Anwartschaften angemessen flankiert wird.
Zahlreiche Zuständigkeitsfragen wurden nicht mehr
in den Anhängen der Durchführungsverordnung geregelt, sondern sollen in eine öffentlich zugängliche Datenbank eingetragen werden. Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit sollen entsprechende
Aufgabenzuweisungen durch innerstaatliche Regelungen vorgenommen werden. Auch bedingt die Ablösung
der bisherigen Verordnungen entsprechende Änderungen im Sozialgesetzbuch und anderen Gesetzen sowie
der darin enthaltenen Verweisungen.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa regelt diese verwaltungsmäßige
Durchführung der neuen Verordnungen ({1}) Nr. 883/
2004 und Nr. 987/2009 zur Koordinierung der Systeme
der sozialen Sicherheit in Europa. Insbesondere werden
damit künftig pflichtversicherte Rentner auch mit ihrer
ausländischen Rente zur Beitragszahlung herangezogen. Im Fall von Entsendungen werden dabei die Beschäftigungsländer durch den Spitzenverband Bund und
Krankenkassen oder die Deutsche Verbindungsstelle
Krankenversicherung benachrichtigt. Mit diesen Maßnahmen wird dem Grundsatz der Gleichstellung von
Leistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissen
im Bereich der Krankenversicherung von Rentnern entsprochen. Wesentlicher Zweck des Gesetzentwurfes ist
die Feststellung der zuständigen Behörden, Träger sowie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der Anwendung und Durchführung der EU-Verordnungen.
Verbindungsstelle für den europaweiten Datenaustausch berufsständischer Versorgungseinrichtungen soll
die Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versorgungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwaltungshilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschreitenZu Protokoll gegebene Reden
den Sachverhalten koordinieren. Des Weiteren sind eine
Verbindungsstelle für Familienleistungen sowie eine
Koordinierungsstelle für die Systeme der Beamtenversorgung vorgesehen. Insgesamt sollen fünf Zugangsstellen als Kontaktstellen für grenzüberschreitenden Datenaustausch geschaffen werden, die alle in der EUVerordnung Nr. 883/2004 geregelten Bereiche abdecken.
Im Gesetz sind auch Anpassungen des Dritten, Sechsten,
Siebten und Elften Buches Sozialgesetzbuch sowie des
Gesetzes über die Altersversicherung der Landwirte vermerkt, die sich aus der Umsetzung der EU-Verordnungen ergeben.
Finanziell wird es nach Aussagen der Regierung zu
geringfügigen Mehreinnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung
kommen. Durch den elektronischen Datenaustausch und
die Betreuung der Zugangsstellen rechnet die Bundesregierung mit erhöhten Kosten der entsprechenden Leistungsträger und Verbindungsstellen. Diese belaufen sich
für die Jahre 2011 und 2012 auf 2 bis 3 Millionen Euro,
in den Folgejahren auf ungefähr 1 Million Euro.
Erfreulich ist, dass für die Wirtschaft, besonders für
kleinere und mittlere Unternehmen, durch die neu eingeführten Informationspflichten keine zusätzlichen Kosten
erwartet werden. Für die Bürgerinnen und Bürger werden durch das Gesetz keine Informationspflichten neu
eingeführt, geändert oder aufgehoben.
So wie sich Europa also nach außen neu ausrichtet,
so muss es das auch nach innen schaffen. Denn die Sicherung unseres Wohlstandes, Wachstum, Beschäftigung
und soziale Sicherheit - kurz: die Erhaltung und Entwicklung unseres europäischen Sozialstaatsmodells, und
zwar unter den Bedingungen der Globalisierung -, ist
das, was die Bürger von Europa und von ihren Regierungen erwarten. Mit der EU-2020-Strategie wollen wir
die Europäische Union zu einem Wirtschaftsraum machen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum
mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.
Die Europäische Union garantiert ihren Mitgliedern
seit vielen Jahrzehnten Stabilität und Wohlstand. Sie ist
kein Gut, auf dem wir uns ausruhen sollten. Das hat die
jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise mehr als deutlichgemacht.
Die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen
Rahmenbedingungen Europas sind einem ständigen
Prozess der Veränderung, Verwerfung und Neuorientierung unterworfen. Daher sind wir gehalten, die Europäische Union ständig fortzuentwickeln. Die EU ist ein organisches Ganzes. Unsere Nationalstaaten sind nicht
allein auf sich zurückgeworfen. Die Entwicklungen in
einem Staat können beeinflussen, was im Nachbarland
geschieht. So werden wir noch in diesem Jahr erleben,
dass sich die Bürgerinnen und Bürger der neuen EUMitglieder uneingeschränkt auf unserem Arbeitsmarkt
bewerben können. Auch unsere Sozialsysteme stehen vor
besonderen Herausforderungen.
In diesem Zusammenhang ist die EU-Verordnung zur
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu
sehen, die die Bundesregierung mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf umsetzen will.
Demnach sollen pflichtversicherte Rentner künftig
auch mit ihrer ausländischen Rente zur Beitragsfinanzierung ihrer Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen werden. Nach Art. 30 der EG-Verordnung Nr.
987/2009 darf der Betrag an Beiträgen im Ergebnis
keinesfalls den Betrag übersteigen, der bei einer Person
erhoben wird, die denselben Betrag an Renten im
zuständigen Mitgliedstaat erhält. Ausländische Rentenversicherungsträger können darüber hinaus nicht verpflichtet werden, wie die deutschen Rentenversicherungsträger die Hälfte der nach der Rente zu bemessenden
Beiträge nach dem um 0,9 Beitragspunkte verminderten
allgemeinen Beitragssatz zu tragen. Deshalb wird die
Beitragsregelung so ausgestaltet, dass Bezieher einer
ausländischen Rente im Ergebnis nicht stärker belastet
werden als Bezieher einer gleich hohen inländischen
Rente.
Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherte
Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein
mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinne
von § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenversicherung der Rentner, nicht aber mit ausländischen
Renten, die den Renten der gesetzlichen Rentenversicherung im Sinne von § 228 SGB V vergleichbar sind,
weil dort eine § 229 Abs. 1 Satz 2 SGB V entsprechende
Regelung fehlt. Bei pflichtversicherten Rentenbeziehern,
die sowohl eine deutsche als auch eine ausländische
Rente beziehen, wird deshalb lediglich die deutsche
Rente zur Berechnung der Beiträge zu ihrer Krankenversicherung herangezogen.
Nach der neuen Regelung werden Beschäftigungsländer entweder durch den Spitzenverband Bund der Krankenkassen oder die Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung im Fall von Entsendungen benachrichtigt.
Unter anderem Deutschland hat den Antrag gestellt, in
jedem Einzelfall über Entsendungen in unser Land informiert zu werden. Sobald der Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten auf elektronischem Weg erfolgt, sollen die entsprechenden Mitteilungen über den
Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Deutsche
Verbindungsstelle Krankenversicherung - Ausland, geleitet werden. Soweit Entsendungen in einen anderen
Mitgliedstaat stattfinden, sollen die Daten von dem
GKV-Spitzenverband, DVKA, zentral gespeichert werden, um sie gegebenenfalls den Trägern des Beschäftigungslandes auf Nachfrage unverzüglich zur Verfügung
stellen zu können.
Mit diesen Maßnahmen wird dem Grundsatz der
Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissen im Bereich der Krankenversicherung von Rentnern entsprochen.
Eine weitere wichtige Änderung betrifft § 4 des
SGB VI, auch weiterhin allen Staatsangehörigen derjenigen Staaten, in denen die Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit anwendbar
sind, bei Beschäftigung für eine begrenzte Zeit im AusZu Protokoll gegebene Reden
land die Versicherungspflicht auf Antrag zu ermöglichen. Die neue Regelung gilt für Mitglieder einer amtlichen Vertretung des Bundes und der Länder sowie für
die bei ihnen Beschäftigten, soweit sie nicht bereits aufgrund einer Entsendung nach § 4 SGB IV oder aufgrund
zwischen- oder überstaatlichen Rechts der deutschen
Sozialversicherung unterliegen. Sie ist deshalb insbesondere für Ortskräfte in den Fällen von Bedeutung, in
denen die Vorschriften über die soziale Sicherheit im Beschäftigungsstaat keine ausreichende Absicherung gewährleisten oder in denen eine Rückkehr nach Deutschland von Beginn an beabsichtigt ist. Andererseits soll
durch das flexible Instrument der Antragspflichtversicherung auch vermieden werden können, dass es zu unnötigen Doppelversicherungen kommt.
Zahlreiche Zuständigkeitsfragen werden zudem nicht
mehr in den Anhängen der Durchführungsverordnung,
sondern dadurch geregelt, dass sie in eine öffentlich zugängliche Datenbank eingetragen werden. Deshalb sind
Konkretisierungen im nationalen Recht erforderlich.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung verfolgt daher im Wesentlichen den Zweck, zuständige Behörden,
Träger sowie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der
Anwendung und Durchführung der EU-Verordnungen
festzustellen. Verbindungsstelle für den europaweiten
Datenaustausch berufsständischer Versorgungseinrichtungen soll die Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer
Versorgungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwaltungshilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten koordinieren.
Außerdem sind eine Verbindungsstelle für Familienleistungen sowie eine Koordinierungsstelle für die Systeme der Beamtenversorgung vorgesehen. Insgesamt
sollen fünf Zugangsstellen als Kontaktstellen für grenzüberschreitenden Datenaustausch geschaffen werden, die
alle in der EU-Verordnung Nr. 883/2004 geregelten Bereiche abdecken.
Zwar wird davon ausgegangen, dass sich die Mehrkosten insgesamt in den Jahren 2011 und 2012, also den
Jahren der Entwicklung und Einführung der neuen technischen Verfahren, auf rund 2 bis 3 Millionen Euro und
in den Folgejahren auf circa 1 Million Euro belaufen
werden. Durch die neuen Verfahren werden auf der anderen Seite aber auch Effizienzzuwächse erzielt, die sich
aus der in der EG-Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehenen engeren Zusammenarbeit zwischen den inländischen und ausländischen Trägern und Verbindungsstellen bei der Koordinierung der jeweiligen Systeme
der sozialen Sicherheit ergeben. Außerdem wird sich
durch das im Aufbau befindliche europäische Datenaustauschverfahren im Bereich der sozialen Sicherheit der
Verwaltungsaufwand für die Führung der Datei in den
kommenden Jahren sukzessiv in erheblichem Umfang
vermindern.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger
Schritt hin zur Angleichung der Sozialsysteme der Europäischen Union. Er verdient daher eine breite Mehrheit.
Mit dem Gesetz zur Koordinierung der Systeme der
sozialen Sicherheit in Europa und der damit verbundenen Änderung anderer Gesetze soll eine innerstaatliche
gesicherte Rechtsgrundlage hergestellt werden, die den
zuständigen Behörden Trägern und Verbindungsstellen
zu mehr sozialer Sicherheit verhilft. Das dient dem bereits verankerten Grundsatz der Gleichstellung von
Leistungen, in diesem Fall den Beziehern einer ausländischen Rente. Diese soll künftig zur Beitragsfinanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen werden. Ferner soll die Benachrichtigung der
Träger des Beschäftigungslandes im Fall von Entsendungen geregelt werden.
Ab dem 1. Juli 2011 sollen in Deutschland damit auch
für Renten aus dem Ausland Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung gezahlt werden. Das sehen zwei
neue EU-Verordnungen, 883/2004/EG und 987/2009/
EG, über die soziale Sicherheit vor, die in allen EU-Staaten gelten.
Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherte
Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein
mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinne
von § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenversicherung der Rentner, nicht aber mit ihren ausländischen
Renten im Sinne von § 228 SGB V. Bei pflichtversicherten Rentenbeziehern, die sowohl eine deutsche als auch
eine ausländische Rente beziehen, wurde deshalb bislang lediglich die deutsche Rente zur Berechnung der
Beiträge zu ihrer Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen.
Dieses eher technische Gesetz soll es erleichtern, die
Verfahren der Leistungen in grenzübergreifenden Sachverhalten besser zu koordinieren. Bisher kennen wir
hauptsächlich den Fall von Erleichterungen bei der Erstattung von Leistungen aus der bisherigen Praxis. In
der heutigen Thematik geht es um die Anpassung deutscher Gesetze: des SGB III, SGB IV, SGB V, SGB VI,
SGB VII, SGB XI sowie des Gesetzes über die Altersund Krankenversicherung der Landwirte, des Altersteilzeitgesetzes und der Umsetzung der EU-Verordnungen.
Kostenlos ist dies nicht umzusetzen.
Den geringen Mehreinnahmen der gesetzlichen
Krankenversicherung und der Pflegeversicherung stehen für den elektronischen Datenaustausch und die Betreuung der Zugangsstellen erhöhte Kosten in den Jahren 2011 und 2012 von 2 bis 3 Millionen Euro in den
Folgejahren ungefähr 1 Million Euro gegenüber. Die
sich hieraus ergebenen Mehrbelastungen für den Bundeshaushalt müssen in den jeweiligen Einzelplänen im
Rahmen der bestehenden Ansätze aufgefangen werden;
ich bin gespannt, wie die Bundesregierung dies im Ringen des Sparwettbewerbes umsetzen wird. Faktisch bedeutet diese Regelung für Grenzgänger eine Kürzung ihrer Rente.
Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Deutschland, die lange gearbeitet haben und demnach meist nur
einen kleinen Teil ihrer Rente aus Deutschland bekommen, sind hiervon besonders betroffen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Was ich an der Regelung kritisiere, ist, dass Grenzgänger und Entsandte durch die neue Regelung in die
deutsche Sozialversicherung automatisch „überführt“
werden und sie keine Wahlmöglichkeit haben. Sie haben
keine Entscheidungsmöglichkeit darüber, in dem System, in dem sie oft jahrzehntelang Beiträge gezahlt haben, zu bleiben, weil das Wohnortprinzip über das Arbeitsprinzip gestellt wird. Daher muss der Grundsatz
gelten, dass Bezieher einer ausländischen Rente im Ergebnis nicht stärker belastet werden als Bezieher einer
gleich hohen inländischen Rente.
Natürlich ist der Gleichstellung der europäischen
Bürger und Bürgerinnen in Form der Koordinierung der
Systeme der sozialen Sicherheit in Europa Rechnung zu
tragen, wenn es um Neuregelungen geht, aber nicht mit
dem Ziel insgesamt in Europa eine schrittweise Durchsetzung eines niedrigen Niveaus der sozialen Sicherheit
zu etablieren, was an vielen Stellen der europäischen
Handlungen leider allzu deutlich wird.
Wir wissen, dass die europäische Gesellschaft vor einem beispiellosen demografischen Wandel steht, der
sich massiv auf die wirtschaftliche und soziale Situation
der gesamten Europäischen Union auswirken wird. Dies
ist für alle EU-Mitgliedstaaten relevant.
In allen Mitgliedstaaten wächst der Anteil der älteren
Menschen, während die Zahl der Kinder deutlich abnimmt. Ab 2025 wird die Bevölkerung der EU nach heutigem Erkenntnisstand schrumpfen. In einem Drittel der
EU-Regionen nimmt die Bevölkerung bereits seit Ende
der 90er-Jahre ab.
Die SPD-Fraktion begrüßt, dass die EU-Kommission
eine Gleichstellung der Europäer in den Blick nimmt.
Da es in allen Mitgliedstaaten immer mehr ältere Menschen gibt, stehen die aktuellen Systeme für die Alterssicherung unter massivem Druck. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat diesen Druck noch weiter verstärkt.
Unabhängig von der Koordination der sozialen Sicherheit in Europa ist es für die SPD grundsätzlich, dass
die Finanzierung und Bereitstellung von Renten in der
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleiben muss. Wir
werden es nicht zulassen, dass europaeinheitliche Standards zu einer Verschlechterung guter Systeme einiger
Mitgliedstaaten führen.
Der Schwerpunkt bei der Sicherung der Renten und
Pensionen muss es sein, für den sozialen Fortschritt in
Europa einzutreten. Wir wollen soziale Ziele und Grundrechte im europäischen Binnenmarkt stärken. Es muss
sichergestellt sein, dass die wirtschaftlichen Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes keinen Vorrang
vor sozialen Grundrechten und Zielen haben. Die sozialen Grundrechte müssen im Konfliktfall vorgehen. Wir
lehnen es ab, die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung ausschließlich auf die Bewältigung des demografischen Wandels zu verengen. Wir werden jede
Möglichkeit nutzen, die Diskussion um die Zukunft der
Altersvorsorge wieder um die Dimension der Arbeitsmarktpolitik zu erweitern.
Auch den einsamen europäischen Ruf nach der Erhöhung des Renteneintrittsalters teilen wir nicht.
Wir glauben, dass es eine Reihe von Alternativen zur
Privatisierung und zur Erhöhung des Renteneintrittsalters gibt. Neben der Erhöhung der Verantwortung der
Arbeitgeber, Renten für ihre Mitarbeiter zu schaffen, bedarf es einer Förderung der Flexibilität des Renteneintritts, einer Erhöhung der Sicherheit von Pensionsfonds
und einer Garantie für eine Mindestrente. Es bedarf gemeinsamer Mindeststandards für die Renten. Um Altersarmut erfolgreicher zu bekämpfen, bedarf es der offenen
Methode der Koordinierung im Bereich Renten und Armutsbekämpfung.
Wir sind für ein Europa mit sozialem Antlitz, wir wehren uns gegen Sozialabbau. Wir brauchen ein Europa
mit hohen Standards der sozialen Sicherheit und guten,
sicheren Renten für alle Bürgerinnen und Bürger.
In der Europäischen Union gilt das Recht auf Freizügigkeit. Jeder EU-Bürger kann frei entscheiden, in welchem anderen EU-Land er leben und arbeiten möchte.
Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
der Mitgliedstaaten soll die Freizügigkeit der Bürger innerhalb der Europäischen Union erleichtern. Es gilt das
Prinzip der Gleichbehandlung. Staatsangehörige eines
EU-Mitgliedstaats und Bürger, die in diesem Mitgliedstaat wohnen, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzen, haben die gleichen Rechte und Pflichten. Seit Mai
2010 gelten für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa zwei neue Verordnungen. Dieser Schritt wurde notwendig, da die bereits seit 1971
geltende Verordnung des Rates vielfach geändert wurde
und die gemeinschaftlichen Regeln der Koordinierung
zu unüberschaubar wurden.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf ist aus zwei
Gründen nötig: Um für Rechtssicherheit und -klarheit zu
sorgen, muss die Aufgabenzuständigkeit festgelegt werden, da diese nicht mehr in der Durchführungsverordnung geregelt wird. Des Weiteren sind Änderungen von
Regelungen im Sozialgesetzbuch und anderen Gesetzen
nötig. Auch die anderen Länder in der Europäischen
Union werden so verfahren. Geregelt werden unter anderem die Zuständigkeiten für Aufgaben wie beispielsweise den europaweiten Datenaustausch, Familienleistungen und Beamtenversorgung. Neu eingeführt wird
eine Beitragspflicht für Auslandsrenten. Angepasst wird
auch das Gesetz über die Altersversicherung von Landwirten.
Sozialpolitik liegt in der nationalen Zuständigkeit.
Jeder Staat betreibt seine Sozialpolitik eigenständig. Die
Rolle der Europäischen Union in der Sozialpolitik beschränkt sich auf koordinierende Aufgaben und die Unterstützung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten.
Aufgabe der Europäischen Union ist es aber auch, darauf zu dringen, dass die Mitgliedstaaten ihre Sozialsysteme reformieren und damit den aktuellen Entwicklungen, wie zum Beispiel in der Eurostabilisierung,
Rechnung tragen.
Laut des „Gemeinsamen Berichts über Sozialschutz
und soziale Eingliederung von 2010“ der Europäischen
Union haben die europäischen Sozialsysteme, aber auch
Zu Protokoll gegebene Reden
kurzfristige Sozialmaßnahmen entscheidend dazu beigetragen, die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen
der Wirtschaftskrise abzufedern. Die Krise hat aber
auch deutlich gezeigt, wo die Schwächen in einzelnen
Sozialsystemen zu finden sind.
Deutschland hat ein gut funktionierendes Sozialsystem. In den vergangenen Jahren waren immer wieder
zahlreiche Reformen der verschiedenen Zweige nötig.
Diese Anpassungen sind sowohl gesellschaftlichen Veränderungen wie beispielsweise dem demografischen
Wandel geschuldet, aber auch aktuellen wirtschaftlichen
Einflüssen oder Entwicklungen. Deutschland steht momentan vor der großen und dringenden Aufgabe, das
deutsche Sozialversicherungssystem zukunftsfest zu machen. Etwa ein Drittel seines jährlichen Bruttoinlandsproduktes gibt Deutschland für Sozialleistungen aus.
Das beweist: Es ist viel Geld im sozialen Netz.
Liberale Sozialpolitik verfolgt einen umfassenden Ansatz. Das heißt, allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit, Pflege, Alter und Arbeitslosigkeit sind abgesichert.
Eine gute Bildungspolitik und gute Rahmenbedingungen
für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen sind
die beste Sozialpolitik. Sie ermöglichen Aufstiegschancen von jungen Menschen. Investitionen in Bildung bedeutet, in Zukunft weniger Geld für Sozialleistungen
ausgeben zu müssen.
Die Verzahnung von beschäftigungs- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit Maßnahmen des sozialen
und gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ein wesentliches Element der Strategie „Europa 2020“. Damit die
soziale Dimension dieser Strategie, also die Förderung
der sozialen Eingliederung umgesetzt werden kann,
muss die Umsetzung von langfristigen Strategien in den
Mitgliedstaaten auch tatsächlich erfolgen. Letzten Endes garantiert wirtschaftliche Prosperität soziale Sicherheit. Deshalb ist es so wichtig, dass die Europäische
Union sich den Herausforderungen stellt, um auf den
Weltmärkten bestehen zu können.
Die Linke begrüßt grundsätzlich und nachdrücklich
die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
in Europa. Im vorliegenden Gesetzentwurf legt die Bundesregierung dazu Detailregelungen zur Umsetzung der
entsprechenden EU-Verordnungen fest. In den dort getroffenen Regelungen zur Konkretisierung im nationalen
Recht kann auch die Linke kein Problem erkennen.
Wir sehen aber generell ein großes Problem darin,
dass soziale Sicherheit in Deutschland im europäischen
Kontext völlig unzureichend ausgestaltet ist. Deutschland hat bislang wenig zur Entwicklung eines Europäischen Sozialmodells beigetragen, welches soziale
Rechte garantiert, vor allem aber die Bürgerinnen und
Bürger Europas vor Sozialdumping schützt. Der Gedanke und die Umsetzung einer europäischen Sozialpolitik darf sich nicht darin erschöpfen, nur Regelungen
zur Anwendbarkeit und gegenseitigen Anerkennung von
Prinzipien der Sozialversicherungssysteme zu erlassen.
Das ist entschieden zu wenig. Die Bürgerinnen und Bürger können zu Recht erwarten, dass hier Inhalte gesetzt
werden und auch die Bundesregierung bestrebt ist, ihren
Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass er soziale Sicherheit
bietet, sowohl für Bürgerinnen und Bürger Deutschlands als auch aus anderen europäischen Ländern.
Doch hier ist die Bundesregierung in erschreckendem
Ausmaß seit vielen Jahren untätig. Zum 1. Mai 2011
werden die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit und
Dienstleistungsfreiheit hergestellt. Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer aus den im Jahre 2004 der Europäischen Union beigetretenen Staaten Osteuropas können
dann ohne Beschränkungen eine Beschäftigung in
Deutschland aufnehmen. Eine Arbeitsgenehmigung
durch deutsche Behörden ist nicht mehr nötig. Die Öffnung der Grenzen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist zu begrüßen. Sie sollten frei über ihren
Aufenthalts- und Arbeitsort entscheiden dürfen. Leider
hat es Deutschland aber bislang völlig versäumt, für
Schutzmechanismen zu sorgen, um einen Lohndumpingwettbewerb auf dem Rücken der osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen zu verhindern, der zudem das in
vielen Regionen und Branchen Deutschlands sinkende
Reallohnniveau weiter unter Druck setzen wird. Nur ein
flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn könnte dies
verhindern. Fast alle anderen Staaten der EU sind darauf vorbereitet. Sie haben Regelungen zu flächendeckenden Mindestlöhnen. Ein weiteres großes Problem ist,
dass es nur wenige Beratungseinrichtungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen Ländern
gibt. Viele Beschäftigte haben nur sehr unzureichende
Kenntnisse über ihre Rechte und Ansprüche in Deutschland, was von immer mehr Arbeitgebern schamlos ausgenutzt wird.
Die Bundesregierung muss nun schnell handeln, um
die Versäumnisse der Vergangenheit nachzuholen. Sie
muss sich auch in die Sozialpolitik der Europäischen
Union stärker einbringen und Akzente setzen. In das
Vertragswerk der Europäischen Union muss eine soziale
Fortschrittsklausel aufgenommen werden, die sozialen
Grundrechten den Vorrang vor dem Kapital garantiert.
Wir Linken fordern, die Entsenderichtlinie so zu ändern,
dass sie lediglich Mindestanforderungen formuliert,
aber nicht als Maximalrichtlinie zu verstehen ist. Das
Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Arbeitsort“ muss angewandt werden. Schnellstmöglich
muss Deutschland endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einführen. Gleichzeitig ist das
Arbeitnehmerentsendegesetz auf alle Branchen auszuweiten und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
Tarifverträgen zu erleichtern. Für die Leiharbeit ist das
Gleichstellungsgebot umzusetzen. Der Tarifvorbehalt
muss aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz gestrichen werden. Wo dies hingeführt hat, haben wir bei den
christlichen Pseudogewerkschaften gesehen, die Gefälligkeitstarifverträge zulasten der Leiharbeitskräfte abgeschlossen haben und diese in vielen Fällen ohne deren
Wissen von den Leiharbeitsunternehmen zwangsweise
zu Mitgliedern der christlichen Leiharbeitsorganisation
gemacht wurden. Ganz bewusst vermeide ich den Begriff
„Gewerkschaft“, da ja der CGZP die Tariffähigkeit abgesprochen wurde und dies bekanntermaßen ein zentrales Kriterium einer Gewerkschaft ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
muss unverzüglich ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen aufgebaut werden. Bei Entsendung von Beschäftigten über einen längeren Zeitraum ist unbedingt
zu prüfen, inwiefern durch eine Pflicht zur Entrichtung
der Sozialversicherungsbeiträge in die sozialen Sicherungssysteme am Arbeitsort verhindert werden kann,
dass Arbeitgeber Entsendungen durchführen, um Sozialversicherungsabgaben zu sparen, da die Höhe der zu
entrichtenden Beiträge variiert.
Im Bereich der sozialen Sicherheit in Europa gibt es
noch viel zu tun. Gehen Sie es endlich an. Stärken sie die
sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger in Europa.
Auch wenn die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus den neuen Mitgliedsländern ab
dem 1. Mai 2011 noch einigen Handlungsbedarf aufzeigt - im Grundsatz ist die Mobilität der Menschen innerhalb der Europäischen Union eine Erfolgsgeschichte. Es ist vor allem die Personenfreizügigkeit, die
den Reiz der Europäischen Union ausmacht. Die Freiheit der Menschen, sich in anderen europäischen Ländern als Arbeitnehmende oder als Selbstständige niederzulassen, die Freiheit, Familienangehörige mit sich zu
nehmen, die Freiheit, Chancen zu ergreifen, auch wenn
sie jenseits der Grenzen des Nationalstaats liegen diese Freiheit ist nach wie vor der größte Reiz einer auf
Sicherheit und Recht fußenden Europäischen Union.
Was bedeutet es, wenn sich Menschen in Europa frei
bewegen können? Wenn Menschen wandern, dann sind
auch viele zutiefst menschliche Belange berührt. Denn
Menschen sind nie nur Arbeitnehmende oder ausschließlich selbstständig. Sie führen ihr Leben nicht nur
in beruflicher Tätigkeit und in Unternehmen. Menschen
sind auch mal krank, verlieren ihren Arbeitsplätz, verändern ihre Familiensituation oder scheiden wegen hohen
Alters aus dem Erwerbsleben aus. In all diesen Lebenssituationen brauchen sie den Schutz der Systeme der sozialen Sicherheit. Insbesondere wenn durch eigene materielle oder nichtmaterielle Leistungen Ansprüche an
soziale Sicherungssysteme erworben wurden, müssen
diese Ansprüche auch im Ausland gewährleistet sein.
Dies muss funktionieren, wenn von einem „sozialen Europa“ die Rede sein soll.
In der Praxis bedeutet die Umsetzung dieses sozialund europapolitischen Ideals ernüchternderweise vor
allem technische und regulative Detailarbeit. Sie erfordert ein Benennen von Zuständigkeiten, einen Austausch
von Sozialdaten und ein Festschreiben von Pflichten und
Ansprüchen. Und sie erfordert regelmäßige Anpassung
und Weiterentwicklung. Die Verordnung über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern, und die entsprechende Durchführungsverordnung wurden zum 1. Mai 2010 durch neue Verordnungen abgelöst. Um den Festlegungen der zuständigen
Behörde, der zuständigen Träger, der Verbindungsstellen sowie der Zugangsstellen eine innerstaatlich gesicherte Rechtsgrundlage zu schaffen, wurde der vorliegende Gesetzentwurf eingebracht.
Zunächst ist festzuhalten: Als überzeugte Europäerinnen und Europäer begrüßen wir Grünen dies. Denn
die damit getroffenen Regelungen sind wichtig, um das
Zusammenleben und die Mobilität in der EU zu erleichtern, mehr noch: die Mobilität in ganz Europa. Denn die
bisherigen Verordnungen im Verhältnis zu den Vertragsstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums - also
Liechtenstein, Norwegen und Island - sowie der Schweiz
bleiben weiterhin anwendbar. Auch das ist wichtig.
Der Gesetzentwurf löst die an ihn gestellte Aufgabe
insgesamt ordentlich. Er behebt einzelne bisher bestehende Ungleichheiten. So sind Rentnerinnen und
Rentner bereits bisher in der Krankenversicherung für
Rentner pflichtversichert und müssen aus ihren Rentenbezügen die Kranken- und Pflegeversicherung mitfinanzieren. Der festgeschriebene Grundsatz der Gleichstellung von Leistungen und Einkünften erfordert, dass dies
in Zukunft auch für Beziehende einer ausländischen
Rente gilt. Dagegen ist im Grundsatz nichts einzuwenden.
