Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, soweit
Sie noch keinen Platz gefunden haben, sich einen der
wenigen freien Sitzplätze zu sichern, damit wir in unsere
Tagesordnung eintreten können.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des
Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 17/3404, 17/3958, 17/3982,
17/4032, 17/4058, 17/4095, 17/4303, 17/4304,
17/4719, 17/4770, 17/4830 Der Berichterstatter zu diesem Themenkomplex im
Bundestag, der Abgeordnete Hubertus Heil, wünscht
nicht das Wort zur Berichterstattung.
({1})
Mit einer schriftlichen Erklärung macht er aber auf sechs
von Bund und Ländern abgegebene Protokollerklärun-
gen aufmerksam. Diese Erklärung und die Protokoll-
erklärungen nehmen wir zu Protokoll. Das gilt selbstver-
ständlich auch für solche Erklärungen, die einzelne
Abgeordnete zu ihrem persönlichen Abstimmungsver-
halten gegebenenfalls zu Protokoll geben wollen.1)
Soweit der Wunsch nach mündlichen Erklärungen
geltend gemacht werden sollte, schlage ich vor, dies
nach der vereinbarten Debatte zu diesem Tagesord-
nungspunkt durchzuführen. Das erscheint mir deswegen
sachgerecht, weil dann jeder für sich noch einmal die
Frage prüfen kann, ob die ihm wesentlichen Gesichts-
punkte nicht in der Debatte gerade vorgetragen worden
1) Anlagen 2 bis 4
sind. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensicht-
lich der Fall.
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf der
Drucksache 17/4830.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderung gemeinsam ab-
zustimmen ist. Dazu ist namentliche Abstimmung ver-
langt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Abstim-
mungsurnen besetzt? - Dann eröffne ich hiermit die Ab-
stimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit-
glied des Hauses im Saal, das seine Stimmkarte nicht ab-
gegeben hat? - Nachdem sich nun auch Mitglieder der
Bundesregierung noch rechtzeitig an der Abstimmung
haben beteiligen können, schließe ich jetzt die Abstim-
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Wir werden das Ergeb-
nis der Abstimmung während der Debatte bekannt ge-
ben.2)
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Lage von SGB-Leistungsempfängern und
ihrer Kinder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der
Leyen.
({2})
2) Seite 10
Redetext
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in den letzten Wochen immer viel Kraft
aus einem Zitat geschöpft
({0})
- es wurde dazwischengerufen: schon wieder ein Zitat -,
({1})
das vom guten alten Goethe stammt: „Auch aus Steinen,
die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes
bauen.“ Ich finde, jetzt ist die Einigung da. Wir haben
viele Steine im Weg gehabt. Jeder Stein ist jetzt an seinem Platz. Ich bin der festen Überzeugung: Wir haben
mit dem Bildungspaket etwas richtig Gutes gebaut.
({2})
Die Hauptgewinner dieser Reform sind die Kinder,
und es sind die Kommunen. Wenn ich mich daran zurückerinnere, wie groß die Zahl der Kritiker des Bildungspaketes noch im letzten Jahr war, dass ich Sätze
gehört habe wie „Wo kommen wir denn da hin? Das haben wir noch nie gehabt. Wie soll das denn enden?“, und
wenn ich heute sehe, wie groß die Zahl der Befürworter
ist, dann kann ich nur sagen: Schön, dass das Bildungspaket jetzt so viele Väter und Mütter hat! Das ist der sicherste Beweis dafür, dass der Grundgedanke richtig ist
und dass er überzeugend ist.
({3})
Mit dem Bildungspaket denken wir zum ersten Mal in
den Hartz-Gesetzen wirklich vom Kind her. Es ist der
richtige Ansatz, nicht mehr Geld mit der Gießkanne auszuschütten, sondern etwas im Leben der Kinder ganz
konkret zu verändern. Es macht eben einen Unterschied,
ob Kinder beim Schulmittagessen danebensitzen und
nicht mitessen können oder ob sie daran teilnehmen
können. Es macht einen Unterschied, ob sie beim Schulausflug dabei sind. Es macht einen Unterschied, ob ein
16-Jähriger den Schulabschluss durch Lernförderung
noch schafft oder ob er die Schule schmeißt. Es macht
einen Unterschied für die Kinder - und zwar ein Leben
lang -, ob sie ihr Leben selbstständig in die Hand nehmen können oder nicht.
Ich weiß, dass es im Verlauf der Verhandlungen viele
Kritiker gegeben hat, die vor allem das Trennende aufgezählt haben, das, wo wir nicht einer Meinung waren.
Aber ich glaube im Rückblick: Das Bildungspaket ist im
Verlauf des Vermittlungsverfahrens so gut geworden,
weil es unser gemeinsames Bildungspaket geworden ist.
Es gibt einen guten Grund, warum wir uns bei großen
sozialpolitischen Reformen bemühen, einen breiten
Konsens nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch
zwischen den verschiedenen politischen Parteien herzustellen. Keiner hat mehr versucht, das Bildungspaket
aufzuschnüren. Ich freue mich, dass es auf die Kinder
von Geringverdienern ausgeweitet worden ist. Man hat
wirklich gemerkt, dass dieser Gedanke uns gemeinsam
am Herzen lag. Die Einigung hat sicherlich nicht so
lange gedauert, weil wir so weit auseinander waren, sondern eher, weil wir viel näher am Ziel und beieinander
waren und es nicht wirklich wahrhaben wollten und deshalb um jedes Detail so erbittert gerungen haben.
({4})
Der Riss ging quer durch beim Thema Regelsatz. Mir
ist völlig klar, dass Teile der Opposition sehr damit hadern, dass sie die Gesetze mit dem Namen Hartz auf den
Weg gebracht haben.
({5})
Sie haben mir immer wieder gesagt, dass sie nicht noch
einmal wegen der Höhe der Regelsätze in Karlsruhe landen möchten. Aber, meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Höhe der Regelsätze
angeprangert.
({6})
Es hat die Intransparenz, die Abschläge und die Schätzung ins Blaue angeprangert. Das haben wir korrigiert.
Dazu können wir jetzt stehen.
({7})
Völlig intransparent ist für mich allerdings das Verhalten der Grünen. Sie haben noch im Sommer letzten
Jahres auf einen neuen Regelsatz von 420 Euro spekuliert. Am Ende der Verhandlungen sind Sie bei 6 Euro
ausgestiegen. Wo ist da noch die Nachvollziehbarkeit?
Da ging es nicht mehr um konkrete Gründe. Da ging es
einfach nur darum, die Flucht nach vorne aus der Verantwortung anzutreten. Damit haben Sie Ihrem Ruf als Dagegen-Partei wahrlich wieder Ehre gemacht.
({8})
Es gibt bei dieser Reform neben den Kindern einen
weiteren großen Gewinner: Das sind die Kommunen.
Sie erhalten durch das Bildungspaket eine schöne Aufgabe,
({9})
eine nachhaltige Aufgabe. Sie werden durch die Übernahme der Grundsicherung für Ältere und Erwerbsgeminderte dauerhaft entlastet. Das sind alleine bis zum
Jahr 2020 52 Milliarden Euro. Damit haben wir den
Kommunen gegenüber Wort gehalten. Die Kommunen
erhalten vor Ort Spielraum für alle Familien und alle
Kinder. Der Bund hat sich sehr weit bewegt, damit dieser
Anfang auch ein neuer Anfang für die Kommunen sein
kann. Darauf sind wir stolz.
({10})
Es sind harte Verhandlungen gewesen. Bei diesem
großen und wichtigen Thema ist das auch nachvollziehbar und verständlich. Am Ende stand die Allianz
der Vernünftigen, der Konsensorientierten, der Lösungsorientierten. Das gilt auch für die Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit, die zum 1. Mai kommen wird.
Das gilt für die Mindestlöhne im Wach- und Sicherheitsgewerbe und in der Weiterbildungsbranche. Ich
danke allen Beteiligten, die die Kraft aufgebracht haben, diese große Reform auf den Weg zu bringen: auf
der Seite der Koalition, auf der Seite der SPD, im
Bund, aber auch in den Ländern. Es ist wahrlich eine
gute Tradition, solche großen Themen, die mit vielen
Auseinandersetzungen und Konflikten, aber auch mit
den richtigen Schwerpunkten verhandelt werden, gemeinsam zu bewältigen.
({11})
Der Weg dahin war mühsam. Ich finde, Politik muss
am Ende nicht einen Schönheitspreis gewinnen, sondern
sie muss gut sein. Das heißt, sie muss nachhaltig etwas
für die Menschen bewegen. Genau das lösen wir mit diesem Gesetz ein.
Vielen Dank.
({12})
Ich kann Ihnen nun das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses bekannt geben: abgegebene
Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 433, mit Nein haben gestimmt 132, enthalten haben sich 2 Mitglieder des
Hauses. Damit ist die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon
ja: 433
nein: 132
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({8})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({9})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({10})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({13})
Dr. Kristina Schröder
({14})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({16})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({17})
Peter Weiß ({18})
Sabine Weiss ({19})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({20})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({21})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({22})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({23})
Hubertus Heil ({24})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({25})
Frank Hofmann ({26})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({27})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({28})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({29})
Michael Roth ({30})
Marlene Rupprecht
({31})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({32})
Bernd Scheelen
Werner Schieder ({33})
Ulla Schmidt ({34})
Silvia Schmidt ({35})
Swen Schulz ({36})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({37})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({38})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({39})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({40})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Dr. Martin Lindner ({41})
Michael Link ({42})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({43})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({44})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({45})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Präsident Dr. Norbert Lammert
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({46})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({47})
Nein
SPD
Bettina Hagedorn
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({48})
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({49})
Volker Beck ({50})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({51})
Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Anna Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({52})
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({53})
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({54})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Enthalten
CDU/CSU
Thomas Dörflinger
SPD
Ottmar Schreiner
({55})
Ich erteile das Wort nun der Ministerin Manuela
Schwesig.
({56})
Manuela Schwesig, Ministerin ({57}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Ihnen liegt heute der Vorschlag des Vermittlungsausschusses vor. Es ist ein guter
Kompromiss erreicht worden,
({58})
wenn auch nicht alles erreicht wurde, was wichtig wäre.
Es hat lange gedauert. Es waren harte und zähe Verhandlungen bis auf die letzten Meter; aber am Ende hat es
sich gelohnt. Es ist uns gelungen, in drei wichtigen Bereichen Verbesserungen zu erzielen. Wir haben aus dem
Bildungspäckchen ein Bildungspaket gemacht. Wir haben Fortschritte beim Mindestlohn erzielt, und beim Regelsatz konnten wir zwei Korrekturen erreichen. Deshalb wird die SPD heute, nach diesen vielen zähen
Verhandlungen im Bundestag und im Bundesrat, diesem
Kompromiss zustimmen.
Aber, sehr geehrte Frau von der Leyen, bleiben wir
realistisch: Sozialpolitische Geschichte wird heute hier
nicht geschrieben; denn das, was vorliegt, reicht noch
nicht, um die Armut in Deutschland zu bekämpfen und
die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen.
Dazu muss es mehr geben: flächendeckende Mindestlöhne, Ganztagskitas, Ganztagsschulen und viel mehr Investitionen in Bildung.
({59})
Ich bin sicher, dass diese große sozialpolitische Reform kommen wird. Sie war in dieser Größe mit der
Ministerin Manuela Schwesig ({60})
Bundesregierung nicht möglich, weil soziale Gerechtigkeit und Aufstieg durch Bildung auf ihrer Prioritätenliste
nicht ganz oben stehen. Unsere Aufgabe konnte deshalb
nur sein, den vorliegenden Gesetzentwurf zu verbessern.
Das ist uns gelungen.
({61})
Gelungen ist uns dies gemeinsam mit den Grünen. Auch
wenn die Grünen heute am Ende nicht zustimmen werden - aus Gründen, die ich teilweise verstehe -, möchte
ich Danke sagen für die gute rot-grüne Teamarbeit,
danke vor allem dir, lieber Fritz Kuhn.
({62})
Für mich zählt unter dem Strich, was wir erreicht haben und ob es den Menschen nach dieser Reform besser
geht. Wir haben erreicht, dass zusätzlich 500 000 Kinder
aus Geringverdienerfamilien ein warmes Mittagessen
bekommen, in Vereinen gefördert sowie in Kitas und
Schulen unterstützt werden. Diese 500 000 Kinder hatte
die Bundesregierung vergessen.
({63})
Wir haben erreicht, dass 3 000 Schulsozialarbeiter zukünftig die Kinder unterstützen - Menschen für Kinder
und Jugendliche anstatt Chipkarten, Automaten und Bürokratie.
({64})
Wir haben erreicht, dass die Kinder nicht zum Arbeitsamt gehen müssen, um sich Essensmarken abzuholen; vielmehr werden die Kinder vor Ort unterstützt, in
den Städten und Gemeinden, in den Kitas und in den
Schulen. Da, wo sie sind, bekommen sie ihre Unterstützung. Die Kommunen sind die Experten für die Kinder
und nicht das Arbeitsamt. Deshalb ist es gut, dass wir die
Umsetzung des Bildungspakets in die Hand der Kommunen geben. Ich freue mich darüber, dass wir am Ende
diesen Weg gemeinsam gehen, auch wenn Sie sich
manchmal selbst am meisten im Weg gestanden haben,
Frau von der Leyen.
({65})
Dabei war es uns wichtig, dass die Kommunen das
Geld wirklich eins zu eins bekommen. Das ist deshalb
wichtig, weil, wenn die Kinder Leistungen bekommen,
dann das Geld vor Ort zur Verfügung gestellt werden
muss. Ich bin froh darüber, dass wir in der letzten Sitzung des Vermittlungsausschusses parteiübergreifend
mit den Ländern knallhart waren und die Istkostenerstattung durchgesetzt haben.
({66})
Damit gibt es die Garantie, dass die Leistungen wirklich
bei den Kindern ankommen.
({67})
Wir haben erreicht, dass zukünftig 1,2 Millionen Menschen mit Mindestlöhnen unterstützt werden. Die Hilfe
für 170 000 Menschen, die Tag und Nacht Wachdienst
schieben, für 25 000 Menschen, die sich in der Weiterbildungsbranche engagieren, und für 900 000 Menschen, die
in Leih- und Zeitarbeit arbeiten und einen ordentlichen
Job machen, also für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die tagtäglich schuften und davon nicht leben
können, war uns wichtig. Das zeigt, dass es richtig war,
hartnäckig zu bleiben. Der Mindestlohn gehört zum
Existenzminimum und zur Menschenwürde. Deswegen
ist es gut, dass wir uns beim Mindestlohn durchgesetzt
haben.
({68})
Auch haben wir erreicht, dass das Thema „Gleicher
Lohn für gleiche Arbeit“ in der Gesellschaft und in den
Medien bewusst diskutiert worden ist und dass uns die
Bürgerinnen und Bürger dabei mit großer Mehrheit unterstützen. Es muss so kommen, dass Menschen für die
gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten. Es ist schade,
dass wir bei dieser Reform noch nicht weiterkommen.
Aber ich verspreche Ihnen: Wir bleiben dran. Wir werden gleichen Lohn für gleiche Arbeit durchsetzen - entweder mit Ihnen oder mit einer Mehrheit gegen Sie.
({69})
Schwierig waren die Verhandlungen beim Regelsatz.
Die Bundesregierung und Union und FDP haben den Regelsatz zum Tabu erklärt. Es sollte keine Korrekturen geben. Deshalb ist es gut, dass trotzdem Korrekturen stattgefunden haben. Der Regelsatz wird nicht nur um 5 Euro
steigen, sondern zum 1. Januar 2012 um 8 Euro zuzüglich Preissteigerungen.
({70})
Klar muss sein: Das ist nicht viel Geld. Für die betroffenen Menschen ist es schwer, mit so wenig Geld klarzukommen.
Uns war ebenfalls wichtig, dass ehrenamtlich tätige
Hartz-IV-Empfänger nicht bestraft werden, sondern dass
sie weiterhin ihre Übungsleiterpauschale behalten können. Es darf nicht sein, dass Ehrenamtliche im Jahr des
Ehrenamtes bestraft werden. Dafür haben wir uns eingesetzt.
({71})
Auch für die Menschen mit Behinderung wird es eine
Lösung geben. Da nehmen wir Länder und Bundesregierung beim Wort. Wir werden in den nächsten Wochen
und Monaten auf den Weg bringen, dass wir Menschen
mit Behinderung nicht benachteiligen, sondern dass wir
die UN-Konvention in Deutschland leben.
({72})
Ich will auch sagen, dass für uns die Bedenken beim
Regelsatz nicht vollständig ausgeräumt sind. Die Bundesregierung hat hier die juristische Einschätzung abgegeben, dass dies ausreiche. Deshalb müssen Sie dafür die
Verantwortung tragen.
Ministerin Manuela Schwesig ({73})
Zur Teilhabe gehört auch, dass Städte und Kommunen in der Lage sind, Teilhabe zu sichern. Deswegen ist
es gut, dass wir sie mit 4 Milliarden Euro entlasten.
Auch hier, Frau von der Leyen, nehmen wir Sie beim
Wort, dass das nicht zulasten des Arbeitsmarktes gehen
kann.
Ziehen wir einen Strich unter all diese Punkte. Mit
diesem Gesetz wird zwar nicht alles gut sein, aber das
Leben für viele Menschen, vor allem für über 2 Millionen Kinder, wird sich wesentlich verbessern. Mir ist
wichtig, dass wir gemeinsam ein Gesetz machen, das die
Lebenssituation von Menschen verbessert. Deswegen ist
es gut, zuzustimmen.
({74})
Wir bringen heute dieses Gesetz für mehr Bildung
und mehr Mindestlöhne für die Menschen auf den Weg
und werden ab morgen dafür kämpfen, dass es so weitergeht: für soziale Gerechtigkeit, mit flächendeckenden
Mindestlöhnen, mit mehr Bildung für Kinder und mit einer fairen Unterstützung für sozial Schwache.
({75})
Das versprechen wir den Menschen.
Vielen Dank.
({76})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Rede von Frau Schwesig hat noch einmal dokumentiert,
dass sich die SPD in keiner Weise entscheiden kann: Auf
der einen Seite tragen Sie vor, was Sie Großartiges erreicht haben; auf der anderen Seite haben Sie in Ihrer
Rede immer wieder erklärt, dass Sie vollkommen unzufrieden sind und dass Sie sich noch viel mehr gewünscht
hätten.
({0})
Damit haben Sie dokumentiert, dass die Koalition in diesem Verfahren den Kurs der Vernunft und der Verfassungskonformität durchgesetzt hat.
({1})
Die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze ist eine gute
Nachricht für diejenigen in diesem Land, die die Solidarität der Gemeinschaft brauchen. Wir werden jetzt endlich die 5 Euro Regelsatzerhöhung auszahlen können,
die zum 1. Januar dieses Jahres gelten sollte. Endlich
sind wir auch in der Lage, das Bildungspaket umzusetzen, das diese Koalition auf den Weg gebracht hat.
({2})
Das ist eine gute Nachricht, nicht nur für diejenigen,
die die Solidarität brauchen, sondern auch für diejenigen, die das Geld erwirtschaften. Wir haben nämlich
durchgesetzt, dass es im Jahr 2011 bei der Regelsatzerhöhung um 5 Euro bleibt. Frau Schwesig, es sind eben
nicht 8 Euro zum 1. Januar 2012. Streuen Sie den Menschen keinen Sand in die Augen! Im Jahr 2011 sind es
5 Euro und ab dem Jahr 2012 3 Euro.
({3})
Danach folgt der Ausgleich, der nach dem Gesetz, das
wir auf den Weg gebracht haben, gezahlt werden muss.
Das bedeutet, dass wir in diesem Jahr eine Regelsatzerhöhung um 5 Euro haben. An dieser Systematik halten
wir fest.
Der Vermittlungsausschuss hat ein weiteres gutes Ergebnis erzielt, nämlich dass es keine neuen Sonderbedarfe, beispielsweise in der Mobilität, gibt. Damit ist
eine unkontrollierte Ausweitung in einen Nebenregelsatz
verhindert worden.
({4})
Das Verfahren hat erneut gezeigt: Die Grünen
scheuen die Verantwortung wie der Teufel das Weihwasser. Der Regelsatz ist angeblich nicht verfassungskonform. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass
das Gesetz, das wir heute im Auftrag des Bundesverfassungsgerichts reparieren, unter Rot-Grün gemacht
wurde. Ihr Gesetz war nicht verfassungskonform, und
wir reparieren es.
({5})
Frau Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Terpe?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Homburger, ich habe eine Frage an Sie
- wahrscheinlich habe ich Ihre Rede nicht richtig verstanden -: Sie wollen zum 1. Januar 2012 den Regelsatz
wieder kürzen?
({0})
Können Sie uns das noch einmal erklären?
({1})
Herr Kollege, ich erkläre es Ihnen gerne. Eben habe
ich erläutert, was wir gemeinsam im Vermittlungsverfahren beschlossen haben, natürlich ohne die Grünen,
weil sich die Grünen mal wieder aus der Verantwortung
stehlen. Das ist ihr Markenzeichen.
({0})
Dafür kann ich nichts. Damit müssen Sie leben.
Das Vermittlungsverfahren hat folgendes Ergebnis erzielt: Der Regelsatz wird - genau das hat das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt - nach den Bestimmungen des neuen Gesetzes transparent errechnet.
({1})
Es wird nicht Pi mal Daumen geschätzt, es wird nicht
nach dem Motto „Wünsch dir was“ verfahren, sondern
es wird klar errechnet, und zwar nach transparenten Kriterien.
({2})
Danach ergibt sich zum 1. Januar 2011 eine Erhöhung
um 5 Euro. Zum nächsten Jahr wird es, so wie es das Gesetz vorsieht, eine entsprechende Berechnung geben.
Ebenso wird, wie es im Gesetz steht, ein Ausgleich unter
Berücksichtigung der Preis- und Lohnentwicklung vorgenommen.
({3})
Es gibt auch noch eine entsprechende Veränderung beim
Berechnungszeitraum. Das bedeutet, dass wir jetzt umstellen: Die Anpassung findet zukünftig nicht mehr zum
1. Juli statt, sondern zum 1. Januar, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert hat.
({4})
- Genau, Frau Ferner. Es steht im Gesetz.
({5})
Aber der Kollege hat gerade noch einmal nachgefragt.
Es ist ja nicht mein Problem, dass er es noch einmal erklärt haben möchte. Ich nehme gerne die Gelegenheit
wahr, es noch einmal zu erklären.
({6})
Für das erste Halbjahr 2010 - Sie dürfen gerne stehen
bleiben, Herr Kollege; ich bin immer noch bei der Beantwortung Ihrer Frage ({7})
wird es eine entsprechende Erhöhung geben, nämlich die
3 Euro zum 1. Januar 2012, und dann für den Zeitraum
1. Juli 2011 - ({8})
- Entschuldigung, für den Zeitraum 1. Juli 2010 bis
30. Juni 2011 wird es die entsprechende Berechnung geben, wie ich es gerade gesagt habe.
Ich stelle fest: Wir haben in diesem Verfahren einen
Weg gefunden, um zu erreichen, dass es transparente Berechnungen und ein verfassungskonformes Gesetz gibt.
({9})
Sie haben die ganze Zeit nach dem Motto „Wünsch dir
was“ erst 6 Euro mehr, dann 17 Euro mehr, anschließend
3 Euro mehr gefordert. Die Grünen haben zwischendurch einen Regelsatz von 420 Euro gefordert, also
61 Euro mehr. Das ist nicht realistisch. Das macht keinen Sinn.
({10})
Es geht hier nicht um ein Würfelspiel, sondern um transparente Berechnung. Genau das haben wir an dieser
Stelle gemacht.
({11})
Sie haben sich aus der Verantwortung gestohlen, so wie
Sie es in vielen anderen Fällen gemacht haben. Sie festigen Ihren Ruf als Dagegen- und Auf-und-davon-Partei.
({12})
Frau Schwesig, ich erwarte, dass Sie endlich Schluss
machen mit der Märchenstunde.
({13})
Tun Sie doch nicht so, als ob Sie das Bildungspaket erfunden hätten. Rot-Grün hat in seinem Gesetz die Kinder
vergessen und sich nicht gekümmert. Auch das hat das
Bundesverfassungsgericht reklamiert.
({14})
Wir haben jetzt ein Bildungspaket auf den Weg gebracht. Für uns steht soziale Gerechtigkeit ganz oben.
({15})
Für uns ist Bildung die soziale Frage unserer Zeit.
({16})
Genau aus diesem Grunde haben wir dieses Bildungspaket so gemacht.
Es gibt eine weitere gute Nachricht für die Arbeitnehmer. Wir haben die Zeitarbeit als Brücke in den ersten
Arbeitsmarkt gerettet.
({17})
Auch das ist ein gutes Ergebnis, das in diesen Verhandlungen erreicht wurde. Die Zeitarbeit, für deren Erhalt
wir gesorgt haben, stellt insofern eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt dar, als sie denjenigen, die es schwer
haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, die
Chance bietet, auf Dauer eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bekommen.
({18})
Das ist ein großer Erfolg, der zeigt, dass wir an die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land denken und nicht Sie, meine Damen und Herren.
({19})
Wir haben ein großzügiges Angebot vorgelegt. Wir
sind bis an die Grenze des Finanzierbaren gegangen.
({20})
Ich sage Ihnen: Wir hätten sehr viel früher zu diesem Ergebnis kommen können.
({21})
- Nein, das hat der Richtige dazwischengerufen. Ausgerechnet die SPD war es doch, die mit ihren Maximalforderungen diese Verhandlungen über Wochen hinweg auf
dem Rücken der Schwächsten blockiert hat.
({22})
- Sie brauchen nicht dazwischenzurufen, Herr Heil.
({23})
In Hamburg entdeckt die SPD die Wirtschaft neu; in
Berlin und in Düsseldorf befindet sie sich mit den Linken in einem sozialen Überbietungswettbewerb. Etwas
weniger Schwesig und etwas mehr Scholz hätte der SPD
gutgetan und dafür gesorgt, dass in diesem Verfahren
schon etwas früher ein Ergebnis erreicht worden wäre.
Vielen Dank.
({24})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Dass Sie mich fürchten, begrüße ich.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Union,
FDP und SPD haben sich auf dem Rücken der Ärmsten
unserer Gesellschaft auf ein verfassungswidriges Gesetz
verständigt,
({1})
das das Urteil des Bundesverfassungsgerichts weitgehend ignoriert und - auch das sage ich - die Hartz-IVBeziehenden verhöhnt. Außerdem wurden der Rechtsstaat und die Demokratie schwer beschädigt.
Führende Politikerinnen und Politiker der SPD haben
verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, stimmen aber
trotzdem zu. Ich halte das für unverantwortlich.
({2})
Die Grünen haben erst fünf Minuten vor zwölf kalte
Füße gekriegt, aber immerhin: Sie haben sie bekommen;
das ist ja ein kleiner Fortschritt.
({3})
Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur
für Arbeit und verantwortlich für Hartz IV, sagte in der
Sendung Klipp & Klar des RBB am Dienstag, dass niemand auf Dauer von diesem Regelsatz leben könne.
({4})
- Ja, er wies darauf hin, das Ziel sei ja, die Hartz-IV-Beziehenden wieder in Erwerbsarbeit zu bringen.
({5})
- Ja, aber er und Sie übersehen zwei Tatsachen: Sie
übersehen nämlich, dass 860 000 Menschen, die
Hartz IV als Grundsicherung im Alter erhalten, überhaupt nicht mehr für den Arbeitsmarkt zur Verfügung
stehen und da auch keine Chance haben. Sie übersehen
außerdem, dass, seitdem SPD und Grüne Hartz IV eingeführt haben, das heißt seit knapp sechs Jahren, rund
1,4 Millionen Menschen ununterbrochen Hartz-IV-Leistungen empfangen, weil sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
({6})
Das heißt, 2,3 Millionen Menschen sind dauerhaft auf
Hartz IV angewiesen, wozu Herr Alt von der Bundes10722
agentur sagt, dass man davon dauerhaft nicht leben kann.
Nehmen Sie doch einmal zu dieser Tatsache Stellung!
({7})
Der Kompromiss, den Sie gefunden haben, ist scheinheilig, unsozial und unredlich.
({8})
Ich darf daran erinnern, dass mit dem sogenannten Sparpaket 3,8 Milliarden Euro bei den Leistungen für Hartz-IVBeziehende gestrichen wurden. Das Elterngeld wurde
gestrichen. Die Rentenbeiträge wurden gestrichen. Leistungen für Weiterbildung wurden drastisch gekürzt. Das
bedeutet doch, dass die Hartz-IV-Empfangenden sämtliche gefeierten Leistungssteigerungen selbst bezahlen.
Das kommt dabei heraus.
({9})
Stolz verkünden Sie zum Beispiel - Frau von der Leyen
ist ganz stolz darauf -, dass das Bildungspaket um
500 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt wird. Aber die
gleiche Summe sparen Sie durch die Streichung des Elterngeldes pro Jahr ein. Das heißt, die Eltern und die
Hartz-IV-Kinder finanzieren das Bildungspaket selbst.
Das kommt dabei heraus und nichts anderes.
({10})
Stolz haben Sie auch verkündet - damit wurden die
Länder geködert -, dass die Grundsicherung im Alter
nicht mehr von den Kommunen bezahlt wird, sondern
vom Bund. Das ist aber nicht wahr; denn es bezahlt nicht
der Bund, sondern es bezahlt die Bundesagentur für Arbeit. Das heißt, es bezahlen die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler.
({11})
Soweit die es nicht bezahlen, werden Leistungen gekürzt. Dann geht es wieder zulasten der Erwerbslosen.
Nicht aus Steuermitteln wird das Ganze finanziert, sondern aus Beitragszahlungen, und das ist völlig falsch.
({12})
Es ist gut - das begrüße ich auch -, dass
3 000 Schulsozialarbeitsstellen geschaffen werden. Aber
die Mittel dafür werden nach drei Jahren wieder gestrichen.
({13})
Es gilt der Grundsatz: Arm, ärmer, Kommune. In drei
Jahren sind die Kommunen nicht reicher. Sie wissen
schon heute nicht mehr, wie sie ein Bad, eine Bibliothek
oder ein Theater bezahlen sollen. Deshalb hätten sie sich
niemals auf die Befristung auf drei Jahre einlassen dürfen.
({14})
Man hat ein schlechtes Gewissen, etwas einzuführen,
wenn man es wieder abschaffen muss. Unbefristet brauchen wir Schulsozialarbeitsstellen.
({15})
Die Bundesregierung hat die Regelsätze für Kinder
ermitteln lassen und kam zu dem Ergebnis, dass die heutigen Regelsätze sogar zu hoch seien. Nur: Ihre Verbrauchsstichproben in Bezug auf Kinder wurden von allen Sachverständigen als nicht repräsentativ qualifiziert.
Auch das verstößt gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie stellen 10 Euro im Monat für Kinder
für eine Mitgliedschaft in einem Sportverein, für Musikunterricht etc. zur Verfügung. Finden Sie das nicht verhöhnend niedrig? Wer soll denn davon eigentlich was
real bezahlen?
Rechtsstaat und Demokratie, habe ich gesagt, wurden
schwer beschädigt - damit auch das Ansehen der Parteien, und zwar aller Parteien:
Erstens. Im Jahr 2008 hat Finanzminister Steinbrück
verkündet, dass die Erwachsenenregelsätze um 5 Euro
zu erhöhen sind. Sie haben die Vergleichsproben willkürlich so zugeschnitten, bis die 5 Euro herauskamen.
Das widerspricht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie haben die Bezugsgröße geändert. Statt 20 Prozent der unteren Einkommen beziehen Sie nur 15 Prozent ein, damit die 5 Prozent, die schon etwas höher
sind, nicht mehr in die Berechnung hineinfallen. Sie haben die verdeckt Armen nicht herausgerechnet. All das
verstößt gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
({16})
Zweitens. Der ganze Widerstand der SPD endete in
willkürlich gewählten weiteren 3 Euro, die aber erst im
nächsten Jahr gezahlt werden. Die SPD ist der Union
und der FDP also nur 3 Euro wert, und das auch erst in
einem Jahr. Das andere, das Sie aufzählen, sind völlig
unverbindliche Protokollerklärungen. Die FDP wird
selbst gegen die unbefriedigenden Regelungen beim
Mindestlohn für die Zeitarbeit tapferen Widerstand leisten.
({17})
Drittens. Die Vergleichsprobe bei den Kindern - das
habe ich schon gesagt - war unzulässig.
Viertens. Dies ist das Entscheidende in Bezug auf das
Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Grundsicherung verlangt, die ein menschenwürdiges Existenzminimum und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben
gewährleistet. Davon sind wir meilenweit entfernt.
Wir brauchen neben dieser Grundsicherung natürlich
endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn,
({18})
der selbstverständlich in verschiedenen Branchen verbindlich überschritten werden darf, und zwar auch, um
das Abstandsgebot zwischen Grundsicherungsbeziehenden und Erwerbstätigen zu wahren und aus vielen anderen Gründen.
Außerdem ist Ihr Ergebnis illegal zustande gekommen.
({19})
Der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und
Bundesrat bildete eine Arbeitsgruppe unter Ausschluss
der Linken.
({20})
Erst mithilfe des Bundesverfassungsgerichts wurden wir
in die Arbeitsgruppe einbezogen. Ab Mitte Januar tagte
sie nicht mehr. Es wurden illegale Kungelrunden organisiert.
({21})
Vor der Hamburg-Wahl konnten sich Union, FDP, SPD
und Grüne nicht einigen. So entschied der Bundesrat
- hören Sie zu! -, erneut den Vermittlungsausschuss anzurufen, und zwar mit den Stimmen aus Brandenburg
und Berlin, also auch mit den Stimmen der Linken. Bis
Dienstag dieser Woche hat der angerufene Ausschuss nie
getagt. Seit Sonntag gibt es aber ein Ergebnis, wieder in
einer illegalen Kungelrunde unter Ausschluss der Linken
zustande gekommen.
({22})
Sie wollen verhindern, dass die Linken von Ihren verabredeten Nebendeals erfahren. Aber Sie beschädigen die
Demokratie, weil Sie das Wahlergebnis nicht respektieren.
({23})
So wie wir die Wahl der anderen Fraktionen und die Bildung von Landesregierungen respektieren, müssten Sie
eigentlich bereit sein, unsere Wahl und unsere Teilnahme
an Landesregierungen anzuerkennen. Es tut mir leid:
Aber Sie sind undemokratischer als wir, und zwar alle
zusammen.
({24})
- Hören Sie zu! Ich mache Ihnen jetzt ein schönes Angebot. - Ich denke, wir sehen uns wieder, und zwar vor
dem Bundesverfassungsgericht.
({25})
Lieber Kollege Gysi, zumindest in der Bemessung der
Ihnen zugedachten Redezeit werden Sie eine Benachteiligung gegenüber anderen Fraktionen beim Verfassungsgericht nicht geltend machen können.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Fritz Kuhn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem Vermittlungsverfahren, das ein Kompromissverfahren ist, muss es informelle Gespräche zwischen allen,
die an einer Einigung interessiert sind, geben können.
({0})
Das ist nichts Illegales, Herr Kollege Gysi.
({1})
Als Jurist sollten Sie mit solchen Begriffen vorsichtiger
sein.
Ich will aber jetzt zur Sache reden. Wir haben nach
neun Wochen Verhandlungen dem Kompromiss am Ende
nicht zugestimmt, und zwar nicht deswegen, weil wir uns
in der Nacht aus der Verantwortung hätten stehlen wollen,
sondern weil wir die Regelsätze, wie sie jetzt festgelegt
sind, nicht für verfassungskonform halten. Von der Regierung sind keine Vorschläge, mit denen man dies hätte
heilen können, unterstützt worden.
({2})
Dass man dann Nein sagt, heißt eigentlich, Verantwortung zu übernehmen. Jedenfalls haben wir es so interpretiert.
Was haben Sie denn bei den Regelsätzen gemacht?
Sie haben zunächst die Referenzgruppe arm gerechnet,
indem Sie den Anteil der unteren Einkommensbezieher
von 20 auf 15 Prozent reduziert haben. Dann haben Sie
entgegen der Mahnung des Bundesverfassungsgerichts
Zirkelschlüsse ausdrücklich zugelassen, indem Sie die
Aufstocker und die verdeckten Armen nicht herausgerechnet haben. Das heißt, Sie haben die Referenzgruppe
durch die Verschiebung nach unten arm gerechnet.
In einem weiteren Schritt haben Sie Einzelposten so
massiv gestrichen - quasi nach der alten Warenkorbmethode -, dass ein Ausgleich zwischen den verschiedenen
zugewiesenen Posten nach der Statistikmethode gar
nicht mehr möglich ist. Deswegen glauben wir in der
Summe, dass Sie ein verfassungswidriges Gesetz vorgelegt haben;
({3})
aber das wird in Karlsruhe entschieden. Niemand kann
- Frau Homburger, da erstaunt mich Ihr Politikverständnis - von einer Fraktion, die dieser Überzeugung ist, erwarten, dass sie dennoch zustimmt und deswegen bis
3 Uhr nachts dableibt.
({4})
Ich glaube, das ist erklärt.
Die Nummer mit der Dagegen-Partei können Sie sich
an dieser Stelle sparen. Wir haben - ähnlich wie
Manuela Schwesig; ich möchte mich an dieser Stelle
auch für die gute Kooperation bedanken ({5})
die FDP in diesen neun Wochen als verkörperte Instruktion und Obstruktion wahrgenommen,
({6})
weil sie nie Kompromissvorschläge auf den Tisch gelegt
hat.
({7})
Frau von der Leyen, was Sie gerade gemacht haben,
war wirklich nicht okay. Wir haben einen Kompromissvorschlag nach dem anderen zum Regelsatz gemacht,
um zu einer Verfassungskonformität zu kommen, aber
Sie haben keine Vorschläge dazu gemacht. Sie haben in
einem Kompromissverfahren blockiert. Damit haben Sie
der deutschen Politik keinen größeren Gefallen getan.
({8})
Aber ich will jetzt einmal nach vorne schauen. Was
heißt das eigentlich für die Zukunft der Hartz-Gesetzgebung? Da, Frau von der Leyen, gibt es einen eklatanten
Widerspruch zwischen Ihnen und uns. Sie haben den
Kompromiss in einer Feierrede als toll, als Rieseneinschnitt dargestellt. Diese Einschätzung teilen wir nicht.
Zwar ist es richtig, dass das Bildungspaket verbessert
worden ist. Wir haben zusammen erreicht, dass die
Schnapsidee, dass die Jobcenter für die Umsetzung zuständig sind - bürokratisch mit Gutscheinen oder Chipkarten -, fallen gelassen wurde. Jetzt sollen die Gemeinden das umsetzen, in deren Zuständigkeit dies auch
gehört. Aber dennoch folgt für mich aus dem Urteil und
den Verhandlungen ein Auftrag an den Gesetzgeber, in
Zukunft mehr für die Infrastruktur zu tun, weil die Integration sonst gar nicht funktionieren kann.
({9})
Gegenwärtig gibt es - interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass der Ministerin diese Zahlen
in den Verhandlungen zunächst nicht vorlagen ({10})
in nur etwa einem Drittel der Schulen, Kitas und sonstigen Einrichtungen eine Kantine. Das kostenlose Schulessen, für das sie sich feiern lässt, kann derzeit allerhöchstens bei einem Drittel der Einrichtungen ausgebracht
werden. Das ist doch ein Schrei nach einer besseren Infrastruktur in unserem öffentlichen Schul- und Kindergartenwesen.
({11})
Eines sei am Rande einmal festgehalten: Diese Schwierigkeiten im Detail, auch die rechtlichen Schwierigkeiten, verdanken wir dem Kooperationsverbot, das fallen
muss, wenn wir endlich eine vernünftige Infrastruktur
für Bildung und Bildungsteilhabe in Deutschland haben
wollen.
({12})
Der zweite Punkt mit Blick auf die Zukunft ist: Wir
werden einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn brauchen; denn auch das folgt aus dem Urteil des
Verfassungsgerichts. Das hat die Kanzlerin immer noch
nicht verstanden. Sie begründet ihre fehlende Bewegung
beim Regelsatz in den Wahlkämpfen noch immer mit
dem Lohnabstandsgebot. Das Verfassungsgerichtsurteil
bedeutet aber nicht nur, Frau Homburger, dass wir transparente Regelsätze brauchen, sondern auch, dass wir Regelsätze brauchen, die jederzeit und realitätsgerecht, wie
das Verfassungsgericht sagt, das Existenzminimum sichern.
({13})
Das heißt, Sie können ein niedrig angesetztes Existenzminimum nicht mehr mit dem Lohnabstandsgebot begründen. Sie müssen Mindestlöhne einführen und die
Schmutzlöhne endlich abschaffen. An der Stelle muss
Bewegung her, damit wir die Grundsicherung realitätsgerecht erhalten können.
