Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/24/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Der Kollege Ottmar Schreiner hat am vergangenen Montag seinen 65. Geburtstag gefeiert und der Kollege Dr. Karl Lamers einige Tage vorher seinen 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich auf diesem Wege noch einmal ganz herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der Kollege Bernd Siebert dem Kollegen Holger Haibach als stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und in der Versammlung der Westeuropäischen Union nachfolgen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Siebert hiermit gewählt. Die Fraktion Die Linke schlägt den Kollegen Jörn Wunderlich für eine weitere Amtszeit im Beirat bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes vor. Findet auch dieser Vorschlag Ihre Zustimmung? - Ich bin beeindruckt: Auch darüber gibt es keinen Streit. Dann ist der Kollege Wunderlich hiermit ebenfalls gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg und mögliche Textübernahmen aus Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages sowie angebliche Textübernahmefunde nach „GuttenPlag Wiki“ auf 270 Seiten der Dissertation des Bundesministers der Verteidigung ({1}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Renate Künast, Claudia Roth ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichte zur NS-Vergangenheit des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz veröffentlichen - Drucksache 17/4696 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunternehmen neu ausrichten - Drucksache 17/4698 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner Simmling, Ernst Burgbacher, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn - Drucksache 17/4861 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Kumpf, Christian Lange ({7}), Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausbau der Rheintalbahn als Modell für Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz - Drucksache 17/4856 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen schaffen - Drucksache 17/4851 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({9}) Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tierschutzgesetz ändern - Kennzeichnung von Pferden tierschutzgerecht ausgestalten - Drucksache 17/4850 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern - Drucksache 17/4849 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist - Ratsdok. 17629/10 ({11}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Herstellung des Einvernehmens bezüglich der Ergänzung von Art. 136 AEUV zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({12}) verantwortlich gestalten - Drucksache 17/4881 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({13}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist - Ratsdok. 17629/10 ({14}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes - Drucksache 17/4882 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herstellung des Einvernehmens zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Änderung des Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 17/4883 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({16}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich fixieren - Drucksache 17/4855 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({17}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Eskalation der Gewalt in Libyen ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({18}) zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Drucksachen 17/3404, 17/3958, 17/3982, 17/4032, 17/4058, 17/4095, 17/4303, 4304, 17/4719, 17/4770, 17/4830 ZP 5 Vereinbarte Debatte zur Lage von SGB-Leistungsempfängern und ihrer Kinder ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konsequenzen aus dem Zugunglück von Hordorf ziehen - Drucksache 17/4854 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({19}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 28 - dabei handelt es sich um das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz - wird heute abgesetzt. ({20}) - Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, Herr Kollege Trittin. ({21}) Ich finde es beruhigend, dass sich offenkundig niemand ernsthaft durch die Ankündigung einer solchen Gesetzgebungsabsicht irritiert fühlt. ({22}) Außerdem ist vorgesehen, den Jahresbericht des Wehrbeauftragten - das ist der Tagesordnungspunkt 30 bereits heute nach dem Tagesordnungspunkt 9 zu beraten und den Tagesordnungspunkt 10 mit Vorlagen zum Beschäftigtendatenschutz erst morgen im Anschluss an die vereinbarte Debatte aufzurufen. Schließlich mache ich auf einige nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der am 11. November 2010 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss ({23}) zur Mitberatung überwiesen werden: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts - Drucksache 17/3617 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({24}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der am 8. Juli 2010 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Innenausschuss ({25}) zur Mitberatung überwiesen werden: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sonja Steffen, Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Änderung des Vormundschaftsrechts und weitere familienrechtliche Maßnahmen - Drucksache 17/2411 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({26}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der am 10. Februar 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({27}) zur Mitberatung überwiesen werden: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe ({28}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 17/4672 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({29}) Auswärtiger Ausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der am 27. Januar 2011 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({30}) zur Mitberatung überwiesen werden. Die Mitberatung des Ausschusses für Gesundheit ({31}) soll entfallen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({32}), Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bildungsberichte nutzen - Bildungssystem gerechter und besser machen - Drucksache 17/4436 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({33}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Darf ich auch zu diesen Veränderungen Einvernehmen feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011 ({34}) - Drucksache 17/4821 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({35}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Verteidigung. ({36})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf über die Aussetzung der Verpflichtung zum Grundwehrdienst steht nunmehr einer der Kernpunkte der Neuausrichtung der Bundeswehr auf der Tagesordnung der heutigen Debatte. Wir nehmen mit der Einführung eines Freiwilligenwehrdienstes Abschied von der Verpflichtung zum Grundwehrdienst. Wir nutzen diese Gelegenheit auch, um den vielen Grundwehrdienstleistenden der letzten Jahrzehnte Dank zu sagen. Es waren Millionen, die in diesem Sinne auch eine besondere Verpflichtung für unser Land zum Ausdruck gebracht haben. ({0}) Die allgemeine Wehrpflicht war in der über 50-jährigen Geschichte der Bundeswehr zu ihrer Zeit die richtige Wehrform. Darauf darf man auch immer wieder hinweisen. Die Zusammensetzung unserer Streitkräfte aus Berufs- und Zeitsoldaten, Grundwehrdienstleistenden und zusätzlich freiwillig Wehrdienstleistenden sowie Reservisten hat entscheidend zur erfolgreichen Erfüllung des Auftrages der Bundeswehr und zu ihrem hohen Ansehen beigetragen. Ich persönlich bin immer ein grundsätzlicher Befürworter der allgemeinen Wehrpflicht gewesen. Das ist bekannt. Die Änderung der Wehrform war für mich niemals Selbstzweck, und sie ist mir - wie vielen von uns in diesem Hause - außerordentlich schwergefallen. Aber die Untersuchungen des letzten Jahres, die Analysen, die wir angestellt haben, der Bericht des Generalinspekteurs und der Bericht der Strukturkommission unter Leitung von Herrn Weise haben in Verbindung mit längeren, sehr ernsthaften, intensiven Diskussionen und Debatten ein eindeutiges Ergebnis gebracht: Die Verpflichtung zum Grundwehrdienst ist heute sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar. Auch für mich hat das letztendlich ein Umdenken bedeutet - aber ein Umdenken, aus dem auch eine Perspektive erwachsen sollte. Der letztlich entscheidende Maßstab für die Bundeswehr muss die Fähigkeit zum Einsatz im Rahmen des gegebenen Auftragsspektrums sein. In diesem Gesamtkontext steht auch der heute vorliegende Gesetzentwurf. Die Bundeswehr hat, wie wir wissen, mit den aktuellen Einsatzverpflichtungen in vielen Bereichen bereits ihre Leistungsgrenze erreicht. Darüber hinaus entsprechen ihre Strukturen nicht mehr den Anforderungen, die an den heutigen Einsatz und die künftigen Einsätze anzulegen sind. Eine Neuausrichtung mit Blick auf eine stärkere Einsatzorientierung war und ist daher unabdingbar. Wir brauchen deswegen heute keine unverhältnismäßig hohe Zahl von Soldaten mehr, sondern hochprofessionelle Streitkräfte, die über weite Distanzen für schwierige Einsätze schnell verlegt und für Risikoszenarien nachhaltig eingesetzt werden können. Die Bundeswehr ist heute eine Armee im Einsatz. Erst vor wenigen Tagen haben wir einmal mehr auf erschütternde Weise feststellen müssen, was es bedeutet oder bedeuten kann, Armee im Einsatz zu sein. Ich glaube, unser aller Gedanken und auch Gebete sind heute bei den gefallenen Soldaten von letzter Woche. Wir denken an die zehn Verwundeten und hoffen auf ihre baldige Genesung. ({1}) Sicher ist: Es wird niemals risikofreie Einsätze geben und geben können. Aber es bleibt unsere dauerhafte Verpflichtung, alles, wirklich alles zu tun, um die Gefahren und Risiken für unsere Soldatinnen und Soldaten auf ein Mindestmaß zurückzuführen, und alles zu tun, um bei Ausbildung, Ausrüstung und Schutzmaßnahmen, die zu ergreifen sind, unserer Verantwortung gerecht zu werden: Wir müssen unsere Soldaten bestens gesichert und für ihre Aufgaben auch ausgebildet in den Einsatz schicken. Die Bedingungen, die wir gerade für das Letztgenannte zu schaffen haben, müssen wir noch intensiver betrachten. Dazu gehören Laufbahn- und Personalstrukturen sowie bestmögliche soziale, aber eben auch materielle Bedingungen. Gerade Letztere haben eine bedeutende Auswirkung auf die Sicherstellung der Motivation unserer Soldatinnen und Soldaten - und damit indirekt auch auf die Fähigkeit, im Einsatz bestehen zu können. Unter den gegebenen finanziellen Bedingungen liegt hierin eine erhebliche Herausforderung. Auch wir müssen sparen und einen Beitrag zum Sparen erbringen; wir müssen unsere Bundeswehr gleichzeitig aber auch zukunftsfest aufstellen, damit sie eine Perspektive entwickeln kann. Wir müssen hier noch weiter freundschaftlich und intensiv auch innerhalb der Bundesregierung verhandeln, damit wir die Bundeswehr entsprechend aufstellen können. Bei einem geringeren Gesamtumfang der Streitkräfte würde die Ausbildung und Betreuung von Grundwehrdienstleistenden zu viele Berufs- und Zeitsoldaten binden. Das war einer der Gründe, weshalb wir gesagt haben: Wir können künftig den Grundwehrdienst nicht mehr so wie ursprünglich aufrechthalten. Die weiteren Gründe haben wir ausgiebig und intensiv diskutiert. Es würde heute zu weit führen, darauf noch einmal hinzuweisen. Es war nach alledem folgerichtig, dass die Bundesregierung zeitgleich mit ihrem Eckpunktebeschluss zur Neuausrichtung der Bundeswehr am 15. Dezember des vergangenen Jahres die Gesetzesnovelle zum Wehrpflichtgesetz auf den Weg gebracht hat. Die Pflicht zum Grundwehrdienst soll zum 1. Juli 2011 ausgesetzt werden; das ist der derzeitige Plan. Die letzten verpflichtend grundwehrdienstleistenden Soldaten wurden am 3. Januar dieses Jahres eingezogen. An die Stelle des Grundwehrdienstes tritt ein neuer, ein freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten für junge Frauen und Männer. Weder die verfassungsrechtliche noch die einfachgesetzliche Grundlage der Wehrpflicht wird aber gänzlich abgeschafft. Ich halte es weiterhin für geboten und richtig, dass wir die verfassungsrechtliche Grundlage der Wehrpflicht erhalten haben und weiter erhalten; das ist mit Blick auf Szenarien, die wir heute sicher noch nicht ganz absehen können, eine richtige und kluge Entscheidung. ({2}) Wir wollen Bewährtes erhalten, auch als Rückversicherung. Im Kern wird also lediglich die Verpflichtung zum Grundwehrdienst ausgesetzt. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass die Gewinnung von Freiwilligen angesichts der Konkurrenz mit anderen Arbeitgebern um qualifiziertes Personal wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft darstellt. Gerade bei den Laufbahnen der Mannschaften muss hier ein Schwerpunkt liegen; hierauf hat der Inspekteur des Heeres zu Recht hingewiesen. Wir nehmen diese Herausforderung mit aller Kraft an. Es geht jetzt darum, auch mit diesem Gesetz die geeigneten Instrumente zu schaffen und sich darüber hinaus mit viel Kreativität dem Wettbewerb zu stellen. Bereits mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz ist vorgesehen, dass junge Menschen mit Informationsmaterial über einen Freiwilligendienst in der Bundeswehr versorgt werden und eine ausführliche Beratung über Dienstmöglichkeiten in der Bundeswehr erhalten können. Wir müssen uns auch hier öffnen, neue Wege beschreiten und insbesondere die neuen Medien im Blick haben, also die heutigen Formen, junge Menschen anzusprechen, tatsächlich nutzen. Der deutlich verbesserte Wehrsold für diejenigen, die den freiwilligen Wehrdienst leisten, sowie die Verpflichtungsprämien sind zusätzliche starke Signale an potenzielle Interessenten. Hinzu kommen bessere Unterbringungsstandards für Mannschaften, eine nach Möglichkeit heimatnahe Verwendung, die Fortgeltung der Steuerfreiheit der Geld- und Sachbezüge, der kostenlosen Familienheimfahrten sowie der Regelungen des Arbeitsplatzschutzgesetzes. Aus dem Parlament, vom BundeswehrVerband und vom Wehrbeauftragten kamen viele Hinweise. Das sind Punkte, auf die wir viel Wert legen und die die künftige Gestaltung der Bundeswehr bestimmen müssen. Sie bilden natürlich auch den Rahmen dafür, wie wir uns künftig finanziell aufstellen können. Darüber hinaus sind Attraktivitätsmaßnahmen geplant, insbesondere die Erweiterung der Möglichkeit, im Rahmen der Berufsförderung an Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Die Attraktivität ist - über die Sicherung des Nachwuchses bei den Mannschaftsdienstgraden hinaus - insgesamt der Schlüssel zur künftigen personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Zu Beginn dieses Jahres wurde deshalb ein Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr erlassen, das alle Soldatinnen und Soldaten - ich betone: alle - betrifft. Hierüber wurde der Verteidigungsausschuss informiert. Dieses Maßnahmenpaket enthält über 80 grundsätzlich mögliche Maßnahmen, die jetzt alle auf ihre Realisierbarkeit hin geprüft werden. Nicht alles wird und soll kommen; das darf ich an dieser Stelle sagen. Entscheidend sind im Einzelfall kurzfristig greifende Maßnahmen, um den Dienst in der Bundeswehr attraktiver zu machen. Die eine oder andere Idee ist nach einer Überprüfung bereits verworfen worden, aber es bleiben viele, die wir umzusetzen haben. Neben der Einrichtung von Eltern-Kind-Arbeitszimmern an 200 Standorten planen wir die Flexibilisierung und Verlängerung von Regelverpflichtungszeiten, die verstärkte Besetzung ziviler Dienstposten mit ausscheidenden Soldaten auf Zeit, mehr Möglichkeiten des Wohnens in Gemeinschaftsunterkünften, die Erhöhung von Zulagen und Ausgleichssätzen für mehrgeleisteten Dienst und eine angemessenere Ausgestaltung der Rah10426 menbedingungen für dienstlich veranlasste Umzüge. Für einige dieser Maßnahmen brauchen wir gesetzliche Regelungen, um deren Unterstützung ich gerne bitten und werben will. Heute bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorliegenden Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes. Je schneller wir in der Lage sind, die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen umzusetzen, umso schneller können wir dringend benötigte Freiwillige in die Streitkräfte einstellen und die im Entwurf enthaltenen Attraktivitätsmaßnahmen wie den erhöhten Wehrsold und die Verpflichtungsprämien endgültig umsetzen. Mit Ihrer Zustimmung leisten Sie alle einen entscheidenden Beitrag zur erfolgreichen Neuausrichtung unserer Bundeswehr, zur Gewährleistung ihrer Einsatzfähigkeit und damit zu unserer Sicherheit. Wir können bei der Neuausrichtung der Bundeswehr einen wichtigen, großen Schritt vorangehen, gerade mit Blick auf die Attraktivität des Dienstes, die unsere Soldaten mehr als verdient haben. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. ({0})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unzweifelhaft: Die Bundeswehr gehört zu den großen Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik. Es ist eine demokratische Erfolgsgeschichte, weil die Bundeswehr nie Staat im Staate war, sondern immer in der Mitte der Gesellschaft und fest verankert war in der Demokratie. Sie ist eine europäische Erfolgsgeschichte, weil keiner unserer Nachbarn jemals vor Aggressionen Angst haben musste und davor, dass die Bundeswehr eine Gefahr für sie darstellen würde. Ganz im Gegenteil: Die Bundeswehr ist immer eine Armee gewesen, die sich sehr dem Frieden, der Völkerverständigung und auch dem Völkerrecht verbunden gefühlt hat. Nie zuvor gab es eine deutsche Armee, die das von sich sagen konnte. Die große und wirklich bedeutende Geschichte der Bundeswehr ist eine der großen Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik Deutschland, und sie ist untrennbar mit der Wehrpflicht verbunden gewesen. Die Wehrpflicht sicherte, dass die Bundeswehr den Querschnitt der Bevölkerung repräsentierte, dass der Nachwuchs aus allen Bevölkerungsschichten gewonnen wurde, und vor allen Dingen sorgte sie dafür, dass wir alle uns mit der Bundeswehr beschäftigt haben, weil es immer unsere eigenen Söhne und Töchter sein konnten, die dort ihren Dienst taten. Wir alle wissen: Die Beendigung der Wehrpflicht, wie sie heute vorgeschlagen wird - ob von Dauer oder auf Zeit, wird sich erst noch herausstellen -, ist deshalb von großer und weitreichender Bedeutung. Die SPD hat wegen der Schwierigkeiten der Wehrgerechtigkeit diesen Weg bereits 2007 vorgeschlagen. Unsere früheren Koalitionspartner CDU und CSU wollten ihn damals nicht gehen. Jetzt wollen sie ihn gehen. Wir begrüßen das. ({0}) Aber wir wissen auch: Die Beendigung der Wehrpflicht, ob auf Dauer oder zeitweilig, wird die Rahmenbedingungen für die Bundeswehr, auf die sie sich fünf Jahrzehnte verlassen konnte, völlig verändern. Es kommt deshalb darauf an, dass wir mit der Änderung dieser zentralen Rahmenbedingungen nicht auch die Erfolgsgeschichte der Bundeswehr in der deutschen Geschichte beenden. Auch ohne Wehrpflicht muss es uns gelingen, den Nachwuchs der Bundeswehr aus allen Schichten der Bevölkerung zu gewinnen und den Dienst so attraktiv zu machen, dass die Bundeswehr nicht in Gefahr gerät, nur noch Negativauslese derjenigen zu werden, die es woanders nicht geschafft haben. Die Bundeswehr muss deshalb auch eine Qualifizierungsarmee werden. Vor allem darf die Abschaffung der Wehrpflicht nicht dazu führen, dass wir uns weniger für die Soldatinnen und Soldaten interessieren, sie schlechter ausstatten oder ausbilden oder sie gar leichtfertiger in gefährliche Auslandseinsätze schicken. Wenn ich mir allerdings ansehe, wie diese Bundeswehrreform beginnt, dann stelle ich fest, dass sich die Bundesregierung und der Bundesverteidigungsminister schon in den ersten Schritten von der Bundeswehr abwenden. Die ganze Reform beginnt als Sparaktion. Mehr als 8 Milliarden Euro sollen durch diese Bundeswehrreform eingespart werden. Der Verteidigungsminister ist vollmundig mit einer gigantischen Sparbüchse auf die Bundeswehr losgegangen. Inzwischen muss er kleinlaut zugeben, dass er nicht etwa einsparen, sondern möglicherweise sogar mehr Geld ausgeben muss. Statt die Aufgaben der Bundeswehr zur zentralen Messlatte für die Reform, die Organisation, die Ausstattung und die Bezahlung der Bundeswehr zu machen, erklärt der Bundesverteidigungsminister am 25. Oktober des letzten Jahres bei der Vorstellung seiner Reform bei der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg - ich zitiere -, der höchste - ich betone - der „höchste strategische Parameter“ der Bundeswehrreform sei die Haushaltskonsolidierung. Die Bundeskanzlerin attestiert ihm am Anfang des Jahres, der Sparbeitrag - Frau Kanzlerin, so haben Sie gesagt - des Verteidigungsministers sei das Wichtigste. Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen, was unser höchster strategischer Parameter ist und was für uns das Wichtigste ist: die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten. Das ist der wichtigste strategische Parameter. ({1}) Sie machen die Bundeswehr zum Sparschwein Ihrer Haushaltspolitik. Das ist nicht nur ein politischer Fehler; im Zweifel ist das für die Soldatinnen und Soldaten ziemlich gefährlich. Die Bundesregierung und vorneweg der Verteidigungsminister verwechseln die Reihenfolge: Sie entscheiden zuerst über drastische Einsparungen und wundern sich dann, dass die Bundeswehr ihre Aufgaben nicht erledigen kann. Sie müssen diese Reform vom Kopf auf die Füße stellen: Zuerst müssen Sie die AufgaSigmar Gabriel ben festlegen, die die Bundeswehr erfüllen soll. Danach müssen Sie sagen, welche Ausbildung und Ausstattung die Soldaten dafür brauchen. Danach müssen Sie sagen, wie Sie ohne die Wehrpflicht das Personal für diese Aufgaben bekommen. Und dann müssen Sie den Finanzbedarf für diese Aufgaben und für diese Nachwuchsgewinnung festlegen. Das ist die richtige Reihenfolge der Bundeswehrreform. ({2}) Sie versuchen es genau umgekehrt, und deswegen geht das schief; denn ohne deutlich bessere Bezahlung, ohne Angebote für Ausbildung, Studium und Weiterverwendung nach der Bundeswehr werden Sie den benötigten Nachwuchs nicht gewinnen können. Sie haben kein Konzept dafür, wie wir die Freiwilligendienste ausbauen können. Übrigens werden wir natürlich Standorte schließen müssen. Wir können die Standortdebatte auch nicht zum Maßstab der Ausrichtung der Bundeswehr machen. Aber dann müssen Sie doch ein Konversionsprogramm auflegen, mit dem die Bürgermeister und Landräte leben können. Auch das kostet Geld. Aber nichts davon findet sich in Ihrem Konzept wieder. ({3}) Gerade haben Sie selbst, Herr Verteidigungsminister, Ihr Maßnahmenpaket zitiert. Ich lese einmal ein bisschen daraus vor, weil das deutlich macht, dass das alles Floskeln sind. Ich zitiere eine schöne Formulierung zu einem Punkt, den Sie selber gerade angesprochen haben: „Die bisherigen Mannschaftslaufbahnen sind mit dem Ziel der Erhöhung der Attraktivität neu zu gestalten.