Zu begrüßen ist der Schritt, die Benachrichtigung der
Träger des Beschäftigungslandes im Falle von Entsendungen zu regeln. Wenn das Instrument der grenzüberschreitenden Arbeitnehmerentsendung zur Anwendung
kommt, ist es dringend erforderlich, dass alles unternommen wird, um illegale Beschäftigung zu verhindern
und die ordnungsgemäße Anwendung der jeweils geltenden Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates und
des Entsendestaates sicherzustellen. An dieser Stelle
würden wir uns von der Bundesregierung über den vorliegenden Gesetzentwurf hinaus weitere Regelungen
wünschen, die für Transparenz und bessere Koordinierung der sozialen Absicherung auch von entsandten Arbeitnehmenden sorgen und die Missbrauchsrisiken eindämmen.
Wir wollen die Mobilität der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Europa auch weiterhin erleichtern und
dabei die sozial- und arbeitsrechtlichen Schutzstandards
halten und auch grenzübergreifend sicherstellen. Mobilität ohne soziale Sicherheit, einen europaweiten Arbeitsmarkt ohne europaweite Koordination der Schutzrechte und Absicherungen kann und darf es in Europa
nicht geben. Vor diesem Hintergrund sollte sich die Bundesregierung nicht weiter dagegen sperren, dass auch
Ansprüche aus Betriebsrenten in ein anderes europäisches Land mitgenommen werden können. Auch für
diese gilt, dass sie portabel ausgestaltet werden müssen,
um die Anspruchsberechtigten nicht in ihrer Freizügigkeit zu behindern. Denn - ich habe das eingangs erwähnt - der Freiheitsgedanke in Europa wird nur dann
eine menschengerechte Freiheit sein, wenn er mit sozialer Sicherheit verknüpft ist.
Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4978 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ausschüsse vorgeschlagen. - Anderweitige Vorschläge
sehe ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des
Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren
- Drucksache 17/1224 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben Patrick
Sensburg, Christine Lambrecht, Jens Petermann, Jerzy
Montag und der Parl. Staatssekretär Max Stadler.
Fortschritt besteht wesentlich darin, fortschreiten zu
wollen. Als Mitglieder dieses Hohen Hauses obliegt uns
nicht nur die Aufgabe, durch Gesetze Rahmen für zukünftige Entwicklungen zu schaffen, sondern auch,
längst vollzogene Entwicklungen und technologische
Entwicklungen klug in Gesetze zu gießen. Der technische Fortschritt ist rasant und verändert unsere Lebensrealität jeden Tag auf ein Neues. Wenn wir uns einmal in
unseren Abgeordnetenbüros umschauen, stellen wir fest,
wie sehr der technologische Fortschritt auch unsere Arbeit verändert und vor allem erleichtert hat.
Als Abgeordnete sind wir in der Pflicht, die Chancen
von technologischen Veränderungen zu nutzen. Der vorliegende Gesetzentwurf zum vermehrten Einsatz von Videokonferenztechnik ist so ein Fall.
Der Ausgangspunkt der Diskussion über den Einsatz
von Videokonferenztechnik findet sich im Zeugenschutz
der Strafprozessordnung. 1998 trat mit dem Zeugenschutzgesetz § 247 a der StPO in Kraft, der in den folgenden Jahren um wichtige Gedanken zur Vermeidung
des Beweismittelverlustes ausgedehnt wurde.
Aber auch bei Vernehmungshindernissen in der gerichtlichen Hauptverhandlung oder bei großen nicht zumutbaren Entfernungen zum Gerichtsort wird die Videokonferenztechnik bereits angewandt.
So stößt beispielhaft der verstärkte Einsatz von Videokonferenztechnik in verschiedenen Bundesländern - es
sei hier nur auf Nordrhein-Westfalen und Hessen hingewiesen - auf positive Resonanz. Bislang zählt diese Verfahrenstechnik aber noch nicht zu den Standards, da bei
den Gerichten, Justizbehörden und Anwaltskanzleien
noch nicht die erforderlichen Ausstattungen verfügbar
sind und das Einverständnis der Beteiligten zum Einsatz
der Videoverfahrenstechnik nach der derzeit geltenden
Rechtslage vorliegen muss.
Wir wissen, dass unsere Justiz nicht über mangelnde
Arbeit klagen kann. Wir wissen um das Problem, dass
Verfahren manchmal sehr lange Zeiträume einnehmen
und sich Aktenstapel an Aktenstapel in den Gerichten
reihen. Die Videokonferenztechnik kann einen guten Beitrag zur Entlastung unserer Gerichte leisten. Es handelt
sich um eine Win-win-Situation; denn alle Beteiligten
können deutlich Zeit einsparen, und die Gerichte können
ihre Termine somit besser koordinieren. Die Verfahren
können deutlich beschleunigt werden.
Auch gerade für die Anwaltschaft stellt die Videokonferenztechnik eine große Entlastung dar. Der aktive Einsatz der Videokonferenztechnik kann einerseits als Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen
in voller Höhe als Auslage geltend gemacht werden. Somit wäre auch keine weitere Änderung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes notwendig. Andererseits entfallen Fahrtkosten und Terminierungsprobleme. Der
verstärkte Einsatz der Technik stellt insoweit ein verbessertes Serviceangebot im Sinne einer kundenorientierten
Justiz dar. Die konkreten Bereitstellungskosten betreffen
die Einrichtung von Leitungen und Anschlüssen in den
jeweiligen Sitzungssälen bzw. Vorführräumen der Vollzugsanstalten, wo diese noch nicht vorhanden sind. Der
Einsatz von Web-Technik könnte diese Kosten erheblich
senken und sollte im Laufe dieses Gesetzgebungsverfahrens noch stärker überdacht werden.
Ich möchte aber hier deutlich darauf hinweisen, dass
die Kosten für die Länder kalkulierbar sein müssen.
Letztlich bleibt die jeweilige Umsetzung eine Entscheidung der Länder.
Kommen wir nun zu einzelnen Aspekten des Gesetzes:
Durch eine Änderung des Gerichtsverfahrensgesetzes
wird nach dem Gesetzentwurf ein Einsatz der Dolmetscher auch auf die anderen Übertragungsorte durch das
Gericht ermöglicht. Kritisch muss hier jedoch gesehen
werden, dass gerade die Leistung der Dolmetscher eine
hochanstrengende Tätigkeit ist. Es muss genauer geprüft
werden, ob es beispielsweise einem Dolmetscher alleine
möglich ist, über einen längeren Zeitraum im Rahmen
einer Videokonferenz zu dolmetschen. Ich habe hier
meine Bedenken.
Die Verfahrensbeschleunigung soll im Zivilprozess
vor allem dadurch erreicht werden, dass der Einsatz von
Videokonferenztechnik nicht mehr vom Einverständnis
aller Parteien abhängig sein soll. Künftig soll das Gericht diese Entscheidung bei einem Antrag einer der
Parteien treffen können.
Die Möglichkeit der Aufzeichnung beim Einsatz der
Videokonferenztechnik bedarf zudem noch der Klärung,
da es dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann,
durch den Einsatz anders behandelt zu werden als im
herkömmlichen Verfahren, bei dem lediglich protokolliert wird. Ich bin der Meinung, dass es grundsätzlich zu
keiner Aufzeichnung kommen darf.
Die Zielsetzung der vorgeschlagenen Änderungen besteht in der Verbesserung der Rechtsklarheit und Anwenderfreundlichkeit. Doch muss natürlich bei einem
anderen Aufenthaltsort des zu Vernehmenden außerhalb
des Sitzungszimmers sichergestellt sein, dass am Ort des
Vernehmens keine Fremdeinflüsse auftreten können.
Für den Bereich des Strafrechts ist beispielsweise
denkbar, eine entsprechende Regelung in den Richtlinien
für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren,
RiStBV, einzufügen, die sicherstellt, dass der Ort der
Vernehmung im Strafprozess ein Gerichtssaal sein muss.
Die Gesetzesänderung belässt es vollkommen zu
Recht dabei, bei Personen, bei denen es auf einen persönlichen Eindruck des Gutachters ankommt, bei der
klassischen Vorladung zu verbleiben, dies aus dem
Grund, da eine Videoübertragung den Eindruck durch
nonverbale und allgemein persönliche Eindrücke nicht
zureichend vermittelt.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Die Vernehmung
von Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung durch die
Videokonferenztechnik verbessert und beschleunigt den
Verfahrensablauf, da auch der Versand von Verfahrensakten und Vernehmungsversuchen an ferne Gerichte und
Polizeidienststellen entbehrlich wird. Dies führt zu einer
erheblichen Verkürzung des Verfahrens und äußert sich
auch durch eine qualitative Verbesserung, da der eingearbeitete Staatsanwalt oder Polizeibeamte die Anhörung
übernehmen kann. Auch hier zeigt sich wieder eine nutzerfreundliche Ausgestaltung des Rechtssystems, da Zeitersparungen unter Beibehaltung eines hohen Qualitätsstandards eine ideale Lösung für die betroffenen Bürger
darstellen.
Das Verfahren wird darüber hinaus auch in den Fällen der Reststrafenaussetzung zur Bewährung für die
Strafvollstreckungskammer vereinfacht. Zudem kommt
es zu einer wichtigen sicherheits- und aufwandsrelevanten Vereinfachung für die Vollzugsanstalten. Eine Vereinfachung der Anhörung darf aber keineswegs zulasten
des Anzuhörenden gehen, da hier der unmittelbare Kontakt mit dem Verurteilten übersehen wird.
Durch dieses Gesetz muss sichergestellt werden, dass
es durch den Einsatz der Videokonferenztechnik nicht zu
qualitativen Mängeln bei Aussagen oder Befragungen
kommt. Wird dies sichergestellt, haben wir ein kundenorientiertes Instrument für die Justiz.
Wir dürfen die Augen vor dem technologischen Fortschritt nicht verschließen. Die Vorteile der Videokonferenztechnik liegen auf der Hand. Lassen Sie uns in der
Frage der Videokonferenztechnik zusammen fortschreiten, um gemeinsam Fortschritt zu ermöglichen.
Das Gesetz zum verstärkten Einsatz von Videokonferenzen in deutschen Gerichten ist sinnvoll und notwendig. Die Videokonferenztechnik ist ein zukunftsweisender Fortschritt für Verhandlungen, der gerade dem
Bürger zugutekommt. Daher begrüße ich das Bestreben
des Bundesrates, durch das Gesetz Kosten einzusparen,
genauso wie die forcierte Zeitersparnis durch den Wegfall der Anreise der Beteiligten und die daraus resultierende Flexibilität. Wenn durch moderne Technik erreicht
werden kann, dass ein Verfahren beschleunigt wird,
sprechen wir hier von einer guten Serviceleistung seitens der deutschen Gerichte, die dieser Zeit absolut angemessen ist.
Dennoch gibt es bei dem Gesetzentwurf einen Casus
knaxus. Man sollte den verstärkten Einsatz von Videokonferenzen unbedingt nach Verfahrensarten abstufen.
Das größte Problem sehe ich hier bei der Regelung in
der Strafprozessordnung und im Strafvollzugsgesetz.
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung muss als fundamentales Recht um jeden Preis erhalten bleiben. Es reicht nicht, wenn das Gericht allein
die Anordnung trifft. Die Videokonferenz in der Vernehmung sollte nur mit dem Einverständnis des Beschuldigten und in Rücksprache mit seinem Verteidiger erfolgen.
Dies ist in Bezug auf die Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Beweisaufnahme unabdingbar. Man sollte nicht
unterschätzen, wie wichtig es für die Prognose des Richters ist, dass der Beschuldigte sich persönlich und unmittelbar äußern kann. „Face to face“ werden Aspekte
wie das Verhalten, Erscheinungsbild und die Körpersprache des Angehörten anders wahrgenommen, als
wenn dieser in einer unnatürlichen Umgebung sitzt,
vielleicht noch sehr nervös vor der Kamera. Warum also
die Urteilsfindung des Richters erschweren, wenn es zudem noch in die Rechte des Beschuldigten eingreift? So
sehr ich auch ein Befürworter der modernen Technik
bin, so sehr müssen wir doch darauf achten, dass wir mit
ihrem Einsatz keine rechtsstaatlichen Prinzipien torpedieren.
Sehr gut ist es hingegen, den Einsatz der Technik ins
freie Ermessen der Gerichte zu stellen. So ist von einem
verstärkten Einsatz der Technik auszugehen, ohne dass
sich Gerichte gezwungen sehen, nicht auf herkömmliche
Art verfahren zu können, vor allem in den Fällen, in denen eine Videokonferenz nicht angemessen ist.
Was die Aufzeichnung der Videokonferenzen betrifft,
so sehe ich jedoch nichts, was grundsätzlich dagegen
spricht. Die obligatorische Aufzeichnung bedeutet nur
einen geringen Arbeits- und zusätzlichen Kostenaufwand. Es wäre ein unglaublicher Fortschritt in gerichtlichen Anhörungen, wenn man sich auf das unverfälschte Zeugnis einer dokumentierten Aussage berufen
könnte. Es wäre ein Fundament für Kontrolle und
Selbstkontrolle, da nicht wie bisher durch langwierige
Recherche versucht werden müsste, Missverständnisse,
Suggestionen und Verzerrungen aufzudecken und zu beseitigen. Es wäre schnell, einfach und unmissverständlich. Es wäre ohne Fehler im Protokoll und großen Interpretationsspielraum nachzuvollziehen, wie eine
Aussage zustande gekommen ist. Es wäre ein neues Kapitel der Glaubhaftigkeitsprüfung, welches ich sehr befürworten würde. Ich sehe darin einen wesentlichen Gewinn für die Richtigkeit des Urteils.
Die Aufzeichnung würde sich auch bei staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Anhörungen anbieten.
Gegebenenfalls kann man sie danach wieder löschen
oder nur beschränkt zugänglich machen, zum Beispiel,
um eine Unterscheidung von öffentlichen und nicht öffentlichen Anhörungen vorzunehmen. Aber im Allgemeinen denke ich, wenn die Aufzeichnung, und sei es nur die
Tonaufzeichnung der Anhörung, Bestandteil von Verhandlungsakten wäre, so würde dem Prinzip der Wahrheitsfindung ein großer Gefallen getan.
Es wäre ein bedeutender Vorteil für die gerichtliche
Praxis, den wir unbedingt unterstützen sollten. Der Einsatz moderner Kommunikationsmittel in deutschen GeZu Protokoll gegebene Reden
richten ist ein technischer Fortschritt, den es zu fördern
gilt. Die Anschaffungskosten sind gering im Vergleich zu
der Ersparnis, die durch den Wegfall der Reisetätigkeit
der Beteiligten zu erwarten ist. Es ist eine Investition in
die Zukunft, die sich lohnt. Zeit und Geld zu sparen bei
sämtlichen Gerichtsverfahren, das freut auch den Steuerzahler.
Ich halte die Nutzung von Videokonferenztechnik
auch im Strafverfahren für sinnvoll, wenn es einem Opfer erspart, seinem Peiniger gegenübertreten zu müssen
oder im Einzelfall der Sicherheitsaufwand für einen Gefangenentransport eingespart werden kann. Da handeln
wir absolut im Interesse der Bürger. Diese Ersparnis,
und so sollte es auch aus dem Gesetz hervorgehen, darf
nur nicht zum Leidwesen eines essenziellen Rechtsgrundsatzes geschehen.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates zum intensiven
Einsatz von Videokonferenztechnik ist leider unausgegoren und nicht bis zum Ende durchdacht.
Der Einsatz von Videokonferenztechnik ist bereits seit
1998 bzw. 2004 für bestimmte Verfahren vorgesehen,
soll aber nun aufgrund der sehr seltenen Nutzung gesetzlich ausgebaut und gefördert werden. Neu ist die
Ausweitung des Einsatzes von Videotechnik auf Verfahren nach der Strafprozessordnung. Dieser Ausbau darf
auf keinen Fall zulasten der Unmittelbarkeit der Verfahren gehen oder zur Beschneidung von Beschuldigtenrechten führen. Im vorliegenden Entwurf ist das aber der
Fall, da vorgesehen ist, die fakultative videogestützte
Anhörung auch ohne Einverständnis des Betroffenen anzuordnen.
Die Verfasser des Entwurfs preisen natürlich die Vorteile des vermehrten Einsatzes von Videokonferenztechnik an. Dazu zählen eine Verringerung der Reisetätigkeit
und damit die Einsparung von Reisekosten, aber auch
eine angebliche Verfahrensbeschleunigung. Damit prophezeit der Bundesrat, dass beim Einsatz von Videotechnik ein Prozess kostengünstiger gestaltet wird. Diese
Schlussfolgerung bezweifle ich sehr.
Wie sieht denn die Kehrseite der Medaille aus? Je Videokonferenzanlage werden die Kosten auf 5 000 bis
12 000 Euro geschätzt, hinzu kommen noch die Kosten
für die Bereitstellung von Leitungen und Anschlüssen.
Die Einrichtung soll aus dem Etat der Justizverwaltungen gezahlt werden, ohne dass diesen dafür zusätzliche
Mittel im Haushaltsplan zur Verfügung gestellt werden.
Diese Vorgehensweise halte ich vor dem Hintergrund
der leider immer noch nicht befriedigenden Sach- und
Personalausstattung vieler Gerichte für verfehlt. Meine
Thüringer Richterkolleginnen und Richterkollegen berichten mir nach wie vor über Personalmangel, erneuerungsbedürftige technische Ausstattung und Platzmangel in Justizgebäuden. Von daher ist es nicht
nachvollziehbar, dass nun der Einsatz von teurer Videotechnik forciert werden soll -, dies zulasten der eben genannten Problemfelder. Bevor moderne Übertragungstechnik in baufällige Gerichtssäle eingebaut wird,
sollten die vorhandenen Gelder in die Sanierung, die
Sach- und Personalausstattung gesteckt werden.
Die Verfasser sehen für dieses Serviceangebot der
kundenorientierten Justiz eine Gebühr von pauschal
15 Euro je Verfahren und je angefangene halbe Stunde
des Einsatzes vor. Damit sollen lediglich die anfallenden
Betriebs-, Verbindungs- und zusätzlichen Personalkosten abgedeckt werden.
Die Linke sagt: Dieser Service darf nicht zulasten der
ohnehin schon zusammengesparten Justiz und der Geldbörse der rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und Bürger gehen. Wenn man eine solche moderne Kommunikationsart in Gerichtsverfahren einführen will, müssen die
dafür benötigten Mittel zusätzlich durch den Bund oder
die Länder bereitgestellt werden, und zwar ohne den sowieso schon knappen Justizetat zu belasten.
Abgesehen von der Finanzierung begegnen dem Gesetzentwurf auch inhaltliche Bedenken:
Die Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes, wonach Dolmetscherleistungen per Video in den Sitzungssaal übertragen werden sollen, halte ich für wenig zielführend. So übersetzt der Dolmetscher regelmäßig nicht
nur für das Gericht selbst, sondern auch die vertraulichen Gespräche der Prozessparteien mit deren Anwälten. Das Problem mit Dolmetschern liegt meist nicht darin, sie in den Verhandlungssaal zu laden, sondern
überhaupt einen Dolmetscher zu finden. Daran ändert
auch der Einsatz von Videotechnik nichts.
Die Änderung der Strafprozessordnung eröffnet der
Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten die
Möglichkeit, einen Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung durch Videoübertragung zu vernehmen. Bei
der Vernehmung eines Zeugen kommt aber besonders
der persönlich-wahrhaftige Eindruck für die Ermittlung
der Glaubwürdigkeit und des Beweiswertes zum Tragen.
Dies ist Ausdruck der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit
der Beweisaufnahme im Strafrecht. Eine Bild-Ton-Übertragung steht einer persönlichen Vernehmung eines Zeugen an Erkenntnisgewinn also nach und durchbricht den
Unmittelbarkeitsgrundsatz. Sogar die Bundesregierung
bemängelt, dass in manchen Fällen ein höchstpersönlicher Eindruck von Zeugen oder Angeklagten erforderlich ist, dieser jedoch durch Videoübertragung nicht ersetzt werden kann. Wenn man die Videovernehmung
gleichberechtigt neben der persönlichen Vernehmung
ansiedelt, wird die Ausnahme zur Regel und bedeutet
das Ende der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung. Mit
der Linken ist ein verstärkter Einsatz von Videokonferenztechnik nur zu machen, wenn die Rechte der Prozessbeteiligten nicht abgewertet werden und die Finanzierung nicht auf Kosten des ohnehin schon zu niedrigen
Justizetats realisiert wird. Der Entwurf muss dahin gehend dringend nachgebessert werden.
Als die großen Prozessordnungen in Deutschland entwickelt wurden, gab es keine Möglichkeiten, mithilfe von
Ton- und Bildtechnik Prozesse sozusagen zur gleichen
Zeit an verschiedenen Orten stattfinden zu lassen oder
Zu Protokoll gegebene Reden
Prozessteile zeitlich gestaffelt aufzunehmen und später
in die Prozesse einzuspielen. Seit Jahren schon halten
die neuen Ton- und Bildtechniken Einzug in die deutschen Gerichtssäle. Da, wo sie wirklich nur der Ressourcenersparnis und Bequemlichkeit dienen, ist ihr
Einsatz sinnvoll und zu begrüßen. Dies trifft ferner auch
da zu, wo schon bisher die Anwesenheit von Verfahrensbeteiligten nicht vorgeschrieben war und jetzt ihre Mitwirkung zumindest über eine Zuschaltung in Ton und
Bild ermöglicht wird.
Aber es ist offensichtlich, dass der Einsatz solcher
Techniken Gefahren in sich birgt und die Voraussetzungen und die Strukturen der Prozesse verändern kann. Zu
einer rechtsstaatlichen Justiz gehören ein fairer Prozess
und eine objektive Wahrheitsfindung. Prozessordnungen
tarieren immer die gegensätzlichen Interessen von
Grundrechtsträgern aus, dies macht im Kern einen fairen Prozess aus, dessen Grundpfeiler verfassungsrechtlich geschützt sind.
Für gerichtliche Verhandlungen gelten die rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze der Mündlichkeit, der
Öffentlichkeit, der Unmittelbarkeit und nicht zuletzt des
rechtlichen Gehörs. Alle diese Grundsätze können tendenziell mit dem Einsatz von Ton- und Bildtechniken kollidieren, wenn sich nicht alle Verfahrensbeteiligten zur
gleichen Zeit am gleichen Ort - nämlich im Gerichtssaal - befinden. Deshalb sind Bild- und Tontechniken
bisher immer nur als Ausnahme dann zum Einsatz gekommen, wenn sie im Einzelfall vorrangige Rechte von
Verfahrensbeteiligten schützen können. Hier sind vor allem Opferschutzrechte zu nennen.
Deshalb bedarf der Einsatz solcher Techniken, hier
der Videokonferenztechnik, einer sorgfältigen Prüfung
auf mögliche Auswirkungen auf das Recht des rechtlichen Gehörs und die verfassungsfesten Maximen eines
fairen Verfahrens. Besonders ist darauf zu achten, dass
im Strafprozess die Rechte des Beschuldigten und der
Verteidigung nicht auf der Strecke bleiben.
Bisher sind Ton- und Bildzuschaltungen schon in
mindestens zwei Gesetzen eingeführt worden. Mit dem
Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998 wurde die Möglichkeit eröffnet, in der Hauptverhandlung die Vernehmung eines Zeugen aus einem anderen Raum in den Gerichtssaal mithilfe von Videotechnik zu übertragen.
Damals hat der „im Interesse einer wirksamen Bekämpfung moderner Kriminalitätsformen erforderliche Zeugenschutz“ Vorrang vor der Anwesenheit des in der
Hauptverhandlung zu hörenden Zeugen erhalten. Seit
2002 sieht die Zivilprozessordnung, allerdings nur mit
Zustimmung aller Beteiligten, die Möglichkeit vor,
Videokonferenzen im Zivilprozess einzusetzen. Damit ist
ein notwendiger Beitrag zur Modernisierung der Justiz
geleistet worden, ohne in Rechte der Beteiligten einzugreifen.
Der vorliegende Gesetzentwurf - übrigens eine Neuauflage einer ursprünglich hessischen Initiative aus dem
Jahr 2007, die seinerzeit dem Bundestag zwar zugeleitet, aber nicht zu Ende beraten wurde - sieht unter
Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eine
Abwesenheit von Beteiligten bei gleichzeitiger Zuschaltung über Ton- und Bildtechniken in zahlreichen Fällen
vor: Dolmetscher sollen bei Verhandlungen, Anhörungen oder Vernehmungen zugeschaltet werden können
({0}); Parteien, ihre Bevollmächtigten und Beistände sollen sich an einem anderen Ort aufhalten und
dort Verfahrenshandlungen vornehmen dürfen ({1}); Zeugen sollen in Abwesenheit vernommen werden können ({2}); auch bei Abwesenheit des
Beschuldigten soll mündlich verhandelt ({3}) und dieser sogar vernommen werden können ({4}); auch bei Abwesenheit
des Angeklagten soll dieser über die Anklage vernommen ({5}) und bei Abwesenheit des Sachverständigen ({6}) soll dieser vernommen werden können; in Abwesenheit des Verurteilten
kann über eine Bewährungsentlassung oder weitere Inhaftierung entschieden werden ({7}).
Ich will aus Zeitgründen heute nur zu den Vorschlägen in der ZPO und in der StPO Stellung nehmen. Schon
heute ist im Einverständnis der Beteiligten im Zivilprozess der Einsatz von Videotechnik möglich. Eine Ausweitung erscheint möglich, wenn Parteien dies für sich beantragen und damit auf ihre Anwesenheit bei Gericht
verzichten. Bei der Zeugenvernehmung sollten aber wie
bisher alle Verfahrensbeteiligten ihr Einverständnis erklären müssen. Im Strafverfahren mitsamt der Strafvollstreckung ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit tragend. Das Gericht kann sich bei physischer Anwesenheit
von Beschuldigten und Zeugen ein Bild von den Personen und ihrer Glaubwürdigkeit machen. Der Beschuldigte kann als physisch Anwesender eindeutig besser
seine Argumente zu Gehör bringen. Das Recht auf rechtliches Gehör ist ein Grund- und Menschenrecht.
Von diesen Grundüberlegungen ausgehend können
wir alle Änderungen im Ermittlungs- wie im Vollstreckungsverfahren begrüßen, die das Recht auf rechtliches
Gehör ausweiten. Allerdings wird sorgfältig zu prüfen
sein, inwieweit der Einsatz der Videotechnik von einer
Ausnahme zu einer Regel mutieren könnte. Der beste
Schutz davor ist die erforderliche Zustimmung des Beschuldigten zu einem solchen Verfahren. Dies gilt besonders für die Bewährungsentscheidungen im Strafvollzug.
Die Anhörung durch das Gericht wird für eine richtige
Entscheidung meist eine zwingende Voraussetzung sein.
Wo das Gericht eine mündliche Anhörung für notwendig
hält, kann der Einsatz einer Ton- und Bildübertragung
nur mit Zustimmung des Verurteilten erfolgen. Abzulehnen ist der Einsatz der Videotechnik beim Einsatz von
Dolmetschern und der Anhörung von Sachverständigen
und Zeugen. Die Nachteile einer solchen Regelung überwiegen bei Weitem die möglichen Vorteile.
Der hessische Justizminister Banzer von der CDU,
auf dessen Initiative der Entwurf 2007 ja zurückging,
sah die Vorteile der Videokonferenztechnik vor allem „in
der Zeitersparnis“ für die Beteiligten und das Gericht.
Die Terminierung werde erleichtert, Verfahren könnten
beschleunigt werden. Durch die eingesparten Reisekosten und den reduzierten Zeitaufwand würden gerichtliche Verfahren insgesamt „kostengünstiger“. Das ist die
eigentliche Absicht des vorliegenden Gesetzentwurfs
und das kommt auch in seiner Begründung zum AusZu Protokoll gegebene Reden
druck. Ich will nicht missverstanden werden: Gegen eine
Verfahrensbeschleunigung als solche haben wir gar
nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ja bereits
vielfach einen effektiven Rechtsschutz gegen überlange
Verfahren von Deutschland eingefordert. Aber Verfahrensbeschleunigung ist nun mal kein Selbstzweck und
darf keinesfalls dazu führen, dass rechtsstaatliche Garantien geopfert werden.
Der Gesetzentwurf enthält schließlich, rechtstechnisch völlig verunglückt, eine Ermächtigung für die
Bundesländer, Zeitpunkt und Ausmaß des Einsatzes der
Ton- und Bildübermittlung in allen Prozessordnungen
einzusetzen. Die Bundesregierung benennt diesen Vorschlag klar, deutlich und richtig als ein Verbot des Einsatzes dieser Techniken mit einem Erlaubnisvorbehalt.
Ich füge hinzu: Dies ist ein Erlaubnisvorbehalt nach
Kassenlage und eine Verschlechterung der bisherigen
Rechtslage, die von den Bundesländern die Einführung
dieser Technik in bestimmten Fällen zwingend verlangt.
Verdeutlichen wir uns, dass der Einsatz der Ton- und
Bildübermittlung mit dem Gedanken des Opferschutzes
begründet ist, dann wird deutlich, dass der Gesetzesvorschlag des Bundesrates auch gegen den bisher schon erreichten Opferschutz gerichtet ist.
Ich darf zusammenfassen: Die rechtsstaatlichen
Grundsätze der deutschen Prozessordnungen dürfen
durch den Einsatz der Ton- und Bildübertragung nicht
ausgehebelt werden. Es ist zu begrüßen, wenn der Einsatz dieser Technik in Einzelfällen das Recht auf rechtliches Gehör stärkt und zu einem Erkenntniszugewinn
beim Gericht führt. Es ist nicht angebracht, Sachverständige und Zeugen über Ton- und Bildtechniken zu befragen und Dolmetscher über diese Technik zuzuschalten. Wir dürfen rechtsstaatliche Standards unserer
Prozessordnungen nicht unter einen Finanzierungsvorbehalt stellen und den erreichten Stand des Einsatzes
der Videotechnik zum Schutz von Opfern nicht aus finanziellen Gründen zurückfahren. Und schließlich: Wir
sollten ernsthaft darüber nachdenken, die modernen
Techniken in unseren Prozessordnungen umfassend zu
Dokumentationszwecken einzusetzen.