({14})
Des Weiteren folgt für uns aus dem Urteil - ich weiß
nicht, wie das die anderen Parteien sehen; Schwarz-Gelb
hat sich dazu jedenfalls nicht geäußert -, dass wir die
Hartz-Gesetzgebung gründlich überarbeiten müssen. Ich
meine, aus dem Urteil folgt auch - Karlsruhe hat ja festgestellt, dass es ein Grundrecht auf Grundsicherung gibt,
das sich aus dem Grundsatz der Menschenwürde und
dem Sozialstaatsgebot aus Art. 20 des Grundgesetzes ergibt -, dass wir überprüfen müssen, ob es nicht zu viel
Diskriminierung und zu viele Sanktionen in den HartzGesetzen gibt und wir die Grundsicherung sanktionsfreier gewähren müssen. Das ist der erste wichtige
Punkt.
Zweitens müssen wir überprüfen, Frau von der
Leyen, ob der alte Satz „Fordern und Fördern“ aufgegangen ist.
({15})
Ich meine: Nein, es wird zu wenig gefördert.
({16})
Wenn es in Deutschland 1 Million Dauerarbeitslose gibt
und wir einen sozialen Arbeitsmarkt für mindestens
400 000 Menschen brauchen, die nie auf einem normalen Level qualifiziert werden können, dann haben wir
doch ein gigantisches Problem in Deutschland. Wir müssen uns deswegen fragen, ob in den Jobcentern die richtigen Instrumentarien, die richtige Betreuung und die
richtigen Jobs angeboten werden.
({17})
Wir meinen, dass aus den Diskussionen der letzten Wochen und Monate die Aufgabenstellung folgt, mehr zu
fördern. Frau von der Leyen, wenn die Langzeitarbeitslosigkeit dauernd sinken würde, dann müssten wir darüber nicht reden; aber das ist nicht in größerem Umfang
der Fall.
Ich komme zum Schluss. Wir haben dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt, weil wir die Regelsätze für verfassungswidrig halten. Wir sehen die Erfolge, die uns
beim Bildungspaket gelungen sind. Ich sage Ihnen voraus: Sie von Schwarz und Gelb werden in den nächsten
Monaten beim Thema Mindestlohn in ein Rückzugsgefecht geraten. Das wird sich gewaschen haben; denn Sie
können diesen sozialpolitischen Unsinn nicht halten.
({18})
Wenn man in Deutschland ganztags arbeitet und damit
nicht seine Familie ernähren kann, dann wird das Leistungsprinzip und, wie ich finde, auch das Sozialstaatsprinzip systematisch ausgehöhlt. Wenn Sie von der FDP
auch noch darauf stolz sind, dann verweist das auf Ihre
innere Geisteshaltung, aber nicht auf eine vernünftige,
kompetente Sozialpolitik.
Vielen Dank.
({19})
Karl Schiewerling ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach langem Ringen ist ein
guter Kompromiss entstanden. Herr Kollege Gysi, dieser
Kompromiss ist nicht das Ergebnis „illegaler Kungelrunden“, sondern das Ergebnis ganz normaler demokratischer Prozesse und Auseinandersetzungen zwischen Parteien.
({0})
Ich finde es schon sehr bezeichnend, dass Sie sagen, wir
seien undemokratischer als Sie. Damit haben Sie eine
prima Selbsteinschätzung gegeben. Nur bestehe ich ausdrücklich darauf, dass wir uns in Ihrer Einschätzung
nicht einordnen.
({1})
Meine Damen und Herren, die Gewinner dieses zugegebenermaßen komplizierten Prozesses sind zu unserer
großen Freude die Kinder und die Kommunen. Die
Kommunen werden als Ergebnis dieses Prozesses - anders als Sie, Herr Kollege Gysi, es dargestellt haben deutlich entlastet und nicht weiter belastet. In Nordrhein-Westfalen kommt es derzeit zu einer gigantischen
Umverteilung: Die Kommunen, die ordentlich gewirtschaftet haben, werden bestraft. Diese Kommunen erhalten jetzt Gott sei Dank einen Ausgleich. Die anderen
Kommunen erhalten zwar auch Mittel; aber die Kommunen, die jetzt benachteiligt sind, erhalten jetzt wenigstens
eine ordentliche Perspektive.
({2})
Ich glaube, dass das eine gute Entscheidung war. Aber
noch viel wichtiger ist das Ergebnis, das wir zugunsten
der Kinder durchgesetzt haben.
Herr Kollege Kuhn, meine Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, das darf ich an dieser Stelle sagen: Ich
bedaure sehr, dass Sie die Verhandlungen abgebrochen
haben und ausgestiegen sind. Ich hätte gedacht, dass Sie
sich Ihrer Verantwortung stellen würden
({3})
und mithelfen würden, dass das, was 2004 - das habe ich
hier immer betont - von Rot-Grün auf den Weg gebracht
worden ist und letztendlich im Vermittlungsausschuss
von Union und FDP
({4})
mitgetragen wurde,
({5})
jetzt wieder gemeinsam in Ordnung gebracht wird. Ich
hätte mich sehr gefreut, wenn Sie sich dieser Verantwortung gestellt hätten. Ich glaube, dass das ein gutes Zeichen für die Demokratie in Deutschland gewesen wäre.
({6})
Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald?
Ja.
Herr Kollege Schiewerling, herzlichen Dank, dass Sie
die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben eben gesagt,
dass die Kommunen die Gewinner seien, weil sie von
den Kosten der Grundsicherung im Alter entlastet wür10726
den. Es ist erst einmal richtig, dass der Bund die Kosten
für die Altersarmut übernimmt, weil schließlich verschiedene Bundesregierungen unterschiedlicher Couleur mit rentenpolitischen Mitteln zur Altersarmut beigetragen haben. So weit, so schlecht.
Nun soll die Bundesagentur für Arbeit die Kosten
übernehmen. Bedeutet das nicht, dass letztendlich die
Arbeitslosen selber die Einsparungen tragen müssen,
ebenso die Beschäftigten bzw. die Versicherten, deren
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung deswegen erhöht
werden könnten? Aus meiner Sicht ist das eine Pervertierung des Gedankens, Erwerbslose zu fördern; eigentlich müssten die Leistungen für Erwerbslose und ihre
Familien mit dem Gesetz erhöht und nicht gekürzt werden. Was sagen Sie dazu?
Ich sage dazu: Ich bedanke mich bei Ihnen herzlich
dafür, dass Sie bestätigt haben, dass die Kommunen entlastet werden; denn das war meine Kernaussage.
({0})
Die Frage der Gegenfinanzierung und die Frage, wie
wir das Geld zusammenhalten - das ist ein völlig anderes Thema; dazu werde ich gleich noch etwas sagen,
weil mir das wichtig ist -, stehen auf der anderen Seite.
({1})
Ich bin mir sicher, dass nicht die Arbeitslosen den Beitrag der Bundesagentur für Arbeit zu entrichten haben.
Ich bin mir auch sicher, dass wir bei abnehmender
Arbeitslosigkeit gerade im Bereich des Arbeitslosengeldes I über Möglichkeiten verfügen, flexibel auf die Situation zu reagieren, und dass wir ebenso verantwortungsbewusst, wie wir die Kommunen entlastet haben,
die Gegenfinanzierung organisieren.
({2})
Ich möchte einen Hinweis zu der Hilfe für die Kinder
geben. Frau Ministerin Schwesig, ich finde es etwas
abenteuerlich, wenn Sie so tun, als wäre das Bildungspaket und die Hilfe für die Kinder von Ihnen organisiert
worden.
({3})
2004 sind Sie noch nicht einmal auf die Idee gekommen.
Wir haben ein Paket vorgelegt, das zu 100 Prozent umgesetzt wird
({4})
und das in seinen Grundstrukturen lediglich durch unsere erklärte Zustimmung auch auf die Kinder, deren Eltern Wohngeld beziehen, erweitert wird.
({5})
Ansonsten ist das Bildungspaket von Frau von der Leyen
geprägt, gestaltet, konzipiert und auf den Weg gebracht
worden. Es wird ein erfolgreiches Instrument werden,
({6})
an dem erstmals auch die Kinder in umfänglicher Weise
partizipieren.
({7})
Herr Kollege Schiewerling, darf Ihnen auch noch
Frau Enkelmann eine Zwischenfrage stellen?
Ja.
Herr Präsident, das ist gemäß Geschäftsordnung keine
Zwischenfrage, sondern eine Zwischenbemerkung.
Ich habe im Vermittlungsausschuss die Frage zur Gegenfinanzierung der Übernahme der Kosten für die
Grundsicherung durch den Bund gestellt und darauf hingewiesen, dass die Bundesagentur für Arbeit bereits in
diesem Jahr ein Defizit von 5 Milliarden Euro hat und
jetzt durch die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung zusätzlich belastet wird. Ich habe gefragt, wie
das ohne Leistungskürzung funktionieren soll. Daraufhin hat mir die Ministerin geantwortet, man könne über
Darlehen nachdenken, die der Bund an die Bundesagentur vergibt. Aber die Gewährung von Darlehen bedeutet
in der Konsequenz die Kürzung von Leistungen und
möglicherweise Beitragssteigerungen. Das war die Aussage im Vermittlungsausschuss. Das ist der Stand heute.
({0})
Auch eine Stellungnahme von mir: Darlehen an die
Bundesagentur für Arbeit sind etwas völlig Normales.
Sie hat es in der Vergangenheit immer gegeben.
({0})
Das ist ein bewährtes Finanzierungsmittel. Sie werden
wieder zurückgezahlt, spätestens dann, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt. Da wir uns in einem wirtschaftlichen
Aufschwung beispiellosen Ausmaßes befinden und die
Arbeitslosenzahlen sinken, haben wir die berechtigte
Hoffnung, dass wir das so finanzieren können.
({1})
Ich möchte auf das Bildungspaket zurückkommen.
Ich habe die große Hoffnung, dass die über 700 Millionen Euro - ich möchte die zusätzlichen Leistungen, die
für die Organisation erbracht werden, bewusst nicht in
den Mittelpunkt stellen -, die den Kindern an Leistungen
unmittelbar zugutekommen, auch tatsächlich von den
Kindern und deren Familien in Anspruch genommen
werden. Es würde mich sehr freuen, wenn jetzt Kindern
Mut gemacht wird, sich auf den Weg zu machen - zu
Sportvereinen, Verbänden oder anderen Organisationen und ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Ich bin sicher,
dass dies ein wichtiges Zeichen ist. Hier liegt viel Verantwortung bei den Kommunen. Sie bekommen nicht
nur Geld für die Umsetzung des Paketes; sie tragen auch
die Verantwortung dafür. Ich hoffe sehr, dass die Kommunen dies in umfänglicher Weise wahrnehmen.
Ich halte diesen Weg für geeigneter als den Weg über
die Schulsozialarbeit. Ich bin der Letzte, der nicht sieht,
dass es notwendig ist, dass wir Schulen in Brennpunkten
über Schulsozialarbeit begleitende Hilfen geben. Aber es
ist nicht die Aufgabe des Bundes, Schulsozialarbeit zu
finanzieren. Das ist Aufgabe der Länder. Wir sind nicht
dazu da, 45 000 Sozialarbeiter in 45 000 Schulen unterzubringen. Um dieses Problem müssen sich die Länder
kümmern;
({2})
sonst fangen wir auch noch auf der Bundesebene an,
Mittel zu verteilen. Deswegen ist es der richtige Weg,
die Kommunen in den Mittelpunkt zu stellen, sie finanziell entsprechend auszustatten und ihnen die Möglichkeit zu geben, die personellen Voraussetzungen zu schaffen, damit den Kindern, die auf diese Hilfe angewiesen
sind, effizient geholfen werden kann.
Die Regelsätze sind korrekt errechnet.
({3})
Ich sage Ihnen das an dieser Stelle frank und frei. Nach
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Anfang des
vergangenen Jahres haben wir in der Koalition vereinbart, dass, was auch immer geschieht, die Regelsätze
verfassungskonform auszugestalten sind. Wir wollen
kein zweites Mal vor dem Bundesverfassungsgericht
scheitern. Das ist die Maßgabe in der Koalition.
({4})
Ich bin ganz sicher, dass das Bundesarbeitsministerium,
dass die Bundesarbeitsministerin nicht nur korrekte Zahlen vorgelegt hat, sondern auch verfassungskonforme
Zahlen und dass diese Zahlen auch vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben.
({5})
Wenn wir davon nicht überzeugt wären, würden wir diesem Gesetz heute nicht zustimmen. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist.
({6})
Dass dagegen geklagt werden kann, gehört zu der Freiheit, die wir in unserem Staat haben. Aber eine Klageandrohung bedeutet noch nicht, dass man recht bekommt. Deswegen warten wir erst einmal das Urteil ab,
das kommen wird, wenn eine Klage eingereicht wird.
Ich möchte kurz auf einen weiteren Punkt eingehen.
Mit liegt sehr am Herzen, dass wir bei allem, was wir
tun, bei allen berechtigten Leistungen, die wir den Hilfeempfängern gewähren, immer im Blick behalten, dass
dies finanzierbar sein muss. Es muss immer im Blick behalten werden, dass dies durch die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler zu erwirtschaften ist. Es ist im Blick zu
behalten, dass gerade diejenigen, die erwerbstätig sind
und deren Einkommen knapp über den Transferleistungen liegt, von ihrem Einkommen Steuern zahlen und dadurch letztendlich die Leistungen mit finanzieren.
({7})
Es gehört auch zur sozialen Gerechtigkeit in Deutschland, die Leistungsträger in unserer Gesellschaft - dazu
gehören die Kindergärtnerinnen, die Krankenpflegerinnen und all die Menschen, die sich täglich abmühen nicht mit dem zu überfordern, was sie zur Finanzierung
des Sozialstaates und der berechtigten Ansprüche der
Leistungsempfänger aufzubringen haben.
({8})
Herr Kollege Schiewerling, kurz vor Ende Ihrer Redezeit würde die Kollegin Kipping auch gerne noch eine
Bemerkung machen.
Dass mir das Glück noch zuteil wird, Frau Kollegin.
({0})
Herr Schiewerling, zu den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses gehören auch diverse Protokollerklärungen. Eine davon beschäftigt sich mit der Regelbedarfsstufe 3. Ich muss jetzt Sie dazu befragen, weil vor
zwei Tagen der im Ausschuss anwesende Staatssekretär
nicht in der Lage war, uns eine klare Auskunft darüber
zu geben, wie diese Protokollerklärung zu interpretieren
ist.
({0})
Ich finde es im Übrigen höchst problematisch, wenn Sie
uns heute auffordern, unsere Hand für dieses Gesetz zu
heben, obwohl zentrale Sachen nicht geklärt sind.
Nur zur Erläuterung: Regelbedarfsstufe 3 bedeutet,
dass bedürftige erwachsene Menschen mit einer Behinderung, die mit anderen Erwachsenen zusammenleben,
in Zukunft nicht mehr 100 Prozent des Regelsatzes, sondern nur noch 80 Prozent bekommen. Das heißt, dass
mit der Regelung, die Sie neu eingeführt haben, erwachsenen Behinderten jeden Monat noch einmal 68 Euro genommen werden würden.
Die Protokollerklärung lautet:
Der Regelsatz für die Regelbedarfsstufe 3 wird mit
dem Ziel, Menschen mit Behinderung ab dem
24. Lebensjahr den vollen Regelsatz zu ermöglichen, überprüft.
Nun ist meine Frage: Was heißt das? Wann soll das
überprüft werden? Warum hat man das nicht sofort in
das Gesetz übernommen und die neu eingeführte Regelbedarfsstufe 3 einfach gestrichen? Heißt das, dass das
am Sankt-Nimmerleins-Tag überprüft werden soll? Müssen wir jetzt vier Jahre warten? Oder können wir darauf
hoffen, dass das sofort erfolgt und rückwirkend zum
1. Januar 2011 umgesetzt wird?
Schönen Dank, Frau Kollegin, für die Frage.
Erstens. Der anwesende Staatssekretär hat die meines
Wissens richtige Antwort gegeben. Er hat im Ausschuss
gesagt, dass man sich noch in den Verhandlungen befindet. Deswegen konnte er auch nicht mehr dazu sagen.
Zweitens. Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist das,
was Sie gerade vorgetragen haben, dass nämlich die
Regelbedarfsstufe 3 überprüft wird. Das ist am Dienstag
beschlossen worden. Die Prüfung ist heute, am Freitag,
noch nicht abgeschlossen. Wann sie abgeschlossen wird,
werden wir sehen. Ich hoffe, dass dies dann auch zielorientiert stattfindet.
({0})
Drittens. Zum sachlichen Gehalt Ihrer Frage: Es ist
richtig, dass ursprünglich vorgesehen war, die Regelbedarfsstufe 3 für Behinderte, die über 25 Jahre alt sind
und im Haushalt der Eltern wohnen, abzusenken. Die
Begründung lautete, dass wir entsprechende Zusatzzahlungen und Zusatzleistungen für Behinderte auf anderen
gesetzlichen Grundlagen haben, die weit über das hinausgehen, was selbst die oberste Spitze der Regelbedarfsstufe 3 ausmachen würde.
({1})
Das Ganze wird jetzt in die Prüfung mit einbezogen,
gut abgewogen, und das Ergebnis wird schließlich im
Deutschen Bundestag zur Abstimmung gestellt werden.
({2})
Meine Damen und Herren, ich möchte darauf hinweisen, dass wir mit dem heutigen Tag den zweiten Teil der
Reformen zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch abschließen. Der erste Teil war die Organisationsreform.
Das haben wir im Sommer letzten Jahres gemeinsam gemacht. Der zweite, wesentlich emotionalere Teil ist der
Teil der Regelsätze. Er ist deswegen so emotional gewesen, weil wir es bei dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
mit dem kompliziertesten Sozialgesetz in Deutschland
zu tun haben, von dem Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik und Familienpolitik, Bund, Länder
und Kommunen betroffen sind. Das macht die Komplexität dieses Gesetzes aus. So zu tun, als hätte jemand in
diesen hochkomplexen Fragestellungen eine einfache
Lösung, ist eine glatte Irreführung im Land. Es ist komplex. Es ist schwierig. Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt.
Wir stellen uns auch der dritten Aufgabe, die jetzt vor
uns liegt, nämlich die Instrumentenreform so zu gestalten, dass die Hilfe passgenau bei den Menschen ankommt; denn unser Ziel bleibt es - das ist die Aufgabe
des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, von Arbeitslosengeld II oder Hartz IV, wie es im Volksmund heißt -,
Menschen in Beschäftigung zu bringen und ihnen so
eine Perspektive zu geben, dass sie mit ihrer eigenen
Hände und Kopfes Arbeit den Lebensunterhalt für sich
und ihre Familien verdienen können. Diesem Ziel bleiben wir verpflichtet. Es ist der eigentliche Geist des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch.
({3})
Die Kollegin Elke Ferner ist die nächste Rednerin für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Wenn der Geist des SGB II so ist, wie Herr Schiewerling
es gerade gesagt hat, dann frage ich mich natürlich, warum diese Koalition die aktive Arbeitsmarktpolitik bei
den letzten Haushaltsverhandlungen und Haushaltsberatungen so rasiert hat, dass die Argen und die Jobcenter
überhaupt nicht wissen, ob sie in diesem Jahr noch neue
Maßnahmen anfangen können.
({0})
Herr Schiewerling, ich möchte noch einmal auf das
Thema Bildungspaket zurückkommen. Sie haben eben
so getan, als sei das, was jetzt beschlossen worden ist, alles Ihre Erfindung. Sie haben, weil die Ministerin es so
wollte, zusammen mit der FDP ein Bildungspaket beschlossen, das an Bürokratie nicht zu überbieten war. Ich
weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist. Auf alle Fälle haben mich während der Zeit der Neujahrsempfänge alle
Kommunalpolitiker, ob von SPD, von CDU oder von anderen Parteien, gebeten, um Gottes willen die Gutscheinlösung, die Chipkartenlösung nicht zu machen, um Gottes willen die Jobcenter und die Argen nicht zu einem
Bundesjugendamt zu machen. Genau das aber haben Sie
hier mit Mehrheit im Bundestag beschlossen. Wir haben
es im Vermittlungsausschuss zusammen mit den Grünen
erreicht, dass das nachhaltig geändert worden ist.
({1})
Ohne dieses Vermittlungsverfahren wären weniger
Kinder anspruchsberechtigt. Dass jetzt auch die Kinder
von Wohngeldempfängern in den Genuss des Bildungspakets kommen, ist nur deshalb so, weil es dieses Vermittlungsverfahren gegeben hat. Sie haben hier im Deutschen Bundestag etwas anderes beschlossen. Auch Ihre
Länder im Bundesrat haben etwas anderes beschlossen.
Sie hatten dafür nur keine Mehrheit.
Ein weiterer Punkt ist, dass wir einen Einstieg in die
Schulsozialarbeit bekommen haben. Natürlich kann man
Schulsozialarbeiter gut oder schlecht finden, Herr
Schiewerling.
({2})
Aber ich finde es eigentlich besser, dass Kinder dort, wo
sie sind, nämlich in den Schulen, in den Kitas, in den
Horten, an die Hand genommen werden, damit sie in den
Genuss des Bildungspakets kommen, als wenn die Eltern auf irgendein Amt gehen und einen Antrag stellen
müssen.
({3})
Das ergibt sich schon aus den Problemen, die an den
Brennpunktschulen und -einrichtungen vorhanden sind,
wo ohnehin Schulsozialarbeit angesagt ist.
Ferner haben wir einen Einstieg in Mindestlöhne erreicht.
({4})
- Ja, das ist so. - Für die auf der ganz linken Seite, die es
nicht wissen: Es ist üblich - das ist über die gesamten
Jahre der Republik und auch über alle Vermittlungsverfahren so eingehalten worden -, dass, wenn Protokollerklärungen gemacht werden, das dann auch im Anschluss in der Gesetzgebung umgesetzt wird. Darauf
können Sie sich genauso verlassen, wie wir uns darauf
verlassen, wenn wir in der Opposition sind, und genauso
wie wir uns daran halten, wenn wir in der Regierung
sind. Sie werden erleben, dass wir noch vor dem 1. Mai
Regelungen für die Leiharbeit haben werden, dass Mindestlöhne bei der Aus- und Weiterbildung, beim Wachund Sicherheitsgewerbe und, wie gesagt, für die Leiharbeit kommen werden. Sie werden es erleben.
({5})
Ihnen wird das nicht gefallen, weil das ein weiterer
Punkt ist, bei dem wir uns durchgesetzt haben, während
Sie sich einer Lösung verweigert haben.
({6})
Wir haben natürlich auch über die Regelsätze diskutiert. Ich bleibe dabei: Es gibt nach wie vor gravierende
Bedenken bei der Frage der Zirkelschlüsse, bei der Frage
des internen Ausgleichs und bei der Frage der Größe der
Referenzgruppe. Frau von der Leyen, wir haben Ihnen
zu allen Punkten Vorschläge gemacht. Wenn Sie heute
Morgen hier behaupten, es sei um x Euro gegangen,
dann ist das schlicht und ergreifend falsch.
({7})
Sie versuchen hier, die Tatsachen zu verdrehen. Wir haben immer gesagt: Wir wollen eine bessere Methode, die
das Ganze verfassungsfester macht. Wir wussten, dass
wir es im Vermittlungsverfahren sowieso nicht ganz verfassungsfest hinbekommen würden.
({8})
Am Ende der Berechnung mit einer bestimmten Methode steht ein Betrag und nicht umgekehrt, wie Sie das
gemacht haben. In der Rede von Frau Homburger ist
ganz deutlich geworden, dass die 5 Euro das Maß der
Dinge waren. Die Gesichtswahrung der Ministerin war
das Maß der Dinge.
({9})
Frau Homburger, wissen Ihre Kollegen, dass durch die
Umfirmierung der Warmwasserkosten, die Sie vorgenommen haben, die eigentliche Regelsatzerhöhung zum
1. Januar dieses Jahres nicht 5 Euro, sondern 5 Euro plus
8,47 Euro, sprich: 13,47 Euro beträgt? Wissen Ihre Kollegen und Kolleginnen das? Nein, das wissen sie nicht.
Frau Homburger, offenbar wissen Sie das selbst nicht.
({10})
- Bitte?
({11})
- Natürlich ist das umfirmiert worden. Bisher waren die
Warmwasserkosten in den Regelsätzen enthalten. Jetzt
sind sie in den Kosten der Unterkunft enthalten.
Am Ende werden nicht alle Hilfeempfänger unter
dem Strich 564 Euro haben. Diejenigen, die ihr Warmwasser mit Strom aufbereiten, werden 564 Euro plus
8,47 Euro haben, und bei denjenigen, die ihr Warmwasser mit der Heizung erzeugen, werden 6,43 Euro weniger abgezogen. Offenbar wissen Sie das nicht, Frau
Homburger.
({12})
- Daran ist nichts falsch,
({13})
aber Sie verheimlichen das.
Jetzt will ich Ihnen noch einmal sagen, was daran
falsch ist, Herr Fricke. Sie haben durch die Umbucherei,
die Sie vorgenommen haben, um Ihre eigenen Kollegen
und die Öffentlichkeit über das wahre Ausmaß der Regelsatzerhöhung hinwegzutäuschen, einen Fehler gemacht. Das Gesetz, das Sie beschlossen haben, war
schon allein deshalb verfassungswidrig, weil Sie für diejenigen, die ihr Warmwasser mit Strom aufbereiten, we10730
der im Regelsatz noch bei den Kosten der Unterkunft einen Posten hierfür vorgesehen haben.
({14})
Insofern können Sie froh sein, dass es ein Vermittlungsergebnis gegeben hat.
Wir haben zugestimmt. Unter dem Strich sind wir zu
einem anderen Ergebnis gekommen als die Grünen. Erstens glauben wir, dass die Regelsatzfrage so oder so in
Karlsruhe entschieden wird. Zweitens. Wenn man es bei
der alten Regelung, die bekanntermaßen verfassungswidrig ist, belassen hätte, wäre weder für die Kinder etwas erreicht worden - bei dem Bildungspaket geht es um
Teilhabe -, noch wären hinsichtlich der Mindestlöhne
Fortschritte erzielt worden.
Was ich zutiefst bedauere, ist, dass sich die Koalition
- ich meine insbesondere die Parteien und die Fraktion
mit dem C im Namen - nicht in der Lage sah, bei der
Regelbedarfsstufe 3 insbesondere die Schlechterstellung der Menschen mit Behinderungen, die von ihr verursacht worden ist, schon jetzt zu korrigieren. Ich kann
Ihnen schon jetzt eine Ansage machen: Wenn das Ministerium nicht in einem positiven Sinne prüft - so haben
wir und, ich hoffe, auch Sie das gemeint -, werden wir in
dieses Haus einen entsprechenden Gesetzentwurf einbringen. Dann kann sich die schwarz-gelbe Koalition
entscheiden, ob sie für Menschen mit Behinderungen etwas tun will oder nicht.
Schönen Dank.
({15})
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Heinrich
Kolb das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte fast am Ende dieser Debatte noch einige Anmerkungen machen, zunächst an Ihre Adresse, Frau
Schwesig. Sie haben nach langen, zähen Verhandlungen,
die mit einem Kompromiss beendet wurden, hier eine
Rede gehalten nach dem Motto: Wir stimmen zu, aber
wir bekennen uns nicht dazu. Das finde ich sehr bemerkenswert und nicht akzeptabel. Ihre siebenminütige
Meckerrede, Frau Schwesig - das muss ich Ihnen noch
mit auf den Weg aus dem Plenarsaal geben -, zeigt deutlich, wie wenig Sie am Ende tatsächlich erreicht haben.
Das ist hier sehr klar geworden.
({0})
Die zweite Anmerkung geht an das Team Rot-Grün.
Herr Kuhn, Frau Ferner, Herr Oppermann - ich spreche
Sie stellvertretend an -, Sie sind wahrlich kein DreamTeam; das muss man sagen.
({1})
Sie sind eine Schönwettertruppe, und wenn es ernst
wird, dann laufen Sie auseinander. Mit einer solchen
Methode ist kein Staat zu machen. Das will ich an Ihre
Adresse sehr deutlich sagen.
({2})
Die dritte Anmerkung geht an Herrn Kuhn; er ist gerade in ein Gespräch mit Herrn Heil vertieft. Herr Kuhn,
Sie haben gesagt, die FDP hätte Obstruktion betrieben.
({3})
Das haben wir wirklich nicht, aber wir haben auch nicht
zu allem, was Sie gefordert haben, Ja und Amen gesagt.
Das war auch gut und richtig so.
({4})
Dadurch ist es uns gelungen, Ihre Liste von Maximalforderungen sehr deutlich auf ein erträgliches Maß zu verkürzen.
({5})
Das wird beispielsweise bei der Frage der Mindestlöhne
deutlich. Es ist nicht richtig, Frau Ferner, hier zu sagen:
Es gibt jetzt für 1,2 Millionen Beschäftigte neue Mindestlöhne. So ist es nicht. Es gibt bereits für 900 000 - jetzt
sind es wohl eher 950 000 - Zeitarbeiter einen tariflichen Mindestlohn.
({6})
Er wird in dieser Höhe auch Grundlage für die absolute
Lohnuntergrenze, die wir einziehen wollen, sein. Ihr Erfolg besteht darin - auch das will ich sagen -, dass Sie
für polnische und litauische Zeitarbeiter höhere Löhne
erkämpft haben. Die Sozialistische Internationale wird
Ihnen das danken,
({7})
rühmen für die deutschen Zeitarbeiter dürfen Sie sich
mit dieser Tat aus unserer Sicht jedenfalls nicht.
({8})
Frau Schwesig hat hier am Ende zu Equal Pay gesagt:
Na ja, gut, dass wir einmal darüber gesprochen haben. Das war es nicht. Ich will darauf hinweisen, dass sich,
nachdem wir als FDP im Frühsommer dieses Thema in
der politischen Debatte mit angestoßen haben, sehr viel
bewegt hat.
({9})
Es ist deutlich geworden, dass es für die gesellschaftliche Akzeptanz der Zeitarbeit erforderlich ist, dass die
Heranführung der Bezahlung der Zeitarbeiter an die der
Stammbelegschaften auf einer Zeitschiene stattfindet.
Wir sind der Meinung - anders als Sie -, dass das Sache
der Tarifpartner sein soll. Sie sollen Branche für Branche
in einem fein ausdifferenzierten Netz entscheiden, wann
dieser Zeitpunkt gekommen ist. Der Gesetzgeber kann
allenfalls eine Auffangfrist definieren. So haben wir uns
in den Verhandlungen eingebracht.
Ich stelle fest: Wir sind mit diesem Kompromiss zufrieden. Wir bekennen uns auch dazu. Der Regelsatz ist
verfassungsfest. Wenn Sie, Frau Ferner, hier heute zugestimmt haben, dann dokumentieren Sie das konkludent
mit Ihrem Stimmverhalten.
({10})
Das Bildungspaket wird vor Ort umgesetzt. Das ist das
Richtige für die Kinder und wird deutlich verbesserte
Chancen für die Kinder von Hartz-IV-Beziehern und von
Kinderzuschlags- und Wohngeldberechtigten schaffen.
({11})
Beim Arbeitsmarkt sind die Verhandlungen mit minimalen Zugeständnissen ausgegangen. Deswegen freue ich
mich heute, dass es gelungen ist, dieses Kapitel abzuschließen.
({12})
Wir werden sicherlich neue Themen finden, über die wir
streiten können. Ich bedanke mich bei allen, die in diesen Verhandlungen hart, aber fair miteinander gerungen
haben und dieses Ergebnis möglich gemacht haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Eine solche Debatte bietet immer wieder, auch wenn schon viel gesagt worden ist, erstaunliche Erkenntnisgewinne. Lieber Herr Gysi, wenn Sie sich
an dieses Rednerpult stellen und sagen, das Verfahren sei
undemokratischer als Ihre eigene Partei, dann geben Sie
konkludent zu - das ist etwas, was ich nie behaupten
würde -, dass die Linke eine undemokratische Organisation ist.
({0})
Lieber Herr Gysi, für diese Aufklärung danke ich Ihnen
ausdrücklich. Wir können es schwarz auf weiß im Protokoll dieser Plenardebatte nachlesen. Herzlichen Dank,
ich habe wieder etwas dazugelernt.
({1})
Zu den Inhalten des Vermittlungsergebnisses wurde
bereits einiges ausgeführt. Nachdem momentan in vielen
Medien über den Zeitablauf ein bisschen kritisch berichtet wird, bietet diese Debatte, glaube ich, die Gelegenheit zur Richtigstellung: Wir hatten am 9. Februar das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts erhalten.
({2})
- Völlig korrekt, Herr Heil, am 9. Februar 2010 war das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts. - Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe lag uns im September
vor. Aus dieser Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
- es ist wichtig, darauf noch einmal hinzuweisen -, die
immerhin die Befragung von 60 000 Haushalten umfasst, wurden verlässliche, belastbare Zahlen zugrunde
gelegt, um die Regelsätze neu zu berechnen. Diese wurden im Herbst letzten Jahres in das gesetzgeberische
Verfahren eingebracht. Im Dezember wurde das Ergebnis vom Bundesrat nicht mitgetragen. Dann wurde in
den letzten acht Wochen verhandelt. Jetzt haben wir ein
Ergebnis. Viel schneller wäre es auch bei einem geordneten Gang der Dinge - ohne Schätzungen, ohne grobes
Pi-mal-Daumen-Rechnen - überhaupt nicht gegangen.
Dafür danke ich unserer Ministerin. Dafür danke ich
auch all denen, die an der Regelsatzermittlung mitgewirkt haben, an dieser Stelle sehr herzlich.
({3})
Ich darf in meinen Dank auch die Genossinnen und
Genossen von der SPD einbeziehen.
({4})
Ich weiß: Ich habe erst vor ein paar Wochen hier gestanden und an Sie, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, appelliert, noch einmal Rücksprache mit Ihren Ministerpräsidenten und Ihren Oberbürgermeistern zu halten. Das
Ergebnis, das wir heute gefunden haben - die Entlastung
der Kommunen um immerhin über 4 Milliarden Euro,
bis 2014 aufwachsend -, ist eine grandiose Geschichte.
Das kann man den Kommunen gar nicht deutlich genug
vermitteln. Danke dafür, dass Sie hier im Interesse der
Kommunen, im Interesse der Betroffenen, vor allem
aber im Interesse der Kinder an diesem Vermittlungsergebnis mitgewirkt haben. Das Abstimmungsergebnis in
der vorangegangenen namentlichen Abstimmung hat
dokumentiert, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind.
Für Ihr Mitwirken sage ich noch einmal Danke.
Ich danke allen Verhandlungsführern, aus unserer
Sicht natürlich unserem Ministerpräsidenten, dem Kollegen Straubinger, dem Kollegen Schiewerling
({5})
und den Kolleginnen und Kollegen aus dem Ministerium. Ich danke natürlich auch der Ministerin für das Ergebnis, dass wir jetzt im Vermittlungsausschuss eine
gute Lösung für die bedürftigen Kinder in unserer Gesellschaft gefunden haben.
({6})
Ich muss etwas richtigstellen. Herr Kuhn, Sie haben
vorhin hier gestanden und gesagt: Es reicht nicht aus,
Teilhabe zu fordern. Man muss die Teilhabe auch gewähren. - Sie kennen die Föderalismusreform I. Sie wissen, dass die Kultushoheit bei den Ländern liegt. Ich
nehme an, dass die Frau Kollegin Schwesig, die hier vorhin lebhaft gesprochen hat, aber jetzt leider durch wichtige Amtsgeschäfte verhindert ist, der Debatte weiter zu
lauschen - ({7})
- Bundesrat, okay; gut. Ich wollte unterstellen, sie geht
vielleicht nach Mecklenburg-Vorpommern und richtet
Sozialarbeiterstellen an den Schulen ein. Das wäre auch
eine gute Geschichte. ({8})
All diese Aufgaben liegen in der Kompetenz der Länder,
Herr Kuhn.
Im Bundesverfassungsgerichtsurteil - Sie haben es sicherlich genauso gründlich gelesen wie ich - ist von
Teilhabe an bestehenden Einrichtungen die Rede. Das
heißt, wir müssen uns fragen: Gibt es genügend Einrichtungen? Da haben Sie mich an Ihrer Seite. Ich habe bei
mir im Wahlkreis vor einigen Jahren erreicht, dass wir
das Programm „Vertiefte Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler“ mit Kofinanzierung des Freistaats
hinbekommen haben: 50 Prozent Bundesmittel, 25 Prozent Landesmittel, 25 Prozent Eigenanteil des Schulaufwandsträgers. Da kann man vieles erreichen. Lassen Sie
uns hier gern im Dialog bleiben, weil es wichtig ist, dass
man diese Angebote, diese Möglichkeiten für die bedürftigen Familien schafft.
Meine Damen und Herren, der Weg zu dem heutigen
Vermittlungsergebnis war sicher nicht leicht. Frau
Ministerin hat ausgeführt: Aus den Steinen, die man einem in den Weg wirft, kann man auch etwas Schönes
bauen. Ich glaube, es ist heute zumindest etwas Vernünftiges, etwas Sinnvolles - ob es von allen als schön empfunden wird, werden wir sehen - erreicht worden. Es
wird - da will ich ein Stück weit um Verständnis bitten auch bei den Kommunen, die jetzt für das Bildungspaket
zuständig sind, möglicherweise nicht ganz ohne Anlaufschwierigkeiten gehen. Hier bitte ich die betroffenen Familien, die betroffenen Kinder, die betroffenen Eltern
um ein bisschen Verständnis. Da wir hier Neuland beschreiten, sollten sie uns über die Kommunen Verbesserungsvorschläge zuleiten, wie es weitergehen kann. Man
sollte dieses Neue mit positiven Erwartungen begleiten
und nicht, wenn es am Anfang etwas zwickt oder hakt,
gleich alles schlechtreden.
Meine Damen und Herren, wir können stolz darauf
sein, dass am Ende auch die Inhalte, die wir uns vorgenommen haben, umgesetzt werden konnten. In der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses haben
wir es geschafft, mehr Chancengerechtigkeit für alle
Kinder zu erreichen, insbesondere für 2,5 Millionen bedürftige Kinder aus Hartz-IV-Familien. Sie haben nun
die Chance auf einen sozialen Aufstieg. So lässt sich der
Kreislauf aus ererbter Armut und Chancenlosigkeit
durchbrechen. Dafür, meine Damen und Herren, hat es
sich gelohnt zu kämpfen.
Wir haben mehr Hilfe für Langzeitarbeitslose erreicht. Ihnen wollen wir gute Bedingungen bieten, um
den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu meistern.
({9})
Wir haben mehr Unterstützung und Entlastung für unsere Kommunen erreicht. Sie müssen als unsere besonderen Partner in der Sozialpolitik gestärkt werden. Das
tun wir mit dem heute gefundenen Kompromiss. Damit
haben wir es geschafft, Hartz IV so umzugestalten, dass
ein faires und gerechtes Konzept entstanden ist - ein
großer Gewinn an sozialer Sicherheit, an sozialer Gerechtigkeit und an sozialstaatlicher Verantwortung. Insgesamt haben wir viel mehr umgesetzt, als uns das Bundesverfassungsgericht mit seiner Forderung nach
transparenten Regelsätzen aufgetragen hat.
Ich bin sehr froh, dass unsere Kommunen zu den klaren Gewinnern dieser Reform gehören. Wir haben eine
deutliche und nachhaltige Verbesserung ihrer Finanzen
durch eine milliardenschwere Entlastung von Sozialausgaben erreicht. Die Kommunen sind, wie bereits ausgeführt, unser wichtigster Partner in der Sozialpolitik. Sie
haben die Expertise vor Ort dafür, den Menschen zielgerichtet, sachgerecht und effektiv zu helfen.
({10})
Wir entlasten unsere Kommunen nicht nur finanziell,
sondern greifen ihnen auch bei der Aufgabenbewältigung tatkräftig und verlässlich unter die Arme.
Der Bund wird bis 2014 die Grundsicherung für
Ältere und Erwerbsgeminderte zu 100 Prozent übernehmen. Bereits ab dem nächsten Jahr erfolgt die Anpassung
schrittweise: zunächst mit der Übernahme von 45 Prozent
und dann mit der Übernahme von 75 Prozent im Jahre
2013. Die komplette Übernahme erfolgt schließlich im
darauffolgenden Jahr. Das ist ein finanzieller Befreiungsschlag für die Kommunen.
Gerade die Durchführung von Sozialprojekten im Bereich der Städtebauförderung wird für die Kommunen in
Zukunft leichter in eigener Zuständigkeit möglich sein.
Man braucht nicht nur zu jammern, nach dem Motto:
„Der Bund hat uns bei der Städtebauförderung ein Stück
weit nicht weiter so unterstützt wie bisher“, sondern man
kann das jetzt durch die Entlastung im Bereich des
SGB XII kompensieren.
Meine Damen und Herren, nach Informationen des
Deutschen Städtetages bedeutet dieser Schritt für die
Kommunen in Deutschland eine Entlastung von knapp
12,3 Milliarden Euro bis zum Jahr 2015. Der bayerische
Anteil hieran beträgt immerhin 1,3 Milliarden Euro.
Herr Kollege.
Herr Präsident, aufgrund der Wichtigkeit der Materie
habe ich mir erlaubt, diesen Satz noch anzufügen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld, wünsche Ihnen alles Gute und gratuliere diesem Hohen Hause und allen,
die mitgewirkt haben, zu dem gefundenen Ergebnis.
Danke schön.
({0})
Ich bedanke mich natürlich für die Glückwünsche, die
Sie an das ganze Haus gerichtet haben, im Namen desselben besonders herzlich.