“ Aber dann ist Schluss. Dazu, wie das geschehen soll, steht nichts in Ihrem Maßnahmenpaket. Es finden sich nur wolkige Formulierungen, aber nichts Konkretes. Im Hinblick auf tatsächlich vorhandene gute Vorschläge wie die von Ihnen eben angesprochene Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss Ihr Staatssekretär sofort zugeben, dass dies alles unter dem Finanzierungsvorbehalt des Finanzministers steht. Das ist Camouflage. Sie haben Ihren Job nicht gemacht. Sie haben nicht gesagt, was man schaffen muss, wenn man die Bundeswehrreform zu einem Erfolg machen will. Das ist unser Vorwurf. ({4}) Wir bekommen ein hohles Gesetz ohne jeden Realitätsbezug. Der Verteidigungsminister kann keine Antwort auf die Frage nach der künftigen Struktur der Bundeswehr oder nach den Standorten geben. Er kann keine Antwort auf die Fragen zur Nachwuchsgewinnung der Armee und schon gar keine zum Finanzierungskonzept geben. Auf jede Frage bleibt der Verteidigungsminister die Antwort schuldig - und das, obwohl die Reform am 1. April 2011 starten soll. Im Weise-Bericht heißt es: „Gefordert sind schnelle Entscheidungen …“ Wir fragen uns, Herr Minister, was Sie in den letzten knapp fünf Monaten seit Vorlage des Gutachtens eigentlich getan haben. Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, dann am 22. November 2010 als Regierungschefin nach Dresden zur Kommandeurstagung fahren und den Kommandeuren zum Thema der Bundeswehrreform den Spruch „no risk, no fun“ entgegenhalten, dann frage ich mich, auf welcher geistigen Höhe in Deutschland inzwischen Sicherheitspolitik gemacht wird. ({5}) Frau Kanzlerin, für uns hört der Spaß an dieser Stelle auf. Bei der Bundeswehr geht es nicht um „fun“, wie Sie offenbar meinen, sondern um die Sicherheit unseres Landes, um die Sicherheit der Einsätze sowie um Leib und Leben der Soldatinnen und Soldaten. Inzwischen wissen wir, dass der Heeresinspekteur alarmiert ist, weil ihm zum 1. April 2011 nur ein Fünftel der benötigten Rekrutinnen und Rekruten zur Verfügung steht. Der Generalinspekteur räumt ein, dass die Bundeswehr Gefahr läuft, 2012 nicht mehr genügend Soldatinnen und Soldaten für den Auslandseinsatz zu haben. Die Bundeswehr ist - wir kennen den Begriff - bedingt abwehrbereit und bedingt einsatzbereit. Das, Herr Verteidigungsminister, sind die tatsächlichen Resultate Ihrer fachlich angeblich so guten Arbeit. Das ist das Produkt Ihrer Amtszeit. ({6}) Ihre sogenannte Bundeswehrreform entfaltet bei den jungen Männern und Frauen in Deutschland gerade eine enorme Signalwirkung. Das kann man wohl sagen. Wir lesen, dass von 166 000 Briefen der Kreiswehrersatzämter an junge Frauen und Männer nur ganze 7 000 mit Interessenbekundungen zurückkamen, also nur knapp 4 Prozent. Das ist die Signalwirkung, die von Ihnen ausgeht, und zwar nicht deshalb, weil die Bundeswehr ein schlechter Arbeitgeber wäre, sondern weil die jungen Männer und Frauen auf jede konkrete Frage, wie ihr freiwilliger Dienst in der Bundeswehr denn aussehen soll, keine konkrete Antwort bekommen. Sie haben ein Chaos organisiert, wenn Sie so weitermachen. ({7}) Noch einmal: In fünf Wochen soll der Nachwuchs der Bundeswehr allein aus Freiwilligen gewonnen werden. Diese Eile haben Sie sich übrigens selbst auferlegt. Das Kabinett hat beschlossen, dass erst zum 1. Juli 2011 umgestellt werden soll. Sie aber sagen: Nein, es muss schon zum 1. April 2011 geschehen. ({8}) Es geht immer nach dem alten Motto: Schnell, schneidig, schick! ({9}) Aber es geht nicht um ein Wettrennen, Herr Verteidigungsminister. Es geht um unsere Soldatinnen und Soldaten und um die Leistungsstärke und Funktionsfähigkeit der Armee. Wir können Sie nur auffordern: Verschieben Sie die Reform so lange, bis Sie wirklich wissen, wohin Sie wollen und wie Sie das machen wollen. ({10}) Sie müssen erst die Voraussetzungen für die Reform schaffen und dann handeln und nicht umgekehrt. Wenn Sie weiter im Blindflug unterwegs sind, ist die Reform schon gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat. Das größte Kapital bei dieser wirklich großen Reform ist doch das Vertrauen der Menschen, auch der Soldatinnen und Soldaten, in die politische Führung. Genau dieses für die Reform wichtige Vertrauen verspielen Sie gerade. Hinter der glitzernden Fassade aus großen Worten und schillernden Begriffen von der größten Reform aller Zeiten befindet sich bei Ihnen nur der unbedingte Wille zur Ankündigung, Herr Minister, mehr nicht. Es ist nicht das erste Mal, dass wir merken, dass Schein und Sein bei Ihnen ziemlich unterschiedlich sind. Weil es um das Vertrauen geht, Frau Bundeskanzlerin, möchte ich Sie ganz persönlich ansprechen. Ich achte Sie nicht nur wegen Ihres Amtes, Frau Kanzlerin. Ich achte Sie auch, weil wir uns in der Großen Koalition kennengelernt haben. ({11}) - Sie müssen nicht lachen. Ich meine das ganz ernsthaft. ({12}) - Wenn Sie lächeln, wenn ich Sie lobe, verzeihe ich Ihnen das. Ich habe die Absicht, das zu tun. ({13}) Ich habe Sie als jemanden kennengelernt, der, na klar, machtbewusst ist. Das ist keine Frage. Aber ich habe Sie nie als machtvergessen und auch nie als machtversessen erlebt. Ich habe mir das immer damit erklärt, dass Ihre Biografie Sie für demokratische Herausforderungen sensibel gemacht hat. Gerade weil ich Sie so kennengelernt habe, bitte ich Sie um eines: Muten Sie uns und der Bundeswehr, sich und unserem Land dieses unwürdige Schauspiel, das wir seit Wochen mit Ihrem Verteidigungsminister erleben, nicht länger zu. Ich weiß nicht, ob Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Debatte im Bundestag gestern verfolgt haben. Wenn Sie das gemacht haben, dann ist Ihnen vielleicht eines aufgefallen. ({14}) - Ich habe sie mir angeschaut und war erstaunt über das, was hier passiert ist. - Es gab keinen Ordnungsruf des Präsidenten, nicht einmal Tumulte oder allzu laute Proteste auf Ihrer Seite, als hier zum ersten Mal in der Geschichte des Parlaments ein amtierender Minister mehrfach von Abgeordneten Lügner, Hochstapler und Betrüger genannt wurde. ({15}) - Nein, Frau Göring-Eckardt war gestern die Präsidentin. ({16}) Es gab keine große Aufregung bei Ihnen und keinen Ordnungsruf. Frau Bundeskanzlerin, was glauben Sie wohl, warum das so war? Weil jeder hier im Haus wusste, dass das Tatsachenbehauptungen sind. ({17}) Das ist doch das Problem. Jeder weiß, dass wir es mit einem politischen Hochstapler zu tun haben. ({18}) - Ich habe kein Problem damit, wenn wir das einmal problematisieren würden. Vielleicht stellt auch jemand Strafantrag. Das wäre interessant. Frau Bundeskanzlerin, stellen Sie sich doch nur für eine Sekunde vor, die Zeitungsberichte über das Verhalten des Verteidigungsministers, die Sie gelesen haben, enthielten nicht den Namen zu Guttenberg, sondern die Namen Trittin, Lafontaine oder Gabriel. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, was Sie gesagt und gedacht hätten, wenn das nicht Herr zu Guttenberg gewesen wäre. Dann wissen Sie, wie weit wir hier inzwischen weg sind von Recht und Gesetz, was für alle gelten soll. Dann wissen Sie das. ({19}) Ehre, Pflichtgefühl, Recht und Anstand, das sind Begriffe, die gerade für den Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr von großer Bedeutung sein müssen. Nichts davon findet sich im Handeln Ihres Ministers. Frau Bundeskanzlerin, was soll Ihre seltsame Bemerkung, Sie hätten einen Minister und keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter berufen? Spielt eigentlich - das frage ich Sie - der Charakter eines Menschen bei der Berufung in Ihr Kabinett für Sie keine Rolle mehr? ({20}) Ich sage Ihnen: Es ist eine Zumutung für jeden Abgeordneten im Saal, dass wir hier von einem Regierungsmitglied für dumm verkauft werden sollen. ({21}) - Für dumm verkauft? Sagen Sie einmal: Glauben Sie wirklich daran, dass jemand aus Versehen 270 von 400 Seiten abschreiben kann? Was ist das denn für eine seltsame Ausrede? So etwas habe ich überhaupt noch nicht gehört. Aus Versehen? ({22}) Ich sage Ihnen: Für jeden von uns, der fair arbeitet, der etwas von Leistung, von Anstand hält, für jeden Abgeordneten ist es eine Zumutung, dass wir uns auf dieses intellektuelle und moralische Niveau herabbegeben müssen. Das ist die Zumutung, die hier im Parlament gerade stattfindet. ({23}) Frau Bundeskanzlerin, es geht nicht mehr um Herrn zu Guttenberg, es geht inzwischen um ganz prinzipielle Fragen von Rechtsstaat und Demokratie. Rücktritte in unserer parlamentarischen Demokratie waren ein Zeichen der Stärke. Sie haben gezeigt, dass das Parlament und die demokratischen Institutionen zur Korrektur fähig sind, dass sie Fehlverhalten am Ende nicht durchgehen lassen und ohne Ansehen der Person und des Amtes handeln. Das hat die Demokratie gestärkt. Sie machen das Gegenteil. Sie und Ihr Minister sind in der letzten Woche eine politische Schicksalsgemeinschaft eingegangen. Sie haben die demokratische Achse unserer parlamentarischen Demokratie verschoben, und Sie haben einen Berufungsfall für künftige Parlamente und Regierungen geschaffen. Denn eines ist klar: Ein Verteidigungsminister, der eigene Regeln für sich beansprucht, die sich außerhalb des Werte- und Rechtssystems der Bundesrepublik Deutschland bewegen, der höhlt dieses Rechts- und Wertesystem scheibchenweise aus, weil er sich über Recht, Gesetz und Regeln setzt. Er offenbart eine Haltung, die ihre Wurzeln in der Ständegesellschaft, aber keinen Platz in einem demokratischen Land hat. ({24}) Frau Kanzlerin, es geht nicht mehr darum, ob Ihr Verteidigungsminister die Kraft und das Format hat, Konsequenzen zu ziehen, sondern es geht darum, ob Sie als Regierungschefin noch bereit sind, Schaden von unserem Land und seinen Institutionen abzuwenden. ({25}) Ich bedaure es, aber ich bin mir sicher, dass Sie sich selber in Zukunft hier im Deutschen Bundestag noch an diese Tat erinnern werden. Ich bedaure, dass Sie - genauso wie wir - noch erleben werden, welche Konsequenzen das hat. Ich lese Ihnen zum Schluss vor, was jemand geschrieben hat, der mit Sicherheit zu Ihrer Wählerschaft gehört und nicht zu der der Sozialdemokraten. Dr. Christoph Berglar hat an Sie geschrieben: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, meine Frau und ich haben sechs Kinder im Alter zwischen 14 und 29 Jahren. Wir haben als Eltern versucht, unseren Kindern sog. christliche Werte und solche der bürgerlichen Aufklärung zu vermitteln. Hierzu gehören u. a. das Bemühen um Wahrhaftigkeit und der Respekt vor dem Eigentum anderer - ohne Ansehung der Person! Er schreibt weiter: Einer Ihrer Minister hat nachweislich in höchst gravierendem Umfang gelogen, betrogen und gestohlen. Sie wissen das. Alle wissen das. Trotzdem ziehen Sie aus machttaktischen Erwägungen nicht die einzig zulässige Schlussfolgerung: die Entlassung dieses Herrn aus Ihrem Kabinett. Die weltweite Finanzkrise, deren Folgen allseits zu besichtigen sind, wurde von Schrott-Immobilien und einem Übermaß an Gier nach Geld ausgelöst. Die Legitimationskrise des bürgerlichen Lagers schwelt schon lange und wurde jetzt in dem von Ihnen regierten Land durch eine Schrott-Dissertation und ein Übermaß an Macht- und Geltungsgier akut. Bitte verraten Sie mir und meiner Frau, wie wir bei einer solchen Sachlage unseren Kindern noch Vertrauen in die Verfassungswirklichkeit des von Ihnen regierten Landes vermitteln sollen. Bitte verraten Sie uns, wie wir unsere Kinder dazu motivieren sollen, auf ehrliche Weise einen Beruf zu erlernen und auszuüben. Bitte überdenken Sie noch einmal Ihre Entscheidung. Es kann, es darf nicht das letzte Wort in dieser Sache gesprochen sein! Dem ist nichts hinzuzufügen. ({26})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Elke Hoff ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gabriel, Sie haben eben dem Bundesminister der Verteidigung bzw. der Bundesregierung vorgeworfen, sie verspiele das Vertrauen der Soldaten. ({0}) Glauben Sie wirklich, dass Sie mit dem Beitrag, den Sie hier gerade geleistet haben, Wesentliches dazu beigesteuert haben, dass unsere Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen zurückgewinnen? Ich glaube, nicht. ({1}) Ich möchte mich an dieser Stelle, auch im Namen meiner Fraktion, von den Beschuldigungen, die gestern in diesem Hause erhoben und von der Bundestagsvizepräsidentin nicht gerügt wurden - es hieß, der Bundesminister der Verteidigung sei ein Hochstapler -, ausdrücklich distanzieren. Das ist nicht der Stil der Auseinandersetzung, der in diesem Hause gepflegt werden sollte. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir beraten heute in erster Lesung das Wehrrechtsänderungsgesetz. Ich bedaure sehr, dass dieses wichtige Thema, eine historische Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr, heute wieder benutzt wird, um zu versuchen, Menschen, die sich gestern auch hier im Parlament sehr klar und deutlich zu ihren Fehlern bekannt haben, zu diskreditieren. ({3}) - Wissen Sie: Lautstärke alleine ersetzt die Argumente nicht. ({4}) Ich darf darauf zurückkommen: Wir reden heute über das Wehrrechtsänderungsgesetz. Wir müssen für die Zukunft der Bundeswehr junge Männer und Frauen davon überzeugen, dass der Bundestag hinter ihnen steht, dass wir im Hinblick auf die Streitkräfte eine Freiwilligenkultur befürworten. ({5}) Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Positives sagen. Der Kollege Dr. Bartels hat gestern im Verteidigungsausschuss einen sehr bedenkenswerten und diskussionswürdigen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt: Wir als Parlament sollten uns über die Parteigrenzen hinweg zur Freiwilligenkultur in diesem Lande bekennen. ({6}) Wir sollten eine Debatte darüber führen, wie wir die Freiwilligenkultur stärken können. Da die SPD-Fraktion immer Befürworter einer Aussetzung der Wehrpflicht gewesen ist, ({7}) sage ich Ihnen: Das tun wir heute. Wir schaffen heute die Voraussetzungen dafür, dass die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen in der Welt bewältigt werden können. ({8}) - Hören Sie doch einfach einmal zu! Ich bin ganz bei der Bundeskanzlerin, wenn sie sagt, dass solide Haushalte eine wesentliche Grundlage für die Sicherheit von Staaten sind. ({9}) Das kann man auch in anderen Staaten feststellen. Nicht umsonst haben unsere amerikanischen Verbündeten in ihrer nationalen Sicherheitsstrategie festgestellt, dass die Solidität von Haushalten ein entscheidender Parameter für die Sicherheit ist. ({10}) Wir müssen jetzt gemeinsam versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es ist kein Fehler, wenn wir auch vom Bundesminister der Verteidigung Einsparungen verlangen. ({11}) Die Fragen lauten: Auf welchem Wege und auf welcher Zeitachse? Wir als FDP-Fraktion haben uns immer sehr deutlich dazu positioniert und gesagt: Ja, wir möchten die Einsparungsziele erreichen, aber in einem anderen Zeitrahmen als dem, den sich Teile der Bundesregierung vorstellen. Das ist legitim, darüber müssen wir diskutieren, und wir werden auch zu einem Ergebnis kommen. Meine Damen und Herren, es ist eben sehr deutlich dargestellt worden, dass uns letztendlich bestimmte äußere Rahmenbedingungen zu der Entscheidung, die wir heute im Plenum treffen, geführt haben. Die demografische Entwicklung macht es schwerer, die Wehrpflicht so zu organisieren, wie es sich der Verfassungsgeber damals vorgestellt hat. Wir haben eine neue sicherheitspolitische Lage, die Streitkräfte erfordert, die kleiner sind, die schmaler sind, die flexibler sind. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen: Das ist keine Herausforderung, der sich die Bundesrepublik alleine stellen muss. Das ist eine Herausforderung, die alle Staaten betrifft. Wenn Sie sich die Situation in Deutschlands Nachbarstaaten und jenseits des Atlantiks anschauen, stellen Sie fest: Die Streitkräfte unterliegen zurzeit überall einer Neubewertung, einer Neubeurteilung. Wir müssen einen Spagat schaffen: zwischen einer finanziellen Konsolidierung und einer vernünftigen und auch belastbaren Sicherheitspolitik und Landesverteidigung. Dem versuchen wir Rechnung zu tragen. Ich denke, es ist hier im Hause auch Konsens, dass wir junge Männer und Frauen zukünftig nur dann für den Dienst in den Streitkräften gewinnen können, wenn er attraktiv ist. Meines Erachtens kommen zu den Punkten, die der Minister eben sehr richtig dargestellt hat, weitere Aspekte hinzu. Die freie Wirtschaft und die Bundeswehr dürfen auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft nicht in Form eines Gegeneinanders um junge Männer und Frauen konkurrieren, sondern man sollte versuchen - ich darf es einmal so sagen -, Arbeitsbiografien aufzubauen. Die Bundeswehr sollte einen Teil der Ausbildung junger Männer und Frauen übernehmen, sodass sie später die Möglichkeit haben, auch in der Wirtschaft ein Auskommen zu finden. Dafür tragen wir auch Verantwortung. Ich glaube, Herr Minister, dass Sie in diese Richtung recht bald Initiativen ergreifen werden. Meine Damen und Herren, wir dürfen mit Blick auf die Attraktivität unserer Streitkräfte auch folgende Fragen nicht außer Acht lassen: Was passiert mit den Soldatinnen und Soldaten, wenn sie aus einem Einsatz zurückkommen, wenn sie verwundet oder traumatisiert sind? Was passiert mit den Hinterbliebenen, wenn gefallene Soldaten zu beklagen sind? Auch hier müssen wir als Gesellschaft und als Deutscher Bundestag die richtigen Eckpunkte und Rahmenbedingungen setzen, damit Eltern und Familien die Bundeswehr als attraktiven Arbeitgeber ansehen und ihre Kinder ermuntern, den Dienst an der Waffe für das Vaterland aufzunehmen. Die Diskussionen, die wir in den letzten Wochen führen, führen bestimmt nicht dazu, dass die Streitkräfte attraktiver werden. Diese Diskussionen führen bestimmt nicht dazu, dass junge Männer und Frauen sich aufgerufen fühlen, diesem Land zu dienen. Ich persönlich - und ich denke, ich spreche auch im Namen meiner Fraktion und unseres Koalitionspartners - bin stolz auf unsere Streitkräfte, auf das, was sie jeden Tag dort, wo wir sie hinschicken, leisten. Deshalb ist es notwendig, dass wir die Tür öffnen und entsprechende Möglichkeiten schaffen, damit die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber wird. Auch wir als Parlament müssen unseren Beitrag dazu leisten. Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung und nicht alleine die Herausforderung an einen Minister. Du lieber Gott! Wer als einzelne Person kann eine solche Reform stemmen? ({12}) Das ist unser aller Aufgabe. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe. ({13}) Wenn wir wollen, dass die Bundeswehr zur Freiwilligenarmee wird, dann müssen wir alle auch dazu beitragen, dass das Ansehen der Bundeswehr gesteigert und ihre Zukunft gesichert wird, damit junge Männer und Frauen mit Freude Dienst an der Waffe tun. Wir als FDP-Fraktion werden Sie, Herr Minister zu Guttenberg, nach Kräften dabei unterstützen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung plant, das Wehrpflichtgesetz zu ändern, und will damit die rechtliche Umwandlung der alten Wehrpflichtigenarmee in eine Armee aus Zeit- und Berufssoldaten vollenden. Deswegen wird die Wehrpflicht ausgesetzt. Die Linke ist gegen jede Form von Zwangsdiensten - das betrifft auch die Wehrpflicht. ({0}) Schon die Aussetzung der Wehrpflicht befreit jährlich Tausende junger Männer von einem erzwungenen Militärdienst. Das begrüßen wir, auch wenn wir eigentlich die Abschaffung der Wehrpflicht wollen. ({1}) Aber wir können dieses Gesetz nicht ohne den eigentlichen Zweck bewerten, zu dem die Bundesregierung das Gesetz ändern möchte. Herr zu Guttenberg hat keinen Zweifel daran gelassen: Es geht darum, die Bundeswehr schlagkräftiger und einsatzfähiger zu machen. Aber mich wundert doch, dass in dieser Debatte noch keiner davon gesprochen hat, dass drei Soldaten, die sich in einem dieser Einsätze befunden haben, am letzten Freitag getötet wurden. ({2}) Herr zu Guttenberg bringt zu Ende, was in den 90erJahren unter der Kohl-Regierung begann: Damals wurde die Absicherung des Zugangs zu Rohstoffen und Absatzmärkten offiziell zur Aufgabe der Verteidigungspolitik erklärt. Seitdem haben Minister von CDU/CSU und SPD die Bundeswehr in zahllosen Umstrukturierungen Schritt für Schritt zu einer Einsatzarmee umfunktioniert. Heute gilt der Krieg nicht mehr als letztes Mittel zur Landesverteidigung - Krieg ist Dauerzustand. Die Linke ist gegen diese Kriege. ({3}) Wehrpflicht ist Zwang. Aber Zwang wird nicht nur durch eine gesetzliche Wehrpflicht ausgeübt. Wo Armut herrscht, herrscht Zwang, Zwang, seine soziale Not zu überwinden. Das wollen Sie ausnutzen. Schon heute dienen in Auslandseinsätzen überproportional viele Soldaten aus strukturschwachen Regionen. 2009 stammte etwa die Hälfte der Soldaten aus Ostdeutschland. Dieses Ungleichgewicht verstärkt sich im Einsatz, wie man an den Dienstgraden erkennen kann: Während 62 Prozent der Mannschaftsdienstgrade aus Ostdeutschland kommen, sind nur 16 Prozent der Stabsoffiziere und 0 Prozent der Generäle aus dem Osten. ({4}) Alle drei Bundeswehrsoldaten, die am 23. Juni 2010 bei einem Feuergefecht getötet wurden, kamen aus Ostdeutschland. Einer von ihnen hatte einen Migrationshintergrund; über einen weiteren sagen seine Freunde, dass er nur zur Bundeswehr gegangen ist, weil er keine andere Arbeit gefunden hat. ({5}) Das ist aber kein spezifisch ostdeutsches Problem. Von 328 Hamburgern, die Anfang 2007 ihren freiwilligen Dienst antraten, waren 107 zuvor arbeitslos. Sie meldeten sich freiwillig und sahen die Bundeswehr als Sprungbrett, das sie aus der eigenen Misere herauskatapultiert. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr stellt fest - ich zitiere -: Je höher die Arbeitslosigkeit, desto größer ist das Interesse an einer beruflichen Tätigkeit bei der Bundeswehr. Das Verteidigungsministerium will nun - ich zitiere „künftig verstärkt auch junge Menschen mit unterdurchschnittlicher schulischer Bildung beziehungsweise ohne Schulabschluss personalwerblich“ ansprechen. Sie zielen besonders auf Soldaten für Auslandseinsätze und besonders auf untere Dienstgrade im Heer. In zunehmendem Maße bekommen wir amerikanische Verhältnisse. Im Klartext heißt das: Die Armen werden zum Kanonenfutter. Diese Entwicklung machen wir nicht mit. ({6}) Glücklicherweise lehnen rund 80 Prozent der Menschen in Deutschland die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan ab. Um trotzdem genügend Rekruten für den Krieg zu finden, unternimmt die Bundesregierung große Anstrengungen. Die Bundeswehr schließt Abkommen mit Arbeitsagenturen und richtet dauerhafte Vertretungen in Jobcentern ein. Gestern wurde im Verteidigungsausschuss eine großangelegte Werbekampagne in sogenannten jugendaffinen Medien angekündigt. Genannt wurden unter anderem Jugendsender, die Bild und www.bild.de. Die Bundeswehr setzt außerdem fast 100 hauptamtliche und 300 nebenamtliche sogenannte Jugendoffiziere ein. Diese haben im Jahr 2009 in über 4 000 Vorträgen weit mehr als 100 000 Schüler angesprochen. Mittlerweile haben die Wehrbereichskommandos in sieben Bundesländern Abkommen mit den Kultusministerien abgeschlossen, die den Zugang der Jugendoffiziere zu den Schulen ermöglichen. ({7}) Die Bundeswehr druckt Unterrichtsmaterialien und bietet Seminare für Lehrpersonal an. Die Zahl der teilnehmenden Referendarinnen und Referendare wuchs von 50 im Jahr 2003 auf über 1 000 im Jahr 2009. Der hier von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes sieht vor, dass die Kreiswehrersatzämter zu Rekrutierungsbüros umfunktioniert werden sollen. Sie sollen alle Personen anschreiben, die in einem Jahr 18 Jahre alt werden, um ihnen die Vorzüge der Bundeswehr als Arbeitgeber deutlich zu machen. Diese Werbung für den Kriegsdienst lehnen wir ab. ({8}) Die richtigen Maßnahmen im Interesse sowohl der Soldaten als auch der vielen jungen perspektivlosen Menschen lauten: nicht Kriegseinsätze, sondern Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan, ein Ende der Auslandseinsätze und ein Programm, das ausreichend zivile Ausbildung und Arbeitsplätze schafft. Das ist die Perspektive, für die die Linke steht. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Malczak für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Eine Frage der Ehre“: So wirbt das Wachbataillon der Bundeswehr in Berlin in der U-Bahn um Nachwuchs. In der Tat, mit der Aussetzung der Wehrpflicht ist eine entscheidende Frage verbunden: Wer kommt zukünftig zur Bundeswehr - sind es die Menschen mit dem Charakter und den Fähigkeiten, die wir uns dort wünschen? Mit der Antwort auf diese Frage wird die Bundeswehrreform, deren zentraler Baustein die Aussetzung der Wehrpflicht ist, scheitern oder gelingen. Um diese Herausforderung zu bewältigen, müssen die Menschen in der Bundeswehr ihrem Dienstherrn aber vertrauen können. Sie müssen glauben können, dass er weiß, was er tut, und dass er zu dem steht, was er sagt. Herr Minister zu Guttenberg, wie die Menschen Ihnen jetzt noch vertrauen sollen, weiß ich wirklich nicht. ({0}) Was Sie gestern hier abgeliefert haben, war alles andere als eine Sache der Ehre. Im System Guttenberg hat eine Aussage wenig Wert. Sie sagen selbst: Ihre Maßstäbe sind Klarheit und Wahrheit. Allerdings hat Ihre Klarheit ein sehr begrenztes Haltbarkeitsdatum, und Ihre Wahrheit von heute ist Ihre Unwahrheit von morgen. ({1}) Im System Guttenberg war ein Tanklasterbombardement an dem einen Tag unvermeidlich und am anderen Tag ein Fehler. ({2}) Der Kapitän der „Gorch Fock“ wird an dem einen Tag nicht vorverurteilt, am nächsten entpflichtet und am übernächsten aus Fürsorge beschützt. An dem einen Tag sparen Sie durch die Bundeswehrreform Milliarden; am anderen Tag brauchen Sie zusätzliche Milliarden, um die Reform durchführen zu können. Im System Guttenberg halten Sie an dem einen Tag an der Wehrpflicht fest und schaffen sie am nächsten Tag ab. ({3}) Das Wort gilt im System Guttenberg nichts. Stattdessen gilt das Vorrecht des Verteidigungsministers, einen Betrug zu begehen, ohne die Konsequenzen zu tragen. Schneiderhan, Wichert, Schatz: Bei anderen sind Sie sehr schnell dabei, Konsequenzen zu ziehen, nur bei sich selbst nicht. ({4}) Sie kleben bis zur maßlosen Selbsterniedrigung an Ihrem Amt. Ihr Schauspiel seit dem letzten Mittwoch war ziellos und würdelos. Für mich war der vorläufige Gipfel der Unverschämtheiten gestern erreicht, als Sie Ihren Umgang mit Fehlern noch als Vorbild verkaufen wollten. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass wir heute einen anderen Tagesordnungspunkt behandeln. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme noch darauf zu sprechen, warum das miteinander zusammenhängt. Der Minister hat beschlossen, es auszusitzen; dann muss das jetzt auch ausgehalten werden. Wie sollen Ihnen die Menschen in der Bundeswehr noch vertrauen? Wie sollen sie Ihnen noch folgen? Dass die Wehrpflichtarmee sicherheitspolitisch die falsche Wehrform ist, war nämlich schon lange klar. Seit Jahren fordern wir Grünen die Abschaffung der Wehrpflicht und die Einführung eines freiwilligen Wehrdienstes. Auch hier haben Sie abgekupfert. Aber anders als bei Ihrer Doktorarbeit kritisieren wir Sie hier nicht für die Aussetzung der Wehrpflicht, wohl aber für die Umsetzung. ({0}) Ihre Einsicht in die Notwendigkeit, die Wehrpflicht abzuschaffen, beruht eben nicht auf sicherheitspolitischen Überlegungen. Ihre Entscheidung für die Freiwilligenarmee ist keine aus Überzeugung, sondern eine aus Geldnot. Statt von Anfang an das Richtige zu tun, haben Sie mit der Wehrdienstverkürzung auf sechs Monate ein Jahr verplempert. Diese Zeit fehlt Ihnen heute. Lieber Herr Gabriel, die Reform zu verschieben, kann auch keine Lösung sein; denn sie kommt eher zu spät als zu früh. Bei dem gesamten Umbauprozess haben Sie, Herr Minister, das Pferd von hinten aufgezäumt. Wenn man einen grundlegenden Wandel vornimmt, sagt einem doch der gesunde Menschenverstand, dass man zuallererst überlegen muss, welches Ziel man erreichen will. Der gesamte bisherige Prozess der Bundeswehrreform folgt keiner Logik. Wenn Sie logisch und überlegt vorgegangen wären, hätten Sie zuallererst die Frage beantwortet, welche Aufgaben und Grenzen das Militärische in der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands zukünftig haben soll. Doch diese Frage haben Sie sich nicht einmal gestellt. Damit machen Sie den zweiten Schritt vor dem ersten. ({1}) Ein weiterer Schritt eines solchen Reformprozesses ist die Frage der Kosten und der verfügbaren Finanzmittel. Ganz Musterknabe haben Sie bei den Verhandlungen über das Sparpotenzial bei der Bundeswehr vollmundig Einsparungen in Höhe von rund 8 Milliarden Euro in den nächsten Jahren versprochen. Nun fordern Sie sogar mehr Geld für die Bundeswehrreform, können aber auch auf wiederholte Nachfragen nicht sagen, wie viel genau. Der letzte Schritt einer solchen Reform ist die Umsetzung. Mit dieser haben Sie jetzt allerdings schon begonnen, noch ehe das Gesetz das Parlament überhaupt erreicht hat. Um Ihre volltönenden Ankündigungen wahr zu machen, musste die Aussetzung der Wehrpflicht nun im Hauruckverfahren erfolgen. Im Dezember haben Sie, Herr Verteidigungsminister, bereits die Anweisung erteilt, wonach in dieser Woche die letzten Wehrpflichtigen ihren Dienst angetreten haben. An dieser Stelle möchte ich allen jungen Menschen danken, sowohl denen, die in den letzten Jahrzehnten Wehrdienst und Zivildienst geleistet haben, als auch den vielen, die sich für ein Freiwilliges Soziales, Ökologisches oder Kulturelles Jahr entschieden haben. ({2}) Doch selbst mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, sind noch lange nicht alle Herausforderungen rund um die Aussetzung der Wehrpflicht geregelt. Von der Nachwuchsgewinnung über die Ausbildung bis zur Verwendung der freiwilligen Wehrdienstleistenden sind noch unzählige Fragen offen, die beantwortet werden müssen. Unzählige Beispiele zeigen, dass nicht nur das Wort des Herrn Doktor zu Guttenberg, sondern auch das Wort des Verteidigungsministers zu Guttenberg nichts wert ist, zum Schaden für die Bundeswehr, die bis heute nicht weiß, ob all Ihre großartigen Vorschläge überhaupt nur im Ansatz finanzierbar sind und ob Sie diese auch morgen noch vertreten. In den vergangenen Tagen wurde aus den Reihen der Union immer wieder gesagt, Sie würden Ihr Amt als Verteidigungsminister so gut führen, dass man Ihnen persönliche Verfehlungen nachsehen müsse. Die derzeit größte Herausforderung für die Bundeswehr - die Reform ebendieser - ist nur ein Beispiel dafür, dass diese Verteidigungslinie - verzeihen Sie mir das Zitat - „abstrus“ ist. Herr Verteidigungsminister zu Guttenberg, Sie sind ein Pfuscher. Sie haben nicht nur bei Ihrer Doktorarbeit gepfuscht. Sie sind gerade dabei, die Aussetzung der Wehrpflicht und die ganze Bundeswehrreform zu verpfuschen. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Grunde über eine Vielzahl von Themen zu diskutieren, die alle miteinander verbunden sind: die Diskussion über die Sicherheitspolitik Deutschlands in Fortsetzung des Weißbuches 2006, die Priorisierung der Rüstungsvorhaben, die Konsolidierung des Bundeshaushalts, die Strukturreform der Bundeswehr und die Standortentscheidungen. Heute stehen auf unserer Tagesordnung zwei Gesetzentwürfe, die vor allem für junge Menschen in unserem Land und ihr Verhältnis zur Gesellschaft eine ganz neue Chance darstellen: das Wehrrechtsänderungsgesetz und das Gesetz zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes. Zu all dem haben Sie wenig gesagt, Herr Gabriel und Frau Malczak. ({0}) Sie sind stillos und haben heute einfach das Thema verfehlt. ({1}) Zurück zum eigentlichen Thema. Soldatin oder Soldat soll künftig nur werden, wer sich freiwillig dafür entscheidet. Ergänzend dazu wollen wir mit dem Bundesfreiwilligendienst eine weitere Möglichkeit schaffen, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Es gab noch nie so viel Freiwilligkeit in Deutschland. Die Aussetzung der Wehrpflicht ist für viele von uns, insbesondere in der CDU/CSU, eine schwierige, wenn nicht gar schmerzhafte Entscheidung gewesen. Ich selbst habe wie viele andere hier im Haus Wehrdienst geleistet, und zwar aus Gewissensgründen. Die Wehrpflicht hat sich bewährt. Das Bild des Staatsbürgers in Uniform wird mit einer Wehrpflicht gut deutlich. Arme und reiche, gebildete und bildungsferne Menschen mit und ohne Migrationserfahrung leisten gemeinsam Wehrdienst. Viele junge Menschen haben durch den Wehrdienst einen unmittelbaren Eindruck von der Bundeswehr gewinnen können und sind nicht auf die oft verzerrten Darstellungen in den Medien angewiesen, die von extremen Einzelfällen berichten. Aber auch viele Mütter, die Olivzeug und Flecktarn gewaschen haben, und viele Freundinnen, die am Wochenende gewartet haben, haben sich eng mit der Bundeswehr verbunden. Ich möchte allen, die Wehrdienst geleistet haben, und auch allen Familienangehörigen ganz herzlich dafür danken. ({2}) Wenn wir uns nun von dieser langjährigen und bewährten Institution trennen, macht sich Wehmut breit bei vielen in Deutschland, aber zu meiner Überraschung auch bei der taz; von ihr hätte ich es am wenigsten erwartet. Die taz hat in einem Bericht geschrieben, die Wehrpflicht sei ein Mittel gegen schlechten Korpsgeist und Abschottung; von daher sei die Aussetzung zu bedauern. Das ist sicherlich berechtigt, weil sich der Wehrdienst, den ich übrigens nicht als Zwangsdienst, Frau Buchholz, sondern als Pflichtdienst bezeichnen würde, in der Vergangenheit zweifellos bewährt hat. Aber gerade das Bewährte des Wehrdienstes bzw. der Wehrpflicht wollen wir behalten: den Staatsbürger in Uniform, das Prinzip der Inneren Führung, die Offenheit der Bundeswehr für alle gesellschaftlichen Schichten und die verantwortungsvollen Entscheidungen über Einsätze im Ausland. Art. 12 a des Grundgesetzes schränkt die Grundrechte ein. Das bedarf einer starken Begründung. Wir können feststellen, dass die Gründe, die vor rund 200 Jahren die preußischen Heeresreformer um Scharnhorst und Gneisenau dazu bewogen haben, eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen, und die Gründe, die vor rund 50 Jahren zur Wiedereinführung der Wehrpflicht geführt haben, heute so nicht mehr vorliegen. Die Bedrohungslage hat sich geändert. Mittlerweile haben wir es verstärkt mit Einsätzen zur internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung und einem neuen Typus militärischer Aufgaben zu tun. Europa ist enger zusammengewachsen. Erbfeinde gibt es nicht mehr. Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind wir nur von Freunden und Verbündeten als Nachbarn umgeben. ({3}) Für uns bleibt der Grundsatz der wehrhaften Demokratie, unabhängig von der Wehrform. Es bleibt auch die Verantwortung der ganzen Gesellschaft für die Sicherheit unseres Landes und den Frieden in der Welt. Dies kann nicht auf einige wenige delegiert werden. Die Wahl zwischen den verschiedenen Wehrformen, also die Wahl zwischen Wehrpflichtarmee und Freiwilligenarmee, ist eine staatspolitische Ermessensentscheidung, bei der der Gesetzgeber neben sicherheits- und verteidigungspolitischen Aspekten haushalts-, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gesichtspunkte einbeziehen muss. Außerdem geht es heute - viele Vorredner haben darauf hingewiesen - nicht um die Abschaffung, sondern um die Aussetzung der Wehrpflicht. Der Blick in die Geschichte, auch in die unseres Landes, zeigt, wie schnell sich die sicherheitspolitische Lage ändern kann; das gilt auch für gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Darum kommt es zu einer Aussetzung und nicht zu einer Abschaffung der Wehrpflicht. Ebenso wie Art. 12 a Grundgesetz bleibt das Wehrpflichtgesetz als solches bestehen und garantiert damit die Rekonstitutionsfähigkeit der Wehrpflicht. Zwei Wege ermöglichen, den Wehrdienst als Pflichtdienst wieder einzuführen: automatisch bei Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls und einfachgesetzlich, wenn das heutige Gesetz wieder abgeändert wird, zum Beispiel, wenn die Bundeswehr ihren Bedarf nicht anders decken kann. Eine wichtige Herausforderung wird sein, dass wir viele junge Menschen für eine Laufbahn bei der Bundeswehr gewinnen. Dabei müssen wir die geeignetsten Bewerber auswählen können. Diese Aufgabe ist und wird nicht einfach. Wichtig sind die richtigen ideellen und materiellen Anreize. Das Maßnahmenpaket - 82 Maßnahmen! - zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr wurde bereits ausgearbeitet. Herr Gabriel, ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie diese Details vielleicht nicht kennen. ({4}) Ich unterstreiche: Es gibt bereits 82 Maßnahmen, durch die die Attraktivität der Bundeswehr gesteigert werden kann. ({5}) Dieses Maßnahmenpaket muss nun priorisiert und in der Tat finanziell unterlegt werden. Damit die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiv ist, braucht es interessante Arbeitsplätze mit vielfältigen Fortbildungsmöglichkeiten und Qualifizierungen, die auch zivil genutzt werden können. Auch soziale Rahmenbedingungen sind für die Attraktivität eines Berufs entscheidend. Dazu zählen die Vereinbarkeit von Dienst und Familie, die Kinderbetreuung, anständige Rahmenbedingungen für Fernpendler, auch richtige Standortentscheidungen. Aus strukturpolitischen Gesichtspunkten wird oft auf die Standorte im ländlichen Raum verwiesen. Wir brauchen aber auch Standorte in Ballungsräumen. Für viele Soldatinnen und Soldaten und ihre Angehörigen ist es wichtig, in einem Ballungsraum stationiert zu sein, weil dort zum Beispiel der Ehemann oder die Ehefrau die Möglichkeit hat, berufstätig zu sein, weil Kinder dort zur Schule gehen können etc. Neben einer erfolgreichen Personalgewinnung ist die Bundeswehr auch in Zukunft auf die Reservisten angewiesen. Wichtig ist daher, dass wir zukünftig stärker das Potenzial der Reservisten ausschöpfen. Die Aufforderung des Reservistenverbandes „Tu was für dein Land!“ möchte ich ergänzen: Tu etwas für dein Land, tu etwas für dich - als Freiwilliger! ({6}) - Herr Gabriel, es ist richtig: Ich komme aus einem Ballungsraum in der Nähe von Stuttgart. ({7}) Aber die drei Standorte in meinem Wahlkreis und auch sämtliche Standorte in allen umliegenden Wahlkreisen sind im Grunde längst aufgelöst. ({8}) Daher habe ich hier keine eigenen Interessen. Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 ist Teil einer umfassenden Reform der Bundeswehr, deren Ziel es ist, dafür zu sorgen, dass unsere Bundeswehr ihre Aufgaben künftig gut erfüllen kann. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ulrich Meßmer ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hoff, ich will deutlich sagen: Vertrauen herstellen ist ja wohl etwas, was man - nicht nur in dieser Situation nicht in erster Linie von der Opposition fordern kann; vielmehr ist das Herstellen von Vertrauen in die Handlungsfähigkeit einer Regierung zuallererst Aufgabe der Regierung und der beteiligten Personen. Wir äußern hier die Sorge darüber, ob dies in Zukunft gegenüber den Soldatinnen und Soldaten noch gewährleistet werden kann, vor allen Dingen aber gegenüber einer jungen Generation, für die der Dienst in der Bundeswehr auch dank der in Angriff genommenen Gesetzesvorhaben attraktiv werden soll. ({0}) Wir haben daran einige Zweifel. Eines möchte ich gleich klarstellen: Die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz werden sich auch in Zukunft darauf verlassen können, dass wir das, was für den Einsatz erforderlich ist, mittragen. Das war in der Vergangenheit so. Das war nicht nur das Verdienst des jetzigen Ministers, bei dem man nicht weiß, wie lange er noch Minister ist, sondern das war auch das Verdienst dieses Parlaments. Wir werden dafür sorgen, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird. ({1}) Zweite Bemerkung: Mit Blick auf den notwendigen Konsens hinsichtlich des Systems der Freiwilligkeit und auf die Frage, wie man das Modell bekannt machen kann, reicht es nicht, allein auf die Initiative „Tu was für dein Land!“ und auch darauf hinzuweisen, dass man das als Parlament gemeinsam machen will. Wir vermissen Aussagen dazu, wie die Opposition dort konkret eingebunden werden soll. Wir haben mehrfach angeregt und gefordert - auch ich habe das von dieser Stelle aus schon getan -, einen Unterausschuss „Attraktivität der Bundeswehr“ und einen Unterausschuss „Strukturreform der Bundeswehr“ einzurichten. Das ist ignoriert worden. Ich weiß nicht, warum, aber es ist ignoriert worden. Es reicht nicht aus, sich hinsichtlich der Freiwilligkeit darauf zu berufen, dass man einen Teil der Vorschläge der SPD dankenswerterweise in die 82 Punkte aufgenommen hat, die angesprochen worden sind. Ich meine vielmehr, wir hätten ein Recht darauf, darüber zu diskutieren und dies insgesamt zu gewichten. Letzter Punkt: Das System der Freiwilligkeit wird ohne finanzielle Unterfütterung langfristig nicht funktionieren. Wir bleiben dabei - mein Kollege Gabriel hat gerade schon darauf hingewiesen -: Wenn eine Armee im Wettstreit mit anderen Einrichtungen und Betrieben attraktiv für junge Menschen bleiben will, dann ist es notwendig, glaubwürdig deutlich zu machen, was der Dienst in der Bundeswehr für junge Menschen und deren Familien bedeutet, und die Maßnahmen entsprechend finanziell zu unterlegen. Ich prophezeie schon an dieser Stelle, dass es sich mit den Ankündigungen zum Sparhaushalt wahrscheinlich genauso wie mit dem Doktortitel verhält: Das Sparziel in Höhe von 8,3 Milliarden Euro wird zwar groß angekündigt, aber dann verabschiedet man sich Schritt für Schritt davon. Ich sage schon jetzt: Wer nicht daran denkt, dass auch ein Freiwilligendienst eine Anschubfinanzierung braucht - wir rechnen mit einer Größenordnung von 1 Milliarde Euro -, und das im Haushalt nicht abbildet, der wird auch in dieser Frage ein Desaster erleben. Wir möchten das vermeiden. Wir bieten abschließend an, darüber zu reden, was sinnvoll und notwendig ist. Das bedeutet aber auch - Herr Minister Schäuble ist gerade hier -, dass sich das im Haushalt wiederfinden muss. Wir können den Soldaten und den jungen Menschen nicht sagen: „Wir tun etwas für euch“, und gleichzeitig darauf hinweisen, dass wir kein Geld haben. Das wird nicht funktionieren, und schon gar nicht mit Sozialdemokraten. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Spatz für die FDP-Fraktion. ({0})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal sind wir froh darüber, dass eine über zehn Jahre alte Forderung der FDP, nämlich die Aussetzung der Wehrpflicht, jetzt endlich realisiert werden kann. ({0}) Wir haben sehr viel Verständnis dafür, dass sich der eine oder andere damit schwergetan hat; denn die Wehrpflicht hat in der Zeit, in der sie gegolten hat, in Deutschland und auch in weiten Teilen Europas ihren Dienst für die Sicherheit, aber auch für die gesellschaftliche Kohärenz in den Ländern geleistet. Es besteht die Gefahr, dass mit dem Wegfall dieses Pflichtdienstes der Pflichtgedanke überhaupt infrage steht. Deshalb ist es wichtig, dass wir eine Kultur der Freiwilligkeit befördern, wie es unter anderem vom Bundeswehrverband, aber auch von weiten Teilen der sozialen und ökologischen Verbände und Einrichtungen zum Ausdruck gebracht worden ist. Es hat Zeit gebraucht, Frau Malczak, jeden mitzunehmen; das ist richtig. Aber ich halte das für keine vergeudete Zeit. Im Gegenteil: Wenn wir es schaffen - wir haben es bereits geschafft -, dass sehr viele gesellschaftliche und parlamentarische Kräfte diesen Umbau jetzt gestalten, dann ist das ein Fortschritt und kein Rückschritt. Es wird denjenigen helfen, die in der Bundeswehr davon betroffen sein werden. ({1}) Genauso wird es - das möchte ich gerade in Ihre Richtung, Frau Malczak und Herr Gabriel, sagen - in einer Debatte um den Bundesminister helfen, in der die Opposition natürlich das Recht hat, Fragen zu stellen. Wenn wir in der Auseinandersetzung einen Stil pflegen, der dem, was wir wollen, nämlich die Attraktivität zu steigern, nicht Hohn spricht, dann können Sie Ihre Fragen stellen ({2}) und Ihre Diskussionsbeiträge machen, wie Sie das möchten, allerdings in einer Art und Weise, die der Bedeutung des Themas gerecht wird, das heute Morgen auf der Tagesordnung steht, nämlich der größte Umbau in der Geschichte der Bundeswehr. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn ich mich in den Reihen der Koalition umschaue, könnte man glatt meinen, dass das nicht die größte Reform ist, die im Bereich des Bundesministers der Verteidigung stattfindet. ({0}) Wie interpretieren Sie das als Koalitionsabgeordnete? Ist das ein Signal, dass sich die Koalition eigentlich bereits vom Verteidigungsminister verabschiedet hat? Im Plenum hat sie es bereits getan. Wir würden im Moment jede Abstimmung gewinnen. ({1})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Beck, ich verstehe, dass Sie sofort versuchen, Ihre Schlüsse zu ziehen. Ich bedauere wirklich, dass bei der Fachdebatte heute in allen Parteien - auch bei Ihnen - weniger Kollegen anwesend sind, als das gestern der Fall war. ({0}) Wenn wir in Bezug auf die Bundeswehr vom Einsatz her denken, müssen wir auch von den Soldaten her denken. Deshalb ist das Thema „Attraktivitätssteigerung“ mit den 82 vorgelegten Punkten ein richtiger Ansatz. Zwei Themen will ich allerdings noch ansprechen, die in der Debatte eine Rolle spielen und die der Klarstellung bedürfen: Erstens. Das Argument „Leichter einsetzbar, weil keine Wehrpflichtarmee“ trägt überhaupt nicht. Der Bundestag wird auch in Zukunft bei jeder Entscheidung sehr genau darauf achten, wo, in welchem Umfang und mit welchen Einsatzregeln die Bundeswehr eingesetzt wird. Alles andere ist nicht möglich; wir werden keine Freiwilligen bekommen, die sich für irgendwelche politischen Abenteuer zur Verfügung stellen. ({1}) Zweitens. Das Thema „Sparen“: Es ist wohlfeil von der Opposition, mehr Geld zu fordern. Lassen Sie sich aber gesagt sein: Wenn Sie das Thema „Ganzheitliche Sicherheit“ ernst nehmen, dann wird Ihnen nicht entgangen sein, dass wir auch Geld brauchen, um zivile Kapazitäten aufzubauen. Dann wird Ihnen auch nicht entgangen sein, dass wir gerade in Nordafrika wirtschaftlich gefragt sein werden, um auf zivile Art und Weise Stabilität zu erzeugen. ({2}) Wenn Sie die Situation ganzheitlich sehen, dann können Sie nicht einfach die Einsparungsziele gegen das aufrechnen, was wir vermeintlich an militärischer Sicherheit gewinnen. Deshalb gibt es in ganzheitlichem Sinne keine Sicherheit nach Kassenlage. Was die Bundeswehr im Einsatz benötigt und was wir für die Attraktivitätssteigerung brauchen, wird sicher auch von der Regierung und den Parteien der Koalition zur Verfügung gestellt werden. Danke schön. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Minister der Verteidigung hat im März vergangenen Jahres gesagt: „Mit mir ist eine Abschaffung der Wehrpflicht nicht zu machen.“ Im Mai letzten Jahres hat er noch einmal begründet, warum die Wehrpflicht sicherheitspolitisch notwendig ist. Im November hat er dann dargelegt, warum sie sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar ist. Die Frage lautet also: Was hat sich sicherheitspolitisch zwischen Mai und November letzten Jahres verändert? Die Antwort lautet: Nichts. Es hat allerdings etwas anderes gegeben, und zwar die Euro-Krise und den zweiten Teil des Bankenrettungspakets. Dies ging massiv zulasten der öffentlichen Kassen. Es war der stumme Zwang des allzu knappen Geldes, das Sie zu Eingeständnissen geführt hat, die man aus ideologischen Gründen lange abgeblockt hat. Das geschah leider zulasten Zehntausender junger Männer, die den Dienst an der Waffe nicht enthusiastisch geleistet haben. ({0}) „Sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen“ bedeutet, dass es keine direkte militärische Bedrohung Deutschlands gibt, und das auf absehbare Zeit. Das sagen Sie selber. Es handelt sich um Zeiträume von deutlich mehr als fünf Jahren. Man hätte die Sache aber gleich konsequent anpacken müssen. Das heißt: Die Wehrpflicht abschaffen statt sie nur auszusetzen. ({1}) Die Frage ist jetzt: Was kommt danach? Das fragen sich auch Tausende junger Männer und Frauen, die jetzt zum Glück anfangen können, zu studieren. Sie fragen sich: Sind entsprechende Vorkehrungen an den Hochschulen getroffen worden? Aber da passiert nichts. Hier müsste viel mehr investiert werden, um entsprechende Bedingungen zu schaffen. Das tun Sie aber nicht. Das Paul Schäfer ({2}) nenne ich chaotische Politik. Das hat mit Stringenz nichts zu tun. ({3}) Sie wollen jetzt den Zwangsdienst Wehrpflicht durch einen sogenannten freiwilligen Militärdienst ersetzen. Wenn man sich das näher anschaut, stellt man fest, dass sich dieser nicht so sehr von dem derzeit schon bestehenden Institut der freiwillig länger dienenden Rekruten unterscheidet. Die neuen Freiwilligen sollen nur ein bisschen mehr Geld bekommen und müssen noch nicht an den Militäreinsätzen im Ausland teilnehmen. Was an dieser neuen Konstruktion stört, ist, da es sich ja doch um eine Vorentscheidung für den Soldatenberuf handelt, dass Sie dieses jetzt mit dem ehrenamtlichen freiwilligen Engagement junger Menschen assoziieren bzw. verknüpfen. Hinzu kommt wohl noch, dass das noch ein bisschen patriotisch verklärt wird. Aber dass es sich eigentlich um etwas anderes handelt, wird daran deutlich, dass es keine Gleichstellung mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr gibt. Diejenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ machen, bekommen roundabout 400 Euro als Kostenerstattung und Taschengeld. Der anderen Gruppe wollen Sie 1 100 Euro zahlen. Und wieso darf der Bundesminister der Verteidigung alle, die bald die Volljährigkeit erreichen, anschreiben und zur Musterung einladen, die Familien- und Jugendministerin das aber nicht für die Freiwilligendienste tun? Das ist doch der Unterschied. Wenn man das schon so ins Gesetz schreibt, dann muss gelten: Gleiches Recht für alle. ({4}) Dann brauchen wir gleiche Bezahlung und gleiche Vergünstigungen. Daran werden wir Sie messen, ob Sie das machen. Ein Weiteres möchte ich noch klarstellen: Wir wollen - Sie werben ja jetzt viel -, dass Sie die Jugendlichen offen und ehrlich darüber informieren, was sie erwartet, damit sie sich mit Krieg und dessen Folgen auseinandersetzen können und nicht nur mit dem Argument geködert werden, es handle sich um einen spannenden Beruf in einem Hightech-Dienstleistungsunternehmen. Das wollen wir nicht. Sie bauen dieses Gesetz ja ein in die Neuausrichtung der Bundeswehr. Das ist gewissermaßen der erste Schritt dazu. Dazu können wir nur sagen: Die Gesamtrichtung stimmt nicht. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Sie hätten mit einer seriösen Bilanz der bisherigen Auslandseinsätze der Bundeswehr beginnen müssen, um daraus Schlüsse zu ziehen, ob wir uns künftig an solchen Militärinterventionen beteiligen oder nicht. Dann wäre man möglicherweise darauf gekommen, dass Afghanistan, und nicht nur Afghanistan, für künftige Bundeswehreinsätze keine Blaupause sein kann und sein darf. ({5}) Sie aber wollen den Auftrag an die Truppe in der Hinsicht nicht nur fortschreiben, sondern auch noch verschärfen. So habe ich Sie verstanden, Herr Bundesminister. Denn wer sagt, die Sicherung der Rohstoffquellen sei auch unter militärischen Gesichtspunkten zu sehen, und wer der Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen notfalls mit militärischer Gewalt das Wort redet, der verwechselt offensichtlich das Jahr 2011 mit 1911. Aber dahin wollen wir nicht zurück. ({6}) Wenn schon, dann wollen wir höchstens zurück zu einer Kultur strikter Zurückhaltung und zu einer Bundeswehr, die sich strikt am Zweck der Verteidigung orientiert. Ein solcher Kurswechsel ist angesagt, nicht Ihre Bundeswehrreform! Danke. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehöre zu denen, die in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts das zweifelhafte Vergnügen hatten, auch wenn das lebensgeschichtlich durchaus eine Bereicherung war, sowohl ein halbes Jahr in der Bundeswehr gedient wie auch nach erfolgter Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer meinen Zivildienst gemacht zu haben. ({0}) Wenn heute die Entscheidung getroffen wird, die Wehrpflicht auszusetzen, kann ich dazu nur sagen: Eine solche Entscheidung kommt in meinen Augen zehn Jahre zu spät. ({1}) - Sie kommt wenigstens, aber sie kommt übrigens auch nicht mutig. Mutig, Herr Minister zu Guttenberg, wäre es gewesen, die Wehrpflicht tatsächlich abzuschaffen. ({2}) Die Feststellung, die Sie getroffen haben, nämlich dass wir seit Jahren von Freunden umgeben sind, gilt im Grunde genommen seit 1989. Sie haben 20 Jahre gebraucht, aus dieser Erkenntnis Schlussfolgerungen zu ziehen. Angesichts der Tatsache, dass jetzt die Bundeswehr umgebaut werden soll, hätte diese Gesellschaft neben den notwendigen Debatten darüber, was das an Geld kostet und was das mit Blick auf Standorte an schmerzhaften Entscheidungen zur Folge hat, doch eigentlich eine große Debatte darüber verdient, zu welchem Zweck wir uns als Gesellschaft bewaffnete Streitkräfte in diesem Lande halten. Neben der guten Nachricht, dass wir aus dem Zeitalter der Blockkonfrontation heraus sind, gibt es auch eine unpopuläre Botschaft. Denn es ist so, dass auf diesem Globus weiterhin globale Risiken zu Staatszerfall und zum Zerfall von Gesellschaften führen. Es ist daher eine der zwingendsten und dringendsten Aufgaben der Weltgemeinschaft, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Bestandteil der Maßnahmen, dem entgegenzuwirken, ist zwar im Wesentlichen ein zunehmender Einsatz von zivilen Kräften, aber dazu gehört auch die Beteiligung von Militär. Die Botschaft, die Sie eigentlich aussenden müssen, wäre: Daran wird sich Deutschland leider auch künftig beteiligen müssen. Dafür brauchen wir hochqualifizierte, gut ausgebildete und gut ausgerüstete Soldatinnen und Soldaten. - Das ist eine unpopuläre Botschaft. Da kann man, Herr Minister, auch einmal Mut beweisen. ({3}) Die Frage ist aber, ob Sie dazu überhaupt noch in der Lage sind. Nimmt Ihnen angesichts des beispiellosen Schlingerkurses, den Sie in der Sache bei diversen Zwischenfällen in der Bundeswehr, aber auch in der Frage der Wehrpflicht an den Tag gelegt haben, überhaupt noch irgendjemand diese unpopuläre und schwierige Botschaft ab? ({4}) Es gibt allerdings - damit will ich schließen ({5}) eine Konstante in Ihrem politischen Wirken. Sie haben immer darauf geachtet, die Unterstützung der Bild-Zeitung, der Bild am Sonntag und von Bild.de zu haben ({6}) - Nein, ich rede insbesondere von diesen dreien. - Sie haben heute Morgen unterschlagen, dass im Onlineforum von Bild.de von den 640 000 Leuten, die abgestimmt haben, 55 000 Ihren Rücktritt gefordert haben, Herr Minister. ({7}) Der Unterstützung dieser Zeitung konnten Sie sich immer sicher sein. Jetzt finde ich es hochinteressant, an wen die Aufträge gehen sollen, mit denen um Freiwillige geworben werden soll, nämlich ausschließlich an Bild, BamS und Bild.de. ({8}) Eine Bundeswehrreform, die auf einem schmutzigen Deal mit der Springerpresse beruht, wird und kann nicht gelingen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen, wenigstens einen Satz zu dem Thema zu sagen, von dem die Opposition meint, sie müsse es weiter strapazieren: Getretener Quark wird breit, nicht stark. ({0}) Es ist wirklich schade, dass das wichtige Thema der Bundeswehrreform - das vorliegende Gesetz ist vielleicht das wichtigste Gesetz im Zusammenhang mit der Bundeswehr, das wir in dieser Legislaturperiode verabschieden - von Ihnen missbraucht wird, um eine Debatte zu führen, die eigentlich gestern, wie ich finde, ihren Abschluss gefunden hat. ({1}) Sie erweisen der Bundeswehr keinen guten Dienst, wenn Sie auf diese Weise fortfahren. Herr Gabriel, Sie haben dem Minister unterstellt, er würde hier die Bundeswehrreform unstrukturiert darstellen. Ich kann nur feststellen, dass der Minister bei seinem Amtsantritt vor 15 Monaten gesagt hat: ({2}) Ich werde innerhalb des Ministeriums eine Studie über die vorhandenen Reformbedürfnisse anfertigen lassen. Diese Studie hat er fristgerecht vorgelegt. Das war das Wieker-Papier. Er hat dann gesagt: Wir bilden eine externe Kommission - das war die Weise-Kommission -, sie wird ihre Ergebnisse bis zum Herbst vorlegen. - Sie hat ihre sehr guten Ergebnisse im letzten Herbst vorgelegt. Dann hat er angekündigt, dass er bis Ende Januar einen Vorschlag für die Struktur des Ministeriums und der nachgeordneten Behörden vorlegen wird. Er hat uns das Papier auf den Tag genau Ende Januar präsentiert. Weiter hat er angekündigt, einen entsprechenden Attraktivitätskatalog für die Bundeswehr vorzulegen. Er liegt dem Verteidigungsausschuss seit 14 Tagen vor. ({3}) Jetzt hat er angekündigt, zum 1. Juli ein Gesetz vorzulegen, die Wehrpflicht auszusetzen. Sie sehen am Zeitplan, dass das entsprechend möglich ist.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Malczak?