Mit dem am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Gesetz zur Reform des Zivilprozesses wurde die Videokonferenz in den Zivilprozess eingeführt. Sie baute die
Möglichkeiten des Einsatzes moderner Kommunikationsmittel weiter aus, indem bei Einvernehmen aller Beteiligten Verfahrensbeteiligte an der mündlichen Verhandlung im Wege einer Videokonferenz teilnehmen
können. Im Strafverfahrensrecht wurden die rechtlichen
Möglichkeiten zum Einsatz der Videokonferenztechnik in
den letzten Jahren fortlaufend ausgebaut.
Die Videokonferenztechnik ist heute - fast zehn Jahre
später - in vielen Gerichten und Anwaltskanzleien technisch verfügbar, führt aber oft nur ein Schattendasein.
Sie sollte nach Auffassung der Bundesregierung häufiger eingesetzt werden. Dadurch könnten den Beteiligten
aufwendige und zeitintensive Anreisen erspart werden.
Dies kommt nicht nur den Bürgern entgegen, sondern
hilft auch, das Verfahren schneller und kostengünstiger
zu machen.
Die Bundesregierung begrüßt deshalb den Gesetzentwurf des Bundesrates im Grundsatz. Der Entwurf baut
einige rechtliche Hürden für den Einsatz der Videokonferenztechnik ab: Künftig soll im Zivilprozess der Einsatz der Videokonferenztechnik in der mündlichen Verhandlung und bei der Beweisaufnahme im Ermessen des
Gerichts stehen und nicht mehr vom Einverständnis der
Parteien abhängen. Im Falle der Gefahr eines zukünftigen Beweisverlustes soll das Gericht die Aufzeichnung
anordnen können. Im Bereich des Strafverfahrensrechts
soll nach dem Entwurf das Ziel der Verfahrensbeschleunigung und der Steigerung der Verfahrensökonomie insbesondere dadurch erreicht werden, dass unter bestimmten Voraussetzungen Vernehmungen oder Anhörungen
von Verfahrensbeteiligten und Zeugen unter Verzicht auf
deren persönliche Anwesenheit erfolgen können.
Es soll unter anderem ein entsprechender Einsatz der
Videokonferenztechnik für die Vernehmung eines Zeugen
außerhalb der Hauptverhandlung nach § 58 b StPO-E
zum Beispiel zur Verhinderung des zeitaufwendigen Versandes von Verfahrensakten mit Vernehmungsersuchen
an ferne Polizeidienststellen möglich sein. Auch im Zusammenhang mit der mündlichen Haftprüfung soll der
Einsatz von Videokonferenztechnik nach § 118 a Abs. 2
Satz 2 StPO-E ermöglichen, dass der Beschuldigte in
den Fällen, in denen das Gericht wegen Krankheit oder
anderer nicht zu beseitigender Hindernisse nach bisheriger Rechtslage auf dessen Vorführung verzichtet hat,
nunmehr an der Haftprüfung per Videokonferenz teilnehmen kann. Im Bereich der Strafvollstreckung soll
durch den vermehrten Einsatz von Videokonferenztechnik den Strafvollstreckungskammern eine erhebliche
Verfahrenserleichterung dadurch zuteilwerden, dass die
persönliche Anwesenheit des Verurteilten zum Beispiel
bei der Anhörung im Rahmen der Entscheidung einer
Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nicht mehr
stets erforderlich ist. Die Bundesregierung kann aber
den Vorschlägen des Bundesrates nicht uneingeschränkt
zustimmen.
Die Videokonferenztechnik wird bereits jetzt im Bereich des Strafverfahrensrechts eingesetzt. So dürfen die
Staatsanwaltschaft und die Polizei Vernehmungen von
Beschuldigten und Zeugen schon nach der bestehenden
Gesetzeslage per Videokonferenztechnik vornehmen,
ohne dass es hierzu einer ausdrücklichen Regelung bedürfte. Denn der die gerichtlichen Verhandlungen beherrschende Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt hier nicht.
Die gesetzliche Verankerung des Einsatzes der Videokonferenztechnik für gerichtliche Vernehmungen und
Anhörungen, unter anderem in § 58 b StPO-E, ist daher
grundsätzlich zu begrüßen. Für den Bereich der polizeilichen Zeugenvernehmung bedeutet die beabsichtigte
Regelung des § 58 b StPO-E hingegen eine Einschränkung der bislang möglichen Anwendung der Videokonferenztechnik. Denn die Vorschrift würde für die polizeiliche Zeugenvernehmung mangels Verweisung in der für
sie ausschlaggebenden Regelung des § 163 Abs. 3 StPO
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht gelten und damit den Umkehrschluss nahelegen,
dass die Videokonferenztechnik bei der polizeilichen
Zeugenvernehmung nicht zulässig ist. Das ist kontraproduktiv. Die bereits bestehenden Möglichkeiten, die Videokonferenztechnik im Bereich der staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen einzusetzen,
sollten nicht beschränkt werden. Dies muss aus Sicht der
Bundesregierung durch sprachliche Änderungen im Gesetzentwurf noch sichergestellt werden.
Aus strafprozessualer Sicht muss darüber hinaus weiterhin gewährleistet sein, dass das Gericht beim Einsatz
der Videokonferenztechnik die tragenden und bewährten
Grundsätze des Strafverfahrens, insbesondere den
Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, sowie die berechtigten Interessen aller Verfahrensbeteiligten miteinander abwägen und zu einem Ausgleich
bringen kann, ohne dass von vornherein ein Abwägungsvorrang festgelegt würde. Es muss vermieden werden, dass durch den Gesetzentwurf Widersprüche zu den
bereits vorhandenen Regelungen über den Einsatz von
Videokonferenztechnik, der vor allem zum Schutz des
Opfers bereits geltendes Recht ist, entstehen. Schließlich
muss insbesondere vermieden werden, dass durch eine
Einschränkung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme dem erkennenden Gericht die Möglichkeit genommen wird, sich einen ganz persönlichen
Eindruck von dem Zeugen oder dem Angeklagten zu machen.
Gerade und in besonderem Maße bei der Anhörung
des Verurteilten im Strafvollstreckungsrecht spielt der
persönliche Eindruck eine wesentliche Rolle. Wenn das
Gericht den Verurteilten vor seiner Entscheidung, ob die
Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, anhört, gewährt es ihm damit nicht nur rechtliches Gehör.
Es verschafft sich, was mindestens ebenso wichtig ist,
durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Verurteilten
einen höchstpersönlichen Eindruck von ihm. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, dass dieser Zweck bei
den Vorschlägen zur Einführung der Videokonferenztechnik in den Fällen der §§ 453, 454 StPO-E nicht aus
dem Blick gerät.
Zum Schluss möchte ich auf einen weiteren problematischen Punkt im Entwurf hinweisen. Die Nutzung der
Videokonferenztechnik sollte nicht davon abhängen,
dass die Länder sie durch eine Rechtsverordnung - womöglich für jedes einzelne Gericht gesondert - zulassen.
Das in Art. 9 des Entwurfes stehende grundsätzliche
„Verbot mit Zulassungsvorbehalt“ wäre ein Rückschritt
gegenüber der heutigen Rechtslage, die den Einsatz von
Videotechnik generell zulässt. Die Regelung steht dem
Ziel des Entwurfes, den Einsatz der Videotechnik zu fördern, entgegen.
Die Regelung ist auch nicht zum Schutz der Landesjustizhaushalte vor unkalkulierbaren Kosten notwendig.
Im Zivilprozess ist schon jetzt klar, dass die Beteiligten
den Einsatz von Videotechnik nicht beanspruchen können. Im Strafprozess hat dagegen der Bundesgerichtshof
schon entschieden, dass die Justizverwaltungen verpflichtet sind, es zu ermöglichen, dass ein Zeuge per Videokonferenz vernommen wird, wenn es anders nicht
geht. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, in den
noch offenen Fragen des Entwurfs in den jetzt anstehenden Beratungen des Deutschen Bundestages zufriedenstellende Lösungen zu finden, damit die Videokonferenz
in der gerichtlichen Praxis künftig eine größere Bedeutung erlangt.
Auch hier wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf
Drucksache 17/1224 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind nicht dagegen. Deswegen ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Holger Ortel,
Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik zum Erfolg führen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Behm, Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth
({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen der EU-Fischereireform 2013 nut-
zen und Gemeinsame Fischereipolitik
grundlegend reformieren
- Drucksachen 17/3179, 17/3209, 17/3957 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Holger Ortel
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kolle-
ginnen und Kollegen Connemann, Ortel, Happach-
Kasan, Tackmann und Behm.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/3957.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/3179. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung wurde angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen; SPD
und Linke haben dagegen gestimmt.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/3209. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Dafür haben die Koalitionsfraktionen und die SPD
1) Anlage 14
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt, die Linke hat sich enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften
- Drucksache 17/4984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Gesundheit
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kolleginnen und Kollegen Holzenkamp, Tack, HappachKasan, Binder und Höfken.
Im vergangenen Jahr, genauer am 21. Dezember,
drangen erste Meldungen über erhöhte Dioxinbelastungen von Futtermitteln an die Öffentlichkeit. Am 14. Januar - nur 24 Tage später - stellte Bundesagrarministerin Ilse Aigner ihren Aktionsplan zur Sicherheit in der
Futtermittelkette vor. Wiederum nur 19 Tage später, am
2. Februar, billigte das Kabinett mit den Änderungen
zum Lebens- und Futtermittelgesetzbuch erste gesetzliche Umsetzungen einzelner Punkte des Aktionsplans.
Das sind nicht einmal anderthalb Monate nach den ersten Dioxinmeldungen. Ich wiederhole: anderthalb Monate. Wer den zähen, langen Fluss der Gesetzgebung
kennt, der weiß was dieser Zeitraum bedeutet.
Und was kam in dieser Zeit von der Opposition? Wieder einmal nur die übliche Phrasendrescherei, Hysterie
und Angstmacherei. Sie haben Ministerin Aigner Untätigkeit und Überforderung vorgeworfen. Welch ein
Quatsch! Denn die Fakten sprechen eine völlig andere
Sprache: CDU/CSU und FDP haben besonnen reagiert.
CDU/CSU und FDP haben schnell reagiert.
Nun mag der eine oder andere sagen, er höre hier mal
wieder das übliche Selbstlob der Regierung. Dem sei die
Aussage der EU-Kommission entgegengehalten. Diese
sagte Mitte Februar sinngemäß, Deutschland habe in
der Dioxinkrise höchst effizient gehandelt. Also, ein dickeres Lob für das Krisenmanagement der Bundesregierung kann ich mir kaum vorstellen.
Bevor ich zu der heute in erster Lesung beratenen Novelle des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches komme,
lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Dioxinvorfällen sagen. Ich denke, das ist - auch wenn wir darüber
schon debattiert haben - bitter nötig. Die Rolle, die die
Opposition und ein Teil der Medien hier gespielt haben,
war höchst verantwortungslos. Anstatt zur sachlichfachlichen Aufklärung beizutragen, überschlug man sich
in immer hysterischeren Überschriften. Und während
der Agrarausschuss des Deutschen Bundestages die
Vorfälle um das dioxinverschmutzte Futtermittel diskutierte, hatte die Opposition nichts Besseres zu tun, als
den Sitzungssaal zu verlassen und der Presse angebliche
neue Skandale in die Feder zu diktieren. Wir hätten uns
eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition
gewünscht. Doch von dieser kam, wie so häufig in der
Vergangenheit, nur ein destruktives Skandalisieren, und
das alles zulasten der Verbraucher. Der Opposition
scheint nichts am aufgeklärten, mündigen Verbraucher
zu liegen. Nein, der Verbraucher muss Angst haben.
Dann kann man eigene politische Ziele am besten umsetzen.
Dabei wurde dann natürlich geflissentlich übergangen, dass wir in den letzten Jahren auch verschiedene
Dioxinskandale bei Bioprodukten hatten. Dabei wurde
dann auch geflissentlich übergangen, dass das Bundesinstitut für Risikobewertung die wenigen geringen
Höchstmengenüberschreitungen von Dioxin in Lebensmitteln als für den Verbraucher völlig ungefährlich eingestuft hat. Und dabei wurde ebenso übergangen, dass
die Dioxinbelastung der Menschen in Deutschland - gut
zu messen zum Beispiel am Dioxingehalt in der Muttermilch - seit 1990 kontinuierlich zurückgegangen und
heute auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzenten liegt.
Die Opposition betreibt politischen Missbrauch auf dem
Rücken der Verbraucher mit dem Ziel, ihre sogenannte
ökologische Agrarwende zu erreichen.
Die Wirklichkeit sieht aber gänzlich anders aus:
Diese von Ihnen angestrebte Ökologisierung der Landwirtschaft verteuert Lebensmittel erheblich. Eben in dieser Diskussion offenbaren Sie, wie unsozial Grüne, SPD
und Linke eigentlich sind. De facto ist es doch so: Die
moderne arbeitsteilige und intensive Landwirtschaft ist
dafür verantwortlich, dass die Menschen heute nur
11 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben
müssen. Die moderne Landwirtschaft ist unter anderem
dafür verantwortlich, dass die Lebensmittel heute qualitativ so hochwertig sind wie nie zuvor.
Die moderne Landwirtschaft produziert für die Verbraucher Lebensmittel gut und preiswert. Das nenne ich
wirklich nachhaltig. Verschonen Sie uns also bitte mit
Ihrem Gerede von der Agrarwende.
Niemand will die Situation schönreden. Es hat die
Verunreinigung des Futtermittels mit Dioxin gegeben.
Aber warum war das so? Wir haben es hier mit kriminellen Machenschaften Einzelner zu tun. Es geht um individuelles Versagen, mit erheblichen finanziellen Auswirkungen auf viele Tausend ehrlich wirtschaftende
bäuerliche Familien.
Die negative Entwicklung der bäuerlichen Einkommen als Folge der Dioxinpanscherei lässt sich schon an
den Schlachtpreisnotierungen für Schweine in den vergangenen Wochen ablesen. Gesperrte Höfe, gesperrte
deutsche Exporte in Drittländer für Schweine- und Geflügelfleisch sprechen eine deutliche Sprache. Hier zeigt
sich, was von der von der Opposition propagierten ökologischen Systemwende und den darin verborgenen Anschuldigungen gegenüber dem modern wirtschaftenden
Bauernstand zu halten ist. Nichts! Die Landwirte und
ihre Familien sind Opfer von Kriminellen, nicht Täter.
Nein, wir brauchen keine Agrarrolle rückwärts. Die
Grundlage der Lebensmittelproduktion ist und bleibt die
intensiv und ertragreich wirtschaftende Landwirtschaft.
Wir müssen vorwärts schauen und vorwärts handeln.
Was wir, was die Bundesregierung und - das darf nicht
vergessen werden - was auch die EU plant, sind Maßnahmen, Schwachpunkte in der Futtermittelproduktion
so weit zu minimieren, dass in Zukunft die Schlupflöcher
für Betrüger noch kleiner werden.
Der erste Umsetzungsblock der Maßnahmen des Aktionsplans der Bundesregierung und der Länder sind
Änderungen im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch.
Diese betreffen insbesondere die Punkte der Meldepflicht von privaten Laboren, wenn sie erhöhte Werte bei
ihren Untersuchungen von Futtermittelproben feststellen, sowie eine Meldepflicht von internen Untersuchungen, bei denen erhöhte Werte festgestellt worden sind.
Wir wollen bei der Umsetzung der Maßnahmen des
Aktionsplanes eng mit allen beteiligten Fachkreisen zusammenarbeiten, um die Effizienz der Maßnahmen so
weit wie möglich zu steigern, gleichzeitig aber ineffiziente Reibungsverluste zu vermeiden. Deswegen haben
die Fraktionen von CDU/CSU und FDP beschlossen, zu
dem vorgelegten Gesetzentwurf eine öffentliche Anhörung im Agrarausschuss durchzuführen. Danach werden
die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP entscheiden, ob und, wenn ja, welche Änderungen am LFGBVorschlag der Bundesregierung vorgenommen werden.
Neben den Anpassungen im Rahmen von bereits geltenden EU-Verordnungen enthält der Entwurf aus aktuellem Anlass des Dioxinskandals auch Regelungen, die
im gemeinsamen Aktionsplan des Bundes und der Länder „Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel,
Transparenz für den Verbraucher“ festgelegt wurden.
Dies ist zunächst grundsätzlich zu begrüßen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte umgehend Forderungen für Konsequenzen aus dem Dioxinskandal erhoben und darin unter anderem die jetzt vorgeschriebene
Meldepflicht für private Untersuchungslabore gefordert.
Diese sollen jetzt laut Gesetzentwurf bedenkliche Mengen von gesundheitlich nicht erwünschten Stoffen, die
sie in untersuchten Lebens- und Futtermitteln festgestellt haben, an die zuständigen Behörden melden. Wir
fordern, dass Untersuchungslabore und das Laborpersonal alle Ergebnisse von Lebensmittel- und Futtermitteluntersuchungen unmittelbar an die zuständigen
Überwachungsbehörden melden, das heißt, die Regelung im Gesetzentwurf der Bundesregierung greift hier
zu kurz.
Die Verpflichtung von Lebens- und Futtermittelunternehmen, Ergebnisse über Eigenkontrollen hinsichtlich
Dioxinen und Furanen sowie dioxinähnlichen und nichtdioxinähnlichen polychlorierten Biphenylen an die zuständigen Behörden zu melden, ist ebenfalls ein Fortschritt. Allerdings muss hier noch eine strengere Kontrolle von Futterfetten vorgeschrieben werden, und die
Hersteller müssen verpflichtet werden, jede Charge beproben zu lassen. Die Futtermittelfette sind als Haupteintragsquelle der fettlöslichen Dioxine besonders sensibel und deshalb schärfer zu überwachen Auch muss
eine offene und vollständige Deklaration aller Futtermittelinhaltsstoffe umgesetzt werden. Damit wird dafür
gesorgt, dass nur sichere Bestandteile in die Futtermittelkette gelangen.
Wir erwarten, dass die vom Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz angekündigte Rechtsverordnung für die nicht erwünschten
Stoffe umgehend vorgelegt wird, und werden deren Inhalt kritisch überprüfen.
Die zuständigen Behörden der Länder sollen nach einer Rechtsverordnung die ihnen vorliegenden Untersuchungsergebnisse über Gehalte an gesundheitlich nicht
erwünschten Stoffen an das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit melden. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit
erstellt aus dem gemeinsamen Datenpool vierteljährlich
einen Bericht, sodass der Ausbau eines Frühwarnsystems zu begrüßen ist.
Allerdings muss auch das Verbraucherinformationsgesetz, VIG, unverzüglich novelliert und an die neuen
Anforderungen angepasst werden. Wir wollen, dass
sämtliche Untersuchungsergebnisse der betrieblichen
Eigenkontrollen sowie die staatlichen Untersuchungsergebnisse in einer Datenbank veröffentlicht werden. Dies
hat unabhängig davon zu geschehen, ob Grenzwerte eingehalten oder unterschritten wurden.
Verbraucherinnen und Verbraucher müssen in die
Lage versetzt werden, dioxin- oder anderweitig belastete
Lebensmittel auch unterhalb der erfassten und zulässigen Grenzwerte zu meiden. Nach dem derzeitigen Stand
der wissenschaftlichen Erkenntnisse gelten mit Dioxin
belastete Lebensmittel unterhalb bestimmter Grenzwerte
als ungefährlich. Die Gifte reichern sich jedoch in der
Nahrungskette an und lagern sich im Fettgewebe ein.
Dioxine können vom Körper kaum abgebaut oder ausgeschieden werden. Ziel muss es sein, die Belastung mit
Dioxin so weit wie möglich zu vermindern.
Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht
auf diese Informationen, die Novellierung des VIG muss
also schnellstens vorgelegt werden.
Die jetzt vorgesehenen Änderungen des Lebensmittelund Futtermittelgesetzbuches, LFGB, sind deswegen
nur ein Anfang der erforderlichen Konsequenzen aus
dem Dioxinskandal. Auch wenn die Bundesregierung
nicht für die Umsetzung aller Punkte des Aktionsplans
zuständig ist, muss Frau Aigner für eine zügigere Abarbeitung sorgen und Maßnahmen bei den Ländern oder
auf der EU-Ebene einfordern. Die Bundesländer dürfen
sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen oder die im
Aktionsplan vereinbarten Maßnahmen verzögern.
Die Einrichtung der zentralen Informationsplattform
www.lebensmittelwarnung.de ist längst überfällig, Verbraucherinnen und Verbraucher müssen sich ausführlich informieren können. Eine bundesweite und zeitnahe
Aufstellung über Rückrufaktionen, Warnungen, beanstandete Produkte sowie deren Kennnummern und darüber, welche Behörde verantwortlich ist, muss öffentlich
gemacht werden.
Andere dringende und angekündigte Regelungen fehlen ebenfalls noch oder sind gar nicht vorgesehen. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
Durchsetzung einer Positivliste für Futtermittelinhaltsstoffe in Europa muss intensiviert werden; sollte es dort
Widerstände geben, muss es eine nationale Liste geben.
Einheitliche Kontrollstandards auf europäischer Ebene
müssen eingefordert werden. Eine Senkung der Grenzwerte für Futtermittelausgangsstoffe muss ebenfalls eingefordert werden. Ein funktionierendes Rückverfolgungssystem, ein bundesweit einheitliches Niveau der
Lebensmittelüberwachung oder neue Haftungsregeln
und Strafverschärfungen sind bisher nur angekündigt.
Ein Informantenschutz für Mitarbeiter und Beschäftigte,
die die zuständigen Behörden über Missstände bei ihren
Arbeitgebern informieren, ist von der Bundesregierung
gar nicht vorgesehen; deshalb wird die SPD-Bundestagsfraktion dazu zeitnah ein eigenes Gesetz einbringen.
Die Belastung von Lebens- und Futtermitteln durch
Dioxine, wie sie durch das augenscheinlich kriminelle
Handeln eines Fettmischbetriebes verursacht worden
sind, haben zu Beginn dieses Jahres für große Verunsicherung bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern
gesorgt. Viele landwirtschaftliche Betriebe sind existenziell in Bedrängnis geraten. Sie sind die eigentlichen
Opfer. Zu keiner Zeit sind Menschen gefährdet worden.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat zu Recht
darauf hingewiesen, dass die bestehenden Grenzwerte
keine toxikologische Bedeutung haben. Sie verfolgen
das Ziel, den Gehalt unserer Lebens- und Futtermittel
an Dioxinen, die in unserer Umwelt nahezu überall vorhanden sind, möglichst zu minimieren. Dies ist in den
letzten beiden Jahrzehnten gut gelungen, denn die Dioxinbelastung konnte durch technische Maßnahmen auf
ein Drittel abgesenkt werden.
Um solche Vorkommnisse wie zu Beginn dieses
Jahres zukünftig zu vermeiden, wurde am 18. Januar die
Gemeinsame Erklärung des Bundes und der Länder
„Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel,
Transparenz für den Verbraucher“ mit einem 14-PunkteMaßnahmenkatalog verabschiedet. Um die ersten Maßnahmen umzusetzen, hat das Ministerium jetzt in kurzer
Zeit einen Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches, LFGB,
erarbeitet. Enthalten sind hier Vorschläge, wie die Eigenkontrollen bei Futtermittel- und Lebensmittelunternehmen transparenter ausgestaltet werden können.
Für die FDP-Fraktion steht die Lebensmittelsicherheit an erster Stelle. Wir unterstützen die Ziele des Aktionsplans, die Kontrollen von Futter- und Lebensmitteln
noch effizienter und wirksamer zu gestalten. Wir haben
in Deutschland heute so sichere Lebensmittel wie nie zuvor. Dennoch gilt es, auch hier zu prüfen, ob die Qualität
und Dichte der Kontrollen im Hinblick auf die Risikopotenziale ausreichend sind. Die Produzenten haben die
Verantwortung für ihre Produkte. Die große Mehrheit
der Produzenten nimmt diese Verantwortung sehr ernst.
Wir dürfen die Hersteller nicht durch staatlichen Aktionismus aus der Eigenverantwortlichkeit für ihre
Produkte entlassen. Staatliche Kontrollen können Eigenverantwortung nicht ersetzen. Die Qualitätssicherungssysteme der Lebens- und Futtermittelhersteller
müssen gestärkt und transparenter ausgestaltet werden,
um frühzeitig mögliche Belastungen mit unerwünschten
Stoffen erkennen zu können. Nur so können potenzielle
Gefahren für den Verbraucher und die wirtschaftlichen
Folgen für Landwirte und Unternehmen so gering wie
möglich gehalten werden.
Der LFGB-Entwurf des Ministeriums sieht in § 44
eine Meldepflicht für private Laboratorien vor. Bei verdächtigen Untersuchungsergebnissen von Lebens- oder
Futtermitteln sind die zuständigen Behörden unverzüglich zu informieren. Weiterhin sollen Unternehmen aus
der Lebens- und Futtermittelbranche mittels des neuen
§ 44 a dazu verpflichtet werden, Ergebnisse aus internen
Eigenkontrollen über eine ganze Reihe von unerwünschten Stoffen an die zuständigen Behörden zu melden.
Nach Ansicht der betroffenen Wirtschaftsverbände und
der mit den Untersuchungen betrauten Laboratorien
stellt der Entwurf eine vollkommene Neuordnung der
bisherigen Rechtspraxis dar. Es werden teilweise problematische Auswirkungen auf die Praxis erwartet. Verbände äußerten die Besorgnis, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Laboratorien und Herstellern durch
die Auskunftspflicht nachhaltig gestört wird.
Wir nehmen diese Einwände sehr ernst. Wir sind allerdings der Auffassung, dass zumeist zwischen Produzenten und Laboratorien seit vielen Jahren enge geschäftliche Verbindungen bestehen, die sich auch unter
neuem Recht vertrauensvoll weiterführen lassen.
Gleichzeitig handelt es sich bei den hier vorgeschlagenen Gesetzesänderungen jedoch um eine nationale Sonderregelung im Bereich des Lebens- und Futtermittelrechtes. Die Gefahr einer Benachteiligung nationaler
Unternehmen und ein Ausweichen auf Laboratorien in
anderen EU-Staaten kann daher nicht ausgeschlossen
werden.
Die grundlegende Idee des neuen § 44 a, über die
Mitteilungspflicht von Untersuchungsergebnissen zu gesundheitlich nicht erwünschten Stoffen eine bessere Datengrundlage zu erhalten und mögliche Belastungsquellen besser abschätzen zu können, ist sinnvoll. Allerdings
werden hier ungefiltert riesige Datenmengen, die kein
statistisch abgesichertes Bild der Situation liefern können, von nichtöffentlichen Stellen erhoben und beim
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, gesammelt. Diese Daten stammen aus
sehr verschiedenen Quellen, haben unterschiedliche
Qualitäten und führen nach Ansicht der Verbände zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand bei den
Unternehmen. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass ein
Bearbeiten der Daten, was Voraussetzung für deren
sinnvolle Nutzung ist, nur unter einem erheblichen personellen Mehraufwand durch die Behörden zu bewerkstelligen ist. Angesichts der Haushaltssituation und der
gegebenen hohen Lebensmittelsicherheit muss hinterfragt werden, ob dies zielführend ist.
Ein gut durchdachtes Vorbild stellt das Deutsche Lebensmittel-Monitoring dar, das 1995 eingeführt wurde.
In einem festgelegten Kontrollplan werden Daten zur
Belastung von Lebensmitteln, Kosmetika und Bedarfsgegenständen erhoben. Grundlage ist ein repräsentativer
Zu Protokoll gegebene Reden
Warenkorb, der aufgrund einer Risikoabschätzung auf
unterschiedliche unerwünschte Stoffe wie Mykotoxine,
Schwermetalle, Rückstände von Pflanzenschutzmitteln
und andere getestet wird. In der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift Monitoring wird nach einem statistisch
validen Verfahren jeweils für fünf Jahre festgelegt, welche Stichproben zu welchem Zeitpunkt gezogen werden
müssen und auf welche Stoffe dabei untersucht werden
soll. Jährlich werden 9 000 Untersuchungen bei Lebensmitteln auf die festgelegten Stoffe durchgeführt. Das
Beispiel des Lebensmittel-Monitorings zeigt: Nur wenn
solche Daten mit Sinn und Verstand erhoben werden,
können aus unserer Sicht nachvollziehbare, belastbare
Schlüsse gezogen werden.
Die Dioxinfunde am Anfang des Jahres, welche die
Verbraucherinnen und Verbraucher verunsichert haben,
erforderten schnelles und entschlossenes Handeln. Die
Koalition wird dafür Sorge tragen, dass die Maßnahmen
des 14-Punkte-Plans rasch umgesetzt werden können.
Dennoch darf die Gründlichkeit nicht der Schnelligkeit
geopfert werden. Deshalb werden wir einzelne Detailfragen in einer Anhörung mit Fachleuten erörtern.
Gemeinsam gilt es zu prüfen, wie eine Datenerhebung
aus Eigenkontrollen und unter Berücksichtigung der
Grundsätze des Datenschutzes effizient und zielgerichtet
vorgenommen werden kann.
Der Lobbyistenverband der Ernährungsindustrie, der
BLL, rühmt sich öffentlich damit, die Erstellung des hier
vorliegenden Gesetzentwurfes stark beeinflusst zu haben. Bei näherem Hinsehen wird auch klar, warum. Nur
2 der 14 Punkte, die im Laufe des Dioxinskandals zwischen der Bundesregierung und den Ländern vereinbart
wurden, sollen jetzt gesetzlich geregelt werden, und das
auch nur zu Teilen. Wesentliche Teile des „Aktionsplans
Verbraucherschutz“ sollen nämlich am Parlament vorbei per Verordnung durch das Ministerium allein geregelt werden. Lobbyisten, die im Hause Aigner ein und
aus gehen, haben damit mehr mitzureden als der Deutsche Bundestag. Das ist nicht hinnehmbar.
Gut an dem wenigen, das nun geregelt wird, ist: Private Labore, die im Auftrag von Unternehmen Schadstoffuntersuchungen durchführen, müssen bedenkliche
Mengen künftig direkt an die Behörden melden. Die
Linke findet es richtig, dass private Labore der Lebensmittelanalyse stärker in die Verantwortung genommen
werden. Im Dioxinskandal waren einem solchen Labor
die hohen Dioxinwerte der Verursacherfirma Harles und
Jentzsch bereits im März 2010 bekannt. Hätten die Behörden davon gewusst, wäre der Dioxinskandal ein
Dreivierteljahr später vermeidbar gewesen. Die Meldung der Daten ist also eine wichtige Information für die
Ämter, darf jedoch nicht die einzige sein.