({0})
Es gehört offenkundig zum ständigen Schicksal bei der
Disposition solcher Parlamentsreden, dass die besonders
wichtigen Sätze erst zu einem Zeitpunkt vorgesehen
sind, zu dem die Redezeit bereits abgelaufen ist.
({1})
Ich schließe die Aussprache. Wie zu Beginn der Debatte erstens angekündigt und zweitens vereinbart, gibt
es einige persönliche Erklärungen zur Abstimmung, die
wir dem üblichen Verfahren entsprechend zu Protokoll
geben. Den Wunsch zu einer mündlichen Erläuterung
des Abstimmungsverhaltens hat die Kollegin Dagmar
Enkelmann, der ich hierfür jetzt das Wort erteile.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe gegen den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Hartz-IV-Regelsätze gestimmt.
({0})
Ich habe dagegen gestimmt, weil das, was vom Vermittlungsausschuss vorgelegt wurde, ein fauler Kompromiss
ist.
({1})
Es ist ein fauler Kompromiss zulasten von 6,7 Millionen
Menschen in diesem Land. Als Mitglied des Vermittlungsausschusses stelle ich hier fest: Um einen wirklich
verfassungskonformen Regelsatz ging es in den offiziellen Verhandlungen zu keinem Zeitpunkt.
({2})
Ich habe der Einigung des Vermittlungsausschusses
nicht zugestimmt, weil das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht umgesetzt worden ist. Bis heute gibt
es keine Transparenz in Sachen Berechnung des Regelsatzes.
({3})
Wie kommen Sie auf 5 Euro mehr für 2011? Wie kommen Sie auf 3 Euro mehr ab 2012? Diese Berechnung
liegt bis heute nicht vor, und das ist vom Bundesverfassungsgericht angemahnt worden.
({4})
Die vereinbarte Regelsatzhöhe reicht auch nicht, um
die physische Existenz der Betroffenen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern,
wie es vom Bundesverfassungsgericht gefordert worden
ist.
Ich habe dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt, weil
Sie eine weitere Forderung des Bundesverfassungsgerichts nicht eingehalten haben, nämlich eine selbstständige Berechnung des Kinderregelsatzes nach dem tatsächlichen Bedarf für Kinder und Jugendliche durchzuführen.
Ihr Gesetz wird keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht haben. Ich habe dagegen gestimmt, weil ich
nicht an einem erneuten Verfassungsbruch beteiligt sein
will.
({5})
Zu einer weiteren mündlichen Erklärung erhält die
Kollegin Senger-Schäfer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
dem Gesetz nicht zugestimmt,
({0})
und ich muss im Namen vieler Bürgerinnen und Bürger
aus meinem Bundesland Rheinland-Pfalz, die ich hier
vertrete, und als pflegepolitische Sprecherin meiner
Fraktion eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten abgeben.
Ich stimme dagegen, weil das, was Sie, meine Damen
und Herren von Schwarz-Gelb und SPD-Rot, ausgehandelt haben, nicht mehr ist als ein fauler Kompromiss und
ein Hohn für die Betroffenen.
({1})
Ich stimme dagegen, weil die bisherige Bilanz von
Hartz IV eine Katastrophe ist, die durch dieses Gesetz
kein bisschen verbessert wird. Sie ignorieren nicht nur
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, sondern
Sie verhöhnen vor allem die betroffenen Menschen.
({2})
Ich stimme dagegen, weil in Rheinland-Pfalz bei den
unter 18-Jährigen die Armutsquote einen neuen Höchststand erreicht hat. Bei uns in Rheinland-Pfalz gelten
19,6 Prozent aller unter 18-Jährigen als armutsgefährdet.
Ich stimme dagegen, weil allein in Rheinland-Pfalz
44 Prozent der Alleinerziehenden, 52 Prozent der Erwerbslosen, 33,7 Prozent der Menschen ohne deutsche
Staatsangehörigkeit und 28,9 Prozent aller Menschen
mit Migrationshintergrund als armutsgefährdet gelten.
Ich stimme dagegen, weil den Verhandlerinnen des
Vermittlungsausschusses Menschen mit Behinderungen
nicht mehr als eine Protokollnotiz wert sind.
({3})
Was Herr Schiewerling auf die Fragen gesagt hat, war
unbefriedigend. Was die Kollegin Kipping gefragt hat,
ist hier nicht ausreichend beantwortet worden. Es bleibt
dabei: Eine menschenwürdige gesetzliche Regelung haben Sie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
({4})
Das ist unglaublich, und es ist diskriminierend.
Ich stimme dagegen, weil Sie, als die Banken in
Schieflage gerieten, ohne Mühe in der Lage waren, innerhalb einer Woche einen sogenannten Rettungsschirm
von 500 Milliarden Euro aufzuspannen. Auch zur EuroRettung hatten Sie flugs 148 Milliarden Euro parat.
({5})
- Oder Sie nicht.
Ich stimme dagegen, weil der Gesetzentwurf der
blanke Zynismus ist. Ich stimme auch deshalb dagegen,
weil es Ihnen innerhalb einer Wochenfrist möglich gewesen ist, 650 Milliarden Euro für Banken, Spekulanten
und Vermögensbesitzer zu mobilisieren. Ich stimme dagegen, weil Ihnen auf der anderen Seite die Ärmsten in
diesem Land nicht einmal eine Handvoll Euro wert sind,
ganz nach dem Prinzip „Wir da oben, ihr da unten“. Das
ist ein Skandal.
({6})
Nun möchte der Kollege Jan Korte noch eine Erklärung abgeben.
({0})
- Liebe Leute, mal einen Augenblick! Zur Geschäftslage: Die Geduld ist bei verschiedenen Tagesordnungspunkten und verschiedenen Beteiligten je nach Gefechtslage unterschiedlich ausgeprägt. Ich will nur darauf
aufmerksam machen, dass nach unserer Geschäftsordnung ein solcher Anspruch auf mündliche Erklärungen
zur Abstimmung besteht, die wiederum nach unserer
Geschäftsordnung in der Regel vor der Abstimmung erfolgen. Ich habe erläutert, warum ich von dieser Regel
abweichen möchte. Dem hat das Plenum auch zugestimmt. Aber es gibt überhaupt keine Veranlassung, damit den Anspruch auf Erläuterung der eigenen Position
zu verkürzen.
({1})
Im Übrigen finde ich es auch ausgesprochen angemessen, dass bei mehr als 20 Erklärungen zur Abstimmung für ganze drei eine mündliche Erläuterung gewünscht wird.
Bitte schön, Herr Kollege Korte. Sie haben das Wort.
({2})
Schönen Dank. - Dass die Grünen das nicht nachvollziehen können, kann ich wiederum nachvollziehen.
Ich will noch einmal deutlich sagen, warum ich aus
tiefster Überzeugung heute dagegen gestimmt habe,
nämlich erstens, weil ich dieses Geschacher und dieses
Theater, das in den letzten Wochen hier aufgeführt worden ist, für unwürdig und skandalös halte.
({0})
Zweitens. Ich habe dagegen gestimmt, weil ich es für
einen „dollen“ Vorgang halte, dass ausgerechnet diejenige Partei, die hier eine fundamental andere Auffassung
hat im Vergleich zu Ihnen allen und die die Interessen
von vielen Betroffenen vertritt, als einzige Partei von
diesem Prozess ausgeschlossen und nicht einmal gehört
wird.
({1})
Drittens stimme ich dagegen, weil in meinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt, in Anhalt-Bitterfeld und im
Salzlandkreis, unzählige Menschen zu jeder Bürgersprechstunde in die Büros der Linken kommen, um Rat
und Hilfe zu suchen, wie sie mit ihrem Leben bei den
Regelsätzen, um die es hier dieses Geschacher gegeben
hat, zurechtkommen sollen. Dass sie in ein FDP-Büro
niemals kommen, das ist sicher, Herr Döring.
({2})
Viertens stimme ich aus voller Überzeugung dagegen,
weil in Sachsen-Anhalt, wo mein Wahlkreis liegt, der
Niedriglohnsektor geradezu explodiert ist und fast doppelt so groß ist wie im Rest der Republik. Ich stimme dagegen, weil Sie nicht einmal ansatzweise den Schritt gehen, endlich einen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn einzuführen, den gerade die Menschen in
meinem Wahlkreis so dringend brauchen.
({3})
Ich frage mich - auch deswegen habe ich dagegen gestimmt -, wie lange Sie diese Zustände weiter dulden
wollen. In Sachsen-Anhalt ist von 2002 bis heute die
Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs um 4,48 Prozent gesunken. Ich habe noch aus einem anderen Grund
- das will ich hier deutlich sagen - dagegen gestimmt.
Wenn sich die Kollegin Schwesig hier hinstellt und sagt,
dass irgendwann ganz sicher eine große sozialpolitische
Reform in diesem Bereich kommen muss, dann ist zumindest eines sicher: Ohne die Linke wird sie bestimmt
nicht kommen.
({4})
Ich will noch eines sagen: Sich als SPD hier zum
Gralshüter des Mindestlohns zu machen, ist geradezu
absurd, wenn man dann gleichzeitig ein Vergabegesetz
in Sachsen-Anhalt will, das in Richtung Mindestlöhne
geht, und mit der CDU koalieren will, die ein solches
Gesetz mit Sicherheit verhindern will. Auch deswegen
habe ich dagegen gestimmt. Ich hoffe, dass es bald noch
mehr werden.
Danke.
({5})
Die Protokollführer haben einen Zwischenruf des
Parlamentarischen Staatssekretärs Hans-Joachim Otto
von der Regierungsbank aus festgehalten, den ich nicht
gehört habe, der aber nach unseren Regeln erstens unzu-
lässig ist und zweitens, wenn er aus den Reihen der Ab-
geordneten erfolgt wäre, von mir als unparlamentarisch
gerügt worden wäre.
Damit können wir den Punkt hoffentlich abschließen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 10 a und b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Beschäftigtendatenschutzes
- Drucksache 17/4230 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes personenbezogener
Daten der Beschäftigten in der Privatwirtschaft und bei öffentlichen Stellen
- Drucksache 17/4853 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache dazu 45 Minuten dauern. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich erteile das Wort dem Bundesinnenminister
Dr. Thomas de Maizière.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute - ich füge leise hinzu: endlich - in erster
Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum
Beschäftigtendatenschutz. Wir greifen damit ein Thema
auf, das seit vielen Jahren diskutiert wird und das nach
etlichen Datenschutzskandalen in großen deutschen Unternehmen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist.
Gesetzliche Regelungen gibt es bis heute nur vereinzelt.
Vieles ist der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte überlassen. Wir beschäftigen uns jetzt mit diesem Gesetzentwurf, um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen und einen
gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitgeber und den Interessen der Arbeitnehmer zu finden.
Warum ist das so schwierig? Weil eben die Interessen
und die betrieblichen Fallgestaltungen im Einzelnen sehr
unterschiedlich sind. Arbeitnehmer wollen zum Beispiel
vor Bespitzelung und Überwachung geschützt werden.
Arbeitgeber wollen etwa durch den Einsatz neuer Informationstechnologien geordnete Betriebsabläufe haben,
wodurch automatisch Erkenntnisse über Beschäftigte anfallen. Arbeitgeber wollen Korruption bekämpfen - das
erwartet die Öffentlichkeit von ihnen -; Arbeitnehmer
wollen nicht unter Korruptionsverdacht gestellt werden.
All das sind berechtigte Interessen, die in geordneter
Weise in einen Ausgleich gebracht werden müssen. Wir
haben mit diesem Gesetzentwurf den Versuch unternommen, das zu erreichen.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält Regelungen
zum Fragerecht des Arbeitgebers im Bewerbungsverfahren. Die klassische Frage an Frauen in diesem Zusammenhang ist: Sind Sie eigentlich schwanger, ja oder
nein? In diesem Gesetzentwurf ist geregelt, ob diese
Frage gestellt werden darf, was mit der Antwort darauf
passiert und vieles andere mehr.
Behandelt wird darin auch die Zulässigkeit ärztlicher
und sonstiger Untersuchungen. Wir erinnern uns, dass
manche Unternehmen selbst dann sämtliche infrage
kommenden Mitarbeiter aufgefordert haben, einen Bluttest zu machen, wenn bei ihnen keine Tätigkeiten ausgeübt werden, die mit Blutkonserven oder Ähnlichem zu
tun haben.
Darüber hinaus werden in diesem Gesetzentwurf Fragen der Videoüberwachung und der Nutzung von Telekommunikationsdiensten am Arbeitsplatz geklärt. Letzteres ist ein sehr schwieriges Thema. Zu klären ist etwa:
Wenn man gegen Abrechnung privat telefonieren darf,
darf dann der Arbeitgeber feststellen, mit wem man telefoniert hat, um Klarheit darüber zu gewinnen, ob ein Telefonat privat war? Auch das ist eine schwierige Abwägung.
Außerdem geht es um die Nutzung von Ortungssystemen, etwa um GPS bei Spediteuren. Während ein Spediteur etwa wissen möchte, wo sein Lkw ist, möchte der
betreffende Fahrer nicht dahin gehend überwacht werden, wohin er sich bewegt.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern
An diesen Beispielen sieht man, dass die Interessen
von Arbeitgeber und Arbeitnehmer immer in berechtigter Weise unterschiedlich sind.
Die Bundesregierung hat für diesen Gesetzentwurf
Kritik erfahren: sowohl von Arbeitgebern als auch von
Gewerkschaften. Normalerweise freut man sich nicht,
wenn man von zwei Seiten kritisiert wird. Wenn hier
aber die eine Seite sagt: „Das geht zu weit“, und die andere Seite sagt: „Das geht nicht weit genug“, dann haben
wir, glauben wir, einen ausgewogenen Entwurf vorgelegt.
({0})
Lassen Sie mich kurz auf ein paar Beispiele eingehen.
Umfangreich diskutiert wird das Thema der heimlichen
Videoüberwachung. Nach diesem Gesetzentwurf soll die
heimliche Videoüberwachung im Beschäftigungsverhältnis ausnahmslos verboten werden. Es handelt sich um
eine Vorschrift, mit der zugunsten des Datenschutzes der
Arbeitnehmer über die geltende Rechtsprechung hinausgegangen wird. Nach geltender Rechtsprechung ist die
heimliche Videoüberwachung als letztes Mittel zur Aufklärung von Straftaten zulässig. Das wollen wir ändern.
Wir glauben, dass es nicht sinnvoll ist, dass es in unserem
Land eine heimliche Videoüberwachung von Arbeitnehmern geben soll.
({1})
Gleichwohl besteht die Möglichkeit - Sie sagen es -,
kritische Bereiche durch eine offene Videoüberwachung
zu schützen - das wird in diesem Gesetzentwurf klar benannt -, zum Beispiel Kassenbereiche in Supermärkten
und Einkaufshallen. Dort werden dann beispielsweise
Ladendiebe mit einer Videokamera gefilmt. Aber man
kann einen Ladendieb nicht filmen, ohne automatisch
das Verhalten der Kassiererin mit zu erfassen.
({2})
Wenn die Videoaufzeichnung offen geschieht, wenn die
Mitarbeiter darüber also informiert sind - all das ist in
diesem Gesetzentwurf vorgesehen -, dann ist eine solche
Überwachung meines Erachtens dringend geboten und
notwendig, und sie ist hier auch vorgesehen. Ausdrücklich ausgenommen sind Sanitär-, Umkleide- oder Schlafräume. Diese Teile von Arbeitsstätten werden privat genutzt und sollen überhaupt nicht videoüberwacht werden.
Ein weiteres schwieriges Thema war der automatische Datenabgleich. Wir wollen nicht, dass es Korruption in großen Unternehmen gibt. Gleichzeitig wollen
wir die Mitarbeiter nicht unter einen Generalverdacht
stellen. Deswegen ist es in bestimmten Fällen - ich
denke etwa an die Mitarbeiter einer Vergabeabteilung und unter bestimmten Voraussetzungen, die ich aus Zeitgründen jetzt nicht näher erläutern will, möglich, dass
man Kontodaten der Beschäftigten mit Kontodaten bestimmter Auftragnehmer, also solcher Firmen, an die
von der jeweiligen Abteilung Aufträge vergeben werden,
abgeglichen werden, auch wenn es keinen konkreten
Verdacht gibt. Ein automatischer Datenabgleich ist unter
bestimmten Voraussetzungen zur präventiven Korruptionsbekämpfung notwendig. Wir halten das für richtig.
Ich will noch kurz einige Vorschläge von uns erwähnen, über die noch diskutiert wird.
Ein Punkt sind die Betriebsvereinbarungen. Ich will
den damit verbundenen Interessengegensatz kurz erläutern. Warum soll eigentlich der Gesetzgeber klüger sein
als die Betroffenen vor Ort? Wenn Arbeitgeber und Betriebsräte eine Vereinbarung geschlossen haben, dass mit
personenbezogenen Daten in einer bestimmten Weise
umgegangen wird, warum soll das in dem Gesetz eigentlich untersagt werden?
({3})
Die einen sagen: Jawohl, das ist eine Stärkung der Tarifautonomie und der Partnerschaft im Betrieb. Da hat
eine Betriebsvereinbarung Vorrang vor dem Gesetz. Das sagen viele. Die anderen fragen: Wie sind eigentlich
die Machtverhältnisse in den Betrieben? Bei großen Unternehmen mit 100 000 Beschäftigten mag das gehen.
Aber wie ist es bei einem kleinen mittelständischen Betrieb mit 50 Beschäftigten? Wie stark ist da der Betriebsrat gegenüber dem Betriebsinhaber? Kann nicht durch
eine Betriebsvereinbarung das Schutzniveau dieses Gesetzes unterlaufen werden?
Wir haben vorgeschlagen, dass Betriebsvereinbarungen Vorrang vor dem Gesetz haben, aber das Schutzniveau des Gesetzes nicht unterschreiten dürfen. Das ist
umstritten. Ich bin gespannt, was im Gesetzgebungsverfahren dabei herauskommt.
({4})
Der zweite Punkt, der in diesem Zusammenhang
ebenso interessant ist, ist die Frage: Wie ist es eigentlich
mit der Einwilligung des Betroffenen? Ist die Einwilligung des Betroffenen für ein System, das auf Freiheit
beruht, nicht wichtiger als die Weisheit des Gesetzgebers? Das ist ein starkes Argument.
Wenn jemand eingestellt werden will und der Arbeitgeber sagt: „Du bekommst die Stelle aber nur, wenn du
eine Blutprobe abgibst“ - Blutproben sind nach dem Gesetz an sich verboten -, dann ist der Arbeitnehmer, der
die Stelle haben will, nicht besonders frei darin, zu sagen: Nein, du bekommst keine Blutprobe. - Daraufhin
sagt nämlich der Arbeitgeber: Dann bekommst du die
Stelle leider nicht. - Er würde es zwar nicht direkt so sagen, aber sich so verhalten. Somit muss nach unserer
Auffassung auch die Einwilligung Grenzen haben. Auch
da sagen wir: Das Schutzniveau darf in bestimmten Fällen, etwa bei ärztlichen Eingriffen, wie es der Gesetzgeber sagt, auch durch eine Einwilligung nicht ausgehebelt
werden.
({5})
Auch dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen.
Auch das wird sicherlich Gegenstand der Anhörung
sein. Ich sage das nur deswegen, weil das ein wichtiger
Punkt ist, der deutlich macht, dass wir dieses Gesetz
nicht hinbekommen, ohne dass wir immer einen Abwägungsprozess zwischen den berechtigten Interessen des
Arbeitnehmers und des Arbeitgebers, des Betriebsrats
gegenüber dem Gesetzgeber und des Einzelnen gegenüber dem Gesetzgeber machen.
Ich denke, wir haben hier einen ausgewogenen Kompromiss vorgelegt. Ich freue mich auf die Debatte in den
Ausschüssen und im weiteren Gesetzgebungsverfahren
und hoffe auf einen zügigen Abschluss dieser Beratungen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Gerold Reichenbach
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, es sind Datenskandale bei der Telekom und bei der Bahn angesprochen worden. 150 000 E-Mails von Mitarbeitern wurden
überwacht. Lidl filmte seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bis in die Toiletten hinterher. All das macht
deutlich: Es gibt einen erheblichen Regelungsbedarf.
Denn in einem freiheitlichen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland muss der Grundsatz gelten:
Grundrechte machen nicht vor dem Werkstor halt. Da
unterscheiden wir uns von Ihrem Regierungsentwurf.
Es kann die Frage des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte, in die Hoheit über die eigenen Daten, die durch
Bundesverfassungsgerichtsurteile mehrfach gestärkt worden ist, nicht zu einem Abwägungsgegenstand zwischen
dem Schutz der Arbeitnehmerrechte auf der einen Seite
und betrieblichen Interessen auf der anderen Seite gemacht werden. Vielmehr muss deutlich werden, dass
auch vom Grundgesetz her unterschiedliche Rechtsgüter
gegeneinander stehen. Das ist der Grund, warum wir gesagt haben: Auch weil es - dies haben Sie gerade deutlich gemacht - im Machtgefüge ein Ungleichgewicht
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt, weil man
Arbeitnehmer nicht wie einen Kunden behandeln kann,
der irgendwo im Internetverkehr einem Anbieter gegenübertritt, müssen die Regelungen zum Arbeitnehmerdatenschutz im Arbeitsrecht vorgenommen werden und
nicht im Datenschutzrecht. Dafür gibt es eine ganze
Reihe von Gründen. Wir haben eine Fülle arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften, zu denen es eine umfangreiche
Rechtsprechung gibt. Wir haben auf der anderen Seite
eine allgemeine Rechtsprechung zum Datenschutzrecht.
Sie erwecken mit Ihrer Einbringungsrede den Eindruck,
dass Sie an zwei Stellen faktisch bereits den Rückzug
angeboten haben, nämlich bei der Frage, ob vom Schutzniveau des Gesetzes zum einen per Betriebsvereinbarung
und zum anderen per mehr oder weniger freiwilliger
Einwilligung des Arbeitnehmers abgewichen werden
kann.
Deswegen halten wir den Weg, den die Sozialdemokraten vorgeschlagen haben - unser Gesetzentwurf liegt
längst vor, und zwar vor dem Ihren - und den jetzt auch
die Grünen mit ihrem Gesetzentwurf einschlagen, für
den richtigen. Der Schutz der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer hat nicht im Datenschutzrecht stattzufinden, sondern im Arbeitsrecht.
Man stellt sich die Frage: Warum gehen Sie diesen
Weg nicht? Eine Antwort ist schon deutlich geworden:
Sie wollen die Arbeitnehmerrechte zum Abwägungsgegenstand machen. Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf
offensichtlich einen Teil dessen, was in der Arbeitsrechtsprechung inzwischen erreicht wurde, über das Datenschutzrecht zumindest relativieren oder den Arbeitgebern mit sehr weit gefassten Begrifflichkeiten eine
Auslegungsmöglichkeit eröffnen.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Über das Datenschutzrecht führen Sie einen Umstand ein, den es bislang im
Arbeitsrecht nicht gibt: Beim bloßen Verdacht des Arbeitgebers, beim Arbeitnehmer könne keine Eignung
mehr vorliegen, dürfen jetzt auch während des laufenden
Arbeitsverhältnisses medizinische und psychologische
Eignungstests vorgenommen werden. Bislang war das
nur aufgrund arbeitsschutzrechtlicher Bestimmungen
möglich und nicht aufgrund einer Abwägung oder eines
Verdachtsmoments seitens des Arbeitgebers. Das ist eine
klare Abweichung gegenüber dem geltenden Arbeitsrecht, die Sie jetzt im Datenschutzrecht vornehmen, und
zwar zulasten des Arbeitnehmers.
Die im Übrigen bereits durch EuGH-Rechtsprechung
verbotene Frage nach einer Schwangerschaft taucht bei
Ihnen in dem entsprechenden Passus nicht mehr auf. Es
geht dort nur noch um Behinderungsgründe. Auch hier
wird deutlich, wo die Reise hingehen soll.
Die Begriffe, die Sie verwenden, sind sämtlich unbestimmt. Das zeigt sich unter anderem bei der Frage der
Verhinderung von Korruption, wie Sie das gerade angesprochen haben, oder bei der Einhaltung von Compliance. Bei der Compliance stelle ich mir die Frage: Warum führen Sie diesen unbestimmten Begriff in der
Begründung ein? Compliance bedeutet eigentlich nichts
anderes, als sich an Recht und Gesetz zu halten. Das ist
in unserem Entwurf deutlich geworden, und zwar, wenn
es darum geht, Straftaten oder Verstöße gegen gesetzliche Regelungen oder Verordnungen zu verhindern.
Sie aber verwenden einen Compliance-Begriff, der
dem Belieben des Unternehmens und der Definitionshoheit des Arbeitgebers unterliegt. Wenn man schon diesen
modernen Begriff verwenden will, dann nur, wenn die
Compliance und die Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung
der Mitbestimmung unterliegen und nicht allein der Abwägung und des Wertsetzens des Arbeitgebers.
({0})
Es kommt ein weiterer Punkt hinzu. Viele Unternehmen sind international aufgestellt. In die ComplianceRegelungen der Unternehmen fließen teilweise Rechtsnormen aus anderen Ländern ein. Wollen Sie diese Normen dann auch zum Gegenstand der Abwägungsbefugnisse des Arbeitgebers machen?
Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf anschaut, dann
stellt man beispielsweise in den Regelungen des § 32 d
Abs. 3 oder des § 32 e fest, dass es einen Großteil der
Skandale, die wir bislang bei der Telekom oder der Bahn
erlebt haben, so nicht mehr geben wird. Denn nach den
Regelungen Ihres Gesetzentwurfes würden diese Vorgänge legalisiert oder zumindest einer Abwägung zugänglich. Genau das wollen wir nicht.
Deswegen - wir werden uns ja in einer Anhörung
über die Gesetzentwürfe unterhalten können und müssen sagen wir eindeutig: Arbeitnehmerdatenschutz heißt
Schutz der Arbeitnehmer und der Persönlichkeitsrechte
der Arbeitnehmer und nicht Abwägen der Arbeitnehmerrechte gegen betriebliche Interessen. Vielmehr hat das
Schutzniveau Vorrang. Deswegen wird ein Gesetz auf
Basis des Gesetzentwurfes, der hier von der Bundesregierung vorgelegt wurde, mit uns Sozialdemokraten
nicht zu machen sein.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegen Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich gerne zitieren:
Der Schutz der Daten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer wird erstmals in einem eigenen Gesetz verankert.
({0})
- Auf die Frage habe ich gewartet. Das ist nämlich ein
Zitat, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und
Grünen, aus Ihrem eigenen Koalitionsvertrag von 2002.
({1})
Das haben Sie geschrieben, aber Sie haben es in all den
Jahren nicht fertiggebracht,
({2})
diese gute Absicht, die ich Ihnen gerne unterstellen
möchte, in einen Gesetzentwurf zu gießen.
({3})
Da muss ich wirklich einmal feststellen, dass wir das
nun tun. Dass dieser Gesetzentwurf sicherlich noch diskussionswürdig ist, ist klar. Wir sitzen ja auch hier, damit wir darüber diskutieren. Aber allein dieser Formulierung wegen müsste man Ihnen schon dankbar sein.
({4})
Vier Jahre vorher spielte der Arbeitnehmerdatenschutz
bei Ihnen nämlich gar keine Rolle.
({5})
Wenn ich mir noch eine Bemerkung erlauben darf:
Dass Sie von der SPD, die Sie sich ja als die stolze Partei
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer präsentieren,
({6})
hier heute nur zu Dritt sitzen - nehmen Sie mir es nicht
übel -, gibt einem schon zu denken.
({7})
Bei der jetzigen Bundesregierung ist das ein bisschen
anders. Wir haben den Reformstau beim Arbeitnehmerdatenschutz erkannt. Wir gehen ihn jetzt an. Es ist richtig, wie der Bundesinnenminister gesagt hat, dass es
kaum eine zweite Regelungsmaterie gibt, bei der man so
stark zwischen verschiedenen Interessen abwägen muss.
Das ist auch aufwendig. Diesem Prozess unterziehen wir
uns gerade und werden wir uns weiterhin unterziehen.
Dass man das Ganze nicht einfach mit einem Federstrich
lösen kann, haben wir ja alle im Laufe unserer Diskussionen gemerkt.
Wir gehen das nun, wie gesagt, an. Für uns ist es eine
Selbstverständlichkeit, die Grundrechte und die Persönlichkeitsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch am Arbeitsplatz zu schützen. Genau das ist
der Grund, warum wir dieses Gesetz vorlegen. Bespitzelungen, Ausspähungen - diese Beispiele sind ja schon
genannt worden -, heimliche Überwachungsmaßnahmen
bis in den intimsten Bereich haben auch und vor allen
Dingen im Beschäftigungsverhältnis nichts zu suchen.
Deshalb verbietet dieser Gesetzentwurf die heimliche
Videoüberwachung am Arbeitsplatz. Ich glaube, das ist
ein guter und richtiger Schritt.
({8})
Allein dort, wo belegbare berechtigte Interessen des
Arbeitgebers erkennbar sind und/oder gesetzliche Verpflichtungen und Standards eingehalten werden müssen
- der Innenminister hat dazu einiges gesagt -, können
Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen gerechtfertigt sein, aber auch nur dann.
Natürlich sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
am Arbeitsplatz bereits heute nicht rechtlos. Das Problem ist nur: Kaum einer kennt seine Rechte. Die aktuelle Rechtslage ist doch vor allem durch eine Rechtsprechung geprägt, die einzelfallorientiert und damit weithin
unübersichtlich ist. Ich glaube, wir verfolgen ein gutes
Anliegen, wenn wir uns darum bemühen, das endlich zu
verbessern. Was aufseiten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu erheblichen Schwierigkeiten bei der
Rechtsdurchsetzung führt, führt auf der Arbeitgeberseite
zu Unsicherheiten, welche Datenverarbeitungen zulässig
sind und welche nicht. Diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, muss ein Ziel dieses Gesetzes sein.
({9})
Es ist kein Geheimnis, dass sich meine Fraktion - ich
glaube, ich kann hier für beide Koalitionsfraktionen
sprechen, auch wenn ich hier für die liberale Fraktion
stehe - schon jetzt viele Nachbesserungen an dem heute
vorliegenden Gesetzentwurf wünscht.
({10})
Aber Sinn einer ersten und zweiten Lesung ist ja, Verbesserungen und Veränderungen am Gesetzentwurf vorzunehmen.
({11})
Es genügt nach meiner Überzeugung in keiner Weise,
streitige Fragen, wenn überhaupt, erst in der Gesetzesbegründung aufzulösen. Auch das ist aus meiner Sicht bisher einer der Schwachpunkte des Gesetzentwurfes. Offene Fragen müssen im Gesetz selbst beantwortet
werden. Wir wollen Rechtssicherheit. Diese schafft man
nicht, wenn Klarstellungen allein in der Begründung
vorgenommen werden. Auch dazu werden wir im Parlament sicherlich eigene Akzente setzen.
Das gilt vor allen Dingen für die Zulässigkeit von
Mitarbeiterscreenings. Ich will an dieser Stelle deutlich
sagen: Ein Gesetz, das ein Massenscreening, wie es zum
Beispiel bei der Deutschen Bahn stattgefunden hat, am
Ende legalisieren würde, wird es mit uns nicht geben.
Das wäre auch das falsche Signal, das von diesem Gesetz ausginge.
({12})
- Herr von Notz, deshalb wird es Veränderungen geben.
Wenn Sie zuhören würden, dann hätten Sie das auch
realisieren können.
({13})
Um der großen praktischen Relevanz Rechnung zu
tragen, wird sich das Parlament des Weiteren auch den
Regelungen zur Datenerhebung im Bewerbungsverhältnis, zur privaten E-Mail-Nutzung, zu Konzernsachverhalten und zu der Frage, inwieweit Einwilligungen des
Arbeitnehmers und Betriebsvereinbarungen als Zulässigkeitskriterium für die Datenerhebung und -verarbeitung anerkannt werden können, zuwenden müssen. Das
sind offene Punkte, die wir regeln wollen und die wir
- davon bin ich überzeugt - auch regeln werden.
({14})
- Wenn Sie eine Frage haben, wenden Sie sich an den
Präsidenten!
In sämtlichen Bereichen eines Arbeitsverhältnisses
muss die Freiwilligkeit von Einwilligungen des Arbeitnehmers, sei es in der Datenverarbeitung durch den Arbeitgeber, sei es bei Fragen zur Arbeitszeit, intensiv hinterfragt werden. So weit, so bekannt. Da ein Gesetz aus
guten Gründen aber nur abstrakte Vorgaben machen
kann, müssen wir einen Weg finden, wie wir allen betroffenen Unternehmen - von der Drei-Mann-Werkstatt bis
zum DAX-Konzern mit bis zu 250 000 Mitarbeitern - die
Möglichkeit eröffnen können, punktgenau auf die eigenen innerbetrieblichen Anforderungen zu reagieren.
Im Gesetzentwurf wird endlich zu Recht anerkannt,
dass kollektivrechtliche Vereinbarungen als eigenständige Rechtsvorschriften möglich sind. Dass Betriebsvereinbarungen dabei natürlich nicht den Kern des Gesetzes
und der damit verbundenen Schutzregeln verletzen dürfen, steht aus unserer Sicht außer Frage und ist, wenn ich
das richtig sehe, im Übrigen schon heute geltendes
Recht. Ob allerdings eine allzu starre Regelung sinnvoll
ist, wonach auch bei nur minimaler Unterschreitung des
gesetzlichen Schutzniveaus das Fine-Tuning in den Unternehmen über Betriebsvereinbarungen nicht mehr
möglich sein soll, wird - das haben wir heute schon gemerkt - in den weiteren Beratungen eine Rolle spielen.
Dass wir heute überhaupt einen Gesetzentwurf einer
Bundesregierung, und zwar dieser Bundesregierung, zur
Verbesserung des Arbeitnehmerdatenschutzes auf dem
Tisch des Hohen Hauses haben, ist, gemessen an der
Leistung der Vorgängerregierungen, schon, so finde ich
persönlich, eine kleine Sensation.
({15})
Darauf können und werden wir uns nicht ausruhen. Der
Gesetzentwurf markiert den ersten Schritt. Ich freue
mich auf eine konstruktive Debatte im Sinne von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland. Wir
bieten das an, und wir würden uns freuen, wenn Sie unser Angebot nutzen.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
beiden Redner der Koalition - das ist in der Tat interessant - kündigen schon bei der Einbringung des eigenen
Gesetzentwurfs bedeutende Änderungen an. Vielleicht
machen Sie das in Zukunft vorher. Dann könnten Sie mit
mehr Güte der Opposition rechnen. Das als kleiner Verfahrenshinweis.
({0})
Aber gut, der Gesetzentwurf ist nun eingebracht. Ich
will ein Beispiel dafür geben, worum es hier eigentlich
geht. Im Bericht des Landesdatenschutzbeauftragten von
Sachsen-Anhalt wird der Fall eines Discounters beschrieben. Dieser Discounter hat Privatdetektive engagiert, angeblich um Ladendiebstahl aufzudecken. So weit, so
nachvollziehbar. Real waren die Detektive aber für
etwas ganz anderes da, nämlich für die Ausforschung
und die Beobachtung sowie die Kontrolle des Verhaltens
der Mitarbeiter. Dort ist beispielsweise protokolliert
worden - ich zitiere -: Frau K. ist im sechsten Monat
schwanger. - Oder: Frau G. tätigt während der Pause Privateinkäufe. - Solche Beispiele gibt es reihenweise.
Das zeigt eines, nämlich dass ein solches Vergehen in
diesem Land nicht die Ausnahme, sondern mittlerweile
die Regel ist. Deswegen brauchen wir Schutz für die Beschäftigten und nicht so einen Wischiwaschi-Gesetzentwurf, wie er vorliegt.
({1})
Fehlender Datenschutz, fehlende Arbeitnehmerrechte
betreffen natürlich in ganz besonderer Art und Weise
- darauf will ich eingehen - diejenigen, die in prekärer
Beschäftigung sind. Die unteren Lohngruppen betrifft es
besonders. Den Leuten dort muss man unbedingt helfen.
Das gilt besonders angesichts der Tatsache, dass prekäre
Beschäftigung, Minijobs, Midijobs - das ist übrigens
von allen anderen Parteien außer der Linken politisch
gewollt - weiter ausgebaut werden.
({2})
- Diesen Zwischenruf hätte ich mir an Ihrer Stelle verkniffen; denn die Explosion der Anzahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse ist in der Regierungszeit der
SPD geschehen. - Wir brauchen deswegen ein eigenständiges Arbeitnehmerdatenschutzgesetz und nicht sozusagen ein Anklatschen an das Bundesdatenschutzgesetz.
({3})
Weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem
Abhängigkeitsverhältnis stehen - es heißt „abhängig Beschäftigte“ -, ist es natürlich ganz entscheidend, dass
insbesondere sie mehr Rechte - im Übrigen auch stärkere Gewerkschaften - brauchen. Bei Ihren Abwägungen, die Sie dargestellt haben, besteht das Problem, dass
Sie zugunsten der Arbeitgeber abgewogen haben. Wir
aber wollen zugunsten der Arbeitnehmer abwägen. Das
ist der entscheidende Unterschied.
({4})
Die Hans-Böckler-Stiftung hat vor kurzem das Ergebnis einer Abfrage unter Betriebsräten veröffentlicht. Die
entsprechenden Zahlen zeigen, dass im Schnitt jeder
siebte Betrieb grundsätzlich und massiv gegen den Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte seiner Beschäftigten verstößt. Das muss man sich einmal vorstellen:
jeder siebte Betrieb. Aufgrund dieser unhaltbaren Zustände ist der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf völlig
ungenügend. In ihm wurde eine Abwägung zugunsten
der Arbeitgeber getroffen. Das kann doch angesichts der
Zustände, die wir Woche für Woche hier erleben, nicht
sein.
Ich komme jetzt zu einer, wie ich finde, besonders bizarren Finte, die Sie hier eingebaut haben. Sie haben es
eben selbst angesprochen und als eine Verbesserung dargestellt. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man von
einem guten Gag sprechen. Sie sagen nämlich, dass Sie
die illegale Videoüberwachung verbieten wollen.
({5})
- Die heimliche Videoüberwachung. Man kann auch illegale Videoüberwachung sagen. - Sie wollen also die
heimliche Videoüberwachung verbieten. Jetzt kommt
aber der Hammer: Als Alternative führen Sie eine flächendeckende offene Videoüberwachung ein. Das ist
doch absurd; das kann doch nicht der Weg sein.
({6})
Ein weiterer Einwand betrifft § 32. Der Minister ist
vorhin diesbezüglich zu einer richtigen Erkenntnis gekommen. Ich verstehe nur nicht, warum er sie nicht in
den Gesetzentwurf hat einfließen lassen. Ich zitiere:
Mit Einwilligung des Beschäftigten darf der Arbeitgeber auch bei sonstigen Dritten personenbezogene
Daten des Beschäftigten erheben; …
Das ist doch absurd. In der Realität sieht es einfach so
aus, dass der Chef sagt: Wenn du nicht einwilligst, ist
dein Bewerbungsverfahren beendet. - Ich kann also
nicht verstehen, dass Sie diesen Satz in den Gesetzentwurf hineingeschrieben haben.
({7})
Abschließend möchte ich sagen: Dieser Gesetzentwurf ist im Sinne der großen Konzerne. Auch wenn man
sich ihn in mühevoller Kleinarbeit durchliest, kann man
keine Richtungsänderung erkennen. Ein brauchbares Arbeitnehmerdatenschutzgesetz - das ist der Kern - muss
man in diesen Zeiten als Arbeitnehmer am besten als Fibel in der Tasche haben, um dem Chef sagen zu können:
Das, was du von mir verlangst und was du mit meinen
Persönlichkeitsrechten machst, ist nicht erlaubt.
So etwas brauchten wir. Leider ist das in diesem Gesetzentwurf noch nicht einmal ansatzweise geregelt.
Deswegen werden wir ihn so, wie er ist, ablehnen. Aber
wie wir nun einmal sind, werden wir natürlich versuchen, konstruktiv mitzuarbeiten. Nur leider hören Sie
nicht auf die klugen Ratschläge der linken Opposition.
Danke.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz
von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der gläserne Beschäftigte ist technisch heute problemlos
möglich. Die technischen Möglichkeiten werden genutzt. Das haben die letzten Skandale, die heute Morgen
schon vielfach angesprochen wurden, deutlich gezeigt.
Diese spektakulären Fälle sind aber nur die Spitze eines Eisberges aus wachsender Überwachung und Kontrolle am Arbeitsplatz. Es ist Konsens, dass heute ein
massives strukturelles Ungleichgewicht zugunsten der
Arbeitgeber beim Datenschutz von Beschäftigten besteht. Deswegen ist das Austarieren eines Gleichgewichts - da gebe ich Ihnen völlig recht, Herr Minister zwischen den Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern seit langem überfällig.
Mit Ihrem Gesetzentwurf aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Koalition, scheitern Sie an dieser Aufgabe
- das muss man leider so hart sagen - in allen Bereichen.
Sie selbst, Herr Minister, haben eben davon gesprochen, dass Sie mit dem Gesetzentwurf den „Versuch“
unternommen hätten, die Lage zu verbessern. So kann
man es in der Tat ausdrücken.
