Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({0})
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle stehen unter dem Eindruck der
schrecklichen Ereignisse in Japan, nach denen es kein
einfaches Eintreten in die Tagesordnung geben kann.
Die Nachrichten über die Lage im Katastrophengebiet
halten die Welt in Atem, auch die Menschen in unserem
Land. Die geradezu apokalyptischen Bilder aus der betroffenen Region hätte sich fast niemand von uns auch
nur vorstellen können, und wir wissen nicht einmal, ob
das Schlimmste nun überstanden ist. Mit Bestürzung und
Anteilnahme verfolgen wir alle die Folgen der gewaltigen Naturkatastrophe, die Japan und den gesamten
pazifischen Raum ereilt hat. Das Ausmaß der immer
deutlicher werdenden Verheerungen erschüttert uns alle.
Die Auswirkungen auf die Menschen, auf die Umwelt,
aber auch auf die Weltwirtschaft sind noch unabsehbar.
Im Namen des Deutschen Bundestages habe ich bereits am vergangenen Freitag meinem japanischen Amtskollegen unser tiefes Mitgefühl übermittelt. Auch wenn
uns derzeit vor allem die atomare Bedrohungslage umtreibt, gedenken wir in diesem Augenblick insbesondere
der Opfer, die das heftige Erdbeben und die reißenden
Fluten des Tsunami gekostet haben, der Tausenden Toten
und ihrer Hinterbliebenen, der unzähligen Verletzten und
der Hunderttausenden, die ihr Hab und Gut - nicht wenige vielleicht auch in schierer Verzweiflung den Lebensmut - verloren haben und die nicht wissen, wie es
jetzt weitergehen soll. Ihrer wollen wir morgen auch in
der täglichen ökumenischen Besinnung im Andachtsraum des Bundestages in besonderer Weise gedenken.
Auf der Ehrentribüne hat der japanische Botschafter in Deutschland, Herr Dr. Takahiro Shinyo, Platz
genommen, den ich herzlich begrüße. Sehr geehrter Herr
Botschafter, unsere Gedanken sind beim japanischen
Volk, das sich in diesen Tagen mit bewundernswerter
Ruhe und beispielloser Disziplin den Auswirkungen der
Katastrophe entgegenstemmt. Wir denken in dieser
Stunde auch an unsere japanischen Mitbürgerinnen und
Mitbürger in Deutschland, die fern der Heimat vielfach
noch im Ungewissen über das Schicksal ihrer Verwandten und Freunde im Katastrophengebiet sind. Sie alle
können mit unserer Solidarität und unserer Unterstützung bei der Bewältigung der Katastrophe rechnen, bei
den Sofortmaßnahmen wie beim längerfristigen Wiederaufbau, schon gar in einem Jahr, in dem wir gemeinsam
an 150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern erinnern. Ich weiß, dass viele Menschen in Deutschland helfen wollen, und bin mir sicher,
dass der Spendenaufruf des Bundespräsidenten auf offene Ohren stößt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Japan
einmal mehr die unbändige Kraft von Naturgewalten erlebt. Sie haben eine unfassbare Spur der Verwüstung
hinterlassen. Wir erfahren aber auch die Risiken unserer
Zivilisation, einer hochindustrialisierten und -technisierten Welt. Die Angst vor der atomaren Katastrophe hinterlässt Spuren in der internationalen Staatengemeinschaft, auch in Deutschland.
Zivilisationsrisiken sind in anderer Weise als Naturereignisse kalkulierbar. Wir müssen aber immer wieder
neu fragen, ob und unter welchen Bedingungen wir sie
eingehen wollen. Die Sorgen vieler Menschen um ihre
Sicherheit nehmen wir sehr ernst. Dies erfordert, scheinbare Gewissheiten neu zu hinterfragen. Alle Aspekte, die
sich aus der Nutzung unterschiedlicher Energieressourcen ergeben, müssen erneut geprüft und neu bewertet
werden.
Ich wünsche mir und bin überzeugt, dass wir im Deutschen Bundestag die Kraft aufbringen, mit dem nötigen
Ernst und der angemessenen Sachlichkeit über die sich
neu stellenden Fragen der Energie- wie der Umweltpolitik zu sprechen. Dazu wird morgen früh Gelegenheit
sein.
Sie haben sich im Andenken und zur Würdigung der
Opfer von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Eidesleistung des Bundesministers des Innern
Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom
3. März 2011 mitgeteilt, dass er am selben Tage gemäß
Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister der Verteidigung, Herrn KarlTheodor Freiherr zu Guttenberg, und den Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Thomas de Maizière, aus ihren
Ämtern als Bundesminister entlassen und Herrn
Dr. Thomas de Maizière zum Bundesminister der Verteidigung und Herrn Dr. Hans-Peter Friedrich zum Bundesminister des Innern ernannt hat.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.
Herr Dr. Friedrich, ich darf Sie zur Eidesleistung zu
mir bitten.
({1})
Sehr geehrter Herr Bundesminister, ich möchte Sie
bitten, den im Grundgesetz vorgesehenen Eid zu leisten.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den in der Verfassung
vorgesehenen Eid geleistet. Ich darf Ihnen für die übernommene Aufgabe alles Gute, Erfolg und Gottes Segen
wünschen.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auch
dem neuen Bundesminister der Verteidigung, Herrn
Dr. Thomas de Maizière, im Namen des ganzen Hauses
für seine Aufgabe alles Gute und viel Erfolg wünschen.
({0})
Zugleich danke ich dem ausgeschiedenen Bundesminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg für seine
Tätigkeit in diesem Amt.
({1})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
Umbruch in der Arabischen Welt
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Dr. Guido
Westerwelle.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nordafrika und die arabische Welt erleben eine historische Zäsur. Die Freiheitsbewegung, die als JasminRevolution auf den Straßen Tunesiens begann, hat viele
andere Staaten erreicht. Als Demokraten stehen wir an
der Seite von Demokraten. Wir Deutschen haben das
Glück, eine friedliche Revolution im eigenen Land erlebt zu haben, die zur Einheit unseres Landes und zur
Vereinigung Europas geführt hat. Unser Land ist auf den
Werten der Freiheit gebaut. Es sind diese freiheitlichen
Werte, nach denen jetzt Millionen Menschen im nördlichen Afrika und in der arabischen Welt verlangen. Wir
werden diese Völker dabei als Bundesrepublik Deutschland unterstützen.
({0})
Die Sehnsucht nach Freiheit ist nicht begrenzt auf
eine Kultur, auf eine Region oder gar auf eine Religion.
Es ist ein Irrglaube, es gebe Kulturen, in denen der
Mensch auf Dauer unfrei sein müsse. Es gibt keine Kultur der Unfreiheit. Unfreiheit ist Ausdruck von Unkultur.
Eine weitere Erkenntnis können wir aus dieser Entwicklung gewinnen: Nicht eine autokratische Regierung
macht ein Land stabil, sondern eine stabile Gesellschaft
ist die Voraussetzung für die Stabilität eines Landes. Wir
wollen stabile Demokratien und demokratische Stabilität.
({1})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in Marokko hat König Mohammed VI. vor
wenigen Tagen eine Verfassungsreform eingeleitet, die
viele Forderungen aus der Gesellschaft aufgreift. Das
macht Mut, aber es werden die Taten zählen. Das Beispiel Marokko zeigt, wie eine Regierung den Weg zur
Öffnung und zur Demokratisierung der Gesellschaft einschlagen kann.
Mit großer Sorge blicken wir nach Jemen, wo ein von
breiten Schichten der Gesellschaft getragener Protest immer gewaltsamer niedergeschlagen wird. Bereits vor einem Jahr, bei meinem Besuch im Jemen, habe ich Präsident Salih eindringlich darauf hingewiesen, wie
notwendig der friedliche gesellschaftliche Ausgleich für
die Stabilität des Jemen ist. Heute müssen wir feststellen: Die Zeit wurde nicht genutzt, und die Lage im Jemen hat sich dramatisch verschlechtert.
Mit Sorge verfolgen wir auch die alarmierenden
Nachrichten aus Bahrain. Wir rufen alle Beteiligten im
Land selbst zum Dialog auf, und wir rufen die Länder in
der Region zur Zurückhaltung auf. Die Eskalation der
Gewalt muss ein Ende haben und einem ernsthaften Dialog, einem nationalen Dialog zwischen Regierung und
Opposition Platz machen. Eine Lösung muss im Land
selbst gefunden werden.
({2})
Im Iran geht die Führung in diesen Tagen erneut mit
äußerster Härte gegen die Opposition vor. Die iranische
Regierung will mit diesem Vorgehen Stärke demonstrieren, sie offenbart aber nur Schwäche.
({3})
Wir fordern die iranische Führung auf, die Unterdrückung der Opposition unverzüglich zu beenden und dem
iranischen Volk die ihm zustehenden Freiheitsrechte zu
gewähren.
({4})
Die Sehnsucht nach Freiheit und Teilhabe, nach
Würde und Gerechtigkeit wächst auch in vielen anderen
Ländern des Mittleren Ostens von Tag zu Tag und bricht
sich Bahn. Die Lage in der Region ist von Land zu Land
verschieden. Deshalb brauchen wir maßgeschneiderte
politische Antworten. Eines aber haben alle diese Aufbrüche gemeinsam: den unbedingten Willen zu Freiheit,
zu Teilhabe und zu neuen Chancen.
Ich danke den Frauen und Männern der Bundeswehr,
den Angehörigen des Auswärtigen Dienstes und den vielen Hilfsorganisationen für ihre Leistung bei der Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Libyen und für
ihren Beitrag, zahlreiche ägyptische Flüchtlinge wieder
in ihre Heimat zu ihren Familien zu bringen. Wenn alles
gut gegangen ist, denkt man, dass es einfach war. Aber
ich weiß, dass es alles andere als einfach war. Deswegen
möchte ich vor diesem Hohen Hause - ich hoffe, in Ihrer
aller Namen - diesen Dank ausdrücklich aussprechen.
({5})
In Libyen führt ein Diktator Krieg gegen das eigene
Volk. Im Angesicht dieses Verbrechens ist sich die internationale Staatengemeinschaft einig: Der Diktator muss
gehen. Mit seinen Taten stellt sich Oberst Gaddafi außerhalb der Völkergemeinschaft. Er hat jede Legitimation
verwirkt. An dieser frühzeitig eingenommenen eindeutigen und entschiedenen Haltung der Bundesregierung ändern auch vergiftete Freundlichkeiten des Diktators
nichts.
Wir haben mit unserer Forderung nach raschen Sanktionen breite Unterstützung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und in der Europäischen Union erhalten.
Die Auslandsvermögen der Herrscherfamilie wurden
eingefroren. Reiseverbote sind in Kraft. Wir sind uns im
Sicherheitsrat, in der Europäischen Union und auch unter den G-8-Staaten - das hat gestern das Treffen der Außenminister gezeigt - einig, dass der Diktator für diesen
Feldzug gegen sein eigenes Volk zur Verantwortung gezogen werden muss. Das wird Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs sein. Wir setzen uns in New York
dafür ein, den politischen Druck weiter zu erhöhen, bis
dieses Ziel erreicht ist. Wir werden im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen heute und in den kommenden Tagen
das weitere Vorgehen abstimmen. Die Bundesregierung
wirbt in New York nachdrücklich für noch umfassendere
Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Wir wollen die
Geldflüsse in das System Gaddafi, soweit irgend möglich, stoppen. Wir wollen dem Regime die Grundlage
seines Handelns und seines Krieges gegen das eigene
Volk entziehen.
Die Bilder und die Nachrichten von vorrückenden
Truppen Gaddafis, von blutiger Gewalt und von gefallenen Städten in Ostlibyen bedrücken uns. Aber die vermeintlich einfache Lösung einer Flugverbotszone wirft
mehr Fragen und Probleme auf, als sie zu lösen verspricht. Die Flugverbotszone - darüber kann auch das
Wort nicht hinwegtäuschen - ist eine militärische Intervention, bei der nicht einmal klar ist, dass sie in einem
Land wie Libyen wirkungsvoll sein kann. Ich darf darauf
aufmerksam machen, dass Libyen ein Land ist, das etwa
viermal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland.
Am Ende darf nicht genau das Gegenteil dessen stehen, was wir politisch erreichen wollen. Am Ende darf
unser Handeln nicht zu mehr Gewalt - statt zu mehr
Freiheit und zu Frieden - führen. Ein solches Ergebnis
würde die demokratischen Bewegungen in ganz Nordafrika schwächen und nicht stärken. Jeder Schritt muss
auch vor dem Hintergrund bewertet werden, welche Folgen er für die Staaten in Nordafrika hätte, die sich seit
der Jasmin-Revolution in Richtung Demokratie, in Richtung von mehr Freiheit auf den Weg gemacht haben.
Die Folgen eines Militäreinsatzes würden nicht nur
Libyen betreffen, sondern in die gesamte nordafrikanische Region und in die gesamte arabische Welt ausstrahlen. Wir verstehen, dass alle Möglichkeiten geprüft werden. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone aber ist
eine militärische Intervention. Niemand soll sich der
Illusion hingeben, es gehe lediglich um das Aufstellen
eines Verkehrsschildes. Um ein Flugverbot durchzusetzen, müsste zunächst die libysche Flugabwehr militärisch ausgeschaltet werden. Die Bundesregierung betrachtet deshalb ein militärisches Eingreifen in Form
einer Flugverbotszone mit großer Skepsis. Wir wollen
und dürfen nicht Kriegspartei in einem Bürgerkrieg in
Nordafrika werden. Wir wollen nicht auf eine schiefe
Ebene geraten, an deren Ende dann deutsche Soldaten
Teil eines Krieges in Libyen sind.
({6})
- Ich wünschte, meine Damen und Herren von der
Linksfraktion, Sie wären auch bei anderen Fragen so
entschieden, wenn es um Demokratie und Freiheit geht.
({7})
Aber was geschieht, wenn die Angriffe am Boden
weitergehen? Müssen wir Gaddafis Panzer dann aus der
Luft bekämpfen? Und wenn das nicht reicht, müssen wir
dann Bodentruppen schicken? Die Alternative ist nicht
Tatenlosigkeit, sondern sind gezielte Sanktionen, die den
Druck auf Gaddafi erhöhen. In den vergangenen Tagen
haben wir zudem erste Kontakte mit dem Nationalen
Übergangsrat geknüpft. Wir sehen in ihm einen wichtigen politischen Ansprechpartner.
Die Entscheidung über den richtigen Weg im Angesicht menschenverachtender Gewalt ist alles andere als
einfach. Als Mitglied des Sicherheitsrates trägt Deutschland in dieser schwierigen Lage besondere Verantwortung für die internationale Sicherheit. Wir respektieren
und begrüßen den Beschluss der Arabischen Liga vom
vergangenen Wochenende. Aber wir sehen die Verantwortung für das weitere Handeln der internationalen
Staatengemeinschaft zuerst bei den Staaten der Region.
Dies wird auch unsere Haltung bei den Beratungen in
New York bestimmen.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, eine stabile Demokratie entsteht nicht über Nacht.
Ein solcher Prozess kann Jahre, manchmal Jahrzehnte
dauern. Wir wollen die Länder Nordafrikas dabei unterstützen, eine feste, tragfähige Demokratie in einer starken Zivilgesellschaft zu verankern. Wir stehen in der
arabischen Welt vor einem Neubeginn voller Chancen.
Aber nicht nur die Völker der Region, sondern auch wir
brauchen einen langen Atem. Dieser arabische Frühling
ist eine historische Chance für Frieden und Wohlstand in
der gesamten Region mit positiven Folgen weltweit.
Deutschland und Europa stehen als Partner bereit, damit
der demokratische Aufbruch in Nordafrika und anderen
Teilen der arabischen Welt tatsächlich gelingen kann.
Der Umbruch in Tunesien und Ägypten ging von der
Mitte der Gesellschaft aus, und er wurde von ihr getragen. Wir haben größten Respekt vor dem Mut all jener,
die friedlich und ohne Waffen auf die Straße gegangen
sind, um sich den Herrschenden in ihren Ländern entgegenzustellen. In den Straßen von Tunis können die jungen Frauen und Männer vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben völlig frei reden. Sie haben vielleicht zum
ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, ihre eigene Zukunft in den Händen zu halten. Sie spüren, dass sie selber entscheiden können, wie sie leben wollen.
Was sich die Menschen in Tunesien wünschen, was
sie sich erträumen, ist unseren Wünschen und unseren
Träumen sehr nah. Die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, in Würde und Gerechtigkeit verbindet uns über das
Mittelmeer und über alle Grenzen hinweg. Gleichzeitig
erreichen uns die Bilder von Flüchtlingsbooten vor Lampedusa. Klar ist: Wir können nicht alle Menschen aus
Nordafrika in Europa aufnehmen. Wir wollen vielmehr
dabei helfen, dass die Menschen im eigenen Land eine
gute Zukunft für sich sehen. Jetzt zu handeln, jetzt vor
Ort zu helfen, ist die beste Politik, um Flüchtlingsströme
einzudämmen.
({8})
Der Aufbruch, dessen Zeuge wir sind, ist eine große
Chance für beide Seiten. Es ist die Chance auf ein neues,
produktives Miteinander der Länder nördlich und südlich des Mittelmeers. Er ist auch eine Chance für
Deutschland. Wenn diese Gesellschaften in neuer Freiheit ihre ganze Kreativität und ihre Talente entfalten,
können neue Mittelschichten in Nordafrika unsere kommenden Partner - auch Wirtschaftspartner - werden.
Umgekehrt können wir durch Investitionen und Handelsaustausch die wirtschaftlichen Chancen für die Menschen und gerade auch für die jungen Menschen dort
verbessern.
Es bleibt ein unvergessliches Erlebnis, das ich auf
dem Tahrir-Platz gewissermaßen stellvertretend für Sie
und für viele andere Staatsbürgerinnen und Staatsbürger
hatte, als auf dem Tahrir-Platz in Kairo Hunderte spontan zusammenkamen, weil sie erfuhren, dass eine deutsche Delegation dort ist, und sie riefen: Es lebe Ägypten,
es lebe Deutschland! - Das war Ausdruck des hohen Ansehens, das wir uns in Ägypten erworben haben. Es
zeigt, dass unsere Politik der Parteinahme für den demokratischen Aufbruch, ohne dabei die ägyptische Souveränität dieses stolzen Volkes infrage zu stellen, richtig
war. Es war aber auch Ausdruck der enormen Erwartungen gerade der ägyptischen Jugend an unser Land.
Wir haben Tunesien und Ägypten sehr früh eine
Transformationspartnerschaft angeboten, weil wir den
Aufbruch zu Demokratie von Beginn an nach besten
Kräften unterstützen wollten. Das jetzt beschlossene
Konzept der Europäischen Union für eine Partnerschaft
für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand trägt in
weiten Teilen die Handschrift der Bundesregierung.
({9})
Vier Punkte stehen dabei im Vordergrund.
Erstens. Die europäische Nachbarschaftspolitik muss
neu ausgerichtet werden. Ihre strategischen Ziele und
Grundsätze bleiben gültig. Aber mehr als bisher werden
wir die Unterstützung der Europäischen Union an klare
Erwartungen knüpfen. Am vergangenen Freitag hat der
Europäische Rat beschlossen, dass wir Leistungen an
unsere Mittelmeerpartner an sichtbare Fortschritte bei
Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, in Richtung unabhängiger Justiz und bei der Korruptionsbekämpfung
knüpfen werden. Gerade die Zeichnung internationaler
Menschenrechtsverpflichtungen, wie sie die tunesische
Regierung nach dem Sturz Ben Alis auf die TagesordBundesminister Dr. Guido Westerwelle
nung der ersten Kabinettsitzung setzte, dokumentiert
diesen Willen zum Neuanfang.
Zweitens stärken wir den Aufbau und Ausbau der Zivilgesellschaft. Träger des Aufbruchs sind neue politische und gesellschaftliche Kräfte, die noch am Anfang
stehen. Sie sind kaum organisiert, und sie brauchen unsere Unterstützung; ich denke etwa an die eindrucksvolle
Begegnung mit dem Vorsitzenden der tunesischen Menschenrechtsliga. Dafür wollen wir die etablierten Kontakte unserer Botschaften nutzen, aber auch die Netzwerke von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und
Parlamentariergruppen.
Eine besondere Rolle kommt den politischen Stiftungen zu, mit denen wir uns in Tunis wie in Kairo getroffen haben und von denen es in Europa kaum ihresgleichen gibt. Sie verfügen über ein enges Netzwerk an
Ansprechpartnern, von denen viele aktiv an den Freiheitsbewegungen beteiligt waren. Ihre langjährige Erfahrung wollen wir verstärkt nutzen und unseren neuen
Partnern anbieten.
Drittens fördern wir eine umfassende Demokratisierung. Die Regierungen in Tunis und Kairo sind Übergangsregierungen, die in Zeiten des Umbruchs entstanden sind. Heute stehen teilweise schon andere Personen
an ihrer Spitze als bei meinem Besuch vor wenigen Wochen. Ihnen fehlt noch die demokratische Legitimation.
Für den Umbau der Gesellschaft brauchen die Regierungen aber den Rückhalt der Mehrheit im Volk. Die Zeit
für die Organisation der freien politischen Willensbildung ist knapp, Erfahrungen darin noch knapper. Wir haben deshalb angeboten, bei allen Fragen der Vorbereitung und Durchführung freier und fairer Wahlen zu
helfen.
Viertens wird es für das Gelingen des Aufbruchs in
der arabischen Welt entscheidend sein, dass die Menschen die Früchte ihres Aufbegehrens auch im täglichen
Leben spüren. Arme und ausgegrenzte junge Frauen und
Männer haben ebenso wie die gut Ausgebildeten aus der
Mitte der Gesellschaft nicht allein für Freiheit, sondern
auch für ihre Lebenschancen demonstriert. Damit der
politische Aufbruch Erfolg hat, müssen politische Entwicklungen und wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt
Hand in Hand gehen. Wenn uns an ihrem Erfolg liegt,
dann müssen wir rasch und gezielt auch wirtschaftlich
helfen. Damit meine ich vor allem Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Tourismuswirtschaft spielt eine große Rolle, aber
wir müssen auch mehr Handel zulassen und unsere
Märkte in Europa öffnen. Auch über Agrarexporte, die
für diese Länder eine wichtige Rolle spielen, werden wir
in Brüssel sprechen müssen.
({10})
Zugleich wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass noch mehr als die beispielsweise 270 deutschen
Unternehmen allein in Tunesien, die dort investieren, in
der Region tätig werden. Die Rechtssicherheit in diesen
Ländern muss gestärkt werden, sonst können private Investitionen kaum in großem Umfang fließen. Unser Angebot ist ein Nord-Süd-Pakt, der umfassend und auf
Dauer angelegt ist.
Mittel- und langfristig entscheidet aber vor allem ein
Thema über die Zukunft dieser Länder und Gesellschaften: die Bildung. Sie ist das Kapital der Zukunft bei uns
- das wissen wir - genauso wie in Nordafrika. Die Bundesregierung wird den Deutschen Bundestag bitten, in
den kommenden zwei Jahren insgesamt 100 Millionen
Euro für Partnerschaften mit Nordafrika und dem Nahen
Osten bereitzustellen. Das Kabinett hat heute Morgen einen entsprechenden Beschluss gefasst. 40 Millionen
Euro davon wollen wir für ein Stipendienprogramm und
für Bildungspartnerschaften mit den Schulen und Hochschulen dieser Länder nutzen.
Die Vernetzung junger Menschen, der Transfer unseres Know-hows und unserer gesellschaftlichen Werte
und Maßstäbe sollen unseren Gesellschaften wechselseitig zugutekommen. Gemeinsam mit den Bundesministern Annette Schavan, Dirk Niebel und Rainer Brüderle
werden wir zusätzliche Angebote für die Bildung, insbesondere die berufliche Bildung, entwickeln - eine der
großen Stärken unseres deutschen Bildungssystems.
Wir müssen uns auch mit einer weiteren bedeutenden
Frage befassen: Welche Folgen hat der Umbruch in der
arabischen Welt für unseren Partner Israel? Die historischen Veränderungen in der Region dürfen nicht zu einem Weniger an Sicherheit für Israel führen. Darauf
wird Deutschland besonders achten. Wir setzen uns dafür ein, dass die Zukunft Israels in einer stabileren und
demokratischeren Nachbarschaft abgesichert werden
kann. Auch deshalb machen die Umbrüche in der gesamten Region eine Lösung des Nahostkonfliktes durch
eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung umso dringlicher.
Mut und Weitblick, nicht Zaudern und Zögern, sind jetzt
gefragt,
({11})
damit der Stillstand bei den Friedensgesprächen endlich
überwunden werden kann.
({12})
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, die Unterstützung des
Umbruchs in der arabischen Welt entspricht unseren
Werten wie unseren Interessen gleichermaßen. Dabei
dürfen wir nie vergessen, dass jedes Land selbst über
sein Schicksal zu entscheiden hat. Jeder Mensch schuldet jedem Menschen Respekt, und jedes Land schuldet
jedem Land Respekt. Jede Bevormundung verbietet sich.
Nur wenn die Reformen von den Gesellschaften Nordafrikas selbst getragen werden, werden sie von Dauer
sein.
({13})
Wir haben unsere Angebote gemacht: bei der Reform
politischer Institutionen, beim Umbau der Verwaltung,
bei der Verankerung und Stärkung von Meinungs-,
Presse- und Religionsfreiheit und beim Ausbau der Bil10818
dung. Es geht uns dabei um rasche, aber nicht allein um
kurzfristige Hilfe. Wir arbeiten für eine langfristig angelegte Partnerschaft, eine Partnerschaft auf Augenhöhe.
Niemand kann heute mit Sicherheit vorhersagen, wie es
in Nordafrika und der arabischen Welt weitergehen wird.
Es wäre vorschnell, anzunehmen, der Wandel wäre einfach oder die Freiheit hätte bereits gesiegt.
Die Demokratiebewegung muss sich vielerorts stabilisieren, muss teils auch erst richtig beginnen, sich zu organisieren. Noch sind die alten Kräfte vielerorts fest im
Sattel, noch verfügen sie über Geld und Einfluss. Die
nächsten sechs Monate werden für die politische Entwicklung entscheidend sein, aber das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.
Ich bin zuversichtlich, dass der Aufbruch am Ende erfolgreich sein wird. Der Impuls der Demokratiebewegungen kommt nicht von außen. Er kommt in jedem
Land aus der Mitte der Gesellschaft. Die Umbrüche sind
nicht vom Westen gestartet worden. Sie werden auch
nicht vom Westen gesteuert. Das ist allein die Propaganda derer, die vieles im Sinn haben, nur nicht die Freiheit ihrer Völker.
({14})
Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden, jede Gesellschaft ihren eigenen Weg gehen. Mit Rat und Tat
wollen wir helfen, aber auch mit Respekt und Anerkennung für den großen Mut der Menschen.
Die Völker der arabischen Welt nehmen in diesen
Monaten ihre Zukunft selbst in die Hand. Den Fahrplan
zur Freiheit bestimmen sie selbst, aber wir Deutsche, wir
Europäer stehen ihnen zur Seite.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, und ich
danke dafür, dass trotz der schrecklichen Bilder aus Japan, die wir sehen, und trotz der vielen Fragen, die uns
beschäftigen, sich so viele von Ihnen die Zeit genommen
haben, an dieser Debatte im Deutschen Bundestag über
die Entwicklung in Nordafrika teilzunehmen. Ich glaube,
allein schon das ist ein wichtiges Zeichen der Unterstützung an die gesamte Zivilgesellschaft in der arabischen
Welt und in Nordafrika.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Nach dieser Regierungserklärung eröffne ich jetzt die
Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Rolf
Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat ist es angesichts der schrecklichen Bilder aus Japan schwer, sich heute im Parlament auf andere Themen
zu konzentrieren. Wir müssen es tun, aber ich will an
dieser Stelle sagen, dass wir gestern als Deutsch-Japanische Parlamentariergruppe auf Einladung des japanischen Botschafters in der japanischen Botschaft waren,
um zu kondolieren und um noch einmal über die
deutsch-japanischen Beziehungen in der Zukunft zu
sprechen. Dabei ging es um Hilfsangebote und um die
Frage, was der Deutsche Bundestag tun kann, aber auch
um das, was wir vor einigen Wochen mit einem Antrag
zu 150 Jahren deutsch-japanischen Beziehungen im
Deutschen Bundestag beschlossen haben. Wir haben uns
auf die Aktivitäten und die Arbeit in den nächsten Wochen und Monaten gefreut.
Ich wäre froh, wenn angesichts der Bilder aus Japan
in der deutschen Debatte manchmal innegehalten würde,
wenn wir leichtfertig den Begriff der Katastrophe für das
eine oder andere bemühen, das uns in Deutschland möglicherweise belastet.
({0})
In der Tat ist das, was in der arabischen Welt, in Nordafrika und in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert, ein wichtiges Thema. Ich glaube, wir müssen eines
deutlich machen: Libyen ist nicht das Gesicht der Veränderung in Nordafrika oder in der arabischen Welt. Das
sind vielmehr die jungen Menschen, die mutigen Frauen;
es sind diejenigen, die auf dem Tahrir-Platz oder in Tunis demonstriert haben - einige haben ihr Leben gelassen oder sind verletzt worden - und Regime gestürzt haben. Das ist das Bild, und das muss auch unser Bild der
arabischen Welt insgesamt bleiben, weil das nach meinem Dafürhalten auch die Chancen deutlich macht.
Diese Menschen wollen in ihren Gesellschaften leben. Sie wollen nicht fliehen. Sie wollen etwas aufbauen, das es ihnen möglich macht, mit Europa in einer
wichtigen Region, in der Mittelmeerwelt, zusammenzuleben, die in der Zukunft Prosperität und Kultur zeigen
kann. Ich glaube, wir müssen den deutschen Bundesbürgern auch vermitteln, dass selbst angesichts der Bilder
aus Libyen in dieser Entwicklung mehr Chancen als Risiken liegen.