Deshalb ist auch gut: Die Unternehmen werden verpflichtet, alle durchgeführten Schadstoffmessungen
- auch mit unbedenklichem Ergebnis - an die Behörden
zu übermitteln. Doch schon dieser Punkt geht der Lebensmittellobby zu weit. Bei der anstehenden Anhörung
zum Änderungsgesetz soll erreicht werden, dass die Ämter keine Informationen über die tatsächliche Belastung
unserer Lebensmittel erhalten. Ich sage: Lebensmittel
sind kein Betriebsgeheimnis. Wer hier etwas verheimlicht, will den Verbraucherinnen und Verbrauchern etwas vormachen. Die Linke wird sich deshalb nicht über
den Tisch ziehen lassen. Wir wollen echte Verbraucherinformationen.
An diesem Gesetzentwurf wird deutlich, dass Frau
Aigner wieder nur Ankündigungsministerin ist. In ihrem
Hause bestimmen offenbar andere die Richtung. Die
Linke fordert, dass aus dem Dioxinskandal endlich die
richtigen Konsequenzen gezogen werden.
Erstens. Die Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle
muss systematisch zusammen mit den Bundesländern
weiterentwickelt werden. Dazu sind die Eigenkontrollen
der Futter- und Lebensmittelbetriebe zu verbessern. Betriebliche Zertifizierungssysteme sind entlang der gesamten Erzeugungskette nach strengen gesetzlichen Vorgaben zu regeln und zu überwachen. Sie müssen
Erzeugungsformen und betriebswirtschaftliche Risiken
erfassen und eine durchgängige Dokumentationspflicht
beinhalten. Dazu muss für jede Futtermittelcharge vor
der Verarbeitung ein Test die Unbedenklichkeit belegen.
Wichtig ist auch: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
Behörden auf Missstände in Betrieben hinweisen, sollen
nach dem Vorbild von Großbritannien und den USA als
Hinweisgeber gesetzlichen Schutz erhalten.
Auch die staatlichen Kontrollen sind zu stärken: Die
behördliche Lebensmittelüberwachung muss die Wirksamkeit betrieblicher Zertifizierungssysteme überwachen sowie Risiken und Lücken in der Branche frühzeitig erkennen und schließen können. Dazu sind sie
personell und finanziell abzusichern. Der Bund soll die
Zusammenarbeit der Länder besser fördern. Der jeweils
beste Standard im Bereich der Lebensmittel- und Futtermittelüberwachung in einem einzelnen Bundesland ist
deutschlandweit zum Maßstab zu machen. Die Koordination auf Bundesebene ersetzt dabei nicht die Verantwortung in den Ländern. Die Behörden müssen im Verdachtsfall ungehinderten Zugang zu allen Betriebsdaten
erhalten, die die Erzeugungskette betreffen.
Zweitens. Mängel in der Lebensmittel- und Futtermittelerzeugung müssen systematisch behoben werden.
Dazu ist eine verpflichtende Positivliste bei Futtermitteln für Roh- und Zuschlagsstoffe auf EU-Ebene einzufordern. Betriebe sollen durchgängig nach Lebensmittelerzeugung und technischer Produktion getrennt sein.
Alle tierischen Fette zur industriellen Verarbeitung sind
am Herstellungsort durch Einfärbung kenntlich zu machen. Regionale Erzeugerkreisläufe und betriebseigene
Erzeugung von Futtermitteln sollen durch ein Förderprogramm des Bundes gezielt gefördert werden. Das
verkürzt die Lebensmittelkette, mindert die Eintragsrisiken und erleichtert die Nachvollziehbarkeit der Erzeugungskette.
Drittens. Die Verbraucherinformation muss erheblich
verbessert werden. Die Herkunft der Zutaten in den Lebensmitteln sowie die Verarbeitungsbetriebe müssen
auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehbar sein. Daten der Behörden und Betriebe sind
Zu Protokoll gegebene Reden
kein Betriebsgeheimnis, sondern eine wichtige Verbraucherinformation. Dazu muss das Verbraucherinformationsgesetz verbessert werden: Die zuständigen Behörden sollen von sich aus über Produkte bzw. Erzeugnisse
und Hersteller informieren, wenn Anhaltspunkte für eine
Gesundheitsgefährdung vorliegen. Verbraucherinnen
und Verbraucher sollen auch gegenüber Unternehmen
ein direktes Auskunftsrecht, beispielsweise zur gesamten
Herstellungs- und Lieferkette sowie über die Einhaltung
von Umwelt- und Sozialstandards, erhalten.
Viertens. Die Bundesregierung muss die Voraussetzungen für eine systemübergreifende Forschung schaffen, in der die vielfältigen Fachkenntnisse zusammenfließen, und ein Forschungsprogramm aufsetzen.
Fünftens. Die Verfolgung und Ahndung von Lebensmittelkriminalität ist zu verbessern, indem ein Förderprogramm für Fachleute zur Erkennung von Straftaten
in der Lebensmittelbranche aufgelegt wird und die Strafnormen im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch
handhabbarer gestaltet werden. Außerdem sollte der
Strafrahmen bei Verstößen gegen das Lebensmittel- und
Futtermittelrecht angemessen erhöht werden.
Sechstens. Für die vom Dioxinskandal betroffenen
Landwirtschaftsbetriebe, die keine Möglichkeit hatten,
sich der Krise zu entziehen, sollen unverzüglich Entschädigungsleistungen zum Beispiel über die landwirtschaftliche Rentenbank ermöglicht werden. Per Gesetz
sollte für zukünftige Schadensfälle ein Ausgleichsfonds
geschaffen werden, der von der Futtermittelindustrie
über Abgaben aus dem Handel mit Futtermittelchargen
finanziert wird. So sieht ein Aktionsplan für den Schutz
der Verbraucherinnen und Verbraucher aus.
Die Aufnahme der Meldepflicht für Labore und die
vorgesehene Erweiterung des Dioxinmonitorings über
das LFGB ist eine richtige Konsequenz aus den Skandalen um Lebens- und Futtermittel und speziell dem jüngsten Dioxinskandal. Die Ministerin setzt damit einen Teil
des von Bund und Ländern beschlossenen Aktionsplans
zur Bewältigung der Dioxinkrise um.
Allerdings haben sich Bundesministerin Ilse Aigner
und ihre bis vor kurzem für den Verbraucherschutz zuständige Staatssekretärin Julia Klöckner mit der LFGBÄnderung nur die kleinsten und unwichtigsten Punkte
aus dem von Nordrhein-Westfalens Minister Johannes
Remmel entwickelten Aktionsplan ausgesucht. Die wesentlich relevantere Rechtsverordnung zur Zulassungspflicht für Futtermittelhersteller, Trennung der Futtermittelproduktion von der Produktion für die technische
Industrie oder zu verschärften Vorgaben für die Eigenkontrollsysteme teilt weiterhin das Schicksal der meisten
Aigner-Initiativen: Sie bleibt eine Ankündigung.
Zurück zum Gesetzentwurf. Angesichts der bekannten
Sympathien von Ministerin Aigner für die Eigenkontrollsysteme der Wirtschaft ist zu befürchten, dass die Meldepflicht für private Labore einer erneuten Verlagerung
der Lebens- und Futtermittelüberwachung aus dem
staatlichen in den privatwirtschaftlichen Bereich Vorschub leisten soll. Meldepflichten für private Labore
können und dürfen aber die notwendigen Verbesserungen des Lebens- und Futtermittelkontrollsystems nicht
ersetzen. Wir haben zum Beispiel in Rheinland-Pfalz
nach wie vor viel zu wenige Kontrolleure. Im Schnitt gerade einmal 2,27 Kontrolleure sollen dort 1 000 Unternehmen pro Jahr überwachen, was auch der Landesrechnungshof bereits monierte. Der Anteil der
Verdachtsproben an allen erhobenen Proben liegt mit
nur 10,9 Prozent weit unter den vorgesehenen 20 Prozent. Die von Frau Aigner vorgeschlagene Verbesserung
der Kontrollqualität durch länderübergreifende Evaluierungen wird dieses Problem nicht lösen, hier muss der
Bund weiter auf die Länder einwirken und gleichzeitig
durch intelligente Ressourcennutzung Unterstützung
leisten, zum Beispiel durch länderübergreifende Referenzlabore oder eine Bundesunterstützung bei der Ausund Weiterbildung von Kontrolleuren.
Trotz Verbesserungen bei Melde- und Überwachungssystemen sperrt sich die Bundesregierung weiter gegen
das wirksamste Kontrollinstrument überhaupt: gut informierte Verbraucher, die durch ihre Kaufentscheidung
direkt die Marktentwicklung beeinflussen. Wir haben
dazu im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, aber auch in verschiedenen Anträgen mehrfach die Erweiterung des Verbraucherinformationsgesetzes um den direkten Informationsanspruch der
Verbraucher gegenüber Unternehmen gefordert. Damit
wären die Konsumenten nicht länger vom oft wenig umfassenden oder aktuellen Informationsstand der Behörden abhängig, und die Unternehmen hätten mehr direkte
Kundenresonanz - ein wichtiger Erfolgsfaktor für eine
auch ökonomisch nachhaltige Entwicklung.
Auch die laut einer Umfrage von 93 Prozent der Bevölkerung gewünschte Veröffentlichung von Kontrollergebnissen in Form eines „Smiley“ nach dänischem
Vorbild wird von der Bundesregierung nicht aktiv unterstützt. Die Verbraucherschutzminister der Länder mussten Aigner mit ihrem Beschluss auf der VSMK im September 2010 erst zu einer bundesweiten Umsetzung des
Smiley-Konzeptes zwingen.
Die entscheidende Schwäche von Aigners und
Klöckners Reaktion auf die Dioxinkrise liegt jedoch in
der Weigerung der Bundesregierung, die fundamentalen
Fehlentwicklungen in der Lebensmittelproduktion überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sie zu beenden.
Es handelt sich um die industrielle Futtermittelproduktion und die Massentierhaltung ohne Flächenbindung,
den Import von gentechnisch veränderten Futtermitteln
mit verheerenden Auswirkungen für Mensch und Umwelt in den Anbauländern verbunden mit der fallenden
einheimischen Erzeugung von Eiweißfuttermitteln, den
dramatischen Verlust an Biodiversität durch viel zu enge
Fruchtfolgen, den weltweiten Einsatz von Pestiziden in
Acker- und Gartenbau und die Verwendung von 300 Lebensmittelzusatzstoffen in der industriellen Lebensmittelproduktion als billigen Ersatz für hochwertige, natürliche Zutaten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, jetzt endlich die
richtigen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige,
Zu Protokoll gegebene Reden
ökologische und bäuerliche Landwirtschaft zu setzen,
die uns auch langfristig mit gesunden und sicheren Lebensmitteln versorgen kann. Frau Aigner darf nicht länger nur an den Symptomen herumdoktern und auf die Intensivierung der Produktion setzen, zum Beispiel bei der
Förderung der Konzentration in der Milchwirtschaft
oder der Produktion von Schweine- und Geflügelfleisch
für den Export. Sonst werden wir auch in Zukunft immer
wieder mit Skandalen konfrontiert werden, deren Folgen
in der Regel nicht die Verursacher, sondern die Landwirte und Verbraucher tragen müssen. Die Überarbeitung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches werden
wir weiter kritisch begleiten und fordern zu diesem
Thema eine öffentliche Anhörung.
Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4984 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Birgitt Bender, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Umsetzung der EU-Health-Claims-Verordnung voranbringen
- Drucksachen 17/4015, 17/4892 Berichterstattung:
Abgeordnete Carola Stauche
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrike Höfken
Ihre Reden zu Protokoll geben die Kolleginnen und
Kollegen Stauche, Tack, Geisen, Binder und Höfken.
Wir beraten heute einen Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen, der die Bundesregierung auffordert, sich für
eine zügige Umsetzung der Health-Claims-Verordnung
einzusetzen. Die Unionsfraktion lehnt diesen Antrag ab.
Die Gründe haben wir schon während der Ausschusssitzung erörtert ich möchte aber die Gelegenheit nutzen,
sie an dieser Stelle zu wiederholen.
Um die Health-Claims-Verordnung umzusetzen, bedarf es eines Verordnungsentwurfes der EU-Kommission, der dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorgelegt werden
muss. Einen solchen gibt es allerdings noch nicht. Das
bedeutet, dass die derzeitigen Einflussmöglichkeiten der
Bundesregierung stark eingegrenzt sind. Wir müssen
also warten, bis ein konkreter Vorschlag vorliegt. Diesen können oder, anders, diesen werden wir dann gemeinsam beraten und, wenn nötig, an der einen oder anderen Stelle ändern. Denn sowohl der Bundesregierung
als auch der Koalition ist an einer vernünftigen und wissenschaftsbasierten Kennzeichnung gelegen. Dass es in
diesem Punkt, was tatsächlich vernünftig ist, weit auseinandergehende Ansichten gibt, ist ja hinlänglich bekannt. Wobei ich anmerken möchte, dass ich bei den
Farbenspielen der Opposition in Sachen Lebensmittelkennzeichnung weniger an Vernunft denn an Verwirrung
denke, aber das nur am Rande.
Sie fordern in Ihrem Antrag, die EFSA im Hinblick
auf Unabhängigkeit und Transparenz zu reformieren.
Ich weiß gar nicht, warum das notwendig sein soll. Die
Unabhängigkeit der EFSA ist durch eine Reihe von Kontrollmechanismen gesichert. Ich denke da an den wissenschaftlichen Ausschuss und die wissenschaftlichen
Gremien, die sich aus unabhängigen Experten zusammensetzen. Diese Experten müssen Interessen- und Unabhängigkeitserklärungen abgeben, die veröffentlicht
werden. Dadurch ist Transparenz geboten. Oder wollen
Sie mir erzählen, dass ein Wissenschaftler oder Experte
bei einem Verstoß gegen diese Erklärungen nicht sofort
am digitalen Pranger stehen würde?
Auch die Unionsfraktion ist der Meinung, dass nicht
nur bei Lebensmittelzusatzstoffen zu technologischen
Zwecken, sondern auch bei Stoffen, die zu anderen Zwecken Lebensmitteln zugesetzt werden, der Schutz von
Verbraucherinnen und Verbrauchern vor gesundheitlichen Schäden und vor Irreführung sichergestellt werden
muss. Solche Stoffe bedürfen nach lebensmittelrechtlichen Vorschriften - bis auf einige wenige Ausnahmen einer grundsätzlichen Zulassung. Eine solche Zulassung
wird nur dann erteilt, wenn sich bei der gesundheitlichen Bewertung des Stoffes - beispielsweise durch das
Bundesinstitut für Risikobewertung - keine Bedenken
hinsichtlich der Sicherheit ergeben. Ich möchte noch
darauf hinweisen, dass bei der Verwendung von arzneilichen Wirkstoffen zu überprüfen ist, ob das Erzeugnis
nicht als Arzneimittel einzustufen ist und damit dem Arzneimittelrecht unterliegt. Ich möchte hier noch einmal
darauf hinweisen, dass Lebensmittelrecht und Arzneimittelrecht strikt getrennt sind. Das ergibt sich aus den
arzneimittelrechtlichen und den lebensmittelrechtlichen
Bestimmungen und hat zur Folge, dass ein als Arzneimittel eingestuftes Erzeugnis kein Lebensmittel sein
kann und umgekehrt.
Zum Thema Health Claims fällt mir noch ein Spruch
ein, den mir ein sehr geschätzter Kollege einmal aufsagte: Gesundheit erwirbst du nicht im Handel, sondern
nur durch Lebenswandel!
Wir lehnen den Antrag der Opposition ab. Wir setzen
uns aber, wie erwähnt, für eine übersichtliche, wissenschaftsbasierte Lebensmittelkennzeichnung ein, ohne
den Verbraucher zu bevormunden. Das hat sehr viel mit
unserem Leitbild vom mündigen Bürger zu tun. In diesem Fall wäre es der mündige Konsument oder Verbraucher, der - gut informiert - selbst entscheidet, welches
ordentlich gekennzeichnete Produkt er kauft oder zu sich
nimmt.
Gegen die Stimmen der Oppositionsparteien haben
die Koalitionsfraktionen den Antrag im Ausschuss abgelehnt. Die SPD-Fraktion hat den Antrag unterstützt;
denn auch wir sind der Meinung, dass sich die Bundesregierung für eine zügige Umsetzung der noch offenen
Teile dieser EU-Verordnung von 2007 einsetzen soll. Mit
der Verordnung soll sichergestellt werden, dass künftig
Nahrungsergänzungsmittel und Lebensmittel nur dann
mit gesundheitsbezogenen Angaben versehen und beworben werden dürfen, wenn diese Angaben auch wissenschaftlich belegt sind. Die erforderliche Festlegung
der Nährwertprofile für die einzelnen Lebensmittelgruppen durch die EU-Kommission steht aber noch aus.
Diese Profile sollen absichern, dass Lebensmittel, die
mit positiven Gesundheitseffekten beworben werden,
nicht gleichzeitig Nährstoffe enthalten, deren übermäßiger Verzehr mit chronischen Krankheiten in Verbindung
gebracht werden kann. Der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher vor irreführenden oder falschen
Angaben wird damit verbessert.
Auch wir meinen, dass Werbung für Lebensmittel mit
gesundheitsbezogenen Aussagen wie zum Beispiel „gut
für den Knochenbau“ oder „stärkt die Abwehrkräfte“
nur dann zulässig sein darf, wenn das beworbene Lebensmittel kein ungünstiges Nährwertprofil hat und die
Werbeaussagen wissenschaftlich belegbar sind. Verbraucherinnen und Verbrauchern soll nicht vorgegaukelt werden können, Süßigkeiten oder „Dickmacher“
seien gesund, nur weil sie viel Kalzium oder Vitamine
enthalten.
Handlungsbedarf besteht auch im Grenzbereich zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln. Wir meinen,
dass arzneilich wirkende Stoffe in Lebensmitteln nichts
zu suchen haben. Beimischung von Arzneimitteln in Lebensmittel, die einen positiven Nutzen versprechen, darf
nicht genehmigt werden. Denn durch eine Aufweichung
der Grenze zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln
besteht die Gefahr einer Überversorgung mit bestimmten Inhaltsstoffen, die schädlich sein kann. In Deutschland verschreibungspflichtige Stoffe dürfen nicht über
die EU-Ebene in Lebensmitteln genehmigt werden. Eine
Berücksichtigung der unterschiedlichen Arzneimittelverordnungen der Mitgliedstaaten muss also auch erfolgen, und es müssen klarere Vorgaben von der Kommission gemacht werden.
Wir begrüßen im Grundsatz das Ziel der HealthClaims-Verordnung, und eine zügige Festlegung der
Nährwertprofile ist auch aus unserer Sicht erforderlich.
Auch die vom Ausschuss durchgeführte Expertenanhörung am 6. Oktober 2010 hat dies gezeigt. In der Anhörung wurde deutlich, dass strenge Nährwertprofile notwendig sind. Die Überlegungen der EU-Kommission
sind dafür aus unserer Sicht noch nicht ausreichend.
Denn danach könnten zum Beispiel nach Berechnungen
aus Großbritannien zwei Drittel der verzehrten Lebensmittel als gesund beworben werden, wenn sie nur einen
besonderen Vitaminzusatz enthalten. Wir fordern die
EU-Kommission auf, dem Druck der Lebensmittelindustrie nicht nachzugeben, andernfalls können die ursprünglichen Ziele der Health-Claims-Verordnung nicht
erreicht werden. Dafür muss sich auch die Bundesregierung einsetzen.
Die Prüfung der sogenannten Health Claims durch
die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit,
EFSA, läuft noch immer, dabei werden aber auch nur die
Eigenangaben der Antragsteller kontrolliert und auf positive Wirkung geprüft. Da aber durchaus die Möglichkeit besteht, dass bestimmte Nährstoffe je nach Verbraucher sowohl positive als auch negative Wirkungen haben
können, wäre aus unserer Sicht auch eine Bewertung eines Nutzen-Risiko-Profils sinnvoll. Als Beispiel dafür
möchte ich Kalzium anführen: Es kann die Knochengesundheit fördern, bei Risikogruppen aber durchaus auch
das Herzinfarktrisiko erhöhen.
Von den mehr als 44 000 bei der EFSA eingereichten
Anträgen konnten bei circa 80 Prozent keine überzeugenden Belege für gesundheitsfördernde Auswirkungen
gefunden werden; einige Hersteller haben Anträge aus
Angst vor Imageverlust auch selbst zurückgezogen. Die
zu bewertenden restlichen 4 600 Claims sind in der Prüfung. Nach jetzigem Stand will die EFSA bis Ende Juni
2011 die Bewertung aller gesundheitsbezogenen Angaben über allgemeine Funktionen - mit Ausnahme der
Angaben über pflanzliche Stoffe - abschließen. Die EUKommission wird dann eine Liste mit ihren Empfehlungen vorlegen. Die Mitgliedstaaten und das Europäische
Parlament müssen danach entscheiden.
Wir fordern zusätzlich die Einrichtung eines Registers, in dem alle Studien über gesundheitsbezogene Angaben transparent und für jedermann zugänglich aufgelistet werden. Auch muss sichergestellt sein, dass eine
laufende Überprüfung der bereits genehmigten Claims
erfolgt. Durch ständige Forschung ist es durchaus möglich, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse für bestimmte Nährstoffe gewonnen werden. Nachträgliche
Veränderungen der Bewertung durch die EFSA müssen
also möglich sein. Ein kontinuierliches Studienmonitoring sollte deshalb vorgeschrieben werden.
Ich hoffe sehr, dass die jetzt angekündigten Zeitangaben der EFSA zu halten sind; denn Irreführung oder
Täuschung der Verbraucherinnen und Verbraucher
durch nicht erwiesene gesundheitsbezogene Werbeaussagen muss bald beendet werden.
Auch die Bundesregierung sollte im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher auf eine schnelle Lösung dringen und sich für eine zügige Umsetzung der
Nährwertprofile einsetzen. Da wir bereits im Ausschuss
dem Antrag der Grünen zugestimmt haben, können wir
die Beschlussempfehlung des Ausschusses nicht mittragen und lehnen sie somit ab.
Die im Jahr 2006 erlassene Health-Claims-Verordnung der EU, die gesundheitsbezogene Werbeaussagen
auf Lebensmittel reguliert, hat schon jetzt zu überbordender Bürokratie geführt. Die jetzt diskutierte Definition von Nährwertprofilen für unterschiedliche Lebensmittelgruppen ist hochumstritten. Es ist nahezu
unmöglich, wissenschaftlich festzulegen, wann ein ProZu Protokoll gegebene Reden
dukt beispielsweise wegen seines Fett- oder Zuckergehalts als ungesund gilt, weil Kinder, Jugendliche,
Erwachsene und Senioren sehr unterschiedliche Anforderungen an den Nährwertgehalt von Lebensmitteln haben. Dazu kommen auch noch die individuellen Bedarfe
und Grenzwerte.
Zwar ist unbestritten, dass ein hoher Salzkonsum am
Auftreten bestimmter Krankheiten beteiligt ist. In
Deutschland ist zum Beispiel der durchschnittliche Salzkonsum pro Person mehr als doppelt so hoch, wie es aus
gesundheitlicher Sicht von der Weltgesundheitsorganisation, WHO, empfohlen wird. Dies hat bei salzempfindlichen Personen erhebliche negative Auswirkungen für
die Gesundheit. Dass aber Maßnahmen auf Grundlage
der Health-Claims-Verordnung zu einer Minderung des
Salzkonsums führen, ist nach Einschätzung von Experten nicht zu erwarten. Hier fühlen wir uns als FDPFraktion bestätigt.
Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion ist
nach der gegenwärtigen Rechtslage in Deutschland sichergestellt, dass Werbeaussagen nicht irreführend sein
dürfen. Deshalb geht ein generelles Verbot gesundheitsbezogener Werbung im Rahmen der Health-Claims-Verordnung, wie es Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag zum Beispiel für die Kategorie der Süßwaren
fordern, zu weit. Wir setzen uns stattdessen für eine wissenschaftsbasierte Kennzeichnung ein.
In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung
von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen, bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA,
gebe es ein Defizit an Transparenz und Wissenschaftlichkeit. Im Gegenteil: Gerade weil sich diese Behörde
nicht den ideologisierten Forderungen anschließt, arbeitet sie wissenschaftlich und nicht ideologisch beeinflussbar.
Ich halte es im Übrigen auch für heikel, über die Umsetzung der EU-Health-Claims-Verordnung zu diskutieren, wenn überhaupt noch kein Verordnungsentwurf seitens der EU vorliegt. Für meine Fraktion ist von daher
die intensive Befassung mit dieser Verordnung verfrüht.
Wir können ihn erst dann beraten, wenn er tatsächlich
vorliegt. Alles andere ist zunächst einmal Spekulation.
Absehbar ist aber schon jetzt, dass mit dieser Verordnung ein Bürokratiemonster droht. Denn mit der Definition von Nährwertprofilen besteht die Gefahr, dass
kleine und mittlere Unternehmen durch kostspielige, bürokratische Zulassungsverfahren von der Nutzung gesundheitsbezogener Aussagen ausgeschlossen werden.
Das wollen wir, das müssen wir verhindern. Die Priorität muss auf einer gesunden Ernährung liegen und nicht
auf der Mehrung der Bürokratie. Nicht zuletzt liegt eine
klare Kennzeichnung im Interesse der Unternehmen, die
sonst Gefahr laufen, das Vertrauen ihrer Kunden zu verspielen. Deswegen wird die FDP gemeinsam mit Unternehmen nach den besten Lösungen für dieses Thema suchen.
In einem Punkt allerdings erhält der Antrag unsere
volle Zustimmung, und zwar bei der Forderung nach einer klaren Trennung von Lebens- und Arzneimitteln.
Hier gilt es wirklich zu prüfen, inwiefern die bisherigen
Regelungen zum Zusatz von arzneilichen Wirkstoffen zu
Lebensmitteln ausreichen, um die Verbraucherinnen und
Verbraucher vor Täuschung zu schützen. Es dürfen keine
Anreize zur Entwicklung einer Pharma-LebensmittelSparte gegeben werden. Insgesamt jedoch lehnen wir
den vorliegenden Antrag aus den oben von mir dargelegten Gründen ab.
Der Werbeschwindel im Supermarkt ist besonders bei
Lebensmitteln groß. So verspricht etwa ein Schokoriegel
eine „Extra-Portion-Milch“ mit viel gutem Kalzium.
Die Wahrheit: Erst 13 Riegel würden den Tagesbedarf
eines Kindes an Kalzium decken. Das bedeutet aber
gleichzeitig: 48 Würfelzucker und ein halbes Paket Butter. Ein Fruchtgetränk wurde als „gesunder Durstlöscher“ für Kinder beworben. Tatsächlich enthielt das
Gemisch aus Wasser und Saftkonzentrat nicht nur umstrittene Süßstoffe, sondern auch jede Menge zahnschädliche Citronensäure. Gerade Produkte für Kinder
werden oft als gesund beworben, obwohl sie nicht auf
die Ernährungsbedürfnisse von Kindern abgestimmt
sind. So werden Mini-Würstchen als „täglicher Beitrag
für die gesunde Ernährung“ angepriesen. Angesichts eines völlig überhöhten Salzgehaltes kann davon aber
keine Rede sein.
Lebensmittel wie Joghurt, Margarine oder Müsli unterstellen mittels Werbung Gesundheit, ohne dies zu belegen. Sie können angeblich Knochen und Abwehrkräfte
stärken, das Wohlbefinden beleben oder die Darmflora
ins Gleichgewicht bringen. Glaubt man den Herstellern,
dann können wir mithilfe solcher Produkte unsere Gesundheit regeln. Häufig sind sie im Vergleich zu normalem Essen aber doppelt so teuer. Der einzige Zusatznutzen liegt meist darin, dass sie die Kassen der
Lebensmittelhersteller füllen. Gesund sind hingegen
vorwiegend frisch zubereitete Lebensmittel und eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung. Currywurst und Schokolade gehören gelegentlich genauso
dazu wie der frische Apfel. Produkte mit Gesundheitsversprechen hingegen fördern einseitiges Essen und
Fehlernährung.
Den haltlosen Gesundheitsversprechen der Hersteller soll mit der sogenannten Health-Claim-Verordnung
durch die EU Einhalt geboten werden. In Zukunft darf
nur noch auf den Verpackungen stehen, was wissenschaftlich bewiesen ist. So sollen der Wildwuchs an Werbeaussagen eingedämmt und die Verbraucherinnen und
Verbraucher vor irreführender Werbung geschützt werden.
Die Linke bewertet die gesundheitsbezogene Werbung von Lebensmitteln grundsätzlich kritisch. Lebensmittel sind keine Arzneimittel. Der angebliche Zusatznutzen dient vor allem der Absatzförderung in einem
übersättigten Lebensmittelmarkt. Die Lebensmittelkonzerne locken mit Nahrung fürs schlechte Gewissen - und
das, obwohl viele Verbraucherinnen und Verbraucher
weder einen hohen Cholesterinspiegel haben noch zusätzliche Vitamine benötigen. Laut Schätzungen der
Zu Protokoll gegebene Reden
Branche erwartet man von den „funktionellen Lebensmitteln“ einen Marktzuwachs auf 90 Milliarden Dollar
bis 2013. Diese Zahl steht für einen dreisten Versuch der
organisierten Verbrauchertäuschung.
Dennoch kann die Health-Claims-Verordnung in der
jetzigen Fassung die Wildwüchse gesundheitsbezogener
Werbung in vernünftige Bahnen lenken. Denn die bisherige Bilanz der Bewertung der von den Lebensmittelherstellern beantragten Claims ist verherrend. Bei rund
80 Prozent der Werbebotschaften suchte die internationale Expertengruppe der EFSA - das ist die europäische
Behörde für Lebensmittelsicherheit - vergebens nach
Belegen für die heilsame Wirkung mancher Vitamine
und Mineralien. In Zukunft sollen sich die Verbraucherinnen und Verbraucher darauf verlassen können, was
auf der Packung steht. Das ist der Wille der EFSA. Die
Linke unterstützt deshalb die Verordnung ausdrücklich.