({0})
Die Kollegin Piltz hat erklärt, der Gesetzentwurf sei eine
brauchbare Grundlage, auf der man aufbauen könne. Das
zeigt doch vor allem eins, nämlich dass die Begeisterung
in Ihren eigenen Reihen ausgesprochen überschaubar ist.
({1})
Es kommt massivste Kritik von allen Seiten, vom
DGB bis hin zum Arbeitgeberverband, und das völlig zu
Recht; denn Ihr Entwurf scheitert bereits an den von Ihnen selbst sehr niedrig gesteckten Zielen. Er regelt nur
unzureichend, er bringt weder Rechtsklarheit noch
Rechtssicherheit. Der Entwurf ist handwerklich völlig
missglückt. Selbst Fachleute sehen ihn als praktisch
durchgängig unverständlich an.
Abzuwägen ist völlig okay, aber wenn sich in jedem
zweiten Paragrafen eine andere Formel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes findet, dann ist es unmöglich, das
einer juristischen Dogmatik zu unterwerfen. Daran
scheitert so ein Gesetzentwurf auch.
Mir ist es auch völlig unverständlich, warum Sie jetzt
versuchen, diese Regelungen gegen den Rat aller Fachleute in das völlig veraltete, chaotische und unübersichtliche Bundesdatenschutzgesetz zu implementieren. So
eine Verschlimmbesserung hat diesem Gesetz gerade
noch gefehlt.
({2})
Die Arbeitgeber - und deswegen nützt Ihr Gesetzentwurf leider keinem - erhalten keine Konzernklausel. Das
zentrale Problem, wie innerhalb von Konzernen eine
vernünftige Personalverwaltung datenschutzrechtlich
abgesichert werden kann, bleibt in Ihrem Entwurf - offenbar bewusst - weiter ungelöst. Auch die Beschäftigten werden bei den zentralen Fragen weiter im Regen
stehen gelassen. Denn der Entwurf bedeutet vor allem
eines: die Legalisierung vormals höchst fragwürdiger
Vorgehensweisen. Frau Piltz hat es eben angesprochen:
Sie legalisieren das anlasslose Massenscreening von
ganzen Belegschaften zu „Compliance“-Zwecken ins
Blaue hinein, um selbst bloßen Pflichtverletzungen
nachspüren zu können.
({3})
Das entspräche exakt einer Legalisierung der Praxis der
Deutschen Bahn, die rasterfahndungsähnliche Maßnahmen gegen 170 000 Bedienstete durchgeführt hat
({4})
und dafür zu Recht vom Landesdatenschutzbeauftragten
hart sanktioniert wurde.
({5})
Der Kollege Korte hat es eben schon angesprochen:
Mit dem vorgeblichen Verbot der heimlichen Videoüberwachung haben Sie sich ein bürgerrechtliches Feigenblättchen zugelegt. Aber allgemeines heimliches
Schnüffeln mittels Detekteien und Sicherheitsdiensten
wird nicht nur zur Strafverfolgung, sondern auch zur
Verfolgung von Pflichtverletzungen erlaubt.
({6})
Nach Ihrem Gesetzentwurf kann eine solche Überwachung sogar präventiv und damit anlasslos erfolgen. Da
lässt wieder Lidl grüßen.
Dieser Wertungswiderspruch ist absurd und nicht erklärlich. Diese wenigen Beispiele zeigen: Ihr Entwurf
lässt praktisch alle drängenden Fragen offen; der wesentliche Baustein der innerbetrieblichen Kontrolle findet
überhaupt keine Berücksichtigung.
Der grüne Gesetzentwurf dagegen - und jetzt kommen wir zum erfreulichen Teil dieses Morgens ({7})
zielt auf Vollständigkeit, ist sachgerecht,
({8})
an den Grundrechten der Beschäftigten ausgerichtet und
verliert auch nicht die Interessen der Arbeitgeber aus
dem Blick. Jetzt können auch Sie einmal klatschen, Herr
Uhl. Wir Grüne sind nämlich der Meinung, die Grundrechte und nichts anderes sollten auch beim Beschäftigtendatenschutz der Maßstab sein.
({9})
Damit sind wir gleich beim Recht auf informationelle
Selbstbestimmung, das selbstverständlich auch im Betrieb gelten muss. In unserem Entwurf werden Massenscreenings untersagt, Videoüberwachungen nur in engsten Grenzen zugelassen und die Aufsicht und Kontrolle
gestärkt. In unserem Entwurf ist das heimliche Schnüffeln durch Detekteien grundsätzlich unzulässig. Nur bei
rein dienstlich genutzten Kommunikationsmitteln kann
bei konkretem Verdacht eine Überprüfung der Verkehrsdaten vorgenommen werden. Wir wollen ein Verbandsklagerecht der Gewerkschaften und Betriebsräte schaffen und damit die innerbetriebliche Kontrolle stärken.
All das sind Punkte, die man in Ihrem Entwurf leider
schmerzlich vermisst. Sie müssen dringend nachbessern
und sollten hierfür am besten bei unserem Entwurf
- dazu erteile ich Ihnen offiziell die Erlaubnis - ordentlich und intensiv abschreiben. Viel Arbeit liegt vor Ihnen.
({10})
- Gerne auch ohne Quellenangabe, mir ist die Gewissheit, dass sich das Gesetz verbessert, genug.
Packen Sie die wirklichen Probleme endlich an! Beim
nächsten Datenskandal - er kommt so sicher wie das
Amen in der Kirche - können Sie sich hinter den dürren
Regelungen, die Sie hier heute vorgelegt haben, nicht
wegducken.
Ganz herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Frieser von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was soll man zu den Beiträgen der beiden Herren Vorredner zum Beschäftigtendatenschutz noch sagen?
({0})
Ich kann nur eines sagen: Passen wir bitte auf, dass wir
bei solch einem Thema, einem Dauerbrenner in der politischen Öffentlichkeit und der öffentlichen Wahrnehmung, nicht in eine Grabenkampfrhetorik verfallen,
({1})
die in dem Satz der Linken gipfelt: Bitte lasst uns endlich verbieten, was schon illegal ist. - Wenn das der Programmsatz der Linken ist, dann kann sie eigentlich einpacken.
({2})
Folgendes ist entscheidend - vielleicht ist das der
Grund für die etwas aufgeregte Stimmung hier -: Die
Bundesregierung geht mit diesem Gesetzentwurf einen
bemerkenswerten Schritt; sie ist tatsächlich in der Lage,
ein Konzept vorzulegen und für die Lösung von politischen Fragen in diesem Land zu sorgen, die die Diskussion in der Öffentlichkeit schon seit langer Zeit bestimmen. Der konzeptionelle Ansatz des Gesetzentwurfs,
über den wir schon lange diskutiert haben, ist sehr wohl
geeignet, die Themen der großen Diskussionen, die wir
alle geführt haben, aufzuarbeiten.
Wir alle sind wegen der Vorfälle enerviert, etwa wegen der skandalträchtigen Überwachungen und Bespitzelungen, die wir im Jahr 2009 erleben mussten. Ich
kann an dieser Stelle nur sagen, dass wir bei diesem Gesetzentwurf keine Nachhilfe brauchen. Wir mussten
nämlich bei der Aufarbeitung des Themas erleben, dass
die Bespitzelungen bereits zu dem Zeitpunkt, zu dem sie
stattgefunden haben, illegal waren. Was war der Grund
für die unübersichtliche Rechtslage? Die Tatsache, dass
wir eine Reihe von konzeptionellen Richtlinien und Betriebsvereinbarungen, aber vor allem eine umfassende
Rechtsprechung vorfinden. Das macht es sehr schwierig,
eine gelebte Praxis ausfindig zu machen.
Ich selber kann mit Blick auf meine Tätigkeit in der
freien Wirtschaft sagen: Es ist wichtig und notwendig,
sich sehr tief einzuarbeiten, um zu wissen, wie der Datenschutz in den Unternehmen praktisch umgesetzt werden kann. Es geht natürlich um die Frage, inwieweit verschiedene Sphären gegeneinander abgewogen werden
können.
({3})
Ich kann für die CDU/CSU-Fraktion und für die Kollegen von der FDP, also für die gesamte Koalition, saMichael Frieser
gen: Die Bundesregierung hat hier die Herausforderung
angenommen, den Koalitionsvertrag umzusetzen und
den Schritt zu wagen, auf den die Öffentlichkeit, die Unternehmen und vor allem die Arbeitnehmer warten. Ich
darf mich im Namen der Koalition bei der Bundesregierung und bei Ihnen, Herr Bundesminister des Innern de
Maizière, herzlich bedanken, dass Sie den Entwurf in
dieser Form schon jetzt vorgelegt haben, sodass wir ihn
in dieser Legislatur wirklich zeitgerecht umsetzen können.
({4})
Es ist entscheidend, dass wir uns die Herausforderungen deutlich vor Augen führen: Worum geht es im Kern?
Es geht um zwei sich überlagernde Sphären. Herr de
Maiziére, Sie haben in diesem Zusammenhang von einem „Abwägungsprozess“ gesprochen; ich halte ihn für
die entscheidende Herausforderung. Es geht um Folgendes: Auf der einen Seite haben wir die Personalität des
Mitarbeiters, des Arbeitnehmers. Er unterliegt der informationellen Selbstbestimmung und muss in seinem Bereich geschützt werden. Auf der anderen Seite haben wir
das Rechtssubjekt des Mitarbeiters, der seinen Arbeitsvertrag erfüllen muss. Der Mitarbeiter hinterlässt zu jeder Zeit Daten, die zweierlei Zwecken dienen: erstens
der Selbstdefinition als Person, zweitens der Erbringung
der Arbeit und der Umsetzung des Arbeitsauftrages. Es
ist deshalb entscheidend, dass wir an dieser Stelle die
Unternehmen stärken und gleichzeitig die Mitarbeiter
schützen; hier liegt die Herausforderung bei diesem Gesetzentwurf. Insofern ist das, was die Grünen vorgelegt
haben, leider Gottes unbrauchbar. Wir kommen nicht in
die Verlegenheit, daraus tatsächlich in irgendeiner Art
und Weise zu zitieren.
({5})
Worum geht es? Es geht darum, Unternehmen in die
Lage zu versetzen, legal Daten zu sammeln, die dem Unternehmen dienen können, wobei diese Daten des Mitarbeiters aber auch einem Schutz unterliegen müssen. Ich
komme zu dem Ergebnis, dass das nur gewährleistet sein
kann, wenn wir die verschiedenen Interessen ordnen.
Wir regeln den Beschäftigtendatenschutz im Rahmen
des Bundesdatenschutzgesetzes, weil wir dadurch Redundanzen vermeiden und Bezüge herstellen können,
was wir an anderer Stelle - das haben wir erlebt - nicht
können; denn dann müssten wir Wiederholungen einfügen bzw. bestimmte Fragen anders regeln. Es kommt darauf an, dass wir die Definitionen in einem Kapitel des
Bundesdatenschutzgesetzes vornehmen, damit sowohl
die Unternehmen als auch die Mitarbeiter wissen, an
welcher Stelle sie nachlesen können.
Worum geht es in zweiter Linie? Selbstverständlich
geht es um den Umgang mit wachsender Korruptionsanfälligkeit. Selbstverständlich geht es um den Umgang
mit Geheimnisverrat und um die Bekämpfung von Straftaten. Herr Kollege Reichenbach, zur Definition: Unter
dem Begriff Compliance versteht man das Durchsetzen
und das Einhalten von Rechtsvorschriften. Ein Unternehmen kann sich beispielsweise dem Deutschen Corporate Governance Kodex unterwerfen. Grundsätzlich geht
es um die legalen Grundlagen. Das kann ich nicht ins
Belieben des Unternehmers, des Arbeitgebers oder der
Betriebsverfassung stellen. Vielmehr geht es darum, dass
sich das Unternehmen verpflichtet, alles zu tun, damit
diese Grundregeln wirklich eingehalten werden.
({6})
Natürlich sind Daten in einem Konzern immer eine
Sache der Definition. Die Vorlage dieses Gesetzes ist
erst der Beginn des parlamentarischen Verfahrens. Wir
würden uns doch die Kollegen der Opposition nicht leisten, wenn wir nicht auch im Parlament mit ihnen darüber
diskutieren würden.
({7})
Sonst brauchte man uns kaum. Deshalb kann ich nur sagen: Jedes Gesetz ist es wert, dass wir darüber diskutieren und dass wir es an bestimmten Stellen ändern.
({8})
Wir müssen immer versuchen, im Rahmen des politischen Willensbildungsprozesses zu einer Abwägung zu
kommen. Dazu gehört es selbstverständlich, dass wir uns
über Betriebsvereinbarungen und Einwilligungen unterhalten. Wie geht es weiter mit den Daten in Konzernen
ab einer bestimmten Größe? Die Beantwortung dieser
Fragen haben Sie heute in Ihren Reden leider Gottes offen gelassen.
({9})
Ich kann Sie nur einladen, das Thema grundsätzlich
zu diskutieren und Bezüge herzustellen, zum Beispiel
zum Telekommunikationsgesetz. Es geht darum, wie
Mitarbeiter am Arbeitsplatz mit ihren Daten umgehen.
Dürfen sie privat telefonieren? Dürfen sie privat ins Internet? Dürfen sie private E-Mails verwenden? All diese
Fragen sind es wert, dass wir sie im Innenausschuss diskutieren.
Helfen Sie mit, dass sowohl Mitarbeiter als auch Unternehmen in der Lage sind, Arbeitsplätze weiter zu sichern,
dass der Mitarbeiter sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch am Arbeitsplatz wahrnehmen kann, dass
Unternehmen im Interesse des Betriebsfriedens - das wird
durch den vorliegenden Gesetzentwurf erreicht - in die
Lage versetzt werden, ihre Arbeit ordentlich zu tun, und
dass sie Rechtssicherheit erhalten, was die Behandlung
von Daten betrifft. Dazu laden wir ein.
Vielen Dank.
({10})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Anette Kramme von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heutzutage gibt es viel freiwilliges Zurschaustellen. Das geht los mit Partybildern, die auf Facebook
zu sehen sind, und endet mit öffentlichem „Demutsgefasel“ - ich danke Claudia Roth für dieses Zitat - des Baron zu Guttenberg.
Mich stört nicht, wenn Menschen mit ihren Privatheiten freigiebig sind: Jeder nach seiner Fasson, jeder soll
dürfen, aber keiner soll müssen. Genau das ist heutzutage das Problem vieler Arbeitnehmer: Sie müssen, und
sie werden nicht gefragt. Sie werden nicht gefragt, ob
ihre Betriebsratssitzung bei Burger King gefilmt werden
darf. Sie werden auch nicht gefragt, ob sie ihre Umkleideräume per Video überwacht haben möchten, wie es bei
der Fleischerei Tönnies geschehen ist. Sie werden auch
nicht gefragt, ob es ihnen recht ist, dass Lidl Profile über
Gewohnheiten, Gespräche und sogar soziale Beziehungen seiner Mitarbeiter erstellt oder die Deutsche Bahn
die Daten von rund 200 000 Mitarbeitern ohne vorherige
Rücksprache vergleicht.
Diese wenigen und besonders spektakulären Fälle
zeigen: Datenschutz wird in vielen Betrieben kleingeschrieben, vereinzelt wird er krass ignoriert. Datenschutz
interessiert viele Arbeitgeber überhaupt nicht. Es fehlt
oft schlicht das Problembewusstsein. Delikte dieser Art
werden im Betrieb sehr lax gehandhabt - genauso wie
Urheberrechtsdelikte, möchte man aus aktuellem Anlass
anfügen.
Wir müssen uns endlich klarmachen: Missbrauch von
Daten ist kein Kavaliersdelikt - erst recht nicht, wenn es
um sensible Daten wie diejenigen in Personalakten, etwa
Krankendaten, und um versteckte Überwachung geht.
Wir brauchen aus zwei Gründen einen guten Arbeitnehmerdatenschutz:
Erstens müssen wir das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung endlich auch am Arbeitsplatz umsetzen. Ein Arbeitnehmer gibt seine Rechte nicht an der
Stechuhr ab. Zweitens brauchen wir faire Regelungen,
um motivierte Arbeitnehmer in unseren Betrieben zu haben und um damit unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sicherzustellen. Es ist sicherlich nachvollziehbar,
dass Motivation nicht vorhanden ist, wenn Dauerüberwachung und Dauerkontrolle stattfinden.
({0})
Ich bin froh, dass wir nun endlich über ein Gesetz
zum Arbeitnehmerdatenschutz debattieren. Schon in der
Großen Koalition haben wir ein solches Gesetz eingefordert. Der damalige Innenminister Schäuble sah jedoch
keinerlei Handlungsnotwendigkeit bei dem Thema, zumindest nicht in Richtung mehr Datenschutz.
Außerdem bin ich froh, dass die Bundesländer bereits
wichtige Änderungen an dem Gesetzentwurf vorgenommen haben. Der ursprüngliche Vorschlag der Union war
kein Gesetz zum Arbeitnehmerdatenschutz, sondern ein
Arbeitnehmerüberwachungsgesetz. Dank Bundesrat hat
sich etwas betrieblicher Sachverstand in dem Gesetzentwurf niedergeschlagen. Aber es sind immer noch sehr
gravierende Mängel enthalten.
Erstens ist auch der neue Gesetzentwurf in einigen
Punkten ein Rückschritt im Vergleich zur bisherigen
Rechtslage, zum Beispiel bei der Videoüberwachung.
Zwar soll die heimliche Kontrolle ausgeschlossen sein,
die offene Kontrolle wird allerdings schrankenlos zugelassen. Erforderlich ist nur, dass sie zur Wahrung wichtiger betrieblicher Interessen notwendig ist. Das ist eine
Verschlechterung gegenüber der Rechtsprechung, die
offene Kontrollen nur für eine begrenzte Zeit und bei
konkretem Tatverdacht zulässt. Dauerhafte, verdachtsunabhängige Kontrollen per Video sind nach der Rechtsprechung unzulässig, und dafür gibt es auch gute Argumente. Man muss sich nur einmal vorstellen, wie sich
die Situation für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
in Betrieben darstellt, in denen jeder Moment der Anwesenheit, jede Bewegung und jedes Detail überwacht werden.
Zweitens soll der Arbeitgeber im laufenden Beschäftigungsverhältnis verlangen können, dass der Arbeitnehmer an einem Eignungstest oder an einer ärztlichen Untersuchung teilnimmt, wenn Anhaltspunkte vorliegen,
die Zweifel an der fortdauernden Eignung des Beschäftigten begründen, oder wenn ein Wechsel der Tätigkeit
beabsichtigt ist. Auch diesbezüglich ist der Gesetzentwurf überhaupt nicht nachvollziehbar. Vor allen Dingen
gibt es bereits einen hervorragenden Schutz der Arbeitgeber. Wenn ein Arbeitnehmer krank ist, dann gibt es in
den ersten Wochen eine Entgeltfortzahlung, wenn ein
Arbeitnehmer längere Zeit krank ist, gibt es Krankengeld, das der Arbeitgeber nicht zahlt. Wenn der Arbeitnehmer sehr lange krank ist, kann selbstverständlich die
personenbedingte Kündigung ausgesprochen werden. Es
gibt also überhaupt kein schutzwürdiges Interesse des
Arbeitgebers.
Die Grundsätze der Datensparsamkeit und Datenvermeidung müssen auch für Arbeitnehmerdaten gelten.
Beide Grundsätze werden in dem Gesetzentwurf aber
nicht berücksichtigt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass so
großzügig neue Rechte eingeräumt werden sollen. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, dass die FDP an dieser
Stelle so großzügig ist, die ansonsten sehr wohl auf freiheitliche Traditionen achtet. Sie sollten sich einmal ganz
genau überlegen, ob Sie nicht noch den einen oder anderen Grund finden, um mehr Einschränkungen vorzusehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/4230 und 17/4853 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es weitere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Humme, Caren Marks, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Quotenregelung für Aufsichtsräte und Vorstände gesetzlich festschreiben
- Drucksache 17/4683 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Geschlechtergerechte Besetzung von Führungspositionen der Wirtschaft
- Drucksache 17/4842 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Christel Humme von der SPD-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wir legen heute mit unserem Antrag ein klares SPDKonzept vor. Wir wollen mehr Frauen in Führungspositionen. Wir wollen eine 40-Prozent-Quote für Vorstände
und Aufsichtsräte. Wir wollen das gesetzlich regeln, und
wir wollen auch Sanktionen festlegen.
({0})
Darin unterscheiden wir uns ganz wesentlich von der
zerstrittenen Bundesregierung. Ich weiß ja, dass auch die
Gruppe der Frauen in der Union eine gesetzliche Regelung möchte; Frau Pawelski, das ist bekannt. Das schreiben Sie in allen Pressemitteilungen, und das ist auch auf
der Homepage zu lesen.
Gestern hat Frau Fischbach uns vehement aufgefordert, initiativ zu werden und eine übergreifende Fraueninitiative zu starten. Ich finde, das ist eine gute Idee. Ich
glaube, unser Antrag könnte eine Grundlage für eine
gute Zusammenarbeit sein.
({1})
Aber ich habe so ein bisschen den Verdacht: Ganz
ehrlich war das nicht gemeint. Sie von der Union haben
keine Quote. Das sieht man auch ganz deutlich: Gut
19 Prozent in Ihrer Fraktion sind Frauen. Damit sind Sie
von der Menge her nicht besonders schlagkräftig; das ist
so.
({2})
Der Presse ist zu entnehmen - Frau Pawelski, hören Sie
zu -, dass Sie von Ihrem Fraktionschef Kauder und von
dem CSU-Landesgruppenchef zurückgepfiffen werden
mussten, als Sie in einem Positionspapier gesetzliche
Initiativen zur Quote einforderten. Das konnte man im
Spiegel nachlesen. Ist es das, was Frau Fischbach gestern
meinte, als sie sagte, man müsse die Männer mitnehmen,
wenn man etwas erreichen will?
({3})
Ich glaube, da haben Sie noch eine Menge zu tun.
({4})
Ich verstehe natürlich das große Dilemma.
({5})
- Ach, jetzt machen Sie doch nicht Vergangenheitsbewältigung, Frau Fischbach. Das bringt nichts. Wir gehen
in die Zukunft. Wir konzentrieren uns auf den Fortschritt
und nicht auf den Rückschritt wie Sie.
({6})
Ich verstehe natürlich das Dilemma. Es ist ganz klar:
Sie, die Frauen in der Union, möchten eine gesetzliche
Quote. Frau Ministerin Schröder möchte sie nicht, die
Kanzlerin ebenfalls nicht. Es kann eigentlich nicht wahr
sein, Frau Schröder, dass nach zehn Jahren Freiwilligkeit
immer noch ein altes Instrument bemüht wird, von dem
wir genau wissen, dass es in der Vergangenheit erfolglos
war. Frau Schröder, ich will nicht gerade sagen, dass Sie
beratungsresistent sind; ich gebe Ihnen noch eine
Chance.
({7})
Aber Sie berufen jetzt - das haben Sie angekündigt - für
März einen Frauenquoten-Gipfel ein;
({8})
so stand es in der Presse. In der Presse stand weiter: Da
dürfen dann auch die Unternehmen Vorschläge machen,
wie sie - das muss ich jetzt ablesen, weil es so schwer
ist - die „individuelle und selbst bestimmte Pflicht zur
Selbstverpflichtung“ umsetzen wollen
({9})
oder, anders ausgedrückt, wie sie die Flexiquote - oder
soll ich besser „die Frauenquote nach ihrem Belieben“
sagen? - einführen wollen. Was heißt denn das, Frau
Schröder? Sind es 2, 3, 5 oder 10 Prozent, oder darf es
etwas mehr sein? Ich sage Ihnen: Alle Untersuchungen
ergeben, dass man keine Quote unter 30 Prozent nennen
soll; denn sonst verändert man in den Strukturen der Betriebe nichts, und das ist der Vorschlag von Frau von der
Leyen.
({10})
Doch was sagen Sie dazu? Ihre Aussage in einem
Zeit-Interview hat mich ein bisschen irritiert. Sie haben
gesagt, das sei „sozialistische Bevormundung“.
({11})
Da muss ich die Frauen von der Union fragen: Was sagen Sie denn zu diesem Vorwurf, der natürlich auch an
Sie, die Sie eine Quote wollen, gerichtet ist: Halten Sie
das für sozialistische Bevormundung?
({12})
Die öffentliche Debatte über die Quote hat auch die
Einstellung eines Teils unserer Gesellschaft zur Gleichstellungspolitik offenbart. Wenn kein Argument mehr
zieht, wird endgültig behauptet: Die Frauen wollen gar
nicht an die Spitze. Stereotype und Bilder über Frauen
werden gleich mitgeliefert: Frauen sind nicht mutig, sie
richten sich ein in ihrer rosaroten Welt und sind bequem.
Aber die Wahrheit ist - das hat eine Stern-Umfrage
gezeigt -: 75 Prozent der jungen Frauen zwischen 18 und
29 Jahren wollen mehr Verantwortung in den Betrieben
übernehmen. Denen ist es völlig egal, ob sie deshalb
„Quotenfrau“ genannt werden oder nicht. Das Gleiche
gilt für 39 Prozent aller Frauen. Das zeigt doch, dass
Frauen die Ziellinie selbst dann nicht überschreiten,
wenn sie ehrgeizig sind. Das liegt natürlich nicht, wie
Sie, Frau Schröder, immer gerne sagen, an den Frauen
selbst,
({13})
sondern an den vorhandenen Strukturen.
({14})
Wie sonst ist es zu verstehen, dass auch in typisch
weiblichen Branchen Männer die Führungsaufgaben
wahrnehmen? Mehr als die Hälfte der Beschäftigten in
Banken und Sparkassen sind Frauen; in den Führungsetagen sind die Frauen aber nur mit 2,9 Prozent vertreten. Frauen haben keine Wahlfreiheit - diesen Begriff
haben Sie, Frau Schröder, in Ihrer gestrigen Rede immer
wieder betont -;
({15})
im Gegenteil: Sie scheitern spätestens an den Personalchefs, die die Frauen immer noch als potenzielle Mütter
sehen und meinen, sie würden ihren Job nicht wirklich
ausfüllen können, weil sie mehr an die Familie denken,
oder sie scheitern aufgrund einer fehlenden flexiblen
Kinderbetreuung oder schlicht daran, dass Männer lieber
unter sich bleiben wollen und den Staffelstab an ihresgleichen weitergeben.
({16})
Deshalb sage ich Ihnen, Frau Schröder: Schaffen Sie
die Wahlfreiheit, die Sie gestern in Ihrer Rede so oft bemüht haben, auch für die Frauen, die beides wollen, Karriere und Familie! Gestern wurde deutlich: 100 Jahre Internationaler Frauentag ist eine Verpflichtung für uns
Frauen, weiterzugehen. Wir dürfen die Erfolge nicht
leichtfertig verspielen. Frau Schröder, ich bin davon
überzeugt: Freiwilligkeit ist Kapitulation.
({17})
Gesetzliches Handeln erfordert Mut, und den erwarten
wir von Ihnen.
Schönen Dank.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth WinkelmeierBecker von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man möchte fast sagen: Willkommen zur sitzungswöchentlichen Diskussion über die Frauenquote.
({0})
In letzter Zeit haben wir oft darüber gesprochen. Ich beteilige mich immer wieder gerne an dieser Diskussion;
denn das ist ein wirklich wichtiges Thema. Mir ist es
auch ein Anliegen. Ich bin der festen Überzeugung, dass
wir den Status quo hinter uns lassen und zu anderen Verhältnissen kommen müssen, weil mehr Frauen und andere Männer gut wären für die Unternehmen.
({1})
Die Unternehmen müssen sich besser aufstellen und bessere Entscheidungen in ihren Führungsgremien treffen.
Das können sie gerade dann, wenn sie sich anders aufstellen.
Zum Frauenanteil gibt es mehrere Studien: die Catalyst-Studie, die McKinsey-Studie, die Sinus-Studie. Der
Hintergrund ist nicht, dass Frauen durch die Bank besser
sind, sondern es geht um den Diversity-Ansatz, das
heißt, dass es zu besseren Ergebnissen führt, wenn
Personen mit unterschiedlicher Denkweise, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Karrieren zusammenkommen und nicht alle von derselben Eliteuniversität stammen.
({2})
Wir brauchen vor allem eines nicht: Wir brauchen
keinen Biotopschutz für bestehende Führungszirkel;
denn die haben in der Vergangenheit nun wirklich nicht
nur Erfolge vorzuweisen gehabt. Einige Entscheidungen
von Banken, Kaufhauskonzernen und Autoherstellern
waren durchaus suboptimal.
({3})
Ich komme darauf zurück, aber ich möchte zunächst
kurz auf die Anträge eingehen, die zu diesem Thema
vorgelegt worden sind.
Mein Heimatland Nordrhein-Westfalen hat in den
Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, der sich nur
auf die Gleichberechtigung in Aufsichtsräten bezieht. In
diesen soll die Frauenquote bis 2017 30 Prozent und bis
2022 40 Prozent betragen. Wenn die Wahl nicht damit
im Einklang steht, soll die Wahl unwirksam sein.
Hier im Bundestag haben wir von der SPD ein anderes Konzept vorgelegt bekommen: Die Frauenquote in
den Aufsichtsräten soll bis 2015 40 Prozent betragen;
das soll ebenso für die Vorstände gelten. Als Sanktion
sehen Sie die Nichtigkeit der Gesellschafterbeschlüsse
vor.
Die Linke will tatsächlich eine Frauenquote von mindestens 50 Prozent erreichen.
({4})
Da ist der Punkt überschritten. Eine solche Vorschrift
durch den Staat wäre wohl verfassungswidrig.
Mein Eindruck ist, dass hier nach dem Motto „Wer
bietet mehr, wer will es schneller, und wer ist radikaler?“
vorgegangen wird. Diese Diskussion hilft der Sache
nicht unbedingt weiter.
({5})
Ich sehe zwar nicht mit Neid, aber durchaus mit Anerkennung, dass diese Anträge in Ihren Fraktionen die
Mehrheit haben, also auch von den Männern getragen
werden; deren Namen stehen ja auch auf den Anträgen.
Aber der kleine Wermutstropfen ist, dass solche Anträge
immer aus der Sicherheit der Opposition heraus oder auf
der föderalen nichtzuständigen Ebene gestellt werden.
({6})
Solange Sie die Regierung gestellt haben - nach diesem
Hinweis bin ich mit diesem Thema fertig -, hatten Sie
diese Mehrheit nicht. Ich füge hinzu: Leider hatten Sie
sie nicht.
Es gibt also Handlungsbedarf für den Bundesgesetzgeber. Das Hauptargument - das möchte ich noch einmal
betonen - ist der wirtschaftliche Nutzen, den die Unternehmen hätten, wenn sie ihre Führungsgremien besser
bestücken würden.
({7})
Jetzt kann man natürlich fragen, ob es nicht Sache der
Unternehmen sein sollte, dafür zu sorgen.
({8})
- Es wäre ja in ihrem eigenen Interesse. Aber ich stimme
Ihnen zu: Wir reden hier über die großen börsennotierten
Unternehmen, bei denen wir auch in anderen Zusammenhängen nicht immer automatisch davon ausgehen,
dass diese alles richtig machen. Es gibt einen strukturellen Unterschied zu den kleinen familiengeführten Unternehmen, in denen der Eigentümer nachhaltig dafür sorgt,
dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden.
Bei den großen börsennotierten Unternehmen ist die
Eigentümerposition sehr zerstritten. Das Management ist
nicht identisch mit den Eigentümern. Wir haben schon
öfter darauf hingewiesen, dass das, was zum langfristigen Erfolg solcher Unternehmen führt, nicht unbedingt
mit dem identisch ist, was das Management kurzfristig
anstrebt. Deshalb haben wir schon einiges nachgebessert, gerade als Reaktion auf die Wirtschaftskrise. Wir
haben die Haftungsregeln verändert. Wir haben die Fristen verändert, die eingehalten werden müssen, wenn
man vom Vorstand in den Aufsichtsrat wechseln möchte.
Wir haben die entsprechenden Bundesregeln verändert.
Das alles sind Ansätze, die sich daraus ergeben, dass
gerade bei den großen börsennotierten Unternehmen
nicht alles automatisch in die richtige Richtung geht.
Dort muss man nachhelfen. Das ist auch der Ansatz der
Regierungskommission „Deutscher Corporate Governance
Kodex“ und natürlich der Ansatz für Überlegungen, die
wir als Bundesgesetzgeber anstellen müssen. Mein Fazit
an dieser Stelle ist, dass wir in der Tat Handlungsbedarf
haben.
Nun hat die zuständige Ministerin ihren Stufenplan
vorgelegt.
({9})
Er sieht Steigerungen bei Aufsichtsräten und Vorständen
vor. Er ist wirklich ambitioniert.
({10})
Es wäre klasse, wenn wir es schafften, diese Ziele zu erreichen. Die vorgesehenen Berichtspflichten sind durchaus wirksam. Wir sehen das jetzt in der Reaktion auf den
Women-on-Board-Index, den FidAR vorgelegt hat. Angesichts der aktuellen Diskussion wissen die Unternehmen, dass jede Entscheidung, jede Nachbesetzung beobachtet wird und dass sie unter Druck stehen. Das ist
hilfreich.
({11})
Aber ich bleibe dabei und stehe dazu: Es muss noch
etwas hinzukommen, damit das begonnene Umdenken
jetzt nicht wieder endet.
({12})
Dazu brauchen wir - zusätzlich zu dem in Ansätzen guten Stufenplan - zumindest für die Aufsichtsräte in absehbarer Zeit und unter Berücksichtigung der Amtszeiten - diese dauern fünf Jahre; daher ist es wichtig,
dies jetzt zu tun - eine verbindliche Vorgabe.
({13})
Ich bleibe dabei, dass wir diese Regelung schon 2013
treffen müssen,
({14})
damit der Druck, der jetzt entstanden und spürbar ist,
nicht nachlässt. Sonst hätten wir den Effekt, dass wieder
Entspannung einsetzt und man denkt: Das Thema ist
noch einmal an uns vorübergegangen; wir warten einfach ab.
({15})
Nun höre ich von Männern des Öfteren die Frage, ob
das nicht langsam zur Diskriminierung von Männern
führe. Ich muss sagen: Das ist schon ein bisschen verkehrte Welt, wenn man sich die Ausgangsposition anschaut.
({16})
Angesichts eines Verhältnisses von 3 : 97 in den Vorständen bzw. 10 : 90 in den Aufsichtsräten muss man
sich schon fragen, ob sich wirklich diejenigen, die ihren
Anteil von 3 auf 25, 30 oder 40 Prozent - über die verschiedenen Zahlen kann man streiten - erhöhen wollen,
rechtfertigen müssen oder ob nicht diejenigen, die bisher
97 oder 90 Prozent beanspruchen, unter Rechtfertigungsdruck stehen müssten.
({17})
Ich denke, es ist klar und in vielen Gutachten belegt,
dass eine entsprechende Regelung mit Verfassungs- und
Europarecht konform ginge. Wir merken, dass ein Umdenken spürbar ist. Aber es darf nicht beim Wording
bleiben. Wir hören von Vorständen, dass alle Botschaften angekommen sind, dass man zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf bzw. Karriere beitragen will,
dass die Kinderbetreuung verbessert werden soll. All das
hören wir; aber greifbare Ergebnisse lassen noch auf sich
warten.
Ich habe nur noch ganz wenig Redezeit. Ich möchte
sie nutzen, um ein besonders beliebtes Argument aufzugreifen, das gegen eine Quotenregelung ins Feld geführt
wird: Es seien nicht in ausreichender Zahl Frauen mit
geeigneter Qualifikation vorhanden, und sie hätten die
falschen Berufe. Die Praxis zeigt: Das ist überhaupt
nicht der entscheidende Punkt,
({18})
jedenfalls nicht für die Besetzung von Aufsichtsräten.
62 Prozent der Aufsichtsratsmitglieder in den DAX-Unternehmen sind Juristen oder Betriebs- bzw. Volkswirte;
in den Vorständen sind es 59 Prozent. Gerade das sind
Ausbildungsgänge, in denen Frauen seit Jahrzehnten die
gleichen Anteile haben und mindestens so gute Examina
abliefern wie Männer.
({19})
Noch eines: Dass Branchenkenntnisse im engeren
Sinne - bei aller Qualifikation, die diese Personen mitbringen müssen - nicht das Entscheidende sein können,
({20})
zeigt sich beim Blick auf einzelne Karrieren. Da kann
man als Eon-Vorstand auch in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank, als Bayer-Chef in den Aufsichtsrat von Eon
und Deutscher Bank,
({21})
als Eon-Chef in den Aufsichtsrat der Allianz und als
Trumpf-Chef in den Aufsichtsrat von Lufthansa und Siemens. Das ist also nicht das entscheidende Argument.
Das zeigt der Blick auf die Praxis.
({22})
Wir werden diese Diskussion weiterführen. Ich
glaube, die Anhörung haben wir schon terminiert.
({23})
Ich freue mich auf eine gemeinsame Diskussion, mit Betonung auf „gemeinsam“.
({24})
Danke schön.
({25})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Möhring von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Norwegen hat sie, Frankreich und Spanien haben sie eingeführt, und wir brauchen und - vor allem - wollen sie ebenfalls: die verpflichtende Quote für Frauen in Vorstandsetagen und
Aufsichtsräten.
({0})
Nun hören wir in letzter Zeit allerlei Schönrederei im
Hinblick auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen der
Wirtschaft. Dazu gesellt sich auch manch bizarrer Vorschlag aus dem Bundeskabinett. Unsere Frauenministerin - das haben wir eben schon gehört - will die bisherige Tatenlosigkeit mit einem Gesetz absichern.
({1})
- Ja, mir fällt auch manchmal eher „Männerministerin“
ein;
({2})
aber wir wissen ja, über wen wir sprechen. - Wie gesagt,
Frau Schröder möchte die bisherige Tatenlosigkeit mit
einem Gesetz absichern und nennt das auch noch irreführend Flexiquote. Der Gipfel der Tatenlosigkeit wird
vielleicht tatsächlich der Frauenquoten-Gipfel.
({3})
Unser Wirtschaftsminister setzt noch einen drauf
- das ist sogar relativ lustig -: Er schlägt einen Pakt für
Frauen vor, und diesen Pakt für Frauen vergleicht er mit
dem Pakt für Auszubildende.
({4})
Herr Brüderle ist jetzt leider nicht da. Allerdings habe
ich mir die Ergebnisse des Paktes für Auszubildende einmal angesehen - vielleicht wäre eine Wirtschaftsministerin, die rechnen kann, auf diesem Platz angemessener -:
({5})
Im Sommer 2004 waren bei den Arbeitsagenturen noch
463 000 betriebliche Ausbildungsplätze gemeldet. Im
August 2010, also sechs Jahre später, waren es gerade
noch 418 000. Das sind 45 000 weniger. Folgen wir dem
Vorschlag von Herrn Brüderle, dann können wir uns
ziemlich sicher sein, dass im Jahr 2016 garantiert keine
Frau mehr in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft sitzen wird.
({6})
Das ist eher ein Pakt mit dem Teufel als ein Pakt für die
Frauen.
({7})
- Ach, Herr Buschmann, schade, dass Sie heute nach mir
sprechen.
({8})
Ich habe noch viele sachliche Argumente.
({9})
An dieser Stelle will ich noch einmal deutlich sagen:
Im Kern geht es nicht um eine 30-, 40- oder 50-ProzentQuote. Wir reden über die Realität in dieser Gesellschaft: über eine 97-Prozent-Männerquote in den Vorstandsetagen und eine 90-Prozent-Männerquote in den
Aufsichtsräten und damit über einen ziemlich hohen
Männeranteil in den entscheidenden Positionen der
Wirtschaft und einen ziemlich mickrigen Anteil für die
Mehrheit der Bevölkerung.
({10})
Das toppt nur der Vatikan, aber das hat andere Ursachen.
({11})
Glücklicherweise ist die Meinung von Frau Merkel
und der Mehrheit ihrer Regierung nicht die Meinung der
Mehrheit in diesem Land. Daran wird auch das kategorische Nein von Frau Merkel zur Quote nichts ändern. Der
Druck wächst. Immer mehr Frauen, aber auch immer
mehr Männer erwarten endlich verbindliche Festlegungen statt folgenloser Selbstverpflichtungen.
Meine Fraktion fordert mit dem vorliegenden Antrag
die stufenweise Einführung einer Mindestquotierung in
Höhe von 50 Prozent für Frauen in Aufsichtsräten und in
Vorständen. Es ist für uns eine demokratische Selbstverständlichkeit, dass die Mehrheit der Bevölkerung auch
angemessen an den wichtigsten wirtschaftspolitischen
Entscheidungen beteiligt sein muss.
({12})
Die Frauen müssen aufgrund ihrer Mehrheit auch die
Folgen überproportional auslöffeln.
Die Quote und die Angst der Mehrheit der Regierung
vor dieser Quote sind doch, wenn wir ehrlich sind, nur
Ausdruck der gesellschaftlichen Situation. Ich vermute
trotzdem, dass Ihnen die Debatte über die Quote eigent10750
lich zupasskommt. Dadurch lenken Sie nämlich vom
Kern und von den Ursachen Ihrer unsozialen Politik ab.