({1})
Auch wenn an dieser Stelle nicht oft darüber gesprochen wird, sind natürlich Fehler gemacht worden, auch
immer dann, wenn es um totalitäre Regime in unserer
Nachbarschaft ging. Dennoch möchte ich Sie fragen, ob
die scheinbar einfachen Antworten auf eine solche Frage
wirklich zutreffen. Denn was wäre passiert, wenn wir in
den 90er-Jahren nicht mit Gaddafi über den Verzicht auf
Atomwaffen verhandelt und wenn wir nicht versucht
hätten, das Gespräch über einen Verzicht zu suchen? Wir
wären heute in einer Situation, die die Bearbeitung dieser internationalen Krise noch erschweren würde! Deswegen darf man nicht einfach diese Alternativen so aufbauen.
Ich bekenne mich dazu, dass Fehler bei einzelnen
Dingen gemacht worden sind. Aber man darf das nicht
nur schwarz-weiß darstellen. Deswegen gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine einfachen Lösungen, um mit der
libyschen Krise umzugehen, was nach meinem Dafürhalten in erster Priorität zivil und friedlich geschehen
sollte.
Für mich zählt dazu, dass insbesondere die internationale Gemeinschaft geeint bleibt. Denn das ist eines der
wichtigsten Instrumente, um überhaupt Einfluss zu nehmen. Deswegen war es gut, dass es die Sicherheitsratsresolution 1970 gegeben hat.
Das ist oft schnell zur Seite geschoben worden. Plötzlich haben auch einige Länder gesagt: „Wir sind für
Sanktionen und sogar für das Instrument des Internationalen Strafgerichtshofes“, die das für sich selbst nicht
wollen. Sie begreifen diesen Internationalen Strafgerichtshof als Fortschritt des Völkerrechts. Deshalb wollen sie ihn als Instrument einsetzen. Das sind wichtige
Dinge, die nach meinem Dafürhalten in den letzten
Wochen und Monaten vorangekommen sind. Herr
Westerwelle, Sie haben auf die Sanktionen und auf andere Dinge hingewiesen.
Dennoch, Herr Bundesaußenminister: Die UN-Charta
beinhaltet auch das Instrument der Flugverbotszone.
Deswegen wäre es eine kluge Politik, wenn wir in der internationalen Gemeinschaft zusammenbleiben wollen,
deutlich zu machen, dass wir alle Instrumente der UNCharta wollen. Dann sollte man nicht schon im Vorgriff
sagen, dass all diese Instrumente möglicherweise nicht
wirken. Ich glaube, auch die Bundesregierung sollte
etwas offener vorgehen; denn das gehört genauso wie
damals zum Sanktionskatalog dazu, als die Resolution 1970 beschlossen worden ist.
({2})
Aber, Herr Außenminister, da gebe ich Ihnen recht:
Man muss auch abwägen. Wir haben Erfahrungen im
Irak, im Kosovo und an anderer Stelle gemacht. Wir machen auch die Erfahrung, dass es offensichtlich nicht nur
die libysche Luftwaffe ist, sondern im Gegenteil: Wahrscheinlich macht es das, was auf dem Boden passiert,
den Aufständischen so schwer, auch militärisch dem
Druck von Gaddafi zu widerstehen. Auch diese Fragen
müssen gestellt werden.
Aber dennoch: Innerhalb des Militärbündnisses müssen diese Optionen weiter auf dem Tisch bleiben, weiter
geprüft werden, und unter Umständen, wenn es noch einen Beschluss im Sicherheitsrat geben sollte, muss auch
hier erwogen werden, ob es notwendig ist, sie zu nutzen.
Herr Bundesaußenminister, ich habe einen großen
Teil Ihrer Versuche unterstützt, innerhalb der internationalen Gemeinschaft für Weltsicherheitsratsresolutionen
und für anderes mehr zu werben. Aber was ich von Ihnen in Bezug auf die innenpolitische Diskussion gehört
habe, hat, finde ich, dem Fass den Boden ausgeschlagen.
Sie haben in einem Interview im Morgenmagazin am
11. März 2011 gesagt:
Meine Aufgabe als Außenminister ist, dafür zu sorgen, dass wir als Deutsche nicht leichtfertig in einen Krieg hineingezogen werden, aus dem wir dann
viele Jahre nicht hinauskommen können.
({3})
Das ist in der Tat richtig; das unterstütze ich auch. Aber
unmittelbar danach sagten Sie folgenden Satz:
Insoweit habe ich auch eine andere Vorstellung von
Außenpolitik, als das vielleicht frühere Regierungen gehabt haben.
Diesen Vorwurf finde ich schändlich.
({4})
Es sind wir von Rot-Grün gewesen, die verhindert haben, dass wir als Deutsche im Irakkrieg mit interveniert
haben. Neben Ihnen sitzt eine Bundeskanzlerin, die nach
Washington geflogen ist und den damaligen Präsidenten
ermutigt hat, dort zu intervenieren.
({5})
Als Vertreter der SPD-Fraktion lasse ich es mir nicht bieten, dass Sie diese Verknüpfung herstellen. Das ist schäbig. Ich finde, das gehört zu einem Versuch, eine gemeinsame außenpolitische Position des Deutschen
Bundestages zu halten, nicht dazu.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deswegen
versuchen, diese innenpolitischen Debatten sein zu lassen. Ich habe das in den vergangenen Tagen versucht.
Aber wichtig ist, Sie daran zu erinnern, dass auch Sie als
Mitglied der Bundesregierung hierbei in der Pflicht sind.
({6})
Oft ist hier über die Arabische Liga gesprochen worden und darüber, dass sie uns auffordert, einer Flugverbotszone zuzustimmen. Heute Morgen haben wir darüber auch im Auswärtigen Ausschuss gesprochen. Es
bietet sich ein sehr spannendes Bild. Auf der einen Seite
fordert die Arabische Liga eine Flugverbotszone, auf der
anderen Seite sagt sie, die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten anderer Länder sei nicht erlaubt.
24 Stunden später schickt ein wichtiges Land dieser Arabischen Liga, nämlich Saudi-Arabien, Truppen nach
Bahrain und schafft damit möglicherweise eine zusätzliche Krisensituation. Dann erfahren wir, dass elf Außenminister bei der Sitzung der Arabischen Liga anwesend
waren und zwei oder drei gegen diese Flugverbotszone
gestimmt haben. Ich finde, zur Redlichkeit gegenüber
diesem Instrument gehört - auch in der Berichterstattung -,
über diese Entscheidungen hier zu informieren.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben zum Schluss
insbesondere über die Rolle der Europäischen Union gesprochen. Das haben auch wir in den vergangenen Wochen hier im Deutschen Bundestag getan. Ich unterstütze
Ihre Aufforderung, zum Beispiel an Deutschland und andere europäische Staaten, im Bereich der Bildung etc.
mehr zu tun. Das gilt aber genauso für die Agrarpolitik.
Bei dieser Aussage ist eben hier geklatscht worden. Darüber wird es nicht nur zum Schwur innerhalb der Europäischen Union kommen; es kommt auch zum Schwur
innerhalb des Kabinetts. Mich würde interessieren, wie
Sie möglicherweise die anderen Kabinettsmitglieder von
der Freizügigkeit überzeugen, die Sie an dieser Stelle
eingefordert haben.
({7})
Ich glaube, es kommt darauf an, dass wir auch in dieser schwierigen Situation eine Außenpolitik betreiben,
bei der die Parteien des Deutschen Bundestages zusammenbleiben. Ich biete Ihnen, Herr Bundesaußenminister,
und dem gesamten Kabinett das an. Ich bitte Sie deshalb,
von dem einen oder anderen Reflex, den Sie möglicherweise noch aus alten Zeiten übernommen haben, in Ihrer
Regierungstätigkeit abzusehen.
({8})
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gaddafi führt Krieg gegen das libysche Volk. Ich sage
bewusst nicht „gegen das eigene Volk“ oder „gegen sein
Volk“; denn die Menschen in Libyen kämpfen für ihre
Freiheit gegen einen Diktator, der schlimme Verbrechen
gegen die Menschlichkeit begeht. Die libysche Führung
muss abtreten und für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Staatengemeinschaft hat entschlossen gehandelt,
Gaddafi ist isoliert, die EU hat ebenso wie die USA
schnell Sanktionen gegen das libysche Regime verhängt.
Über weitere wird diskutiert. Der VN-Sicherheitsrat hat
im Februar mit der Zustimmung Russlands und Chinas
Strafmaßnahmen gegen die libysche Führung verhängt
und den Internationalen Strafgerichtshof mit Ermittlungen beauftragt. Deutschland hat zu dieser Entscheidung
im Sicherheitsrat maßgeblich ermutigt. Die CDU/CSUFraktion dankt der Bundesregierung für ihr Engagement
und ihre klare Haltung.
({0})
Aber ich sage auch: Das reicht nicht. Gestern hat
Gaddafi in einem Gespräch mit RTL gesagt, Deutschland habe im Unterschied zu vielen anderen westlichen
Ländern eine sehr gute Position eingenommen, weshalb
er sich vorstellen könne, dass Deutschland weiterhin Ölaufträge bekomme. Das zeigt nur, wie paranoid dieser
Mann ist und wie sicher er sich im Sattel fühlt. Es zeigt
vor allem, wie wichtig es ist, dass wir im Sicherheitsrat
weiter darauf drängen, alle verantwortbaren Maßnahmen
zu prüfen, damit der Gewalt in Libyen so schnell wie
möglich ein Ende gesetzt wird. Das sage ich nicht nur
angesichts der Bilder von reihenweise abgeschlachteten
Freiheitskämpfern. Der UNO-Sicherheitsrat muss weiter
beraten, wie die libysche Bevölkerung vor den Verbrechen des Gaddafi-Regimes geschützt werden kann. Dabei dürfen auch Waffenlieferungen an die Freiheitskämpfer nicht ausgeschlossen werden.
Wir brauchen eine weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Gaddafi und seinen Clan. Ich sage mit aller
Klarheit für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Es muss
alles getan werden, damit Gaddafi und auch seine Söhne,
die jetzt das Abschlachten der Freiheitskämpfer organisieren, so schnell wie möglich vor den Internationalen
Strafgerichtshof kommen.
Herr Mützenich hat es gerade schon angesprochen:
Die Arabische Liga hat die Vereinten Nationen am Wochenende aufgefordert, eine Flugverbotszone zu verhängen. Zugleich lehnte sie aber jede Form einer ausländischen Intervention in Libyen ab und betonte die
territoriale Integrität und Souveränität Libyens. Das ist
- der Herr Außenminister hat darauf hingewiesen - ein
Widerspruch in sich. Wenn man eine Flugverbotszone
zum Schutz der libyschen Bevölkerung wirklich durchsetzen will, muss man zunächst auf dem Boden die libysche Flugabwehr und andere Bodenstationen und Einrichtungen im Land ausschalten. Damit interveniert man
militärisch in Libyen.
Wenn die Arabische Liga eine Flugverbotszone also
wirklich will, dann muss sie dies auch ohne Einschränkung sagen; vor allem aber muss sie selbst zur Durchsetzung einer solchen Flugverbotszone bereit sein.
({1})
Das von der Arabischen Liga geforderte Mandat der Vereinten Nationen ist sicherlich zwingend die erste Voraussetzung; entscheidend ist jedoch, dass auch beim Schutz
der Zivilbevölkerung in Libyen die arabische Eigenverantwortung im Vordergrund steht. Jeder muss sich im
Klaren darüber sein, dass allein durch die Einrichtung einer Flugverbotszone das Morden des Gaddafi-Regimes
nicht beendet wird. Wer stoppt die Panzer, die Artillerie,
die gut ausgebildeten Söldnertruppen Gaddafis? Spätestens dann stellt sich die Frage nach einem Einsatz am
Boden. Saudi-Arabien entsendet Soldaten nach Bahrain,
um das bedrängte Königshaus zu verteidigen. Zum
Schutz einer Befreiungsbewegung in Libyen unternimmt
Riad bislang nichts. Wenn dies aber ausschließlich von
der NATO und der EU als Konsequenz aus der Erklärung der Arabischen Liga erwartet wird, muss ich sagen:
Eine solche Arbeitsteilung ist mit uns nicht zu machen.
({2})
Die Arabische Liga muss, wenn sie eine Flugverbotszone fordert, nicht nur politisch, sondern auch militärisch Verantwortung bei der Durchsetzung und den
möglichen weiteren Konsequenzen übernehmen. Insbesondere Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten
Arabischen Emirate sind hier gefordert; denn sie verfügen über die notwendigen militärischen Fähigkeiten,
einschließlich einer modernen Luftwaffe. Die Arabische
Liga spricht sich in ihrem Gründungsakt für die Einheit
der arabischen Nation aus. Warum sind die arabischen
Staaten, die das koloniale Erbe überwunden haben, bisher nicht bereit, dem bedrohten libyschen Brudervolk zu
Hilfe zu kommen? Das wäre eine arabische und nicht erneut eine von außen geführte Intervention.
Wir lassen die Freiheitsbewegung nicht im Stich.
Aber wie sollen, solange die Staaten der Arabischen
Liga nicht bereit sind, militärisch zu handeln, die NATO
oder die EU militärisch unterstützend tätig werden können? Es geht um politische und militärische Unterstützung; aber der Transformationsprozess - Herr Außenminister, darauf haben Sie zu Recht hingewiesen - muss
von der libyschen Freiheitsbewegung gestaltet werden.
In Ägypten und Tunesien geht es jetzt darum, in kurzer Zeit die institutionellen und verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen zu schaffen, um freie und faire Wahlen
durchführen zu können. Der Zeitpunkt dieser Wahlen
sollte so gewählt werden, dass wirkliche Chancengleichheit gewährleistet ist. Bei dem notwendigen Aufbau von
Parteistrukturen und Jugendorganisationen können die
deutschen politischen Stiftungen eine maßgebliche Rolle
spielen.
Extreme Islamisten spielen bei den Umbrüchen in
Nordafrika bisher keine Rolle. Viele Träger des Wandels
in Ägypten und Tunesien sind neue politische und gesellschaftliche Kräfte. In Ägypten haben die Muslimbrüder ihr Oppositionsmonopol verloren. Frauen haben bei
den Protesten - auch das wurde schon gesagt - eine
maßgebliche Rolle gespielt. Mit diesen Kräften muss der
Dialog verstärkt werden mit dem Ziel, eine gleichberechtigte Bürgergesellschaft aufzubauen. Dieser Prozess
muss inklusiv sein und auch die moderaten islamischen
Kräfte einbeziehen. Gerade die Muslimbrüder müssen in
die politische Mitverantwortung für den demokratischen
Wandel genommen werden. Von zentraler Bedeutung ist
für unsere Fraktion, dass der politische und gesellschaftliche Wandel nicht zulasten religiöser Minderheiten
geht. Das gilt gerade für die christliche Glaubensgemeinschaft der Kopten in Ägypten.
Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich die führende
Rolle, die die Bundesregierung in den vergangenen Wochen bei der Unterstützung dieses historischen Wandels
in der arabischen Welt gespielt hat. Die von Deutschland
mit Erfolg angestoßene Transformationspartnerschaft
mit Tunesien und Ägypten sollte als Vorbild für die Zusammenarbeit mit weiteren Staaten dienen, auch mit
denen, die noch nicht in erheblichem Ausmaß von der
Protestwelle und dem demokratischen Transformationsprozess erfasst worden sind.
Es ist konsequent, dass die Europäische Nachbarschaftspolitik auf den Prüfstand gestellt wird. Auch hier
hat die Bundesregierung eine führende Rolle übernommen. Unsere Unterstützungsmaßnahmen müssen viel
deutlicher als bisher an gute Regierungsführung sowie
an politische und rechtsstaatliche Reformen gebunden
werden.
Zuallererst müssen wir jetzt kurzfristige Angebote
machen, die in der kritischen Phase des Übergangs spürbare Wirkung für die Menschen zeigen und die deren
wirtschaftliche Lage unmittelbar verbessern. Dazu gehört aber auch - das wurde hier ebenfalls bereits gesagt -,
dass wir unsere Märkte für Produkte aus der Region öffnen - darin besteht Einigkeit, Herr Mützenich - und berufliche Bildung und Ausbildung in Deutschland ermöglichen. Gerade die Bildungszusammenarbeit, die
Öffnung für die Bildungszusammenarbeit ist eine ganz
entscheidende Voraussetzung für Zukunftschancen und
für Lebenschancen der jungen Bevölkerung in Nordafrika.
Wir brauchen mutige Entscheidungen; denn wir haben die historische Chance, unser Verhältnis zur arabischen Welt neu zu gestalten und auf eine gemeinsame
Wertegrundlage zu stellen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Gehrcke von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine SPD-Kollegen haben mir zugerufen, ich solle den Außenminister nicht allzu sehr
loben. Ich glaube, das hofft er auch. Ich werde mir Mühe
geben, ihn nicht allzu sehr zu loben. Es steht genügend
zwischen uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, wir sollten uns einen Moment darauf besinnen, die Bilder, die
wir alle erleben, vielleicht auch im Inneren ein Stück
weit zu verarbeiten und darüber nachzudenken, unsere
Gefühle und möglichst auch unseren Verstand zu sortieren.
Für mich ist das ein furchtbares Wechselbad von Gefühlen: die Riesenbegeisterung, die ich gehabt habe
angesichts der Bilder vom Tahrir-Platz - ich war kurz
vorher in Ägypten -, von dem Freiheitswillen, dem Ruf
nach Freiheit, der von dort ausgegangen ist, dem Engagement für Freiheit, und dann die entsetzlichen Bilder
aus Libyen, die ich wahrnehme, wo man versucht, den
Freiheitswillen mit Militär zusammenzuschießen. Es ist
außerdem ein Wechselbad der Gefühle, wenn ich die Bilder aus Japan auch nur ein Stück weit wirklich an mich
herankommen lasse. Ich glaube, wir müssen uns zugestehen, dass wir in einer Zeitenwende, in einer wirklichen Zeitenwende leben. Wir erleben einen tiefen Bruch
von Zivilisation und müssen neue Antworten darauf geben. Die alten Reden, die Phrasen der Vergangenheit
tragen nicht mehr in die Zukunft. Ich finde, das ist ein
Signal, das vom Bundestag ausgehen müsste.
({0})
Ich teile die Auffassung, dass der Umbruch in Ägypten nicht ein Werk des Westens war. Die Leute haben ge10822
sagt: Vom Westen wollen wir überhaupt nichts wissen. Da habe ich eine ganz andere Wahrnehmung. Ich glaube
auch nicht, dass Deutschland in erheblichem Maße an
diesem Umbruch im positiven Sinne beteiligt war, sondern eigentlich eher im negativen Sinne. Wir haben all
die Regime mit zu verantworten gehabt. Wir haben sie
gestützt, gestärkt, ihnen die Hand gehalten, und wir haben mit ihnen paktiert. Auch das gehört zur Wahrheit
dazu.
Deswegen sollte die erste Botschaft des Bundestages
sein, dass wir uns mit großem Respekt an die Menschen
wenden, die ihr Leben und ihre Gesundheit eingesetzt
haben, um Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu erreichen: in Ägypten, in Tunesien und auch in
Libyen. Diesen Respekt sollten wir in diesem Hause aussprechen und sagen: Es war nicht unser Umbruch. Es
war nicht unsere Revolution. Es war euer Umbruch. Es
war eure Revolution. Dafür sind wir euch dankbar. Davon erwarten wir uns auch etwas für uns und für die Gestaltung hier in unserem Lande.
({1})
Meine zweite Bitte ist, dass wir viel dafür tun, dass
der Freiheitsimpuls aus den nordafrikanischen und arabischen Ländern durch die Unterdrückung der Freiheit
durch Gaddafi oder Bahrain nicht verloren geht. Er muss
im Vordergrund bleiben.
Da manche noch mit dem Bild herumrennen, Gaddafi
habe angeblich einmal etwas mit einer antiimperialistischen Bewegung zu tun gehabt, möchte ich Folgendes
sagen: Gaddafi ist nicht links, Gaddafi ist nicht Freiheit,
sondern Gaddafi ist das Gegenteil von links und von
Freiheit. Eine solche Politik darf man - und das gilt auch
für eine ganze Reihe anderer Länder - nicht unterstützen, egal wo in der Welt man Verantwortung trägt.
({2})
- Ach komm, hör auf!
Ich möchte aber gerade in diesem Zusammenhang die
Frage stellen: Wie kann man überhaupt helfen? Welche
Möglichkeiten haben wir außer Krieg und dem Einsatz
von Militär, wenn man diese nicht als Hilfsmittel ansieht, sondern eher als das Gegenteil davon? Ich denke,
dass man, auch in Libyen, nach wie vor auf die Vermittlung zwischen den Bürgerkriegsparteien setzen muss.
Das klingt nicht leicht; aber es wäre eine Aufgabe für
Deutschland, das auch im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen durchzusetzen. Vermitteln ist in einer solchen Situation besser, als die Menschen weiter aufeinander schießen zu lassen. Wer die Menschen wirklich
retten will, muss sich für eine Vermittlung einsetzen.
({3})
Ich bin strikt dafür, dass handelspolitische Maßnahmen ergriffen werden. Wenn wir für Öl kein Geld mehr
bezahlen und die Öllieferungen ausgesetzt werden, wird
uns das zwar in Probleme bringen. Es wäre aber ein
wirksames Mittel in der Auseinandersetzung mit dem
Gaddafi-Regime. Es ist interessant, dass über diese
Frage kaum nachgedacht wird.
Ich bin ganz entschieden dafür, dass das Verbot von
Waffenexporten nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft für die gesamte Region, also den Nahen Osten und
Nordafrika, durchgesetzt wird. Es darf keine Waffenlieferungen mehr geben. Denn - diese Frage ist doch berechtigt - was passiert später mit den Waffen?
Ich sage ehrlich: Ich möchte, dass Deutschland als
Nation und als Mitglied der Europäischen Union vorangeht, was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht.
({4})
Wir können den Menschen doch nicht auf die Schulter
klopfen und sagen: Ihr habt gut für Demokratie gekämpft, aber bleibt, wo ihr seid. - Wenn wir den Menschen, die für Demokratie gekämpft haben und kämpfen,
Respekt entgegenbringen, muss unser Land sich für die
Flüchtlinge öffnen und in dieser Hinsicht ein Vorbild
sein. Dazu gehört, dass man FRONTEX aufkündigt.
Dazu hat der Außenminister hier nichts gesagt - wohl
aus guten Gründen.
({5})
Wenn man das tut, ist das schon eine ganze Menge.
Ich füge hinzu, dass ich militärische Maßnahmen für
völlig ungeeignet halte. Ich habe die Bilder vom Irakkrieg noch gut in Erinnerung, ebenso die Rede von
Condoleezza Rice, die nach dem Irakkrieg glaubte, im
Irak einen neuen Nahen Osten erkennen zu können. Das
Ergebnis des Irakkrieges kennen wir alle. Deswegen
warne ich davor, allzu leicht über Krieg und Militär zu
reden und möglicherweise irgendwo hineinzurutschen,
wo man vielleicht nicht wieder herauskommt. Ich sage
kategorisch: Kein Krieg für Öl! Keine militärische Unterstützung, weder der einen noch der anderen Seite!
Ich gestehe der Bundesregierung zu, Herr Außenminister, dass sie sich in dieser Frage mit Bedacht bewegt hat. Das heißt nicht, dass jeder Schritt in Ordnung
war. Wie wollen Sie denn mit dem französischen Präsidenten umgehen, der mit seiner Luftwaffe Ziele in
Libyen bombardieren will? Frankreich ist doch, zusammen mit Großbritannien, einer unserer engsten Partner in
der Europäischen Union. Was heißt es, sich in der NATO
an Planungen zu beteiligen bis hin zu einem operativen
Plan, wie heute noch einmal bestätigt worden ist? Wer
plant, befindet sich schon mit einem halben Fuß in der
Ausführung. Es darf weder Planung noch Teilhabe an
den Planungen geben!
Bitte lassen Sie uns unserer Bevölkerung sehr deutlich sagen: Wer Flugverbotszonen einrichtet, Kollege
Mützenich, oder sich diesbezüglich offen zeigt, muss bereit sein, sie auch durchzusetzen, das heißt, Flugzeuge
abzuschießen und die Luftabwehr auszuschalten. Dann
befindet man sich im Krieg und kommt so leicht nicht
wieder heraus. Auch das ist eine Erfahrung aus internationalen Auseinandersetzungen. Das wollen wir nicht.
Für uns ist völlig klar: Kein Krieg für Öl! Keine militäriWolfgang Gehrcke
sche Unterstützung, weder für Gaddafi noch gegen ihn!
Das ist kein Mittel.
({6})
Ich schlage vor, dass wir auch über ein paar andere
Dinge nachdenken, bei denen wir uns unserer eigenen
Rolle vielleicht nicht ganz sicher sind. Ich fand den Einwand, dass man auch mit Schurken in Staatsämtern verhandeln muss, richtig; das war immer auch meine Position.
({7})
Aber Verhandeln ist etwas anderes als Paktieren. Unser
Land hat mit solchen Schurken in Staatsämtern paktiert,
zum Beispiel mit Mubarak, den wir finanziert und im
Amt gehalten haben. Unser Land hat mit Gaddafi paktiert, und zwar einzig und allein aus dem Grunde, dass er
die Flüchtlinge in Libyen hält und diese nicht nach
Europa lässt. Das Paktieren mit Schurken gilt auch in
Bezug auf Ben Ali. Das darf sich nicht wiederholen. Das
ist aber doch das Bild, das sich ergibt. Die Schlussfolgerung müsste sein: Verhandeln ja, aber nicht paktieren.
Ich möchte gern, dass hier klar wird: Wir stellen die
Waffenexporte ein. Deutschland hat an Saudi-Arabien,
an Libyen, an die Vereinigten Arabischen Emirate Waffen in großem Umfang geliefert und dafür Geld kassiert.
Auch das muss hier einmal ausgesprochen werden: Ein
Teil der Waffen, mit denen jetzt in Bahrain gegen die
Demonstranten vorgegangen wird, stammt aus Deutschland bzw. ist von Deutschland geliefert worden. Wollen
wir das etwa fortsetzen? Ich finde, darauf gibt es nur
eine einzige Antwort: Sofort beenden!
({8})
Es kann doch nicht dabei bleiben, dass wir mit unserer Politik dazu beitragen, dass sich die Preise von Nahrungsmitteln so erhöhen, dass sich Menschen in vielen
Teilen der Welt sie nicht mehr leisten können. Die Politik muss sich nicht nur im Nahen Osten, in den arabischen Ländern ändern. Auch wir müssen die Grundlagen
unserer Politik ändern. Damit zeigen wir, dass wir etwas
von dem begriffen haben, was uns die Menschen auf
dem Tahrir-Platz vorgemacht haben.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Rainer
Stinner das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen: Es zeigt
sich, dass das, was in Tunesien anfing - vor einigen Wochen haben wir uns ja noch gefragt, ob das weitergeht -,
mittlerweile Realität geworden ist. Allerdings bitte ich
Sie alle sehr, zu beachten, dass die Situation in jedem
Land völlig anders ist.
Es mag Sie angesichts der dramatischen Ereignisse in
Libyen verwundern, dass ich mir die größten Sorgen um
die Ereignisse in Bahrain mache; denn die Weiterungen,
die sich aus der neuen Situation in Bahrain ergeben, sind
völlig unübersehbar und können sehr viel dramatischer
sein als das, was in Libyen noch herauskommen kann.
In Bahrain erleben wir erstens, dass erstmals Staaten
des Golf Cooperation Council in einen befreundeten
Nachbarstaat einmarschieren. Es handelt sich um Truppen und Polizeikräfte aus Saudi-Arabien und Katar. Wir
erleben zweitens, dass es um den Nukleus eines Konfliktes zwischen Sunniten und Schiiten geht, der zwar latent
immer vorhanden war, aber nun aufzubrechen droht. Wir
erleben drittens, dass Saudi-Arabien auch innenpolitisch
einbezogen wird, weil eine schiitische Enklave in SaudiArabien nicht weit von der Grenze zu Bahrain entfernt
ist. Wir erleben viertens - das wäre eine ganz große Gefahr -, dass sich der Iran in irgendeiner Weise als Vertreter der schiitischen Interessen einmischt. Daher mache
ich mir größte Sorgen darüber, wie sich die Situation
weiterentwickelt. Das müssen wir genau beobachten.
({0})
Wir erleben also wirklich einen Umbruch in der arabischen Welt von dramatischem Ausmaß.
Was Ägypten und Tunesien angeht, so kann ich das
wiederholen, was ich vorletzte Woche gesagt habe: Wir
sehen einen Weg, wir sehen Perspektiven. In Ägypten
sind mittlerweile 23 Parteien zugelassen und in Tunesien, so glaube ich, sogar 37 Parteien. Der beschrittene
Weg gibt Anlass zur Hoffnung. Mehr will ich dazu nicht
sagen.