Wichtig bei der Beurteilung von Lebensmitteln ist
aber nicht nur der wissenschaftliche Nachweis, ob ein
behaupteter Zusatznutzen tatsächlich gesundheitsfördernd oder krankheitshemmend ist. Die Voraussetzung
für Lebensmittelwerbung muss auch an die Frage geknüpft werden, ob das Produkt insgesamt gesund ist. Daher werden sogenannte Nährwertprofile erstellt. Sie beschreiben die gesamte Nährstoffzusammensetzung eines
Lebensmittels. So können die Grenzen festgelegt werden,
ab denen nährwert- oder gesundheitbezogene Angaben
nicht verwendet werden dürfen. Nährwertprofile verhindern also, dass unausgewogenes Essen mit gesundheitsbezogenen Aussagen beworben wird. Das stößt den Lebensmittelkonzernen sauer auf, weshalb sie die Profile
zum Schaden der Verbraucherinnen und Verbraucher
aufweichen wollen.
Einige Kompromisse haben einen allzu merkwürdigen Beigeschmack: Zukünftig sollen Produkte, die viel
Salz, Zucker oder Fett enthalten, nur eingeschränkt mit
positiven Gesundheitsversprechen beworben werden
können. Beispiel: Ein Fruchtgummi, der mit „fettarm“
beworben werden soll, aber viel Zucker enthält, muss
nunmehr ausdrücklich auf den hohen Zuckergehalt hinweisen.
Diese Regelung trägt deutlich die Handschrift der Lebensmittellobby. Die Linke fordert, dass Süßwaren
grundsätzlich nicht als gesund beworben werden dürfen.
Sie dienen nicht der gesunden Ernährung - ob mit oder
ohne Vitamin-C-Anreicherung. Der Zusatznutzen von
Süßwaren sollte das Naschen bleiben.
Die Linke fordert eine schnelle Veröffentlichung der
Nährwertprofile, wie sie die EU-Kommission vorsieht.
Eigentlich hätte diese bis Anfang 2009 erfolgen müssen.
Die EU-Kommission und die EFSA scheinen aber unter
dem massiven Druck der Lebensmittellobby zu zögern.
Der Grund: Allein in Deutschland machen die Lebensmittelunternehmen jährlich einen Umsatz von 5 Milliarden Euro mit „funktionellen Lebensmitteln“. Die Lebensmittellobby hat es bereits geschafft, die Verordnung
auszuhöhlen. Ausnahmen bei den Nährwertprofilen werden zugelassen und Grenzwerte erhöht. Der Süßwarenverband hofft auf eine vollständige Verhinderung. Um es
noch einmal deutlich zu machen: Für die Linke sind
nicht Nahrungsergänzungsmittel die Grundvoraussetzung für eine gute Gesundheit, sondern eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung. Unnötige und
gesundheitsbedenkliche Anteile sollten grundsätzlich in
allen Lebensmitteln gesenkt werden. Verbraucherinnen
und Verbraucher müssen sich bei ihrer Lebensmittelauswahl auf klare, zutreffende und verlässliche Informationen stützen können.
Die Linke erwartet von der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass die Ausnahmen bei den Nährwertprofilen auf unverarbeitete Lebensmittel begrenzt werden und Süßwaren grundsätzlich nicht als gesund
beworben werden dürfen, dass die Grenzwerte ungesunder Nährstoffanteile grundsätzlich gesenkt werden, Ballaststoffe Mindestgrenzwerte enthalten und Transfettsäuren in die Nährwertprofile aufgenommen und dass
Verbraucherverbände in die Nährwertprofilbestimmung
einbezogen werden. Lassen wir uns nicht von der Lebensmittelindustrie in die Suppe spucken.
Die Debatte um die Health-Claims-Verordnung ist ein
Beispiel für die Diskrepanz zwischen den großen Verbraucherschutzankündigungen von Ministerin Aigner
- und ihrer bisherigen Staatssekretärin Julia Klöckner und dem tatsächlichen Engagement für die Interessen
der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Fast vier Jahre sind seit dem Inkrafttreten der
Health-Claims-Verordnung am 1. Juli 2007 vergangen.
Drei Jahre lang ist Frau Aigner für dieses Thema zuständig, aber getan hat sich seitdem nichts. Der letzte
Eintrag auf der Homepage des Bundesministeriums zum
Thema Health Claims stammt vom August 2007. Wir
warten auch immer noch auf die Nährwertprofile, die
von der EU-Kommission als Grundlage für die Bewertung von „gesunden“ Lebensmitteln festgelegt werden
sollten. Das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR,
das Aigners Ministerium untersteht, hat sich nachdrücklich für eine konsequente Umsetzung der Nährwertprofile mit strengen Kriterien für Fett, Salz und Zucker
ausgesprochen - bislang leider ohne nennenswerte Resonanz im Ministerium. Dabei zeigt das Beispiel Dänemark mit strengen Vorgaben zum Beispiel für Transfettsäuren, dass hohe Qualitätskriterien keineswegs
nachteilige Folgen für die Ernährungswirtschaft haben
müssen, sondern sogar zum entscheidenden Innovationsmotor für eine ganze Branche werden können.
Solange Frau Aigner und ihre Staatssekretäre - ob sie
nun Julia Klöckner oder Peter Bleser heißen - jede Initiative bei den Health Claims vermissen lassen, jubelt
die Ernährungsindustrie weiter mit gesundheitsbezogenen Aussagen den Verbrauchern für teures Geld zucker-,
salz- oder fettreiche Produkte unter. Außerdem bereiten
die Konzerne in aller Ruhe bereits Ausweichstrategien
für mögliche zukünftige Verschärfungen vor. Mit Soft
Claims, also indirekten Bezügen zu Gesundheitsaspekten, wird eine gesundheitsfördernde Wirkung der Produkte suggeriert, ohne dass der Regelungsbereich der
Health-Claims-Verordnung betroffen ist: „So wichtig
wie das tägliche Glas Milch“ - Werbung für „Ehrmann
Zu Protokoll gegebene Reden
Monsterbacke“ mit umgerechnet 4 Stück Würfelzucker
pro Packung. Damit werden gerade die Bevölkerungsgruppen zu einem ungesunden Ernährungsverhalten
motiviert, die eine gesunde Ernährung dringend benötigen, wie zum Beispiel Kinder oder ältere Menschen. Dabei steigt die Zahl der Menschen mit Fehlernährung
dramatisch, wie die Antwort der Bundesregierung auf
unsere Kleine Anfrage zur Bekämpfung von Übergewicht, Bundestagsdrucksache 17/3808, bestätigt. Diese
Entwicklung hat katastrophale Folgen für die Gesundheit der Betroffenen, aber auch für die Kosten unseres
Gesundheitssystems: Die Folgekosten ernährungsbedingter Krankheiten werden auf bis zu 90 Milliarden
Euro geschätzt - jährlich.
Sicher hängt die erfolgreiche Umsetzung der HealthClaims-Verordnung nicht nur von den Aktivitäten der
deutschen Bundesregierung ab. Leider ist diese Thematik aber nicht das einzige Beispiel dafür, wie wenig sich
Frau Aigner für die deutschen Verbraucher und wie
stark sie sich für die Ernährungsindustrie einsetzt. In
den Verhandlungen über die Lebensmittel-Info-Verordnung hätte sich Aigner dem klaren Votum von Verbraucherschützern, Ärzteverbänden und Krankenkassen anschließen können und für eine europaweite Einführung
der Ampelkennzeichnung kämpfen oder sich wenigstens
für eine verpflichtende Umsetzung dieser verbraucherfreundlichen Auslobung in Deutschland stark machen
können. Stattdessen stellt sie sich schützend vor die Industrie und deren für die Praxis völlig untaugliches
GDA-Modell: empfohlene Tagesmengen von Zucker,
Salz, Fett, gesättigte Fettsäuren und Kalorien pro
100 Gramm des jeweiligen Produkts und in Prozent der
empfohlenen Tagesmenge. Aigner geht sogar so weit
und verdreht die Aussagen einer Studie ihres eigenen
Ministeriums, die klar besagen, dass eine farbliche
Kennzeichnung für die Verbraucher wesentlich sinnvoller ist als das GDA-Konzept.
Diese Grundhaltung der Ministerin lässt auch für die
neue Internetplattform „Klarheit & Wahrheit“ nicht viel
Gutes erwarten, obwohl der Ansatz und die Umsetzung
durch den Verbraucherzentralen-Bundesverband sicherlich richtig sind. Doch die widersprüchlichen Aussagen
von Ilse Aigner und die vor allem von den Koalitionsfraktionen vorgebrachten massiven Angriffe gegen das
Projekt der eigenen Ministerin bei der Diskussion im
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 27. Oktober 2010 lassen befürchten, dass
auch bei diesem Thema nach großen Ankündigungen
nur ein windelweich gespültes Konzept übrig bleibt, das
der Industrie nicht weh tut und die Verbraucherinnen
und Verbraucher mit ihrem Wunsch nach transparenter,
ehrlicher Information allein lässt.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, sich für
eine zügige Umsetzung strenger, wissenschaftlich begründeter Nährwertprofile einzusetzen. Außerdem muss
die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde, EFSA,
dringend reformiert werden. Immer wieder wurden enge
Verflechtungen von EFSA-Mitarbeitern mit der Lebensmittel- und Gentechnikindustrie aufgedeckt, die eine seriöse Prüfung von Health Claims unmöglich machen.
Wenn Union und FDP ihre Ankündigungen zum Verbraucherschutz wirklich ernst meinen, müssen sie heute
unserem Antrag zustimmen und ihre einseitige Klientelpolitik für die Interessen der Lebensmittelindustrie endlich aufgeben.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4892, den Antrag auf Drucksache 17/4015 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die
Koalitionsfraktionen waren dafür und die Oppositionsfraktionen dagegen. Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen.
Tagesordnungspunkt 24:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel,
Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren - Konsequenzen aus der Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen
- Drucksache 17/4886 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ihre Reden zu Protokoll geben die Kolleginnen und
Kollegen Brandt, Veit, Wolff ({2}), Jelpke und
Winkler.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Bundesregierung auf, den in § 18 Abs. 2,
§§ 27 a, 34 a Abs. 2 und § 75 AsylVfG vorgesehenen
Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen nach Griechenland im Rahmen der DublinII-Verordnung aufzuheben. Außerdem wird die Bundesregierung aufgefordert, sich im Rat im Rahmen der Verhandlungen über die Neufassung der Dublin-II-Verordnung dafür einzusetzen, dass Asylantragstellern der
Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf in Einklang
mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte sowie den gemeinschafts- und völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten garantiert wird.
Hintergrund des vorliegenden Antrags ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 21. Januar 2011. In dem Verfahren
M. S. S. gegen Belgien und Griechenland hat die Große
Strafkammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte festgestellt, dass Belgien mit der Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland aufgrund der dortigen Haft- und Lebensbedingungen gegen
Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen habe.
Begründet wird der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen mit den durch den Gerichtshof festgestellten menschenrechtswidrigen Bedingungen in Griechenland, die
die Möglichkeit einer rechtlichen Überprüfung mit aufschiebender Wirkung in Deutschland unerlässlich
machten.
Ihren Antrag lehnen wir ab, da Ihre Forderungen
durch eine Entscheidung des Bundesinnenministers vom
19. Januar dieses Jahres obsolet geworden sind.
Am 19. Januar 2011 hat das Bundesinnenministerium
entschieden, dass mit sofortiger Wirkung für die Dauer
eines Jahres keine Überstellungen von Drittstaatsangehörigen nach der sogenannten Dublin-Verordnung nach
Griechenland durchgeführt werden sollen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurde gebeten, entsprechend zu verfahren. Deutschland wird in diesen Fällen von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 3
der Dublin-II-Verordnung Gebrauch machen und die
Asylverfahren in Deutschland durchführen.
Hintergrund dieser Entscheidung ist eine Empfehlung
des Bundesverfassungsgerichts. Denn die Problematik
von Überstellungen von Deutschland nach Griechenland nach dem sogenannten Dublin-Verfahren war, wie
Sie ja selbst wissen, auch Gegenstand von Verfahren vor
dem Bundesverfassungsgericht.
Zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht am
28. Oktober 2010 mündlich über die Verfassungsbeschwerde eines irakischen Asylbewerbers verhandelt,
2 BvR 2015/09, mit der dieser die Verfassungswidrigkeit
des Ausschlusses von vorläufigem Rechtsschutz hinsichtlich seiner Überstellung von Deutschland nach
Griechenland geltend machte. Kurz nach der mündlichen Verhandlung gab es eine Sondierung des Gerichts
bei den Verfahrensbeteiligten zu der Frage, ob sie sich
angesichts des Verlaufs der mündlichen Verhandlung
vorstellen könnten, dass das Bundesinnenministerium
von der Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts Gebrauch
macht.
Dieses und vor allem die tatsächliche Entwicklung in
Griechenland haben das Bundesinnenministerium veranlasst, für ein Jahr von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß der Dublin-II-Verordnung Gebrauch zu machen.
Zusätzlich soll damit auch zum Prozess der Konsolidierung des griechischen Asylsystems beigetragen werden.
Ich möchte jedoch an dieser Stelle darauf hinweisen,
dass es entgegen der in Ihrem Antrag vom 19. Januar
2010 enthaltenen Forderung einer Aussetzung von
Rücküberstellungen richtig war, zunächst die endgültige
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten.
Zum einen werden durch Eilentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eben gerade keine abschließenden Bewertungen getroffen. Wie Sie wissen, basieren die
Beschlüsse ausschließlich auf einer Abwägung des Gerichtes zwischen den Folgen, die ohne den Erlass der
einstweiligen Anordnung eintreten, wenn die Hauptsache für den Antragsteller erfolgreich wäre, und den Folgen für den umgekehrten Fall.
Das heißt, die einstweiligen Anordnungen, auf die Sie
in Ihren Anträgen abgestellt haben, enthielten keine abschließenden Aussagen zur Zulässigkeit der Überstellungen nach Griechenland. Sie enthielten vor allem
auch keine Beurteilung der Situation in Griechenland
durch das Gericht.
Zum anderen hat das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge der schwierigen Situation in Griechenland
bereits 2009 und 2010 Rechnung getragen, indem es bei
besonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel für
Minderjährige, für Flüchtlinge hohen Alters, oder bei
denen Schwangerschaft, ernsthafte Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder eine besondere Hilfebedürftigkeit
vorlag, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3
Abs. 2 Dublin-II-Verordnung sehr großzügig Gebrauch
gemacht und von einer Überstellung nach Griechenland
abgesehen hat. So machte das Bundesamt 2009 in
circa 700 Fällen von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch. Dem standen nur circa 200 Überstellungen gegenüber. Im Jahr 2008 war das Größenverhältnis noch
umgekehrt. 222 Überstellungen standen 130 Selbsteintritten gegenüber. Das Bundesamt hat also auch in den
beiden vergangenen Jahren einen sehr verantwortungsvollen Umgang mit der tatsächlichen Situation bewiesen.
Außerdem haben Sie selbst in Ihrer Begründung festgestellt, dass sich die Mehrheit der Verwaltungsgerichte
in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Abschiebungsanordnungen des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge über die Gesetzeslage rechtsfortbildend
hinweggesetzt haben.
Mit der Entscheidung des Bundesinnenministeriums,
für die Dauer eines Jahres keine Überstellungen von
Drittstaatsangehörigen nach der sogenannten DublinII-Verordnung nach Griechenland durchzuführen und
stattdessen von der Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts
Gebrauch zu machen, haben sich Ihre Forderungen
nach einer grundsätzlichen Aufhebung des in § 18
Abs. 2, §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und § 75 AsylVfG vorgesehenen Ausschlusses des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen nach Griechenland im Rahmen der
Dublin-II-Verordnung erübrigt.
Eine grundsätzliche Einführung einer aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Rücküberstellungen brauchen wir nicht. Denn das in Art. 3 Abs. 3 der
Dublin-II-Verordnung vorgesehene Instrument des
Selbsteintrittsrechts trägt der jetzigen Situation hinreichend Rechnung.
Und wir wollen sie auch nicht. Wir sind nach wie vor
der Auffassung, dass auch Griechenland ein sicherer
Drittstaat für Asylbewerber ist. Mit der auf ein Jahr befristeten Entscheidung wird ein weiterer Beitrag zum
Prozess der Konsolidierung und Entlastung des griechischen Asylsystems geleistet. Damit schließt sich
Deutschland der Praxis anderer Dublin-Staaten wie
Großbritannien, Schweden, Island und Norwegen an.
Wir stellen mit dieser Entscheidung deshalb nicht das
Dublin-System als solches infrage. Denn die auf dem
Verantwortungsgrundsatz basierenden ZuständigkeitsZu Protokoll gegebene Reden
regelungen der Dublin-Verordnung und ihres Vorgängerabkommens haben sich in den über zehn Jahren ihrer
Anwendung bewährt. Das Dublin-System bietet die Garantie dafür, dass jeder auf dem Gebiet der teilnehmenden Staaten gestellte Asylantrag auch tatsächlich geprüft wird. Hierzu muss das System weiterhin zügige
Entscheidungen und Überstellungen in den zuständigen
Staat ermöglichen. Wie die jetzige und vergleichbare
Entscheidungen anderer Staaten zeigen, bietet die Dublin-Verordnung bereits in ihrer geltenden Fassung hinreichende Möglichkeiten, um auf außergewöhnliche Situationen zu reagieren.
Die griechische Regierung hat zwischenzeitlich der
Kommission einen anspruchsvollen nationalen Aktionsplan vorgelegt, der eine bessere Bewältigung des Zustroms von Flüchtlingen und Migranten nach Griechenland sicherstellt und Defizite in der Behandlung von
Flüchtlingen und Migranten beseitigen soll. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union - darunter auch
Deutschland -, die Kommission und der UNHCR haben
Griechenland substanzielle Unterstützung bei der Umsetzung der geplanten Maßnahmen zugesagt und werden
- wie bisher - in koordinierter und vielfältiger Weise
helfen.
Die Entscheidung ist auf ein Jahr befristet, weil davon auszugehen ist, dass in dieser Zeit substanzielle Verbesserungen in Griechenland erreicht werden können.
Dies werden wir ebenso wie das Bundesinnenministerium genauestens beobachten und gegebenenfalls eine
Anschlussregelung prüfen.
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
zuzustimmen. Das Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 verlangt auch aus unserer Sicht eine Änderung der Dublin-II-Verordnung sowie des Asylverfahrensgesetzes.
Insbesondere die Regelung im Asylrecht, nach der die
aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels gegen eine
Dublin-II-Rückführung ausgeschlossen ist, verstößt gegen europäisches Menschenrecht. Dies hat auch das
Bundesverfassungsgericht in mehreren Eilentscheidungen, in denen es eine aufschiebende Wirkung eingelegter
Rechtsmittel gegen Rückführungen nach Griechenland
aufgrund einer „grundrechtskonformen Auslegung“ des
§ 34 a Abs. 2 AsylVerfG bejaht hat, so gesehen. Ebenso
urteilten verschiedene Verwaltungsgerichte quer durch
die gesamte Republik.
Die Forderung der Kolleginnen und Kollegen der
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist mithin nicht
nur eine logische Konsequenz aus der Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, sondern auch aus der deutschen Rechtsprechung.
Das Bundesministerium des Inneren hat im Januar
für ein Jahr alle Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung nach Griechenland für ein Jahr ausgesetzt.
Hier hat der Bundesinnenminister die volle Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion. Damit wird die
schwierige Situation berücksichtigt, die in Griechenland
für Asylbewerber besteht. Bereits im Jahr 2010 war nur
ein kleiner Anteil von Personen überhaupt nach Griechenland überstellt worden; in den restlichen Fällen
hatte die Bundesrepublik Deutschland bereits von ihrem
Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht.
Das Bundesverfassungsgericht hat als Reaktion auf
die Aussetzung die Verfahren, die dort zur Geltendmachung einstweiligen Rechtsschutzes anhängig waren,
eingestellt. Es ist über die Notwendigkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes also nicht entschieden worden. Die
Bundesregierung geht sehr verantwortungsvoll mit dem
Mechanismus um: Für ein Jahr sind nun Rückführungen
ausgesetzt; bereits im vergangenen Jahr wurden nur
50 Personen nach Griechenland zurückgeschoben, beim
Rest wurde vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht.
Gleichzeitig können Staaten wie Griechenland nicht bevorzugt werden, wenn sie die Standards nicht einhalten:
Der Druck muss aufrecht erhalten bleiben. Dennoch hat
die Bundesregierung konkrete Hilfe für die griechischen
Behörden angeboten - hinsichtlich der menschenwürdigen und schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und
der Rahmenbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie
zur stärkeren Grenzsicherheit vonnöten.
Nicht zuletzt aufgrund der Verhältnisse in Griechenland, des Urteils des EGMR und der Verfassungsgerichtsbeschlüsse zu Dublin II muss man über das System
nachdenken und das auch bei den anstehenden Verhandlungen zum Ausdruck bringen. Eine Nachjustierung erscheint erforderlich. In diesem Zusammenhang wie die
Antragsteller, plakativ von „menschen- und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Rechts“ zu
sprechen, ist aber überzogen. Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die
EU-Planungen konstruktiv begleiten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
am 21. Januar dieses Jahres eine aufsehenerregende
Entscheidung getroffen. Er sprach einem irakischen
Asylsuchenden Schadensersatz zu. Erstens, weil dieser
in Griechenland eine menschenunwürdige Behandlung
zu erleiden hatte. Zweitens, weil er von Belgien im Rahmen der Zuständigkeitsregelungen der EU für Asylverfahren nach Griechenland zurückgeschoben worden
war, ohne dass er gegen diese Entscheidung wirksame
Rechtsmittel einlegen konnte. Er konnte also nicht erfolgreich gerichtlich dagegen angehen, in einen Staat
überstellt zu werden, in dem ihm schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
Diese Zuständigkeitsregelungen in der EU sind in der
sogenannten Dublin-II-Verordnung niedergelegt. Demnach ist immer der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, über den ein Asylbewerber in die
EU eingereist ist. In den letzten Jahren waren das vor allem Italien und Griechenland.
Zu Protokoll gegebene Reden
Über die Zustände im griechischen Asylsystem ist
hier schon breit debattiert worden. Mittlerweile hat auch
die Bundesregierung eingestanden, dass die Zustände
dort für Asylbewerber unzumutbar sind und kein faires
Asylverfahren gewährleistet ist. Die Überstellung von
Asylsuchenden wurde nun zumindest erst einmal für ein
Jahr ausgesetzt. Aber die Bundesregierung hat verpasst,
eine andere wichtige Konsequenz aus dem Urteil des
Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zu ziehen.
Auch in Deutschland haben Asylsuchende, die über einen anderen Mitgliedstaat des Dublin-Systems eingereist sind, keinen wirksamen Rechtsschutz. Sie erfahren
überhaupt erst am Tag ihrer Abschiebung, dass ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Somit bleibt ihnen keine Möglichkeit mehr, dagegen zu klagen.
Der Antrag der Grünen fordert deshalb von der Bundesregierung Änderungen an den entsprechenden Regelungen im Asylverfahrensgesetz vorzuschlagen und sich
bei der Neuverhandlung der Dublin-II-Verordnung für
entsprechende Verfahrensgarantien einzusetzen. Das
geht uns alles nicht weit genug. Nach Ansicht der Fraktion Die Linke ist durch diese Entscheidung die gesamte
Drittstaatenregelung als Teil des Asylkompromisses von
1993 infrage gestellt. Denn dort wurde schon festgelegt,
dass nur noch eingeschränkten Rechtsschutz erhält, wer
über einen vermeintlich sicheren Drittstaat nach
Deutschland einreist und hier einen Asylantrag stellt. Sichere Drittstaaten sind per definitionem alle EU-Mitglieder. Doch nicht nur das Beispiel Griechenland zeigt,
dass die Mitgliedschaft in der EU nicht gleich zum sicheren Drittstaat qualifiziert.
In den vergangenen Tagen hat die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl einen schockierenden Bericht über die
Lage im italienischen Asylsystem vorgelegt. Demnach
ist die Lebenssituation dort nicht nur für Asylbewerber,
sondern auch für anerkannte Flüchtlinge verheerend.
Dieser Ansicht sind bereits mehrere Verwaltungsgerichte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefolgt und haben Dublin-Überstellungen nach
Griechenland verhindert. Die Zahl der Asylbewerber
überstieg in Italien die Zahl der Plätze in staatlich finanzierten Unterkünften zum Teil um das Zehnfache.
Wer einen Platz in einer solchen Unterkunft erhält, muss
sie nach sechs Monaten wieder verlassen, egal wie der
Stand des Asylverfahrens ist. Die Asylsuchenden werden
systematisch in die Obdachlosigkeit getrieben. Sie erhalten auch sonst keine staatliche Unterstützung, die ihnen ein Existenzminimum garantieren würde. Viele leben in besetzten Häusern oder auf Brachflächen und
müssen sich ohne jede staatliche Unterstützung durchschlagen. Wer aber über keinen festen Wohnsitz verfügt,
erhält auch keine Krankenversicherungskarte. Davon
sind nach Angaben der Behörden in Italien 88 Prozent
der nach dem Dublin-Verfahren überstellten Asylsuchenden betroffen. Besonders betroffen von dieser ganze
Situation sind, wie immer, besonders schutzbedürftige
Menschen: unbegleitete Minderjährige, alleinreisende
Frauen und jene, die durch die erlittenen Menschenrechtsverletzungen in ihrem Herkunftsland traumatisiert
sind.
Situationen wie in Griechenland, in denen eine Regierung nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Anforderungen an ein faires Asylverfahren oder eine menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden zu
erfüllen, können jederzeit auch in jedem anderen Land
der EU auftreten. Das starre Verteilungssystem der Dublin-II-Verordnung muss deshalb durch ein System ersetzt
werden, das sowohl die Bedürfnisse der Betroffenen als
auch die ökonomische Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten berücksichtigt. Sollten sich in den nächsten Wochen tatsächlich Zehntausende Flüchtlinge aus Libyen
in Richtung Italien auf den Weg machen, ist dort eine humanitäre Katastrophe riesigen Ausmaßes vorprogrammiert. Diese kann nur mit einer sofortigen und umfassenden Reform des Dublin-Systems verhindert werden.
Am 21. Januar 2011 hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, EGMR, Griechenland und Belgien wegen der Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK, verurteilt ({0}). Entschieden wurde der Fall eines afghanischen Asylsuchenden, der 2009 über den Iran, die
Türkei und Griechenland nach Belgien geflohen war, wo
er Asyl beantragte. Er wurde aber wegen der Zuständigkeitsregeln aus der Dublin-II-Verordnung von Belgien
nach Griechenland zurücküberstellt.
Der EGMR hat festgestellt, dass Griechenland aufgrund der dortigen Haft- und Lebensbedingungen, denen
der schutzsuchende Beschwerdeführer dort ausgesetzt
war, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention,
Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe, verletzt hat. Wegen der zahlreichen Defizite in seinem Asylverfahren hat Griechenland
zudem Art. 13 der Konvention, Anspruch auf rechtliches
Gehör, in Verbindung mit Art. 3 verletzt.
Der Gerichtshof hat weiterhin festgestellt, auch Belgien habe die Europäische Menschenrechtskonvention
verletzt, als es den Beschwerdeführer im Rahmen der
Dublin-II-Verordnung nach Griechenland überstellte:
Zum einen habe Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen,
indem es den Beschwerdeführer den Gefahren ausgesetzt habe, die sich aus den Mängeln im Asylverfahren
und aus den Haft- und Lebensbedingungen in Griechenland ergaben. Zum anderen sei Art. 13 EMRK, in Verbindung mit Art. 3 EMRK, dadurch verletzt worden, dass es
keine Möglichkeit für den Beschwerdeführer gegeben
hatte, in Belgien gegen die Entscheidung, ihn nach Griechenland zu überstellen, wirksame Rechtsmittel einzulegen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
in dieser Grundsatzentscheidung unmissverständlich
klargestellt, dass die Haft- und Lebensbedingungen für
Flüchtlinge in Griechenland gegen die Menschenrechte
verstoßen. Andere europäische Staaten dürfen Asylsuchende daher nicht nach Griechenland überstellen. Das
Gericht hat auch festgestellt, dass ein Schutzsuchender
in jedem Fall vor einer Rückführung in einen anderen
EU-Mitgliedstaat die Möglichkeit einer effektiven rechtlichen Überprüfung mit aufschiebender Wirkung haben
Zu Protokoll gegebene Reden
muss. Eine solche Möglichkeit gibt es aber nach geltendem deutschem Recht nicht. Diese Entscheidung des
EGMR hat unmittelbare und weitreichende Folgen für
den Rechtsschutz im Asylverfahren in Deutschland.
Denn die deutsche Regelung, wonach die aufschiebende
Wirkung von Rechtsmitteln gegen eine Dublin-Überstellung ausgeschlossen ist, ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar. Seit den mit dem
1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten
Änderungen wurde über § 34 a Abs. 2 AsylVfG der einstweilige Rechtsschutz in Deutschland gegen Entscheidungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung generell ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein
effektiver Rechtsschutz vor deutschen Verwaltungsgerichten nicht greifen. Ein Rechtsbehelf ist nur dann
wirksam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor
deren gerichtlicher Überprüfung eintreten können, soweit als möglich ausgeschlossen werden können.
Aus dem EGMR-Urteil müssen daher grundlegende
Änderungen für das deutsche Asylverfahrensrecht folgen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die
Kleine Anfrage der Linksfraktion ({1})
vom 21. Februar 2011 mitgeteilt, dass sie derzeit prüft,
wie sich Passagen der EGMR-Entscheidung zur Regelung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG verhalten.
Im vorliegenden Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen,
mit dem der in § 18 Abs. 2, § 27 a, § 34 a Abs. 2 und § 75
AsylVfG vorgesehene Ausschluss des vorläufigen
Rechtsschutzes gegen Überstellungen im Rahmen der
Dublin-II-Verordnung aufgehoben wird und gegen derartige Überstellungen im deutschen Recht ein effektiver
Rechtsschutz gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention und europarechtlichen Vorgaben festgeschrieben wird. Der EGMR hat in seiner Entscheidung
vom 21. Januar 2011 das belgische Rechtsschutzsystem
für unvereinbar mit Art. 13 EMRK erklärt, obwohl es im
Gegensatz zum deutschen Recht sogar noch einen
- wenn auch äußerst eingeschränkten - Eilrechtsschutz
vorsah. Für das deutsche Recht bedeutet dies, dass der
völlige Ausschluss durch § 34 a Abs. 2 AsylVfG erst
recht gegen die EMRK verstößt.
Es bietet sich an, diese gesetzgeberischen Maßnahmen im Rahmen des geplanten 2. EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes zum Beispiel in das Richtlinienumsetzungsgesetz zu integrieren. Dieses will unter anderem
die Rückführungsrichtlinie, Richtlinie 2008/115/EG, in
nationales Recht umsetzen, die in ihrem Art. 13 ebenfalls
die Gewährung effektiven Rechtsschutzes fordert.