Sie machen Politik für Banken,
({13})
Politik für Energiekonzerne, Politik für Versicherungskonzerne. Sie machen Politik für diejenigen, die sich immer mehr zulasten der Mehrheit bereichern. Ihre Politik
ist frauenfeindlich, unsozial und ungerecht. Es ist keine
Politik für die Menschen.
({14})
Das wurde übrigens spätestens durch die Debatte heute
Morgen noch einmal deutlich gemacht.
Sie brauchen Frauen an den Stellen, wo sich jemand
unentgeltlich oder zu Hungerlöhnen um den Erhalt des
Lebens kümmern muss. Auch hier haben die Frauen
keine Wahlfreiheit. Für Wahlfreiheit müssen nämlich die
entsprechenden Bedingungen und Voraussetzungen existieren, wie meine Kollegin Humme schon richtig gesagt
hat.
({15})
Die Linke ist für eine umfassende, gleichberechtigte
Teilhabe aller Menschen an dieser Gesellschaft und ihren Ressourcen. Ich glaube tatsächlich: Wenn heute
50 Prozent oder mehr Frauen an den Entscheidungen in
der Wirtschaft und in der Politik beteiligt wären, dann
würden die Welt und der Umgang miteinander bereits
jetzt anders aussehen.
Die Linke will die gleiche Teilhabe in allen Bereichen
der Wirtschaft und Gesellschaft. Frauen wie Männer sollen gute Arbeit haben, die so bezahlt wird, dass sie auch
gut davon leben können. Frauen wie Männer sollen sich
zu gleichen Zeitanteilen um Kinder, Freunde, Familie,
ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung und das menschliche Miteinander kümmern können. Frauen wie Männer
sollen in der Politik mitmischen und ihre Erfahrungen
einbringen können. Dazu gehört, dass Frauen wie Männer selbstverständlich auch Unternehmen leiten.
Freuen Sie sich also schon jetzt auf weitere Anträge
der Linken, in denen es mit wirklich guten Argumenten
um eine rundum solidarische Gesellschaft und um soziale Gerechtigkeit geht. Wenn auch Sie anfangen wollen, Politik für die Menschen zu machen, dann können
Sie ja unseren Anträgen zustimmen. Ich befürchte aber,
das werden Sie nicht tun.
({16})
Erlauben Sie mir, mit einem Zitat der Frauenrechtlerin Simone de Beauvoir zu schließen; denn darin wird
ihre Erfahrung aus den langen Frauenkämpfen zusammengefasst, und es sollte Aufforderung an alle Frauen
hier im Parlament und überall sein. Sie sagte:
Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genommen. Sie bekommen nichts.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Buschmann von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns in der Tat wieder mit einem wichtigen gesellschaftspolitischen Thema.
Hier im Plenum eint uns alle natürlich das Ziel, dass
Frauen die gleichen Karrierechancen haben wie Männer.
({0})
Worum geht es? Es geht darum, dass Sie zum wiederholten Male ein untaugliches Mittel in einer besonders
unverhältnismäßigen Art und Weise vorschlagen.
({1})
Das wird deutlich, wenn man Ihren konkreten Vorschlag
kurz beschreibt. Sie schlagen eine Zwangsquote von
40 Prozent für Aufsichtsräte und Vorstände für sämtliche
Gesellschaften vor, die in der Rechtsform der Aktiengesellschaft organisiert sind oder der Mitbestimmung unterliegen.
({2})
Eine Differenzierung nach Börsennotierung, wie sie
auch andere Fraktionen anstreben, die durchaus für die
Quote sind, sehen Sie nicht vor.
Das Modell ist so undifferenziert, beispiellos und mittelstandsfeindlich,
({3})
dass nicht einmal Anhänger der Quote es unterschreiben
würden. Das möchte ich mit einigen Hinweisen auf die
Lebenswirklichkeit belegen.
({4})
Herr Kollege Buschmann, Frau Kollegin Deligöz
würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Sie haben zwar
gerade erst begonnen, aber bitte schön.
({0})
Ja, bitte.
Herr Kollege Buschmann, Sie haben das Instrument
als unqualifiziert bezeichnet.
Nein, das war nicht mein Wortlaut.
Ich habe das so verstanden.
Nein, ich habe „untauglich“ und „unverhältnismäßig“
gesagt.
Dann habe ich das wohl wie die Kollegen rechts und
links neben mir anscheinend auch, wie Sie hören, total
falsch verstanden.
({0})
- Ich korrigiere also: untauglich.
In den letzten Tagen konnte man den Medien entnehmen, dass es eine Gruppe von FDP-Frauen gibt, die auch
innerhalb der FDP eine Quote verlangen.
({1})
Heißt das, dass Sie das Instrument auch innerhalb Ihrer
Partei als untauglich qualifizieren,
({2})
und bedeutet das, dass Sie Ihre Rede auch auf Ihrem Parteitag halten werden?
({3})
Die Frage beantworte ich sehr gerne. Wie Sie der Berichterstattung entnommen haben, bezieht sich der Vorschlag der Kolleginnen eben nicht auf das Thema des
heutigen Tages, eine Quotenregelung für die Leitungsorgane von Unternehmen, sondern einzig und allein auf
unsere parteiinternen Gremien. Im Gegenteil: Die liberalen Frauen haben sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen, Quoten für Unternehmen vorzuschreiben.
({0})
Sachkenntnis würde hier nicht schaden, Frau Kollegin.
({1})
Herr Kollege Buschmann, auch die Kollegin
Hendricks würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja. Gleichbehandlung gilt für alle Kolleginnen.
Frau Dr. Hendricks, bitte.
Herr Kollege Buschmann, bitte erlauben Sie mir, dass
ich traurig an die Kollegin Ina Lenke erinnere, die für die
FDP-Fraktion sehr lange, bis 2009, Mitglied des Deutschen Bundestages war und die entsprechenden Fähigkeiten hatte, um sich zu einem solchen Thema zu äußern.
({0})
Ich habe die Frage nicht verstanden, Frau Kollegin;
deshalb bin ich außerstande, sie zu beantworten.
({0})
Es war eine Feststellung, die ich allerdings mit den
Worten „bitte erlauben Sie mir“ eingeleitet habe. Sie
können es mir erlauben oder auch nicht; jedenfalls habe
ich an die Kollegin Lenke erinnert.
Möglicherweise haben Sie auch das Instrument der
Zwischenfrage missbraucht.
({0})
Ich komme zurück zum Gegenstand der Debatte. Es
geht um die Lebenswirklichkeit, auf die Ihr Modell nicht
passt. Sie behandeln jede Aktiengesellschaft wie ein
Großunternehmen. Das zeigt, dass Sie von der Lebenswirklichkeit nicht viel verstehen.
In Deutschland gibt es über 16 000 Aktiengesellschaften. Nur 800 bis 1 000 davon sind börsennotiert.
Das sind die Großunternehmen, an die Sie wahrscheinlich denken, wenn Sie von den Aktiengesellschaften
sprechen. Ein Großteil der übrigen Aktiengesellschaften,
nämlich über 15 000, sind mittelständische und kleine
Betriebe sowie Familienbetriebe.
Die Mittelständler stellen Sie mit Ihrem Modell vor
große Probleme, weil es undifferenziert ist. Nehmen Sie
beispielsweise die Gesellschaften, deren Vorstand zulässigerweise nur aus einer Person besteht. § 76 Aktiengesetz lässt das ausdrücklich zu. Hier führt Ihr Modell
ohne jede Abstufung zu einem Einstellungsverbot für
Männer.
({1})
Oder aber die Unternehmen werden gezwungen, ihre
Vorstände auf zwei Personen aufzustocken. Das bedeutet
eine Verdopplung der Personalkosten.
({2})
Das muten Sie den Mittelständlern zu. Es ist unvernünftig und in hohem Maße mittelstandsfeindlich.
({3})
Nehmen Sie die Familien-AGs. Wir haben eine Kultur von Familienunternehmen, in denen die Leitung auf
die Nachkommen übergeht. Es kann doch nicht vom Geschlecht der Nachkommen abhängen, ob wir diese Kultur der Familienbetriebe weiter aufrechterhalten können.
Es ist doch unvernünftig, eine Kultur der Familienbetriebe durch ein so undifferenziertes Modell zu gefährden.
({4})
Das sieht übrigens auch Ihre Vorbildnation Norwegen
so. Sie tun immer so, als hätten Sie das Modell aus Norwegen übernommen und als wären Sie sozusagen die legitimen Vertreter der Erfolgsmodelle dort. In Norwegen
hat man gerade nicht eine pauschale 40-Prozent-Quote
eingeführt. In Norwegen greift die 40-Prozent-Quote
überhaupt erst bei Leitungsorganen, die neun oder mehr
Mitglieder haben. Bei kleineren Gremien hat man dort
eine differenziertere Lösung.
({5})
Sie kennen offensichtlich noch nicht einmal die Rechtslage, die dort gilt. Ihr Modell ist also nicht einmal in den
Augen Ihrer Vorbilder tauglich; denn die Praktiker, auf
die Sie sich berufen, machen es anders, als Sie es vorschlagen.
({6})
Ich verschweige aber natürlich nicht, dass wir nicht
nur gegen Ihr spezielles Modell Vorbehalte haben,
({7})
sondern
({8})
dass wir als FDP-Fraktion jedwedes Quotenmodell ablehnen;
({9})
das habe ich schon zu verschiedenen Anlässen hier im
Parlament deutlich gemacht. Wir haben bereits über die
Kollateralschäden in Norwegen gesprochen,
({10})
wie Rechtsformwechsel und Delistings. Wir haben auch
schon über die neuen Diskriminierungen in Norwegen
gesprochen, über das Thema Goldröcke.
Da mir niemand vorwerfen soll, dass ich Sie mit den
immer gleichen Argumenten langweile, möchte ich ein
neues in die Debatte einbringen, nämlich die empirisch
belegte Untauglichkeit des Instruments.
({11})
Die Befürworter behaupten stets, dass die Zwangsquotierung der Leitungsorgane Strahlungswirkung auf die
Führungspositionen darunter entfalten würde und dass
so insgesamt Frauen in Führungspositionen gestärkt
würden.
({12})
Diese Hoffnung ist mittlerweile empirisch widerlegt,
und zwar gerade in Norwegen.
({13})
Die Soziologin Catherine Hakim von der London School
of Economics hat dazu Folgendes publiziert - das
möchte ich Ihnen zitieren -:
Norwegens 40-Prozent-Quote hat überhaupt gar
keinen Einfluss auf den Frauenanteil in den leitenden Positionen dieser Firmen gehabt. Der „Erfolg“
dieser Maßnahme ist reinweg symbolisch.
Tatsächlich zeigt Frau Hakim, dass der Anteil von
Frauen in den nicht geschäftsführenden Führungspositionen in Norwegen sogar niedriger ist als überall sonst
in Europa. Selbst in Deutschland stehen wir in diesen
Bereichen besser da. Eine Vorstandsvorsitzende sucht
man in Norwegen übrigens vergebens, anders als etwa in
Deutschland.
In Deutschland gehen wir einen intelligenteren Weg.
({14})
Diese Bundesregierung hat eine Änderung des Corporate
Governance Kodex im Jahr 2010 herbeigeführt. Zu behaupten, dass das nicht sanktioniert sei, zeigt, dass Sie
den Comply-or-explain-Mechanismus des Corporate
Governance Kodex überhaupt nicht verstanden haben.
Natürlich hat das Sanktionswirkungen. Das sehen Sie
auch bei den Unternehmen. Die Justizministerin nimmt
die Wirtschaft in die Pflicht. Mittlerweile gibt es entsprechende Programme etwa bei Telekom, Eon, Karstadt
oder Daimler.
Im Übrigen wissen wir, dass andere Themen für gleiche Karrierechancen viel entscheidender sind. Ich habe
bereits in den letzten Wochen auf das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf hingewiesen.
({15})
Beim letzten Mal habe ich Ihnen aus dem Plädoyer von
Daniela Weber-Ray, einer extrem erfolgreichen Frau, zitiert, die für eine Kultur aus Kindern, Krippe und Karriere wirbt.
({16})
Heute möchte ich mit dem Ergebnis einer Untersuchung von Frau Professor Dr. Renate Köcher schließen.
Das Ergebnis ihrer Untersuchung zum Thema „gleiche
Karrierechancen“ lautet:
Das Problem … ist, dass die Berufstätigkeit von
Müttern stigmatisiert wird. Wir brauchen eher eine
kulturelle Revolution in den Köpfen, als dass wir
Quoten brauchen.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Buschmann, das letzte Zitat ist sehr interessant.
Vielleicht können Sie bei sich und Ihrer Fraktion anfangen.
({0})
Wenn Sie Frau Köcher ausführlicher zitiert hätten,
dann hätte man auch erfahren, dass es - genauso wie in
vielen anderen Bereichen - Unterschiede zwischen Ost
und West gibt. Ich weiß nicht, ob die Frauen und Männer
in Ostdeutschland so viel anders sind. Vielleicht sind sie
durch den Sozialismus tiefgeschädigt.
({1})
Aber wir sind nicht alle geschädigt herausgekommen.
Bei uns ist es völlig normal und selbstverständlich, dass
Frauen arbeiten. Das ist auch für die Männer kein Problem mehr. Es wäre mir lieb, wenn Sie vollständig zitierten. Auch die westdeutsche Gesellschaft sollte sich von
einigen Barrieren befreien.
Wir haben in den letzten Wochen auch hier im Plenum so häufig wie fast noch nie über das Thema „Frauenpolitik/Frauen in Führungspositionen“ diskutiert. Man
könnte fast die Hoffnung haben: Wenn wir so weitermachen, kommen wir in dieser Wahlperiode wirklich noch
voran.
({2})
Frau Winkelmeier-Becker, ich höre Ihnen sehr gerne
zu. Vielleicht sollten Sie Herrn Buschmann und die FDP
einmal zu einer Sitzung der Gruppe der Frauen in der
Unionsfraktion einladen. Wenn Herr Buschmann von
uns schon nichts lernen will, dann klappt es vielleicht bei
Ihnen.
({3})
Laden Sie zu dieser Sitzung auch die Ministerin ein. Ich
habe nämlich den Eindruck: Die Ministerin
({4})
vertritt rückständigere Positionen als Sie. Jetzt liegen
Vorschläge aller Oppositionsfraktionen vor. Diese Vorschläge unterscheiden sich in Details. Wir warten jetzt
auf Ihre Vorschläge.
({5})
Sie können sich gern aus unseren Vorlagen bedienen.
Im Mai wird im Rechtsausschuss eine Anhörung stattfinden. An dieser Anhörung werden auch die Mitglieder
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teilnehmen. Wir werden einmal sehen, was die
Sachverständigen sagen. Ich hoffe wirklich sehr, dass
wir hier in den nächsten Jahren vorankommen. Man
kann es wirklich nicht oft genug betonen: Auf die Freiwilligkeit zu setzen, hat doch nichts genutzt; seit 2001 ist
nichts passiert.
({6})
Die Unternehmen waren gehalten, etwas zu machen.
Was ist denn das für ein Instrument? Die Ministerin hat
auf den Stufenplan verwiesen; allerdings ist zwischen
2001 und 2013 nur eine einzige Stufe in Angriff genommen worden. So etwas kann man doch nicht Stufenplan
nennen. Wir müssen jetzt wirklich Nägel mit Köpfen
machen, damit wir vorankommen.
Ich möchte noch einige Ausführungen zu den heute
vorliegenden Anträgen machen.
Zum SPD-Antrag. Sie fordern, dass die 40-ProzentQuote schon ab 2015 gilt. Wir weichen von dieser Forderung geringfügig ab. Das ist jetzt aber nicht das Problem. Auch bezüglich der Forderungen sind wir einverstanden. Ich finde es ein bisschen schade, dass Sie in
vielen Punkten so unkonkret bleiben. Sie wollen Festlegungen auch für die Arbeitnehmerseite. Der Anteil der
weiblichen Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten
ist bereits relativ hoch; sonst würde der Gesamtanteil
von Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft noch
niedriger sein. Daher wäre es mir lieber, wenn das, was
geplant ist, etwas ausgewogener ist.
Auch sind Sie etwas unkonkret, was die Sanktionen
betrifft. Im Antrag steht, dass die Nichteinhaltung der
Quote im Ergebnis zur Nichtigkeit der Beschlüsse der
Gesellschaft führen könnte. Wir sind diesbezüglich konkreter und haben Vorschläge gemacht, wie Fehlentwicklungen entgegengewirkt werden kann. Ich hätte mir gewünscht, dass wir uns bezüglich der einzelnen Stufen
annähern. Dass das nicht bereits geschehen ist, fand ich
etwas schade.
({7})
- Ja, genau. Ich habe ja auf diese Anhörung verwiesen.
Ich hoffe, wir alle werden dann schlauer.
Ich möchte noch etwas zum Antrag der Linksfraktion
sagen. Auch im Vergleich zu den Forderungen der Linken unterscheiden wir uns etwas, was Zeitraum und
Höhe der Quote angeht. Das ist aber kein großes Problem. Was ich in ihrem Antrag allerdings nicht so ganz
nachvollziehen kann, ist die Forderung, dass Unterneh10754
men einen Nominierungsausschuss einrichten. Unseres
Erachtens ist das ein unnötiges Gremium, mit dessen
Einrichtung über das Ziel hinausgeschossen wird. Eine
solche Forderung ist Wasser auf die Mühlen der FDP, die
immer wieder kritisiert - das wurde auch vorhin getan -,
dass alle Unternehmen unter die Knute der Erfüllung der
Frauenquote kommen könnten. Ich denke, die Linke
geht mit dieser Forderung an das Ganze etwas zu heftig
heran.
Ansonsten geht es bei der Regierung und bei der Koalition - wie meistens - ziemlich durcheinander. Die
Justizministerin hat vor einigen Tagen in einem Interview eine deutliche Verbesserung angemahnt. Mittlerweile droht sie mit dem Damoklesschwert einer gesetzlichen Frauenquote. Ich will einmal sehen, was die
Frauenministerin dazu sagt. Sie findet die Lage ja immer
noch nicht allzu dramatisch.
Ich möchte noch einmal auf den Gleichstellungsbericht des Ministeriums für Familien, Senioren, Frauen
und Jugend verweisen. In diesem Bericht wird auf die
Forderungen wirklich sehr deutlich eingegangen. Ich
wünsche mir, dass dieser Bericht über die Homepage
dieses Ministeriums zugänglich ist.
({8})
Ich möchte, an die FDP gerichtet, kurz Folgendes zitieren - es wurde in der Debatte gestern schon angesprochen -: Die Kosten des Nichtstuns übersteigen die Kosten einer vernünftigen Gleichstellungspolitik bei
weitem. - Das, was Sie machen, ist also auch aus Kostengesichtspunkten einfach unsinnig.
({9})
Wie gesagt: Wir haben in dieser Wahlperiode noch einige Jahre. Ich hoffe, wir kommen zu einem guten
Schluss. Der nächste Höhepunkt wird sicherlich die Anhörung im Rechtsausschuss sein, aus der Herr
Buschmann hoffentlich weitere Erkenntnisse im positiven Sinn mitnehmen wird.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stephan Harbarth von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wieder einmal debattieren wir heute über das Thema
Frauenquote in Aufsichtsräten und Vorständen.
({0})
Wir haben das in der Plenardebatte im Dezember und
auch in der Aktuellen Stunde vor zwei Wochen getan.
({1})
Heute beraten wir über zwei Anträge, die in eine ähnliche Richtung gehen wie der Antrag der Grünen, den
wir Ende letzten Jahres diskutiert haben, die aber an entscheidenden Stellen weiter gehen.
({2})
Die Grünen haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, den
ich in der Sache nicht für richtig, wohl aber für diskutabel halte. Sie sehen eine Quotenregelung erstens für mitbestimmte Unternehmen und zweitens für börsennotierte
Aktiengesellschaften vor.
Der Antrag, den die SPD vorgelegt hat, geht weit darüber hinaus. Er enthält keine Einschränkung auf börsennotierte Aktiengesellschaften, sondern Sie wollen die
Quote für Aktiengesellschaften generell einführen.
Wenn man sich die Realität der Aktiengesellschaften in
Deutschland anschaut, dann stellt man fest, dass mindestens drei Viertel der Aktiengesellschaften in Deutschland
typisch mittelständische Unternehmen sind.
({3})
Nach dem Institut für Mittelstandsforschung in Bonn,
basierend auf Daten des Statistischen Bundesamtes, haben 75 Prozent der Aktiengesellschaften in Deutschland
einen jährlich Umsatz von weniger als 10 Millionen
Euro. Das ist der Mittelstand; das sind viele kleine Unternehmen.
({4})
Die Linkspartei geht in ihrem Antrag auch darüber
noch hinaus. Die Linkspartei will eine Quotenregelung
nicht nur für Aktiengesellschaften, sondern dies auch auf
„aufsichtsratsfähige GmbHs“ ausdehnen. „Aufsichtsratspflichtige GmbHs“ sagen Sie nicht; Sie sagen ganz
bewusst „aufsichtsratsfähige GmbHs“. Aufsichtsratsfähige GmbHs sind in Deutschland alle.
({5})
In jeder GmbH besteht die Möglichkeit, einen Aufsichtsrat einzurichten, wenn die Gesellschafter dies wollen.
Die Linkspartei möchte also die Quotenregelung nicht
nur für Großunternehmen, sondern auch für Kleinstunternehmen einführen. Sie möchte das für den örtlichen
Handwerksmeister, der seinen Betrieb als GmbH organisiert, und für die örtliche Autowerkstatt, die als GmbH
organisiert ist, einführen. Der Handwerksmeister, der
bisher als Geschäftsführer fungiert, muss dann eine
zweite Handwerksmeisterin einstellen. Das gilt übrigens
auch für Vorstände. Damit verlangt man aber von den
Kleinstunternehmen etwas, was man, wenn man einen
halbwegs gesunden Menschenverstand hat, von ihnen
nicht verlangen kann. Das, was Sie vorschlagen, ist Gängelung pur; das ist Irrsinn pur. Für so etwas stehen wir
nicht zur Verfügung.
({6})
Wir haben die politische Entscheidung zu treffen, ob
wir eine starre Quote oder einen durchdachten Stufenplan mit flexibler Quote einführen wollen. Meine feste
Überzeugung ist: Dort, wo Unzulänglichkeiten und
Missstände ohne gesetzgeberische Überregulierung gelöst werden können, verdient dies den Vorzug. So lassen
sich Probleme passgenauer und durchdachter lösen. Dieser bessere Ansatz spiegelt sich auch in dem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgelegten Stufenplan wider, wie wir dies auch im
christlich-liberalen Koalitionsvertrag vereinbart haben.
Der in Eckpunkten vorgelegte Stufenplan erlaubt
maßgeschneiderte Lösungen. Er kommt ohne umfassende staatliche Eingriffe aus und wird deshalb zu besseren Ergebnissen führen.
Die erste Stufe zielt auf die Schaffung der Voraussetzungen hinsichtlich der Verbesserung der Rahmenbedingungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen im
Erwerbsleben und speziell in Führungspositionen ab.
Die zweite Stufe setzt auf die Implementierung von
transparenten freiwilligen Selbstverpflichtungen. In einer dritten Stufe des Plans wird die gesetzliche Verpflichtung zur Selbstverpflichtung zur Förderung des
Frauenanteils eingeführt.
({7})
Die dann vorgesehene flexible Quote soll so ausgestaltet sein, dass Unternehmen sich selbst eine quantifizierbare Zielvorgabe für die Aufsichtsrats- und Vorstandsbesetzung setzen können, die innerhalb einer
bestimmten Frist erreicht werden soll.
({8})
Mithilfe einer solchen Regelung können die Unternehmen auf ihre jeweilige spezifische Unternehmenssituation flexibler reagieren und auf spezifische Unternehmensbesonderheiten besser eingehen.
({9})
Wenn man den Blick auf die Realität noch nicht zu
sehr verloren hat, dann wird man feststellen müssen,
dass sich die Situation in den verschiedenen Branchen
völlig unterschiedlich darstellt, sodass der von Ihnen
vorgesehene pauschalierende Ansatz falsch ist. Es gibt
Branchen mit einem sehr hohen Frauenanteil.
({10})
Es gibt andere Branchen, in denen der Frauenanteil sehr
niedrig ist.
({11})
Bei den Ingenieurwissenschaften liegt der Frauenanteil
im Durchschnitt bei nur 20 Prozent; in speziellen Disziplinen liegt er noch wesentlich darunter. Wenn Sie dann
vorschlagen, dass beispielsweise bei Maschinenbauunternehmen im Vorstand genau die gleiche Quote gelten
soll wie vielleicht bei einem Verlagsunternehmen, wo
der Frauenanteil ein ganz anderer ist, dann zeigt das
doch - ({12})
- Ich bin Jurist, aber wenn Sie glauben, Maschinenbauunternehmen sollten intelligenterweise von Juristen geführt werden,
({13})
dann zeigt das doch, wie weit Ihre praktische Anschauung reicht.
({14})
Die Verhältnisse am Arbeitsmarkt sind zu unterschiedlich, als dass man schlicht und ergreifend den einfachsten Weg beschreiten könnte. Ich gebe gerne zu,
dass Ihr Modell das simpelste ist. Wir sind aber nicht gewählt worden, um das simpelste Modell umzusetzen
- das könnten auch andere -, sondern wir sind gewählt
worden, um eine gute Lösung zu präsentieren.
({15})
Eine solche gute Lösung stellt der flexible Quotenplan
dar.
Wenn man einen Blick auf die letzten Jahre wirft,
dann müssen Sie sich die Frage gefallen lassen, warum
Sie mit Ihren Überlegungen gerade jetzt kommen, zu einem Zeitpunkt, zu dem zum ersten Mal in den vergangenen zehn Jahren etwas in Bewegung gekommen ist.
({16})
In den vergangenen zwölf Monaten haben wir in großen
Unternehmen und mittleren Unternehmen mehr Bewegung gesehen als davor in einem ganzen Jahrzehnt.
({17})
Wir sind im Moment noch nicht dort, wo wir hin wollen.
({18})
Aber wir sehen beispielsweise an SAP, Daimler, BASF,
Merck oder ThyssenKrupp - ich könnte noch viele an10756
dere Unternehmen nennen -, dass eine Entwicklung in
Gang gekommen ist, die auf den konsequenten Ausbau
des Frauenanteils setzt.
In diese Entwicklung passt der in Eckpunkten vorgelegte Stufenplan mit flexibler Quote hervorragend hinein. Wenn Sie immer wieder vom Modell Norwegen
sprechen, dann möchte ich Ihnen einmal zurufen: Ziel
kann es nicht sein, dauerhaft einen Frauenanteil von nur
40 Prozent zu haben,
({19})
sondern wir müssen dauerhaft einen Frauenanteil von
50 Prozent haben. In Norwegen gibt es seit Jahren eine
40-Prozent-Quote, und der Frauenanteil in den Unternehmen liegt bei 42 Prozent.
({20})
Das zeigt, dass die Bewegung, die wir in Gang setzen
wollen, nämlich dass Frauen ganz selbstverständlich entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in
den Unternehmen vertreten sind, in Norwegen noch
nicht in Gang gekommen ist. Dort stellt sich die Situation so dar, dass die Unternehmen einer als lästig empfundenen Pflichtübung genügen und die 40-ProzentSchwelle gerade einmal marginal übertreffen.
({21})
Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: Die Anträge,
die die SPD und die Linkspartei vorgelegt haben, sind
nicht durchdacht. Sie setzen auf Gängelung von mittelständischen Unternehmen.
({22})
Sie setzen auf Gängelung von kleinen Unternehmen bis
hinunter zu den kleinsten Handwerksbetrieben. Das ist
angesichts Ihrer Weltanschauung nicht überraschend.
Dass wir uns aber für so etwas nicht zur Verfügung stellen, das mag andererseits Sie nicht überraschen.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort hat jetzt der Kollege Willi Brase von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die Debatte zeigt, dass
es mehr als notwendig ist, dieses Thema anzugehen und
vernünftig auf den Weg zu bringen. Wir können in allen
Statistiken nachlesen: Der Anteil von Frauen in Führungspositionen ist gering und sogar gesunken. Die freiwilligen Vereinbarungen sind kritisch zu überprüfen.
Ich will nur darauf hinweisen, dass schon im Jahr
2000 die OECD gemäß ihren Leitsätzen von multinationalen Unternehmen erwartete,
dass sie die Chancengleichheit von Frauen und
Männern fördern, wobei das Schwergewicht auf
gleichen Kriterien bei Auswahl, Arbeitsentgelten
und Beförderung sowie auf der gleichen Anwendung dieser Kriterien liegt; …
Wir haben unter Rot-Grün ein Jahr später auf dieser Basis entgegen der Auffassung mancher in unseren Reihen
freiwillige Vereinbarungen geschlossen.
({0})
Wir sind an der Stelle auch etwas schlauer geworden.
Wir glauben nicht, dass diese freiwilligen Vereinbarungen gezogen haben. Deshalb ist es richtig, dass wir uns
über eine Quotenregelung unterhalten, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({1})
Wir erleben, dass im Wesentlichen die Arbeitnehmerorganisationen, sprich: die Gewerkschaften, mehr und
verstärkt Frauen in die Aufsichtsräte hineindelegieren.
Die Arbeitgeberseite hängt gnadenlos hinterher. Deshalb
brauchen wir die Quote; als ein Mittel zum Zweck ist sie
notwendig und richtig. Die Debatte zeigt, dass jetzt auch
manche Führungskräfte einsehen, dass hier mehr zu tun
ist.
({2})
Es geht darum, die Durchsetzbarkeit auf den Weg zu
bringen. Wir wollen mehr Frauen in Führungspositionen. Wir Männer müssen begreifen, dass wir zukünftig
Positionen abgeben müssen bzw. nicht mehr alle bekommen können. Mir scheint ein größeres Problem zu sein,
dass ein Teil der Männer nicht bereit ist, etwas abzugeben. Ich meine, das ist falsch.
({3})
Wir streiten darüber, welchen Weg wir gehen wollen.
Sollen wir noch einmal auf Freiwilligkeit setzen? Nach
den bisherigen Erfahrungen glaube ich, dass das nicht
mehr viel bringt. Was soll eigentlich in den nächsten
zehn Jahren besser werden, wenn wir wieder auf Freiwilligkeit setzen? Machtbastionen werden niemals freiwillig geräumt. Hier muss nachgeholfen werden. Deshalb ist unser Antrag notwendig und richtig.
({4})
Dass Frauen die Möglichkeit eröffnet wird, im Berufsleben Führungspositionen zu besetzen, sehen wir auch als
Ansporn und Perspektive für die Frauen.
Wir wollen noch einmal festhalten: Häufig haben die
Frauen, vor allem die jungen Frauen, einen höheren Bildungsabschluss als die jungen Männer. 45 Prozent der
jungen Frauen verfügen über die Hochschulreife und
14 Prozent über einen akademischen Abschluss. Bei den
Männern besitzen 40 Prozent die Hochschulreife und
13 Prozent einen akademischen Abschluss. Häufig hören
wir in der Debatte, dass es für die in den Aufsichtsräten
und Vorständen zu besetzenden Positionen gar nicht genug Frauen gibt, die qualifiziert sind. Da habe ich mich
an eine wunderbare Statistik erinnert, die ich neulich in
der Hand hielt. Ich will kurz zitieren, was das Statistische Bundesamt über deutsche Studierende im Wintersemester 2009/2010 - Fachserie 11, Reihe 4.1 - schreibt:
Studierende der Betriebswirtschaftslehre: männlich
83 000, weiblich 72 000; Studierende der Rechtswissenschaft: weiblich 42 000, männlich 37 000; Studierende
der Wirtschaftswissenschaften: weiblich 25 000, männlich 35 000. Diese Zahlen belegen eindeutig: Wir haben
genügend Frauen, die bereit sind, sich in diesen Feldern
einzuarbeiten, und damit die Voraussetzung haben, auch
Führungspositionen zu übernehmen.
({5})
Es gibt noch einen anderen Punkt, den ich kurz ansprechen möchte. Es geht uns nicht nur darum, junge
Frauen zu unterstützen und ihnen Chancen zu eröffnen.
Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass unsere
Frauen vielfach nicht Vollzeit beschäftigt sind. Der Anteil von Frauen in Vollzeitbeschäftigung ist zurückgegangen, der in geringfügiger Beschäftigung ist gestiegen. Das ist für die Frauen nicht immer gut.
({6})
Viele junge Frauen üben nach statistischen Angaben eine
atypische Beschäftigung aus. Das Anwachsen des Niedriglohnsektors hat ein Übriges dazugetan. Der überwiegende Teil der Beschäftigten in diesem Sektor ist weiblich; dabei sind sie gut ausgebildet; denn über 72 Prozent
von diesen Frauen haben einen beruflichen Abschluss.
Ich glaube, dass die Frauen nicht länger bereit sind, solche Entwicklungen zu akzeptieren. Das wollen und werden wir ändern.
({7})
Denn trotz besserer Schulausbildung und Qualifikation
verdienen sie weniger und haben geringere Aufstiegschancen. Was wir brauchen: gleicher Lohn für gleiche
Arbeit, für gleichwertige Arbeit. Aufstiegschancen und
das Mitwirken in Leitungspositionen und Aufsichtsräten
sind wichtig. Das sind vernünftige gleichstellungspolitische Teilhabe und Perspektive, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({8})
Mit unserem Antrag erfüllen wir auch den Auftrag
des Grundgesetzes. Art. 3 Abs. 2 lautet - ich zitiere -:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Das ist der grundgesetzliche Auftrag.
Ich will schließen mit einem Wort des ehemaligen
Bundespräsidenten Gustav Heinemann: Gleichberechtigung zielt darauf ab, dass Männer und Frauen unsere
Gesellschaft in voller Gleichwertigkeit dessen, was sie
an körperlichen, geistigen und seelischen Verschiedenheiten einbringen, miteinander gestalten. - Lassen Sie
uns dieses tun und die Quote durchsetzen!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Bracht-Bendt
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst
einmal Folgendes zur Kenntnis: Wir haben im FDPFraktionsvorstand einen Frauenanteil von 45 Prozent.
Ich glaube, das haben Sie nicht.
({0})
Seit Monaten diskutieren wir über die Frage, was
Politik leisten kann, damit mehr Frauen in die Führungsetagen unserer Unternehmen einziehen. Die Debatte ist mittlerweile in einen Streit eskaliert. Das
Schlimmste daran: Es ist ein Streit zwischen Frauen; ich
wiederhole: zwischen Frauen. Ich finde es sehr unerfreulich und kontraproduktiv, wie kompromisslos und polemisch Quotenbefürworterinnen auf Frauen einprügeln,
die eine Quote per Gesetz nicht wollen.
({1})
Jüngstes Beispiel: Während der Aktuellen Stunde in der
letzten Sitzungswoche fiel das Wort „Verräterin“.
({2})
Darüber bin ich entsetzt.
Ich will es kurz machen. Ich halte eine gesetzlich verordnete Quote für Aufsichtsräte und Vorstände für den
falschen Weg, wie Ihnen sicherlich bekannt ist,
({3})
erstens weil ich sicher bin, dass wir den Wandel auch
ohne Quote erreichen werden,
({4})
zweitens weil ich es ablehne, in die Vertragsfreiheit der
Wirtschaft einzugreifen. Einem Arbeitgeber vorzuschreiben, wem er welchen Posten gibt, das ist mit mir
nicht zu machen.
({5})
Was die Aufsichtsräte angeht, halte ich die Forderung
nach einer starren Quote für Blödsinn.
({6})
- Ja, Blödsinn.
({7})
Es gibt nicht nur inkompetente männliche Platzhirsche
in den Aufsichtsräten.
({8})
Wollen Sie einen männlichen Aufsichtsrat abservieren,
obwohl er einen guten Job gemacht hat, nur weil er ein
Mann ist?
({9})
Wenn Sie etwas verändern wollen, müssen Sie mit den
Aufsichtsratsvorsitzenden Tacheles reden.
({10})
Aufsichtsräte verfolgen, denke ich, die Diskussion
selber. Es vergeht ja kein Tag mehr, an dem wir im Wirtschaftsteil nichts darüber lesen. Erst gestern hat eine
große Tageszeitung dem Thema „Frauen in Führungspositionen“ vier Seiten gewidmet.
Was die Vorstände in den DAX-Unternehmen angeht,
ist das ähnlich. Statt eine starre Quote einzuführen, müssen wir direkt mit den Personaldirektoren reden.
Mich verblüfft ohnehin der Zeitpunkt der Quotendiskussion. Es ist richtig: Appelle an die Wirtschaft haben
in der Vergangenheit nicht viel bewirkt.
({11})
In den 30 im Deutschen Aktienindex, DAX 30, notierten
Unternehmen lag im Jahr 2009 der Frauenanteil bei Vorstandsmitgliedern bei 0,55 Prozent
({12})
und 2010 bei 2,16 Prozent. In den Aufsichtsräten der
30 DAX-Unternehmen lag der Frauenanteil auf der Anteilseignerseite 2009 bei 6,45 Prozent und 2010 bei
7,2 Prozent. Das ist nicht akzeptabel. Das muss sich
schleunigst ändern.
({13})
Ich bin da guter Dinge. Schauen Sie sich doch um!
Jetzt passiert gerade eine Menge. Karstadt berief vor wenigen Wochen eine Frau in den Aufsichtsrat.
({14})
Bei Siemens haben es zwei Frauen nach oben geschafft.
SAP holte letztes Jahr eine Frau in den Vorstand.
({15})
Das Gleiche machte Eon. Der Energielieferant will den
Frauenanteil mehr als verdoppeln.
({16})
Die Telekom - Sie wissen es sicherlich schon - will den
Anteil von Frauen in Führungspositionen
({17})
- hören Sie zu! - bis 2015 auf 30 Prozent steigern.
({18})
Daimler holte gerade eine Frau in den Vorstand. Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Christine HohmannDennhardt soll beim Autobauer das Ressort Recht übernehmen.
({19})
Das ist zwar noch kein Durchbruch; Sie haben recht.
Ich weiß, Sie sagen jetzt: Das sind Ausnahmen, und das
ändert nicht viel an den Tatsachen. - Das sehe ich anders. In den Chefetagen wird jetzt durchgezählt: Wie
viele Frauen sind bei uns in Führungspositionen? Wer zu
wenige findet, gerät unter Druck.
Man hat mittlerweile den Eindruck, den Unternehmen
sind die vielen Chefs jetzt unangenehm; die Männerriege
gilt zunehmend sogar als Makel. „Frauen, haben Sie
keine Frauen?“, ist zurzeit die Standardfrage an Headhunter. Ein Partner eines bekannten Beratungsunternehmens sagte wörtlich: Auch die letzten Machos in den
Unternehmen sind aufgewacht.
({20})
Die Unternehmen haben begriffen, dass sie auf die
hervorragend ausgebildeten Frauen nicht verzichten
können. Beim Wettlauf um die besten Fach- und Führungskräfte im Zuge des demografischen Wandels werden sie nur mithalten können, wenn sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwas bieten,
({21})
zum Beispiel familienfreundliche Bedingungen. Auch
flexible Arbeitszeiten gehören dazu und natürlich auch
mehr Kindertagesstätten und Ganztagsschulen.
Familie und Beruf dürfen aber nicht zu einem reinen
Frauenthema gemacht werden. Flexible Arbeitszeiten
und -orte sind auch für Väter wichtig. Früher galt Frauenförderung als gute Tat für das sogenannte schwache
Geschlecht. Heute ist sie eine gute Tat für das eigene
Unternehmen. Immer mehr Studien belegen: Gemischte
Teams erwirtschaften mehr Gewinn.
Jetzt sind aber auch die Frauen am Zuge. Ich wünsche
mir, dass mehr Frauen sagen: Ja, ich will nach oben. Nicole Bracht-Bendt
Wenn Sie ständig Norwegen über den grünen Klee loben, verschweigen Sie, dass die 40-Prozent-Quote nicht
das Allheilmittel ist. Es ist Quatsch, wenn Unternehmen
die Gesellschaftsform ändern müssen, weil sie die Quote
nicht erfüllen können.
Die FDP-Fraktion hat diese Woche ein Positionspapier verabschiedet,
({22})
- hören Sie einmal zu! -, und zwar auf der Grundlage
von Freiheit, Eigeninitiative und Selbstbestimmung.
({23})
Statt einer starren Quote wollen wir erst den Stufenplan
umsetzen, wie wir ihn im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Die Berichtspflichten, also die Offenlegung
der Besetzung von Führungspositionen, müssen ein erster konkreter Schritt sein. Dann sehen wir weiter.
Frau Kollegin Bracht-Bendt, darf ich Sie kurz unterbrechen? Die Kollegin Dittrich von der Fraktion Die
Linke möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, danke. Ich möchte die Zwischenfrage nicht zulassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächste Rednerin rufe ich die Kollegin Ulla
Lötzer von der Fraktion Die Linke auf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Harbarth, Herr Buschmann und Frau Bracht-Bendt,
man kann es Ihnen nicht oft genug ins Stammbuch
schreiben: Zehn Jahre freiwillige Regelungen zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen an Führungspositionen
haben sich als zehn Jahre Freifahrtsschein für die Unternehmen herausgestellt, diese Positionen mit Männern
und nicht mit Frauen zu besetzen.