Kommen wir nun zu Libyen. Es ist ohne jeden Zweifel richtig, dass der Herrscher Gaddafi sein brutales militärisches Regime nutzt, um seine Bevölkerung in einem
veritablen Bürgerkrieg zu massakrieren. Die Frage ist:
Wie gehen wir damit um? Es ist wohlfeil, zu sagen: Da
könnt ihr doch nicht zuschauen. - Diese Reaktion ist
zwar ein erster menschlicher Impuls und daher völlig
verständlich. Aber ich unterstütze voll und ganz Außenminister Westerwelle, wenn er davor warnt, dass Wort
„Flugverbotszone“ als verharmlosendes Instrument in
den Mund zu nehmen. Das Durchsetzen einer Flugverbotszone bedeutet militärische Operationen und den ersten Schritt in Richtung eines wohl auszuweitenden militärischen Engagements. In diesem Fall kann die
Verwicklung in einen Bürgerkrieg in Libyen mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit die Folge sein. Ich kann
nur sagen: Ich bin froh darüber, dass sich die Bundesregierung hier sehr zurückhaltend verhält.
({1})
Jetzt ist natürlich völlig klar: Wenn es dazu kommen
sollte, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die
Einrichtung einer Flugverbotszone beschließt, dann
muss sich Deutschland Gedanken darüber machen, wer
denn dort eventuell eingreifen könnte. Ich stehe da unter
dem Eindruck des Besuchs einer Konferenz in Oman am
letzten Wochenende, wo wir öfter folgenden Dreiklang
gehört haben: Erstens. Der Westen versteht uns nicht, hat
keine Ahnung und hat in der ganzen Großregion - in
Afghanistan, aber auch im Nahen Osten - vieles falsch
gemacht. Zweitens. Jetzt muss dringend etwas gemacht
werden in Libyen. Drittens. Das können nicht wir; das
müsst ihr machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kommt bei mir
nicht gut an. Deshalb sage ich unseren Freunden in der
Arabischen Liga sehr deutlich: Jetzt ist die arabische
Welt zunächst einmal selbst gefordert.
({2})
Ich weiß nicht, wie die Entscheidung der internationalen Gemeinschaft ausfallen wird. Wenn aber die UN Entsprechendes beschließen, müssen auch wir neu nachdenken. Es wird allerdings unter keinen Umständen die
Zustimmung von mir und meiner Fraktion finden, dass
der Westen wieder einmal allein als Problemlöser auftritt
und sich andere einen schlanken Fuß machen, um uns
später dafür zu verdammen, dass wir etwas falsch gemacht haben. Das geht nicht mehr.
({3})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ganz kurz auf
den Vorwurf der Opposition eingehen, die Regierung
hätte den rettenden Einsatz in Libyen rechtlich nicht
richtig gehandhabt. Wir von der FDP-Fraktion haben
diesbezüglich die weißeste Weste, die es auf Erden geben kann.
({4})
Erstens hat unsere Fraktion das AWACS-Urteil erstritten.
Zweitens haben wir zu Zeiten der rot-grünen Koalition ein Bundestagsbeteiligungsgesetz vorgelegt, das Sie
leider abgelehnt haben. Hätten wir heute das Gesetz, das
wir damals vorgeschlagen haben, wäre das Beteiligungsrecht des Parlaments deutlicher definiert und wir wären
besser dran. Es war Ihr Fehler, unter dem Sie heute leiden.
({5})
Wir haben uns die Entscheidung nicht einfach gemacht. Wir haben sorgfältig geprüft, und nach Abwägung aller Aspekte kommen wir zu dem eindeutigen
Schluss - mich beeindruckt insbesondere eine Seite des
AWACS-Urteils -, dass das Vorgehen der Bundesregierung in diesem Fall völlig richtig war und eine Mandatierung nicht notwendig ist.
Dennoch, lieber Herr Mützenich, ist es natürlich im
Interesse der Bundesregierung und der sie tragenden
Parteien, die Opposition möglichst umfassend in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Das ist im Vorhinein durch die Information der Fraktionsvorsitzenden
und im Nachhinein durch die Information der Obleute
geschehen. Herr Mützenich, die Bundesregierung hat ein
großes Interesse daran, bei kritischen Einsätzen, die dem
deutschen Interesse dienen - in diesem Fall wurde der
Einsatz zum Glück gut ausgeführt -, weiter kooperativ
zusammenzuarbeiten. Es ist in unserem Interesse,
Herr Kollege.
- dass wir mit den Oppositionsparteien eng zusammenarbeiten, auch wenn die rechtliche Situation uns
nicht dazu zwingt.
({0})
Das dient unserem Interesse, und das dient vor allem
dem Interesse der betroffenen Menschen.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege, ich wollte Sie gar nicht stoppen, sondern Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen
wollen. Das ist aber jetzt nicht mehr möglich, denn die
Redezeit ist leider überschritten.
Ich gebe dem Kollegen Frithjof Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind Zeugen eines historischen Umbruchs. Millionen Menschen in der arabischen Welt stehen auf gegen
Unterdrückung und stehen auf gegen ihre korrupten
Herrscher. Diese Menschen kämpfen unter Einsatz ihres
Lebens für Freiheit und Demokratie. Ihnen gehört unsere
Hochachtung und Solidarität.
({0})
Diese demokratische Revolution kam, glaube ich, für
uns alle überraschend. Deutschland und die Europäische
Union haben in dieser Region Politik nach den Prinzipien „Für Stabilität sorgen“ und „Kampf gegen den islamistischen Terrorismus“ gemacht. Deshalb hat der Westen einseitig auf enge Bündnisse mit autoritären
Regimen gesetzt. Demokratische Bewegungen wurden
nicht ausreichend unterstützt.
Ehrlicherweise müssen wir deshalb Selbstkritik üben.
Das betrifft alle Regierungen der letzten zehn Jahre.
({1})
Herr Außenminister, diese Selbstkritik hätte ich heute
auch von Ihnen erwartet.
({2})
Ich finde es schade, dass Sie nicht die Kraft aufgebracht
haben, sich das für Ihr Regierungshandeln einzugestehen.
Auch ein selbstkritisches Wort von der Frau Bundeskanzlerin wäre durchaus angebracht. Die Fehlkonstruktion der Union für das Mittelmeer geht maßgeblich auf
das Konto von Präsident Sarkozy und das von Frau
Merkel. Sie haben sich damals dafür feiern lassen. Das
hat alle bisherigen Fehler der europäischen Politik in
Nordafrika verschärft. Das fand damals bereits Kritik;
diese aber haben Sie ignoriert.
({3})
Auch die Reaktionen der Europäischen Union, aber
auch der Bundesregierung auf den Umbruch waren zu
Beginn von Zaudern und Zögern geprägt. Herr Außenminister, auch Sie haben lange gebraucht, um sich eindeutig auf die Seite der Demokratiebewegung in Tunesien und Ägypten zu stellen. Ich meine, zu lange.
({4})
In diesen Ländern ist es gelungen, Machthaber zum
Rücktritt zu zwingen, die bis vor kurzem noch als unantastbar galten. Dieser Erfolg hat in diesen Ländern zwar
auch vielen Menschen das Leben gekostet, aber Armee
und Teile der Sicherheitskräfte haben sich dort auf die
Seite der Demonstranten gestellt und so ein schlimmeres
Blutbad verhindert.
In anderen Ländern sieht das gerade leider nicht so
aus. In Libyen, wo Gaddafi mit großer Brutalität gegen
die eigene Bevölkerung vorgeht, spitzt sich die Lage zu,
aber auch in Bahrain. Mit dem Einmarsch von etwa
1 000 saudi-arabischen Soldaten hat der Golfkooperationsrat dort eine neue, sehr gefährliche Stufe der Eskalation eingeleitet.
({5})
Auch im Jemen sucht die Regierung die Konfrontation.
Das schreckliche Beispiel von Oberst Gaddafi strahlt bereits aus. Wenn wir die Bilder aus Libyen sehen, fühlen
wir wohl alle Wut und Entsetzen.
Ja, es ist klar: Gaddafi muss weg. Und es ist gut, dass
sich die internationale Gemeinschaft darin einig ist. Es
war ein wichtiger Schritt, den Internationalen Strafgerichtshof einzuschalten. Ebenso wichtig war es, Sanktionen zu verabschieden. All diese Schritte waren gut, aber
nicht ausreichend. Mir ist es völlig unverständlich, dass
es noch immer nicht gelungen ist, Gaddafi den Geldhahn
zuzudrehen.
({6})
Noch immer gibt es keinen Bann gegen Ölfirmen, die libysches Öl kaufen oder verkaufen. Es gibt nicht einmal
eine Liste.
({7})
Noch immer fließt Ölgeld nach Libyen und füllt
Gaddafis Kriegskasse. Das ist skandalös, und damit
muss Schluss sein.
Auch bei der Stärkung der libyschen Opposition ist
nicht genug getan worden. Sie, Herr Außenminister, haben Vertreter der Opposition hier in Berlin noch nicht
einmal empfangen. Das verstehe ich nicht. Oder haben
Sie sonst etwas getan, um die Opposition in Libyen zu
stärken? Ich sehe da nichts.
Es zerreißt einen innerlich, wenn man Gaddafis Vormarsch sieht. Er hat gut ausgebildete Truppen mit neuen
Waffen, die in den letzten Jahren geliefert wurden: aus
Frankreich, aus Italien, aus Großbritannien. Auch
Deutschland hat seit der Aufhebung des Waffenembargos 2004 Rüstungsgüter im Wert von über 112 Millionen
Euro an Libyen geliefert, darunter auch Hubschrauber.
Das war unverantwortlich.
({8})
Wir alle haben schlimme Befürchtungen, was in
Libyen passiert, sollte Gaddafi weitere Städte der Opposition einnehmen. Über Sanktionen hinaus wird ja auch
die Einrichtung einer Flugverbotszone diskutiert, um
Gaddafi zu stoppen. Ich halte eine solche Prüfung für
richtig, wenn die Arabische Liga dies fordert. Es ist richtig, alle Optionen der UN-Charta zu prüfen, die helfen
könnten, die Menschen im Osten Libyens vor Gaddafis
möglicher Rache zu schützen.
({9})
Der Einsatz von Militär ist aber die Ultima Ratio und
setzt für uns zwingend ein UN-Mandat voraus. Darüber
hinaus teile ich in diesem Punkt die Skepsis der Bundesregierung hinsichtlich der militärischen Durchsetzbarkeit und der Wirkung eines Flugverbotes am Boden. Wir
dürfen aus dem verständlichen Wunsch nach schneller
Hilfe nicht Dinge tun, die militärisch nicht funktionieren
und kontraproduktiv sind. Auch das muss gesagt werden.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die
demokratischen Kräfte in der Region stärken. Selbst in
Tunesien und Ägypten ist die weitere Entwicklung noch
offen. Es gibt immer noch starke Kräfte, die weitreichende Veränderungen verhindern wollen. Die Uhren
dürfen hier nicht zurückgedreht werden. Diese Völker
brauchen Unterstützung, und sie wollen Unterstützung.
Dass aus diesen Ländern erfolgreiche Demokratien werden, liegt nicht zuletzt auch im strategischen Interesse
der Europäischen Union. Da geht es um Hilfe beim Aufbau von Parteien und Gewerkschaften und um Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure; zentral ist die Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft; da geht es
um eine Ausweitung der Entwicklungszusammenarbeit,
erweiterten Handelszugang, Hochschulkooperationen
und vieles mehr.
Es ist schon gesagt worden: Es geht um nicht weniger
als eine Neugestaltung der europäischen Nachbarschaftspolitik. Europa muss aber auch grundsätzliche
Lehren aus der arabischen Revolution ziehen: Nie wieder und nirgendwo dürfen Demokratie und Stabilität so
gegeneinander ausgespielt werden, wie wir es in Nordafrika gemacht haben.
({11})
Die Absage an autoritäre Herrschaft und der Glaube an
die Kraft der demokratischen Bewegung müssen zum
Leitmotiv europäischer Außenpolitik werden, und zwar
nicht nur im arabischen Raum.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({12})
Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 17. Dezember vergangenen Jahres hat sich
der tunesische Gemüsehändler Bouazizi vor lauter Verzweiflung selbst verbrannt, nachdem er seinen Gemüsestand verloren hat und von den Gerichten gedemütigt
worden ist. Der Funke des Protestes, der sich daran anschloss und darin kulminierte, dass das Regime von Ben
Ali gestürzt wurde, sprang nach Ägypten und auf die
ganze Region über. Erst seitdem beschäftigen wir uns
- das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu - im
notwendigen Maße und in angemessener Weise mit diesem Thema.
Ich begrüße zunächst einmal, dass unser Außenminister in den vergangenen Monaten nachhaltige Akzente
gesetzt und deutlich gemacht hat, dass sich die Bundesregierung dieses Themas mehr annimmt, als es vorher
der Fall war, und vor allem eine neue Aufgabenteilung in
der Europäischen Union gefordert hat. Man muss selbstkritisch sagen: Themen, die die arabische Welt und den
Mittelmeerraum insgesamt angingen, sind in der Europäischen Union viel zu lang früheren Kolonialmächten
überlassen worden, die zum Teil aus nicht nachvollziehbaren Gründen politische Forderungen erheben, welche
nach unseren Maßstäben nicht umsetzbar sind und deren
Umsetzung aus unserer Sicht auch nicht erstrebenswert
ist.
Vor diesem Hintergrund ist es dringend notwendig,
dass sich die nördlicheren Länder in der Europäischen
Union mehr einbringen; das hat der Außenminister gemacht. Ich möchte deshalb, Herr Minister, Ihre beiden
erfolgreichen Reisen ansprechen: zum einen die Reise
nach Tunis am 12. Februar und zum anderen die Reise
nach Kairo am 23./24. Februar, von der Sie selbst berichtet haben. Beide Reisen waren ein Beitrag dazu, den Demonstranten und den neu aufkommenden politischen
Kräften eine politische Perspektive zu bieten. Diesen
Weg sollten wir weitergehen. Deshalb haben Sie, Herr
Minister, unsere volle Unterstützung auf dem Weg des
Dialogs.
({0})
Vielfach habe ich allerdings den Eindruck, dass es zu
Begriffsverschiebungen gekommen ist. Wenn für Freiheit demonstriert wird, dann müssen wir immer auch kritisch fragen: Für welche Freiheit wird dort demonstriert?
Wer steckt dahinter? Welche Interessen verbinden sich
unter Umständen damit? Ich habe gerade gehört - Rainer
Stinner hat es gesagt -, dass in Ägypten 23 Parteien politisch aktiv werden wollen. Sicherlich sind einige darunter, die unter Freiheit nicht universelle Freiheit verstehen
und auch nicht für universelle Menschenrechte eintreten,
sondern zum Beispiel die Rolle der Frau einschränken
wollen. Wir lesen in den Berichten von „Freiheit“ und
der „Befreiung des Volkes“. Dazu sage ich deutlich: Einer der wichtigsten Punkte unserer wertegebundenen
Politik im Hinblick auf diese Region ist die universelle
Durchsetzung aller Menschenrechte und auch aller Freiheitsrechte; dazu gehört auch die Freiheit der Frau.
Wir müssen Radikalismus entgegentreten. Deshalb
müssen wir die politische Dimension des Wandels viel
stärker auf unsere Tagesordnung heben, als es in der Vergangenheit der Fall war, und in der Europäischen Union
viel geschlossener agieren, als dies in den vergangenen
zwei Wochen geschah.
({1})
Ich glaube nicht, dass Gaddafi und seine Schergen von
dem Vorgehen der Europäischen Union in den letzten
Wochen beeindruckt sind.
Ich glaube auch nicht, dass wir uns auf Dauer eine öffentliche Diskussion über das Für und Wider von Optionen leisten können. Ich glaube vielmehr, dass wir eigene
Akzente setzen müssen. Ich denke, dass wir auf die Forderung der Arabischen Liga nach Einrichtung einer
Flugverbotszone - Andreas Schockenhoff hat das zu
Recht gesagt; ich stimme dem zu - reagieren müssen.
Wir müssen dafür werben, dass sich die Mitglieder der
Arabischen Liga in die Pflicht nehmen lassen.
({2})
Dann wird sich auch Deutschland seiner Verantwortung
nicht entziehen können und auch nicht entziehen wollen.
In der Debatte ist schon mehrfach zu Recht gesagt worden, dass ein solches Flugverbot von der Afrikanischen
Union, von der UNO und der Arabischen Liga mitgetragen und letztendlich auch gemeinsam durchgesetzt werden muss.
All dies sind allerdings im weitesten Sinne Nachhutgefechte; denn leider ist es so - das ist unser Kenntnisstand am heutigen Tag -, dass sich die Situation der Freiheitskämpfer in Libyen verschlechtert hat. Über
Maßnahmen, über die wir noch vor einer Woche diskutiert haben, müssen wir heute eventuell gar nicht mehr
streiten, weil sie unter Umständen wirkungslos geworden sind. Ich bedauere es sehr, dass eine Chance verpasst
worden ist, durch ein entschlosseneres, einheitlicheres
Auftreten der Europäischen Union mehr zu erreichen.
Angesichts dessen, was sich zurzeit in Libyen vollzieht, müssen wir uns sehr große Sorgen machen. Die
Mittelmeerregion gehört zu unserer Nachbarschaft. Wir
müssen dafür werben, dass es dort jetzt nicht zu einer
Abrechnung mit der Opposition kommt, dass jetzt kein
weiteres Blutvergießen stattfindet. Im Einvernehmen mit
den Vereinten Nationen sollten wir alle politischen und
weiteren Möglichkeiten dahin gehend prüfen, wie weiteres Blutvergießen verhindert werden kann.
({3})
Diese ganze Region ist für uns wichtig. Deutschland
und Europa haben nicht nur, aber auch wirtschaftliche
Interessen. Wir müssen das auch selbstkritisch sagen;
dieses Thema ist vorhin schon angesprochen worden.
Firmen, die sich in der Vergangenheit in dieser Region
betätigt haben, fordere ich ausdrücklich auf, bei einem
zukünftigen Engagement darauf zu achten, dass dadurch
nicht nur die Herrscherfamilie an wirtschaftlichem
Wohlstand gewinnt, sondern auch in die Ausbildung der
jungen Menschen investiert wird, sodass diese eine Zukunftsperspektive erhalten.
({4})
In den vergangenen Wochen haben wir von eindrücklichen Beispielen gehört. Man kann zwar sagen, dass die
Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und
Ägypten gut sind und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Tunesien ausgebaut wurden,
man kann sogar sagen, dass die Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Deutschland und Libyen im vergangenen Jahrzehnt massiv ausgebaut wurden, aber das gilt nur auf
dem Papier. Ich habe nämlich zunehmend den Eindruck,
dass den normalen Bürgern in diesen Ländern, auch weil
wir Fehler gemacht haben, dadurch kaum eine Perspektive eröffnet und auch keine Teilhabe am Wohlstand ermöglicht wurde. Ich fordere die deutsche Wirtschaft deshalb dazu auf, bei ihrem weiteren Engagement darauf zu
achten, dass sie mehr ausbildet und damit auch den jungen Menschen - das ist gerade vor dem Hintergrund der
demografischen Entwicklung in diesen Ländern wichtig eine bessere Perspektive bietet und damit auch Zuversicht für die Zukunft mit auf den Weg gibt.
Die Situation in Bahrain, Saudi-Arabien und im
Jemen ist je unterschiedlich. Jeder Fall birgt aber große
Risiken für uns und tangiert unsere Interessen, auch unsere vitalen wirtschaftlichen Interessen, und darf uns
deshalb politisch nicht ruhen lassen. Es hat sich herausgestellt, dass im Jemen in der Vergangenheit viele Aktivitäten geplant worden sind, die im Zusammenhang mit
dem internationalen Terrorismus zu sehen sind. Sollte es
dort zu einer weiteren Verschlechterung der politischen
Situation kommen, wird das nicht spurlos an uns vorbeigehen.
Wir stehen vor einem wirklichen Neubeginn, vor
einer Neuausrichtung unserer Nordafrikapolitik, aber
auch unserer Politik bezüglich des gesamten arabischen
Raums. Wir bewegen uns dabei in dem klassischen
Spannungsfeld von wertegebundener Außenpolitik und
interessengeleiteter Außenpolitik. Selbstkritisch müssen
wir sagen, dass wir in der Vergangenheit bei den Kooperationen, die wir mit einzelnen Regimeführern eingegangen sind, vielleicht ein Stück weit zu viel Realpolitik betrieben haben und den Bedürfnissen der Menschen in
den einzelnen Ländern vielleicht nicht immer gerecht
geworden sind.
Herzlichen Dank.
({5})
Günter Gloser hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem arabischen Frühling beweisen die
Völker des Nahen Ostens eindrucksvoll ihr Streben nach
Freiheit, Gerechtigkeit, aber auch nach sozialem Fortschritt. Ja, was vielleicht ungewöhnlich ist, was wir nie
so recht geglaubt haben, sie kämpfen auch für die universellen Menschenrechte.
Nicht überall haben Revolutionen stattgefunden. Ich
möchte die Diskussion wieder ein wenig darauf fokussieren, wie es in Tunesien und Ägypten weitergeht. Was
geschieht in Libyen? Aber daneben gibt es noch andere
Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Saudi Arabien,
Bahrain und Jemen wurden hier bereits angesprochen.
Ich möchte auch den Maghreb nicht vergessen. In den
letzten Tagen hat sich gezeigt, dass möglicherweise auch
durch andere Art und Weise ein Umbruch geschehen
kann. So hat der marokkanische König Mohammed VI.
massive Reformen angekündigt. Einen Umbruch stellen
wir uns eigentlich nicht so vor, dass der König diese Reformen einleitet. Aber wenn es dazu kommt, dass er in
der Tat - das wäre auch eine Revolution - endlich mehr
Macht an die Regierung, aber auch an das Parlament abgibt, dass man in Marokko darüber diskutiert, Politik zu
regionalisieren, also eine Balance zwischen der zentralen Ebene und der föderalen Ebene ähnlich wie bei uns
herzustellen, dann finde ich das einen guten Weg.
Aber die erst vor kurzem zu Ende gegangene Reise
der deutsch-maghrebinischen Parlamentariergruppe
nach Algerien, Marokko und Mauretanien zeigte ja, dass
es in anderen Ländern eben nicht so funktioniert. Die
Verknüpfung zwischen Politik und Militär ist so eng,
dass das politische Denken oft durch militärische Kategorien bestimmt wird, wie es zum Beispiel in Algerien,
aber auch in Mauretanien der Fall ist.
Nachdem all diese Entwicklungen von uns gemeinsam so festgestellt worden sind, kommt es jetzt auf die
Entschlossenheit der Europäischen Union an und darauf,
ob es gelingt, diese Chancen des Aufbruchs zu nutzen,
oder ob es am Schluss wieder enttäuschte Hoffnungen
vieler Menschen gibt, die ja - beginnend mit dem
17. Dezember in Tunesien und noch weit darüber
hinaus - doch sehr mutig waren. Der Kollege Mißfelder
hat es bereits gesagt. Ich finde, zu dieser Enttäuschung
sollte es nicht kommen.
Wir haben vorhin völlig zu Recht die Rolle der Arabischen Liga angeführt - damit komme ich jetzt auf das
Thema Libyen und die Europäische Union zu sprechen und darauf hingewiesen, dass die Position der Arabischen Liga teilweise unklar und unbestimmt geblieben
ist, dass sie sehr lange gebraucht hat, um zu einer Entscheidung zu kommen, und es natürlich auch widersprüchliche Aussagen gegeben hat. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sah es denn mit der Europäischen
Union aus? An dieser Stelle korrigiere ich mich immer
und sage: Ich meine nicht die Europäische Union, sondern ausdrücklich die Mitgliedstaaten. - Hier gab es
Fehleinschätzungen, Zögerlichkeiten, Spaltung, Handlungsunfähigkeit!
Herr Außenminister, die Sozialdemokratie hat an dieser Stelle schon bei den ersten Debatten vor einigen Wochen gesagt: Was passiert da eigentlich vor unserer
Haustür, eine, zwei, drei Flugstunden von uns entfernt?
Und die Europäische Union macht Business as usual.
Wir haben damals schon gefordert, dass sich der Europäische Rat in einer Sondersitzung damit befassen muss.
Dies ist erst jetzt am 11. März geschehen.
Ich sage ganz bewusst - ich kenne ja das Verhältnis
von Exekutive zu Legislative -: Es gab kein nationales
Parlament, es gab kein Europaparlament, es gab keinen
Parlamentsvorbehalt, es gab auch kein Gerichtsurteil,
das die Mitgliedstaaten der Europäischen Union daran
gehindert hätte, schleunigst zu handeln. Ich weiß von
den Diskussionen auf der letzten Sitzung des Außenministerrats - Kollege Staatsminister Hoyer hatte damals
auch über die Initiativen der deutschen Bundesregierung
berichtet; das haben wir damals auch ausdrücklich gewürdigt und unterstützt - und frage: Welches Bild geben
diese Mitgliedstaaten ab?
Die Leute können nicht mehr verstehen, dass man
sich mit der Krümmung der Gurken und anderen Dingen
relativ schnell und zeitnah beschäftigt, die Mitgliedstaaten aber hinsichtlich dieser vor unserer Haustür stattfindenden Revolution uneinig sind.
Ich sage an dieser Stelle Folgendes ganz klar, obwohl
ich jemand bin, der sowohl aufgrund früherer Funktionen als auch jetzt weiterhin zu den deutsch-französischen Beziehungen steht: Es ist ein Armutszeugnis. Ich
sage dies nicht, um jemanden aus der Regierung gegen
andere Partner auszuspielen. Es kann doch einfach nicht
angehen, dass die französische Seite, ohne sich abzustimmen, Dinge fordert, von denen man weiß, dass sie
nicht realisiert werden können, beispielsweise was Libyen angeht. Ich hätte mehr erwartet als immer nur die
feierlichen Gipfel zwischen diesen beiden Ländern. Wir
müssen diese Chance nutzen. Ich sage an dieser Stelle
ganz offen - auch an meine französischen Freunde -:
Die Franzosen haben in den letzten Wochen in dieser
Region sehr viel Renommee verloren, obwohl sie eigentlich immer mehr oder weniger ein - in Anführungszeichen - Hausrecht hatten. Das ist vorbei.
Das wäre doch jetzt für uns eine Chance. Wir könnten
zeigen, wie wir das jetzt wieder zusammenbringen. Wir
müssen Deutschland und Frankreich als einen Motor sehen. Diese beiden Länder verfolgen gemeinsame Projekte; schließlich heißt es immer, man solle gemeinsam
vorgehen und nicht außerhalb der Europäischen Union.
Ich befürchte aber, dass Frankreich durch sein Vorpreschen in den letzten Wochen zu viel Kredit verspielt hat.
Das tut auch der Europäischen Union nicht gut, weil die
Europäische Union - das zeigen auch die Besuche und
Gespräche dort - letztendlich ein sehr eigenartiges Bild
abgibt.
Andererseits muss ich sagen, dass dies eine Chance
für uns ist, die Sie, Herr Außenminister, mit Ihrem Brief
an Lady Ashton deutlich gemacht haben. Deutschland
kann in der Tat in dieser Region eine wichtige Aufgabe
übernehmen. Aber - vielleicht werden wir hier in der
nächsten Woche wieder über Libyen diskutieren - das
Fenster ist nur noch einen Spalt breit geöffnet. Herr Außenminister, ich verstehe - wir alle haben das heute in
der Diskussion freimütig geäußert -, wie schwer das
Einrichten einer Flugverbotszone ist. Sie werden aber in
den Zeitungen zitiert, man wisse nicht, mit wem man es
in diesem libyschen Nationalen Übergangsrat zu tun
habe. Dann stellt sich die Frage: Warum spricht man
nicht miteinander? Das müssen ja nicht Sie machen, das
können ja auch andere aus dem Auswärtigen Amt machen.
({0})
Aber es muss doch nicht erst gewartet werden, bis ein
Beauftragter der Vereinten Nationen oder andere Kolleginnen und Kollegen mit ihnen sprechen. Sie sagen:
Wenn man die Bilder sieht, ist man schockiert, dann
muss man handeln. - Trotzdem muss man klug handeln,
wobei sich die Frage stellt, was kluges Handeln in dieser
Situation ist. Ich denke, es wäre notwendig gewesen,
mehr Antworten auf die von Ihnen selbst gestellten Fragen zu geben.
Letztendlich kommen wir in der Europäischen Union
nicht umhin, über unseren Schatten zu springen. Es geht
nicht mehr an - das sagte der marokkanische Außenminister -, dass wir in der Europäischen Union schon
Gefahren sehen, wenn mehr Produkte in die Europäische
Union eingeführt werden, zum Beispiel schon bei weniger als 1 Prozent Tomaten aus Marokko, Frühkartoffeln
aus Ägypten oder mehr Bekleidung. Wir können doch
nicht ständig Sonntagsreden halten und sagen, dass wir
mehr kooperieren müssen, und dann am Anfang der
kommenden Woche, wenn wir zu entscheiden haben,
uns dagegen wehren. Bei dieser Frage müssen wir über
unseren Schatten springen genauso wie bei der Frage der
Migration.
Ich stimme Ihnen zu, Herr Außenminister - das haben
Sie mehrfach gesagt -, dass Hilfe zur Selbsthilfe notwendig ist, aber lesen Sie beispielsweise einmal die
neuen Ausführungen der Deutschen Gesellschaft für
Auswärtige Politik. Die haben wunderbare Statistiken
veröffentlicht, die zeigen, welches Wachstum in den
Ländern notwendig ist, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wir alle wissen, wie schwer das ist. Zwischen
der Zahl der Abgänger aus Schulen und Universitäten
und der Zahl der Arbeitsplätze klaffen Lücken; dazu
muss man auch das Wachstum betrachten. Hier geht es
um zwei, drei verschiedene Punkte. Ich glaube, dass
auch hier ein entsprechendes Handeln der Europäischen
Union notwendig ist. Einige Mitgliedstaaten, auch unser
französischer Partner, müssen bei der Agrarpolitik endlich über ihren Schatten springen.
Noch ein Punkt. Jemen wurde bereits angesprochen.