Weiterhin fordern wir die Bundesregierung im vorliegenden Antrag auf, sich in den Verhandlungen über die
Neufassung der Dublin-II-Verordnung sowie der Asylverfahrens-Richtlinie ({2}) im Europäischen
Rat nachdrücklich dafür einzusetzen, dass Asylantragstellern der Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf in
Einklang mit der EGMR-Rechtsprechung und mit den
gemeinschafts- und völkerrechtlichen Verpflichtungen
der Mitgliedstaaten garantiert wird.
Sowohl die Dublin-II-Verordnung als auch die Asylverfahrensrichtlinie befinden sich derzeit auf EU-Ebene
in der Neuverhandlung. Die klare neue Rechtsprechung
des EGMR ist bei der Neuformulierung des EU-Rechts
so umzusetzen, dass alle Mitgliedstaaten klare und verbindliche Vorgaben für EMRK- und europarechtskonformen effektiven Rechtsschutz erhalten. Nachdem die Bundesregierung diese Vorschläge bisher abgelehnt hat,
muss sie nun ihre Verhandlungsposition anpassen und
ihre bisherige Blockadehaltung aufgeben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4886 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenter Stresstest für die Leistungsfähigkeit des Bahnprojektes Stuttgart 21
- Drucksache 17/5041 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Haushaltsausschuss
Ihre Reden zu Protokoll geben die Kollegen Ulrich
Lange, Steffen Bilger, Ute Kumpf, Werner Simmling,
Sabine Leidig und Winfried Hermann.
Die Grünen haben durch die von ihr selbst initiierten
Demonstrationen gegen Stuttgart 21 in Baden-Württemberg viel Zustimmung erhalten. Sie waren in einen Höhenrausch der Umfragen geraten. Aber dann kam das
von ihnen geforderte Schlichtergespräch mit Heiner
Geißler. Das Ergebnis hat den Grünen nicht gefallen,
die Grünen haben es nie akzeptiert. Und deshalb diskutieren wir heute im Bundestag erneut das Thema.
Es waren die Grünen, die einen gemeinsamen Tisch
unter einem Schlichter Heiner Geißler gefordert haben.
Die baden-württembergische Landesregierung hat dem
zugestimmt. Es wurde sehr hart und kontrovers, aber
meist sachlich gestritten. Heiner Geißler hat seinem Namen als unabhängiger Schlichter alle Ehre gemacht.
Für diese Leistung möchte ich ihm meinen Dank erneut
aussprechen. Das war ein Glanzstück an Diplomatie in
einer ausweglos erscheinenden Situation.
Dieses Stuttgarter Modell hat sich in dieser schwierigen Situation nicht nur bewährt, sondern gezeigt, wie in
Zukunft zu Beginn eines Großprojektes verfahren werden muss. Wir müssen die Menschen bei allen Großprojekten frühzeitig informieren und aufzeigen, wo der
Sinn, der Nutzen, die Notwendigkeit liegt. Dies war am
Anfang bei Stuttgart 21 nicht erfolgt. Unter der erfolgreichen Schlichtung von Heiner Geißler wurde dies
Zu Protokoll gegebene Reden
nachgeholt. Was Sie, meine lieben Grünen, aber lernen
müssen, ist, das Ergebnis einer solchen Schlichtung
dann auch zu akzeptieren, wenn es anders ausfällt, als
Sie es wünschen oder erwartet haben. Kommen Sie zu
der Sachlichkeit zurück, die die Schlichtungsgespräche
geprägt hat.
Wir sind von der Leistungsfähigkeit des unterirdischen Bahnhofs überzeugt. Der von Ihnen angesprochene Stresstest wird dies belegen. Wir sind fest davon
überzeugt, dass der Bahnknoten Stuttgart 21 einen Leistungszuwachs von 30 Prozent nicht nur über den gesamten Tag verteilt erreichen wird, sondern sogar zu den
Spitzenzeiten.
Die Bahn ist dabei, den Schlichterspruch zu erfüllen
und den Stresstest entsprechend der Vereinbarung des
Schlichterspruches durchzuführen. Die Bahn wird den
Stresstest nicht „hinter verschlossenen Türen“ durchführen, wie von den Grünen polemisch unterstellt wird,
sondern sich gemeinsam mit dem Land Baden-Württemberg an das in der Schlichtung vereinbarte Verfahren
halten. Die Firma SMA wird die Durchführung des
Stresstestes begleiten und begutachten. Die seitens der
Grünen erhobenen Forderungen nach Einrichtungen eines Steuerungskreises, Beistellung eines Co-Gutachters
vonseiten des Aktionsbündnisses und Federführung
durch einen unabhängigen externen Gutachter wurden
im Schlichterspruch in keiner Weise aufgeführt. Sie sind
Ausdruck der Grünen, wieder Unruhe und Streit in dieses Verfahren zu bringen; die Grünen wollen Sand in das
Getriebe der Schlichtung streuen.
Die Vorgehensweise der Bahn entspricht den Vereinbarungen: Zum einen ist das Verfahren, welches die DB
AG dem Stresstest zugrunde legt, das allgemeingültige
Verfahren für Betriebssimulationen in Deutschland. Sogar das Eisenbahnbundesamt akzeptiert dies. Außerdem
wird die DB AG die Firma SMA, die, wie ich betonen
möchte, von allen Schlichtungsteilnehmern als Begutachter des Stresstestes gewünscht wurde, zu Beginn in
alle Aktivitäten des Stresstestes involvieren. Sobald die
DB AG die ersten Schritte - Eingabe der Infrastrukturdaten in das System, Konstruktion eines Fahrplans für
die Spitzenstunde - abgeschlossen hat, werden die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt und die weitere
Arbeit im Dialogforum zur Diskussion stellen.
Das Ergebnis des Stresstestes wird zeigen, welche
Leistungsfähigkeit Stuttgart 21 haben wird, und es wird
ein weiteres Stück Vertrauen zurückgewinnen, das im
Vorfeld verloren gegangen war. Wir wollen uns diesem
Stresstest unterziehen, weil es richtig ist, öffentlich darzulegen, welche Leistungsfähigkeit das Projekt wirklich
hat.
Ich fordere Sie auf: Seien Sie doch zumindest jetzt so
viel Demokrat, dass Sie die Ergebnisse des Testes abwarten und sich erst dann ein Urteil bilden. Vorabverurteilungen nutzen niemandem: Baden-Württemberg
nicht, Stuttgart nicht und langfristig auch Ihrer Partei
nicht, weil Sie sich damit unglaubwürdig machen. Steigen Sie in konstruktive Gespräche ein und suchen Sie
gemeinsam mit uns nach Lösungen, die frei von Parteiideologie und der Stuttgarter Bevölkerung nützlich sind.
Bei dem Antrag der Grünen geht es um eine Verpflichtung der Deutschen Bahn AG. Diese hat sich in der
Schlichtung unter Heiner Geißler bereit erklärt, einen
Stresstest für die Leistungsfähigkeit des unterirdischen
Durchgangsbahnhofs Stuttgart 21 durchzuführen. Damit soll der Beweis angetreten werden, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde - zwischen 7 und 8 Uhr am Morgen, also dann,
wenn der Bahnhof am stärksten gefordert wird - mit guter Betriebsqualität möglich ist. Dabei sind - gemäß
Schlichterspruch - anerkannte Standards des Bahnverkehrs für Zugfolgen, Haltezeiten und Fahrzeiten zur Anwendung zu kommen.
Den Spezialisten für Fahrpläne der DB Netz AG stehen für diese Modellrechnungen aufwendige Computerprogramme zur Verfügung. Als Basis für die notwendigen Simulationen und Tests werden alle für Stuttgart 21
geplanten Bahnanlagen - wie Gleise, Weichen, Signale
und Bahnsteige inklusive der Eisenbahnstrecken - rund
um Stuttgart übertragen. Die Ergebnisse aus 100 simulierten Betriebstagen bilden dann die Grundlage, um die
Leistungskapazität beurteilen zu können. Das alles wird
Zeit in Anspruch nehmen. Mit einem Ergebnis ist deshalb erst im Sommer 2011 zu rechnen.
Oft wurde verwundert gefragt, warum die Leistungsfähigkeit nicht schon lange feststeht. Dabei wird vergessen, dass es absolut unüblich ist, bereits zum jetzigen
Zeitpunkt einen Fahrplan vorliegen zu haben. Als Stuttgart 21 geplant wurde, lag die Inbetriebnahme bis zu
20 Jahre in der Zukunft. So weit im Voraus kann kein
Fahrplan realistisch aufgestellt werden.
Bevor ich auf den Antrag eingehe, möchte ich auch
an dieser Stelle noch einmal Heiner Geißler, einem meiner Vorgänger als Landesvorsitzender der Jungen
Union Baden-Württemberg, danken. Heiner Geißler hat
nicht nur dafür gesorgt, wie er immer zu sagen pflegt,
dass die Beteiligten an, sondern auch die Fakten auf den
Tisch kommen. Das ist ihm vorbildlich gelungen. Das
Verfahren hat sehr zur Versachlichung der Debatte beigetragen und ist definitiv ein Erfolg. Solche Runden
wird es sicherlich in Zukunft auch bei anderen Projekten
geben.
Lassen Sie mich noch etwas zum Umgang der Grünen
mit der Schlichtung sagen: Sie haben sie gefordert, jetzt
sind sie gegen die Ergebnisse. Sie haben Heiner Geißler
vorgeschlagen, jetzt kritisieren sie ihn. Sie haben wie
alle anderen Beteiligten den Schlichterspruch akzeptiert, jetzt wollen sie Änderungen. Sie wollen aus wahltaktischen Gründen Termine diktieren - etwa bei der
Forderung, den Stresstest vor der Wahl durchzuführen,
das ist faktisch nicht möglich - und so weiter. So geht es
nicht.
Wir Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP lehnen
den Antrag der Grünen unter anderem aus folgenden
Gründen ab:
Erstens. Die Deutsche Bahn AG wird den Stresstest
nicht, wie behauptet, mit selbst definierten Parametern
durchführen. Der Test wird allgemein gültigen StanZu Protokoll gegebene Reden
dards folgen, die vom Eisenbahn-Bundesamt anerkannt
sind. Außerdem wird die renommierte Schweizer Firma
SMA die Durchführung begleiten und abschließend begutachten.
Zweitens. Der geforderten Transparenz wird bereits
Rechnung getragen: Das Ergebnis des Stresstests wird
öffentlich gemacht. Außerdem werden alle Grundlagen
der Öffentlichkeit präsentiert. Dann können sie diskutiert werden. Schon am 11. März 2011 wurden durch die
DB AG Verfahren, Umfang, Annahmen und Beurteilungskriterien sowie die Form der Qualitätssicherung
durch SMA beim ersten Sondierungstreffen für das Begleitforum Stuttgart 21 vorgestellt. Die weiteren Schritte
sollen auch in Zukunft regelmäßig in Begleitforen präsentiert und diskutiert werden. Mehr Transparenz ist
kaum möglich.
Drittens. Ja, die Grünen haben recht darin, dass der
Stresstest eine Folge der Schlichtung ist. Und genau daran hält sich die Bahn: Sie folgt den während der
Schlichtung getroffen Vereinbarungen. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hat übrigens genau diesem
Vorgehen der DB AG bereits zugestimmt. Planungssicherheit bei von allen akzeptierten Abmachungen geht
auch hier vor nachträglichen „Ich-wünsch-mir-was“Aktionen.
Viertens. Im Sinne von Effizienz und ohne unnötige
Kostensteigerungen sollten wir die Bahn den Stresstest
durchführen lassen. Wir brauchen hier Handwerker,
keine Mundwerker! Die Grünen sind doch immer die
Ersten, die vor zusätzlichen finanziellen Mehraufwand
warnen und fragen, wer das bezahlen soll.
Fünftens. Die Grünen haben zwar Schlichter und
Schlichtung gewollt und akzeptiert, wehren sich aber
jetzt gegen den Grundtenor des Schlichterspruchs. Das
ist durchaus legitim. Sie verweisen darauf, dass ein solcher gar nicht im Schlichtungsverfahren angelegt gewesen sei. Umso schwerer verständlich ist für mich, dass
sie sich dann einen Punkt herausgreifen und neue
Rechte für sich daraus ableiten. Die Kollegen von den
Grünen picken sich die Rosinen raus. Das ist für uns
nicht hinnehmbar. Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer
also aus Teilen des Schlichterspruchs bestimmtes Verhalten abliest, muss auch die ganze Schlichtung annehmen. In letzter Konsequenz bedeutet das: Stuttgart 21
akzeptieren und nicht mehr bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit unsachlich dagegen stänkern.
Die zentrale Forderung des Antrags nach Transparenz wird erfüllt, alle anderen Forderungen sind unnötig. Die akzeptierten Vereinbarungen werden dazu eingehalten bzw. noch übertroffen. Somit ist der Antrag
überflüssig und in Teilen sogar kontraproduktiv. Seine
Ablehnung ist deshalb die richtige Konsequenz.
Die Schlichtung zu Stuttgart 21 und zur Neubaustrecke Wendlingen-Ulm war in zweifacher Hinsicht ein Erfolg. Nach dem indiskutablen und überzogenen Einsatz
der Polizei am „Schwarzen Donnerstag“ im September
2010 - mit Rückendeckung der Landesregierung - hat
sie zur Versachlichung beigetragen. Durch den intensiven Meinungsaustausch von Befürwortern, Bürgerinitiativen, Vertretern der Deutschen Bahn AG und
Gegnern wurden Ergebnisse geschaffen, die jetzt ausgewertet und umgesetzt werden müssen.
In der Schlichtung konnte deutlich gemacht werden,
dass Stuttgart 21 und die Neubaustrecke WendlingenUlm von herausragender verkehrspolitischer Bedeutung
für ganz Baden-Württemberg sind. Die Projekte sind
verkehrs- wie standortpolitisch ohne ernstzunehmende
Alternative. Mit einem Durchgangsbahnhof in der Landeshauptstadt Stuttgart, der Anbindung des Landesflughafens und der neuen Landesmesse sowie der Realisierung der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm wird die
erforderliche Verkehrsinfrastruktur geschaffen, um Baden-Württemberg in das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz einzubinden. Das Projekt trägt nachhaltig dazu
bei, den Standort Baden-Württemberg auch in Zukunft
wettbewerbsfähig zu gestalten. Gleichzeitig wird durch
die neue Infrastruktur eine deutliche Verbesserung des
Regionalverkehrs innerhalb Baden-Württembergs erreicht; das Projekt nutzt der städtebaulichen Entwicklung und erweitert die Kapazität für den Güterverkehr.
Auch die Gegner des Projekts konnten mit ihren kritischen Einwürfen auf problematische Punkte in dem
Großprojekt Stuttgart 21 hinweisen, die verbesserungswürdig sind und optimiert werden müssen. Heiner
Geissler hat in seinem Schlichterspruch vom 30. November 2010 für eine Berücksichtigung einer Reihe von
Kritikpunkten der Gegner bei der weiteren Planung und
Durchführung des Projekts Stuttgart 21 plädiert.
Schwachstellen wurden identifiziert, die beseitigt werden
sollen. Das Projekt Stuttgart 21 soll baulich attraktiver,
umweltfreundlicher, behindertenfreundlicher und sicherer
gemacht werden. Im Klartext heißt das, aus Stuttgart 21
wird „Stuttgart 21 plus“.
Dazu gehört der Stresstest als zentrales Ergebnis der
Stuttgart-21-Schlichtung. Die SPD unterstützt den
Stresstest. Mit dieser Computersimulation muss die
Deutsche Bahn die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs nachweisen. Sie muss zeigen, dass der im Bau befindliche Tiefbahnhof von Stuttgart 21 in der Spitzenstunde am Morgen bis zu 49 Züge abfertigen kann.
Andernfalls muss die Infrastruktur nachgebessert oder
erweitert werden. Sollte der Stresstest die Notwendigkeit
weiterer Investitionen aufzeigen, muss die Deutsche
Bahn diese realisieren. Die Bahn muss dabei vor allem
jedoch die Durchführung, die Auswertung und die Interpretation der einzelnen Zwischen- und Endergebnisse
des Stresstests öffentlich und transparent gestalten. Ist
er nicht in vollem Umfang transparent, ist das Ergebnis
nicht viel wert. Die Bahn darf beim Leistungstest nicht
den Eindruck erwecken, hinter verschlossenen Türen zu
agieren. Der Stresstest wird sonst nicht akzeptiert. Die
Schlichtung darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Die SPD hat nach der Schlichtung gefordert, dass der
Stresstest noch vor den Landtagswahlen am 27. März
vorliegt. Leider wurde dies von der Deutschen Bahn AG
als nicht machbar dargestellt. Umso notwendiger ist es,
dass die Deutsche Bahn AG den Stresstest so transpaZu Protokoll gegebene Reden
rent wie möglich gestaltet und den Dialog mit den Kritikern aufnimmt. Gelingt dies nicht, wird erneut Vertrauen
in die Bahn und die Zustimmung zu Stuttgart aufs Spiel
gesetzt. Es muss alles getan werden, um die Akzeptanz
von Stuttgart 21 durch Transparenz, Kommunikation
und Diskussion weiter zu stärken. Dies muss bereits mit
der Überprüfung der Vorschläge aus dem Schlichterspruch auf ihre Umsetzbarkeit hin beginnen. Die Vorschläge aus dem Schlichterspruch müssen zügig, transparent und unter Beteiligung der Bürger auf ihre
Umsetzbarkeit hin überprüft werden.
Die Forderung der SPD nach einem Verzicht auf einen Weiterbau von Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstimmung war und ist richtig. Große Infrastrukturprojekte
brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach dem
27. März wird sich zeigen, wie der Volksentscheid auf
den Weg gebracht werden kann.
Dr. Heiner Geißler wurde von der Fraktion Bündnis90/die Grünen im baden-württembergischen Landtag
für das Bahnprojekt Stuttgart 21 als Schlichter vorgeschlagen. Alle Fraktionen haben sich diesem Vorschlag
angeschlossen. Wir haben dann mit der Fachschlichtung
ein in Deutschland einmaliges Konzept praktiziert. Es
saßen nicht nur alle an einem Tisch - Gegner und Befürworter -, sondern es kamen auch alle Fakten auf den
Tisch. Transparent und offen wurden das Projekt Stuttgart 21, aber auch K 21 diskutiert. Das Ergebnis war ein
Schlichterspruch, der betont, dass Stuttgart 21 ein wichtiges verkehrspolitisches Projekt und für die Region von
herausragender Bedeutung ist. Alle Teilnehmer der
Schlichtung haben dieses Ergebnis anerkannt und begrüßt. Auch bei der Mehrheit der Bevölkerung hat der
Schlichterspruch eine große Akzeptanz gefunden.
Schaue ich mir nun aber Ihren Antrag an, dann habe
ich das Gefühl, dass Sie mit der Schlichtung nicht einverstanden sind. Lassen Sie mich noch kurz die Genese der
Entwicklungen bis hin zum Schlichtungsspruch wiedergeben: Auf parlamentarischer Ebene gab es Einwände,
die aber nie zu einer Mehrheit gegen Stuttgart 21 geführt
haben. Es wurden alle Rechtswege beschritten; auch
hier kam es immer zu dem gleichen Urteil: Stuttgart 21
ist rechtsmäßig. Schlussendlich wurden die demokratischen Beschlüsse der parlamentarischen Gremien und
die Rechtmäßigkeit der Urteile infrage gestellt. Der Ruf
nach Mediation und Schlichtung wurde immer lauter.
Die Landesregierung und auch die politischen Parteien
haben diese Schlichtung gemeinsam beschlossen. Der
Erfolg und das Ergebnis dieses Schlichtungsverfahrens
sind unbestritten. Sie wollen aber partout dieses Ergebnis nicht anerkennen und fordern nun über den Schlichterspruch hinaus eine Schlichtung Teil zwei.
Liebe Kollegen von Bündnis90/Die Grünen, es ist
schon bemerkenswert, wie Sie mit parlamentarischen
Entscheidungen umgehen; nun aber wollen Sie das Ergebnis der von Ihnen geforderten Schlichtung nicht akzeptieren. Sie fordern eine „nachgelagerte Fortführung
des Schlichtungsverfahrens“. Wenn Ihnen dann auch
dessen Ergebnis nicht passt, dann kommt noch eine
Runde - immer so weiter. Mein Eindruck ist, Sie wollen
gar nicht ernsthaft ein Ergebnis, Sie wollten es nie. Sie
wollen blockieren und verhindern, aber konstruktiv mitarbeiten an der Sache, dass wollen Sie nicht.
Ich möchte aber gern auf Ihren Antrag und Ihre Forderungen zurückkommen. Sie stellen es in ihrem Antrag
so dar, als würde die Deutsche Bahn AG jenseits der
Vereinbarungen im Schlichterspruch den Stresstest
durchführen, intransparent, still und heimlich, ohne offenen Dialog mit der Bevölkerung. Diese Behauptungen
sind schlichtweg falsch. Unter Ziffer 11 und 12 des
Schlichterspruches steht ganz klar, dass die Deutsche
Bahn AG den Stresstest durchführt und welche Grundlagen sie dafür annehmen muss. Daher ein Zitat aus dem
Schlichterspruch vom 30. November 2010. Darin steht
unter Ziffer 11 und 12 - das ist auf den Seiten 12 bis14 -:
„11. Für die Fortführung des Baues von S 21 halte
ich aus den genannten Gründen folgende Verbesserungen für unabdingbar:
1. Die durch den Gleisabbau frei werdenden Grundstücke werden der Grundstücksspekulation entzogen und
daher in eine Stiftung überführt, in deren Stiftungszweck
folgende Ziele festgeschrieben werden müssen: Erhaltung einer Frischluftschneise für die Stuttgarter Innenstadt. - Die übrigen Flächen müssen ökologisch, familien- und kinderfreundlich, mehrgenerationengerecht,
barrierefrei und zu erschwinglichen Preisen bebaut werden. - Für notwendig halte ich eine offene Parkanlage
mit großen Schotterflächen.
2. Die Bäume im Schlossgarten bleiben erhalten. Es
dürfen nur diejenigen Bäume gefällt werden, die ohnehin wegen Krankheiten, Altersschwäche in der nächsten
Zeit absterben würden. Wenn Bäume durch den Neubau
existentiell gefährdet sind, werden sie in eine geeignete
Zone verpflanzt. Die Stadt sollte für diese Entscheidungen ein Mediationsverfahren mit Bürgerbeteiligung vorsehen.
3. Die Gäubahn bleibt aus landschaftlichen, ökologischen und verkehrlichen Gesichtspunkten erhalten und
wird leistungsfähig, zum Beispiel über den Bahnhof
Feuerbach, an den Tiefbahnhof angebunden.
4. Im Bahnhof selber wird die Verkehrssicherheit entscheidend verbessert. Im Interesse von Behinderten, Familien mit Kindern, älteren und kranken Menschen müssen
die Durchgänge gemessen an der bisherigen Planfeststellung verbreitert werden, die Fluchtwege sind barrierefrei zu machen.
5. Die bisher vorgesehenen Maßnahmen im Bahnhof
und in den Tunnels zum Brandschutz und zur Entrauchung müssen verbessert werden. Die Vorschläge der
Stuttgarter Feuerwehr werden berücksichtigt.
6. Für das Streckennetz sind folgende Verbesserungen
vorzusehen: Erweiterung des Tiefbahnhofs um ein
9. und 10. Gleis; Zweigleisige westliche Anbindung des
Flughafen-Fernbahnhofs an die Neubaustrecke; Zweigleisige und kreuzungsfrei angebundene Wendlinger
Kurve; Anbindung der bestehenden Ferngleise von Zuffenhausen an den neuen Tunnel von Bad Canstatt zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Hauptbahnhof; Ausrüstung aller Strecken von S 21 bis
Wendlingen zusätzlich mit konventioneller Leit- und Sicherungstechnik.
12. Die Deutsche Bahn AG verpflichtet sich, einen
Stresstest für den geplanten Bahnknoten Stuttgart 21 anhand einer Simulation durchzuführen. Sie muss dabei
den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent
Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist. Dabei müssen anerkannte
Standards des Bahnverkehrs für Zugfolgen, Haltezeiten
und Fahrzeiten zur Anwendung kommen.
Auch für den Fall einer Sperrung des S-Bahn-Tunnels
oder des Fildertunnels muß ein funktionierendes Notfallkonzept vorgelegt werden. Die Projektträger verpflichten sich, alle Ergänzungen der Infrastruktur, die
sich aus den Ergebnissen der Simulation als notwendig
erweisen, bis zur Inbetriebnahme von S 21 herzustellen.
Welche der von mir vorgeschlagenen Baumaßnahmen
zur Verbesserung der Strecken bis zur Inbetriebnahme
von S 21 realisiert werden, hängt von den Ergebnissen
der Simulation ab.
Diese von mir vorgetragenen Vorschläge in den Ziffern 11 und 12 werden von beiden Seiten für notwendig
gehalten.“
Auch in der Pressekonferenz nach der Schlichtung
wurde von der Deutschen Bahn AG betont, dass die
Firma SMA den Stresstest begleiten und begutachten
wird. Mitglieder des Aktionsbündnisses haben dies begrüßt. Auch in einer Debatte im baden-württembergischen Landtag haben Sie als grüne Fraktion einem Antrag von CDU, FDP/DVP und SPD zugestimmt, der den
Schlichterspruch und auch den Stresstest unter Durchführung der Deutschen Bahn AG begrüßt. Nun fällt ihnen aber ein, dass Sie noch einen Steuerungskreis einrichten oder weitere externe Gutachter bestellen
möchten. Dies alles ist nicht in dem Schlichterspruch
enthalten. Ich habe langsam den Eindruck, dass Sie
nach der Pippi-Langstrumpf-Methode verfahren: „Ich
mach mir die Welt, wie Sie mir gefällt“. Das kann man
machen, aber wir leben in einem Rechtsstaat und nicht
in Taka-Tuka-Land. Zusagen und Beschlüsse müssen
verbindlich sein, Sie halten sich nicht daran. Für mich
sind Bündnis 90/Die Grünen in der politischen und parlamentarischen Arbeit unglaubwürdig und kein zuverlässiger Partner. Wir lehnen daher den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab.
Die Mehrheit der Bevölkerung in Stuttgart lehnt das
Großprojekt Stuttgart 21 ab. Die Menschen vor Ort tun
dies unter der Losung „Oben bleiben“. Mit dieser Kurzformel bringen sie zum Ausdruck, dass das Denkmal
Bonatzbau in Gänze erhalten, das Gleisfeld als oberirdisches bestehen bleiben und Stuttgart seinen traditionellen Kopfbahnhof behalten soll. Sie erwarteten von
Heiner Geißler, dass dieser als Ergebnis des FaktenChecks entweder sich von den Sachargumenten überzeugen lassen und sich für das „Oben bleiben“ entscheiden
würde oder dass er sich für eine demokratische Entscheidung der Stuttgarter Bevölkerung aussprechen
würde.
Geißler hat diese Chance zu einer Abwägung der
Sachargumente und zu einem beispielhaften demokratischen Prozess nicht ergriffen. Er entschied sich im Sinne
der Bahn und der CDU, für ein „Weiterbauen plus“; für
Stuttgart 21 mit einigen Nachbesserungen. Die Bevölkerung fühlt sich mit dem sogenannten Schlichterspruch
ein weiteres Mal von der Politik getäuscht.
Ein Element bei den Nachbesserungen ist der sogenannte Stresstest. Wie immer dieser Test gemeint gewesen sein soll und was immer einige S21-Gegnerinnen
und -Gegner sich dabei gedacht oder damit erhofft haben, zunächst muss man sich auf den Text als solchen beziehen. Im Schlichterspruch heißt es dazu nur: „Die
Bahn muss dabei den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist.“ Das Bundesverkehrministerium wies bereits im November in
einer ersten Stellungnahme darauf hin, dass in dieser
Festlegung sogar der mathematische Bezugspunkt fehlt:
30 Prozent mehr als was? Inzwischen scheint man sich
darauf geeinigt zu haben, dass die Leistung 30 Prozent
größer als die des gegenwärtigen Kopfbahnhofs sein
müsse.
Das scheint mir bereits eine erste Falle zu sein. Wie in
der Schlichtung durch den langjährigen Stuttgarter
Bahnhofschef Egon Hopfenzitz nachgewiesen wurde,
hatte der Stuttgarter Kopfbahnhof im Jahr 1969 - und
weitgehend ähnlich von 1970 bis 1974 - eine tägliche
Leistung von 809 Zugbewegungen. Heute sind es 650.
Damit lag diese Leistung bereits einmal um knapp
30 Prozent über der gegenwärtigen. Das trifft auch zu
auf die Spitzenstunde, wo besonders viele Vorortzüge
abgefertigt werden mussten. Diese Tagesleistung konnte
deutlich herabgefahren werden, weil 1975 der S-BahnTunnel eröffnet wurde. Damit entfielen so gut wie alle
sogenannten Vorortbahnen, die heute als S-Bahnen im
„Bauch“ des Kopfbahnhofs verkehren.
Die Polemik gegen den Kopfbahnhof und die vielen
flammenden Plädoyers für einen Durchgangsbahnhof
gehen im Grunde ins Leere. In Stuttgart gibt es seit
36 Jahren einen Durchgangsbahnhof - mit der S-Bahn
und damit dort, wo dies sinnvoll ist: bei den durchzubindenden Nah- und teilweise auch regionalen Verkehren.
Und es gibt in der Landeshauptstadt seit mehr als
85 Jahren den bekannten Kopfbahnhof, ebenfalls dort,
wo das Sinn macht: für den weitergeführten Regionalund für den Schienenpersonenfernverkehr.
Rechnet man den damals erforderlichen Lokwechsel
hinzu, dann lag die reale Leistung 1969 bis 1975 bei
rund 40 Prozent über der heutigen. Es gab also längst
einen Stresstest mit dem Ergebnis einer zusätzlichen
Leistung von weit mehr als 30 Prozent. Und diese Leistung wurde nicht in einem Computerprogramm
simuliert - sie fand in diesem Bahnhof Werktag für
Werktag statt. Demnach hat der jetzige Kopfbahnhof
Leistungsreserven von mindestens 40 Prozent. Das ist in
dem geplanten Kellerbahnhof nie und nimmer darstellbar.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es gibt noch einen weiteren Denkfehler bei der Forderung nach einem solchen Stresstest für die Leistung
„in der Spitzenstunde“. Es ist nicht von besonderem Interesse, wie viel Züge insgesamt pro Stunde oder gar an
einem Tag in einem Bahnhof abgefertigt werden können.