Frau Winkelmeier-Becker, nachdem ich Ihnen zugehört habe, muss ich sagen: Was Ihre Kollegen hier an
Gründen gegen eine gesetzliche Quote anführen oder
auch die Tatsache, dass Ihre Kanzlerin, Frau Merkel, mit
einem Machtwort gegen eine gesetzliche Quote vorgeht,
muss Ihnen doch peinlich sein. Sie selber haben sich
deutlich dafür ausgesprochen.
Neben Frau Merkel blockiert die FDP; das haben wir
gerade wieder sehr deutlich vor Augen geführt bekommen. So hat auch ihr Generalsekretär, Herr Lindner, gesagt, bis 2013 ständen in vielen Unternehmen Führungswechsel an, bis dahin verböten sich gesetzliche
Bestimmungen.
({0})
Frau Bracht-Bendt, von Juni 2009 bis Juni 2010 wurden 34 Positionen bei DAX-30-Unternehmen neu besetzt, davon genau zwei mit Frauen. Gerade wird eine
fünfte Frau in einen Vorstand berufen; insgesamt gibt es
aber 182 Vorstandspositionen. Mit Ihrer Politik schieben
Sie die Frauen auf lange Frist in die Warteschleife. Gerade weil jetzt neue Führungspositionen zu besetzen
sind, ist es Zeit, zu handeln und für eine gesetzliche
Quote einzutreten.
({1})
Deshalb legen wir Ihnen heute unseren Antrag vor. Wir
wollen in zehn Jahren eine Quote von 50 Prozent erreichen. Außerdem treten wir für Sanktionsmöglichkeiten
ein.
Herr Lindner hat ähnlich wie Sie argumentiert, Liberale gingen davon aus, dass Unternehmen im eigenen Interesse die Bestqualifizierten berufen würden. Er nimmt
die Realität offensichtlich genauso wenig wie Sie zur
Kenntnis. Circa die Hälfte aller Hochschulabsolventen
in Deutschland sind Frauen - Herr Brase hat die detaillierten Zahlen vorhin genannt -, oft mit deutlich besseren Abschlüssen als die Männer.
({2})
Aber diese Qualifikation spiegelt sich eben nicht in den
Führungsetagen wider. Genau deshalb brauchen wir endlich eine Quotenregelung.
({3})
Wir helfen Ihnen mit unserem Antrag auch da weiter:
({4})
Unternehmen sollen verpflichtet werden, ein Qualifizierungskonzept für Führungspositionen zu erarbeiten und
geeignete Kandidatinnen und Kandidaten auf dieser
Grundlage zur Übernahme von Führungsverantwortung
zu befähigen. Dabei sind internationale Erfahrungen mit
Mentoringprogrammen einzubeziehen.
Mit Herrn Westerwelle haben Sie, Herr Buschmann,
wieder angeführt, die Lösung könne nicht in einer
Zwangsquote liegen, sondern nur in besseren Bildungsund Betreuungsangeboten - etwa Ganztagsschulen -,
um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können.
Wir treten immer für bessere Bildung und Kinderbetreuung, für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf ein. Aber haben Sie eigentlich einmal einen der
177 Vorstandsmitglieder von DAX-Unternehmen gefragt, wie er seine Karriere denn mit der Betreuung seiner Kinder vereinbart?
({5})
Ihr Einwand zeigt die Wurzel des Problems; er zeigt,
weshalb Sie nicht an eine Lösung heranwollen:
({6})
In Ihrem Weltbild sind immer noch die Frauen für Kinderbetreuung zuständig - die Männer und nicht die
Frauen sind zu Beruf, Führung und Macht befähigt.
Eine gesetzliche Quote würde mit genau diesem Rollenbild brechen, das Sie angeführt haben. Eine gesetzliche Quote würde den Druck erhöhen, Arbeitswelt und
Gesellschaft so zu gestalten, dass Frauen und Männer
die gleiche Chance auf Arbeit, Karriere und Kinderbetreuung haben.
({7})
Das gilt auch - davon war noch gar nicht die Rede - für
die Bezahlung. Denn haben es Frauen einmal in die
Hierarchien geschafft, werden sie schlechter bezahlt als
Männer in gleichen Positionen.
({8})
Auch hier liegt Deutschland auf dem drittletzten Rang auch das ist empirisch belegt, und nicht das Gegenteil.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag konkrete
Maßnahmen zur Schaffung von Entgeltgleichheit. Die
Mehrheit der Deutschen traut den Unternehmen im Gegensatz zu Ihnen keine angemessene Frauenförderung zu
- das hat Forsa gerade festgestellt -; sie spricht sich für
staatliche Vorgaben aus und auch für eine Frauenquote
in Führungspositionen.
Das Grundgesetz schreibt die Gleichberechtigung als
Gesetz des Handelns eigentlich auch für Ministerin
Schröder, Frau Merkel und Herrn Westerwelle vor. Mit
dem DGB stellen wir fest: Die Zeit für Appelle ist vorbei. Frauen sind nicht die besseren Menschen; sie müssen es aber auch nicht sein, um in Vorstandspositionen
zu kommen.
({9})
Sie haben ein Recht auf gleichen Lohn, gleiche Arbeit
und gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Winkelmeier-Becker, ich will einen Satz von Ihnen
aufgreifen: Sie haben gesagt, wir debattieren inzwischen
fast wöchentlich über dieses Thema. Damit haben Sie
auch recht. Aber woran liegt das? In der Gesellschaft
gab es noch nie ein so großes Bündnis für die Quote, wie
wir es zurzeit erleben: von FidAR über den Deutschen
Juristinnenbund und den Verband deutscher Unternehmerinnen bis hin zu Journalistinnen, die sich plötzlich
mit dem Thema Quote in ihrem Arbeitsfeld beschäftigen. Dieses starke Bündnis reicht quasi bis zur EU, die
darüber diskutiert, ob man nicht EU-weite Regelungen
mit Blick auf die Quote einführen muss.
Vor diesem Hintergrund stellt sich umso mehr die
Frage, ob es uns im Parlament gelingt, diese gesellschaftliche Debatte aufzunehmen; denn das ist ja auch
ein Auftrag an uns. Genau deshalb ist es richtig, dass wir
- wenn nötig - jede Woche darüber diskutieren; denn
wir müssen das in die Köpfe hineinkriegen. Das ist ein
Auftrag an uns.
({0})
Ich bin aber schon sehr unglücklich über die Antworten der Koalitionäre. Ich weiß ja trotz allem, dass es auch
hier - an dieser Stelle mache ich eine Pause -, mit Ausnahme der FDP, ein großes Bündnis der Frauen im Bundestag gibt, die sich für die Quote aussprechen. Viele Argumente kommen auch aus der CDU/CSU-Fraktion.
Aber die Freiwilligkeit, auf die Sie als Koalition setzen,
wird uns nicht weiterhelfen. Wenn wir am Anfang der
Debatte stehen würden, dann könnte man so argumentieren. Wir führen diese Debatte über die Freiwilligkeit
aber schon seit zehn Jahren. Jetzt, nach zehn Jahren, stellen wir fest, dass das nicht mehr reicht, dass der nächste
Schritt kommen muss. Vielleicht beschäftigt sich die
FDP zum ersten Mal mit diesem Thema, das heißt aber
noch lange nicht, dass alle anderen auch blind, taub und
stumm gewesen sind und sich zum ersten Mal damit beschäftigen. Der Rest in diesem Land ist einfach schon
weiter.
({1})
Das gilt ja auch für Ihre Fraktion, das müssen Sie auch
einmal konstatieren.
Frau Merkel selber hat in einer Rede über familienfreundliche Arbeitszeiten gesagt, es sei ein „ziemlicher
Skandal“, dass es so wenige Frauen in Führungspositionen gibt. Jetzt sagt aber die Ministerin, die leider gegangen ist - so wichtig ist ihr die Debatte doch nicht, denn
es geht „nur“ um Frauen ({2})
- na ja, die Debatte läuft noch ein bisschen -, dass sie
keine Quotenfrau sein möchte; als Quotenfrau habe man
so einen Makel.
({3})
Ich bin eine Quotenfrau; ich stehe dazu. Das ist auch gut
so. Die Quote ist ein Instrument, um Frauen in bestimmte Positionen zu bringen. Trotzdem müssen sich
die Frauen selber weiter durchsetzen und bewähren.
Im Moment existiert doch die berühmte gläserne Decke; es geht längst nicht nur um die Qualifikation. Wie
erklären Sie sonst, dass an der Spitze der 200 größten
Unternehmen zu 96 Prozent Männer sind?
({4})
Heißt das, wir haben in diesem Land keine qualifizierten
Frauen? Was ist mit den weiblichen Absolventinnen, die
51 Prozent aller Absolventen ausmachen und oft Supernoten haben? Sind sie, salopp formuliert, zu doof dazu,
in Führungspositionen zu arbeiten? Das kann ja wohl
nicht sein.
Ich komme zum Argument der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das immer wieder angeführt wird. Ich
kann mich immer nur wiederholen: 25 Prozent der
Frauen in diesem Land erziehen minderjährige Kinder;
75 Prozent tun es nicht. Auch von diesen 75 Prozent der
Frauen sind kaum welche an der Spitze. Es kann also
kein Argument sein, zu sagen: Aufgrund des Problems
der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gibt es kaum
Frauen in Führungspositionen.
({5})
Für 75 Prozent der Frauen gilt dieses Argument nicht;
sie haben keine Kinder bzw. die Kinder sind schon aus
dem Haus oder bereits volljährig. Auch diese Frauen
muss man mit der Lupe in Führungspositionen suchen.
Ich komme zur Frauenquote in Norwegen. Sie sagen:
„Der Anteil der Frauen in den Vorständen der Unternehmen liegt in Norwegen bei nur 42 Prozent.“ Ich sage:
Immerhin wurde in Norwegen ein Anteil von 42 Prozent
erreicht. Bei uns liegt der Anteil bei nur 2 Prozent; das
sind 40 Prozentpunkte weniger. In Norwegen hat sich
doch etwas geändert: Wir wissen, dass die Unternehmen,
in denen Frauen in Führungspositionen sind, in der Krise
eine andere Bewältigungsstrategie gewählt haben und
damit erfolgreicher waren.
({6})
Worum geht es uns? Es geht uns nicht um Semantik;
es geht nicht darum, dass Frauen viel besser sind. Frauen
haben aber einen anderen Blick auf die Dinge und gehen
anders mit Risiken um. Auch manchen Männern in den
Vorstandsetagen gefallen gewisse Verfahren der Entscheidungsfindung nicht besonders gut, siehe VW. Wenn
Frauen in die Vorstandsetagen kommen, wird anders mit
Risiken umgegangen. Wir wollen doch wirtschaftlich
weiterkommen und erfolgreich sein; wir wollen Vorreiter sein. Warum können wir nicht ausnahmsweise an
solch einem Punkt als Vorreiter auftreten und vorausmarschieren? Warum können wir uns das nicht leisten?
({7})
Warum überlassen wir das Norwegen, den Niederlanden,
Frankreich und demnächst der EU?
({8})
Wir hecheln hinterher und diskutieren und diskutieren.
Das kann doch nicht die Lösung sein.
({9})
Das haben übrigens auch die Frauen in der FDP erkannt; es wurde schon an Ina Lenke erinnert, die sich in
die Debatte um die Frauenquote eingebracht hat. Nur haben es die Männer in der FDP-Fraktion nicht erkannt; sie
sind die letzte Bastion.
({10})
Die öffentliche Meinung dazu steht eigentlich schon
fest. Die Tatsache, dass die FDP vorwiegend von Männern gewählt wird, heißt noch lange nicht, dass Sie nur
Politik für Männer machen müssen.
({11})
Gemischte Teams sind effizienter und erfolgreicher;
man kann das nachmessen. Jetzt kommt es darauf an, ob
es uns Frauen im Bundestag gelingt, einen anderen Blick
auf die Dinge durchzusetzen. In diesem Fall geht es um
unseren Einsatz für die Quote.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beinahe könnte man sagen - es ist mehrfach angesprochen
worden -: Unsere tägliche Quotendebatte gib uns heute.
Frau Deligöz hat in diesem Zusammenhang auf meine
Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker Bezug genommen: Sie hat etwas Ähnliches gesagt und es sehr positiv
gemeint. Auch ich sehe das positiv,
({0})
denn je öfter wir darüber sprechen und je länger der
Druck aufrechterhalten wird, desto eher können wir uns
an dieser Stelle durchsetzen.
({1})
Es ist historisch belegt, dass es möglich ist, sich
durchzusetzen, wenn auch in einem negativen Fall:
Ceterum censeo Carthaginem esse delendam
Ich glaube nicht, dass wir so martialisch vorgehen müssen, um die Frauenquote letztendlich durchzusetzen;
aber es ist ein Beispiel dafür, dass nur immer wiederkehrende Wiederholung die Möglichkeit eröffnet, sich letztendlich durchzusetzen.
({2})
Wir haben uns schon gestern in der Debatte zum
Thema „100 Jahre Internationaler Frauentag“ in ähnlicher Weise, aber etwas ausführlicher - wir hatten mehr
Themen auf der Palette - mit der Thematik beschäftigt.
Wir haben bereits gestern festgestellt, dass wir alle mit
dem Anteil von Frauen in Toppositionen unzufrieden
sind und dass wir natürlich auch unzufrieden sind, dass
sich in den letzten zehn Jahren nichts geändert hat und
dass die freiwillige Vereinbarung zwischen der rot-grünen Bundesregierung und den Spitzenverbänden aus
dem Jahr 2001 krachend gescheitert ist. Das hat uns allen gezeigt, dass auf unverbindliche Selbstverpflichtungen kein Verlass ist. Wenn der Anteil von Frauen in Führungspositionen signifikant geändert werden soll, dann
brauchen wir verbindliche Zielgrößen,
({3})
von mir aus auch in einem angemessenen Zeitraum für
die Unternehmen. Frau von der Leyen hat davon gesprochen, dass sie nicht alle Finger ihrer Hand brauchen
möchte.
({4})
Ich würde die Anzahl der Finger an der Hand sogar noch
etwas verringern. Ich glaube, wir brauchen diese Regelung schneller.
({5})
Bei der gestrigen Debatte zum Thema Frauen hat sich
gezeigt, dass sich in den letzten Jahren in Sachen
Frauenpolitik schon viel getan hat. In Sachen Entscheidungsteilhabe sind wir jedoch in den letzten zehn Jahren
kaum vorangekommen. Gestern kam der Einwurf von
der Opposition: Wenn die Selbstverpflichtung so falsch
war, warum macht ihr dann nichts anderes? Natürlich
machen wir etwas anderes. Ich habe es gestern bereits
angesprochen: Wir haben das Thema überhaupt wieder
auf die Tagesordnung gebracht.
({6})
Wir, die Regierungskoalition, sind diejenigen, die sich
umfassend mit diesem Thema beschäftigen. Man sollte
festhalten: Unsere beiden Parteien sind die letzten verbliebenen Volksparteien in unserem Lande.
({7})
Es gibt unterschiedliche Meinungen. Das ist doch nichts
Ehrenrühriges. Man muss ehrlicherweise darauf hinweisen, dass letztendlich wir diejenigen sind, die das Thema
umsetzen können.
Die Familienministerin hat gestern die frauenpolitischen Erfolge der Union herausgestellt. Wir haben das
Thema auf die Agenda gesetzt. Die Unionsfrauen haben
sich schon im letzten Jahr damit beschäftigt. Ich bin sehr
froh, dass unsere Vorsitzende der Gruppe der Frauen
später noch das Wort ergreifen wird, weil sie die treibende Kraft ist, die im letzten Jahr einen überzeugenden
Stufenplan zur Erhöhung des Frauenanteils vorgelegt
hat. Diese Zielsetzung ist für uns weiterhin aktuell, weil
wir es als gesellschaftliches Topthema erachten und deshalb auch etwas dafür tun.
Wir diskutieren - auch das ist ein wichtiger Schritt anders als zu Schröders Zeiten nicht mehr über die Frage
des Ob, sondern wir diskutieren ausschließlich über die
Frage des Wie.
({8})
Dass wir noch andere wichtige Themen der Frauenpolitik auf der Agenda haben, das kann uns kaum zum Vorwurf gemacht werden.
Ich höre oft, dass es keiner gesetzlichen Regelung bedarf. Man müsse nur die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf verbessern. Das sehe ich nicht so. Eine aktuelle
Studie zu Frauen im Management belegt, dass 44 Prozent der Befragten Kinder haben. Sie sagen, dass es für
sie nicht schwierig ist, Familie und Beruf unter einen
Hut zu bringen. Andere befragte Frauen, die keine Kinder haben, sehen auch keine Möglichkeit, die gläserne
Decke zu durchstoßen. Die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf ist sicherlich ein wichtiger Baustein - an dieser Stelle tun wir sehr viel -, aber es ist eben nicht der
ausschlaggebende Grund. Wenn selbst Frauen, die keine
Kinder haben, die gläserne Decke nicht durchstoßen,
dann können Kinder nicht das große Karrierehemmnis
sein.
Man sieht beispielsweise an Frankreich, dass eine flächendeckende Kinderbetreuungsstruktur allein nicht das
Problem der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen löst. Deswegen freue ich mich, dass unsere
Nachbarn im Januar eine Regelung für eine gesetzliche
Frauenquote verabschiedet haben. Frau Humme, Sie haben vorhin angesprochen, dass wir angeblich zurückgepfiffen worden wären.
({9})
- Danke, dass Sie darauf hinweisen. Das ist das lächerlichste Argument überhaupt: Ich habe es irgendwo in der
Zeitung gelesen, also wird es schon stimmen. - Nehmen
Sie nicht alles für bare Münze, was Sie lesen. Fragen Sie
lieber uns.
({10})
Wir erfahren von unserem Fraktionsvorsitzenden
große Unterstützung, was sich auch daran zeigt, dass er
der einzige Fraktionsvorsitzende von allen fünf Fraktionen war, der gestern beim Thema Internationaler Frauentag die ganze Debatte über anwesend war.
({11})
- Sie hören ja auch nicht zu, sondern gatzen nur rein. Er
war der Einzige, der vor Ort war und der das Thema
ernst genommen hat. Alle anderen waren nicht da. Sie
haben vorhin mehrere Beispiele gebracht, wie großartig
Ihre Fraktion dasteht. Ihr Fraktionsvorsitzender war
nicht da, weder Herr Gabriel noch Herr Steinmeier waren da.
({12})
Im Laufe der Jahre gab es in der SPD noch nie eine
weibliche Fraktionsvorsitzende. Es gab noch nie eine
Parteivorsitzende.
({13})
- Natürlich! Frau Merkel war Fraktionsvorsitzende, Frau
Merkel ist Parteivorsitzende, und jetzt ist sie Bundeskanzlerin.
({14})
- Frau Ferner, Sie haben ja noch nicht einmal eine Kanzlerkandidatin aufgestellt. Das muss man an dieser Stelle
einmal klar sagen. Sie stellen immer nur dann Frauen
auf, wenn sie chancenlos sind, aber nicht, wenn sie die
Möglichkeit haben, sich auch durchzusetzen.
({15})
Noch einmal zum Frauenanteil in der Fraktion und zu
internen Quoten.
({16})
- Hören Sie mir doch einmal zu. Sie dürfen doch nachher selbst noch reden und können dann alles ausbreiten.
Es ist natürlich leicht, Quoten für Listen einzuführen;
da sind wir uns sicherlich einig. Aber bei Direktmandaten ist das wesentlich schwieriger. Da wir ein größeres
Vertrauen in der Bevölkerung genießen, müssen wir insgesamt auch noch an unserem Frauenanteil arbeiten.
Eine Quote einzuführen ist für die Parteien viel leichter,
die ihre Abgeordneten ausschließlich über Listenplätze
ins Parlament bringen. Das gehört zur Wahrheit dazu.
Norwegen ist mehrfach angesprochen worden. Ich
habe heute ganz aktuell erfahren, dass es auch sehr positive Signale von unserem Nachbarn Österreich gibt. Es
ist sehr positiv, wenn man sieht, dass sich auch im Nachbarland etwas bei diesem Thema tut.
Wir alle wissen, dass es außerdem sehr viele ökonomische Vorteile gibt. Ich persönlich sehe - das ist kein
Geheimnis - keine Lösung mehr, die ohne Gesetze auskommt. Angesichts der ökonomischen Vorteile darf ich
zum Schluss noch die Ökonomin Laura D. Tyson zitieren, die gesagt hat: Die Wettbewerbsfähigkeit einer Nation hängt maßgeblich davon ab, wie sie talentierte
Frauen fördert.
Wir tun das. Helfen Sie uns dabei!
({17})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir Frauen haben genug davon, zu warten. Wir Frauen sind ungeduldig und wollen
nicht länger vertröstet werden. Herr Buschmann, wir
warten auch nicht darauf, dass Männer uns Platz machen, sondern wir wollen die Positionen und die Plätze,
die uns zustehen.
({0})
Ich habe bei dieser Debatte festgestellt, dass es in jeder Fraktion hier im Bundestag Frauen gibt, die in ihrer
Fraktion für eine Quote streiten. Ich drücke ihnen die
Daumen, dass sie sich durchsetzen. Liebe Kolleginnen,
lassen Sie uns zusammenarbeiten und lassen Sie uns das
nicht der Bundesregierung überlassen, sondern lassen
Sie uns hier im Parlament gemeinsam die Initiative ergreifen, damit die Frauen endlich an die Plätze kommen,
die ihnen zustehen.
({1})
Ich bin doch einigermaßen sprachlos - das ist nicht
häufig der Fall -, welche Rechtfertigungstiraden wir uns
heute wieder anhören mussten, warum wir nichts tun
können, nichts tun dürfen und nichts tun sollen. Ich bin
auch einigermaßen sprachlos, wenn ich die Arroganz einiger Männer zur Kenntnis nehmen muss, mit der sie begründen, warum wir für Frauen nichts tun müssen.
({2})
Die Zahlen werden nicht besser, wenn man sie wiederholt, aber ich muss sie einfach noch einmal aussprechen. Frauen sind in allen Bereichen unserer Gesellschaft dramatisch unterrepräsentiert, und Deutschland ist
im internationalen Kontext Schlusslicht. Ich will einen
Index zitieren, der nicht verdächtig ist, von der SPD aufgestellt worden zu sein, nämlich den Global Gender Gap
Index des World Economic Forum. In diesem fällt
Deutschland bei der Bewertung der Gleichstellungspolitik im fünften Jahr in Folge zurück und landet auf Platz
13 hinter - damit will ich nichts gegen diese Länder sagen - Ländern wie den Philippinen und Lesotho.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen etwas
tun!
({3})
Wir sind in Europa beim durchschnittlichen Bruttoverdienst von Frauen - das ist bekannt, ich sage es aber
noch einmal - auf dem drittletzten Platz. In Richtung der
Bundesregierung sage ich auch noch einmal, dass wir
bei der Bundesverwaltung mit 14 Prozent Frauen in Leitungs- und Führungspositionen ebenfalls auf dem drittletzten Platz sind. 90 Prozent der hundert größten deutschen Unternehmen haben zudem keine einzige Frau im
Vorstand. Das ist eine desaströse Bilanz.
({4})
Wir hier im Deutschen Bundestag sind der Gesetzgeber, und wir alle müssen etwas tun. Wir, liebe Kolleginnen, säßen hier alle nicht, wenn es nicht - das ist gestern
in der Debatte über den Internationalen Frauentag schon
angesprochen worden - engagierte und streitbare
Frauen, Kämpferinnen gegeben hätte, die Nachteile für
ihre Position in Kauf genommen haben, die gekämpft
und sich durchgesetzt haben, damit wir hier sitzen können. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind
wir hier im Bundestag jetzt gefragt.
({5})
Ich möchte auch noch einmal an Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz erinnern. Der Kollege Brase hat ihn schon zitiert.
Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz beinhaltet für uns als Gesetzgeber die klare Verpflichtung, tätig zu werden. Ich will
auch deutlich sagen: Es ist ein permanenter Rechtsbruch
und ein Verstoß gegen unsere Verfassung,
({6})
wenn wir diesen Auftrag nicht ernst nehmen. Jawohl,
das ist ein Auftrag im Grundgesetz.
({7})
Wir lassen die Frauen im Stich, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wenn wir den Auftrag als Parlament nicht
ernst nehmen.
Zwei kurze Bemerkungen zur Frage der Quote. Herr
Buschmann, Sie haben gesagt, das sei ein untaugliches
Instrument. Lassen Sie uns doch einmal anfangen.
({8})
Wir haben jetzt genügend untaugliche Instrumente
ausprobiert. Es ist schon gesagt worden: zehn Jahre freiwillige Verpflichtung.
({9})
- Das funktioniert überhaupt nicht; das wissen wir. - Wir
probieren jetzt etwas Neues aus. Es ist kein untaugliches
Instrument. Wir probieren es aus, und es wird sich erweisen, dass es etwas bringt.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen darüber hinaus Sanktionen. Wir können uns das im öffentlichen Dienst angucken. Wir haben ein Bundesgleichstellungsgesetz. Wir haben ein Bundesgremiengesetz.
Wir haben Berichte dazu. Wir stellen fest, dass die Bilanz trotz dieser Gesetze nicht gut ist. Was sagt uns das?
Wir brauchen Sanktionen, wir brauchen wirksame Maßnahmen.
({11})
In Richtung Bundesregierung sage ich: Berichte reichen auf keinen Fall.
Als Letztes eine Bemerkung zum Thema Wahlfreiheit. Ich persönlich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
empfinde ich es als zynisch und arrogant, wenn wir den
Frauen sagen, sie haben die Wahlfreiheit. Was für eine
Wahl haben denn Frauen, wenn Arbeitgeber sie nicht
einstellen oder nicht befördern, weil sie im gebärfähigen
Alter sind?
({12})
Was für eine Wahl haben denn Frauen, wenn sie nicht in
Vorstände kommen, weil die Vorstände aufgrund von
Männernetzwerken besetzt werden und sie sich überhaupt nicht bewerben können?
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde das zynisch, und ich finde das arrogant. Ich finde, es ist vor allen Dingen auch - es sind einige hier und hören zu - ein
ganz verheerendes Signal an junge Frauen, wenn wir so
argumentieren.
({14})
Deswegen appelliere ich noch einmal an alle Kolleginnen in allen Fraktionen: Lassen Sie uns gemeinsam
einen Anlauf nehmen. Lassen Sie uns nicht länger warten. Die Zeit der Appelle ist vorbei. Lassen Sie uns bitte
62 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes endlich
einen großen Schritt in Richtung Verwirklichung der
Gleichberechtigung von Männern und Frauen machen.
Die Mischung macht es. Es tut uns allen gut, wenn Vorstände und Aufsichtsräte mit Männern und Frauen besetzt werden.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Rita Pawelski von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorweg, liebe Christel Humme: Der Artikel im Spiegel
war falsch. Volker Kauder hat mich nicht zurückgepfiffen. Im Gegenteil, er hat von Anfang an unsere Interessen unterstützt. Darum denke ich, es hat jemand bewusst
versucht, einen Keil zwischen uns zu treiben. Aber das
klappt nicht.
({0})
Meine Damen und Herren, wir reden wieder einmal
über die Einführung einer Quote. Ich hätte nicht gedacht,
dass ich mehr als 20 Jahre lang über dieses Thema reden
muss. Ich hatte geglaubt, irgendwann wird es selbstverständlich sein, dass Frauen berücksichtigt werden. Diesmal geht es um die Quote für Frauen in Führungspositionen. Ich weiß, das ist ein höchst umstrittenes Thema.
Allein mit dem Wort „Quote“ will man am liebsten gar
nichts zu tun haben. Ich stelle fest: Es löst bei einigen
immer noch panikartige Attacken aus.
Ich gestehe zu: Ich bin eine Quotenfrau,
({1})
und das ist gut; denn wenn nicht vor vielen Jahren die
Mitglieder der CDU ein Quorum für Kandidatenlisten
beschlossen hätten, dann wäre ich heute nicht im Bundestag. Das sind einfach Fakten, die ich natürlich dankbar zur Kenntnis nehme.
Ich sage Ihnen, ich fühle mich wohl im Kreise meiner
Quotenkolleginnen und -kollegen. Natürlich gibt es auch
Quotenmänner, die aufgrund einer Länderquote in bestimmte Ämter gewählt wurden, sogar bei der FDP.
({2})
Ich habe bisher von keinem gehört, dass diese Art von
Quote ein schlechtes Gefühl vermittelt oder dass sich jemand diskriminiert fühlt.
({3})
Alle wissen, dass für einen Quotenposten dasselbe gilt
wie für jeden anderen Job: Leistung zählt, Kompetenz
zählt, Einsatz zählt. Wer das nicht verinnerlicht, dem
hilft auf Dauer keine Quote. Die Quote ist ein Türöffner,
mehr nicht.
({4})
Lassen Sie mich, bevor ich zum Antrag der SPD
komme, mit einigen Quotenvorurteilen aufräumen:
Vorurteil Nummer eins: Frauen wollen nicht über eine
Quote in Vorstände oder Aufsichtsräte. - Ich habe den
Eindruck, dass das Wort „Quote“ bewusst negativ belegt
wird, allerdings nur, wenn es um Frauen geht; denn es
gibt viele Quoten, in der Landwirtschaft die Milchquote,
die Ackerflächenquote, bei der Börse die Quote, die Einschaltquote bei Radios - danach errechnen sich die Werbepreise - und, und, und.
({5})
Für mich ist es aufgrund der Diskussion selbstverständlich, dass die Frauen sagen: Wir wollen keine Quotenfrauen sein. - Sie sollen es auf Dauer auch gar nicht
sein. Die Quote ist eine Art Hilfskrücke, wie ich sie nach
einem Beinbruch brauche. Kann ich wieder laufen,
schmeiße ich die Krücke weg. Ähnlich ist es mit der
Quote: Haben wir, die Frauen, die kritische Masse in
Vorständen und Aufsichtsräten erreicht, brauchen wir
auch keine Quote mehr.
Vorurteil Nummer zwei: Wir haben nicht ausreichend
qualifizierte Frauen, um eine Quote zu erfüllen. - Mit
Verlaub: Das ist Quatsch!
({6})
Der Verband deutscher Unternehmerinnen und die Initiative „Frauen in die Aufsichtsräte“ verfügen über riesige
Datenpools mit Adressen von klugen, kompetenten,
hochqualifizierten Frauen, die sofort bereit wären, in
Aufsichtsräte oder Vorstände zu gehen.
({7})
Vorurteil Nummer drei: Die Besten werden sich
durchsetzen. ({8})
Sind wirklich nur die Besten in den Vorständen und Aufsichtsräten unserer großen Unternehmen? Haben alle
Herren dort immer nur zum Wohl der ihnen anvertrauten
Unternehmen gehandelt?
({9})
Ich möchte jetzt nicht die Namen all derer aufführen, gegen die in den letzten zehn Jahren ermittelt wurde,
({10})
aber ich möchte doch sagen, dass ich die Illusion, dass
dort nur die Besten sitzen, schon längst aufgegeben
habe.
({11})
- Patrick, ich zähle die Namen gleich auf. Dann schauen
wir uns einmal die Prozente an und überlegen, ob das
wirklich die Besten sind.
({12})
- Der ist immer noch zu niedrig. Ich muss mich ab und
zu aufregen, damit er hochkommt; das hat mir der Arzt
empfohlen.
({13})
Ich arbeite hier also auch ein Stück weit präventiv.
Außerdem wird man in diese Gremien berufen. Frau
kann sich nicht bewerben wie um einen anderen Job. Darum kann sie nicht beweisen, dass sie es kann. Sie muss
erst einmal drin sein, um das beweisen zu können.
({14})
Vorurteil Nummer vier: Frauen wollen sich dem
Stress, der mit diesen Positionen verbunden ist, nicht
aussetzen. Sie wollen keinen 14-Stunden-Tag und keine
Arbeit am Wochenende. ({15})
Das ist eine absurde Behauptung. Es gibt Tausende
Frauen, die erfolgreich Unternehmen führen, die Behörden leiten, die in den Universitäten forschen und arbeiten, bei Tag und, wenn es sein muss, auch bei Nacht, und
dabei Kinder erziehen und sogar noch Elternabende besuchen, was ich bei manchen Männern vermisse.
({16})
Aber ist es überhaupt notwendig, immer 14 oder gar
16 Stunden pro Tag zu arbeiten? Muss man wirklich so
lange arbeiten?
({17})
Nein. Die nordeuropäischen Länder zeigen, dass es anders geht: Keine Meetings nach 17 Uhr, keine Tagung
am Wochenende. Zeitmanagement ist das Zauberwort.
Wer sagt, das sei nicht machbar, sollte vielleicht einmal
darüber nachdenken, dass sehr viele Vorstandsmitglieder
neben ihrem sehr verantwortungsvollen und sehr zeitaufwendigen Amt noch viele ebenfalls wichtige Aufsichtsratsmandate ausüben können, und das alles bei einem
24-Stunden-Tag.
Vorurteil Nummer fünf: Wir dürfen nicht mit staatlichen Maßnahmen in die privaten Unternehmen hineinregieren. - Wäre das das erste Mal, dass wir das machen?
({18})
Wir haben gerade den Entwurf eines Beschäftigtendatenschutzgesetzes beraten. Ich bin Berichterstatterin und
muss sagen: Da gehen wir aber richtig zur Sache.
({19})
Wir haben unglaublich viele Gesetze, mit denen sehr
wohl in die Unternehmen hineinregiert wird, gemacht.
Wir haben viele Vorschriften erlassen, sinnvolle, aber
auch weniger sinnvolle.
Vorurteil Nummer sechs: Es ist nicht möglich, per
Gesetz eine Geschlechterquote zu verordnen, weil das
mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. - Dazu gibt es
viele Gutachten, solche und solche. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hält eine gesetzliche Regelung sehr wohl für machbar, wenn erst mildere Mittel
eingesetzt werden, zum Beispiel die Freiwilligkeit gefordert wurde. Die EU sieht das ebenfalls so. Und überhaupt: Über allen Gesetzen steht unser Grundgesetz.
({20})
Ich zitiere noch einmal Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
({21})
Wir wollen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als
dass das Grundgesetz endlich anerkannt und umgesetzt
wird.
Vorurteil Nummer sieben: Die Männer werden benachteiligt, wenn Frauen bevorzugt werden. ({22})
Frauen wollen nicht bevorzugt werden, sie wollen aber
auch nicht benachteiligt werden, weil sie Frauen sind.
({23})
Wenn für 49 Prozent der Bevölkerung, die männlich
sind, immer noch über 70 Prozent der Posten in Vorständen und Aufsichtsräten zur Verfügung stehen, kann man
dann wirklich allen Ernstes und berechtigt von einer Benachteiligung der Männer sprechen?
({24})
Wer wagt es, so etwas zu behaupten?
Vorurteil Nummer acht: Frauen haben nicht die richtige Ausbildung, um in diese Position berufen zu werden. - Wenn 62 Prozent der Vorstände und Aufsichtsräte
der DAX-30-Unternehmen - das sind 182 Personen;
62 Prozent davon sind etwa 120 Personen - eine juristische oder kaufmännische Ausbildung haben und wenn
genau in diesen Studiengängen - im Studiengang Jura
sind übrigens 52 Prozent und bei den Wirtschaftswissenschaften 45 Prozent der Studenten weiblich - Frauen im
Durchschnitt über bessere Abschlüsse verfügen als MänRita Pawelski
ner, wenn Frauen in den Assessment-Centern bessere
Abschlüsse erzielen als Männer, dann kann das doch den
Frauen nicht zum Nachteil gereichen, dann kann man
doch nicht sagen: Die Frauen sind nicht klug genug.
({25})
- Nicht so doll klatschen; Sie kommen auch noch dran.
Ich habe acht Vorurteile genannt. Es gibt noch mehr.
Sie spuken immer noch in den Köpfen herum, aber man
merkt auch, dass sich eine zarte Bewegung zum Umdenken entwickelt. Erste Unternehmen kündigen an, Frauen
demnächst verstärkt zu berücksichtigen: BASF, Eon,
Daimler, Volkswagen. Sogar die Berliner Stadtreinigung
- da kann man eigentlich nur schmunzeln - kündigt eine
50-Prozent-Quote an.
({26})
Das passt zwar nicht zum Thema „Frauen in Führungspositionen“, aber es zeigt, dass man umdenkt.
Wer jetzt sagt, in Kindergärten und Grundschulen
würden Männer fehlen, dem sage ich: Ja, recht habt ihr!
Wenn eine Quote hilft, bin ich gerne bereit, auch eine
Männerquote einzuführen.
Es gibt so viele Fakten, die für mehr Frauen in Führungspositionen sprechen, dass man sich nur wundern
kann, dass die am 2. Juli 2001 geschlossene Vereinbarung nicht umgesetzt wurde. Aber eigentlich wundert es
mich nicht; denn der Kanzler, der dieses Papier mit den
Spitzen der Wirtschaft ausgehandelt hat, bezeichnete
Frauenpolitik als Gedöns. Was soll man von so jemandem erwarten?
Kollegin Pawelski, Sie müssen jetzt zum Schluss
kommen.
Ich bin sofort fertig. - Ich finde es schlimm, dass die
Frauen der SPD dazu geschwiegen haben.
({0})
- Ich habe alle Anträge durchgesehen; bis 2005 gab es
von euch keinen Antrag zu diesem Thema.
({1})
Erst seitdem ihr in der Opposition seid, seid ihr mutig
und fordert eine 40-Prozent-Quote. Ihr habt zwischen
2001 und 2005 nicht ein Mal die Quote gefordert.
({2})
Wir werden über das Thema in den Ausschüssen sprechen. Zu der von Ihnen geforderten Quote für alle Aktiengesellschaften hat Herr Dr. Harbarth schon deutlich
vorgetragen; das geht überhaupt nicht.
Das müssen Sie im Ausschuss klären. Hier geht es
jetzt nicht weiter.
Ich bin sicher, dass wir uns in einem Jahr einig sind:
Wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen, egal
ob durch eine Flexiquote oder eine feste Quote. Über
2013 hinaus auf Freiwilligkeit zu setzen, das tue ich
nicht mehr.
Vielen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ferner das
Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Frau Pawelski, ich hätte mir gewünscht,
dass es von Ihrer Sorte mehr in der Koalition gibt,
({0})
insbesondere bei der FDP. Ich würde mir wünschen, dass
die amtierende Frauenministerin nur halb so engagiert
für die Rechte der Frauen streiten würde wie Sie. Dann
wären wir hier schon ein gutes Stück weiter.
({1})
Ich möchte aber auch sagen: Es ist richtig, dass wir
2005 keine Anträge zu diesem Thema in den Bundestag
eingebracht haben. Aber raten Sie doch einmal, warum
das so war! Weil die damalige Frauenministerin, Frau
von der Leyen
({2})
- ich war in den Koalitionsverhandlungen damals
dabei -, es abgelehnt hat, eine gesetzliche Regelung für
Frauen in Führungspositionen zu treffen; das ist der erste
Punkt.
({3})
Kollegin Ferner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pawelski?
Wenn Sie die Uhr anhalten, gerne.
Ja, natürlich.
Frau Kollegin, ich habe mich ausdrücklich auf die
Zeit zwischen 2001 und 2005 bezogen,
({0})
als Sie noch an der Regierung waren, und auf Herrn
Schröder hingewiesen. Ab 2005 - das weiß ich selber waren wir an der Regierung.
({1})
In der Zeit zwischen 2001 und 2005 haben Sie keinen
entsprechenden Antrag eingebracht. Die damalige Frauenministerin Bergmann hat gesagt: Wenn sich bis 2003
nichts Entscheidendes tut, wird das Gesetz doch noch
kommen. - Das waren aber hohle Worte. Sie hat nichts
weiter getan,
({2})
sondern Sie haben darauf gewartet, dass wir Ihnen auf
die Sprünge helfen.
Frau Kollegin Pawelski, ich beantworte Ihre Frage
natürlich gerne.
Erstens haben Sie uns leider nicht auf die Sprünge geholfen. Denn sonst hätten wir schon in der letzten Wahlperiode, in der Großen Koalition, eine gesetzliche Regelung treffen können. Frau von der Leyen hat das
rundweg abgelehnt, sowohl als Verhandlungsführerin
bei den Koalitionsverhandlungen als auch als Frauenministerin; ich kann Ihnen die Zitate zeigen.
({0})
Es ist schon etwas merkwürdig, dass sie ihr Herz für die
Quote dann entdeckt, wenn sie selber dafür gar nicht
mehr zuständig ist.
({1})
Das Zweite. Es ist richtig, dass wir in der Zeit der rotgrünen Koalition hier im Deutschen Bundestag keinen
Antrag, in dem wir eine gesetzliche Regelung gefordert
haben, eingebracht haben. Es ist aber auch richtig, dass
sowohl die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer
Frauen als auch diverse Gliederungen der SPD - ganze
Landesverbände ({2})
auf Parteitagen einen solchen Antrag nicht nur gestellt
haben, sondern dass er auch mehrfach beschlossen worden ist.
Sie kennen mich wahrscheinlich noch nicht so lange.
Ich habe hier in diesem Haus, dem ich seit 1990 angehöre,
({3})
immer für eine Quote gekämpft. Ich habe auch zu rotgrünen Zeiten hier im Plenum öffentlich gesagt, dass es
falsch gewesen ist, auf eine freiwillige Vereinbarung zu
setzen. Jetzt, zehn Jahre später, sehen wir: Sie hat nichts
bewirkt. Wir kommen um eine gesetzliche Regelung
nicht herum.