„Friends of Yemen“ tagt seit einigen Monaten, auch mit
Saudi-Arabien. Es war für mich schon immer etwas
schwierig, nachzuvollziehen, dass man den Jeminiten
Vorschläge macht, wie sie sich organisieren sollen, und
dass man ihnen sagt, dass sie Wahlrechtsreformen durchführen müssen, während der saudi-arabische Partner dabeisitzt. Dazu kommen jetzt die Vorgänge in Bahrain.
Mich würde interessieren, wie die Bundesregierung
demnächst mit einer solchen Situation umgeht. Ich
glaube, Saudi-Arabien hat da viel verspielt.
Mein letzter Punkt; dies muss auch deutlich in Richtung unserer Freundinnen und Freunde in Nordafrika gesagt werden. Der marokkanische Außenminister sagt:
Dem Land gehen 2 Prozent Wachstum allein aufgrund
des ungeklärten Konflikts und der fehlenden Zusammenarbeit zwischen Algerien und Marokko und des ungelösten Problems der Westsahara verloren. Wir erwarten aufgrund all der Anstrengungen, die wir unternehmen, dass
endlich auch in dieser Region eine Süd-Süd-Kooperation
eingegangen wird. Wenn wir über unseren Schatten
springen, können wir dasselbe auch von den Ländern im
Süden erwarten. Sonst sind unsere Anstrengungen für
unsere Bürgerinnen und Bürger nicht verständlich.
Vielen Dank.
({1})
Marina Schuster hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle stehen unter dem Eindruck der Fernsehbilder, die uns aus Nordafrika, aus der arabischen
Welt erreicht haben und erreichen. Ich bin froh, dass unsere Bundesregierung von Anfang an klargemacht hat,
auf wessen Seite sie steht. Wir stehen auf der Seite der
Demokraten, und wir haben dies in unseren Positionierungen auch klar und deutlich so gesagt.
Ich erinnere daran, dass Alliot-Marie noch kurz vor
dem Sturz von Ben Ali Truppen angeboten hat. Deutschland war das Land, das Motor war, das versucht hat, eine
einhellige Meinung herbeizuführen, das früh Sanktionen
ins Spiel gebracht hat, gerade im Fall von Libyen.
({0})
Wir haben das Heft des Handelns in die Hand genommen und uns nicht von Mitgliedstaaten, die ihre eigene
Politik verfolgen, beeinflussen lassen.
({1})
Natürlich können wir mit dem Erscheinungsbild der
EU nicht zufrieden sein. Umso wichtiger war es, dass
wir einen klaren Kurs fahren. Dass die EU einheitlich
und geschlossen auftreten muss, haben wir in vielen
Plenardebatten, auch zu anderen Themen, immer wieder
gefordert. Umso schlimmer ist natürlich, wenn wir gerade im Fall von Tunesien und Ägypten, aber auch im
Fall von Libyen erleben, dass die Positionen der Mitgliedstaaten auseinandergehen.
Es ist mehrmals angesprochen worden, dass wir gerade in Libyen Kontakte zur Opposition pflegen sollten.
Auf Arbeitsebene geschieht dies auch. Nur, eines müssen wir zur Kenntnis nehmen: Die Lage ist sehr unübersichtlich. Wir kennen die Figuren, die dem nationalen
Interimsrat angehören. Ich glaube, es ist ein Gebot der
Stunde, dass wir unsere Gesprächspartner und das Vorgehen auch hier mit Bedacht wählen.
({2})
Die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des
Deutschen Bundestages haben in Genf an der Sitzung, in
der über den Ausschluss Libyens aus dem Menschenrechtsrat diskutiert worden ist, teilgenommen. Die Entscheidung, die getroffen wurde, begrüße ich sehr. Ich bin
froh, dass sich auch die Generalversammlung ganz klar
positioniert hat. Angesichts der Schwere der Menschenrechtsverletzungen kann es hier keine andere Antwort
geben. Libyen hätte nie einen Sitz im Menschenrechtsrat
erhalten sollen.
Meine Damen und Herren, ich möchte kurz auf die
Situation der Flüchtlinge eingehen. Markus Löning, der
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, hat
Flüchtlingslager an der tunesisch-libyschen Grenze besucht. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass
sich allein dort 250 000 Flüchtlinge befinden. Die Bundesregierung hat Hilfe in Höhe von insgesamt
5 Millionen Euro zugesagt. Dabei werden Mittel für das
Internationale Komitee vom Roten Kreuz bereitgestellt.
Jetzt geht es auch darum, gerade in Libyen die medizinische Notversorgung sicherzustellen und die Entwicklung
in den Flüchtlingslagern genau zu beobachten. Ich begrüße sehr, dass wir hier humanitäre Hilfe leisten, um
die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.
({3})
Ich möchte nun ganz kurz auf die politische Situation
eingehen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Länder Ägypten und Tunesien befinden sich in einer sehr wichtigen,
aber auch fragilen Transformationsphase. Unseren politischen Stiftungen bietet sich jetzt die Möglichkeit, die
Kontakte, die sie in den vergangenen Jahren aufgebaut
haben, zu nutzen. In der Vergangenheit war die Situation
allerdings eine andere. Die Angehörigen von Oppositionsparteien, zu denen wir Kontakte hatten, wurden inhaftiert, und die Parteien waren nicht zu Wahlen zugelassen. Jetzt ist die Möglichkeit da, sich auf die Wahlen
vorzubereiten. Deswegen begrüße ich sehr, dass uns mit
unseren politischen Stiftungen vor Ort Organisationen
zur Verfügung stehen, die mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und die demokratischen Strukturen
stärken können.
Eines dürfen wir nicht vergessen - das ist von meinen
Vorrednern bereits angesprochen worden -: Jetzt geht es
natürlich auch darum, eine ökonomische Perspektive zu
schaffen. Die Forderung, unsere eigenen Handelshemmnisse für Agrarprodukte zu senken, betrifft natürlich
auch den Textilsektor. Dazu gehört auch, dass wir den
Tourismussektor wieder beleben, sofern die Sicherheitslage in den entsprechenden Gebieten dies zulässt.
Eines ist allerdings auch klar: Wenn die sozialen
Missstände nicht behoben werden, wenn die ökonomische Verbesserung nicht eintritt, kann dies dazu führen,
dass der gesamte Transformationsprozess ins Schlingern
gerät. Deswegen ist es wichtig, eine ökonomische Perspektive zu bieten.
({4})
Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen. Wir
haben uns in den Debatten, die wir im Menschenrechtsausschuss geführt haben, auch um das Thema Religionsfreiheit gekümmert. Ich möchte am Beispiel Ägypten
klarmachen, was es für ein Land, in dem die Staatsreligion der Islam ist, in dem die Bevölkerung tief religiös
ist, heißt, jetzt eine politische Ordnung zu schaffen, die
Religionsfreiheit, Toleranz und Pluralismus beinhaltet.
Ich denke, dass auch solche Fragen diskutiert werden
müssen und dass man sich auch damit befassen muss,
wie der Schutz der Religionsfreiheit zugunsten der Menschen besser ausgestaltet werden kann.
Frau Kollegin!
- Ich komme zum Schluss.
Unser Weg ist klar: Wir bieten Hilfe und Unterstützung an, allerdings nicht mit dem erhobenen Zeigefinger
oder durch Bevormundung, sondern mit ehrlichen und
brauchbaren Angeboten. Das ist unser Weg, und den
werden wir auch weiterhin gehen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Wochen sind wir Zeugen des dramatischen
Umbruchs, der gewaltigen Umwälzungen in der arabischen Welt. Dabei hat vor allem die verbrecherische
Gewalt, mit der Gaddafi in Libyen seine Macht sichern
will, weltweit für Empörung gesorgt. Aber auch in anderen Ländern bleibt die Lage nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitskräften angespannt. In Algerien, Bahrain,
Jordanien, Irak, Iran, Marokko und dem Jemen beispielsweise ist es in den vergangenen Wochen immer
wieder zu Protesten gekommen. Dabei gab es zahlreiche
Verletzte und auch Tote.
Am 11. März dieses Jahres ist daher der Europäische
Rat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengekommen, und allein dies ist ein starkes Signal dafür, wie
wichtig der Europäischen Union eine gemeinsame Reaktion auf die Geschehnisse ist. So etwas hat es in den
vergangenen zehn Jahren nur dreimal gegeben: beim
Georgienkrieg, beim Irakkrieg und nach den Terroranschlägen vom 11. September.
In vielen arabischen Ländern fürchten die Herrscher
den Verlust ihrer Macht. In Tunesien und Ägypten ist der
Sturz der Despoten bereits erfolgt. Bahrain ruft saudische Truppen ins Land. In Libyen droht die Revolte in
einen langen und blutigen Bürgerkrieg zu münden, wofür die libysche Führung die alleinige Verantwortung
trägt.
Die internationale Gemeinschaft sieht dem mörderischen Wüten Gaddafis nicht tatenlos zu. Zahlreiche
Sanktionen und andere Konsequenzen wurden inzwischen von den Vereinten Nationen, der Europäischen
Union und den USA beschlossen. Damit wurden klare
Signale gesetzt, dass das menschenverachtende Vorgehen gegen das eigene Volk von der Weltgemeinschaft
nicht hingenommen wird.
Was allerdings die Forderung nach der Errichtung einer Flugverbotszone angeht, so müssen wir uns - und
das ist heute schon mehrmals angesprochen worden darüber im Klaren sein, dass dies eine militärische Intervention bedeutet. Deshalb ist es auch ein klarer Widerspruch, wenn uns die Arabische Liga einerseits zur Errichtung einer solchen Zone auffordert, uns andererseits
aber gleichzeitig vor jeglicher Form einer militärischen
Intervention warnt.
Ein Flugverbot lässt viele Fragen offen und birgt viele
Risiken. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Arabische Liga - derzeit hat es diesen Anschein - daran
nicht beteiligen will. Ich nenne zum Beispiel das Risiko
vieler ziviler Todesopfer. Zivile Todesopfer in einem
arabischen Land durch eine westliche militärische Intervention könnten schnell zu einer Verschärfung der im
arabischen Raum ohnehin weit verbreiteten antiwestlichen Stimmung führen.
Damit der Wandel hin zur Demokratie Erfolg und Bestand hat, muss - davon bin ich überzeugt - die Befreiung von den alten Machthabern durch die einheimische
Bevölkerung selbst erfolgen. So etwas kann nicht in
Brüssel oder in Berlin geschehen.
Was wir aber tun können und müssen, ist Folgendes:
Wir müssen in enger Abstimmung mit den internationalen Partnern weiterhin darauf hinwirken, dass die Gewalt
in Libyen sofort beendet wird.
({0})
Nach wie vor hat es auch höchste Priorität, alle humanitären Anstrengungen zu unternehmen, um die aus Libyen in die Nachbarländer geflohenen Menschen zu unterstützen. Gemeinsam mit den Partnern der EU sollte
den Ländern Nordafrikas sowie des Nahen und des Mittleren Ostens ein breites Angebot für eine zielorientierte,
bedarfsgerechte und partnerschaftliche Unterstützung
des Wandels unterbreitet werden. Hierfür sollten auch im
EU-Haushalt Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Bei diesem Angebot müssen die Gründe der Proteste
zum Ausgangspunkt genommen werden, und es muss an
den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sein. Gerade in der Zeit des Übergangs sind schnelle, spürbare
Verbesserungen der Lebensumstände und Erfolge vonnöten, damit der politische Wandel von einer breiten
Mehrheit der Bevölkerung getragen und akzeptiert wird.
Von besonderer Bedeutung ist, dass die Reformen institutionell und verfassungsrechtlich abgesichert werden.
Deshalb müssen wir unbedingt unsere Hilfe beim Aufbau eines Mehrparteiensystems, bei der Vorbereitung
und Durchführung freier Wahlen, bei der Stärkung der
Zivilgesellschaft, bei der Bekämpfung der Korruption
und beim Aufbau einer unabhängigen Justiz anbieten.
Die politischen Stiftungen spielen hier eine wichtige
Rolle - auch das ist schon erwähnt worden; ich möchte
das noch einmal unterstreichen - und können eine wertvolle Hilfe leisten.
({1})
Klar muss auch sein: Finanzielle Unterstützungsleistungen der EU müssen zukünftig viel stärker als bislang
von politischen und rechtsstaatlichen Reformen abhängig gemacht werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bislang gab es
keinen islamischen Staat mit einer funktionierenden Demokratie nach unseren Maßstäben. Der stattfindende
Umbruch in der arabischen Welt ist eine Chance, dass
sich daran etwas ändert.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Umbruch in der arabischen Welt: Was hat sich im Vergleich zum vorigen Jahr eigentlich geändert? Ich glaube,
der entscheidende Punkt ist: Die Menschen haben keine
Angst mehr. Deshalb ist es so wichtig, dass wir ihnen
moralische, materielle und politische Unterstützung geben, und ich finde, die Bundesregierung hat dies mit ihrer Antwort auf diese Umbrüche in der arabischen Welt
auch entschlossen und klug getan.
Wir als Bundesrepublik Deutschland haben Hilfe in
Form einer Transformationspartnerschaft in der ganzen
Breite der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung angeboten. Wir haben sie in den
Blick genommen. Gleichzeitig haben wir aber deutlich
gemacht: Es ist Sache der Araber, der Menschen in diesen Ländern selbst, darüber zu entscheiden, welchen
Weg sie einschlagen wollen und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen.
Die Region hat eine globale Bedeutung. Das haben
wir in dieser Debatte vielleicht noch etwas wenig beleuchtet. In dem Gebiet von Marokko bis zum Persischen Golf liegen die Energiereserven an Öl und Gas für
die ganze Welt, und die Bedeutung dieser Region wird
durch die atomare Katastrophe in Japan eher zu- als abnehmen.
Auch für Deutschland und die Europäische Union hat
der Nahe und Mittlere Osten eine strategische Bedeutung, und wir haben dort eigene Interessen; das müssen
wir in dieser Debatte auch sagen.
Was sind unsere Interessen?
Wir haben erstens ein Interesse an wirtschaftlicher
Zusammenarbeit im Bereich der Energie: beim Öl, beim
Gas und in Zukunft aber auch bei der Solarenergie. Wir
haben ein Interesse an den Märkten, die sich in dieser
Region auch für unsere Wirtschaft ergeben.
Wir haben zweitens ein strategisches Interesse an der
Sicherheit Israels.
Wir haben drittens das Interesse, dass wir Migrationsund Flüchtlingsströme aus dieser Region oder durch
diese Region nach Europa vermeiden, vor allen Dingen
dadurch, dass wir die Ursachen für diese Flüchtlingsströme in diesen Ländern und gemeinsam mit diesen
Ländern dann auch weiter südlich bekämpfen.
Deshalb haben wir viertens ein Interesse an Modernisierung, Reformen und guter Regierungsführung.
Last, but not least möchte ich fünftens das Interesse
daran nennen, den Terrorismus, der in dieser Region
seine Wurzeln hat, wie sich immer wieder zeigt, gemeinsam mit den Ländern dieser Region zu bekämpfen.
Was in Tunesien, Ägypten, Libyen und Bahrain geschieht, ist zuallererst Sache der Tunesier, Ägypter, Libyer und Bahrainer. Aber wir müssen ihnen dabei helfen,
das selbst zu gestalten. In Tunesien und Ägypten geht es
um Partizipation, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Die Hilfen sind in der Debatte beschrieben
worden. Es geht aber auch um Ökonomie, um die Marktöffnung auch im Bereich der Agrarpolitik, um Marktwirtschaft und Korruptionsbekämpfung.
Ich will an dieser Stelle ein Stichwort aufgreifen, das
immer wieder genannt wird, wenn es heißt, die Region
brauche jetzt einen Marshallplan. Das ist richtig. Sie
braucht auch ein Konzept zur interregionalen Zusammenarbeit. Das ist sehr wichtig. Denn es gibt in der Region genug Geld. Es geht aber auch darum, dass wir
dazu beitragen, dass das Milliardenvermögen der Ben
Alis und Mubaraks, das eigentlich das Geld der Bevölkerung dieser Länder ist, wieder seinen Weg dorthin zurückfindet. Wir sollten dazu beitragen, dass die hohen
zweistelligen Milliardenbeträge - es wird einem
schwindlig vor Augen, wenn man hört, welche Summen
diese Herrscher zur Seite geschafft haben - zugunsten
des Aufbaus der Länder, um die es geht und denen das
Geld eigentlich gehört, zurückgeführt werden.
({0})
Ich will an das anknüpfen, was der Kollege Stinner im
Hinblick auf Bahrain gesagt hat. Denn ich glaube, dass
wegen der Diskussion um Libyen die Brisanz der Entwicklung in Bahrain etwas aus dem Blick gerät. Es gibt
drei Besonderheiten, die den Konflikt und die Situation
in Bahrain von allen anderen Ländern unterscheiden.
Das sind erstens die interreligiöse Dimension des Konflikts mit Blick auf die Sunniten und Schiiten und zweitens die grenzüberschreitende Dimension wegen einer
Involvierung Saudi-Arabiens einerseits und möglicherweise des Iran andererseits, die es in anderen Ländern
nicht gibt. Drittens gibt es eine internationale Dimension. Denn in Bahrain hat die fünfte amerikanische
Flotte ihre Basis. Das alles macht die Lage dort so brisant.
Leider hat die Regierung, das Königshaus in Bahrain,
auf die ursprünglichen Forderungen nach Partizipation
und Reformen nicht konstruktiv reagiert. Sie hat den
Zeitpunkt verpasst. Aber ich bin mit Ihnen, Herr Stinner,
einer Meinung. Die Intervention durch den Golfkooperationsrat mit etwa 500 Polizisten und Saudi-Arabien mit
etwa 1 000 Soldaten eskaliert. Auf diese Weise lassen
sich die Unruhen nicht dauerhaft befrieden. Das ist nur
durch Reformen und Partizipation möglich.
Man darf das nicht durch die enge religiöse Brille sehen, aber es besteht die Gefahr, dass gerade durch die Intervention Saudi-Arabiens diese Perspektive deutlich
verstärkt wird. Wenn wir in Zukunft an einer möglichst
widerspruchsfreien Politik für den Nahen Osten arbeiten
wollen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass das Reformtempo in Bahrain durch Saudi-Arabien bestimmt
wird. Denn dann dauert es mit Sicherheit zu lange.
({1})
Noch eine letzte Bemerkung zu Libyen: Es ist viel zu
den Problemen im Zusammenhang mit der Flugverbotszone gesagt worden. Ich habe mich dazu schon öffentlich geäußert. Ich bin bei meinem Besuch in Oman und
Katar von meinen arabischen Gesprächspartnern darauf
aufmerksam gemacht worden, warum Gaddafi gefallene
Gegner exhumieren lässt. Das sind bestätigte Nachrichten. Er macht es deshalb, um sie zu identifizieren und
sich an ihren Familien zu rächen. Das zeigt, was dort
möglicherweise auch noch auf die Bevölkerung zukommt.
Deshalb kann man, Herr Außenminister, wenn man
erstens richtigerweise fordert „Gaddafi muss weg!“ und
zweitens richtigerweise sagt, dass ihn der Internationale
Strafgerichtshof erwartet, nicht nur abwarten, dass mittelfristig Sanktionen dazu führen, dass er irgendwann
dort landen wird.
Ich glaube, wir stehen noch vor der Aufgabe, zunächst die Frage einer Resolution und der Beteiligung
der Arabischen Liga zu beantworten. Dann geht es um
die Umsetzung der Forderung „Gaddafi muss weg! Er
muss vor Gericht gestellt werden“. Ich glaube, vor dieser
Aufgabe stehen wir noch. Das wird uns auch im Sicherheitsrat noch einiges abverlangen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5040. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung durch die
einbringende Fraktion abgelehnt. Die übrigen Fraktionen haben dagegen gestimmt.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 3 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Änderung
des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze.
Für den einleitenden Bericht erteile ich dem Bundesminister für Gesundheit, Dr. Philipp Rösler, das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Die Bundesregierung hat heute den Gesetzentwurf zur Änderung des
Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze beschlossen.
Sie alle wissen, dass wir in Deutschland eine hervorragende medizinische Versorgung für die Menschen haBundesminister Dr. Philipp Rösler
ben. Allerdings gibt es durchaus auch Probleme; denn
einige Infektionen können im Rahmen einer medizinischen Behandlung erworben werden. Nach Schätzungen
gibt es pro Jahr circa 400 000 bis 600 000 solcher Fälle
in Deutschland. Daraus resultierend kommt es zu 7 500
bis 15 000 Todesfällen aufgrund solcher im Rahmen einer medizinischen Behandlung erworbenen Infektionen.
Erschwerend kommt hinzu, dass es im Rahmen dieser
Infektionen besonders häufig Resistenzen gibt, die die
Behandlungen erschweren, die Behandlungszeit verlängern und nachteilig für die Patientinnen und Patienten,
aber natürlich auch für das Gesundheitssystem insgesamt sind.
Die jetzige Bundesregierung, aber auch schon die
Vorgängerregierungen haben eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um mit solchen sogenannten
nosokomialen Infektionen umgehen zu können und sie
zu reduzieren. Mit dem Gesetz, dessen Entwurf heute
beschlossen wurde, sollen diese Maßnahmen weiter gestärkt und unterstützt werden.
Gerade Resistenzen kann man durch eine sinnvolle
und richtige Antibiotikagabe vermeiden. Hierzu soll
künftig eine Kommission beim Robert-Koch-Institut
eingerichtet werden. Sie wird Leitlinien für Ärztinnen,
Ärzte und medizinisches Personal ausgeben, wie man
richtig Antibiotika verordnet und entsprechend anwendet, um möglichst von vornherein Resistenzen zu verhindern. Diese soll „Kommission Antieffektiva, Resistenz und Therapie“ heißen, kurz: ART.
Eine der Maßnahmen, die schon andere Bundesregierungen auf den Weg gebracht haben, ist die sogenannte
Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, die ebenfalls am Robert-Koch-Institut angesiedelt ist. Diese Kommission gibt wissenschaftliche
Empfehlungen heraus, wie die Abläufe in den Krankenhäusern im Rahmen von Hygienemaßnahmen verbessert
werden können, um auf diesem Wege entsprechende Infektionen zu vermeiden. Diese Empfehlungen sind
durchaus wissenschaftlich anerkannt - sie sind auch unstreitig -, haben aber den Nachteil, dass es sich dabei
bisher nur um Empfehlungen handelt. Das heißt, dass
sich nicht alle Krankenhäuser an die vorgegebenen Leitlinien zur Vermeidung von Infektionen im Krankenhaus
halten.
Das soll durch das Gesetz künftig geändert werden.
Die Leitlinien dieser Kommissionen sollen verbindlicher
als bisher ausgestaltet werden. Insbesondere soll das
mithilfe der Bundesländer geschehen. Wir wollen den
Bundesländern die Möglichkeit geben und sie gleichzeitig auch verpflichten, eigene Hygieneverordnungen auf
den Weg zu bringen, um sich orientierend an den Leitlinien dieser Kommissionen auch auf Landesebene dafür
einzusetzen, dass sich flächendeckend alle, insbesondere
stationäre Einrichtungen, tatsächlich an den wissenschaftlich anerkannten Stand zur Infektionshygiene halten.
Bisher haben nur 7 von 16 Bundesländern überhaupt
eine solche eigene Hygieneverordnung. Bislang war es
notwendig, dass die Länder in ihren Landeskrankenhausgesetzen dafür eigene gesetzliche Grundlagen
schaffen mussten. Künftig kann man allein aufgrund des
Infektionsschutzgesetzes auf Bundesebene eine solche
Verordnung auf den Weg bringen. Also können die verbliebenen neun Bundesländer sehr schnell eine Hygieneverordnung mit höherer Verbindlichkeit gerade für
Leitungen von stationären Einrichtungen und vergleichbaren Institutionen beschließen. Sollten sich die Kolleginnen und Kollegen vor Ort nicht daran halten, können
diese vonseiten des Landes mit Bußgeldern in Höhe von
bis zu 25 000 Euro belegt werden.
Wir wollen die Meldesysteme weiter verbessern. Seit
2009 ist es notwendig, dass solche MRSA-Infektionen
an die Gesundheitsämter gemeldet werden. Wir möchten
die Gesundheitsämter verpflichten, diese Infektionen an
das Robert-Koch-Institut zu übermitteln, damit man einen Überblick über Infektionen in der gesamten Bundesrepublik hat, um vor Ort gezielt beraten zu können.
Ebenso fordern wir mit diesem Gesetz den Gemeinsamen Bundesausschuss auf, Richtlinien zu entwickeln,
wie man Hygienestandards formulieren kann, um als Ergebnis die Qualität der Hygiene in Einrichtungen veröffentlichen zu können; denn wir möchten, dass in die
Qualitätsberichte, die bisher alle zwei Jahre von den
Krankenhäusern veröffentlicht werden müssen, ein Kapitel über Hygiene aufgenommen wird. Ab 2013 sollen
diese Berichte nicht nur alle zwei Jahre, sondern jährlich
veröffentlicht werden, damit man als Versicherter und
potenzieller Patient die Möglichkeit hat, sich nicht nur
einen Überblick über die Qualität des Krankenhauses,
sondern auch über die Qualität der Hygiene in diesem
Krankenhaus zu verschaffen.
Ebenso ist es das Ziel, Infektionen gerade mit multiresistenten Erregern von vornherein zu vermeiden. Deswegen entwickeln wir ein neues System des Screenings, bevor Patientinnen und Patienten überhaupt in den
stationären Bereich kommen. So soll es im ambulanten
Bereich künftig die Möglichkeit für die niedergelassenen
Ärztinnen und Ärzte geben, Hochrisikopatienten selber
zu untersuchen und für den Fall, dass man resistente Erreger feststellt, die Patienten vorab zu sanieren, also von
den resistenten Erregern zu befreien, bevor sie überhaupt
in die Krankenhäuser und stationären Einrichtungen
kommen. Denn dort gibt es viele Patienten, die immungeschwächt sind. Dort ist die Verbreitung der Erreger
viel einfacher; deshalb sollte man versuchen, von vornherein eine Aufnahme von Patienten mit hochresistenten
Erregern im Krankenhaus zu verhindern.
Neben dem Infektionsschutz gibt es noch eine Reihe
von weiteren Änderungen. Ich will eine wesentliche Änderung herausgreifen: Das ist die Änderung zur Transparenzvereinbarung in der Pflege. Sie alle haben die streitigen Diskussionen in der Pflege verfolgt. Es gibt die
Möglichkeit, Pflegeeinrichtungen und auch ambulante
Pflegedienste mit Noten zu bewerten. Es gibt ein Verfahren, wie eine Bewertung vorzunehmen ist. Allerdings
konnten sich die Selbstverwaltungspartner über die
Dinge, die zu bewerten sind, nicht einig werden. Aus unserer Sicht sinnvolle Dinge wie zum Beispiel der Flüssigkeitsstatus oder auch der Wundzustand von Patientin10834
nen und Patienten in Einrichtungen sind bisher nicht
Bestandteil eines solchen Pflegebenotungssystems gewesen. Bei dem Versuch, diese einzuführen, konnten
sich die Partner nicht einig werden. Deswegen ist in diesem Gesetzentwurf die Vorgabe einer Schiedsstelle enthalten, die in solchen Streitfällen zu einer Entscheidung
kommt, sodass diese Frage nicht so lange offenbleibt
wie bisher, sondern schnell zum Nutzen von Patientinnen und Patienten entschieden werden kann.
So weit, Frau Präsidentin, zur Einführung in das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und
weiterer Gesetze.
Vielen Dank.
Mir wurden jetzt zwei Nachfragen zu diesem Themenbereich und darüber hinaus weitere Fragen avisiert.
Ich rufe die Fragen zu dem Bericht des Gesundheitsministers zuerst auf.
Herr Riebsamen hat sich gemeldet.
Herr Minister Rösler, Sie haben ausgeführt, dass pro
Jahr 400 000 bis 600 000 Fälle von Krankenhausinfektionen mit entsprechend vielen Sterbefällen zu beklagen
sind. Mich würde interessieren, wie ehrgeizig man sein
kann, um von dieser Zahl herunterzukommen. Wie realistisch ist es, diese Zahl zu halbieren oder um zumindest
30 oder 40 Prozent zu reduzieren? Wie sieht die Lage im
internationalen und besonders im europäischen Vergleich aus?
Herr Minister, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Abgeordneter, die Zahlen sind in der Tat beeindruckend.
Im europäischen Vergleich zählen nicht allein die absoluten Zahlen, sondern es zählt vor allem der Anteil an
Resistenzen. Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt.
Ungefähr 20 Prozent dieser Fälle sind mit resistenten Erregern infiziert. Nehmen wir die Niederlande als Beispiel: Dort gibt es - es handelt sich um einen kleineren
Staat - ungefähr 100 000 Infektionen. Das ist, was die
Anzahl der Operationen und der stationären Aufnahmen
anbelangt, ungefähr vergleichbar. Von diesen Patienten
ist ungefähr 1 Prozent selber mit resistenten Erregern infiziert. Das heißt, es gibt ein deutliches Übergewicht an
resistenten Erregern in Deutschland, übrigens auch in
anderen Staaten, zum Beispiel in Südosteuropa, aber
auch in Großbritannien. Angesichts dessen muss man
die Zahl der Infektionen senken. Insbesondere muss man
sich des Themas Resistenzen annehmen.
Was die ehrgeizigen Ziele angeht: Wissenschaftler gehen davon aus, dass man durch die sinnvolle Anwendung der vorhandenen Regeln und durch ihre Verbesserung, wie wir sie jetzt vorschlagen, die Anzahl solcher
Infektionen um 20 bis 30 Prozent senken kann. Wie gesagt, geht es dabei nicht um die Erstellung der Regeln,
sondern um deren sinnvolle Anwendung. Auch darüber
wird man sich Gedanken machen müssen. Das angestrebte Ziel ist, wissenschaftlich gesehen, durchaus realistisch.