Bei der „Philosophie“ eines „Integralen Taktfahrplans“, der in der Schweiz seit mehr als zwei Jahrzehnten mit großem Erfolg praktiziert wird und der ja auch
vom Aktionsbündnis gegen S21 gefordert wird, geht es
um etwas ganz anderes. Der Fahrplanspezialist Professor Wolfgang Hesse, der auch als Sachverständiger an
der Schlichtung teilnahm, schrieb dazu jüngst in der
renommierten „Eisenbahn-Revue International“, 3/2011:
„Die Grundidee des Integralen Taktfahrplans, ITF, besteht darin, zu einem bestimmten Zeitpunkt, vorzugsweise zu den leicht merkbaren Minuten 00 und 30, Fernund Regionalzüge aus möglichst vielen Richtungen zusammenlaufen zu lassen, um ein wechselseitiges Umsteigen in möglichst viele Richtungen zu ermöglichen. Dazu
bedarf es möglichst vieler ({0}) Bahnsteigkanten, die für
den Rest der Stunde nicht oder nur wenig genutzt werden.“ Es ist einleuchtend, dass ein Kopfbahnhof mit seinen 17 Gleisen dieser Anforderung weit besser gerecht
werden kann als ein Tiefbahnhof mit acht Gleisen. Das
Argument der Bahn, man könne im Kellerbahnhof
„durchbinden“, beantwortet Professor Hesse wie folgt:
„Aus der Not der fehlenden Bahnsteigkanten soll mit
dem Angebot der durchgebundenen Regionalzüge eine
Tugend gemacht werden. Diese bieten zwar dem Fahrgast, der zufällig in die angebotene Fahrrichtung weiterfahren will, einen Zeitvorteil, für den Wechsel zu anderen Fahrtzielen ergeben sich aber in der Regel
weitaus höhere Umsteige- und Wartezeiten.“ Auch ein
optimal verlaufender Stresstest für einen Tiefbahnhof,
wenn er denn als sinnvoll erachtet wird, sagt also rein
gar nichts über dieses entscheidende Erfordernis für einen ITF aus.
Nun gibt es im Antrag der Grünen eine Reihe von gut
gemeinten Forderungen, wonach der Stresstest mit
„Transparenz und als Dialog auf Augenhöhe“ zu führen
sei, wonach es ein „Steuergremium für den Stresstest“
geben solle und die „Federführung bei“ einem „unabhängigen externen Gutachter“ liegen solle. Tatsache
ist: Von all dem ist im Geißler-Spruch nichts zu lesen.
Ein Vierteljahr nach Verkündung der anmaßenden Geißler´schen Entscheidung können solche Forderungen
leicht vom Tisch gefegt und als „Nachkarten“ denunziert werden. Selbst wenn die DB AG auf solche Forderungen eingehen würde - es dürfte extrem schwer sein,
einen solchen „unabhängigen externen Gutachter“, auf
den sich beide Seiten einigen, zu finden. Die mehrfach
ins Spiel gebracht Züricher Firma SMA ist bereits von
der Auftragslage her erheblich von der DB AG abhängig. Es gibt sogar Gerüchte, dass die DB AG bei SMA
bereits eingestiegen sei.
Es geht jedoch auch um Grundsätzliches. Wenn man
sich einmal auf die Ebene der Nachbesserungen eingelassen hat, hat man sich auf eine schiefe Ebene eingelassen. In der Öffentlichkeit entsteht dann der Eindruck,
dass die grundsätzliche Position des „Obenbleibens“
aufgegeben oder zumindest aufgeweicht wird. Das wirkt
entwaffnend und irritierend und es ist kontraproduktiv.
Was würde es denn besagen, wenn der Stresstest „auf
Augenhöhe“ und mit einem „Steuerungsgremium“, mit
Präsenz der S21-Gegner in diesem stattfände und zum
Ergebnis kommen würde: S21 ist möglich als „S21 plus“
mit diesen und jenen Verbesserungen? Es würde sich
rein gar nichts daran ändern, dass mit S21 der Kopfbahnhof weitgehend zerstört, in Stuttgart ein Jahrzehnt
lang eine Großbaustelle im Zentrum existiert, die Tunnelbauten mit immensen Gefahren für die Mineralwasserquellen und die Standfestigkeit der Gebäude verbunden sein würde und daran, dass das Projekt als solches
ein Schienenverkehr-Vermeidungs-Projekt ist.
Oben bleiben heißt oben bleiben. Wenn es um Verbesserungen und Nachbesserungen geht, dann auch oben.
„Stresstest - könnt ihr haben. Widerstand 2.0“ - so
stand es auf einem schönen Plakat, das im November,
nach Geißlers Spruch, im Schlossgarten hing.
Sie erinnern sich sicher alle noch gut an die heftigen
Auseinandersetzungen im Herbst letzten Jahres um das
Großprojekt Stuttgart 21 und die dazu öffentlich durchgeführte Faktenschlichtung in Stuttgart. Stuttgart 21 ist
nach Auffassung der Bundesregierung ein Projekt der
Deutschen Bahn AG. Daher verlässt sie sich bis heute
blindlings auf die Zahlenwerke der Bahn sowie auf die
von ihr behauptete Wirtschaftlichkeit und den verkehrlichen Nutzen des Projekts, trotz hoher finanzieller Beteiligung und Risiken für den Bund.
Wir sehen dies ebenso wie der Bundesrechnungshof
kritisch. Der Bund beteiligt sich mit 1,2 Milliarden Euro
am Ausbau des Eisenbahnknotens Stuttgart und ist Eigentümer der Deutschen Bahn AG. Er muss also ein ureigenes Interesse daran haben, dass die Kosten des Projekts Stuttgart 21 nicht explodieren - unabhängig davon,
ob sich dies nun negativ im Bundeshaushalt niederschlägt oder in der Bilanz der bundeseigenen DB AG. Zudem muss der Bund ein ureigenstes Interesse daran haben, dass der Ausbau des bundeseigenen Schienennetzes
den verkehrlichen und volkswirtschaftlichen Nutzen hebt
und die DB AG keine Projekte errichtet, die gigantisch
viel kosten, ohne Nutzen für den Schienenverkehr zu
schaffen. Insofern ist es schon sehr aufschlussreich, dass
keine Vertreter des Bundesverkehrsministeriums am
Schlichtungsverfahren teilnahmen und die Bundesregierung damit ausdrücklich ihr Desinteresse an den wirklichen Fakten signalisierte. Das deckt sich mit unseren
jahrelangen Erfahrungen.
Es bedurfte erst der Schlichtung, eines nichtparlamentarischen Gremiums auf der Basis des guten Willens
aller Beteiligten, damit mehr Informationen über dieses
Projekt vorgelegt wurden - mehr Informationen übrigens, als den Mitgliedern des Deutschen Bundestages im
gesamten Planungsprozess für Stuttgart 21 zugestanden
wurde, selbst wenn sie nur in den Geheimschutzstellen
Einblick in die Unterlagen nehmen wollten, was zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Damit sind wir beim Kern unseres Antrags. Die Bahn
begründet den milliardenschweren Umbau des StuttgarZu Protokoll gegebene Reden
ter Hauptbahnhofs von einem gut funktionierenden
Kopfbahnhof in einen unterirdischen Tunnelbahnhof
insbesondere damit, dass dieser hohe Kapazitätszuwächse bewältigen könne. Es war jedoch eine der wichtigsten Erkenntnisse der Faktenschlichtung, dass die eisenbahntechnische Leistungsfähigkeit des von der DB
AG geplanten neuen Bahnknotens Stuttgart 21 ernsthaft
infrage gestellt werden muss. Daher verpflichtete sich
die DB AG zu einem sogenannten Stresstest, einer Belastungssimulation, bei der nachgewiesen werden soll, dass
Stuttgart 21 in Spitzenbelastungszeiten 30 Prozent mehr
Züge bewältigen kann als der bestehende Kopfbahnhof.
Ansonsten sind Nachbesserungen nötig, und diese machen das Projekt erheblich teurer, als es ohnehin schon
nach dem jetzigen Stand ist.
Mehr als pikant ist allerdings, dass die Deutsche
Bahn nach den heftigen Auseinandersetzungen, die in
das Schlichtungsverfahren mündeten, eine Beteiligung
unabhängiger Experten und die Einbeziehung von Vertretern des Aktionsbündnisses von Anfang an ablehnt
und den Stresstest selbst durchführen will. Erst die Ergebnisse der bahninternen Prüfung sollen zur Kontrolle
an das Schweizer Verkehrsberatungsunternehmen SMA
übergeben werden, dass zu 75 Prozent von Aufträgen
der DB AG lebt. Von einem transparenten Verfahren ist
keine Rede mehr. Dies kritisierte auch Schlichter Heiner
Geißler, der laut Äußerungen in den Medien das Anliegen des Aktionsbündnisses, von Anfang an an der Leistungsüberprüfung beteiligt zu sein, voll unterstützt. Aber
was passiert, wenn die DB AG sich quasi selbst kontrolliert und die Nachkontrolle einem Unternehmen überlässt, das regelmäßig Aufträge von der DB AG erhält?
Es liegt auf der Hand: Man kommt zu dem gleichen Ergebnis wie bereits vor der Schlichtung - Stuttgart 21 ist
wunderbar, funktioniert und benötigt keinerlei Nachbesserungen, und selbstverständlich bleibt auch alles im
vertraglichen Kostenrahmen. Für diese Erkenntnis hätte
es allerdings weder das Schlichtungsverfahren noch den
aufwendigen Stresstest benötigt. Das wird auch die Bürgerinnen und Bürgern nicht überzeugen, die monatelang
in Baden-Württemberg und ganz Deutschland zu Zigtausenden energisch gegen das Projekt protestiert haben.
Der Stresstest ist ein Zwischenergebnis der Schlichtung und die zeitlich nachgelagerte Fortführung des
Schlichtungsverfahrens, da zentrale Problempunkte im
Rahmen der Schlichtung nicht abschließend geklärt
werden konnten. Er muss daher den gleichen Kriterien
wie das Schlichtungsverfahren, nämlich Transparenz
und Dialog auf Augenhöhe, folgen. Deshalb fordern wir
die Bundesregierung mit unserem Antrag auf, in ihrer
Verantwortung als Eigentümerin der DB AG dafür Sorge
zu tragen, dass der Stresstest von Anfang an, also bereits
bei Eingabe der Daten und der Datenverarbeitung, öffentlich und transparent erfolgt. Das heißt, er muss unter Beteiligung des Aktionsbündnisses und unabhängiger Experten durchgeführt werden. Nur dann kann eine
breite Akzeptanz für das Ergebnis erreicht werden. Die
Federführung des Stresstests darf nicht beim Projektträger der DB AG liegen, denn dessen Planungen sollen ja
schließlich überprüft werden.
Nach den zahlreichen Fehl- und Halbinformationen
bezogen auf Kosten, Risiken und Nutzen von Stuttgart 21
über Jahre hinweg ist das Vertrauen in die Deutsche
Bahn erheblich gestört. Der Stresstest und die daraus
abgeleiteten Konsequenzen sind nur dann tragfähig,
wenn es ein gemeinsames, transparentes Verfahren gibt,
an dem die Projektkritiker des Aktionsbündnisses und
damit die Öffentlichkeit von Anfang an beteiligt sind.
Sind Sie damit einverstanden, den Antrag auf Drucksache 17/5041 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen? - Das ist der Fall. Dann ist
es so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({0}), Dr. Frithjof Schmidt, Manuel
Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
wiederbeleben
- Drucksache 17/5042 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben bereits die
Kolleginnen und Kollegen Bareiß, Karl, Nietan, Vogel
({2}), Hunko und Roth ({3}).
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Wiederbelebung der Verhandlungen mit der Türkei zum Beitritt in
die Europäische Union. Im Oktober 2005 wurden unter
der damaligen rot-grünen Bundesregierung Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Die CDU/CSU hat sich von
Anfang an skeptisch gegenüber einer Vollmitgliedschaft
der Türkei geäußert und mit der privilegierten Partnerschaft ein Gegenkonzept vorgestellt, das der großen Bedeutung einer engen Beziehung angemessen ist und für
beide Seiten große Vorteile bietet. Wir haben uns aber
auch dazu bekannt, dass beschlossene Verträge gelten
und die Beitrittsverhandlungen weitergehen. Ich sage
ganz klar: Ob die Beitrittsverhandlungen wiederbelebt
werden, liegt ganz allein in der Hand der Türkei, die entscheiden muss, ob sie Reformen will oder nicht. Ich
glaube, sie will sie nicht. Auch nach dem Beginn der
Beitrittsverhandlungen sind die Grundsätze des Konzepts der privilegierten Partnerschaft angesichts des offen gestalteten Verhandlungsprozesses, der ausdrücklich
keine EU-Mitgliedschaft am Ende garantiert, aktuell.
Ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass die Türkei ein enorm wichtiger Partner für die Europäische
Union ist und unser Land ein besonderes Interesse an einer Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen zur Türkei hat. Lassen Sie mich dazu zunächst einige AusfühZu Protokoll gegebene Reden
rungen machen, ehe ich anschließend auf die innertürkischen Probleme eingehe.
Zunächst einmal ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstandort, gehört sie doch mit einem Bruttoinlandsprodukt von 729 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010 zu den 20 größten Volkswirtschaften
der Welt. Die Türkei ist mit ihren 71 Millionen Einwohnern ein wichtiger Handelspartner für Europa und vor
allem auch für Deutschland. So war die Bundesrepublik
mit einem Anteil von rund 10 Prozent an den gesamten
türkischen Wareneinfuhren im Jahr 2009 zweitgrößter
Lieferant der Türkei. Eine enge wirtschaftliche Kooperation bietet für beide Seiten große Vorteile. Die Türkei
mit ihrer sehr jungen Bevölkerung besitzt somit ein hohes wirtschaftliches Potenzial.
Darüber hinaus ist die Türkei durch ihre geografische Lage gleichsam eine Energiedrehscheibe - ein
wichtiges Bindeglied zwischen den Märkten Europas
und den Erdöl und Erdgas exportierenden Ländern des
Nahen und Mittleren Ostens sowie der Region um das
Kaspische Meer. Für die Energieversorgung Europas
spielt die Türkei damit eine immer wichtigere Rolle. Ein
Beispiel ist die Nabucco-Gasleitung, die Westeuropa unabhängiger von Russland machen soll.
Vor allem aber - und das betrifft die Außen- und Sicherheitspolitik - ist die Türkei ein wichtiges Nato-Mitglied, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie die
zweitgrößte Armee des Bündnisses besitzt. Durch die
Nähe zum arabischen Raum stellt sich die Türkei als ein
wichtiger Partner in geostrategischer Hinsicht dar: Die
Türkei grenzt an Georgien, Armenien, Aserbaidschan,
Iran, Irak und Syrien. Damit ist die Türkei für uns ein
wichtiger vermittelnder Brückenstaat zu diesen Ländern, gerade was die dortigen Krisenherde betrifft und
gerade angesichts der aktuellen politischen Umwälzungen in Nordafrika und im Nahen Osten. Die Türkei mit
ihrer Staatsform und ihrer außenpolitischen Ausrichtung ist als starke Mittelmacht in der Region somit eine
wichtige Brücke zum Nahen Osten und zur islamischen
Welt.
Auf dem Europäischen Rat im Juni 1993 in Kopenhagen wurden die Bedingungen für einen Beitritt beschlossen, nämlich Kriterien, die potenzielle Beitrittsländer
zur Europäischen Union erfüllen müssen. Der Acquis
umfasst die wirtschaftlichen Voraussetzungen, die politischen Beitrittsvoraussetzungen, institutionelle Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten.
Nun zum Stand der Reformen. Bei allen oben genannten Kriterien ist die Türkei in den letzten Jahren nicht
viel vorangekommen. Sie hat sich vielmehr, gemessen an
den oben genannten Werten, bei einigen Punkten von
Europa entfernt. Leider hat der Fortschrittsbericht der
EU-Kommission vom Oktober 2010 gezeigt, dass die
Türkei in den letzten Jahren bedauerlicherweise sehr
wenig Reformfortschritte gemacht hat. In der Türkei
herrschen nach wie vor enorme Defizite bei zentralen
Demokratie-Beitrittskriterien. Dazu gehören unter anderem der Schutz von Minderheiten, Frauenrechte, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Die stagnierenden Reformentwicklungen machen mir große Sorge. Jüngste
Verhaftungen von Journalisten wegen angeblicher Mitgliedschaft in terroristischen Netzwerken, eine Welle
von Klagen und Ermittlungen gegen Karikaturisten,
Reporter und Kolumnisten wegen Verleumdung und antistaatlicher Propaganda, exorbitante Steuerstrafen
gegen regierungskritische Medienunternehmen sowie
medienkritische Äußerungen von Politikern geben Anlass dazu. Bis die Türkei diese Grundwerte westlicher
Demokratien nicht nur auf dem Papier verabschiedet
hat, sondern die Gerichte und die Menschen diese Prinzipien auch verinnerlicht haben, wird wohl noch eine
lange Zeit vergehen.
Dass zurzeit keine weiteren Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnet werden, liegt an der unnachgiebigen Haltung der türkischen Regierung in der ZypernFrage. Die Türkei verstößt in der Zypern-Frage gegen
Völkerrecht, indem es den Norden besetzt hält und sich
einer Einigung Zyperns nach wie vor entgegenstellt. Die
Türkei ist gemäß Ankara-Protokoll verpflichtet, die
Zollunion mit der EU auf alle Mitgliedstaaten anzuwenden, und das heißt, türkische Häfen und Flughäfen für
zypriotische Waren zu öffnen. Unsere Bundeskanzlerin
hat in vielen Gespräche mit der Türkei und mit Zypern
dieses Problem klar angesprochen und betont, dass sich
beide Seiten bewegen müssen und dass die Bundesregierung bereit ist, bei der Überwindung der Probleme Hilfestellung zu geben. Daher verstehe ich den Vorwurf der
Untätigkeit der Grünen gegenüber der Bundesregierung
nicht. Ebenfalls hat die Bundesregierung immer betont,
dass die Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden.
Wenn Ministerpräsident Erdogan die Türkei als
Schutzmacht für die in Deutschland und Libyen lebenden Türken bezeichnet, dann ist das schlichtweg ein
nicht hinnehmbarer Vergleich. Solche Vergleiche und
solche Reden von Ministerpräsident Erdogan sind sicher nicht förderlich, um zu zeigen, dass sich die Türkei
der Europäischen Union annähert. Und seine Aussage
in Düsseldorf, dass die in Deutschland lebenden Kinder
mit türkischen Eltern zuerst türkisch lernen sollen, zeigt,
dass die Türkei noch weit weg vom gemeinsamen europäischen Verständnis ist.
Zu begrüßen sind die Fortschritte, die durch das Verfassungsreferendum in der Türkei im September letzten
Jahres erreicht werden konnten. Die Reform des Justizwesens ist ein Schritt in die richtige Richtung. Zu begrüßen ist auch, dass sich die Türkei mit Armenien darauf
geeinigt hat, diplomatische Beziehungen aufzunehmen.
Dies war sicher kein einfacher Schritt nach fast hundert
Jahren Lügen und Leugnen des Massenmordes an den
Armeniern.
Nun zur Lage der Christen in der Türkei. Nicht hinnehmbar ist für mich, dass in der Türkei das Recht auf
freie Religionsausübung als einer der Grundpfeiler unserer Werteordnung nicht gewährleistet ist. Das christliche Leben wird dort weiterhin stark eingeschränkt. Es
ist den christlichen Minderheiten in der Türkei nicht gestattet, ihren Nachwuchs an Geistlichen auszubilden
oder Unterricht in den Sprachen der Minderheiten zu erteilen; sie dürfen keine Kirchen errichten und ihren
Zu Protokoll gegebene Reden
Glauben nicht frei praktizieren. Ein weiterer großer
Rückschlag ist auch das Urteil in Bezug auf das Kloster
Mor Gabriel. Mor Gabriel ist eines der ältesten Klöster
der Christenheit und soll nun nach Meinung des obersten Gerichtshofes in Ankara zugunsten des Schatzamtes
Midyat enteignet werden. Die Kläger wurden von der regierenden AKP-Partei massiv unterstützt.
Es muss ein deutliches Signal aus Deutschland, aber
auch aus Europa, in die Türkei gesandt werden, dass das
Menschenrecht der Religionsfreiheit auch in der Türkei
uneingeschränkte Geltung bekommen muss. Ich bin unserem Bundespräsidenten Christian Wulff sehr dankbar,
dass er in seiner vielbeachteten Rede vor dem türkischen
Parlament besonders unterstrichen hat, dass die Religionsfreiheit für unsere europäische und deutsche Wertegemeinschaft unabdingbar ist. Zu Recht wies er mit seiner Mahnung, Religionsfreiheit auch für Christen
möglich zu machen, auf die herrschenden Missstände in
Bezug auf die Religionsfreiheit hin. So wie die Muslime
in Deutschland ihre Religion ohne jegliche Einschränkungen praktizieren und leben können, muss Gleiches
auch für die in der Türkei lebenden Christen gelten. Wie
Volker Kauder bin ich der Auffassung, die Einhaltung
der Religionsfreiheit zur Voraussetzung für die Öffnung
neuer Kapitel zu machen.
Am 12. Juni 2011 finden in der Türkei die Wahlen zum
türkischen Parlament statt. Die neue türkische Regierung wird vor einer Reihe wichtiger Aufgaben und Herausforderungen stehen. Ein vorrangiges Ziel auf der politischen Agenda wird die Erarbeitung und
Verabschiedung einer neuen Verfassung sein. Im weiteren Entwicklungsprozess hat die Türkei die Möglichkeit,
ihre rechtsstaatlichen Probleme und Demokratiedefizite
zu lösen sowie die Rolle der Religion in Politik und Gesellschaft neu zu definieren.
Wir unterstützen aus Überzeugung den Reformprozess, bei dem sich die Türkei an europäischen Werte-,
Wirtschafts- und Rechtsstandards orientiert. Die Türkei
ist ein wichtiger Partner Deutschlands und der Europäischen Union in der Region. Die CDU/CSU setzt auf
eine starke Türkei an der Seite Europas. Aber als vollwertiges EU-Mitglied sehen wir die Türkei nicht und
setzen weiterhin auf das Konzept der privilegierten
Partnerschaft.
Wenn wir uns heute mit dem Antrag der Grünen befassen, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
wiederzubeleben, so mutet dies wie eine Pflichtübung
an. In periodischen Abständen wird aus dem Lager der
Opposition der Vorschlag geradezu gebetsmühlenartig
wiederholt, das Tempo der Türkei in Richtung Europa zu
forcieren. Bedauerlicherweise geht das Petitum bei diesem Antrag - wie bei manch anderen gleichgerichteten
Überlegungen - immer in die Richtung der Europäischen Union, der europäischen Einrichtungen. Immer
wird subtil unterstellt, dass „Europa“, dass die „europäischen Einrichtungen und Institutionen“ eine gewisse
Bringschuld an Aktivitäten nunmehr zu leisten hätten,
dass es an der Zeit wäre, dass die Europäische Union
nun endlich „ihre Hausaufgaben macht“, nun endlich
ihre Verpflichtungen gegenüber der Türkei einhält, um
der Türkei den Weg in die Europäische Union zu ebnen.
Bei Licht betrachtet sehen die Dinge jedoch ganz anders aus. Nicht die Europäische Union hat eine Bringschuld gegenüber der Türkei, vielmehr ist es gerade umgekehrt. Um in eine bestehende Gemeinschaft aufgenommen
zu werden, sind die Grundsätze der Gemeinschaft zu akzeptieren, sind deren Grundlagen zu akzeptieren. Es
wäre ja geradezu schizophren, wenn jemand, der sich einer Gemeinschaft anschließen möchte, darauf pochen
und bauen könnte, dass die festgefügte Organisation
sich deshalb verändert, weil das neue Mitglied, das um
Aufnahme ersucht, in wesentlichen Teilen zu der bestehenden Gemeinschaft nicht passt. Das wäre ja genau so,
als wenn jemand in einen Verein aufgenommen werden
möchte, aber als Nicht-Mitglied vom Verein verlangt,
dass dieser schon einmal - quasi vorab - seinen Vereinszweck ändert, um den Verein passend für ihn zu machen.
Wer solch einem Gedankengang nachhängt, liegt
doch völlig verkehrt, gerade andersherum wird ein
Schuh aus der Sache. Derjenige, der einer Gemeinschaft
beitreten will, muss von sich aus zu der Gemeinschaft
passen; hierbei sehe ich gerade nicht zu überwindende
Schwierigkeiten. Die Aufnahmewünsche der Türkei in
die EU sollten aus verschiedener Sichtweise, auch aus
historischer Sicht, beleuchtet werden. Wir müssen mindestens bis in das Jahr 1957 zurückblicken, als die
Staatsmänner Europas in Rom die Verträge, die „Römischen Verträge“, geschlossen haben, um eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu begründen. Schon
Jahre vorher, durch eine gemeinsam ausgerichtete Politik bei Kohle und Stahl, zusammengekommen, wurde
1957 in Rom manifestiert und fortgeschrieben, dass man
sich künftig in Europa auf eine gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik einigen wollte.
Aus früheren Feinden wurden über wirtschaftliche Interessen politische Freunde. Die nunmehr von Zäunen
und Schlagbäumen befreiten westeuropäischen Länder,
die sechs Kernländer Europas, konnten sich ohne außenwirtschaftliche Schranken hervorragend entwickeln
und haben eine noch nie dagewesene wirtschaftliche
Prosperität in den letzten fünf Jahrzehnten gesehen. Die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat sich zur Europäischen Gemeinschaft und dann zur Europäischen
Union entwickelt. 27 Länder Europas sind es mittlerweile, die weit über die wirtschaftlichen Interessen hinaus eine gemeinschaftliche europäische Politik auf vielen Feldern wollen.
Nach den Erweiterungen der EU ist das „politische
Europa“ groß geworden, es hat frühere trennende regionale Grenzen aufgehoben. Durch die deutliche Erweiterung Europas nach Süden, nach Norden und nach Osten
ist Europa allerdings auch auf regionale Grenzen gestoßen. Heute gilt es, das groß gewordene Europa zu konsolidieren.
Grenzen sind aber nicht nur regional zu definieren.
Die Gemeinschaft darf nicht an der Oberfläche dümpeln. Europa muss gerade an Tiefgang gewinnen, um die
über Jahrzehnte hin gewachsenen Grundlagen des poliZu Protokoll gegebene Reden
tischen Europas überall zu implementieren und nicht zu
verwässern. Neben den regionalen Grenzen gibt es auch
noch ganz andere Grenzen, geistige Grenzen zum Beispiel, die die Identität Europas bedeuten. Es gibt die kulturelle Identität, es gibt die weltanschauliche Identität
und es gibt die historische Identität Europas.
Durch die jetzigen 27 Mitgliedstaaten Europas können im Wesentlichen diese kulturellen, weltanschaulichen und historischen Identitäten subsumiert werden auch wenn der Beitritt Rumäniens und Bulgariens mit
gewissen Schwierigkeiten versehen war. Es bleibt jedoch
festzustellen, dass sich die frühere Wirtschaftsgemeinschaft hervorragend entwickelt hat zu einer Gemeinschaft, die nach außen hin mit einer gleichmäßig ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik aufwartet und
die ihre gemeinschaftliche Zukunft in einer gleichgerichteten Wirtschafts- und Währungspolitik sucht.
Die Einführung des Euro war ein außerordentlich
wichtiger und markanter Punkt in der gemeinschaftlichen Politik in Europa. Das gemeinsame Geld hat die
gemeinsamen Wurzeln Europas, hergeleitet aus ihrer
Tradition und aus ihrer Kultur, ganz deutlich manifestiert. An diesen Entwicklungen in Europa bis zurück ins
Mittelalter hat die Türkei keinen Anteil gehabt. Die kulturellen, die geistigen und die historischen Wurzeln Europas sind nicht die gleichen wie die der Türkei. Wenn
die Türkei also Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft sucht, dann kann man sich nicht auf eine aus gemeinschaftlichen Wurzeln herrührende Tradition berufen.
Die Interessen der Türkei liegen heute auf wirtschaftlichem Gebiet. Die gewünschten Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei sind Verhandlungen, um der Türkei wirtschaftliche Vorteile zu bringen. Dies ist nichts Schlechtes,
und Verhandlungen werden seit Jahrzehnten betrieben.
Von den wirtschaftlichen Interessen zu unterscheiden sind
aber eben die tiefer gehenden Überlegungen; die Frage
lässt sich darauf reduzieren: Ist die Türkei ein europäisches Land, das in die EU aufgenommen werden kann,
oder nicht? Die augenblicklichen Diskussionen sind daher manchmal etwas peripher.
Gewiss hat die Türkei augenblicklich nicht die Reife,
die man sich von einem rechtsstaatlichen, demokratisch
verfassten Land vorstellt. Verstöße gegen die Meinungsfreiheit sind evident. Erst vor wenigen Wochen wurden
Journalisten in der Türkei festgenommen wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Organisation Ergenekon,
die sich gegen Ministerpräsident Erdoğan wendet.
Die Religionsfreiheit ist in der Türkei in großen Teilen nicht gegeben. Noch immer können Kirchen und
christliche Glaubensgemeinschaften kein Eigentum erwerben, noch immer ist die Ausbildung für Priester und
Ordensleute in der Türkei nicht möglich. Die Enteignungen beim 1 600 Jahre alten Kloster Mor Gabriel sind ein
unglaubliches Zeugnis dafür, dass die Religionsfreiheit,
insbesondere die Religionsfreiheit der Christen, in der
Türkei geradezu mit Füßen getreten wird. Auf dem
Christenverfolgungsindex 2011 rangiert die Türkei auf
Platz 30, noch vor Weißrussland und dem Sudan.
Die Türkei kommt auch bei der Zypern-Politik, was
die Fortschrittsberichte der EU anbelangt, außerordentlich schlecht weg. Auch dadurch gibt die Türkei zu erkennen, dass sie sich an internationales Recht und an international übliche Vorgehensweisen nicht halten
möchte.