({4})
Ich würde mir wünschen, dass man von der zuständigen
Ministerin zu diesem Thema mehr hört als nur Plattitüden. Die letzte Plattitüde war ihre Aussage zur sozialistischen Bevormundung, groß getitelt in einem Zeit-Interview.
Ich will aus dem Gesellschaftsentwurf, den August
Bebel bereits 1879 hatte, zitieren, wie er die Stellung der
Frau in der Gesellschaft gesehen hat; insofern ist das
Wort „sozialistisch“ für mich auch überhaupt kein
Schimpfwort. Er sagte damals in seinem Buch Die Frau
und der Sozialismus - ich zitiere -:
Die Frau der neuen Gesellschaft ist sozial und ökonomisch vollkommen unabhängig, sie ist keinem
Schein von Herrschaft und Ausbeutung mehr unterworfen, sie steht dem Manne als Freie, Gleiche gegenüber und ist Herrin ihrer Geschicke.
({5})
Leider sind wir im Jahr 2011 immer noch nicht so weit.
Das hat Ursachen. Die Argumente, die ich eben von
den Kollegen der FDP gehört habe, haben wir vor 25,
26 Jahren auch in der SPD gehört, als wir für eine Frauenquote gestritten haben.
({6})
Sie sind damals falsch gewesen, und sie sind heute
falsch. Es geht Ihnen letztendlich nur darum, Ihre eigene
Position zu retten. Es geht Ihnen nicht darum, mehr
Frauen in Führungspositionen zu bringen.
({7})
Das ist der Unterschied zwischen uns und der
schwarz-gelben Seite in diesem Haus: Wir wollen Fortschritt. Wir sind bereit, dafür zu kämpfen.
({8})
Wir sind vor allen Dingen bereit, die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Sie wollen die bestehenden Verhältnisse so lassen, wie sie sind. Das ist
rückwärtsgewandt, und vor allen Dingen hat das mit einer aktiven Frauenförderung und Gleichstellungspolitik
null zu tun.
({9})
Andere Länder machen es uns vor. Norwegen hat angefangen, Frankreich und Spanien haben nachgezogen,
Österreich wird in Kürze eine entsprechende Regelung
beschließen. Wir wissen, dass gemischte Teams nicht
nur erfolgreicher sind. Sie sind auch wirtschaftlich besser. Die Unternehmen und die Wirtschaft profitieren davon. Und was ist mit Deutschland? Deutschland tritt auf
der Stelle.
Die Quote ist ein Mittel zum Zweck und kein Ziel.
Das Ziel ist die Gleichstellung von Frauen und Männern
in allen Führungspositionen, nicht nur in der öffentlichen Verwaltung - auch hier ist noch viel zu tun -, sondern auch in der Privatwirtschaft, in Forschung und
Lehre und in anderen Bereichen.
Ich muss sagen: Ich wundere mich, dass insgesamt
der Mut fehlt - insbesondere auch dieser Frauenministerin -, zu kämpfen, obwohl es auch in der Unionsfraktion
mehr und mehr Frauen gibt. Sie wollen nicht kämpfen.
Wissen Sie, was das ist? Das ist die Kapitulation vor den
Männerseilschaften. So werden wir keinen Millimeter
vorankommen.
({10})
Die Lösung ist eigentlich einfach. Sie lautet: Wir
brauchen gesetzliche Rahmenbedingungen, und zwar
nicht nur für die Aufsichtsräte, sondern auch für die Vorstände. Bei uns ist die Aufgabenverteilung zwischen den
Aufsichtsratsgremien und den Vorständen eben eine etwas andere als in Norwegen. Man braucht Sanktionen
und nicht den leise erhobenen Zeigefinger, sonst wird
sich hier nichts verändern, und man braucht den Willen
zur Veränderung statt Hasenfüßigkeit. Mit Hasenfüßigkeit sind wir noch nie vorangekommen. Alle Fortschritte, die wir erzielt haben, sind mühsamst erkämpft
worden, und ich hoffe, dass wir das parteiübergreifend
auch in diesem Haus erkämpfen können.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt anschließen. Alle Fraktionen hier in diesem Haus sollten sich
noch einmal überlegen, ob wir es bei der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ wirklich so lassen wollen, dass unter den 17 Sachverständigen keine einzige Frau ist. Es wurde keine einzige Frau,
von keiner einzigen Fraktion, benannt.
({11})
- Ich sage es ja: von keiner einzigen Fraktion; von meiner nicht, von Ihrer nicht. - Es wäre vielleicht ein Anfang, wenn wir als Frauen in diesem Parlament gemeinsam mit den Männern, die das unterstützen,
({12})
wenigstens ein paar Frauen zusätzlich als Sachverständige in diese Kommission berufen könnten.
Schönen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4683 und 17/4842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung
beim Rechtsausschuss. Die Fraktionen der SPD und Die
Linke wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
({0})
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 a bis d sowie
den Zusatzpunkt 6 auf:
31 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Vorstand der Deutschen Bahn AG mit
fachkundigem Personal besetzen
- Drucksache 17/4838 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE.
Umgehend die Konsequenzen aus dem Unglück von Hordorf ziehen
- Drucksache 17/4840 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert
Behrens, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsidentin Petra Pau
Zukunft der Bahn - Bürgerbahn statt Börsen-
bahn
- Drucksachen 17/652, 17/4828 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Heidrun
Bluhm, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE.
Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG
kompetent und demokratisch besetzen
- Drucksachen 17/2189, 17/4829 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Jarzombek
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Waltraud Wolff ({5}), Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Undine Kurth ({6}), Winfried
Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequenzen aus dem Zugunglück von
Hordorf ziehen
- Drucksache 17/4854 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Leidig für die Fraktion Die Linke.
({8})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe vier Minuten, um über vier Anträge zu sprechen, mit denen sich die Linke für eine bessere Bahn
starkmacht.
Erstens. Wir wollen, dass der Bundestag den Privatisierungskurs der Deutschen Bahn AG beendet und dass
die Bahn stattdessen als gemeinwohlorientiertes öffentliches Unternehmen entwickelt wird, unter Mitwirkung
der Bürgerinnen und Bürger, wie es die Schweiz erfolgreich praktiziert.
({0})
Warum ist ein Kurswechsel nötig? Weil die Bahnreform von 1994 im Wesentlichen nicht erfolgreich war.
7 000 Kilometer des Schienennetzes wurden abgebaut.
1 500 Bahnhöfe und Tausende Bahnschalter sind geschlossen worden. Die Zahl der Beschäftigten wurde
halbiert. Die Infrastruktur wird schlechter, weil zu wenig
in den Erhalt investiert wird. Die Pannenserien im
Sommer und im Winter zeigen, dass es auch bei den Zügen hapert. Es sind nicht viel mehr Menschen von der
Straße auf die Schiene umgestiegen. Es gibt auch kein
schlüssiges Gesamtkonzept, wie die Bahn als umweltverträgliches und bürgerfreundliches Transportsystem
ausgebaut werden soll.
Wir wollen, dass die Bahn umgesteuert wird. Das
muss beim Spitzenpersonal anfangen.
({1})
Es geht nicht, dass Minister Ramsauer für den Eigentümer Bund die Mehrzahl der Sitze im Aufsichtsrat der
Deutschen Bahn AG mit Vertretern großer Privatunternehmen und ausschließlich mit Männern besetzt. In diesem Kontrollgremium müssen auch Fahrgastverbände,
Umweltorganisationen und Eisenbahnsachverständige
vertreten sein, und es muss zur Hälfte mit Frauen besetzt
werden, worüber wir gerade debattiert haben und wie es
übrigens das Bundesgremienbesetzungsgesetz vorsieht.
({2})
Vor allem aber muss der Vorstand eine bahnkundige
Ausrichtung bekommen. Wir fordern, dass die Vorstände
und Vorstandsvorsitzenden Männer und Frauen sind, die
faktisch und praktisch das Eisenbahnwesen kennen und
sich mit Herz und Verstand für eine nachhaltige Stärkung der Bahn einsetzen. Wissen Sie, dass es seit über
zehn Jahren im Vorstand der Deutschen Bahn AG kein
einziges Mitglied mehr gibt, das als Vollbluteisenbahner
bezeichnet werden kann?
In der Privatwirtschaft wird Wert darauf gelegt, dass
Spitzenpositionen nicht von Personen mit betriebsfremden Interessen besetzt werden. Aber bei der Bahn kommen seit 1994 drei von vier Vorstandsvorsitzenden von
der Konkurrenz: aus der Auto- und Flugzeugindustrie.
({3})
Das wirkt sich aus: In einer Anhörung zum S-BahnChaos in Berlin wurde kürzlich zum Beispiel beklagt,
dass die Deutsche Bahn AG in den Planungstreffen mit
dem Verkehrsverbund nur noch von Juristen vertreten
wird. Diese fragen nicht mehr, wie man ein möglichst
gutes Angebot für die Menschen auf der Schiene hinbekommt; sie wollen nur noch wissen: Was müssen wir
tun, damit man uns nicht an den Karren fahren kann?
Diese Haltung kann tödlich sein. Damit komme ich zu
dem jüngsten Antrag und zu dem schlimmen Zugunglück in Hordorf, wo am 29. Januar zehn Menschen getötet wurden, weil auf einer eingleisigen Strecke das
Haltesignal überfahren wurde und zwei Züge aufeinandergeprallt sind. Wir alle wissen, dass dieses Unglück
nicht stattgefunden hätte und diese Menschen nicht ihr
Leben verloren hätten, wenn die Bahn rechtzeitig das automatische Bremssystem PZB als Standardsicherheitstechnik eingebaut hätte. Aber da wurde geknausert und
die Verantwortung verschoben. Die Bahnvorstände wollten die Kosten nicht tragen.
Statt das gesamte Schienennetz für rund 30 Millionen
Euro deutlich sicherer zu machen, haben Bahnvorstand
und Aufsichtsrat allein im letzten Jahr hundertmal mehr
Euro ausgegeben, um Großunternehmen im Ausland
aufzukaufen. Ich frage Sie: Wem nützt das? Die Bundesregierung muss zumindest an dieser Stelle sofort die Prioritäten zurechtrücken und dafür sorgen, dass die optimale Sicherheitsausstattung aller Strecken in spätestens
eineinhalb Jahren umgesetzt ist.
({4})
Ich komme zum Schluss. Von den erfolgreichen
Schweizern hören wir: Die Bahn muss eine Seele haben
- das finde ich auch -, aber keine Global-Player-Krämerseele, sondern eine Bürgerbahn-Seele: Dafür setzen
wir uns ein.
({5})
Der Kollege Lange hat für die Unionsfraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Tagen ereignete sich ein schreckliches
Unglück, bei dem zehn Menschen ihr Leben lassen
mussten. Ich habe es schon im Ausschuss getan und
möchte auch von dieser Stelle aus allen Angehörigen,
Familien und Freunden im Namen dieses Hauses unser
Mitgefühl ausdrücken. Ich möchte all denen, die verletzt
sind und an den Folgen dieses Unglücks noch lange tragen werden, unsere Genesungswünsche übermitteln.
({0})
Die Ursache des Unglücks ist noch nicht endgültig
geklärt. Fakt ist aber, dass dieser Streckenabschnitt nicht
mit PZB ausgerüstet war. Ich glaube, auch hier besteht
Einigkeit über alle Fraktionsgrenzen hinweg, dass wir
unbedingt handeln müssen. Wir brauchen klare, neue
Regelungen. Deshalb bringen wir als Koalitionsfraktionen einen Antrag ein, der vorsieht, dass PZB auf allen
Strecken mit Personenverkehr obligatorisch wird und
dass die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung entsprechend geändert wird. Das ist konsequentes und konstruktives Handeln.
Liebe Frau Leidig, den zweiten Teil kann ich nur als
destruktiv bezeichnen. Bezeichnenderweise haben Sie
mit diesem Teil begonnen und nicht mit dem anderen.
Was Sie als Bürgerbahn bezeichnen, soll am Ende wohl
nichts anderes sein als die gute alte Reichsbahn. Es war
schon verräterisch, als Ihr Fraktionsvorsitzender heute
Morgen gesagt hat, dass Sie als Partei undemokratisch
seien
({1})
- das habe ich schon verstanden -, dass wir aber noch
undemokratischer seien. Das weise ich zurück.
Eines funktioniert sicherlich nicht, über Posten und
Positionen in Vorständen in irgendeiner Form das Volk
bestimmen zu lassen, wie Sie sich das vorstellen. Wir
brauchen einen Bahnvorstand und einen Aufsichtsrat,
die mit fachlich qualifizierten Frauen und Männern besetzt sind. Wir brauchen einen Aufsichtsrat, der die
Kontrolltätigkeit und die Beratungsfunktion wahrnimmt. Wir brauchen Wirtschaftsfachleute. Wir brauchen die Besten. - Frau Leidig, Sie brauchen sich nicht
zu melden. Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
({2})
- Nein. Sie hatten Ihre Redezeit. Ihre Anträge haben wir
gelesen.
Wir brauchen also fachliche Qualifikation in diesen
Positionen. Hier möchte ich unserem Verkehrsminister
danken. Peter Ramsauer hat konsequent qualifiziertes
Personal in die Schaltzentralen der bundeseigenen Betriebe gesetzt. Er hat damit eine komplette Neuorientierung vorgenommen. Dass eine solche nötig ist, haben
wir mehrfach besprochen.
({3})
- Auch über das Winterchaos haben wir schon gesprochen. Ihr Antrag dazu ist eine Erinnerung an Ihre eigene
Zeit.
({4})
Insbesondere mit der Datenschutzbeauftragten Frau
Newiger hat die Bahn - um die Debatte von vorhin aufzugreifen - eine hochqualifizierte Frau an die richtige
Stelle gesetzt. Professor Felcht ist ein ausgewiesener
Wirtschaftsfachmann.
Wir brauchen bei unserer Bahn ausgewiesene Qualität. Wir brauchen Managementqualitäten. Wir brauchen
Leute mit jahrelanger Erfahrung in Großbetrieben. Nur
so schaffen wir es, die Bahn zu dem Verkehrsmittel zu
machen, das wir uns wünschen. Wir wollen die in Rede
stehenden Posten nicht betriebsblind oder nach ideologischen Kriterien besetzen.
Frau Kollegin Leidig - auch wenn Sie das jetzt vielleicht nicht hören wollen; Sie werden nachher ja noch
eine Kurzintervention machen -, wir stellen uns eine
Postenbesetzung eben nicht so vor, wie Sie es aus früherer Zeit kennen, nach dem Motto: Genosse, Obergenosse, Lieblingsgenosse.
({5})
Wir setzen auf Qualität. Wir wollen eine erfolgreiche,
eine kundenorientierte, eine sichere Bahn. Wir wollen
keine Verhältnisse wie bei der DDR-Reichsbahn.
({6})
Daher unterstützen wir, die Koalitionsfraktionen, unseren Bundesverkehrsminister. Er hat die richtigen und
wichtigen Schritte eingeleitet. Wir unterstützen
Dr. Grube. Er ist der richtige Mann am richtigen Platz,
wie er mehrfach, auch im Ausschuss, bewiesen hat.
({7})
Wir sind sicher, dass Kundenorientierung und Sicherheit
die Zukunft unserer Bahn gewährleisten. Wir arbeiten
weiter und kommen Schritt für Schritt voran.
Herzlichen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Leidig das
Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich nicht damit aufhalten, die Unterstellungen uns gegenüber zurückzuweisen. Sie sind so haltlos,
dass es mir ganz leicht fallen würde.
Ich möchte zu der Behauptung des Kollegen Stellung
nehmen, der Bahnaufsichtsrat sei fachlich überaus kompetent besetzt. Ich möchte nur den Aufsichtsratsvorsitzenden, Herrn Utz-Hellmuth Felcht, herausgreifen, der
am 24. März 2010 dieses Amt übernommen hat. Er sagt
von sich selber in der Financial Times Deutschland: „Ich
bin kein Bahnfachmann“. Auf die wichtige Frage, ob
Netz und Betrieb bei der Bahn getrennt werden sollten,
hat er geantwortet: „Da habe ich schlicht und einfach
noch keine Linie“. Außerdem hat er, gelinde gesagt, ein
etwas simples Bild davon, wie das System Bahn funktioniert. Er sagt:
Herr Grube ist Beckenbauer, Herr Ramsauer ist der
Besitzer des Vereins, und ich bin der Trainer.
Ich frage mich, wie er dazu kommt, sich als Mannschaftstrainer zu sehen - die Deutsche Bahn AG hat immerhin etwa 180 000 Beschäftigte -, wenn er zugleich
sagt, er werde seine Mandate und Ehrenämter behalten.
Das bedeutet, dass er Aufsichtsratsvorsitzender der SüdChemie bleibt und zugleich Managing Director bei einem großen Unternehmen, das zu J. P. Morgan gehört.
Außerdem übt er weitere Aufsichtsratsmandate aus,
etwa in der Reisebranche.
Das möchte ich zur Richtigstellung, was die Kompetenz angeht, anmerken.
({0})
Das Wort zur Erwiderung hat der Kollege Lange.
Liebe Frau Kollegin Leidig, ich habe vorhin versucht,
klarzumachen, worum es uns geht: nicht um eine Betriebsblindheit, sondern um Managementqualitäten.
Dass der von Ihnen Angesprochene Führungsqualitäten,
Wirtschaftskompetenz, Managementqualitäten aus einem Großunternehmen mitbringt, wird wohl nicht bestritten. Es geht nicht darum, ob er den letzten Kilometer
Schiene kennt, sondern darum, ein großes Gesamtunternehmen mitverantwortlich leiten zu können. Dafür haben wir - davon sind wir überzeugt - den richtigen
Mann.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Beckmeyer für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lassen Sie uns über die Bahn sprechen. Ich
glaube, die Zukunft des Schienenverkehrs in Deutschland ist wichtiger als der Austausch, den wir hier eben
erlebt haben.
Zur Fraktion der Linken. Es ist eine leicht aufgewärmte Debatte. Das, was Sie da betreiben, ist ein Recycling von Anträgen. Ich bin damit gar nicht zufrieden.
Wir sollten, auch in Ihrem Interesse und im Interesse der
Bürger, die Sie angeblich vertreten, lieber keine Anträge
stellen, die uns in dieser Republik im Grunde nicht weiterbringen und die am Ende mehr oder weniger nur taktische Spielchen sind.
Reden wir über die Zukunft des Schienenverkehrs,
über die Leistungsfähigkeit, über die Umweltverträglichkeit, über die Zuverlässigkeit, über die Attraktivität
des Schienenverkehrs, über ein leistungsfähiges Schienennetz, über eine gute Vertaktung, über kundengerechte
Tarifsysteme, die die Leute verstehen, und über die Erschließung der Fläche. Damit sind wir genau bei dem
Thema, über das wir uns unterhalten müssen. Das ist
eine Frage an die Bundesregierung: Ist die Konzernpolitik der DB AG in Deutschland einer Politik für den
Schienenverkehr in Deutschland gleichzusetzen?
({0})
Da habe ich in den vergangenen Monaten allmählich einige Zweifel bekommen; denn es gibt unterschiedliche
Sichtweisen und unterschiedliche Erwartungen, die politisch aufbereitet und diskutiert werden müssen. Das ist
das Erste.
Kommen wir zum zweiten wichtigen Thema, das völlig ungeklärt ist, und zwar zur Finanzierung der Schienenprojekte aus dem öffentlichen Haushalt. Wir Sozialdemokraten als größte Oppositionsfraktion bemühen uns
seit Monaten, einige Aussagen dazu zu erhalten und einige Fragen beantwortet zu bekommen. Aber wir bekommen nichts. In dieser Frage gibt es aus dem Haus
des Bundesverkehrsministers keine plausible Antwort.
({1})
Die Bedarfsplanüberprüfungen versus Haushaltsansätze 2011 zeigen, dass wir allein im Schienenverkehr
eine Unterfinanzierung von 26 Milliarden Euro haben.
Wir geben 1,1 Milliarden Euro Bundesmittel für den investiven Bereich aus. Sie können sich ungefähr vorstellen, wie lange es dauert, auch nur ansatzweise eine
Chance zu haben, den Schienenverkehr nach vorne zu
bringen und so auszustatten, wie er in Deutschland gebraucht wird.
Wir haben einen deutlichen Anstieg der Baukosten
festzustellen. Das liegt aber nicht daran, dass die Baumaterialien vom Preis her explodieren; die erhöhten Anforderungen an Sicherheit, Lärmschutz und Interoperabilität sind die Preistreiber. Aber dies bildet sich nirgendwo
im Haushalt ab. Das geht nicht. Ich erwarte von der Bundesregierung - nicht vom Bundesverkehrsminister - eine
plausible Antwort. Wir haben von der Kanzlerin und
dem Verkehrsminister endlich Antworten auf den Wandel der gesellschaftlichen Priorität „pro Schiene“ zu bekommen. Das vermissen wir zurzeit komplett.
Es gehört mehr dazu, die Schiene zu stärken. Dazu
gehört auch, dass man sich überlegt, ob man mit der
Politik der Fernbuslinien die Schiene nicht vielleicht sogar schwächt.
({2})
Das ist ein Punkt, bei dem man überlegen muss, was
man tut.
Bei dem Thema „Maut auf allen Straßen“ müssen wir
aufpassen, liebe Freunde. Wird da der Zubringer zu KVTerminals nicht übergebührlich belastet? Ist es nicht
wichtiger, zu überlegen, die Kosten für den Verkehr auf
der langen Strecke per Maut zu erhöhen, damit die
Schiene eine Chance bekommt? Die Diskussion, die wir
hier, von der FDP getrieben, zurzeit hören, lautet:
DB Netz unabhängig machen und entsprechende Verträge ändern. - Alles das sind Nebenkriegsschauplätze,
die am Ende nicht dazu führen, die Schiene zu stabilisieren.
Das, lieber Herr Lange, lieber Herr Staatssekretär,
liebe Damen und Herren der Regierungskoalition, sind
die zentralen Frage der Schiene. Ich bitte darum, dazu
von Ihnen endlich einmal Antworten zu hören; denn das
Thema, worüber wir uns unterhalten müssen, ist: Wie
bekommen wir eine bessere Ausstattung der Schiene
hin?
({3})
Sie wissen genauso wie ich, dass damit die Diskussion einhergeht, die wir im Bundesrat führen - ich will
das nicht aufwärmen, weil wir vor einem Monat hier
schon einmal darüber gesprochen haben -, nämlich über
Ihre unsägliche Politik mit dem Einsammeln der 2 Milliarden Euro. Sie nehmen der Schiene Geld weg, statt ihr
Geld zuzuführen. Diese Zwangsdividende von 2 Milliarden Euro, 500 Millionen pro Jahr, ist eine dramatische
Fehlentscheidung. Die Bundesländer sehen das im Bundesrat Gott sei Dank genauso. Es ist richtig, dass hier
alsbald ein Korrekturbedarf ansteht.
Zum Schluss darf ich noch auf etwas anderes zu sprechen kommen, und zwar auf das, was hier am Anfang
eine Rolle gespielt hat, nämlich das Zugunglück von
Hordorf. Gemeinsam mit der Grünen-Fraktion haben wir
heute einen Antrag vorgelegt. Das ist der Versuch, so
wie wir es im Ausschuss eingefordert haben, einen überfraktionellen Antrag zu beschließen, der uns gemeinsam
in die Verantwortung zwingt, mit dem etwas von der
Bundesregierung erwartet und eingefordert wird. Es geht
darum, zu klaren Nachbesserungen auf den Schienenstrecken zu kommen, auf denen Personenzugverkehr
stattfindet und die bisher nicht mit entsprechenden Sicherheitseinrichtungen ausgestattet worden sind. Das ist
aber ein absolutes Muss. Es kann nicht angehen, dass in
einem Teil unseres Landes, und zwar in den neuen Bundesländern, überproportional wenige Sicherheitseinrichtungen vorhanden sind. Das ist ein Umstand, den wir zügig ändern müssen.
({4})
Der letzte schwere Unfall mit mehr als zehn Todesopfern
ist ein schreckliches Beispiel dafür, was nicht passieren
darf. Ich halte es für notwendig, dass wir hierfür die
Finanzierungsmittel bereitstellen, auch über das hinaus,
was wir an Finanzierungsvereinbarungen mit der Bahn
getroffen haben. Das ist unverzichtbar.
Ein letzter Gedanke: Die Bundesregierung befindet
sich in der Frage der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung
generell, insbesondere aber bei der Schiene, in einer absoluten Schieflage. In dieser Legislaturperiode hat sie
noch nichts auf den Weg gebracht. Sie hat anderthalb
Jahre vergeudet und uns keine einzige Lösungsmöglichkeit aufgezeigt. Ich befürchte, dass auch in den folgenden zweieinhalb Jahren nur Nebelkerzen geworfen werden, nicht aber das Grundübel der minimalen, nicht
ausreichenden Finanzierung angegangen wird. Meine
sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, das
aber ist Ihre Aufgabe. Sie müssen endlich zu einer Entscheidung kommen. Wie wollen Sie die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland besser ausstatten? Darum bitte
ich Sie: Machen Sie endlich vernünftige Vorschläge! Sagen Sie uns, wie Sie sich das Ganze vorstellen! Es kann
nicht angehen, dass auf dieser Ebene nichts passiert.
Meine Fraktion ist bereit, darüber mit Ihnen zu reden.
Das habe ich in diesem Hause schon mehrfach gesagt.
Ein gesamtgesellschaftlicher Konsens beginnt jedoch
damit, dass die Regierung zunächst einmal sagt, was sie
möchte, bevor sie uns fragt, welchen Beitrag wir dazu
leisten können.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Döring für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst halte ich es für gut, dass wir im Ausschuss ge10774
meinsam die nötigen ordnungsrechtlichen Schlüsse hinsichtlich des Infrastrukturmangels ziehen, der letztlich
zu dem schrecklichen Unglück in Hordorf geführt hat,
und anschließend gemeinsam die nötigen Vorschriften
ändern wollen. Dann werden wir uns vielleicht auch in
der Ausschussdebatte darüber verständigen, wer das am
Ende bezahlt.
Es ist ein wichtiger Beitrag zur Verkehrssicherheit auf
der Schiene zu leisten, und das geht offenbar nur ordnungsrechtlich. Das ist der einzige Punkt, in dem ich der
Frau Kollegin Leidig zustimme. Es ist bedauerlich, dass
die freiwilligen Vereinbarungen in diesem Bereich nicht
zu einem Erfolg geführt haben. Nun muss man die Konsequenz ziehen und zum Erlass der nötigen Regelwerke
gesetzgeberisch tätig werden. Das ist die richtige Reihenfolge.
({0})
Ich will auf die vorliegenden Anträge gar nicht weiter
eingehen, weil sich die Debatte extrem rückwärtsgewandt mit vermeintlichen Begründungen beschäftigt, die
die ohnehin immer falsch wiedergegebenen Thesen über
das Funktionieren dieses Unternehmens bestätigen sollen.
Das Unternehmen DB AG befindet sich heute in hundertprozentigem Bundesbesitz und ist in keiner Weise
mehr vergleichbar mit den Konstrukten der Deutschen
Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn. Das ergibt
sich anhand von drei Kennzahlen.
Erstens haben wir heute ein Unternehmen, das Geld
verdient. Das sollte den Eigentümer freuen;
({1})
denn früher haben die Umsatzerlöse aus Fahrkartenverkäufen nicht einmal ausgereicht, um die Personalkosten
zu decken.
({2})
Kollege Döring.
Kollegin Leidig hatte Gelegenheit, ihre Position darzustellen.
Wir haben zweitens leistungsfähige unternehmerische
Strukturen, die dazu führen, dass sich das Unternehmen
in der strategischen Ausrichtung und bei seinen Entscheidungen auch an den Kundenwünschen orientiert.
Die Einrichtung von Schnellbahnstrecken, also alles,
was mit dem ICE zusammenhängt, war keine Erfindung
des Deutschen Bundestages. Die Umsetzung ist durch
eine leistungsfähige AG erfolgt.
Drittens haben wir mit der DB AG - auch das gehört
zur Wahrheit - ein großes, weltweit aufgestelltes Logistikunternehmen. Es war übrigens im Wesentlichen der
Wunsch der Sozialdemokraten, dass sich die Bahn nicht
nur mit Schienenpersonenfern- und Schienenpersonennahverkehr befasst, sondern weltweit Logistik betreibt.
Die wesentlichen Akquisitionen, die die Grundlage für
weltweite Logistikaktivitäten bildeten, sind unter sozialdemokratischen Verkehrsministern sanktioniert und finanziert worden.
Geschätzte Kollegin Leidig, deshalb ist in Ihrem Antrag ein Denkfehler. Dieser fiel mir auf, nachdem ich
Ihre Rede gehört habe und sie mit dem verglichen habe,
was ich im Antrag gelesen habe. Eine Annahme Ihres
Antrags zum Thema „Bürgerbahn statt Börsenbahn“, in
dem steht, dass niemals irgendetwas verkauft werden
dürfte, würde ja mit sich bringen, dass der Steuerzahler
auf Dauer für die Risiken aus Güterverkehr in China,
auch von Verkehrsgesellschaften in Südostasien und vieler, vieler Tochtergesellschaften der Deutschen Bahn in
der ganzen Welt haftet.
({0})
Ich glaube nicht, dass das ordnungspolitisch der richtige
Weg ist.
({1})
Sie können dieses Konzept gerne weiterverfolgen. Es ist
ordnungspolitisch nicht vernünftig
({2})
- nein, danke -, dass das Risiko aus staatsfernen Tätigkeiten wie Güterverkehr auf der Straße und Lufttransport
von Gütern dauerhaft einzig und allein vom Bundeshaushalt zu tragen ist.
Uwe Beckmeyer hat insofern recht: Es geht in Wahrheit um die Fragen von Wettbewerb, Regulierung, Finanzierung und Qualität. Beim Thema Wettbewerb werden wir im Laufe dieser Wahlperiode gegenüber dem
Zeitpunkt der Regierungsübernahme deutliche Fortschritte erzielen. Wir haben nämlich gemeinsam mit der
Bundesnetzagentur dafür gesorgt, dass die Zugangsmöglichkeiten zu Zugbildungsanlagen und die Frage des
Bahnstroms erstmals wettbewerbsfördernd reguliert
werden. Wir werden gemeinsam im Laufe dieser Wahlperiode weitere regulierungsverstärkende, wettbewerbserhöhende Elemente einführen. Dazu gehört ausdrücklich, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
die Möglichkeit erhalten, zu wählen, ob sie von Hannover nach Berlin mit dem ICE oder mit dem Fernbus fahren wollen.
({3})
So erhalten die Kunden Wahlmöglichkeiten und sind
nicht auf ein Verkehrsmittel angewiesen. Auch das kann
Qualität im Schienenverkehr erhöhen.
({4})
Wir sind doch gemeinsam der Auffassung, dass es
klug ist, den Gedanken eines Finanzierungskreislaufs
Schiene zu verfolgen, welcher am Ende dazu führt, dass
mehr Mittel in der Infrastruktur verbleiben.
({5})
Dieser Idee werden wir uns in der Koalition im Laufe
der nächsten Wochen intensiver zuwenden. Jeder hier im
Saal, der ein bisschen seriös mit der Frage umgeht, weiß
auch, dass sich die Finanzierungsströme und die gemeinsamen Vereinbarungen zwischen Eigentümer und Management eines Unternehmens mit fast 35 Milliarden
Euro Umsatz so schnell nicht verändern lassen.
Ich will noch eines zu der immer wieder genannten
Mär, das Unternehmen werde kaputtgespart, sagen: Das
Unternehmen hat im Jahr 2009, als diese Koalition Regierungsverantwortung übernahm, aus eigenen Mitteln
500 Millionen Euro in das Schienennetz investiert. Im
gerade abgelaufenen Geschäftsjahr 2010, in dem wir die
volle Verantwortung getragen haben, wurden über
700 Millionen Euro aus eigenen Mitteln in die Infrastruktur investiert, und das Unternehmen wird im Laufe
dieser Wahlperiode eigene Mittel in Höhe von insgesamt
4 Milliarden Euro zusätzlich zu den staatlichen Mitteln
für das Netz zur Verfügung stellen. Das können übrigens
nur Unternehmen, die unternehmerisch geführt werden
und wirtschaftlich erfolgreich sind.
({6})
Das können keine Unternehmen, die von Subventionen
aus dem Bundeshaushalt abhängig sind. Deshalb ist der
Weg, den wir beschreiten, richtig.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Hofreiter für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei Bahndebatten ist eines auffällig: Wenn
man nur die Reden hört, kann man sich gar nicht sicher
sein, wer wirklich von einer Regierungsfraktion und wer
von einer Oppositionsfraktion ist. Wir haben jetzt zum
Beispiel die Rede von dem geschätzten Kollegen Döring
gehört. Er hat sich ausführlich darüber beklagt, dass die
Bahn große internationale Akquisitionen getätigt hat,
({0})
dass wir als öffentliche Hand inzwischen auf Märkten tätig sind, mit denen wir überhaupt nichts zu tun haben.
Die Klage ist richtig. Es stellt sich bloß die Frage: Wer
ist gerade an der Regierung?
({1})
Ich vermute: Es ist der rechte Teil des Hauses;
({2})
man liest es zumindest überall und kann es auch an den
Abstimmungsergebnissen erkennen. Also: SchwarzGelb regiert.
Was hat Schwarz-Gelb gemacht? Es ist ja noch
schlimmer, als der Kollege Beckmeyer es dargestellt hat.
Sie haben nicht nichts gemacht; Sie haben in der Vergangenheit einiges gemacht. Zum Beispiel hat unter
Schwarz-Gelb die DB AG für 2,7 Milliarden Euro den
Marktführer für Busse gekauft.
({3})
Jetzt könnte man natürlich sagen: Den Marktführer für
Busse zu kaufen, ist ganz spannend. Aber es war der
Marktführer für Busse in Großbritannien.
({4})
Es ist schön, dass Schwarz-Gelb mit Geld der DB AG
ein Unternehmen in Großbritannien verstaatlicht. Vielleicht ein Ratschlag an die Linken: Wie Verstaatlichen
funktioniert, das können Sie von denen lernen.
({5})
Wenn man sich anschaut, wer im Verstaatlichen noch gut
ist, kommt man zu dem Ergebnis: Es ist BadenWürttemberg, auch eine schwarz-gelbe Regierung. Da
hat man einen Energieversorger verstaatlicht. Also:
Nicht immer nur vom Verstaatlichen reden! Die wissen,
wie es geht!
({6})
Aber dadurch, dass man erkennt, dass die Regierung
falsch handelt, wird bei der Bahn noch nichts besser.
Was haben Sie weiter getan? Sie haben wirklich nicht
nichts getan. Sie haben als Weiteres den intermodalen
Ansatz bei der Finanzierung der Schienenwege zerschlagen.
({7})
Unter Rot-Grün ist eine vernünftige Logistikabgabe eingeführt worden. Diese Logistikabgabe nennt man
„Maut“, und diese Logistikabgabe sollte dazu dienen
- sie hat lange Zeit auch dazu gedient -, die Logistikstandards zu verbessern. Wir haben Geld ausgegeben für
die Straße, wir haben Geld ausgegeben für die Schiene,
wir haben Geld ausgegeben für die Wasserstraße, um ein
integriertes Logistikkonzept anzubieten, wie es einer
modernen Industrienation angemessen ist.
({8})
Was haben Sie getan? Sie haben das zerschlagen und
nennen das jetzt „Finanzierungskreislauf“.
({9})
Damit ist Geld für die Bahn weg.
({10})
Was haben Sie als Nächstes getan? Als Nächstes wollen Sie Jahr für Jahr 500 Millionen Euro aus der Bahn
herausziehen. Das begründen Sie damit, dass die Bahn
so hohe Gewinne macht. Na ja! Das ist auch wieder ein
schöner Taschenspielertrick. Wie macht die Bahn denn
hohe Gewinne? Die Bahn macht hohe Gewinne, indem
wir 7 Milliarden Euro Regionalisierungsmittel an die
Länder ausreichen, von denen über 5 Milliarden Euro
bei der DB AG landen.
({11})
Dann reichen wir 2,5 Milliarden Euro LuF-Mittel aus
und 1,2 Milliarden öffentliches Geld für Neu- und Ausbaumaßnahmen.
({12})
Es sind in der Summe rund 10 Milliarden Euro, die die
Bahn bekommt. Von diesem Geld bleibt ein Teil übrig
und ist sozusagen Gewinn, wenn man es ganz böse ausdrücken will.
({13})
Davon schnappen Sie sich wieder 500 Millionen! Warum machen Sie das? Weil Sie einfach zu feige sind, zuzugeben, dass Sie 500 Millionen Euro aus dem Eisenbahnverkehr herausnehmen. Das ist „rechte Tasche,
linke Tasche“ und nicht mehr.
({14})
Was ist notwendig? Dringend notwendig ist die Aufhebung der Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge,
({15})
damit wir zu vernünftigen und klaren Finanzströmen
kommen. Davon reden Sie immer. Das steht auch in Ihrem Koalitionsvertrag. Aber was passiert? Nichts passiert! DB Netz wird ausgequetscht. Die Mittelfristplanung besagt, dass Sie sie noch weiter ausquetschen
wollen. Was ist der Effekt? Der Effekt ist, dass das
Schienensystem weiterhin verlottert. Das mag den einzelnen Kunden vielleicht nicht so interessieren; aber ein
verlottertes Schienensystem führt dazu, dass die Züge
Verspätung haben. Wenn die Leute eines wollen, dann ist
es ein pünktliches, sauberes und gut funktionierendes
Bahnsystem. Das ist mit dem System, das Sie errichten
und weiter betreiben, nicht zu erreichen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Jarzombek für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Diskussion hat sich ein Stück weit in eine allgemeine
Debatte über die Bahnpolitik entwickelt. Ich würde daher gerne zu den Anträgen zurückkommen und darlegen,
was eigentlich beantragt worden ist.
Sie machen sich die Sache sehr leicht. Sie beantragen,
den Vorstand anders zu besetzen, den Aufsichtsrat abzuberufen und die Privatisierungsanstrengungen zurückzufahren. Ich glaube, dass Sie damit den Menschen Sand in
die Augen streuen; denn das ist eine sehr einfache Antwort auf komplizierte Sachverhalte. Außerdem tun Sie
noch eines: Sie reden pausenlos die Deutsche Bahn AG
schlecht. Aber Schlechtreden ist keine gute Vorgehensweise; denn auch auf die Bahn passt ein Zitat des Bankers Giles Davison: Mit einer Bank verhält es sich wie
mit einem Mädchen. Wenn die Leute zu viel darüber reden, schädigt das den guten Ruf.
({0})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage, und echauffieren Sie
sich nicht.
({1})
- Frau Präsidentin! - Der Vergleich mit der Bank kommt
nicht von ungefähr; denn auch da geht es um das, was
Sie hier beantragen, nämlich um eine Verstaatlichung.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat über eine
Studie des Dresdner Wirtschaftsprofessors Marcel Thum
geschrieben - das konnte man am 14. September 2009
unter dem Titel „Staatsbanken schneiden in der Krise
schlechter ab“ nachlesen -, in der festgestellt wurde,
dass die öffentlich-rechtlichen Banken, also die Staatsbanken, in der Krise zwei- bis dreimal so viele Verluste
gemacht haben wie die privaten Banken.
({2})
Darunter fallen die IKB, die West LB, die Bayern LB;
die Liste ließe sich noch weiter fortführen.
({3})
- Melden Sie sich doch zu einer Zwischenfrage, Herr
Kollege Hofreiter. Ihr Geschrei kann ich hier nicht verstehen, und es hilft in der Sachdebatte auch nicht weiter. In Nordrhein-Westfalen hat sich sogar das Verfassungsgericht mit der Politik der Linken in Sachen West LB befassen müssen.
Schauen Sie sich die Telekom an. Dieses Unternehmen war früher ein reiner Staatsbetrieb. Können Sie sich
noch daran erinnern? Der Tagesspiegel hat in den 90erJahren geschrieben: Jetzt günstig telefonieren mit der
Telekom ab 2 Uhr morgens. - Die heutigen Preise liegen
nur noch bei einem Zehntel des damaligen Niveaus. Dies
ist der Effekt von Privatisierung und Wettbewerb.
({4})
Beim Thema Bahn wollen wir einmal in Ihren Verantwortungsbereich, Kollegen von der Linken, schauen.
Wie sieht die Situation der Bahn in Berlin aus?
({5})
Ich zitiere an dieser Stelle Harald Wolf, den Wirtschaftssenator von der Linkspartei
({6})
- ein guter Mann -:
Beim öffentlichen Eigentümer besteht aus meiner
Sicht das Risiko darin, dass der Eigentümer seine
Unternehmen mit politischen Ansprüchen überlädt …
Jetzt komme ich zu den Fragen bezüglich der Dividende.
Herr Wolf sagte nämlich weiter:
Das heißt nicht, sich als öffentliche Hand ausschließlich an der Maximierung des Shareholder
Value oder der Dividendenabführung … zu orientieren, obwohl Letzteres natürlich auch ein öffentliches Interesse ist.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrem Anspruch im
Deutschen Bundestag und Ihrer Politik, die Sie im Senat
von Berlin betreiben. Dort wollen Sie Dividendenabführungen durchsetzen und wollen keine Verstaatlichungen
durchführen. Aber hier propagieren Sie genau das Gegenteil.