Jetzt hat der Kollege Henke das Wort zu einer Frage.
Herr Minister Rösler, es ist sicher sehr verdienstvoll
und vernünftig, immer wieder die Motivation zu stärken,
Hygieneregeln einzuhalten. Was die Antibiotikatherapie
angeht, interessiert mich: Wird in diesem Verfahren sichergestellt, dass die Expertise, in der der kritische Umgang mit Antibiotika durch die im Robert-Koch-Institut
einzurichtende Kommission formuliert wird, aus der klinischen Erfahrung gespeist ist? Bei der Formulierung
solcher Regeln darf man nicht allein Krankenhaushygieniker mit einem ausschließlich hygienischen Zugang
einbeziehen, sondern man braucht dazu Kliniker - Internisten, Chirurgen, Gynäkologen, Urologen -, die aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung wissen, welche klinischen Herausforderungen zu bewältigen sind. Ich halte
das im Hinblick darauf für sehr bedeutsam, dass wir eine
praxisnahe Motivation bei denjenigen erreichen wollen,
die diese Regeln anwenden sollen.
Herr Minister, bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Abgeordneter Henke, das, wonach Sie gefragt haben, ist
in der Tat genau das Ziel. Diese Gesetzesänderungen
sollen sich in eine Reihe von Maßnahmen eingliedern,
die vonseiten der Bundesregierung schon jetzt durchgeführt werden. Unter anderem gibt es eine Deutsche Antibiotika-Resistenzstrategie, kurz: DART. Bei dieser
Grundlagenforschung geht es darum, unter Hinzuziehung von Fachleuten aus der Praxis Verfahrensvorschläge zu entwickeln, die im Hinblick auf den Klinikalltag praxistauglich sind. Dass man auch Praktiker zu
Wort kommen lässt, soll im Rahmen einer neuen Kommission, ART, umgesetzt werden. Es nützt ja nichts, dass
man auf wissenschaftlicher Seite weiß, wie Resistenzen
entstehen, wenn man nicht die Übertragung auf die klinische Alltagspraxis gewährleisten kann. Dafür zu sorgen,
das ist ausdrücklich das Ziel.
Wie schwierig das Ganze ist, sehen wir am Beispiel
der Händedesinfektionen. Wie Sie wissen - Sie sind
Fachmann auf diesem Gebiet -, ist der Bundesgesundheitsminister Schirmherr der Aktion „Saubere Hände“.
Leider kennen die wenigsten diese Aktion. Das zeigt
schon, wo das Hauptproblem liegt. Man könnte einen
Großteil der 400 000 bis 600 000 Infektionen schlichtweg durch regelmäßige Händedesinfektionen vermeiden. Im klinischen Alltag findet diese Erkenntnis allerdings keinen Niederschlag. Genau deswegen verfolgen
wir das beschriebene Ziel. Es geht nicht nur darum, Wissen zu erwerben, sondern auch darum, dafür zu sorgen,
dass dieses Wissen in den praktischen Alltag übertragen
werden kann.
Herr Spahn, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister, ich
habe noch zwei Fragen zum Gesetzentwurf.
Zuerst eine Vorbemerkung. Nachdem über dieses
Thema in den letzten Jahren viel geredet worden ist, ist
es schön, dass diese Bundesregierung hier im Rahmen
dessen Regelungen vorschlägt, was wir bundesgesetzlich regeln können, um die Möglichkeiten vollumfänglich auszuschöpfen. Insofern erst einmal ein Dankeschön
dafür, dass die Bundesregierung hier die Initiative ergreift und versucht, dieses lang diskutierte Thema abzuschließen.
Jetzt möchte ich auf die auch von Ihnen angesprochenen Landeshygieneverordnungen zu sprechen kommen.
Wie ist es zu bewerten, dass von den 16 Ländern bis jetzt
nur 7 eine entsprechende Hygieneverordnung für die
Krankenhäuser haben? Wird durch das, was jetzt geregelt werden soll, tatsächlich ein hinreichender Druck
aufgebaut? Gleichzeitig soll mit diesem Gesetz eine
beim sogenannten Pflege-TÜV vorhandene Blockadehaltung überwunden werden. Darf man das als Bekenntnis der Bundesregierung dazu werten, dass die Idee des
Pflege-TÜV und die Transparenz von Pflegeeinrichtungen aufrechterhalten werden sollen?
Herr Minister Rösler, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Abgeordneter Spahn, was die Bewertung anbelangt,
halte ich mich zurück. Tatsache ist, dass bisher nur 7 von
16 Ländern eigene Hygieneverordnungen erlassen haben. Das Verfahren ist vergleichsweise aufwendig, weil
die Länder in ihren jeweiligen Krankenhausgesetzen eigene gesetzliche Grundlagen schaffen müssen.
Sollte der Deutsche Bundestag dieses Gesetz verabschieden, könnte man auf der Grundlage eines Infektionsschutzgesetzes künftig selbst eine solche Verordnung auf den Weg bringen, dies also deutlich schneller
machen. Unser Ziel ist es, zu quasi standardisierten
Hygieneverordnungen zu kommen, und zwar bundesweit.
Weiter wird empfohlen, sich an die Empfehlungen der
Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention zu halten. Vorgegeben ist, immer den Stand
der Wissenschaft bei solchen Hygieneverordnungen zu
berücksichtigen. Der Gesetzgeber würde dann davon
ausgehen, dass genau das geschehen ist, wenn man sich
an die Richtlinien der KRINKO tatsächlich halten
würde.
Das gibt dem Bund ein bisschen die Sicherheit, dass
erstens die Länder solche Hygieneverordnungen flächendeckend auf den Weg bringen müssen und zweitens
es durchaus vergleichbare Hygieneverordnungen sind, es
den gleichen Standard gibt.
Nun zur Frage der Transparenzvereinbarung. Es ist
richtig, dass wir weiter das Ziel verfolgen, dass die Ergebnisse von Pflege transparent gemacht werden müssen
für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die Angehörigen und die Prüfungseinrichtungen. Trotzdem ist
die bisherige Transparenzvereinbarung nicht unumstritten. Es gab dazu auch eine wissenschaftliche Untersuchung, die Vorschläge enthalten und kurz-, mittel- und
langfristige Veränderungsnotwendigkeiten aufgezeigt
hat.
Die kurzfristige Veränderungsnotwendigkeit bestand
darin, schnellstmöglich zumindest die jetzige Transparenzvereinbarung so zum Laufen zu bringen, dass wenigstens die Grundbedürfnisse wie beispielsweise Flüssigkeitsstatus und Wundliegen berücksichtigt werden
können. Eine der kurzfristigen Maßnahmen besteht darin, eine Schiedsstelle einzurichten, damit die Selbstverwaltungspartner sehr schnell zu einer verbesserten
Transparenzvereinbarung kommen, um neben den möglichen gesetzlichen Veränderungen zu weiteren Veränderungen im Rahmen der Transparenz von Pflegeeinrichtungen zu kommen.
Mir liegt eine ganze Reihe Fragen zu anderen Themen der Kabinettssitzung vor. Das nehme ich zumindest
an; denn sie sind so angekündigt worden. Es könnten
aber auch sonstige Fragen an die Bundesregierung sein.
Ich gebe zunächst dem Kollegen Beck das Wort zu einer
Frage.
Frau Präsidentin! Die Bundesregierung hat in der
heutigen Kabinettssitzung sicher auch über das Atommoratorium gesprochen. Über die Presse haben wir erfahren, dass aufgrund § 19 Abs. 3 des Atomgesetzes die
vorübergehende Stilllegung von sieben Atomkraftwerken vorgesehen ist. § 19 Abs. 3 dieses Gesetzes lässt
dies zu, wenn die Vorgaben des Satzes 1 des Abs. 3 erfüllt sind. Dort heißt es:
Die Aufsichtsbehörde kann anordnen, daß ein Zustand beseitigt wird, der den Vorschriften dieses
Gesetzes oder der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen, den Bestimmungen des
Bescheids über die Genehmigung oder allgemeine
Zulassung oder einer nachträglich angeordneten
Auflage widerspricht oder aus dem sich durch die
Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können.
Vor dem Hintergrund, dass es eine rechtswirksame
Stilllegung sein muss, weil ansonsten Entschädigungsforderungen auf die Bundesregierung zukommen könnten, möchte ich Sie bitten, uns zu erklären, welcher der
in § 19 Abs. 3 Satz 1 aufgeführten Tatbestände von der
Bundesregierung bei den sieben Atomkraftwerken als
erfüllt angenommen wird.
Wer antwortet für die Bundesregierung? - Bitte
schön, Herr von Klaeden.
Herr Kollege Beck, ich beantworte Ihre Frage, weil
sie sich auf die heutige Kabinettssitzung bezieht.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass § 19
des Atomgesetzes eine Rechtsgrundlage für ein entsprechendes Verhalten der Landesaufsichtsbehörden für die
Kernkraftwerke bietet. Deswegen ist eine Stellungnahme
oder eine Festlegung der Bundesregierung nicht erforderlich. Für die Aufsicht über die Kernkraftwerke und
die entsprechenden rechtlichen Maßnahmen, insbesondere die Verwaltungsakte, sind die Landesregierungen
zuständig. An diese sind dann auch die entsprechenden
Fragen zu richten.
({0})
Die Kollegin Dorothee Menzner, bitte.
Frau Präsidentin! Ich frage die Bundesregierung, ob
in der heutigen Kabinettssitzung im Zusammenhang mit
dem dreimonatigen Moratorium, wie immer es dann
rechtlich gestrickt ist, auch darüber nachgedacht wurde,
international tätig zu werden: zum einen auf der Ebene
der Vereinten Nationen in Form eines Gespräches über
die Frage der zivilen und militärischen Nutzung von
Atomenergie und zum anderen im Hinblick auf zumindest eine zeitweise Aussetzung und ein Überdenken der
deutschen Importe von atomarer Technik und atomaren
Anlagen, was perspektivisch vielleicht zu der Erkenntnis
führt, dass der Import dieser Technik nicht sinnvoll und
deshalb dauerhaft einzustellen ist.
Frau Kollegin, die Bundesregierung wird dieses Moratorium nutzen - dazu ist es auch gedacht -, die Sicherheit unserer Kernkraftwerke vor dem Hintergrund der
Ereignisse in Japan nochmals einer grundlegenden Prüfung zu unterziehen. Die Ergebnisse dieser Prüfung sind
abzuwarten; sie können nicht vorweggenommen werden.
Zu Ihrer Frage zum internationalen Vorgehen will ich
nur darauf verweisen, dass auch auf europäischer Ebene
eine Überprüfung der Sicherheit der Kernkraftwerke
stattfindet. Darüber wurde in der Presse unter dem Stichwort „Stresstest“ berichtet.
Der Kollege Ulrich Kelber.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Nach Aussage von
Bundesminister Röttgen und der Frau Parlamentarischen
Staatssekretärin Reiche ist heute im Kabinett auch über
die verschiedenen Möglichkeiten zur Erhöhung der Sicherheit in deutschen Atomkraftwerken gesprochen worden. Ist in dem Zusammenhang auch darüber gesprochen
worden, das seit dem Jahr 2004 entwickelte und in den
Jahren 2009 und 2010 erprobte neue Kerntechnische Regelwerk anzuwenden? Das Kerntechnische Regelwerk
legt fest, in welcher Form erhöhte Sicherheitsanforderungen an Atomkraftwerke gegenüber dem alten Regelwerk aus den 70er-Jahren gestellt werden. Das ist nicht
nur sicherheitstechnisch, sondern auch finanziell relevant. RWE hat angekündigt, die Regelungen bei Biblis A
rechtlich zu überprüfen. Wenn die Sicherheitsanforderungen höher und die Gewinnmöglichkeiten also geringer sind, sind auch mögliche Schadenersatzzahlungen
geringer. Wir haben nachgefragt, ob dieses Regelwerk
sofort in Kraft gesetzt werden kann. Antwort war, es
gebe keine Vereinbarung mit den Ländern.
Nun meine Frage. Auf dem Webserver des Umweltministeriums findet sich - zumindest war das bis heute
12 Uhr der Fall - eine vom 4. Juni 2009 stammende Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern mit Unterschrift der zuständigen Landesminister, in der steht:
Die Erprobungsphase beginnt am 1. Juli 2009 und
wird am 31. Oktober 2010 abgeschlossen. … Erst
am Ende des Verfahrens erfolgt die Veröffentlichung durch das Bundesumweltministerium im
Bundesanzeiger …
Dieses Dokument war dem Minister und der Staatssekretärin nicht bekannt. Ist es dem Rest der Bundesregierung
bekannt?
Zunächst einmal, Herr Kollege Kelber, bin ich beeindruckt, in welcher Weise Sie in der Lage sind, verschiedene Sachverhalte in einer Frage zusammenzufassen.
Prinzipiell ist der Bundesregierung alles bekannt, was
auf ihren Webservern steht. Ich kann Ihnen jetzt allerdings nicht bestätigen, was Sie gerade dargelegt haben,
weil ich nicht in der Lage bin, mir einen ständigen Überblick über das zu verschaffen, was die Bundesregierung
an Informationen im Internet anbietet. Deshalb gestatten
Sie, dass ich die Frage schriftlich beantworte.
Frau Kotting-Uhl.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte die Bundesregierung noch einmal zu § 19 Atomgesetz befragen,
auf den der Kollege Beck sich schon bezogen hat. Wenn
ich das juristische Deutsch einmal allgemeinverständlich
übersetze, dann steht in Abs. 3, auf den sich die Bundesregierung bei der Abschaltung der sieben alten Reaktoren bezieht, dass es zwei Gründe gibt, weswegen ein
Atomkraftwerk abgeschaltet werden kann. Der eine ist,
dass ein Atomkraftwerk nicht dem gesetzlichen Sicherheitsstandard entspricht; der andere ist, dass Gefahr für
Leben und Gesundheit befürchtet wird. Herr Minister
Röttgen hat heute im Umweltausschuss gesagt, dass es
nicht um akute Gefahrenabwehr gehe. Dann bleibt nach
§ 19 Abs. 3 nur die Begründung, dass ein Atomkraftwerk nicht dem gesetzlichen Sicherheitsstandard entspricht.
Meine Frage an die Bundesregierung lautet: Welche
konkreten Sicherheitsmängel oder Gefahren bestehen in
diesen sieben alten Atomkraftwerken heute, die vor wenigen Wochen oder Tagen noch nicht bestanden haben?
Frau Kollegin, ich muss auf meine Antwort auf die
Frage des Kollegen Beck verweisen. Die verbindliche
Anwendung von § 19 Atomgesetz obliegt den Ländern,
die die Atomaufsicht führen. Ich werde hier jetzt keine
verbindliche Interpretation dieser Vorschrift vornehmen
können.
Richtig ist, dass den Ländern, die entsprechende
Maßnahmen im Zusammenhang mit diesem Moratorium
getroffen haben oder noch treffen werden, die Möglichkeit gegeben wird, die Sicherheit unserer Kernkraftwerke und die Einhaltung des entsprechenden Regelwerkes vor dem Hintergrund der Ereignisse in Japan
grundlegend zu überprüfen.
Jetzt ist die Kollegin Heidrun Dittrich an der Reihe.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Hat sich die Bundesregierung in ihrer heutigen Kabinettssitzung damit befasst, welche Position sie im Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen einnehmen möchte, um weltweit Hilfe für die
japanische Bevölkerung zu organisieren, die es beispielsweise ermöglicht, Familien mit Kindern, die der
Strahlung ausgesetzt waren, auszufliegen?
Mir ist eine solche Initiative im Sicherheitsrat nicht
bekannt. Klar ist, dass die Bundesregierung der japanischen Regierung umfassende Hilfe angeboten hat. Die
ersten Hilfsmaßnahmen, wie zum Beispiel die Entsendung von Experten des Technischen Hilfswerks, sind angelaufen. Deutschland ist das erste Land gewesen, das
Japan in dieser Weise geholfen hat. Das ist in Japan entsprechend gewürdigt worden.
Der Kollege Matthias Miersch.
Auch ich habe eine Frage zu dem sogenannten Moratorium die Atomkraft betreffend. Sie haben ja nicht nur
das Atomgesetz als Grundlage, sondern nach wie vor
den Vertrag, den die Bundesregierung mit den vier großen Energiekonzernen geschlossen hat. Können Sie uns
darüber Auskünfte geben, ob es derzeit Gespräche der
Bundesregierung mit diesen vier Energiekonzernen über
das weitere Prozedere, über die Anwendung und über
die Modifizierung bzw. Kündigung dieses Vertrages
gibt?
Dazu kann ich Ihnen keine konkrete Auskunft geben.
Ich gehe aber davon aus, dass die Bundesregierung und
auch die Landesregierungen im ständigen Kontakt mit
den Energiekonzernen stehen.
Die Kollegin Hönlinger.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Frage bezieht
sich ebenfalls auf das Moratorium. Ich möchte gerne
wissen, um welche Sicherheitsmerkmale es sich handelt,
die zur Einstellung des Betriebs der ältesten AKWs geführt haben. Inwieweit unterschieden sich diese Sicherheitsmerkmale von denen der weiterlaufenden AKWs?
Frau Kollegin, das ist wiederum eine Frage, die sich
an die für die Kernkraftwerke zuständigen Aufsichtsbehörden richten müsste, also an die jeweiligen Landesregierungen.
({0})
Die Bundesregierung ist dafür nicht zuständig. Ich verweise auf die Verteilung der Zuständigkeiten nach unserem Grundgesetz und bitte um Verständnis, dass ich Ihre
Frage deswegen nicht beantworten kann.
({1})
Die nächste Frage stellt der Kollege Weinberg.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Bei dem betroffenen
Reaktorblock 3 in Japan werden sogenannte MischoxidBrennelemente eingesetzt mit einem hohen Anteil an
hochgiftigem Plutonium. Auch im Kernkraftwerk
Grohnde sollen MOX-Brennelemente eingesetzt werden. Fällt der Einsatz dieser Elemente unter das dreimonatige Moratorium? Würde das nicht Sinn machen?
Herr Kollege, ich kann Ihnen diese technische Frage
jetzt nicht beantworten und kann deswegen die Wertung,
die Sie in Ihrer Frage vorgenommen haben, nicht bestäti10838
gen. Klar ist aber, dass im Rahmen dieses dreimonatigen
Moratoriums vor dem Hintergrund der Ereignisse in
Japan eine grundlegende Überprüfung auch der Sicherheitsbestimmungen bei uns stattfinden wird.
Die Kollegin Höhn.
Es wundert mich schon, dass die Kanzlerin die Idee
eines Moratoriums verkünden konnte, ohne mit den Ländern gesprochen zu haben; denn nach dem, was Sie eben
gesagt haben, sind eigentlich die Länder zuständig. Aber
das will ich einmal dahingestellt sein lassen.
Angesichts eines solchen Moratoriums und angesichts der Tatsache, dass die ältesten Atomkraftwerke
drei Monate vom Netz genommen werden - einige wie
beispielsweise Neckarwestheim und Isar 1 will man sogar für immer stilllegen; das steht zumindest in der Zeitung -, frage ich Sie: Werden die Laufzeiten dieser
Atomkraftwerke auf neuere übertragen? Was haben Sie
dazu im Kabinett entschieden?
Dazu ist im Kabinett nichts entschieden worden.
Auch das wäre ja eine Vorwegnahme der Ergebnisse der
Untersuchung, die stattfinden soll.
Ich muss aber Ihren Einleitungssatz korrigieren:
Selbstverständlich hat die Bundeskanzlerin, hat die Bundesregierung mit den betroffenen Ländern gesprochen.
({0})
- Nein, es hat ein Gespräch der Bundeskanzlerin mit den
Ministerpräsidenten der betroffenen Länder gegeben.
Dann sind diese Entscheidungen verkündet worden.
({1})
Darüber hinaus hat es natürlich Stellungnahmen gegeben. Es ist schnell und nachvollziehbar auf die Ereignisse in Japan reagiert worden. Ich möchte mich gar
nicht auf die Überlegung einlassen, wie Ihre Kritik aussehen würde, wenn es entsprechende Äußerungen und
Entscheidungen der Kanzlerin und der Bundesregierung
nicht gegeben hätte.
({2})
Herr Kollege Kelber.
Die Bundeskanzlerin hat gestern gesagt, dass es im
Rahmen des Moratoriums keine Genehmigung für die
Übertragung von Restlaufzeiten von älteren Atomkraftwerken aus den 70er-Jahren auf neuere aus den 80erJahren geben werde. Auf Nachfrage hat der Bundesumweltminister in der Sondersitzung des Umweltausschusses heute erklärt, das Moratorium selbst sei natürlich nur
ein politisches Instrument, damit sei die Laufzeitverlängerung als ein Rechtsinstrument nicht ausgesetzt, was
durch die Exekutive ja auch gar nicht möglich ist. Damit
haben die Atomkraftwerksbetreiber allerdings die Möglichkeit, ohne Genehmigung - einfach durch Anmeldung - Restlaufzeiten von den derzeit stillgelegten sieben Atomkraftwerken dauerhaft auf die neueren zu übertragen. Sie hätten bis in die 40er-Jahre einen Rechtsanspruch mit entsprechenden Entschädigungen, falls
sich aus der Sicherheitsüberprüfung eine Stilllegung ergibt.
Ist heute im Kabinett darüber gesprochen worden, wie
man mit diesem sehr großen, mehrere Milliarden Euro
umfassenden Problem umgehen möchte?
Nein, Herr Kollege Kelber, das ist im Kabinett nicht
besprochen worden. Aber es ist durchaus denkbar, dass
eine Folge der von mir schon mehrfach erwähnten
grundlegenden Überprüfung auch gesetzgeberischer
Handlungsbedarf ist.
Herr Kollege Koppelin.
Herr Staatsminister, Sie haben schon dargestellt, dass
erst das Gespräch bei der Kanzlerin stattgefunden hat
und dann die Erklärung der Kanzlerin abgegeben worden ist. Ist meine Information richtig, dass der Bundesumweltminister die entsprechenden Fachminister aus
den betroffenen Ländern gestern ebenfalls informiert
und mit ihnen ein Gespräch geführt hat?
Ist es weiterhin richtig, dass auf der morgigen Tagesordnung eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
zu diesem Thema steht? Man muss sich wundern, dass
die Befragung der Bundesregierung dazu vorhin abgebrochen und ein völlig neues Thema aufgerufen wurde.
({0})
Herr Kollege Koppelin, die Tagesordnung des Bundestages ist mir in der Form, wie Sie sie gerade zitiert
haben, bekannt. Auch Ihre Schilderung des Ablaufs ist
zutreffend. Zusätzlich will ich erwähnen, dass die Kanzlerin am Wochenende zunächst mit dem Vizekanzler besprochen hat, wie auf diese Situation zu reagieren ist,
und dass beide eng das weitere Vorgehen abgestimmt haben.
Der Kollege Ott.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Angesichts der wunderbaren Geschmeidigkeit des Vertreters der Bundesregierung in der Regierungsbefragung
({0})
und seiner Fähigkeit, allen klaren und konkreten Antworten aus dem Wege zu gehen, verzichte ich auf weitere Fragen zu § 19 Atomgesetz und möchte eine Frage
von allgemeinem Interesse stellen.
Allen in diesem Hause geht es wahrscheinlich ähnlich, dass sie sich darüber beklagen, wie wenige Informationen über Strahlungswerte eigentlich bekannt sind.
Die Betreiberfirma Tepco ist diesbezüglich sehr zurückhaltend. Es gibt allerdings eine internationale Einrichtung, die konstant Daten im gesamten pazifischen Raum
misst und diese an die Regierungen weitergibt. Es handelt sich um das Sekretariat des Nuclear Test Ban Treaty.
Ich bin mir nicht sicher, ob das Sekretariat beim BMU
oder beim Auswärtigen Amt angebunden ist. Ist Ihnen
das bekannt? Können vielleicht die Vertreter und Vertreterinnen der jeweiligen Ministerien dazu Stellung nehmen und prüfen, ob diese Informationen weitergegeben
werden können? Das Sekretariat hat erklärt, ihm seien
leider die Hände gebunden, es könne diese Informationen selbst nicht weitergeben.
Zunächst einmal gehen wir dieser Anregung gerne
nach. Vielleicht können die Kolleginnen und Kollegen
beantworten, ob das bereits der Fall ist.
Auf eines möchte ich hinweisen: Für uns alle gilt,
dass die Ereignisse in Japan unvorhersehbar waren und
eine Zäsur darstellen; auch in der Frage, welche Schwerpunktsetzungen und welche Abwägungen für die Energieversorgung unseres Landes zu treffen sind. Daher
bitte ich um Verständnis, dass wir, wenn wir eine solche
grundlegende Überprüfung seriös durchführen wollen,
nicht wenige Stunden oder Tage nach den Ereignissen
- womöglich parallel dazu - bereits Ergebnisse präsentieren können, die eine solche Untersuchung im Grunde
vorwegnehmen.
Der Kollege Hoyer möchte zu der Frage nach dem
Sekretariat des Nuclear Test Ban Treaty etwas sagen.
Herr Hoyer, bitte schön.
Herr Kollege, ich würde diese Frage gerne befriedigend beantworten, kann es aber nicht. Der Sache gehe
ich aber gerne nach. Ich kann Ihnen nur versichern, dass
wir, seitdem wir seit dem Wochenende im Krisenreaktionszentrum des Auswärtigen Amtes teilweise rund um
die Uhr damit beschäftigt sind, die Kommunikationsaufgabe im Zusammenhang mit dieser Krise in den Griff zu
bekommen, uns um nichts mehr bemühen als darum,
möglichst objektive Daten zu sammeln.
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, um Vertrauen bei
der Bevölkerung und bei den Menschen zu generieren,
die wir mit der Bewältigung der Situation vor Ort betrauen. Denn das ist der entscheidende Punkt: dass wir
deutlich machen, dass wir gegenüber unserer eigenen
Bevölkerung mit einem Höchstmaß an Offenheit und
Transparenz handeln. Deswegen nehme ich Ihre Anregung sehr gerne auf.
({0})
Die Kollegin Heinen-Esser wollte der Beantwortung
noch etwas hinzufügen. - Bitte schön.
Alle Informationen, die wir erhalten - auch zu möglichen Strahlenbelastungen und zu Radioaktivitätswerten -,
werden veröffentlicht, und zwar auf den Internetseiten
des BMU, der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und
unserer nachgeordneten Behörde, dem Bundesamt für
Strahlenschutz. Der Präsident, Wolfram König, nimmt
dazu regelmäßig Stellung, sodass alle Informationen, die
wir erhalten, sehr schnell der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht werden.
Jetzt die Frage der Kollegin Bulling-Schröter.
Danke schön, Frau Vorsitzende. - Ich habe gehört,
dass heute im Finanzausschuss darüber diskutiert wurde,
dass die Einnahmen aus der Brennelementesteuer sinken
würden, wenn es ein dreimonatiges Moratorium gibt. Es
gab die Aussage der Bundesregierung, das sei kein Problem. Das passt aber nicht zusammen: Bei einem Moratorium von drei Monaten, bei einer Stilllegung von drei
Monaten braucht man natürlich weniger Brennelemente.
Wie ist diese Antwort zu interpretieren? Oder ist es nicht
doch so, dass die Laufzeiten auf die neueren AKWs umgelegt werden?
Ich schlage vor, dass der Parlamentarische Staatssekretär aus dem Finanzministerium, der Kollege
Koschyk, diese Frage beantwortet, Frau Präsidentin.
Herr Koschyk, bitte schön.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem ich diese Frage heute im Finanzausschuss
schon beantwortet habe, möchte ich noch einmal feststellen: Wir haben im Finanzausschuss mitgeteilt, dass
sich aufgrund des Moratoriums Einnahmeminderungen
im Bereich der Kernbrennstoffsteuer ergeben können.
Wir können darüber hinaus nichts zu den insgesamt hieraus resultierenden Einnahmeminderungen sagen, weil
noch nicht endgültig absehbar ist, welche weiteren generellen Schlussfolgerungen sich aus den vom Kollegen
von Klaeden angekündigten Überprüfungen für den Betrieb von Kernkraftwerken in Deutschland ergeben. Die
sich allein aus dem Moratorium ergebenden möglichen
Mindereinnahmen im Bereich der Kernbrennstoffsteuer
sind in einer Größenordnung von circa 200 Millionen
Euro zu beziffern.
({0})
Ich nehme noch zwei Fragen zu diesem Themenbereich an; dann kommen wir zur Fragestunde. - Kollegin
Höfken.
Danke schön. - Herr Kollege von Klaeden, ich will
nur sagen: Rasches Handeln der Bundesregierung umfasst natürlich auch gesetzgeberisches Handeln. Insofern
fragen wir zu Recht nach den konkreten Handlungsoptionen der Bundesregierung. Ich finde, Sie müssen
unsere Frage zu dem beantworten, was die Kanzlerin
verkündet hat. Es geht um folgende Frage: An genau
welchen Punkten unterscheiden sich die Sicherheitsmerkmale der ältesten AKW, die zur Einstellung des Betriebes führen, von den Sicherheitsmerkmalen der weiterlaufenden AKW?
Wer antwortet?
Ich antworte, Frau Präsidentin.
Herr von Klaeden, bitte schön.
Ich beginne mit dem Hinweis auf meine vorherige
Antwort; denn Sie haben nahezu wörtlich die vorherige
Frage eines anderen Kollegen bzw. einer anderen Kollegin wiederholt. Insofern bleibt es bei meiner Antwort,
dass die Einschätzung der jeweils aufsichtsführenden
Behörde obliegt. Die Zuständigkeit für diese Behörden
liegt nach unserer Rechtsordnung bei den Ländern.