Diese Dinge mögen überwindbar sein. Anstelle der
geknebelten Presse könnte nach einem langen Prozess
durchaus auch Pressefreiheit treten, Christen und andere Religionsgemeinschaften könnten längst mit ähnlichen Rechten ausgestattet sein wie die vorherrschende
Religion im Lande, der Islam. All dies erwarten wir seit
langem schon gerade auch deswegen, weil uns die Türkei als Nachbar nahesteht. All dies würde aber nicht das
Grundsätzliche entkräften, nämlich, dass die Türkei kein
europäisches Land ist. Ein Land, das zu mehr als
90 Prozent in Asien liegt, kann durch keinerlei rhetorische Volte zu einem europäischen gemacht werden.
Um einen ehrlichen Umgang mit der Türkei zu pflegen, ist es an der Zeit, der Türkei zu sagen, dass das türkische Interesse an einer besser koordinierten Wirtschaftspolitik durchaus respektiert und protegiert werden
kann, dass wir aber nicht in eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft zurückfallen wollen.
Die Lösung, die die Bundeskanzlerin Angela Merkel
auch in der Türkei sehr offen vertreten hat, ist daher
richtig. Die Türkei kann mit einer privilegierten Partnerschaft all die wirtschaftlichen Überlegungen treffen,
die sie sich in Bezug auf die EU vorstellt. Eine privilegierte Partnerschaft ist nichts Ehrenrühriges, ein Beitritt in die EU ist das allerdings auch nicht. Die Ehrlichkeit gebietet es auch, den Türken zu sagen, was möglich
ist und was nicht - und ein Beitritt ist nicht möglich.
Wenn ein Beitritt also nicht möglich ist, sind auch Beitrittsverhandlungen nur Hinhaltetaktiken. Dies ist nicht
seriös. Beitrittsverhandlungen, wie von den Grünen jetzt
gefordert, wiederzubeleben, bedeutet nichts anderes, als
diese Hinhaltetaktiken fortzusetzen. Damit ist der Türkei
jedoch nicht gedient; dafür stehen wir auch nicht zur
Verfügung.
Vor zwei Tagen fand ich eine Postkarte der rechtspopulistischen Partei „Pro Deutschland“ im Briefkasten meiner Berliner Wohnung. „Wir wollen die Türkei
nicht in der EU!“ lautet die Überschrift dieser Hetzschrift, in der die Bürger gebeten werden, sich an einer
Petition an den Bundestag zu beteiligen, in der wir Abgeordnete aufgefordert werden, „in allen zuständigen
Gremien gegen den geplanten Beitritt der Türkei zur EU
zu stimmen.“
Es scheint, als sei die Frage eines möglichen Beitritts
der Türkei zur EU wie keine andere geeignet, die Ängste
der Menschen in unserem Land zu mobilisieren. Doch
geht es hier nicht etwa um die Ängste vor einem Kollaps
der EU durch Überdehnung. Es dreht sich immer wieder
um die eine große Angst: die Angst vor dem Islam.
Auch ich als Befürworter eines Beitritts der Türkei
zur EU muss einräumen, dass es nicht nur gute ArguZu Protokoll gegebene Reden
mente für einen Beitritt, sondern auch ernstzunehmende
Argumente gegen einen Beitritt gibt. Dass die Türkei ein
muslimisch geprägtes Land ist, ist allerdings in keiner
Weise ein ernsthaftes Argument gegen einen EU-Beitritt.
Die Europäische Union versteht sich ausdrücklich als
eine Gemeinschaft, die sich den säkularen Werten von
Demokratie, Menschenrechten, Pluralität und sozialer
Marktwirtschaft verpflichtet fühlt. Wir sind kein christlicher Klub. Und ich als gläubiger Christ sage ausdrücklich: Das ist auch gut so.
Wer sich allerdings anschaut, mit welcher Inbrunst
manche Vertreter von CDU und CSU sich gegen eine
mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei wenden, der
muss feststellen, dass diese Kräfte ebenfalls mehr von einer dumpfen Islamophobie getrieben sind als von einer
sachlichen Abwägung der Vor- und Nachteile eines
möglichen Beitritts der Türkei zur EU. Das mag vielleicht allzu menschlich sein, aber es zeugt nicht von politischer Reife.
Es ist wirklich erschreckend, dass die massive Ablehnung der Türkei von weiten Teilen der Konservativen in
unserem Land auf einer zutiefst vorurteilsbeladenen und
oft ganz und gar falschen Sicht auf die Türkei fußt, die
mit den heutigen Realitäten oft nichts mehr zu tun hat.
Wer sich auf eine rationale, nicht von Ängsten gesteuerte Abwägung der Argumente für einen Beitritt der Türkei einlässt, wird ihm durchaus einiges abgewinnen können.
Zuerst einmal sollte man sich in Erinnerung rufen,
dass die Türkei ja erst der EU beitreten kann, wenn sie
den gesamten Rechtsrahmen der EU in ihrer Gesellschaft umgesetzt hat. Die Türkei müsste in den Fragen
von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechten, Religionsfreiheit, Achtung von Eigentumsrechten, Minderheitenschutz, Justiz, Wirtschaftsverfassung und vielem
mehr so sein wie die anderen EU-Mitgliedstaaten, und
dies nicht nur auf dem Papier, sondern in der gesamtgesellschaftlichen Realität. Dass die Türkei heute diese
Standards noch nicht erfüllt, wird selbst von den enthusiastischsten Beitrittsbefürwortern nicht bestritten.
Und natürlich ist es in keiner Weise hinnehmbar, dass
unter dem Vorwand der sogenannten Ergenekon-Ermittlungen in den letzten Jahren immer mehr Journalisten in
der Türkei ohne Beweise inhaftiert worden sind. Die
jüngsten Verhaftungen der beiden verdienten Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener lassen vermuten, dass
der Fall Ergenekon von den jetzt in der Türkei Regierenden dazu genutzt wird, kritische Journalisten mundtot zu
machen. Dieser Angriff auf die Pressefreiheit stellt ganz
eindeutig einen Rückschritt auf dem Weg der Türkei in
die EU dar.
Doch jeder, der zu Recht die Verletzung von Minderheitenrechten, Pressefreiheit und anderen Bürgerrechten in der Türkei kritisiert, müsste doch eigentlich ein
großes Interesse an Fortschritten der Türkei im EU-Beitrittsprozess haben.
Und in der Tat kann man feststellen, dass seit 1999,
als der Europäische Rat von Helsinki der Türkei den
Status eines Beitrittskandidaten gab, die Türkei im Zuge
des Beitrittsprozesses auf den Gebieten von Rechtsstaatlichkeit bis Demokratisierung größere Fortschritte gemacht hat als in all den Jahrzehnten davor.
Die Türkei gilt als eine der dynamischsten Volkswirtschaften mit hervorragenden Entwicklungsprognosen.
Sie ist eine junge Gesellschaft mit vielen gut ausgebildeten Menschen. Aus wirtschaftlichen Gründen wandern
mittlerweile mehr Menschen von Deutschland in die
Türkei ein als umgekehrt. Das sollte uns zu denken geben. Aus all dem wird schnell klar: Die Türkei wäre eher
eine große Chance als eine Belastung für den EU-Binnenmarkt. Dies käme unserem Land als „Exportweltmeister“ sicherlich besonders zugute. Schon jetzt liegen
wir bei Importen und Exporten auf Platz eins als der
wichtigste Handelspartner der Türkei. Und trotzdem
gleicht der Versuch, ein Visum für Deutschland zu erhalten, für türkische Geschäftsleute eher einem Himmelfahrtskommando.
Für die politischen und wirtschaftlichen Eliten der
Türkei war seit der Staatsgründung der modernen,
„postosmanischen“ Türkei Europa immer das große
Ziel. Die neue Türkei sollte eine moderne Republik sein,
den Werten der Aufklärung und Moderne verpflichtet
und den Blick auf Europa gerichtet.
Vor fast einem halben Jahrhundert haben wir Europäer der Türkei mit dem 1963 geschlossenen Assoziierungsabkommen bereits ein klares Signal gegeben, welches lautete: Wenn ihr Türken es ernst meint mit dem
Weg nach Europa und euer Land entsprechend reformiert, dann steht euch die Tür nach Europa weit offen.
Allerdings muss die Türkei sich auch darauf verlassen können, dass man es mit diesem Versprechen auch
heute noch ernst meint. Doch aus innenpolitischen
Gründen sind es insbesondere Präsident Sarkozy und
Bundeskanzlerin Merkel, die alle Beschlüsse und Versprechen der EU hinsichtlich einer fairen Chance auf einen Beitritt gegenüber der Türkei unterlaufen. Während
der französische Präsident aus seiner Ablehnung des
Beitritts keinen Hehl macht, laviert - wie so oft - die
Bundeskanzlerin in dieser Frage herum. Angesichts der
derzeitigen Schwierigkeiten im Beitrittsprozess reicht
die demonstrative Passivität von Frau Merkel schon
aus, um klar zu machen, dass die derzeitige Bundesregierung nicht mehr an der Seite der Türkei steht.
Die Folgen sind verheerend: Gerade die Menschen,
die in der Türkei mutig für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten, fühlen sich von der jetzigen Bundesregierung im Stich gelassen. Für diese Menschen
war die Beitrittsperspektive immer die entscheidende
Unterstützung in ihrem Kampf für die Menschenrechte.
Doch auch immer mehr Teile der politischen und
wirtschaftlichen Eliten der Türkei wenden sich frustriert
von Europa ab. Jetzt, wo endlich die Reformen in Gang
kommen, die die Europäer als Bedingung für den Eintritt
gefordert haben, schlägt man ihnen die Türe vor der
Nase zu. Wer aber den politischen Eliten in der Türkei
die europäische Perspektive verweigert, zwingt diese geradezu dazu, sich neue Perspektiven zu suchen. Hier
Zu Protokoll gegebene Reden
bieten sich dann leider insbesondere der Nationalismus
und der Islamismus an. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Besonders scheinheilig ist es dann auch noch,
wenn sich die Konservativen in Europa, die der Türkei
seit Jahren die kalte Schulter zeigen, jetzt lauthals darüber beschweren, dass die Türkei sich vom Westen abwende.
Die Türkei spielt eine herausragende Rolle in der Region. Ihre geostrategische Lage ist von größter Bedeutung. Nahost-Konflikt, Schwarzmeer-Kooperation, Erschließung der Energiereserven im Kaspischen Raum,
Irak, Iran, Versöhnung des Orient mit dem Okzident
oder auch die Energiesicherheit - es gibt an der europäischen Peripherie kaum eine Frage von Belang, bei der
die Türkei nicht eine entscheidende Rolle spielt.
Wie sehr würde es gerade uns Deutschen, aber auch
der EU insgesamt zum Vorteil gereichen, wenn wir in all
diesen Fragen die Türkei als Freund und Partner an unserer Seite hätten. Vielleicht muss man es einmal so
deutlich sagen: Es scheint so, als haben all die konservativen Kräfte in Europa in ihrer teilweise schon obsessiven Anti-Türkei-Agitation völlig aus den Augen verloren, dass wir die Türkei am Ende möglicherweise mehr
brauchen als diese uns.
Niemand will der Türkei einen Rabatt im Beitrittsprozess einräumen. Niemand geht von einem Beitrittsautomatismus aus. Niemand bestreitet die immer noch
vorhandenen Defizite in puncto Rechtsstaatlichkeit,
Pressefreiheit und Minderheitenrechte in der Türkei.
Niemand behauptet, dass die Türkei schon morgen Mitglied der EU werden könnte. Niemand glaubt, dass ein
Beitritt der Türkei in die EU ein Kinderspiel sei. Niemand bestreitet, dass die EU selbst dringend weiterer
Reformen bedarf, um ihre eigene Aufnahmefähigkeit zu
stärken.
Doch gerade angesichts der dramatischen Ereignisse
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft rund um das
Mittelmeer brauchen wir jetzt eine EU, die sich nicht abkapselt und sich in Ängsten ergeht, sondern mit Mut und
Zuversicht ihrer Rolle als ein gutes Beispiel für politische Weitsicht und beherztes Eintreten für die Werte von
Demokratie und Menschenrechten gerecht wird.
Dem Beitrittsprozess mit der Türkei jetzt neue Impulse zu geben und somit zu dem Versprechen zu stehen,
das wir der Türkei 1963 gegeben haben, das wäre eine
wirklich weitsichtige Politik. Aber noch wichtiger wäre
dabei das Signal, welches wir den Menschen innerhalb
und außerhalb der EU geben würden: dass wir selbst
nämlich immer noch an die Kraft unserer eigenen europäischen Ideen glauben.
Heute überraschen uns die Grünen ausnahmsweise
einmal mit Regierungskritik im Gewand der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Dazu möchte ich Ihnen noch einmal die Koalitionsvereinbarung zwischen
Union und FDP in Erinnerung rufen. Dort heißt es:
„Deutschland hat ein besonderes Interesse an einer Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen zur Türkei und
an einer Anbindung des Landes an die Europäische
Union. Die 2005 mit dem Ziel des Beitritts aufgenommenen Verhandlungen sind ein Prozess mit offenem Ende,
der keinen Automatismus begründet und dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt.“
Die Kollegen und Kolleginnen von Bündnis 90/Die
Grünen sehen also, die Koalition hat das Thema auf der
Agenda. Und es ist eine Selbstverständlichkeit, bestehende Verträge und Vereinbarungen einzuhalten. Da
machen wir im Fall der Türkei keine Ausnahmen. Warum sollten wir auch?
Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass
der EU-Beitritt der Türkei grundsätzlich absolut unterstützenswert ist. Wenn die Türkei beitrittsfähig und die
Europäische Union aufnahmefähig ist, dann wäre eine
Vollmitgliedschaft die beste Form unserer Zusammenarbeit. Die Verhandlungen sind ergebnisoffen, und es gibt
keine Garantien; aber man muss auch klar sagen, was
man will. Ich tue das und wir tun das: Wir wollen, dass
diese früher oder später erfolgreich abgeschlossen werden.
Eine demokratische und rechtsstaatliche Türkei als
Mitglied der Europäischen Union brächte eine Reihe
von wichtigen Vorteilen: So wies die Türkei in den letzten Jahren ein wirklich beeindruckendes Wirtschaftswachstum auf. Das muss man sich nur einmal im G-20Verleich anschauen. Sie ist weiterhin mit einem Durchschnittsalter von 27,7 Jahren ein sehr junges Land. Für
eine alternde Europäische Union - denken Sie nur an
unsere mit durchschnittlich 44 Jahren fast doppelt so
alte Republik - wäre das ein Gewinn. Und die Türkei
kann eine Brücke in die islamische Welt sein, die zur
friedlichen Völkerverständigung beiträgt.
Zudem wäre ein Beitritt der Türkei eine echte Feuertaufe für die Europäische Union als Wertegemeinschaft.
Der Islam ist seit dem Mittelalter ein Teil Europas, wie
etwa der Blick auf Südspanien, den Balkan oder die islamischen Einflüsse am apulischen Hof des in der deutschen Nationalgeschichte ja nun nicht gerade unbedeutenden Kaisers Friedrich II. zeigt. Dies lässt sich nicht
wegdiskutieren. Vielmehr sollten wir diese Tatsache anerkennen und die Chance darin erkennen, gerade vor
dem Hintergrund der aktuellen politischen Geschehnisse in Nordafrika und insbesondere Libyen. Diese zeigen doch: Europa braucht eine demokratische Türkei.
Die Türkei kann eine Schlüsselrolle und Vorbildfunktion für andere islamische Staaten einnehmen. Die türkische Verfassungsreform des letzten Jahres bietet dafür
die besten Voraussetzungen und zeigt Schritte in die
richtige Richtung, die wir selbstverständlich weiterhin
unterstützen werden. Die Türkei kann sich darauf verlassen, dass wir sie auf ihrem Weg zu mehr Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit begleiten. Ich hoffe, es freut die
Kollegen und Kolleginnen von Bündnis 90/Die Grünen,
dass wir das auch ohne ihren Antrag tun. Immerhin behaupten Sie in Ihrem Antrag, die Bundesregierung habe
die Blockade der EU-Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei mit zu verantworten. Später in Ihrem Antrag
schreiben Sie dann bereits, wir selbst hätten eine Blockadehaltung. Ganz so sicher sind Sie sich dabei offenZu Protokoll gegebene Reden
Johannes Vogel ({0})
sichtlich nicht. Aber ich kann ihre Verwirrung auflösen,
weil es nämlich so oder so schlicht nicht stimmt. Sie wollen hier etwas herbeireden, was nicht da ist. Und das
wissen Sie im Grunde genommen auch selbst.
Mit Blick auf den EU-Beitritt der Türkei muss man jedoch feststellen, dass zurzeit weder die Türkei beitrittsfähig noch die Europäische Union aufnahmefähig ist.
Dabei hilft es der Türkei und auch uns überhaupt nicht,
ihren Reformbedarf, so wie Sie es tun, herunterzuspielen. Die Türkei hat zuletzt nicht die „atemberaubende
Entwicklung“ durchgemacht, wie Sie sie beschreiben.
Der Fortschrittsbericht der Europäischen Union spricht
diesbezüglich eine deutliche Sprache: Es gibt noch viel
zu tun, vor allem bei den Grund- und Minderheitenrechten, insbesondere von ethnischen und religiösen Minderheiten wie beispielsweise den Griechen, den Armeniern,
den Aramäern und den Aleviten, und dem Aufbruch der
Blockade in der Zypern-Frage.
Auch die aktuellen Geschehnisse im Zuge des ErgenekonVerfahrens sorgen zu Recht für erhebliches Aufsehen.
Hier sind kritische Fragen berechtigt, und wir alle müssen diese stellen - gerade als Freunde und Partner.
Gleichzeitig bietet genau dieser Prozess für die Türkei
aber auch die Chance, die Unabhängigkeit der Justiz
und die rechtsstaatlichen Standards der Türkei unter Beweis zu stellen. Wir müssen hier kritisch hinschauen und dann werden wir sehen.
Die Türkei wäre eine große Bereicherung für die Europäische Union. Dazu muss sie weitere Fortschritte
machen. Eine solche Entwicklung braucht seine Zeit.
Drängeln hilft da nicht weiter. Sie müssen sich aber jedenfalls keine Sorgen machen: Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind bei der Koalition in guten Händen.
Aus den dargelegten Gründen werden wir den Antrag
der Grünen ablehnen. Denn da wo Ihr Antrag richtig ist,
brauchen wir ihn nicht. Und dort, wo er falsch ist, brauchen wir ihn erst recht nicht.
Wir diskutieren heute den Antrag der Grünen „EUBeitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben“.
In der Tat ist es so, dass die Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei nach dem hoffnungsvollen Beginn 2004 erlahmt sind und gegenwärtig stagnieren. Diese Erlahmung hat im Wesentlichen zwei Gründe, auf die der Antrag der Grünen nicht oder nur unzureichend eingeht.
Erstens wachsen innerhalb der EU rassistische und
rechtspopulistische Stimmungen, die die Türkei als fremden Kulturraum betrachten, der mit Europa nichts zu
tun habe. So hat die österreichische FPÖ angekündigt,
eine europäische Bürgerinitiative gegen die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu starten. Die
Grundlage solcher Stimmungen sind nicht konkrete Demokratiedefizite oder Menschenrechtsverletzungen, die
es im Zuge der Beitrittsverhandlungen zu überwinden
gilt, sondern Ablehnungen gegenüber den Menschen aus
der Türkei an sich. Dagegen gilt es deutlich und entschieden Flagge zu zeigen.
Leider greifen auch konservative Parteien wie CDU
und CSU diese Stimmungen auf. Ein Ausdruck davon ist,
dass im Koalitionsvertrag der Bundesregierung die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nur noch als „ergebnisoffen“ bezeichnet wurden - ein Zugeständnis an den
rechten Flügel der CDU und insbesondere der CSU.
Und es mehren sich die Stimmen in der Bundesregierung, die die Beitrittsverhandlungen insgesamt ablehnen und nur noch von einer „privilegierten Partnerschaft“ sprechen. So etwas wird in der Türkei sehr
genau wahrgenommen und wirkt sich dort negativ auf
die demokratischen Reformprozesse aus. Dies konnte
ich bei der Delegationsreise des EU-Ausschusses in die
Türkei sehr deutlich feststellen. Mit solchen Signalen
wird nicht nur dem Beitrittsprozess zur EU ein Bärendienst erwiesen, sondern auch denjenigen in der Türkei,
die an einer demokratischen Weiterentwicklung interessiert sind.
Zweitens gibt es parallel zu dieser Entwicklung in der
EU auch besorgniserregende Entwicklungen in der Türkei selbst. Es ist überhaupt nicht hilfreich, die Lage der
Menschenrechte und der Demokratie in der Türkei
schönzureden und auf die „atemberaubende“ ökonomische Entwicklung zu verweisen, wie das der grüne Antrag leider tut. Ich möchte hier einige Beispiele aufführen, die ich höchst besorgniserregend finde.
Der grüne Antrag begrüßt eine angeblich offene Debatte in der Kurdenfrage. Leider bleibt es bei dieser Debatte. Die Verweigerung elementarer Rechte und die politische Repression gegenüber dem kurdischen
Bevölkerungsteil bleiben bestehen. So sitzen zahllose
Funktionäre und gewählte Vertreter der legalen kurdischen Partei für Frieden und Gerechtigkeit, BDP, darunter auch viele Bürgermeister, seit nunmehr zwei Jahren in Untersuchungshaft. Ihnen wird eine Verteidigung
in ihrer Muttersprache verweigert. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning,
spricht hier von einer „Verletzung fundamentaler
Rechte“. Darüber hinaus gibt es leider immer wieder
Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdischen Gebieten, wie es auch im EU-Fortschrittsbericht
zur Türkei konstatiert wird. Das alles sollte sehr deutlich benannt und kritisiert werden.
Im Falle der Meinungsfreiheit gibt es leider eine zunehmende Zahl an Inhaftierungen von Journalistinnen
und Journalisten sowie Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Die Fälle Dogan Akhanli und Pinar Selek sind
ja in den deutschen Medien breit kommuniziert worden.
In einem anderen Fall, Nevim Berktas, hat der EuGHM
die Türkei vor kurzem verurteilt. Aber es gibt sehr viel
mehr Journalistinnen und Journalisten sowie Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die inhaftiert sind. Die
türkische Journalistengewerkschaft sprach zuletzt von
55. Der Präsident der Europäischen Journalisten-Föderation sprach im Januar vor der Parlamentarischen Versammlung von 120 weiteren, deren Verhaftung er befürchtet. All das ist sehr besorgniserregend und muss
benannt werden.
Nach wie vor wird die größte religiöse Minderheit,
die alevitische Gemeinde, unterdrückt. Auch hier konZu Protokoll gegebene Reden
statiert der EU-Fortschrittsbericht zur Türkei keine
Fortschritte.
Die Gewerkschaftsrechte in der Türkei entsprechen
ebenfalls nicht demokratischen Standards. Laut EUFortschrittsbericht erfüllen sie nicht die Standards der
ILO und der EU.
Zentraler Streitpunkt und gegenwärtiger Hauptgrund
für die Blockade der Beitrittsverhandlungen ist aber die
Zypern-Frage. Hier weigert sich die Türkei, das Ankara-Protokoll zu ratifizieren. Dieses Protokoll, das den
Warenverkehr mit der Republik Zypern regelt, war ursprünglich eine Voraussetzung für die Beitrittsverhandlungen. Deswegen blockiert Zypern auch zu Recht die
Eröffnung weiterer Kapitel. Dies hat auch der Deutsche
Bundestag immer wieder deutlichgemacht, so etwa am
9. Mai 2007 im gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,
SPD, FDP und Grünen, in dem von der Türkei erwartet
wird, dass das Ankara-Protokoll „vollständig implementiert wird“.
Nun fordern die Grünen in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, gleichzeitig die Forderungen aus dem alten Antrag umzusetzen und sich gegenüber den anderen
Mitgliedstaaten und der Türkei dafür einzusetzen „die
Blockaden aufgrund mangelnder Umsetzung des Ankara-Protokolls zu lösen“. Das widerspricht sich nicht
nur, sondern stellt eine Kehrtwende um 180 Grad dar.
Konkret bedeutet das, jetzt Zypern unter Druck zu setzen, obwohl der Spielball hier eindeutig bei der Türkei
liegt. Ich finde das völlig kontraproduktiv.
Zusammenfassend möchte ich festhalten: Die Linke
ist für die Fortsetzung und Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Diese müssen entlang
klarer demokratischer und menschenrechtlicher Kriterien geführt werden, wie sie auch in den Kopenhagener
Kriterien festgelegt sind. Sowohl in der EU als auch in
der Türkei gibt es Kräfte, die die Beitrittsverhandlungen
beenden wollen. Es ist notwendig, diejenigen in der EU
und in der Türkei zu stärken, die sich für die Fortsetzung
der Beitrittsverhandlungen einsetzen, auch um demokratische und rechtsstaatliche Reformen zu befördern.
Die wünschenswerte Wiederbelebung des Beitrittsprozesses darf aber nicht auf dem Rücken der Republik Zypern erfolgen.
Im Antrag haben wir ausführlich und eindringlich
dargelegt, warum wir angesichts der eingetretenen Stagnation in den Beitrittsverhandlungen der EU mit der
Türkei und auch angesichts der dramatischen Entwicklungen in den Nachbarregionen der Europäischen
Union neue außen- und europapolitische Initiativen
brauchen.
Manche Entwicklungen in der türkischen Innenpolitik
und den verlangsamten Reformprozess in der Türkei
nehmen wir mit Sorge zur Kenntnis. Vor allem die aktuellen Festnahmen von renommierten Journalisten oder
Schikanen und juristische Verfolgung von Medienvertretern machen deutlich, wie dringend notwendig eine neue
Dynamik und die Intensivierung der vor zehn Jahren begonnenen Reformen in der Türkei sind. Die türkische
Justiz braucht eine Generalsanierung in Sachen Rechtsstaatlichkeit, um endlich Schluss zu machen, dass jeder
Verdächtige unmittelbar und quasi prophylaktisch in
Haft genommen werden kann und manchmal sogar Jahre
im Gefängnis verbringen muss, bevor seine Schuld rechtlich bewiesen ist. Bei solchen Fragen sind wir parteiisch parteiisch für Menschen- und Bürgerrechte und für umfassende und vorbehaltlose Pressefreiheit. Die EU muss
die Beitrittsverhandlungen ebenfalls im Namen dieser
fundamentalen Rechte der Menschen in der Türkei führen. Neben Fortschritten und der Entwicklung auf vielen
wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen
Feldern muss sie auch dazu beitragen, mit einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive die türkische Innen- und
Rechtspolitik demokratisch und rechtsstaatlich zu gestalten und zu stabilisieren.
Einige Regierungen der EU-Staaten, die aus innenpolitischen Gründen gegen den EU-Beitritt der Türkei waren und sind, haben es nun erreicht, dass die Beitrittsverhandlungen stagnieren. Vom bisherigen Rhythmus
einer Kapiteleröffnung pro Präsidentschaft wurde bereits abgewichen. Faktisch besteht die Gefahr, dass die
Verhandlungen ganz zum Stillstand kommen. Das wäre
ein Pyrrhussieg für Sarkozy und die Bundesregierung
von Frau Merkel. Bei Sarkozy weiß man ja, dass seine
Politik kaum europapolitische Ambitionen hegt. Sein
Tun und Lassen steht nur im Dienste einer auf seine Wiederwahl zugeschnittenen Innenpolitik. Sich kritiklos einer solchen Politik anzuschließen, ist ein Armutszeugnis. Mit der aktuellen Türkei-Politik bricht die schwarzgelbe Regierungskoalition mit der Politik der Bundesregierungen in den letzten Jahrzehnten bis 2009.
Die Koalition setzt zentrale strategische wirtschafts-,
außen- und sicherheitspolitische Interessen Deutschlands und der EU für innenpolitische Taktik aufs Spiel.
Die Wahrheit aber ist: Zentrale Pfeiler der bestehenden
wirtschaftlichen Integration gründen auf der Beitrittsperspektive und drohen bei deren Verlust zu zerfallen.
Eine „privilegierte Partnerschaft“, die vor allem von
Unionspolitikern immer wieder gerne - ausweichend
oder ablehnend - in den Mund genommen wird, wäre ein
Rückschritt gegenüber dem Status quo.
Selbstverständlich muss die Türkei die politischen
und wirtschaftlichen Kopenhagen-Kriterien erfüllen und
die daraus abzuleitenden Konsequenzen in Reformschritten umsetzen. Diese sind nicht verhandelbar. Von
einem Beitrittsautomatismus kann daher keine Rede
sein. Die türkische Regierung macht ja selbst deutlich,
dass vor einem Beitritt weitere grundlegende Staats- und
Rechtsreformen durchgeführt werden müssen.
Die Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern führen uns vor Augen, welchen Stellenwert eine demokratische Türkei für die Menschen in der Region hat
und welche stabilisierende Wirkung in der angrenzenden
krisengeschüttelten, im Umbruch befindlichen Region
von ihr ausgehen kann. Die weitere Vertiefung der demokratischen und rechtsstaatlichen Reformen in der
Türkei kann ein Beispiel dafür sein, wie unsere VorstelZu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
lungen von Rechtsstaat und Menschenrechten mit islamisch geprägten Gesellschaften kompatibel sind.
Die humanitäre Katastrophe in Japan und die verheerenden Folgen von Erdbeben und Tsunami haben uns
alle erschüttert. Die anschließende atomare Katastrophe sollte auch für uns in der EU und in der Türkei eine
Lehre sein, angesichts der energiepolitischen Pläne der
türkischen Regierung, mehrere AKW zu bauen, und angesichts der Tatsache, dass das gesamte Territorium des
Landes hochgradig erdbebengefährdet ist. Einem atompolitischen Irrweg der Türkei kann am besten durch eine
strategische und energiepolitische Einbindung der Türkei durch die EU begegnet werden - einer Türkei, die
sich wie übrigens fast alle EU-Länder hinter einem nationalen energiepolitischen Konzept versteckt.
Unbestritten würde eine Türkei in der EU enorm positive Wirkungen bei den Integrationsbemühungen von
Türkeistämmigen in der EU entfalten. Deshalb bitte ich
Sie um Unterstützung des Antrags, um die aktuellen Blockaden bei den Beitrittsverhandlungen aufzuheben, die
Glaubwürdigkeit der EU zu bewahren, den Reformkräften in der Türkei den Rücken zu stärken und so für mehr
Wohlstand, Stabilität und eine konsequente Einhaltung
der Menschenrechte zu sorgen.
Auch hier wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/5042 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. März 2011, 9 Uhr,
ein.
Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.