({7})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie hier Regierungsverantwortung erlangen würden, würden Sie etwas ganz anderes
tun. Staatswirtschaft ist nie eine Antwort auf wirtschaftliche Probleme. In diesem Sinne werden wir die Anträge, die Sie uns vorlegen, nicht zur Annahme empfehlen.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4838, 17/4840 und 17/4854 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Zukunft
der Bahn - Bürgerbahn statt Börsenbahn“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4828, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/652 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Den Aufsichtsrat der Deut-
schen Bahn AG kompetent und demokratisch besetzen“:
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/4829, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/2189 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gegen das Zwei-Klassen-Internet - Netzneutralität in Europa dauerhaft gewährleisten
- Drucksache 17/3688 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Petra Sitte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Netzneutralität sichern
- Drucksache 17/4843 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der unbeschränkte Zugang zu Informationen
und die Möglichkeit, Informationen frei verbreiten zu
können, sind ganz zentrale Grundrechte. Sie müssen
auch im und für das Netz gelten, ohne Wenn und Aber.
({0})
Das haben selbst Sie im Koalitionsvertrag erkannt.
Bislang wurden Datenpakete gleichberechtigt im
Netz transportiert, ungeachtet ihres Inhalts, des Absenders oder des Empfängers. Erst die Netzneutralität
machte die beispiellose Erfolgsgeschichte des Internets
in der Form überhaupt möglich. Genau hier liegt das
Missverständnis derjenigen, die jetzt nichts tun und erst
einmal abwarten wollen: Nicht der Wettbewerb sichert
die Netzneutralität, sondern die Netzneutralität gewährleistet den Wettbewerb.
({1})
Sie ist von einer enormen Bedeutung für unsere moderne
Wissens- und Informationsgesellschaft. Tunesien und
Ägypten zeigen derzeit eindrücklich, welche Rolle der
freie und gleichberechtigte Zugang zum Internet für die
Menschenrechte und die Demokratie spielt. Auch da
liegt Ihr Missverständnis: Sie vonseiten der Koalition
definieren Netzneutralität oft rein wirtschaftspolitisch,
sie ist aber vor allem auch eine zentrale Frage unseres
demokratischen Selbstverständnisses.
({2})
Netzneutralität ist ein ganz wichtiges Gut, das wir
schon aus ordnungspolitischer Sicht zwingend wahren
müssen. Längst stehen große Konzerne, auch deutsche,
in den Startlöchern und stellen das Prinzip selbst infrage.
Weil das Thema so wichtig und der Gesetzgeber in der
Pflicht ist, diese Grundlage des Netzes zu schützen, bringen wir heute diesen Antrag ein, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Netzneutralität technisch heißt: gleichberechtigte, diskriminierungsfreie Übertragung von Datenpaketen im
Internet, in einer Ende-zu-Ende-Architektur, die das Internet als Netz der Netze gesellschaftlich, ökonomisch
und kulturell erfolgreich gemacht hat.
Aber die Netzneutralität hat auch eine soziale Ebene.
Netzneutralität sozial heißt: Alle haben Netzzugang unter gleichen technischen Bedingungen, können Geräte
und Programme ihrer Wahl nutzen; Teilhabe, Engagement und Kreativität sind unter gleichen Bedingungen
möglich; Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt werden
gewährleistet; der faire Wettbewerb ist gesichert; es gibt
keine Spitzel-/Überwachungstechniken wie Deep Packet
Inspection.
Kurz: Netzneutralität steht für ein lebenswertes Internet, in dem alle Sender und Empfänger zugleich sein
können, Provider sich auf die Rolle des neutralen Mittlers beschränken und nicht derjenige besser gestellt
wird, der für Informationen mehr bezahlen kann. Denn
ein Zwei-Klassen-Internet, in dem das bisher zentrale
Prinzip der Netzneutralität nicht mehr gilt, ist das Letzte,
was wir im Augenblick gebrauchen können.
({3})
Diensteklassen und Priorisierungen gegen Aufpreis,
die immer wieder aus durchsichtigen Gründen ins Spiel
gebracht werden, kommen erst einmal ganz harmlos daher, führen aber letztlich dazu, dass die zukünftige Entwicklung des Internets als demokratischer Raum grundlegend infrage gestellt wird. Nichts gegen innovative
Anwendungen und sinnvolles und transparentes Netzwerkmanagement, solange sie die Neutralität des freien
Internets nicht unterlaufen. Speziell zeitkritische Anwendungen wie die Telemedizin sind in eigenen Netzwerken sowieso viel besser aufgehoben.
Beschwichtigungen und Abwarten reichen nicht. Sie
haben es im Koalitionsvertrag stehen. Die Europäische
Kommission hat es in ihre Digitale Agenda geschrieben.
Erst gestern hat die von Ihnen selbst eingesetzte Expertenkommission Forschung und Innovation dringend geraten, die Netzneutralität rechtlich abzusichern. Alle reden davon, wie wichtig es ist, die Netzneutralität zu
schützen. Ein konkreter Antrag liegt Ihnen vor. Los
geht’s!
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Schön für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde es richtig und wichtig, dass wir im
Bundestag über das wichtige Thema der Netzneutralität
diskutieren. Allerdings ist es ein schwieriges Unterfangen, das in einer halben Stunde zu tun.
({0})
Denn man könnte allein über die Begriffsdefinition stundenlang streiten, ebenso über mögliche Gefahren und
Regulierungsmöglichkeiten; derzeit tut das dankenswerterweise eine Arbeitsgruppe der Enquete-Kommission.
Sehen Sie es mir deshalb nach, wenn ich die Punkte, die
Nadine Schön ({1})
in diesem Zusammenhang wichtig sind, nur anreißen
kann.
Zum Ersten will ich problematisieren, dass es keine
einheitliche Definition des Begriffs der Netzneutralität
gibt; jeder hat da seine eigene Lesart. Mittlerweile ist
eine Definition weitgehend anerkannt, die besagt:
Der Begriff Netzneutralität bezeichnet die neutrale
Übermittlung von Daten im Internet, das bedeutet
eine gleichberechtigte Übertragung aller Datenpakete unabhängig davon, woher diese stammen, welchen Inhalt sie haben oder welche Anwendungen
die Pakete generiert haben.
Ich will diese Definition gerne zugrunde legen; allgemeingültig ist sie allerdings nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade weil die Definition des Begriffs schon schwer ist und deshalb auch
die Frage schwer zu beantworten ist, was denn die Netzneutralität überhaupt gefährden kann, müssen wir zumindest positiv gemeinsame Zielvorstellungen definieren:
Klar ist für uns: Wir wollen zum einen die Bedeutung
des Internets für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft erhalten. Das Internet hat die Art, wie wir
kommunizieren, wie wir Wissen und Informationen generieren, revolutioniert. Das Internet schafft für uns als
Konsumenten und als Bürger eine Transparenz und Offenheit, die in dieser Form vorher nicht denkbar war.
Diese Freiheit wollen wir erhalten und lehnen deshalb
die Behinderung einzelner Dienste genauso wie eine
Differenzierung nach Inhalten, Diskriminierung und
Zensur ab.
Wir wollen zum anderen die Innovationskraft erhalten, die vom Internet ausgeht. Viele Start-ups, die erst
vor ein paar Jahren gegründet wurden, haben sich mittlerweile zu großen Dienstanbietern entwickelt. Wir wissen nicht, was sich morgen entwickeln wird und welche
Datenmengen die Start-ups brauchen werden. Bezahlbare und gleichzeitig schnelle Übertragungswege sind
maßgeblich für den Erfolg junger Unternehmen.
Genauso wichtig sind gewisse Qualitätsstandards und
der weitere Ausbau der Netze. Das ist nur zu haben,
wenn wir den Unternehmen, die den Netzausbau leisten,
zugestehen, dass sie ihre Kosten amortisieren. Wir müssen beides im Blick haben, wenn wir über Regulationen
reden.
Richtschnur für uns ist, das wir möglichst viel über
den Wettbewerb lösen. Regulatorische Maßnahmen
kommen nur infrage, wenn technische Möglichkeiten
oder die soziale Entwicklung gefährdet sind.
Das sind ganz allgemein die Grundsätze, die als Überschrift über allem stehen müssen.
In einem nächsten Schritt ist dann zu prüfen, ob denn
derzeit die Netzneutralität bedroht ist. Die Antwort darauf ist: zurzeit nicht. Bisher konnte der Wettbewerb alle
Probleme lösen. Das gilt auch, sehr geehrter Herr Kollege von Notz, für das von Ihnen gern gewählte Beispiel
mit Skype und der Telekom. Hier war kein regulatorischer Eingriff nötig, um das Problem zu lösen. Auch das
Horrorszenario, das die Grünen des Öfteren malen, nämlich die künstliche Verknappung vonseiten der Anbieter,
um den Preis hochzutreiben, halte ich derzeit nicht für
besonders wirklichkeitsnah; die Realität beweist zurzeit
das Gegenteil.
Allerdings ist das nur die Beschreibung des Istzustands. In Zukunft können wachsende Datenmengen,
wirtschaftliche Interessen und auch die technischen
Möglichkeiten durchaus zur Einschränkung der Netzneutralität führen. Das muss man wissen. Deshalb stellt
sich als Konsequenz daraus die Frage, wie wir Vorsorge
treffen wollen. Es brennt auch nicht jeden Tag, und trotzdem hat man einen Feuerlöscher zu Hause.
({2})
Deshalb müssen wir Vorsorge treffen und ebenfalls einen
Werkzeugkasten bereithalten, und diesen Werkzeugkasten haben wir.
({3})
Mithilfe der bestehenden Maßnahmen der Missbrauchsaufsicht und des Wettbewerbsrechts kann schon heute
diskriminierendes Verhalten von marktbeherrschenden,
aber auch von nicht marktbeherrschenden Unternehmen
unterbunden werden.
Zusätzlich zu den bestehenden Instrumenten sieht der
Entwurf der TKG-Novelle Verbesserungen vor. Zum einen soll die Bundesnetzagentur Qualitätsanforderungen
festlegen. So wird verhindert, dass sich Dienste massiv
verschlechtern und dass der Datenverkehr in den Netzen
behindert oder verlangsamt wird. Zum anderen wird die
Bundesnetzagentur Transparenz schaffen, für den Kunden und für den Wettbewerber. Diese beiden Punkte
- Transparenz und Mindestqualitäten - halte ich für elementar wichtig, um möglichen Bedrohungen vorzubeugen. Schließlich tragen auch die Förderprogramme zum
Netzausbau des BMWi dazu bei, dass die überhaupt zur
Verfügung stehenden Übertragungsmöglichkeiten verbessert werden.
Alles in allem ist festzuhalten: Es gibt Werkzeuge, sowohl schon jetzt als auch im neuen TKG, und die reichen
aus.
({4})
Für vorsorgliche Regulierung gibt es darüber hinaus keinen Bedarf. Das bestätigte uns auch gestern Abend
Dr. Iris Henseler-Unger, die Vizepräsidenten der Bundesnetzagentur. Das Gleiche steht beispielsweise auch
im Thesenpapier der Arbeitsgruppe „Digitale Infrastruktur“ des Nationalen IT-Gipfels. Auch in der Anhörung
der Enquete haben sich viele dahin gehend geäußert.
({5})
Es gibt minimale Verbesserungsvorschläge, aber für
eine große regulatorische Initiative, wie sie die Grünen
und auch die Linke planen, gibt es derzeit keinen Bedarf.
Nadine Schön ({6})
({7})
Ich sage „derzeit“, weil wir alle wissen, wie dynamisch
die Branche ist und wie schnell sich die Situation ändern
kann. Deshalb sage ich auch: Wir werden die Entwicklung genau im Auge behalten.
({8})
- Lieber Kollege, das ist keine Hintertür, sondern rationales Vorgehen.
({9})
Wir werden nachbessern, wenn es zu Problemen kommen sollte, die mit den bestehenden Instrumenten nicht
zu lösen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns ist die Netzneutralität ein wichtiges Gut. Wir wollen weiterhin, dass
das Internet ein Raum der Freiheit und der Innovation
bleibt. Diesem Grundsatz sehen wir uns verpflichtet, und
danach richten wir unsere Politik aus.
Danke.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dörmann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf Basis der Netzneutralität hat sich das Internet als Innovationsmotor für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung erwiesen. Deshalb kommt der Sicherstellung der Netzneutralität für die Bundestagsfraktion
der SPD eine zentrale Bedeutung zu. Wir wollen den
Charakter des Internets als freies und offenes Medium
bewahren und stärken. Jeglicher Form der Diskriminierung im Netz sollten wir alle entschieden entgegentreten.
Netzpolitisch stehen für uns folgende Zielsetzungen
im Vordergrund. Wir wollen ein offenes Internet ohne
Kontrolle und Zensur der Inhalte, Meinungsvielfalt und
Teilhabe sowie die Möglichkeit, selbst und gleichberechtigt im Internet aktiv zu werden. Wir wollen ein
funktions- und leistungsfähiges Netz für alle, attraktive
und stabile Dienste, Innovationen, die den persönlichen
und ökonomischen Nutzen mehren, und schließlich einen fairen Wettbewerb zur Sicherung einer dynamischen
Entwicklung. Gerade hierfür brauchen wir eine gesetzliche Absicherung der Netzneutralität.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird hierzu in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen. Die heute zu beratenden
Anträge der beiden Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen
und Die Linke zielen in die richtige Richtung,
({0})
sind aber nicht präzise genug. Insbesondere der Antrag
der Grünen, sehr geehrter Herr Kollege Notz, nimmt in
seinen Forderungsteil an die Bundesregierung eher sehr
allgemeine Formulierungen auf. Das reicht uns eben
nicht.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion will in ihrem Antrag zudem Überlegungen aus der vom Bundestag eingesetzten
Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ aufgreifen. Derzeit erfolgen die entscheidenden
Diskussionen in der Projektgruppe Netzneutralität. Es ist
sinnvoll und unterstreicht die Bedeutung der EnqueteKommission, wenn wir diese Diskussion auch hier im
Plenum berücksichtigen.
({2})
Die SPD will eine gesetzliche Regelung, die deutlich
über das hinausgeht, was die Bundesregierung in ihrem
Gesetzentwurf zur Novellierung des Telekommunikationsgesetzes vorgelegt hat. Im Gesetzestext wird selbst
das Wort „Netzneutralität“ nicht ein Mal erwähnt. Das
muss man erst einmal hinbekommen. Frau Kollegin
Schön, wenn Sie von einem „Feuerlöscher“ sprechen,
dann hat der, so wie Sie ihn geschildert haben, wohl eher
die Größe eines Fingerhutes, und das reicht uns eben
nicht.
({3})
In dieser Woche hat sogar die von der Bundesregierung
eingesetzte Expertenkommission „Forschung und Innovation“ den Referentenentwurf als unzureichend kritisiert. Sie vermisst sowohl eine Definition von Netzneutralität als auch konkrete Aussagen darüber, wie diese
gesichert werden soll.
({4})
Die im Internet nachgefragten Anwendungen und Datenraten werden weiter drastisch steigen. Neue IP-Netze
bieten heute den Netzbetreibern neue Möglichkeiten,
Nachfrage und knappe Kapazitäten intelligent zu managen. Insofern können Netzwerkmanagement und gesicherte Transportklassen im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher sein, aber eben nur dann, wenn es
um das Ziel geht, die Stabilität der Netze zu sichern und
dafür zu sorgen, dass zeitkritische Dienste in der erforderlichen Qualität beim User ankommen.
Das darf aber nicht dazu führen, dass das Best-EffortInternet, wie wir es kennen, zurückgedrängt wird. Dessen Kapazität muss auch in Zukunft wachsen, und es
darf nicht von priorisierten Diensten abgelöst werden.
Deshalb sind klare gesetzliche Vorgaben notwendig.
Netzneutralität darf nicht nur als Fußnote der Internetkommunikation verstanden werden.
Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion sollten daher
im Telekommunikationsgesetz insbesondere folgende
sechs Punkte berücksichtigt werden:
Erstens. Wir wollen, dass Netzneutralität als eines der
Regulierungsziele im TKG aufgenommen wird.
({5})
Zweitens. Wir brauchen ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot für den Datentransport im Internet. Das
Verlangsamen, Benachteiligen oder Blockieren von Inhalten, Diensten oder Diensteanbietern muss verhindert
werden. Auch darf es eine Inhaltekontrolle durch Netzbetreiber nicht geben.
Drittens. Den Netzbetreibern müssen eindeutige Informations- und Transparenzverpflichtungen auferlegt
werden, und zwar sowohl gegenüber dem Endkunden als
auch gegenüber den Diensteanbietern und der Bundesnetzagentur. Wesentliche Maßnahmen des Netzwerkmanagements, Transportklassen und andere Eingriffe in
die Datenübertragung müssen offengelegt werden.
Viertens. Die Bundesnetzagentur ist zu beauftragen,
die Einhaltung der Netzneutralität zu sichern. Hierfür
sind ihr ausreichende Kontroll- und Sanktionsinstrumente an die Hand zu geben, um Verstößen effektiv entgegenwirken zu können.
Fünftens. Die Bundesnetzagentur ist zu ermächtigen,
angemessene Mindestqualitätsstandards für die Durchleitung von Datenpaketen festzulegen. Es geht darum,
die Best-Effort-Qualität im Internet zu sichern, Diensteanbieter und Endkunden zu schützen und einen fairen
Wettbewerb zu gewährleisten.
Sechstens. Kunden sollte ein Sonderkündigungsrecht
eingeräumt werden, falls ihr Anbieter festzulegende
Mindeststandards nicht einhält oder nachhaltig gegen die
Netzneutralität verstößt. Das würde dem Nutzer und
dem Wettbewerb entscheidende Vorteile bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Netzneutralität ist
die eine Seite der Teilhabe an unserer Informationsgesellschaft. Damit alle Menschen die Möglichkeit haben,
das Internet zu nutzen, brauchen wir darüber hinaus einen konsequenten Ausbau der Breitbandnetze, gerade
auch in eher ländlichen Räumen. Es gibt immer noch zu
viele Menschen, die keinen leistungsfähigen Internetzugang haben. Deshalb muss die flächendeckende Versorgung mit Breitbandinternet entschiedener als bisher vorangetrieben werden.
({6})
Auch hier tut die Bundesregierung einfach viel zu wenig und wird ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht.
Ihr Wirken kann man also in gewisser Weise als „netzneutral“ bezeichnen. In diesem Zusammenhang ist das
allerdings kein Ruhmesblatt. Auch diese Debatte, so
denke ich, werden wir in diesem Hause demnächst intensiv führen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Bögel für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! „Freie Fahrt für freie Bürger“, so die Forderung vor Jahren in diesem Hohen Hause.
({0})
Freilich war es ganz anders gemeint als heute. Dennoch:
Wenn wir von Infrastruktur reden, so dürfen wir keinesfalls nur an Straßen denken, sondern wir sollten insbesondere die Datenautobahnen im World Wide Web betrachten. Für immer mehr Bürgerinnen und Bürger sind
diese eine nicht mehr wegzudenkende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am weltweiten Wissensstand
unserer Zeit. Dies gilt es zu beachten.
({1})
Das Internet ist zu einem globalen Marktplatz für immer neue innovative Dienstleistungen zum Nutzen von
Unternehmen und Verbrauchern geworden. Fast
2 Milliarden Menschen nutzen diesen Weg. Meine Fraktion wird alles dafür tun, um diese Freiheits- und Marktfunktionen des Internets zu erhalten.
({2})
Das Netz hat sich seit seiner Entstehung gravierend
gewandelt. Es dient heute nicht mehr allein zur Recherche wichtiger Informationen, sondern bietet Unterhaltung und den elektronischen Diensten eine Übermittlungsbasis. Durch kostenlose Angebote wie YouTube,
Videotelefonie und Google werden die Datenautobahnen
immer stärker beansprucht. Aber auch neue kommerzielle Angebote wie das Cloud Computing oder Skypen
erfordern Transportkapazitäten, die - wen wundert es? immer knapper werden. Geplagte Smartphone User wissen, wovon ich rede.
Erste Priorität sollte sein, Transportkapazitäten zu erhöhen. Dazu wird die Bundesregierung ihre erfolgreiche
Breitbandinitiative weiterführen, bis auch der letzte
weiße Fleck auf der Landkarte der Bundesrepublik verschwunden ist.
Die Novelle zum TKG setzt noch in diesem Jahr die
Rahmenbedingungen für die nächste Generation hochleistungsfähiger Datenautobahnen, die nicht nur mit einem 2-PS-Trecker, sondern mit einem hochkarätigen
Sportcoupé genutzt werden können. Unser Ziel ist es, in
drei Jahren drei Viertel der Bevölkerung mit einer Bandbreite von mindestens 50 MBit zu versorgen und bereits
vier Jahre später die flächendeckende Vollversorgung
mit dem Hochgeschwindigkeitsinternet sicherzustellen.
({3})
Ich bin mir sicher, lieber Kollege Dörmann: Wir werden
dieses Ziel erreichen,
({4})
und zwar effektiv und kostengünstig;
({5})
denn, lieber Kollege, wir werden auf den Wettbewerb aller verfügbaren Technologien setzen, flankiert durch
eine investitionsfreundliche Regulierung. Auch im Fall
von Engpässen im Netz ist und bleibt Wettbewerb das
effektivste Mittel, um diskriminierende Eingriffe in den
Datentransport abzuwenden.
({6})
Wie im Mobilfunk, so ist auch im Internet die Netzqualität der entscheidende Marktvorteil. Bevor wir also
schillernde Begriffe wie den der Netzneutralität in Gesetzesform gießen, halte ich es für zielführender, über
die Vorgabe bestimmter Mindestqualitäten für den Datentransport zu diskutieren. Netzneutralität darf nämlich
nicht zu sozialistischer Gleichmacherei verkommen.
({7})
Ist der Kunde bereit, für qualitätsgesicherte Dienste
wie zum Beispiel Skypen oder Cloud Computing zu zahlen - so stellt es sich doch heute schon dar -, dürfen solche Geschäftsmodelle nicht mit dem Dogma der Netzneutralität verhindert werden.
Kollegin Bögel, ich weiß, drei Minuten sind eine
kurze Zeit. Aber Sie haben sie schon überschritten.
Ich bin gleich fertig. Einen Augenblick.
Das müssen Sie dann mit dem Kollegen Schulz klären.
Gerade für viele mittelständische Unternehmen können diese Angebote hochattraktiv sein. Hier darf nicht
vorbeugend reguliert werden, sondern hier muss Offenheit bestehen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Danke
schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Wawzyniak für die Fraktion die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Frage der Netzneutralität gehört zu den
wichtigsten Herausforderungen der aktuellen Netzpolitik. Für die Linke ist klar: Wir wollen die Netzneutralität
dauerhaft sichern. Wie dies geschehen kann, haben wir
in unserem Antrag beschrieben. Wir begrüßen es, dass
- anders als die Regierungskoalition - auch die Grünen
die Netzneutralität sichern wollen. Herr Dörmann, wenn
Ihnen nicht ausreicht, was wir machen, empfehle ich Ihnen: Lassen Sie es uns machen wie in Schleswig-Holstein. Dort gibt es einen Antrag von Rot-Rot-Grün
„Netzneutralität in Europa sichern“.
({0})
Die Regierung setzt auf die Kräfte des Marktes. Diese
Strategie ist gescheitert. Der Gesetzgeber muss endlich
handeln.
({1})
Worüber reden wir hier? Das Internet, wie wir es bisher kennen, verdankt seinen Erfolg unter anderem der
Tatsache, dass es einen gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Datenverkehr gibt, unabhängig vom Inhalt oder dem verwendeten Dienst. Bisher ist es völlig
egal, ob ein Nutzer Videos bei YouTube anschauen oder
Fotos an seine Verwandten verschicken wollte. Der Zugang und die Qualität waren für alle Nutzerinnen und
Nutzer gleich. Auf der anderen Seite konnten die Anbieter neuer Dienste davon ausgehen, dass die Nutzer ihre
Angebote in gleichem Maße nutzen konnten wie existierende Dienste. Dies ist möglich, weil die Netzbetreiber
selbst seit einigen Jahren sogenannte Netzmanagementmaßnahmen ergreifen. So ist es zum Beispiel für ein
störungsfreies Internettelefonat notwendig, dass die Datenpakete zur richtigen Zeit und in der richtigen Reihenfolge bei den Teilnehmern ankommen.
Das soll auch so bleiben. Wir lehnen eine rein technisch bedingte Priorisierung von Datenpaketen nicht ab.
Wir sagen: Eine rein technisch bedingte Priorisierung ist
möglich und in engen Grenzen sinnvoll, aber eine Priorisierung als Geschäftsmodell zur Profitsteigerung der
Netzbetreiber, wie in jüngster Zeit offen gefordert, lehnen wir ab. Hierbei geht es allein um den schlichten Versuch, die eigenen Profite zu maximieren.
({2})
Dabei hat doch in den letzten Jahren der Ausbau der
Netzinfrastruktur mit den technischen Entwicklungen
bei Diensten und Inhalten Schritt gehalten. Warum das
nicht mehr gehen soll, konnte bisher kein Netzbetreiber
ausreichend erklären. Trotz mehrmaliger Nachfrage
konnten bis heute auch keine Zahlen vorgelegt werden,
die zeigen, dass das Internet demnächst tatsächlich aus
allen Nähten platzt. Hier wird aus reiner Profitgier der
Teufel an die Wand gemalt. Doch wir bezweifeln, dass
es diesen Teufel überhaupt gibt.
({3})
Der Ausweg, den die Netzbetreiber anbieten, um aus
dem vermeintlichen Dilemma herauszukommen, ist ein
massiver Ausbau der Netzinfrastruktur mit Kosten in
Milliardenhöhe. Dies wollen sie freilich nicht selbst finanzieren; im Gegenteil, sie wollen doppelt kassieren.
Das notwendige Geld wollen sie sich bei den Endkunden
und Inhalteanbietern holen. Die Endkunden, also Sie und
ich, sollen extra zahlen, wenn sie ruckelfreies Onlinefernsehen oder die Möglichkeit des Videotelefonierens
nutzen wollen,
({4})
und die Anbieter sollen dafür zahlen, dass ihre Inhalte
schneller beim Kunden ankommen. Das Ganze wird
dann unter dem Begriff „Qualitätsklassen“ schmackhaft
gemacht. Dahinter versteckt sich allerdings die Abkehr
vom Prinzip eines gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Datenverkehrs, und das ist am Ende nichts
anderes als der Anfang vom Ende des freien Internets.
({5})
Bestimmte, von den Netzbetreibern definierte Dienste
und Anwendungen sollen priorisiert, andere hingegen
behindert und blockiert werden. Zukünftig entscheiden
also Telekom, Vodafone und Co., welche Inhalte im Netz
schnell und in guter Qualität genutzt werden können und
welche nicht. Die Folge ist ein Basisinternet für alle und
ein Premiuminternet für die, die es sich leisten können.
Das ist mit uns nicht zu machen,
({6})
auch deshalb nicht, weil beispielsweise NGOs, die für
die Verbreitung ihrer Arbeit auf Internetvideos setzen,
gar nicht in der Lage sind, Geld dafür zu bezahlen, dass
ihre Videos ins Netz gelangen.
Wir wollen die Festschreibung der Netzneutralität anhand klarer Kriterien. Dies haben wir in unserem Antrag
formuliert. Dafür bitten wir um Ihre Zustimmung. Wenn
das Sozialismus ist, dann ist es Sozialismus, aber es
schadet ja nichts.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Tauber für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Antrag der Linkspartei habe ich jetzt verstanden.
Immer, wenn es um Revolution geht, packen Sie Ihre
Klassenkampfrhetorik aus, blenden die Wirklichkeit aus
- das haben Sozialisten schon immer gemacht - und erklären uns, wie die Welt aus Ihrer Sicht sein sollte.
Sie haben nur an einem einzigen Punkt recht: In der
Tat reden wir über eine Revolution. Damit meine ich
nicht die Ereignisse in Nordafrika. Wir erleben eine Revolution, die man wahrscheinlich nur mit der Erfindung
des Buchdrucks vergleichen kann. Das Internet eröffnet
nicht nur der Wirtschaft, wie Sie, lieber Herr von Notz,
unterstellen, sondern allen Menschen neue Möglichkeiten in der Bildung, der gesellschaftlichen Teilhabe und
Partizipation. Es bietet neue Perspektiven für Innovationen, für die Wissenschaft und letztendlich auch im Bereich der Unterhaltung, so trivial das klingen mag.
Auch deshalb hat der Deutsche Bundestag auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion die Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ ins Leben gerufen.
Es soll darüber geredet werden, welche Chancen und
Perspektiven das Internet für unsere Gesellschaft und für
unser Land bietet. Es ist schön, zu wissen, dass zumindest der demokratische Teil dieses Hohen Hauses in dieser Sache einer Meinung ist.
({0})
Jetzt geht es um die Frage: Welches Ziel hat Netzpolitik? Das Ziel ist es, Chancen und Möglichkeiten in den
Blick zu nehmen, ohne die Risiken auszublenden. Was
wir nicht machen dürfen - da waren wir uns in der Enquete eigentlich einig -, ist, so stark auf die Risiken zu
fokussieren, dass die Chancen aus dem Blick geraten.
Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass wir gerade dabei sind, das in der Debatte über die Netzneutralität zu
tun. Denn es ist ein Wesensmerkmal des Internets, dass
es für die Bürgerinnen und Bürger, für gesellschaftliche
Gruppen und Organisationen, für die Wissenschaft und
natürlich für Unternehmen der Wirtschaft, aber auch für
den Staat neue positive Möglichkeiten eröffnet. Einige
habe ich genannt. Man kann die Liste beliebig fortführen. Open Data, E-Government und Medienkompetenz
sind weitere Stichworte.
Für uns als Union ist klar: Wir halten das Internet für
einen Segen für eine moderne, pluralistische und demokratische Gesellschaft. Wir sind auch der Auffassung:
Netzneutralität ist eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass wir diesen Segen weiter nutzen können.
({1})
Zurzeit ist es beliebt, den Wissenschaftlichen Dienst
zu zitieren.
({2})
Auch ich will dies tun:
Der Begriff Netzneutralität bezeichnet die neutrale
Übermittlung von Daten im Internet, das bedeutet
eine gleichberechtigte Übertragung aller Datenpakete unabhängig davon, woher diese stammen, welchen Inhalt sie haben oder welche Anwendungen
die Pakete generieren. Dies galt
- man möchte hinzufügen: gilt bislang als essentielle Eigenheit des weltweiten
Netzes.
({3})
Jetzt fordern Sie, das noch stärker zu regulieren, indem wir ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen. Auch diese Diskussion ist nicht neu. Auch die Debatte darüber, was man unter diese Definition fassen
soll, ist nicht neu. Wir führen sie an anderer Stelle - Herr
Dörmann hat darauf hingewiesen - zurzeit sehr intensiv.
Doch aus der Frage, was getan werden kann und
muss, um Netzneutralität für die Zukunft zu gewährleisten, muss man zunächst einmal die Frage ableiten, ob
diese überhaupt gefährdet ist. Ich bin der Kollegin Schön
sehr dankbar, dass sie deutlich gemacht hat, dass das
derzeit nicht der Fall ist. Deswegen stellt sich die Frage,
ob es nicht nur eine leere Worthülse ist, wenn die Kollegin von der Linksfraktion sagt, Netzneutralität sei gescheitert.
({4})
Auch wenn wir über die konkreten Fälle reden, sagt
uns der Chef der Bundesnetzagentur dazu: Wir haben bis
jetzt in Deutschland einen Fall, bei dem wir weit gefasst
über eine Verletzung der Netzneutralität reden.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
Beim Kollegen von Notz sehr gerne.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Tauber, dass wir am Freitagmittag
({0})
- Nachmittag, meinetwegen - hier etwas intensiver darüber diskutieren können. Ich möchte Sie bezüglich des
Punktes, inwieweit man warten kann oder inwieweit Sie
bezweifeln, dass es drängend ist, fragen, ob Sie die gestrige Stellungnahme der von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission „Forschung und Innovation“ kennen. Dieses Gremium hat einem Bericht
zufolge in seinem Jahresgutachten 2011 geschrieben:
Die Expertenkommission vermisst insbesondere
eine Definition von Netzneutralität und Aussagen
darüber, wie diese gesichert werden soll. Der bestehende Rechtsrahmen müsse daher präzisiert und
erweitert werden. Mit der Gefährdung der Netzneutralität drohe sonst die Innovationskraft des Internets verloren zu gehen.
Das klingt doch nicht so, als könne man noch länger
warten, sondern als müsste man jetzt loslegen, oder sehen Sie das etwa anders?
Lieber Herr Kollege, ich bin sehr dankbar für Ihre
Frage. Ich weiß nicht, ob alle Mitglieder des Expertenrats das Exposé des Wissenschaftlichen Dienstes kennen
und es gelesen haben. Ich habe es daher vorgelesen und
ergänzt. Wir befinden uns in der Tat noch in einem Diskussionsprozess - das wissen wir beide ganz besonders
gut - darüber, was wir am Ende im Detail unter Netzneutralität verstehen, wie weit wir das fassen und inwieweit
der Breitbandausbau damit korreliert. Wir haben über
Kapazitätsengpässe gestritten. Insofern, glaube ich, hilft
es ein bisschen weiter, uns gemeinsam daran zu erinnern, was der Chef der Bundesnetzagentur uns gesagt
hat. Er hat gesagt, dass die Instrumentarien, die er derzeit hat - er hat nicht nur auf das TKG verwiesen, das
gerade in der Diskussion steht; er hat noch viel weiter
ausgeholt und am Ende Art. 5 Grundgesetz, das Wettbewerbsrecht und das Kartellrecht erwähnt -, ihm ausreichen, um Netzneutralität in der Aufsicht und in der Regulierung in Deutschland zu gewährleisten.
Von daher ist die Frage, wem man Glauben schenkt.
Ich will das Thema nicht vom Tisch wischen - auf keinen Fall -, aber ich erinnere an das, was Matthias Kurth
uns gesagt hat: Er hat die Instrumentarien und ist im
Zweifel bereit, sie zu nutzen.
({0})
Da bin ich beim entscheidenden Punkt - das haben
wir uns auch im Koalitionsvertrag gemeinsam fest vorgenommen -: Wir vertrauen darauf, dass der bestehende
Wettbewerb und die neutrale Datenübermittlung im Internet und in anderen Medien Netzneutralität sicherstellen. Wir werden die Entwicklung aber sorgfältig beobachten und nötigenfalls mit dem Ziel der Wahrung der
Netzneutralität gegensteuern.
Ich will eines anmerken: Man könnte jetzt sagen, die
leeren Ränge sind dem Desinteresse am Thema geschuldet. Das wird nicht so sein. Es ist Freitag, und wir behandeln den letzten Tagesordnungspunkt.
({1})
Man könnte aber auch sagen: Vielleicht liegt es ein bisschen daran, dass wir zu diesem Thema an manchen Stellen eine Phantomdebatte führen. Ich sage auch: Man
kann ein bisschen den Eindruck haben, dass die Debatte
unter Umständen schizophrene Züge annimmt. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht immer davon reden, dass
das Internet ein freier Raum ist, in dem sich der Staat
möglichst zurücknehmen soll, in dem wir wenig Regulierung brauchen, dass wir auf die Kräfte der Freiheit
setzen wollen, Menschen die Möglichkeit geben wollen,
das Internet für sich zu nutzen und zu entdecken, und
dass wir dann bei nächster Gelegenheit reflexartig sagen:
Aber jetzt muss bitte der Staat regeln.
({2})
Das ist auch der Grund, warum ich ein Gegner des
Zugangserschwerungsgesetzes bin. Nur, ich glaube,
dann muss man konsequent sein.
({3})
Man muss erst einmal darauf vertrauen, dass die Freiheit
- in dem Falle, wenn wir über die ökonomische Komponente reden, ist Freiheit Wettbewerb - dies regelt, und
dafür Sorge tragen, dass der immanente Wesenskern des
Internets erhalten bleibt.
({4})
Ich glaube, das müssen wir logisch zu Ende denken. Es
kann doch nicht sein, dass wir an der einen Stelle darüber reden, dass wir den Staat unbedingt brauchen und
dass der Staat wieder alle in den Arm nehmen und alle
schützen muss, und dass wir an der anderen Stelle sagen:
Das Internet ist ein Raum, in dem der Staat, wenn überhaupt, höchstens als Partner der Bürgerinnen und Bürger
auftritt. - Das passt aus meiner Sicht nicht ganz zusammen. Darüber werden wir in nächster Zeit sicherlich
nicht nur in der Enquete-Kommission gemeinsam reden
müssen.
Ich habe ein bisschen die Sorge, dass wir eine Diskussion führen, die sehr stark durch negative Argumente,
durch Angst, durch Misstrauen geprägt ist. Ich glaube
nicht, dass das gutgehen wird. Das merkt man auch deutlich an der Debatte um Kapazitätsengpässe, in der Sie
davon sprechen, sie seien künstlich herbeigeführt und
nur eine Strategie, um am Ende neue Geschäftsmodelle
zu entwickeln. Sie mögen wissen, wie das Internet funktioniert. Wie Wirtschaft und Wettbewerb funktionieren,
wissen Sie offensichtlich nicht. Sonst würden Sie sich
nicht zu dieser These versteigen.
({5})
Die Netzneutralität ist für uns als Union und für diese
christlich-liberale Koalition ein hohes Gut. Wir sehen sie
als Voraussetzung für Innovation und Teilhabe in unserer
Gesellschaft. Deswegen werden wir die notwendigen
Schritte tun, um Netzneutralität auf Dauer zu gewährleisten. Wir machen das richtig und nicht mit Schaufensterpolitik.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Schulz für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Auch die Zuhörerinnen und Zuhörer
an den Rundfunkgeräten sind uns herzlich willkommen!
({0})
Netzneutralität - worum geht es da? Das ist eigentlich
ein ganz trockener Begriff. Noch vor einem Jahr wusste
kaum einer, was er überhaupt bedeutet, was er für uns
alle bedeutet. Es geht um nicht weniger als um die Zukunft des freien Internets. Deswegen ist es auch richtig
und wichtig, dass wir diese Debatte hier führen.
({1})
Ich halte es aber für falsch, zu regulieren und zu bevormunden. Wir stehen für Freiheit, für Transparenz, für
Wettbewerb. Dadurch wird die Netzneutralität seit jeher
gesichert und auch in Zukunft gesichert werden.
({2})
Wir wollen dabei nicht aus den Augen verlieren, dass
wir sehr wohl achtsam sein müssen, dass die Netzneutralität nicht verletzt wird. Dann wären auch wir bereit, zu
handeln. Aber die Diskussion und die Anhörung in der
Enquete-Kommission haben sehr wohl gezeigt, dass im
Moment keine Gefahr im Hinblick auf eine Verletzung
der Netzneutralität besteht, dass der Wettbewerb funktioniert. Deswegen führen wir momentan - der Kollege
Tauber hat es schon gesagt - möglicherweise wirklich
eine Art Scheindebatte.
Nichtsdestotrotz - das ist das Wichtige -: Die Projektgruppe in der Enquete-Kommission arbeitet noch; darauf
hat der Kollege Dörmann auch vollkommen zu Recht
hingewiesen. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass
wir diese Debatte gemeinsam zu Ende führen und da, wo
es Gemeinsamkeiten gibt, zu einem gemeinsamen Verständnis kommen. Mit Sicherheit wird es auch Unterschiede geben. Dann, wenn wir diese Gemeinsamkeiten
finden, sollten wir diese gemeinsam formulieren. Erst
danach sollten wir die Anträge in den Bundestag einbringen und nicht schon vorher die Diskussion dadurch torpedieren,
({3})
dass wir hier Anträge einbringen, bevor wir den Zwischenbericht gemeinsam verfasst haben.
({4})
- Das glaube ich kaum.
Wir werden auf jeden Fall in der Diskussion über die
Definition des Begriffs weiterkommen. Das ist sehr
wichtig. Der Begriff wurde hier schon vielfach definiert,
deswegen brauche ich das nicht zu tun. Ich glaube, hier
sind wir uns weitgehend einig.
Wir sind uns aber nicht über die Wege einig, wie wir
dahin kommen. Das gilt insbesondere, weil die Linken
hier ein „Sozialismus-Internet“ fordern. Entschuldigung,
aber das haben wir auf der Welt schon, nämlich in China.
Das will keiner von uns. Tut mir leid. Darin sind wir alle
hier uns doch einig.
({5})
Ich glaube, wir können diese Diskussion in der
Enquete-Kommission und in der Projektgruppe „Netzneutralität“ gemeinsam fortführen, den Begriff definieren, Unterschiede herausarbeiten und Gemeinsamkeiten
finden. Das werden wir auch tun. Danach werden wir gemeinsam über mögliche Folgen bzw. Konsequenzen daraus diskutieren, aber nicht heute. Ich glaube, deswegen
brauchen wir diese Diskussion hier heute auch nicht weiterzuführen.
({6})
- Deswegen ist sie jetzt auch zu Ende. Wo ist hier eigentlich der Lichtschalter?
({7})
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/3688 und 17/4843 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. März 2011, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.