({0})
Der Kollege Miersch.
Ich habe eine Nachfrage im Hinblick auf das Moratorium und den geschlossenen Vertrag. Da können Sie
nicht auf die Länder verweisen, denn Sie von der Bundesregierung haben den Vertrag geschlossen, den Sie
jetzt offenkundig - zumindest augenblicklich, in den
nächsten drei Monaten - nicht erfüllen. Sie haben eben
gesagt, Sie gingen davon aus, dass die Bundesregierung
im ständigen Kontakt zu den vier Vertragspartnern steht.
Der Bundesumweltminister hat uns heute im Umweltausschuss erklärt, er stehe in keinem Kontakt.
({0})
Können Sie uns sagen, welche Ressorts augenblicklich
über den Vertrag mit den vier großen Energiekonzernen
verhandeln? Die Frage richtet sich auch an die anwesenden Regierungsmitglieder; vielleicht können sie uns erklären, welche Ressorts darüber verhandeln.
({1})
Ich stelle die Frage, weil Sie auf die weitere Nachfrage an anderer Stelle nicht genau geantwortet haben.
Herr Kollege, es ist ein Unterschied, ob man mit
Energieversorgungsunternehmen in Kontakt steht oder
mit ihnen Verhandlungen über Verträge führt.
({0})
Soweit mir bekannt ist, werden zurzeit keine Verhandlungen über Verträge geführt. Das ist auch ein Gebot der
Logik, denn zunächst einmal ist der Sinn des Moratoriums, die von mir schon mehrfach erwähnte grundlegende Überprüfung durchführen zu können. Aus dieser
Überprüfung wird man Konsequenzen ziehen. Das kann,
wie ich dem Kollegen Kelber schon erläutert habe, gesetzgeberischer Handlungsbedarf sein; es kann aber auch
eine Anpassung der Verträge sein. Ich würde aber - auch
vor dem Hintergrund meiner früheren anwaltlichen Tätigkeit - niemandem raten, in Vertragsverhandlungen
einzutreten, bevor man sich nicht Klarheit darüber verschafft hat, welches Ergebnis man in diesen Verhandlungen erreichen möchte. Das wiederum soll in der grundlegenden Überprüfung festgestellt werden, von der ich
jetzt schon öfter gesprochen habe.
Damit beende ich die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Fragestunde
- Drucksache 17/5015 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe die Fragen auf Drucksache 17/5015 in der
üblichen Reihenfolge auf, zunächst aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und
Technologie. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze bereit, der sich als besonders technikbegabt erwiesen hat.
Ich komme zur Frage 1 des Kollegen Koppelin:
Ist die Bundesregierung bereit, dem Land Schleswig-Holstein die Möglichkeit einzuräumen, im gesamten Bundesland
die Lagerung bzw. Verpressung von Kohlendioxid abzulehnen?
Bitte sehr.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Koppelin, der in der gemeinsamen Federführung von
BMU und BMWi erarbeitete Referentenentwurf sieht
die Begrenzung auf einige wenige Demonstrationsprojekte vor. Im Rahmen der laufenden Ressortabstimmung
wird derzeit geprüft, wie den berechtigten Interessen der
Länder bei der Steuerung der Nutzung des Untergrunds
noch weiter entgegengekommen werden kann. Hierzu
sind abschließende Aussagen noch nicht möglich.
Herr Kollege Koppelin, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, das Land Schleswig-Holstein hat
sich - das ist der Stand vom 11. März 2011 - mit dem
Bundesumweltministerium auf einen Gesetzestext und
eine Gesetzesbegründung geeinigt. Sehen Sie vom Bundeswirtschaftsministerium sich in der Lage, dem beizutreten, was dort vereinbart worden ist?
Die Bundesregierung bildet ihre Auffassung immer
gemeinsam. Dieser Meinungsbildungsprozess in der
Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen. Deshalb
kann ich heute auch noch keiner von Ihnen hier vorgetragenen Position beitreten.
Sie haben eine weitere Nachfrage.
Herr Staatssekretär, das ist ein Problem für das Land
Schleswig-Holstein, weil es über das größte Gebiet verfügt, auf dem diese Ablagerung stattfinden könnte. Daher frage ich: Gibt es Gespräche der Bundesregierung
mit der rot-grünen Landesregierung von NordrheinWestfalen? Schließlich würde das meiste CO2, das abgelagert werden müsste, aus Nordrhein-Westfalen stammen. Eigentlich müsste doch die rot-grüne Landesregierung von Nordrhein-Westfalen Wert darauf legen, dass
- ich sage das einmal mit meinen Worten - dieser Dreck
nicht in andere Bundesländer kommt. Gibt es Gespräche
oder sogar schon Übereinkünfte? Hat die rot-grüne Landesregierung von Nordrhein-Westfalen vielleicht schon
erklärt, dass sie solche Ablagerungen gar nicht will?
Das ist eine interessante Anregung. Mir ist die Position der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zu
dieser Frage nicht bekannt. Mir ist lediglich bekannt,
dass die Landesregierung von Brandenburg Interesse bekundet hat - darüber wurde diskutiert, aber das ist noch
nicht gefestigt -, eine solche Demonstrationsanlage in
Brandenburg zu errichten.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Koppelin auf:
Welche Risiken sind der Bundesregierung bei einer unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid bekannt?
Herr Hintze.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Koppelin, bei der unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid sind die Risiken von CO2-Leckagen und mögliche negative Auswirkungen von verdrängten Formationswässern zu
beachten. Nach der Richtlinie 2009/31/EG über die geologische Speicherung von Kohlendioxid, der CCSRichtlinie, und dem von mir in der ersten Antwort erwähnten Referentenentwurf eines CCS-Gesetzes ist die
Voraussetzung für die Zulassung eines Demonstrationsspeichers unter anderem, dass Gefahren für Mensch und
Umwelt nicht hervorgerufen werden können und Vorsorge gegen Beeinträchtigungen von Mensch und Umwelt nach dem Stand von Wissenschaft und Technik getroffen werden.
Sie haben eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, nach dem eben Vorgetragenen
frage ich: Teilen Sie meine Auffassung, dass dieses Gesetz auf jeden Fall im Bundesrat zustimmungspflichtig
ist?
Die Frage der Zustimmungspflichtigkeit kann erst
dann abschließend beantwortet werden, wenn der Gesetzentwurf von der Bundesregierung beschlossen
wurde. Also kann ich dazu heute noch keine Aussage
machen.
Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.
Aus aktuellem Anlass - das haben wir ja gerade eben
erlebt - gibt es Forderungen vor allem von Grünenpoliti10842
kern hinsichtlich weiterer Kohlekraftwerke. Daher
meine Frage: Was würden weitere Kohlekraftwerke für
die CO2-Ablagerung bedeuten?
Weitere Kohlekraftwerke würden die Klimabilanz in
Deutschland verschlechtern; es sei denn, es gelänge, die
CCS-Technologie in großem Stil einzusetzen und damit
Kohlekraftwerke klimaneutral oder nur mit geringen
Auswirkungen auf die Klimagasentwicklung zu betreiben. Aus Sicht der Bundesregierung sind das CCS-Gesetz und die Errichtung einer solchen Demonstrationsanlage wichtig, um diese Technologie, die dem
Klimaschutz dienen soll, hier im großen Stil zu entwickeln und zu erproben.
Der Kollege Ott hat eine Nachfrage dazu.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich bin dem Kollegen Koppelin sehr dankbar dafür, dass er diese Fragen
hier stellt. Ich möchte im Anschluss daran fragen, ob der
Bundesregierung bekannt ist, dass nach Untersuchungen
der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
- das ist eine bundeseigene Behörde - die Speicherkapazität von Kohlendioxid in deutschem Boden nicht mehr
als 25 bis 30 Jahre beträgt. Halten Sie es für sinnvoll,
eine solche Großtechnologie in Deutschland zu entwickeln, die neue Anlagen erfordert, die mindestens
ebenso groß sind wie die Kraftwerke, von denen sie das
Kohlendioxid abscheiden sollen? Es müssten riesige
Rohrleitungen durch Deutschland gezogen werden, damit das Kohlendioxid irgendwo in Schleswig-Holstein
verpresst werden kann, obwohl das nur für 25 oder
30 Jahre möglich ist. Was hält die Bundesregierung davon?
Hier verschränken sich verschiedene Fragekomplexe
ineinander. Ich möchte zuerst darauf hinweisen, dass wir
gezwungen sind, die CCS-Richtlinie in deutsches Recht
umzusetzen. Es handelt sich dabei um eine europäische
Richtlinie; das ist europäisches Recht. Dann muss die
Umsetzung auch in Deutschland erfolgen. Dazu sind wir
verpflichtet. Das ist Punkt eins.
Punkt zwei. Ob es dann auf der Grundlage des Gesetzes - ich habe ja gesagt, dass wir einen Referentenentwurf formuliert haben und dass wir vor der Erstellung
des Regierungsentwurfs stehen - Anträge auf die Errichtung einer solchen Demonstrationsanlage geben wird
oder nicht, werden wir sehen. Nach dem jetzigen Stand
wird es einen solchen Antrag geben. Der wird dann geprüft, und wie ich in der Antwort auf die zweite Frage
des Kollegen Koppelin dargelegt habe, ist die Beachtung
der Sicherheitsaspekte - wozu auch die dauerhafte Speicherfähigkeit gehört - Voraussetzung für die Genehmigung einer solchen Anlage. Das wird im Genehmigungsverfahren zu prüfen sein.
Dann kommen wir zur Frage 3 des Kollegen
Ostendorff:
Wie bewertet der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie aus wirtschaftspolitischer Sicht die Begründung der
Direktzahlungen der ersten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik als Einkommenshilfe für Landwirte, wie sie von der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zur Mitteilung der Europäischen Kommission „Die GAP bis 2020“ vorgenommen
wird?
Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Ostendorff, die
Direktzahlungen der ersten Säule entsprechen den Zielen
des Lissabon-Vertrages - ich verweise auf Art. 39
AEUV -, dass unter anderem der landwirtschaftlichen
Bevölkerung eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten ist. In Deutschland werden die landwirtschaftlichen Direktzahlungen spätestens nach 2013 vollständig unabhängig von der Produktion gewährt, und
somit wird der Weg zu einer wettbewerbsfähigen und
marktorientierten Landwirtschaft weiter verfolgt. Damit
werden neben einem Beitrag zur Einkommenssicherung
auch höhere, gesellschaftlich erwünschte Standards - öffentliche und nicht über den Markt honorierte Leistungen der Landwirtschaft - abgegolten. Zu diesen zählen
die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit mit
Nahrungsmitteln, der Beitrag zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen oder die Aufrechterhaltung des
Schutzes und der Erholungsfunktion der Landschaft.
In Deutschland tragen die Direktzahlungen zurzeit
noch wesentlich zu den landwirtschaftlichen Einkommen bei. In Zukunft werden sie sich auch wegen der Anforderungen der neuen EU-Mitgliedstaaten weiter verringern. Zurzeit federn sie auch Marktschwankungen mit
ab und erleichtern den Landwirten den weiteren Übergangsprozess zur Marktorientierung.
Sie haben eine Nachfrage? - Bitte schön.
Schönen Dank, Herr Staatssekretär Hintze. - Wenn
Sie das als tragfähige Politik darstellen, direkte Einkommenshilfen für Landwirte zu gewähren, führt mich das
zu der Frage, ob das Bundeswirtschaftsministerium
glaubt, dass das nach 2013, in der nächsten Finanzierungsperiode, als Begründung für diese Einkommenshilfen ausreichen wird.
Ja, das glaube ich.
Aus wirtschaftspolitischer Sicht sind solche Direktzahlungen für die eben von mir genannten Zwecke
- Einkommenssicherung; dazu kommen noch Zwecke,
die nicht über den Marktpreis zu erreichen sind - besser
als Eingriffe in den Markt-Preis-Mechanismus. DesweParl. Staatssekretär Peter Hintze
gen ist diese gemeinsame Position der Bundesregierung
auch aus wirtschaftspolitischer Sicht vernünftig und
wird von meinem Haus mitgetragen.
Sie haben noch eine weitere Nachfrage. - Bitte schön.
Wir als Grüne sind ja gemeinhin unverdächtig,
marktradikal aufzutreten.
Stimmt.
Aber wir müssen feststellen, dass auf den Agrarmärkten die Preise und damit die Erlöse sehr deutlich angezogen haben. Auch alle Langfristprognosen gehen davon
aus, dass Agrarrohstoffe sehr gute Preise am Markt erzielen werden und damit auch sehr gute Einkommen ermöglichen. Deshalb noch einmal die Frage, mit welchem
Argument das Bundeswirtschaftsministerium angesichts
steigender Rohstoffpreise die direkte Einkommenshilfe
begründen will.
Ich glaube, es würde den Rahmen der Fragestunde
sprengen, wenn wir hier jetzt alle Zusammenhänge der
Gemeinsamen Agarpolitik behandelten. Wir haben ja
auch ein Ressort, das dafür zuständig ist.
Ich habe mich darauf konzentriert, Ihre wirtschaftspolitische Frage zu beantworten, und sage: Wenn man zu
einer Unterstützungsmaßnahme greifen will, dann ist die
wirtschaftspolitisch neutralste die, nicht in den MarktPreis-Mechanismus einzugreifen - Sie haben ja eben selber geschildert, dass er in zunehmendem Maße funktioniert -, sondern dies über Direktzahlungen zu leisten.
Das ist eine gemeinsame Position der Bundesregierung,
die das Bundeswirtschaftsministerium mitträgt.
Nun folgen eine Reihe von Fragen, die schriftlich beantwortet werden: die Frage 4 der Kollegin Lazar, die
Fragen 5 und 6 der Kollegin Högl, die Frage 7 der Kollegin Wicklein, die Frage 8 des Kollegen Duin, die
Frage 9 der Kollegin Keul, die Frage 10 des Kollegen
Nink und die Frage 11 des Kollegen Krischer.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Fragen 12 und
13 der Kollegin Mast werden schriftlich beantwortet.
Die Fragen 14 und 15 der Kollegin Hiller-Ohm werden
ebenso wie die Fragen 16 und 17 der Kollegin Silvia
Schmidt schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 19 der Kollegin Crone auf:
Wie hat sich die Lage von Ausländern bzw. Personen mit
Migrationshintergrund im Leistungsbezug gemessen an der
Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit und Hilfebedürftigkeit in
der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Vermittlung
in Ausbildung, Arbeit oder eine Selbstständigkeit seit der erstmaligen Durchführung eines Integrationsgipfels im Jahr 2006
entwickelt, und wie bewertet die Bundesregierung die Situation?
Hier steht der Parlamentarische Staatssekretär
Brauksiepe zur Verfügung.
Ich bitte um Beantwortung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin
Crone, grundsätzlich gilt, dass zuverlässige statistische
Aussagen zur Lage von Personen mit Migrationshintergrund im deutschen Arbeitsmarkt noch nicht getroffen
werden können, da das Merkmal Migrationshintergrund
in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit derzeit
noch nicht erfasst wird. Deshalb beziehen sich alle folgenden Aussagen auf Ausländer.
Seit dem Jahr 2006, in dem der erste Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin stattfand, hat sich die Arbeitsmarktlage von Ausländern insgesamt positiv entwickelt.
So sank die Zahl der arbeitslosen Ausländer zwischen
2006 und 2010 von circa 645 000 auf rund 502 000. Die
Arbeitslosenquote der Ausländer bezogen auf abhängige
zivile Erwerbspersonen sank in diesem Zeitraum von
23,7 Prozent auf 18,2 Prozent. Gleichzeitig stieg die
Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Ausländer um rund 200 000 von rund 1,78 Millionen auf
etwa 1,93 Millionen an.
Die Anzahl der ausländischen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen sank zwischen Juni 2006 und Juni 2010
ebenfalls spürbar, von 1,01 Millionen auf 984 000. Die
Zahl der jährlichen Abgänge von Ausländern aus Arbeitslosigkeit in Erwerbstätigkeit stieg von rund 354 000
im Jahr 2007 auf circa 379 000 im Jahr 2010. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die Zahl der jährlichen Abgänge von Ausländern in Ausbildung und in sonstige
Maßnahmen von 182 000 auf rund 329 000.
Die positive Entwicklung der Arbeitsmarktsituation
von ausländischen Erwerbspersonen in Deutschland ist
erfreulich und zeigt deutlich, dass auch die Ausländerinnen und Ausländer von der stabilen wirtschaftlichen Erholung und dem kräftigen Aufschwung am deutschen
Arbeitsmarkt profitieren. Dennoch liegt die Arbeitslosenquote von Ausländern noch immer signifikant höher
als die der Deutschen. Sie betrug im Januar 2011
15,9 Prozent gegenüber 7,3 Prozent.
Auch im Bereich der Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gibt es weiterhin
Handlungsbedarf. Im Jahr 2009 lag die Ausbildungsbeteiligungsquote junger Ausländer mit 31,4 Prozent deutlich unter der der deutschen jungen Menschen mit
64,3 Prozent. Die Bundesregierung wird deshalb trotz
teilweise positiver Trends in ihren vielfältigen Anstrengungen für eine verbesserte Ausbildungs- und Arbeits10844
marktintegration von Migrantinnen und Migranten nicht
nachlassen.
Gibt es eine Nachfrage?
Ja. - Herr Staatssekretär, welche Bedeutung misst die
Bundesregierung angesichts der Situation von Personen
mit Migrationshintergrund Diversity-Management-Modellen in Betrieben zu?
Frau Kollegin, es kann, glaube ich, nicht darum gehen, bestimmte Maßnahmen oder Programme in ein
Ranking einzuordnen. Die weitere Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat trotz der unbestreitbar erzielten großen
Erfolge auf dem Arbeitsmarkt für die Bundesregierung
nach wie vor oberste Priorität. Das gilt für arbeitslose
Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen. Uns stehen in diesem Bereich verschiedene
Maßnahmen zur Verfügung.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte schön.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer
Antwort die unterschiedliche Ausbildungsbeteiligung
angesprochen. Ich würde Sie gerne fragen, welche
Gründe die Bundesregierung dafür sieht, dass die Beteiligung und die Chancen von Personen mit Migrationshintergrund so viel geringer sind. Vor allem bitte ich Sie,
etwas konkreter als in Ihrer vorigen Antwort deutlich zu
machen, welche Maßnahmen Sie ergreifen, um hier gegenzusteuern.
Herr Kollege, dieses Problem wird vermutlich nicht
monokausal zu erklären sein. Für die Bundesregierung
steht im Vordergrund, Maßnahmen zu ergreifen, um
Menschen in Ausbildung und Arbeit zu bringen. Ich
will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass
es im Hinblick auf die Beschäftigung von Menschen,
bei dem Versuch, Menschen in Ausbildung und Arbeit
zu bringen, nicht darum gehen darf, in Schubladen zu
denken nach dem Motto: hier die Menschen mit Migrationshintergrund, dort die Menschen ohne Migrationshintergrund. Vielmehr richten sich die umfangreichen
Anstrengungen, die die Bundesregierung, die Bundesagentur für Arbeit und die anderen Akteure wie Wirtschaft und Gewerkschaften unternehmen, um Menschen
in Ausbildung zu bringen, an alle ausbildungswilligen
und ausbildungsfähigen Menschen. Ich denke, dies
muss im Mittelpunkt stehen. Wir haben ein umfangreiches Instrumentarium. Es geht darum, die individuell
ganz unterschiedlichen Hemmnisse zu beseitigen, unabhängig davon, welches Hemmnis in diesem oder jenem
Einzelfall besteht.
Danke, Herr Staatssekretär.
({0})
- So wie ich es sehe, ist Ihr Fragerecht aufgebraucht.
({1})
Jetzt rufe ich die Frage 18 des Kollegen Dr. Ilja
Seifert auf:
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Forderungen des
Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, nach einer schnellen Überprüfung der Regelsätze für erwerbsgeminderte behinderte Menschen über 25 Jahre und einer Zahlung des vollen Regelsatzes
an diesen Personenkreis in Höhe von 364 Euro statt 291 Euro,
da es nach seiner Auffassung weder nachvollziehbar noch gerecht ist, dass behinderte Menschen schlechtergestellt werden
als über 25-jährige Hartz-IV-Bezieher, die noch bei den Eltern
wohnen ({2})?
Herr Kollege Seifert, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Nach der im Rahmen des Vermittlungsverfahrens
abgegebenen Protokollerklärung ist zu prüfen, ob für
behinderte Menschen, die keinen eigenen Haushalt führen, weil sie im Haushalt ihrer Eltern leben, anstelle der
Regelbedarfsstufe 3 die Regelbedarfsstufe 1 gelten
kann. Der zugrunde liegende Sachverhalt ist vielschichtig und bedarf einer eingehenden Prüfung. Insbesondere
sind mögliche Folgewirkungen in die Prüfung einzubeziehen. Die Bundesregierung kann dem Ergebnis der erforderlichen Prüfung deshalb nicht vorgreifen.
Danke schön. - Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich kann Ihre Antwort nicht so
recht verstehen. Sie haben die Regelbedarfsstufe 3 gerade erst eingeführt. Gleichzeitig sagen Sie, Sie wollten
sie überprüfen mit der Zielstellung der Abschaffung. Sie
hätten sie doch gar nicht erst einführen müssen; dann
wäre die ganze Prüferei nicht notwendig. Insofern lautet
meine Frage, wie Sie die Anregung Ihres eigenen Behindertenbeauftragten, dies möglichst schnell zu tun, aufgreifen. Oder hat er überhaupt nichts zu sagen?
Herr Kollege Seifert, Ihre Frage beruht auf einer falschen Voraussetzung, nämlich darauf, dass wir die
Regelbedarfsstufe 3 erst jetzt eingeführt hätten. Davon
kann keine Rede sein.
({0})
Es ist seit langem so - dies wurde vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als berechtigt und angemessen anerkannt -, dass bei erwachsenen Leistungsberechtigten eine Unterscheidung getroffen wird, je nachdem,
ob allein ein eigener Haushalt geführt wird, ob gemeinsam mit einem Partner ein eigener Haushalt geführt wird
oder ob kein eigener Haushalt geführt wird. Diese Unterscheidung ist nicht neu und hat mit den von Bundestag
und Bundesrat jüngst beschlossenen Maßnahmen nichts
zu tun.
({1})
Danach richten sich die Regelbedarfsstufen schon seit
Jahren. Erwachsene Leistungsberechtigte, die alleine einen Haushalt führen, bekommen 100 Prozent des Regelsatzes, solche, die gemeinsam mit einem Partner einen
Haushalt führen, 90 Prozent, und solche, die keinen eigenen Haushalt führen, erhalten 80 Prozent des Regelsatzes.
Die Rechtslage ist seit Jahren so, dass Personen über
25 Jahren im Rechtskreis des SGB II 100 Prozent des
Regelsatzes gewährt werden; im Rechtskreis des
SGB XII ist dies nicht der Fall. Es hat Gerichtsentscheidungen gegeben, die notwendigerweise Einzelfallentscheidungen waren, in denen Menschen ein Regelsatz
von 100 Prozent zugesprochen worden ist, weil das Gericht moniert hat, dass die Gründe, weswegen der Gesetzgeber im SGB II anders verfährt als im SGB XII,
nicht hinreichend deutlich geworden sind.
Im Rahmen des jetzt abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahrens hat der Gesetzgeber diese Gründe deutlich gemacht, indem er insbesondere darauf hingewiesen
hat, dass von Menschen im Rechtskreis des SBG II, die
erwerbsfähig sind, im Rahmen des Förderns und Forderns auch Anstrengungen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erwartet werden, die mit Kosten verbunden sein
können. Vor diesem Hintergrund muss ich noch einmal
die in Ihrer Frage angelegte Behauptung zurückweisen,
dass eine solche Regelbedarfsstufe neu eingeführt worden sei. Es hat sie schon vorher gegeben.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich habe das hier verkürzt dargestellt; das gebe ich
gerne zu. Allerdings haben Sie die Menschen mit Behinderung, die nicht erwerbsfähig sind, neu in die
Regelbedarfsstufe 3 hineingenommen. Das wird wohl
nicht zu bestreiten sein; denn vorher sind bei diesen
Personen die 20 Prozent nicht abgezogen worden.
Ich will auf Folgendes hinweisen: Hier im Plenum
gab es, als ich diese Frage bereits während des Gesetzgebungsverfahrens stellte - und das wurde beispielsweise
von Kollegin Ulla Schmidt von der SPD unterstützt -,
relativ großes Verständnis dafür, dass man es so eigentlich nicht machen sollte. Darüber ist in dem Moment natürlich nicht abgestimmt worden; aber das war ziemlich
deutlich. Dann haben Sie diese merkwürdige Protokollnotiz gemacht, in der im Grunde steht: Wir sehen, dass
diesbezüglich ein Problem besteht, und werden das überprüfen und lösen mit dem Ziel - das steht in der Protokollnotiz sinngemäß -, wieder auf 100 Prozent zu kommen.
Unter diesen Umständen frage ich Sie, wie Sie oder
Ihre Beamten - wer auch immer sich das ausgedacht
hat - dazu kommen, dass Menschen, die nicht erwerbstätig sein können und zum Beispiel im Haushalt ihrer Eltern wohnen und schon 25 Jahre alt sind, weniger Geld
brauchen als andere. Diese Menschen brauchen eher
mehr Geld; denn sie müssen Assistenz und sonstige
Hilfe bezahlen. Das ist die Frage, die dahintersteckt. Ihr
Behindertenbeauftragter - darauf bezog sich meine ursprüngliche Frage - steht auf dem gleichen Standpunkt.
Auch er fragt sich, warum Sie diese Menschen schlechterstellen als andere, die die gleichen Bedürfnisse haben.
Herr Kollege Seifert, ich korrigiere Sie zwar nur ungern, muss aber gleichwohl noch einmal darauf hinweisen, dass das Lebensalter von 25 Jahren schon vor den
jüngsten Beschlüssen des Vermittlungsausschusses von
Bundestag und Bundesrat eine relevante Größe im
SGB II gewesen ist - aber auch nur im SGB II, nicht im
SGB XII. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, auf die Menschen mit Behinderung
vom vollendeten 18. Lebensjahr an dem Grunde nach
Anspruch haben, kennt die Altersgrenze von 25 Jahren
nicht. Das will ich noch einmal betonen. Deswegen ist
Ihre Darstellung, sofern sie diesen Sachverhalt ausschließt, unzutreffend.
Ich möchte Sie im Zusammenhang mit dieser Frage
darauf hinweisen, dass die Bundesregierung den Arbeitsauftrag aus dem Vermittlungsausschuss, wie er sich
in der Protokollerklärung dokumentiert, selbstverständlich mitnimmt, dass sie aber nicht in der Lage ist, sozusagen aus der Lamäng heraus den Gleichheitsgrundsatz
zu ignorieren. Denn dieser bedeutet nicht nur, dass Gleiches gleich behandelt werden muss, sondern auch, dass
Ungleiches ungleich behandelt werden muss. Deswegen
sind in diesem Zusammenhang viele Aspekte zu beachten, Herr Kollege Seifert.
Es gibt, wie Sie selbst sehr wohl wissen, im Rechtskreis des SGB XII nicht nur Menschen, die behindert
sind, sondern darüber hinaus auch solche, die aufgrund
anderer Umstände nicht erwerbsfähig sind. Wenn eine
Regelung ausschließlich für Menschen über 25 Jahre
eingeführt werden soll, stellt sich unter dem Aspekt der
Gleichbehandlung die Frage, warum diese Regelung nur
für über 25-Jährige, nicht aber auch für über 18-Jährige
gelten soll. Im SGB XII gibt es diese Unterscheidung
zwischen über 18-Jährigen und über 25-Jährigen bisher
nicht; im SGB II gibt es sie.
Es stellt sich also die Frage, ob der Rechtskreis
SGB II oder der Rechtskreis SGB XII maßgebend ist. Es
stellt sich die Frage, ob das auch schon für Menschen
über 18 oder erst für Menschen über 25 Jahre gelten soll.
Bezüglich derjenigen im Rechtskreis SGB XII stellt sich
die Frage, ob sie aufgrund einer Behinderung oder aus
anderen Gründen nicht erwerbsfähig sind. In all diesen
Fällen muss man prüfen, ob gleiche Sachverhalte vorliegen, die gleich zu behandeln sind, oder ob es sich um ungleiche Sachverhalte handelt, die ungleich zu behandeln
sind. Von daher ist die Frage, wie man hier zu einer gerechten Lösung kommt, nicht einfach mit dem Hinweis
darauf zu beantworten, dass wir speziell für Menschen
mit Behinderungen ab einem Alter von 25 Jahren die
Regelbedarfsstufe 3 durch die Regelbedarfsstufe 1 ersetzen. Das ist eine denkbare Lösung am Ende eines Prüfprozesses, der andauert und dessen Lösung ich hier nicht
vorgreifen kann.
Danke, Herr Staatssekretär. - Die Fragen 20 und 21
des Kollegen Michael Groß, die Fragen 22 und 23 der
Kollegin Ute Kumpf sowie die Fragen 24 und 25 der
Kollegin Aydan Özoğuz sollen schriftlich beantwortet
werden.
Wir kommen damit zur Frage 26 des Kollegen
Rüdiger Veit:
Aus welchem Grund hat die Bundesregierung der Tatsache nicht systematisch entgegengewirkt, dass in den Grundsicherungsstellen nur vereinzelt Strategien und Konzepte zum
Umgang mit migrationsspezifischen Problemen existieren,
obwohl rund 30 Prozent der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen
einen Migrationshintergrund aufweisen, und wie werden Optionskommunen eingebunden, wenn es darum geht, Strategien und Konzepte zum Umgang mit migrationsspezifischen
Problemen zu entwerfen und in die Praxis umzusetzen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr
Kollege Veit, mit Ihrem Einverständnis möchte ich die
Fragen 26 und 27, die in einem engen Zusammenhang
stehen, gerne gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich zusätzlich die Frage 27 des Kollegen
Veit auf:
In wie vielen Jobcentern bzw. Optionskommunen existieren derzeit Integrationsbeauftragte, und welche Tätigkeiten
verrichten diese?
Herr Kollege, ich antworte Ihnen auf Ihre Fragen wie
folgt: In der Grundsicherung für Arbeitsuchende gilt der
Grundsatz der dezentralen Aufgabenwahrnehmung und
Verantwortung. Dies betrifft grundsätzlich auch den Umgang mit spezifischen Problemlagen, wie sie bei der Arbeitsmarktintegration von erwerbsfähigen hilfebedürftigen Menschen mit einem Migrationshintergrund
auftreten können. Strategien und Konzepte zum Umgang
mit migrationsspezifischen Problemen werden grundsätzlich lokal entwickelt und praktisch umgesetzt. Dies
gilt sowohl für gemeinsame Einrichtungen als auch für
Optionskommunen. Die Bundesregierung unterstützt die
lokalen Handlungsansätze entsprechend den Festlegungen im nationalen Integrationsplan.
Auch über die Frage, ob und inwieweit die Arbeit vor
Ort dadurch unterstützt werden soll, dass besondere Beauftragte benannt werden, wird von den vor Ort Verantwortlichen entschieden. Sie befinden auch darüber, mit
welchen konkreten Aufgaben die Beauftragten betraut
werden. Die Bundesregierung führt insoweit keine Übersichten.
Sie haben jetzt insgesamt vier Nachfragemöglichkeiten. Bitte schön.
Zwei werden möglicherweise reichen.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, wie jenseits dieser dezentralen, lokalen Aufgabenwahrnehmung
aus der Sicht der Bundesregierung die spezifische Beratung gerade von Menschen mit Migrationshintergrund in
den Jobcentern und bei den Argen unterstützt wird?
Herr Kollege Veit, ich habe bei der Beantwortung einer anderen Frage schon darauf hingewiesen, dass die
Bundesregierung nicht versucht, Schubladen für bestimmte Personengruppen zu bilden, sondern dass wir
mit dem umfangreichen arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium, das wir haben, versuchen, jedem einzelnen
Arbeitslosen in seiner spezifischen Problemlage gerecht
zu werden.
Der Migrationshintergrund mag in dem einen Fall
mehr und in dem anderen Fall weniger problematisch
sein. Er kann auch in unterschiedlichem Maße mit
Sprachproblemen einhergehen. Ich habe auch schon darauf hingewiesen, dass wir eine Vielzahl von Maßnahmen haben, die nicht speziell auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgerichtet sind, ihnen aber in
besonderer Weise zugutekommen. Denken Sie nur an
den Rechtsanspruch auf das Nachholen eines Hauptschulabschlusses, den wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam eingeführt haben und der sehr hilfreich
ist, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Wenn Sie
sehen, wie groß der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an Hauptschülern ist, dann erkennen
Sie, dass von dieser Maßnahme, die nicht speziell auf
Menschen mit Migrationshintergrund ausgerichtet ist,
diese Personengruppe in der Praxis überproportional
profitiert. So ist das auch in anderen Bereichen.
Wir haben vorgeschaltete Maßnahmen, beispielsweise Sprachkurse, die vom Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge administriert werden, um bei Menschen
mit Migrationshintergrund häufig auftretende Sprachbarrieren zu beseitigen. Wenn mit der Beseitigung dieser
Sprachbarrieren die Integration in den Arbeitsmarkt
noch nicht gelingt, können die für alle Arbeitslosen zugänglichen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik genutzt
werden. Auf diese Weise versuchen wir, mit dem umfangreichen Instrumentarium, das wir haben, jeweils
passgerechte Lösungen zu finden.
Ihre zweite Nachfrage.
Haben Sie Erkenntnisse darüber, inwieweit die Möglichkeit, durch die erwähnten Kurse beim BAMF Spracherwerb nachzuholen, von den Betroffenen ausgeschlagen
bzw. nicht genutzt wird?
Mir ist bekannt, dass diese Instrumente von zahlreichen Personen genutzt werden. Eine prozentuale Aufstellung, inwieweit solche Angebote ausgeschlagen werden, um Ihre Formulierung aufzugreifen, ist mir nicht
bekannt.
Sie haben die Möglichkeit zu einer weiteren Nachfrage.
Danke sehr.
Dann danke ich dem Staatssekretär.
Die Frage 28 des Kollegen Oliver Kaczmarek, die
Frage 29 der Kollegin Bärbel Bas, die Fragen 30 und 31
des Kollegen Michael Gerdes, die Frage 32 der Kollegin
Doris Barnett sowie die Fragen 33 und 34 der Kollegin
Sabine Zimmermann sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf. Die Fragen 35 und 36 der Kollegin Kerstin
Tack, die Fragen 37 und 38 der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann sowie die Fragen 39 und 40 der Kollegin Rita
Schwarzelühr-Sutter sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian
Schmidt zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 41 der Kollegin Inge Höger:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die
Verstrickung der Bundeswehr in Vorfälle im afghanischen
Distrikt Chahar Darreh am Mittwoch, dem 9. März 2011, die
nach Medienangaben zum Tod einer Frau sowie der Verletzung einer zweiten führten?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich komme noch einmal auf die Sachverhaltsdarstellung
zurück. Am 9. März 2011 ereigneten sich im Distrikt
Chahar Darreh in der Provinz Kunduz folgende drei Vorfälle:
Erstens. Gegen 10.18 Uhr Ortszeit bzw. 6.48 Uhr mitteleuropäischer Zeit wurden deutsche Kräfte der Schutzkompanie des regionalen Wiederaufbauteams etwa 7 Kilometer südwestlich der Stadt Kunduz im Distrikt
Chahar Darreh mit Handwaffen und Panzerabwehrhandwaffen angegriffen.
Zweitens befand sich zeitgleich zu diesem Vorfall
eine weitere Patrouille in der 1 300 Meter südwestlich
vom Anschlagsort gelegenen Ortschaft Durham, um dort
die Fortschritte der Arbeiten an einem Projekt aufzunehmen und zu überprüfen. Auf ihrem Rückweg beobachtete diese Patrouille, wie eine offenbar schwerverletzte
Frau aus einem Anwesen herausgetragen und bei einer
Brücke abgelegt wurde. Durch die bei der Patrouille eingesetzte Ärztin erfolgte eine erste Versorgung. Eine weitere leichtverletzte Frau wurde dem PRT Kunduz gemeldet. Die schwerverletzte Frau erlag noch am selben Tag
ihren Verletzungen. Die leichtverletzte Frau wurde am
10. März 2011 ebenfalls im Rettungszentrum des PRT
Kunduz behandelt. Ein operativer Eingriff war nicht erforderlich.
Drittens wurden bei Durham etwa zeitgleich zum Heraustragen der schwerverletzten Frau mehrere Warnschüsse in die Luft abgegeben. Grund war ein für die eigenen Kräfte bedrohlich erscheinender Motorradfahrer,
der sich in schneller Fahrt aus Richtung des Gefechts bei
Chahar Darreh der Ortschaft Durham näherte. Nach derzeitigem Ermittlungsstand ist auszuschließen, dass die
Verletzungen der bei Durham schwerverletzt aufgefundenen Frau aus einer deutschen Waffenwirkung im Zusammenhang mit dem Angriff auf die deutsche Patrouille bei Chahar Darreh resultieren. Auch von einer
aufgrund eines anderen Zusammenhangs bestehenden
deutschen Waffenwirkung kann nicht ausgegangen werden. Bei der am Knie verletzten Frau ist nicht auszuschließen, dass die Knieverletzung durch sekundäre
Splitterwirkung infolge des Feuerkampfes erfolgte. Eine
direkte Waffenwirkung ist aber aufgrund des Verletzungsmusters unwahrscheinlich.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Ich habe eine Nachfrage zu der Frau, die später verstorben ist. Dabei stellt
sich nicht nur die Frage, ob das mit deutschen Waffen im
Zusammenhang stand, sondern auch, ob es überhaupt im
Zusammenhang mit militärischen Zwischenfällen stand.
Frau Kollegin, davon ist nicht auszugehen. Das ist
allerdings sehr schwierig zu ermitteln, weil die schwerverletzte Person, die von der Ärztin beim PRT erstversorgt worden ist, durch zivile Kräfte zum PRT Kunduz
transportiert wurde. Sie traf um 11.25 Uhr im PRT ein,
wurde sofort im Rettungszentrum behandelt, wo sie bereits kurz darauf, um 11.54 Uhr, an den Folgen einer
schweren Kopfverletzung gestorben ist. Sie wurde um
13.25 Uhr den Angehörigen übergeben.
Nach dem schriftlichen Bericht kann derzeit nach
menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden, dass
die Verletzungen der verstorbenen Frau aus deutscher
Waffenwirkung resultieren. Wieso ist das der Fall? Neben der Tatsache, dass die Verletzte circa 1 300 Meter,
also einen guten Kilometer, vom Anschlagsort entfernt
aufgefunden wurde, schließt die Art der Verletzung, die
bei der Untersuchung der beim PRT Kunduz an einer
schweren Kopfverletzung verstorbenen Frau festgestellt
wurde, eine Schussverletzung oder einen Querschläger
nahezu aus. In der Wunde wurden keine Projektile oder
Splitter aufgefunden. Auch die Wundränder wiesen
keine Anhaltspunkte für eine Schussverletzung auf.
Eine Obduktion konnte nicht vorgenommen werden.
Wir wissen, dass das Begräbnis der Verstorbenen den
kulturellen und den muslimischen Gebräuchen in Afghanistan entsprechend zeitnah erfolgt ist. Das wurde nicht
von der Bundeswehr oder anderen Stellen, sondern von
den Angehörigen organisiert. Eine definitive Klärung
der Verletzungsursache ist also nur noch sehr schwer
möglich. Dazu bedarf es unter anderem entsprechender
Gespräche mit der betroffenen Familie, die frühestens
nach Abschluss der landesüblichen Trauerzeit von drei
Tagen nach Durchführung des Begräbnisses beginnen
können. Dies wollen wir natürlich respektieren. Zur
Stunde und in diesen Tagen werden diese Gespräche geführt werden.
Bei der am Knie verletzten Frau ist nicht auszuschließen, dass die Knieverletzung möglicherweise durch
Splitterwirkung erfolgt ist. Die beiden Damen waren
aber nicht unmittelbar räumlich nebeneinander; es sind
vielmehr zwei getrennt zu betrachtende Situationen und
Schicksale.
Ihre zweite Frage? - Sie verzichten. Dann danke ich
dem Herrn Staatssekretär.
Die Frage 42 des Kollegen Hans-Christian Ströbele
sowie die Fragen 43 und 44 der Kollegin Nicole Gohlke
zu diesem Geschäftsbereich sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf. Die
Frage 45 der Kollegin Monika Lazar sowie die
Fragen 46 und 47 der Kollegin Hilde Mattheis werden
ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich rufe damit den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Zur Beantwortung der
Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Daniel
Bahr zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 48 des Kollegen Dr. Ilja
Seifert:
Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass
pflegebedürftige Menschen, insbesondere Menschen mit anerkannter Pflegestufe nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch,
zu dem Personenkreis gehören, die von der UN-Behindertenrechtskonvention betroffen sind, und welche Konsequenzen
hat dies für die anstehende Pflegereform sowie die Entwicklung der Behindertenpolitik?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Dr. Seifert, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Jeder
pflegebedürftige Mensch im Sinne des Sozialgesetzbuches XI dürfte auch als Mensch mit Behinderung im
Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gelten. Es
sind noch keinerlei Festlegungen über die Inhalte einer
Pflegereform getroffen worden, sodass auch über Maßnahmen im Einzelnen noch keine Auskunft gegeben
werden kann.
Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, wenn Sie die Auffassung teilen,
dass pflegebedürftige Menschen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zu den Menschen mit Behinderungen gehören, und wenn Sie jetzt sagen, dass noch
keinerlei Festlegungen getroffen worden seien, wundere
ich mich, dass Sie nicht zumindest darauf verweisen,
dass eine Regierungskommission einen neuen Pflegebegriff erarbeitet hat, der im Januar 2009 vorgestellt
wurde. Im Zuge dessen wurde die Pflegedefinition ausdrücklich auf Teilhabeermöglichung umgestellt. Volle
Teilhabe zu ermöglichen, ist einer der zentralen Begriffe
der UN-Behindertenrechtskonvention. Kann nicht zumindest als gesetzt gelten, dass das bei der Pflegereform
eine entscheidende Rolle spielen muss?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch die Entscheidung über einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ist
noch nicht erfolgt. Sie haben von Gutachten und Diskussionen, wie ein Pflegebedürftigkeitsbegriff ausgestaltet
werden kann, gesprochen. Aber die Entscheidungen sind
noch nicht erfolgt. Im Rahmen der anstehenden gesetzlichen Vorhaben wird zu berücksichtigen sein, dass der
Pflegebedürftigkeitsbegriff neu gefasst wird. Aber da die
Entscheidungen noch nicht getroffen sind, können auch
keine Aussagen darüber getroffen werden, welche Auswirkungen ein neuer Pflegebegriff auf die Hilfe zur
Pflege nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches
haben bzw. welcher Pflegebegriff künftig dem SGB XII
zugrunde gelegt werden wird.
({0})
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, es war nicht irgendein Gutachten
von irgendeiner Kommission, sondern es war das Gutachten der Kommission, die Gohde-Kommission geDr. Ilja Seifert
nannt werden kann, die von der Bundesregierung eingesetzt wurde, die sehr lange und sehr intensiv gearbeitet
und ein Ergebnis hervorgebracht hat, das innerhalb der
Kommission weitgehend unumstritten war. Es war also
nicht irgendein Gutachten oder irgendein Ergebnis. Ob
Sie das als eine von Dutzenden Möglichkeiten sehen
oder ob Sie als die favorisierte Variante des Gesundheitsministeriums betrachten, dass wir Teilhabe ermöglichen
wollen und mit Pflege nicht nur satt, still und sauber
meinen, müsste doch zumindest aussagbar sein.
Bitte, Herr Staatssekretär.
Lieber Kollege Seifert, Sie fragen sehr geschickt und
wollen, obwohl es noch keine Entscheidung der Bundesregierung gibt, diese doch irgendwie herauskitzeln.
({0})
- Selbstverständlich. - Aber da es bisher keine Entscheidung gibt, kann ich nicht darüber spekulieren, welche
Entscheidung zu erwarten ist. Ich habe damit auch nicht
das angesprochene Gutachten abwerten wollen, sondern
ich habe nur gesagt, dass das Gutachten noch keine Entscheidung bedeutet. Es hilft vielmehr bei der Entscheidungsfindung und fließt in diese ein. Wir begrüßen die
Vorschläge, die in dem Gutachten gemacht werden; aber
die Entscheidung über die verschiedenen Wege, die vorgeschlagen worden sind, muss jetzt die Bundesregierung
treffen. Das tun wir in diesem Jahr, im Jahr der Pflege.
Der Bundesgesundheitsminister hat dieses Jahr zum Jahr
der Pflege ausgerufen. Wir sind in mehreren Fragen, die
die Pflegeversicherung und das Pflegewesen in Deutschland beschäftigen, bei der Vorbereitung eines Gesetzgebungsverfahrens. Auch die Frage des Pflegebedürftigkeitsbegriffs spielt dort eine zentrale Rolle.
Wie gesagt: Eine konkrete Entscheidung, wie der
Pflegebedürftigkeitsbegriff zukünftig gefasst ist, ist noch
nicht getroffen. Einfließen werden die Erkenntnisse aus
dem Gutachten. Das Gutachten selbst aber stellt keine
Entscheidung dar.
Danke. Wir sind damit am Ende Ihres Geschäftsbereichs.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 49 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Arbeit des Dialogforums Airport Berlin Brandenburg, und aus welchen Gründen arbeitet die Bundesregierung als Gesellschafter der Flughafen Berlin Schönefeld GmbH im Gegensatz zu den
Landesregierungen Berlin und Brandenburg in diesem Gremium nicht aktiv mit?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Behm, ich beantworte die Frage wie
folgt: Die Bundesregierung nimmt keine Bewertung der
Arbeit des Dialogforums Airport Berlin Brandenburg
vor, da sie in dem Gremium nicht tätig ist. Von einer
Teilnahme am Dialogforum Airport Berlin Brandenburg
wird abgesehen, da das Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung die Fach- und Rechtsaufsicht
über das Ministerium für Infrastruktur und Raumordnung des Landes Brandenburg, der Genehmigungsbehörde des Landes für das Ausbauvorhaben, ausübt.
Des Weiteren werden in den regionalen Dialoggremien in der Regel lokale Probleme erörtert, die sich
einer Beurteilung des Bundes entziehen. Deswegen die
Weitergabe an das Land Brandenburg.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank für die Beantwortung der Frage. Ich sage
dies, obwohl ich die Antwort ausgesprochen unbefriedigend finde; denn die lokalen Probleme, die im Dialogforum Airport Berlin Brandenburg erörtert werden, sind
natürlich verursacht durch eine Investition, an der der
Bund zu einem Drittel beteiligt ist. Sie sind verursacht
durch den Bau eines sehr stadtnahen neuen Berliner
Flughafens in Berlin-Schönefeld.
Eines der zentralen Themen, die in diesem Dialogforum erörtert werden, ist der Schutz der betroffenen Bevölkerung vor Lärm am Boden und in der Luft. Sie wissen vielleicht, dass eine besonders große Unruhe
aufgekommen ist, als man bekannt gemacht hat, dass die
Flugrouten anders verlaufen, als ursprünglich beantragt.
({0})
Die Veränderung der Flugrouten hat dazu geführt, dass
wahrscheinlich weitaus mehr Menschen von Fluglärm
betroffen sein werden, als bisher angenommen. Das Umweltbundesamt ist als eine Behörde des Bundes in den
Prozess der Festlegung der Flugrouten involviert worden, wenn auch sehr spät. Beim UBA sind wirklich
Kompetenzen angesiedelt. Meine Frage ist: Halten Sie
es nicht für sinnvoller, dass der Bund über die Beteiligung am Dialogforum in die Gestaltung des ganzen Prozesses des Lärmschutzes früher, bevor alle Messen gesungen sind, eingebunden wird und seine Kompetenz
auf diese Weise einsetzen kann?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Ich möchte noch einmal hervorheben: Die Genehmigungsbehörde ist eine Behörde des Landes Brandenburg.
Natürlich sind wir in Gesprächen mit Bürgerinitiativen
und anderen; viele Gespräche werden in unserem Haus
geführt. Allerdings greifen wir nicht in die Arbeit des
Dialogforums ein, weil dies der Aufgabenverteilung klar
widersprechen würde. Daher gibt es an dieser Stelle keinen Handlungsbedarf. Wir nehmen den Dialog zur
Kenntnis und lassen uns Berichte geben; aber eingreifen
in die Behandlung der sehr spezifischen lokalen Themen
kann nur die Genehmigungsbehörde. Wenn das Land
Berlin und das Land Brandenburg das Dialogforum verantwortungsvoll gestalten, dann gehen wir davon aus,
dass ordnungsgemäß gehandelt wird. Noch einmal: Verantwortlich an dieser Stelle ist das Land Brandenburg.
Eine kurze politische Bemerkung. Wenn sich Einzelne im Hinblick auf das Dialogforum, das vom Land
Brandenburg und vom Land Berlin begleitet wird, nicht
wohlfühlen, dann muss ich auf Folgendes hinweisen:
Die Vereinbarung war, dass das für uns das Land Brandenburg macht.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
„Die Vereinbarung war, dass das das Land Brandenburg macht.“ Ich denke, dass der Bund als ein Investor in
dieses Großvorhaben durchaus die Verantwortung gegenüber den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern hat.
Wäre der Bund in das Dialogforum eingebunden, dann
wüsste er auch um die Sorgen der Bürger bezüglich der
gesundheitlichen Auswirkungen.
Es gab einen Antrag auf ein Gesundheitsmonitoring.
Dieser Antrag wurde von Berlin abgelehnt. Das Land
Brandenburg hat gesagt, es habe ebenfalls gerade kein
Geld, um ein Gesundheitsmonitoring durchzuführen.
Mittlerweile ist der Antrag gestellt worden, dass der
Flughafen in Schönefeld in eine Lärmwirkstudie am
Flughafen Frankfurt/Main als Vergleichsflughafen einbezogen wird; es wurde nämlich noch ein Vergleichsflughafen gesucht. Obwohl drei von vier Wissenschaftlern, die als Mitglieder der Arbeitsgruppe für die
Qualitätssicherung der Studie berufen worden sind, das
Design der Studie als völlig unzureichend kritisieren -
Kollegin Behm, versuchen Sie, dem Staatssekretär
deutlich zu machen, was Ihre Frage ist, bitte.
Hier wäre die Kompetenz der Bundesbehörden ganz
sicher hilfreich. Wie kann es sein, dass der Bund zwar
einer der Investoren in den neuen Flughafen ist, jedoch,
was die Verantwortung für den Schutz der betroffenen
Bevölkerung angeht, sich zurückhält und sehenden Auges zulässt, dass die gesundheitlichen Interessen der
Menschen in der Region den wirtschaftlichen Interessen
der Bundesländer Berlin und Brandenburg untergeordnet
werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Behm, die letzten paar Sätze nehme ich
zur Kenntnis, werde sie von dieser Bank aus aber nicht
kommentieren, da Sie in Ihren letzten Sätzen äußerst
parteipolitische Aussagen zum Ausdruck gebracht haben.
Ich nehme ein anderes Beispiel, Frau Kollegin Behm.
Nehmen wir ein Großprojekt einer anderen Verkehrsart,
der Straße, beispielsweise eine große Autobahn. Die
Auftragsverwaltung des Bundes plant dieses Großprojekt. In das Planfeststellungsverfahren oder in den Erörterungstermin sind wir auch nicht eingebunden, sondern
wir haben die Regelung, dass wir in den Ländern Ansprechpartner haben, die die lokalen Themen vor Ort unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips bearbeiten können.
Dies handhaben wir auch so bei diesem Flughafen.
Ich denke, dass das Land Berlin und das Land Brandenburg genauso wie der Bund ein großes Interesse daran
haben, die gesetzlichen Lärmschutzmöglichkeiten der
Bürgerinnen und Bürger auszuloten und vor allem auch
Maßnahmen zu ergreifen. Wir erwarten, dass das Land
Berlin und das Land Brandenburg dies mit den Bürgerinnen und Bürgern sowie mit den Bürgerinitiativen zur Zufriedenheit und im Konsens oder auf dem Kompromisswege lösen.
Wir sind natürlich in die Informationslinie eingebunden. Wie gesagt, wir haben zur Herstellung der Transparenz und auch der Kommunikationsfreude im Haus mehrere Gespräche mit den Bürgerinitiativen geführt. Aber
in das Dialogverfahren, das Sie als Einzelprojekt nennen, sind wir nicht eingebunden.
Wir gehen davon aus, dass das Land Berlin und das
Land Brandenburg ihren Aufgaben nachkommen und
das Ganze zur Zufriedenheit der Beteiligten und der lokalen Mandatsträger, der Entscheider und der lokalen
Initiativen durchführen. Der Bund ist natürlich in die Informationskette eingebunden.
Nehmen Sie einmal das Beispiel des Verkehrsträgers
Straße, das man ähnlich beziehen könnte, weil auch hier
große Projekte durch die Auftragsverwaltungen im Verfahren geplant werden und auch die Dialoge mit den
Bürgerinnen und Bürgern geführt werden.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege
Koppelin das Wort.
Herr Staatssekretär, die dramatische Schilderung der
Kollegin Behm, die Bürger würden bei dieser Planung
nicht beteiligt, verlangt, dass ich mich doch noch zu einer Zusatzfrage melde.
Ich stelle fest, das sowohl in Berlin als auch in Brandenburg Sozialdemokraten und Linke regieren. Bei beiden Parteien ging ich immer davon aus, sie seien sehr
bürgernah.
({0})
Kann ich jetzt aus dieser Fragestunde mitnehmen, dass
die betroffenen Bürger, die von der Kollegin Behm geschildert wurden, von diesen beiden Regierungsparteien
überhaupt nicht beteiligt werden? Ist das nicht etwas,
was die Bundesregierung aufgreifen sollte? Sollte sie
nicht den Sozialdemokraten und den Linken mitteilen,
dass sie bürgernäher sein sollten?
({1})
Herr Kollege Koppelin, Ihre wertvollen Hinweise
nehmen die Bundesregierung und auch das BMVBS
gerne zur Kenntnis. Ich denke auch, dass der Regierende
Bürgermeister und der Ministerpräsident von Brandenburg genügend Betätigungsfelder als Genehmigungsbehörden und als Vertreter im Aufsichtsrat haben, um die
Bürger einzubinden. Man könnte schon einmal einen
transparenten Prozess mit den Initiativen machen.
Ich bin gespannt, wie Spitzenkandidaten von einzelnen Parteien - die Kollegin Behm repräsentiert eine
wichtige Partei in der Bundesrepublik Deutschland - im
Wahlkampf diese sehr wichtige Drehscheibe im Luftverkehr in Berlin unterstützen oder dieses Großprojekt auch
torpedieren werden.
Wir kommen damit zur Frage 50 der Kollegin Sabine
Stüber:
Was unternimmt die Bundesregierung gegen die Streichung grenzüberschreitender Angebote der Deutschen Bahn
AG im Regional- und Fernverkehr?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Stüber, die Deutsche Bahn AG gestaltet
das Angebot von Verkehrsleistungen in eigener unternehmerischer Verantwortung. Das schließt ein, dass entsprechend der Nachfrage Fernverkehrsangebote neu eingeführt werden oder Angebote, die aufgrund einer
geringen Fernverkehrsnachfrage unwirtschaftlich geworden sind, eingestellt werden. Dies gilt genauso für
grenzüberschreitende Angebote.
Für den öffentlichen Personennahverkehr müssen die
betroffenen Bundesländer mit der Deutschen Bahn AG
den Fahrplan abstimmen. Die Abstimmung zwischen der
Deutschen Bahn AG und den Ländern zur Gestaltung
des Angebots im Personennahverkehr hat der Bund gegenüber allen Beteiligten stets als ein grundlegendes Erfordernis hervorgehoben.
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie die Bundesregierung insgesamt sind
bei den Abstimmungsgesprächen und den Entscheidungen nicht einbezogen. Im Übrigen verweise ich auf die
Entscheidungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Abgrenzung der Zuständigkeiten Bund/Deutsche Bahn AG/Länder infolge
der Bahnreform - Anlage 1 zur Drucksache 13/6149
vom 18. November 1996 - sowie zur Stärkung des parlamentarischen Fragerechts, Drucksache 16/8467 vom
10. März 2008.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Ich habe nur eine ganz kleine Nachfrage: Habe ich
Sie richtig verstanden, dass die Deutsche Bahn AG da
keine Mitwirkungsmöglichkeiten hat, sondern das an die
Länder delegiert?
Nein. Sie stellen ja die Frage: Was unternimmt die
Bundesregierung gegen die Streichung grenzüberschreitender Angebote der DB AG im Regional- und Fernverkehr? - Ich habe versucht, Ihnen aufzuschlüsseln, dass
der Bund weder bei den Fernverkehrsverbindungen noch
bei den Nahverkehrsangeboten eingebunden ist. Für den
Fernverkehr einschließlich der grenzüberschreitenden
Verkehre ist die DB AG eigenwirtschaftlich und eigenverantwortlich zuständig. Die Nahverkehre werden vom
Bund bezuschusst, aber Besteller ist das Bundesland.
Deshalb bitte ich Sie, sich mit Fragen zu den Nahverkehren an die Kollegen der Bundesländer zu wenden.
Haben Sie eine zweite Nachfrage?
Ja. - Die Bundesregierung ist ja im Aufsichtsrat der
DB AG vertreten. Wird auf diesem Wege kein Einfluss
auf diese Entscheidung genommen?
Ich habe Ihnen im letzten Absatz meiner Antwort die
Aufschlüsselung nach unserer Geschäftsordnung und die
Abgrenzung der Zuständigkeiten versucht darzustellen.
Darunter fallen diese Verkehre. Natürlich nimmt der
Bund im Aufsichtsrat durch die die Ministerien repräsentierenden Mitglieder seine Aufgaben wahr; aber die
Aufteilung ist nach unserer Geschäftsordnung ganz klar
geregelt. Fernverkehrsverbindungen einschließlich der
grenzüberschreitenden Verkehre sind demnach eigenwirtschaftlich bei der Deutschen Bahn AG, und Besteller
der Schienenpersonennahverkehre sind die Bundesländer. Wenn Sie Fragen zu einer konkreten Strecke haben,
bitte ich, mit den Kollegen der Bundesländer Kontakt
aufzunehmen.
Damit kommen wir zur Frage 51 der Kollegin Stüber:
Vizepräsidentin Petra Pau
Wie ist der Stand der Verhandlungen zwischen der Deutschen Bahn AG und der polnischen Bahn zur Einigung über
den Zeitfahrkartentarif für die Strecke Berlin-Szczecin ({0})?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Diese Antwort kann ich sehr kurz machen: Hierbei
handelt es sich ebenfalls um eine unternehmerische Entscheidung der beteiligten Bahnen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ist an den
Verhandlungen nicht beteiligt.
Ihre erste Nachfrage?
Da das Bundesministerium nicht beteiligt ist, kann ich
auch keine Frage stellen.
Danke schön!
Gut, dann verzichten Sie auf die Nachfragemöglichkeit. - Ich danke dem Herrn Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Fragen 52 und 53 der Abgeordneten
Sylvia Kotting-Uhl, die Frage 54 des Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, die Frage 55 des Abgeordneten
Garrelt Duin und die Fragen 56 und 57 der Abgeordneten Bärbel Höhn werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel zur Verfügung.
Die Fragen 58 und 59 des Abgeordneten René
Röspel, die Fragen 60 und 61 des Abgeordneten Klaus
Barthel, die Fragen 62 und 63 der Abgeordneten
Marianne Schieder ({0}), die Fragen 64 und 65
des Abgeordneten Klaus Hagemann und die Frage 66
der Abgeordneten Bärbel Bas sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 67 der Kollegin Agnes Alpers auf:
Inwiefern werden Hochschulabschlüsse und generell
Rechtsansprüche auf Anpassungs- und Ergänzungsqualifikationen bzw. auf Finanzierung dieser Maßnahmen im geplanten
Entwurf eines Gesetzes zur Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen mit einbezogen bzw. verankert,
bitte begründen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Alpers, Hochschulabschlüsse, die nicht
zu reglementierten Berufen führen, werden von dem geplanten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der
Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener
Berufsqualifikationen nicht erfasst. Diese Abschlüsse
bescheinigen keine berufsspezifischen Handlungskompetenzen, sondern den Erwerb von fachbezogenen
Kenntnissen. Ein eindeutiger Referenzberuf und damit
ein berufsbezogener Bewertungsmaßstab ist insofern für
diese Abschlüsse regelmäßig insofern nicht gegeben.
Für diese Abschlüsse kommt weiterhin das geltende, bei
der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen der
KMK angesiedelte Verfahren nach dem Lissabonner Anerkennungsübereinkommen zur Anwendung.
Ein im Zusammenhang mit dem Anerkennungsgesetz
begründeter Rechtsanspruch auf Ausgleichmaßnahmen
ist entsprechend den Vorgaben der EU-Berufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG im Bereich der reglementierten Berufe vorgesehen. Im Bereich der nicht reglementierten Berufe sind festgestellte wesentliche Unterschiede
zwischen Auslands- und Inlandsqualifikation möglichst
so zu dokumentieren, dass entsprechende Ausgleichsmaßnahmen wahrgenommen werden können, um bei erfolgreicher Teilnahme gegebenenfalls die volle Gleichwertigkeit zu erreichen.
Die Umsetzung dieses Gesetzes kann, wenn die gesetzlichen Fördervoraussetzungen vorliegen, durch arbeitsmarktpolitische Instrumente flankiert werden. So
können beschäftigte und arbeitslose Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer im Rahmen der Förderung der beruflichen Weiterbildung bei festgestellten Kenntnisdefiziten
zum Referenzberuf zur Teilnahme an entsprechenden
Anpassungsqualifizierungen Förderleistungen durch die
Agentur für Arbeit oder die Jobcenter erhalten, wenn
hierdurch eine volle Gleichwertigkeit erreicht werden
kann.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Herr Rachel. - Meine erste Nachfrage,
bezogen auf Hochschulabschlüsse: Warum sieht das Gesetz nicht vor, auch anerkannte Asylbewerber einzubeziehen?
Wie Sie wissen, arbeiten wir noch daran, das Gesetz
in seine endgültige Form zu bringen. Gegenstand des
Gesetzes werden bundesgesetzlich geregelte Berufe
sein. Dazu zählen zum Beispiel Heilberufe, Ausbildungsberufe - Stichwort Handwerk - sowie juristische
Berufe. Auf diese Berufe wird sich das Gesetz beziehen.
Allen Personen soll hier künftig - unabhängig vom Aufenthaltsstatus - ein Bewertungsverfahren offenstehen.
Ihre zweite Nachfrage.
Sie haben erklärt, dass Anpassungs- und Ergänzungsfinanzierungen unter bestimmten Voraussetzungen gewährleistet werden. Warum ist es aber so, dass in dem
Gesetzentwurf grundsätzlich Menschen ausgeschlossen
werden, die länger als zehn Jahre in der Bundesrepublik
Deutschland verweilen? Ich nenne zum Beispiel den Fall
einer hochqualifizierten Akademikerin, die nach
Deutschland gekommen ist und Sprachkurse besucht
hat, die sich aber wegen der Erziehung der Kinder nicht
integrieren konnte und bisher keinen Anspruch hat. Wir
wissen, wie schnell zehn Jahre im Leben einer Frau mit
Familie vergehen können. Warum werden diese Menschen in dem Gesetzentwurf ausgeschlossen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Alpers, ich möchte mich an dieser
Stelle nicht zu etwaigen Einzelfällen äußern. Das würde
zu weit gehen, zumal wir noch nicht einmal das eigentliche Gesetzgebungsverfahren begonnen haben.
Ich glaube, dass dieses Gesetz einen großen qualitativen Sprung bedeutet. Was in der Bundesrepublik
Deutschland über 60 Jahre nicht geschaffen worden ist,
ist nun auf dem Weg. Menschen, die seit längerer Zeit
hier leben, geben wir einen Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren. Soweit es sich um bundesgesetzlich geregelte Berufe handelt, haben sie die Möglichkeit,
in diesem Verfahren überprüfen zu lassen, ob die Abschlüsse, die sie in ihrem Heimatland erworben haben,
den entsprechenden Voraussetzungen in Deutschland genügen.
Darüber hinaus wird dieses Gesetz die Chance schaffen, dass auch Menschen, die sich zurzeit im Ausland
befinden und die einen im Gesetz beschriebenen Beruf
ausüben, ein solches Überprüfungsverfahren nutzen
können. Auch das ist ein enormer qualitativer Sprung.
Eine weitere Nachfrage stellt der Kollege Kilic.
Herr Staatssekretär, können Sie bitte Klarheit darüber
schaffen, ob die Grenze von zehn Jahren Aufenthaltsdauer Inhalt Ihres Gesetzentwurfs ist?
Herr Kollege, dazu möchte ich mich im Moment nicht
abschließend äußern. Im jetzigen Entwurf ist ein solcher
Ausschluss nicht vorgesehen. Darüber werden wir dann
beraten können, wenn der Gesetzentwurf im Wortlaut
vorliegt und zwischen den Ministerien abgestimmt ist.
Wir kommen zu Frage 68 der Kollegin Alpers:
Welche Inhalte der am 9. Dezember 2009 vom Bundeskabinett verabschiedeten „Eckpunkte zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen und Berufsabschlüssen“ werden im
Rahmen des geplanten Entwurf eines Gesetzes zur Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen nicht umgesetzt und warum?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Eckpunkte der Bundesregierung vom 9. Dezember 2009 zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen und Berufsabschlüssen werden mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung
und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen umgesetzt.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Herr Rachel, die Anerkennung von Qualifikationen
und Berufsabschlüssen bezieht sich nur auf die Berufe,
die bundeseinheitlich geregelt werden. Was ist mit all
den anderen Berufen?
Wir haben drei unterschiedliche Gruppen zu unterscheiden. Das Gesetz wird sich auf die Berufe beziehen,
für die der Bund eine eigene Regelungskompetenz hat.
Das ist auch ganz logisch; denn jede staatliche Ebene
kann nur das regeln, wofür sie zuständig ist. Das heißt
positiv formuliert, das Gesetz umfasst die bundesgesetzlich geregelten Berufe, zum Beispiel die Ausbildungsberufe - das sind immerhin 350 Berufe im Handwerk und
aus dem gewerblich-technischen Bereich -, die juristischen Berufe und die Heilberufe.
Darüber hinaus gibt es die Gruppe der Hochschulabschlüsse, die nicht für einen spezifisch gesetzlich geregelten Beruf qualifizieren, beispielsweise DiplomPhysiker oder Diplom-Informatiker. Diese Abschlüsse
werden in dem Gesetz nicht geregelt. Für diese Abschlüsse wird weiterhin die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen der KMK zuständig sein.
Schließlich haben wir Berufe, die in der Regelungskompetenz der 16 Bundesländer liegen, beispielsweise
der Beruf Lehrer oder Lehrerin, Erzieher oder Erzieherin
sowie die Ingenieure. Diesbezüglich sind die Bundesländer aufgefordert, entsprechend dem Gesetz, das wir auf
Bundesebene vorbereiten, landesgesetzliche Regelungen
zu schaffen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Wir haben über 126 Anerkennungsstellen in den
16 Ländern und im Bund. Bezüglich der Berufe, die
nicht bundeseinheitlich geregelt werden, haben wir das
Problem, dass der Zuständigkeitsdschungel nicht beseitigt werden wird. Welche Kooperationsformen mit den
Ländern sind da angedacht?
Welche Gewährleistung wird es, wenn wir diesen Zuständigkeitsdschungel überwinden wollen, geben, dass
es nicht zu der Situation kommt, dass ein Bundesland
bestimmte Qualifikationen und Berufsabschlüsse anerkennt, ein anderes aber nicht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Sehr geehrte Frau Kollegin Alpers, diese Frage ist
von der Sache her interessant, richtet sich allerdings an
die 16 Bundesländer und müsste insofern den Zuständigen der jeweiligen Länder gestellt werden, weil es in deren Kompetenz steht, sowohl für den landeshoheitlichen
Bereich Regelungen zu treffen als auch zu Abstimmungen zwischen den 16 Bundesländern zu kommen.
Eine weitere Nachfrage stellt jetzt der Kollege Kilic.
Herr Staatssekretär, verstehe ich Ihre Ausführungen
richtig, dass die Anerkennung der bundesweit reglementierten Berufe sich an der EU-Anerkennungsrichtlinie
orientieren wird?
Mir steht es nicht zu, die Einschätzung eines Abgeordneten zu kommentieren. Deswegen will ich nur noch
einmal feststellen, dass das Bundesgesetz, das wir vorbereiten, die bundesgesetzlich reglementierten Berufe eigenständig regeln und in Bezug auf sie einen Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsverfahren - also nicht auf
eine Anerkennung als solche - garantieren wird. Der Gesetzentwurf orientiert sich dabei an der Berufsanerkennungsrichtlinie der EU.
Danke, Herr Staatssekretär.
Die Frage 69 des Abgeordneten Tom Koenigs zum
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird
schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 70 der Abgeordneten Inge Höger zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole
Schröder zur Verfügung. Die Frage 71 des Abgeordneten
Tom Koenigs, die Fragen 72 und 73 des Abgeordneten
Volker Beck ({0}), die Fragen 74 und 75 des Abgeordneten Memet Kilic, die Frage 76 des Abgeordneten
Oliver Kaczmarek sowie die Frage 77 des Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 78 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Wie ist der aktuelle Zeitplan für das Planungsvereinheitlichungsgesetz, und in welchem Quartal könnte aus Sicht der
Bundesregierung die Novellierung frühestens abgeschlossen
sein?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Die Ressortabstimmung für den Entwurf eines Gesetzes
zur Vereinheitlichung und Beschleunigung von Planfeststellungsverfahren - Planungsvereinheitlichungsgesetz ist noch nicht abgeschlossen, sodass eine Kabinettsbefassung noch nicht möglich ist. Der Gesetzentwurf wird
derzeit überarbeitet. Insbesondere im Hinblick auf die
Änderung des Verwaltungsverfahrensgesetzes bedarf es
wegen der angestrebten einheitlichen Anpassung der
Verwaltungsverfahrensgesetze von Bund und Ländern
noch weiterer Abstimmungen mit den Ländern.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Sie müssen doch trotzdem einen ungefähren Zeitplan
haben. Ihre Planung im Hinblick auf die Abstimmung
wird kaum zwischen zwei Monaten und dem Ende der
Legislaturperiode liegen. Deshalb meine Frage nach einem Zeitplan. Wie lange soll die Abstimmung ungefähr
dauern? Wann kann man damit rechnen, dass dieses
durchaus komplizierte Gesetz, in dem es viele Fragen
zur Verkehrspolitik gibt, den Bundestag und seine Ausschüsse erreicht?
Auch wenn mich meine Experten im Ministerium davor gewarnt haben, einen konkreten Zeitpunkt zu nennen, weil man nie weiß, wie die Abstimmungen laufen,
und schwierige Abstimmungen mit den Ländern vor uns
liegen - diese müssen das Verfahrensgesetz des Bundes
auf ihre Verfahrensgesetze übertragen -, hoffe ich, dass
wir das bis zur Sommerpause hinbekommen.
Ihre zweite Nachfrage?
Erst einmal nicht. Nehmen wir die nächste Frage.
Gut. - Dann kommen wir zur Frage 79 des Kollegen
Hofreiter:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den
aktuellen Diskussionen um die Verbesserung der Bürgerbeteiligung an Planungsprozessen im Hinblick auf die Inhalte des
Planungsvereinheitlichungsgesetzes, und wie bewertet die
Bundesregierung die vielfach vorgeschlagene Einrichtung einer frühzeitigen Bürgerbeteiligung im Planfeststellungsrecht?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Die Bundesregierung prüft derzeit eine Ergänzung
des Gesetzentwurfs über die Einführung zusätzlicher
Formen einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung im Planfeststellungverfahren. Dabei werden verschiedene
Lösungsmöglichkeiten, etwa die von Baden-Württemberg als Bundesratsinitiative geplanten Ergänzungsvorschläge, berücksichtigt.
Ihre Nachfrage, bitte.
Was kann man sich unter einer „frühen Beteiligung“
vorstellen? Das aktuelle Problem ist: Manchmal ist der
Plan erst nach vielen Monaten oder sogar Jahren Arbeit
- wenn es sich um ein kompliziertes Infrastrukturproblem handelt - komplett fertiggestellt. Dann ist es verständlich, dass man nicht mehr groß etwas ändern will.
Heißt „frühe Beteiligung“, dass die Bürger bereits bei
Grundsatzentscheidungen beteiligt werden sollen, wie
zum Beispiel im Straßenbau beim Linienfindungsverfahren, oder bereits im Raumordnungsverfahren? Wie kann
man sich das praktisch vorstellen, und was wird diskutiert?
All die Punkte, die Sie angesprochen haben, müssen
jetzt überlegt werden. Darauf basierend werden wir den
Gesetzentwurf ändern.
Haben Sie noch eine Nachfrage?
Sind auch für die frühe Beteiligung Rechtsmittel vorgesehen? Derzeit besteht ein großes Problem darin, dass
Rechtsmittel erst eingelegt werden können, wenn die
Angelegenheit abgeschlossen ist. Unter Umständen wird
vor Gericht dann eine fertige Planung verworfen, was
natürlich auch für den Planenden unangenehm ist. Soll
auch die Möglichkeit des Einlegens von Rechtsmitteln
mit nach vorne gezogen werden?
All das muss überlegt werden. Im Planungsrecht haben wir das Problem, dass sich die Planungszeiträume
immer weiter verlängern. Wie wir erleben, führen diese
langen Planungszeiträume gerade nicht zu einer größeren Akzeptanz bei der Bevölkerung. Deshalb befinden
wir uns immer im Spannungsverhältnis: auf der einen
Seite dem Bürger Rechtsmittel zu ermöglichen, auf der
anderen Seite die Planungsverfahren nicht immer weiter
auszudehnen, weil das geradezu kontraproduktiv für die
Akzeptanz ist.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums des Innern. - Herzlichen Dank,
Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut
Koschyk zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 80 der Kollegin Behm auf:
Inwieweit liegen der Bundesregierung Erkenntnisse über
die Mitarbeit ehemaliger Haupt- und Inoffizieller Mitarbeiter
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in der
Treuhandanstalt und den zur Treuhandanstalt gehörenden Unternehmen vor, und welche Erkenntnisse wurden insbesondere aus den Ergebnissen der Verfügung des damaligen Präsidenten der Treuhandanstalt, Dr. Detlev Rohwedder, vom
15. Januar 1991 gezogen, dass alle Aufsichtsratsmitglieder,
Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer und Personalleiter in
den Unternehmen der Treuhandanstalt eine Erklärung zu ihrer
Nichtmitarbeit für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen
DDR unterzeichnen sollen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. - Frau Kollegin
Behm, ich möchte Ihre Frage wie folgt beantworten:
Grundsätzlich bestand zwischen der damaligen Bundesregierung und der Treuhandanstalt Einvernehmen, dass
diese keine politisch belasteten Personen beschäftigen
soll, weder in der Anstalt selbst noch in leitender Stellung in den Treuhandunternehmen und deren Organen.
Das Zerschlagen von sogenannten Seilschaften und die
Verhinderung der Etablierung von belasteten Kadern waren für die Treuhandanstalt sowohl unter ihrem Präsidenten Dr. Detlev Karsten Rohwedder als auch unter
Präsidentin Birgit Breuel von besonderer Bedeutung.
Das von Ihnen in der Frage angesprochene Schreiben
des Präsidenten vom 15. Januar 1991 zur politischen
Vergangenheit von Personen mit Leitungsfunktionen in
Beteiligungsunternehmen der Treuhandanstalt wurde
unter der Präsidentschaft von Birgit Breuel mit Schreiben vom 7. August 1991 nochmals verstärkt. Im Februar
1991 waren auch alle Mitarbeiter der Zentrale und der
Niederlassungen der Treuhandanstalt aufgefordert wor10856
den, sich zu einer möglichen Zusammenarbeit mit der
Staatssicherheit der ehemaligen DDR zu erklären. Lag
eine solche Zusammenarbeit vor, so führte dies - ebenso
wie die Abgabe einer falschen Erklärung - zur Entlassung des betroffenen Mitarbeiters.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
In dem Schreiben von Präsident Rohwedder war eindeutig angegeben, welcher Personenkreis diese Erklärung abzugeben hat. Ich möchte gerne wissen, ob diese
Erklärungen vom betreffenden Personenkreis in den einzelnen Unternehmen der Treuhandanstalt vollständig abgegeben worden sind, ob es hier möglicherweise Unterschiede zwischen den einzelnen Unternehmen gegeben
hat und wo diese Erklärungen abgelegt worden sind bzw.
ob man nachprüfen kann, dass diese Erklärungen wirklich vollständig abgegeben worden sind. Ich frage deswegen, weil insbesondere in Brandenburg wiederholt
Fälle auftauchen - ich spreche hier die Polizei an -, in
denen keine redlichen Erklärungen abgegeben worden
sind bzw. die Erklärungen fehlen.
Frau Kollegin Behm, da die Zuständigkeit für die Personalpolitik der Treuhandanstalt bei deren Vorstand lag,
hat die Bundesregierung nur insoweit Erkenntnisse, wie
diese Gegenstand von Berichten an den Deutschen Bundestag, seine Ausschüsse oder Mitglieder waren. In diesem Zusammenhang darf ich auf den Abschlussbericht
des zweiten Untersuchungsausschusses „Treuhandanstalt“ auf Drucksache 12/8404 und die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Kollegen
Werner Schulz auf Drucksache 12/782 hinweisen.
Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang einige Zahlen nennen. Bis Ende Juli 1991 gingen bei den Vertrauensbevollmächtigten der Treuhandanstalt insgesamt
rund 4 000 Hinweise auf mögliche politische Belastungen von Mitarbeitern ein. Bereits im Oktober 1990 waren 17 Vertrauensbevollmächtigte zur Überprüfung jedweder Hinweise auf mögliche politische Belastungen
von Mitarbeitern der Treuhandanstalt oder Mitarbeitern
in leitenden Stellungen von Treuhandunternehmen berufen worden. Die Vertrauensbevollmächtigten, ehemalige
hochrangige westdeutsche Richter oder Beamte aus dem
Bundesjustizministerium, waren in ihrer Arbeit völlig
weisungsunabhängig und arbeiteten eng mit der damaligen Gauck-Behörde zusammen. Aufgrund der Eingaben
bei den Vertrauensbevollmächtigten hatte sich die Treuhand bis Ende August von 400 Mitarbeitern - Geschäftsführern, Vorstandsmitgliedern und oberen Führungskräften in den Treuhandunternehmen - getrennt; hinzu
kamen noch mehr als 200 weitere Kündigungen bis Ende
August 1992. Genauere Zahlen lassen sich nicht mehr
ermitteln.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben seit dem 1. Januar 2004 in der
Abwicklung befindet und seit 2001 über kein eigenes
Personal mehr verfügt.
Es gibt aber Nachfolgegesellschaften. Das heißt, die
Hülle besteht noch. Die Unterlagen werden nicht verschwunden sein. Wurde geprüft, ob die Erklärungen
vollständig vorliegen? Wurde die Verfügung von Herrn
Rohwedder, die von Frau Breuel ergänzt bzw. bekräftigt
wurde, also umgesetzt, und wurden die Unterlagen irgendwo archiviert, damit sie der wissenschaftlichen Forschung zur DDR-Geschichte und zu anderen Themen
zur Verfügung stehen?
Die Antwort auf diese Frage muss ich Ihnen schriftlich nachreichen, weil ich im Moment nicht weiß, an
welcher Stelle und in welcher Form diese Unterlagen
von einer der Nachfolgeorganisationen der Treuhandanstalt archiviert wurden.
Wir halten fest, dass diese Antwort schriftlich nachgereicht wird.
Die Fragen 81 und 82 des Kollegen Gustav Herzog
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 83 des Kollegen Hacker auf. - Der
Kollege Hacker ist nicht anwesend. Es wird verfahren,
wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Das gilt auch
für die Frage 84 des Kollegen Hacker.
Die Frage 85 der Kollegin Andrea Wicklein, die
Frage 86 des Kollegen Dr. Gehard Schick sowie die Fragen 87 und 88 der Kollegin Dr. Barbara Höll werden
schriftlich beantwortet.
Die Frage 89 hat der Kollege Nink gestellt. - Er ist
nicht anwesend. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 90 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Plant die Bundesregierung, von den Autoherstellerfirmen
in Deutschland Rückzahlungen von direkten bzw. indirekten
Subventionen und Unterstützungsleistungen einzufordern, die
diesen im ersten Jahr der Finanzkrise etwa durch die milliardenteure Abwrackprämie aus Steuermitteln gewährt wurden,
nachdem einige dieser Firmen jetzt außerordentliche Gewinne
in dreistelliger Milliardenhöhe an ihre Aktionäre ausschütten,
und, wenn nein, warum nicht, angesichts der knappen öffentlichen Kassen und der Finanznot von Ländern und Kommunen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Ströbele, Sie hatten gefragt, ob „die Bundesregierung von den Autoherstellerfirmen in Deutschland
Rückzahlungen von direkten bzw. indirekten Subventionen und Unterstützungsleistungen“ einfordert, „die diesen im ersten Jahr der Finanzkrise etwa durch die … AbParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
wrackprämie aus Steuermitteln gewährt wurden“,
nachdem diese Unternehmen, wie Sie in Ihrer Frage ausführen, „jetzt außerordentliche Gewinne in dreistelliger
Milliardenhöhe an ihre Aktionäre ausschütten“.
({0})
- Ich habe nur aus der Frage des Kollegen Ströbele zitiert, damit die Kollegen, aber auch die Besucherinnen
und Besucher wissen, was der Herr Kollege gefragt hat.
Ich mache mir diese Einschätzung natürlich nicht zu eigen.
Sehr geehrter Herr Kollege Ströble, grundsätzlich
gilt: Rückzahlungen würden das Vertrauen der Unternehmen, aber auch der Bürger in derartige Maßnahmen
erheblich beschädigen und die Wirksamkeit beeinträchtigen. Die Umweltprämie ist ein Bestandteil des durch
die Bundesregierung aufgestellten konjunkturpolitischen
Programms gewesen. Eine rechtliche Grundlage für eine
nachträgliche Beteiligung besteht nicht.
Im Einzelnen halten wir eine Rückzahlung aus folgenden Gründen für problematisch: Die Umweltprämie
wurde den Automobilkäufern, den Bürgern, ausgezahlt
und kam der Automobilwirtschaft somit nur mittelbar
zugute. Daher kann sie nicht im Nachhinein von der
Wirtschaft zurückgefordert werden. Auch haben die
deutschen Hersteller in sehr unterschiedlichem Maße
mittelbar von dieser Prämie profitiert. Im Wesentlichen
haben die Volumenhersteller zusammen mit ihren Lieferanten und ihren Händlern von der durch die Umweltprämie induzierten Nachfrage profitiert, während insbesondere die Hersteller der deutschen Premiumfahrzeuge
kaum Absatzzuwächse durch sie verzeichnen konnten.
Das sind aber genau diejenigen Unternehmen, die jetzt
mit guten Geschäftszahlen und guten Ergebnissen glänzen.
Lieber Herr Ströbele, dem Gedanken, der Ihrer Frage
zugrunde liegt, entsprechend, müssten wir uns nicht nur
an die Automobilhersteller wenden, sondern an den gesamten Kfz-Handel. Wir müssten uns auch an ausländische Hersteller wenden. Allein das zeigt, dass der von
Ihnen vorgeschlagene Weg für die Bundesregierung aus
rechtlichen, aber auch aus politischen Gründen nicht infrage kommt.
({1})
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Ich bedanke mich für die Beantwortung der Frage,
obwohl Millionen und Milliarden darin ein bisschen
durcheinandergeworfen wurden. Das kann man angesichts der Summen, die europaweit als Hilfen vergeben
werden, vielleicht verstehen und nachvollziehen, wenn
es dadurch auch nicht richtig wird.
({0})
Meine Frage zielte darauf, ob Sie direkte oder indirekte Subventionen, die gewährt worden sind, ausgleichen. Ich habe das „Rückzahlungen“ genannt. Man kann
damit aber auch auf andere Weise umgehen.
Meine Nachfrage: Das Besondere unseres kapitalistischen Systems ist, dass die Unternehmer ein Risiko tragen. Wenn dann das Risiko zu groß wird, kann das bedeuten, dass die betreffende Firma Geld verliert oder
sogar nicht mehr existiert. Dieses Risiko hat man den
Aktionären abgenommen, indem man sie mit Steuermitteln massiv unterstützt hat. Man kann sich darüber streiten, ob das richtig oder falsch war, aber jedenfalls ist es
geschehen.
Halten Sie es für richtig, dass die Unternehmen nun
riesige Gewinne machen und an die Aktionäre ausschütten, obwohl man ihnen einen großen Teil des Risikos abgenommen hat? Möglicherweise würde sonst die eine
oder andere Firma nicht mehr in der Form existieren wie
zuvor. Gibt es keine rechtlichen Möglichkeiten, dafür zu
sorgen, dass der Steuerzahler zum Beispiel in Form von
Sonderabgaben - das muss man nicht Rückzahlung nennen - etwas von dem, was er diesen Unternehmen gegeben bzw. - so möchte ich das bezeichnen - geliehen hat,
zurückbekommt?
Herr Kollege Ströbele, der Steuerzahler bekommt dadurch etwas zurück, dass diese Unternehmen, wenn sie
jetzt gute Erträge haben, entsprechend Steuern zahlen.
Der Steuerzahler hat auch etwas davon, dass wir den Unternehmen durch diese Maßnahmen über die Krise hinweggeholfen und es ihnen ermöglicht haben, das Beschäftigungsniveau zu halten. Das heißt, es ist nicht zu
zusätzlicher Arbeitslosigkeit gekommen. Zusätzliche
Arbeitslosigkeit in erheblicher Höhe hätte nicht allein
aus den Beitragsmitteln der Bundesagentur für Arbeit,
sondern auch aus Steuermitteln finanziert werden müssen.
Würde man Ihren Gedanken, die Logik Ihres Vorschlags fortführen, Herr Kollege Ströbele, dann müssten
wir uns zum Beispiel fragen: Was machen wir eigentlich,
wenn wir Unternehmen fördern, die im Bereich der
Windkraft sehr gute Erträge erzielen?
({0})
Sollten wir dann, wenn Windkraftunternehmen und
Windkraftanlagenhersteller sehr gute Erträge erzielen,
die Förderbeträge von diesen Unternehmen zurückfordern?
({1})
Sie bemerken sicherlich, dass der logische Ansatz Ihrer Überlegung zu Weiterungen führen würde, denen die
Bundesregierung nicht nachkommen möchte.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Im Gegensatz zu Ihnen fallen mir in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie die erneuerbaren Energien
als Beispiel ein,
({0})
sondern die Kernenergie, in die ungeheuer viel investiert
worden ist. Da hier die Unternehmen praktisch als Gelddruckmaschinen funktionieren, frage ich, ob man dem
Steuerzahler nicht etwas zurückgeben könnte. Aber das
will ich jetzt nicht vertiefen.
Meine Frage lautet: Wird denn daran gedacht, in Zukunft Rückzahlungsvereinbarungen mit staatlich unterstützten privaten Industrieunternehmen zu schließen, die
Profite machen und Dividenden ausschütten? Das
scheint mir als normal denkender Mensch, als Steuerzahler und Abgeordneter eigentlich gerecht zu sein.
Herr Ströbele, man wird sicherlich generell überlegen
müssen, welche Konsequenzen man aus den Maßnahmen, die die Bundesregierung zur Abfederung der volkswirtschaftlichen Folgen der Finanzmarktkrise getroffen
hat, zieht. Ich will einen Bereich nennen. Um in Zukunft
bei Schieflagen von Banken nicht gleich wieder den
Steuerzahler in Haftung zu nehmen, haben wir entschieden, eine Bankenabgabe zu erheben, mit der ein Restrukturierungsfonds zur Lösung künftiger Schieflagen von
Banken finanziert werden soll. Sie sehen an den verschiedenen Stabilisierungsmaßnahmen, dass die Bundesregierung durchaus Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise zieht. Die Bankenabgabe ist eine solche
Konsequenz. Sicherlich wird man darüber nachdenken
müssen, ob man in zukünftigen Krisen ähnlich stabilisierende Maßnahmen wie in der Vergangenheit ergreifen
wird.
Auf die Banken kommen wir noch zurück.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. März 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.