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Frau Malczak.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hardt, können Sie mir, wenn das alles so strukturiert abgelaufen ist, vielleicht noch mal erklären, was denn jetzt eigentlich der Sinn der Verkürzung des Wehrdienstes auf sechs Monate war und warum das dann vor dem Papier der Weise-Kommission als Maßnahme ergriffen wurde? ({0}) Das hat unheimlich viel gekostet. Es hat auch die Bundeswehr sehr strapaziert, das jetzt so schnell umzusetzen. Vielleicht können Sie mir einfach noch mal den Sinn erklären, warum man „W 6“ gemacht hat, um dann ein paar Monate später die Wehrpflicht auszusetzen. ({1})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann ich Ihnen genau sagen: Durch die Entscheidung, auf „W 6“ zu gehen, gibt es für die Wehrdienstleistenden zu den Einberufungsterminen, die jetzt zwischen dieser Umstellung und der entsprechenden Aussetzung der Wehrpflicht liegen, mehr Wehrgerechtigkeit. ({0}) Das war eines der gravierendsten Probleme. Ich glaube, dass es ein vernünftiger Schritt war, das so zu machen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das, was zum 1. Juli vorliegen wird - jetzt möchte ich zum Thema kommen, nämlich zur Aussetzung der Wehrpflicht -, einer der entscheidendsten Schritte der Bundeswehrreform sein wird, weil es natürlich in Bezug auf die Gewinnung von Zeit- und Berufssoldaten sowie von freiwillig Wehrdienstleistenden besondere neue Anforderungen an die Bundeswehr stellt. Zur Aussetzung der Wehrpflicht gibt es, wie ich finde, verfassungsrechtlich keine Alternative. Die einzig zulässige Begründung, um die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten, wäre, dass die Wehrpflichtigen einen unverzichtbaren Beitrag zur Verteidigung unseres Landes leisten. Das können wir heute in dieser Form nicht mehr nachweisen. Sich auf den Aspekt zu stützen, dass es gesellschaftspolitisch durchaus erwünscht ist, dass junge Menschen etwas für unsere Gemeinschaft tun, ist eben verfassungsrechtlich nicht haltbar. Dies schmerzt insbesondere viele von uns Christdemokraten. Diese Möglichkeit wollen wir durch die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes bzw. durch den Freiwilligendienst bei der Bundeswehr erhalten. In der Bundeswehr haben 8 427 288 Wehrpflichtige gedient. Wenn man denen persönlich die Hand schütteln wollte, wäre man sechs Monate lang Tag und Nacht damit beschäftigt. Deswegen möchte ich auch im Namen des Bundestages all denen herzlichen Dank sagen, die Wehrdienst geleistet haben. Ich möchte auch ausdrücklich denen Dank sagen, die im Zivildienst oder im zivilen Katastrophenschutz ihren Dienst geleistet haben. Das war auch ein Pflichtdienst, aber es war keinesfalls ein Dienst, der nicht auch mit dem Herzen gemacht wurde. Ich finde, es ist bei dieser Gelegenheit auch angemessen, das gleichermaßen zu würdigen. ({1}) Was ist jetzt zu tun, damit der Übergang von der Wehrpflicht zur Freiwilligenarmee gelingt? Erstens müssen die Rahmenbedingungen für den Dienst in der Bundeswehr attraktiv gestaltet sein. Das gilt für Sold und Prämien, es gilt aber auch für andere Faktoren wie die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, die Frage der Laufbahnstrukturen und natürlich das weite Feld der Aus- und Weiterbildung in der Bundeswehr. Jeder Soldat, der länger in der Bundeswehr dient, sollte eine seiner Eignung und Neigung entsprechende, auch zivil nutzbare Ausbildung erhalten. Das fängt mit dem Schulabschluss an und geht weiter bis zum Diplom oder Master für diejenigen, die sich als Offizier länger verpflichten. Ich glaube, die Bundeswehr hat hier bereits den richtigen Weg eingeschlagen. Ich finde all das, was in dem Attraktivitätssteigerungspapier zu diesen Punkten steht, richtig. Zweitens geht es natürlich jetzt um die Gewinnung von Personal für die Bundeswehr durch Herstellung von Transparenz und Klarheit über die Rahmenbedingungen. Im Augenblick haben wir zwar bei den Zeit- und Berufssoldaten eine zufriedenstellende Bewerberquote, aber wir haben im Bereich der freiwillig Wehrdienstleistenden deutlich weniger Neueinstellungen, als eingeplant war. Das ist im Augenblick noch kein akutes Problem, aber es geht darum, dass wir jetzt auch durch zügige Beratung des Gesetzentwurfes die Rahmenbedingungen so klarmachen, dass jeder, der bei der Bundeswehr anfängt, auch weiß, was er davon hat. Ich füge hinzu: Es ist wichtig, zu betonen, dass alle Leistungen, die wir mit diesem Gesetz beschließen werden, auch auf diejenigen Anwendung finden, die sich bereits heute zu einer Unterschrift entscheiden. Es wäre wirklich schade, wenn junge Männer und Frauen allein deshalb eine Verpflichtung bei der Bundeswehr nicht eingehen, weil sie die Befürchtung haben, dass dann bestimmte Vergünstigungen möglicherweise bei ihnen nicht Anwendung finden. Drittens. Es ist mindestens genauso wichtig, dass die Änderung der Wehrform zumindest in der Übergangsphase nicht zum Nulltarif zu haben sein wird. Die Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr kostet Geld, selbst wenn die Zahl der Soldaten deutlich abnehmen wird. Hier gilt das Wort von Minister und Bundeskanzlerin, dass die Zukunft leistungsfähiger Streitkräfte nicht allein von finanziellen Erwägungen abhängig gemacht werden kann. Die Parteitage von CDU und CSU haben sich dazu entsprechend geäußert. Wer in der BundesJürgen Hardt wehr dient oder dort zukünftig dienen möchte, soll wissen, dass er in der Truppe eine individuelle, gute Zukunftsperspektive erhält; das hat eben auch mit Geld zu tun. Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Wehrrechts ist ein zentraler Baustein der Bundeswehrreform. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden zügig über ihn beraten und damit eine rasche Beschlussfassung vor Ostern ermöglichen. Wir wollen einen erfolgreichen Start für unsere neue Bundeswehr. Danke schön. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSUFraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen ersten Lesung des Wehrrechtsänderungsgesetzes vollziehen wir den ersten parlamentarischen Schritt der größten Reform der Bundeswehr seit dem Ende des Kalten Krieges. Damals, vor gut 20 Jahren, standen noch die Panzer des Warschauer Paktes an unserer Ostgrenze; wir mussten ständig in der Lage sein, einen direkten Angriff auf unser Territorium abzuwehren. Diese Gefahr besteht Gott sei Dank nicht mehr. Die Welt ist aber seit dieser Zeit nicht nur friedlicher geworden: Es gibt neue, sich ständig wandelnde, zum großen Teil asymmetrisch gelagerte Bedrohungen unserer Freiheit und Sicherheit. Wir begegnen der veränderten Sicherheitslage mit einer breiten Palette an zivilen und diplomatischen Mitteln. Es treten aber immer wieder Situationen ein, in denen wir gezwungen sind, die Bundeswehr als letztes verfügbares Mittel und als Teil der internationalen Gemeinschaft in einen Einsatz zu entsenden. Wir haben letzten Freitag wieder auf traurige Weise erfahren müssen, wie gefährlich solch ein Einsatz sein kann. Wir stehen bei der Mandatierung der Einsätze in der Verantwortung, die Bundeswehr dafür optimal aufzustellen und auszurüsten. Gemessen an dem, was unsere Soldaten heute im Einsatz leisten müssen, haben wir dieses Ziel trotz zahlreicher Anstrengungen in den vergangenen Jahren noch nicht vollständig erreicht. Von dieser Verantwortung getragen haben wir uns im letzten Jahr entschieden, die Bundeswehr neu zu strukturieren, sie insgesamt zu verkleinern und dafür die Soldaten besser auszurüsten sowie ihren Dienst attraktiver zu gestalten. Ein Baustein der Reform ist die Aussetzung der Wehrpflicht, über die wir heute hier im Parlament diskutieren. Wir haben uns diesen Schritt nicht leicht gemacht; er ist nicht nur von dieser Reform getrieben. Die Wehrpflicht hat sich in den letzten 55 Jahren in vielerlei Hinsicht bewährt. Wir stehen aber gegenüber den jungen Männern, die wir zu diesem Pflichtdienst heranziehen, in der Verantwortung, immer wieder neu zu hinterfragen, ob ihr Dienst tatsächlich noch sicherheitspolitisch begründet werden kann oder nicht. Eine solche Begründung können wir heute nicht mehr zweifelsfrei geben. Wir vollziehen jetzt den für uns schweren, aber konsequenten Schritt der Aussetzung der Wehrpflicht. Ein solcher Grundrechtseingriff kann eindeutig nur mit einer sicherheitspolitischen Begründung legitimiert werden. Ich betone das deshalb, weil die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für mich persönlich die näherliegende Antwort gewesen wäre. Ich musste aber nach zahlreichen Diskussionen einsehen, dass dies weder unsere Verfassung noch das Völkerrecht zulassen. Dass diese Debatte heute keine allzu großen Wellen schlägt, haben wir in erster Linie unserem Minister KarlTheodor zu Guttenberg zu verdanken. Er hat es mit seiner Persönlichkeit und seiner Überzeugungskraft im vergangenen Jahr geschafft, die Menschen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr für diese Reform zu gewinnen. Meine Damen und Herren von der Opposition, bei der Reform liegen wir inhaltlich nicht weit auseinander. Gerade deswegen müssten Sie die Leistung des Ministers anerkennen. ({0}) Stattdessen sind Ihre heutigen Debattenbeiträge geprägt von einer überhöhten Selbstgerechtigkeit und der offenen Genugtuung, endlich etwas gefunden zu haben, mit dem Sie hoffen, ihm persönlich schaden zu können. ({1}) Überlegen Sie selbstkritisch, ob Sie jemanden in Ihren Reihen haben, dem die Vermittlung dieser Reform auch nur annähernd in dieser Form gelungen wäre. ({2}) Es mag Sie politisch bzw. wahltaktisch stören, dass Karl-Theodor zu Guttenberg ein hohes Maß an Vertrauen in der Bevölkerung genießt, aber Tatsache ist: In einem solchen schwierigen Reformprozess einen solchen Minister an der Spitze des Bundesverteidigungsministeriums zu haben, ist ein Glücksfall für unser Land und unsere Bundeswehr. ({3}) Täuschen Sie sich nicht: Die Menschen in unserem Land unterscheiden sehr genau, welcher Beitrag der Sache dient und bei welchem Beitrag es nur darum geht, jemandem persönlich zu schaden. ({4}) Das hätte ich Herrn Trittin - leider hat er die Debatte nicht bis zum Ende verfolgt - gerne persönlich gesagt. ({5}) Er hat es in seinem Beitrag fast geschafft, nur zur Sache zu sprechen. Aber am Ende ist er wieder abgerutscht auf ein Niveau der Unterstellungen und der Verleumdung. ({6}) Das war schade; ({7}) denn die Sache ist viel wichtiger als ein Hinweis auf die Zustimmungswerte einer bestimmten Person. Die Reform, die wir in den nächsten Wochen im Bundestag besprechen, wird unsere Parlamentsarmee über Jahrzehnte hinweg prägen. Wir haben dabei als die heute in der Verantwortung stehenden Parlamentarier den Auftrag, die Bundeswehr der Zukunft mitzugestalten und dafür zu sorgen, dass sie die Gesellschaft auch in Zukunft angemessen repräsentiert und sich nicht von ihr abkoppelt. Die Menschen werden uns als Koalition, aber auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, daran messen, ob wir dieser Verantwortung gerecht werden. Heute sind Sie es zumindest nicht geworden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 17/4821 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere Vorschläge dazu liegen mir nicht vor. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Korrektur der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gerechte Alterseinkünfte für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gerechte Lösung für rentenrechtliche Situation von in der DDR Geschiedenen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gerechte Versorgungslösung für Ballettmitglieder in der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Regelung der Ansprüche der Bergleute der Braunkohleveredlung - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Beseitigung von Rentennachteilen für Zeiten der Pflege von Angehörigen in der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rentenrechtliche Lösung für Land- und Forstwirte, Handwerkerinnen und Handwerker, andere Selbständige sowie deren mithelfende Familienangehörige aus der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rentenrechtliche Anerkennung von zweiten und vereinbart verlängerten Bildungswegen sowie Forschungsstudien und Aspiranturen in der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rentenrechtliche Anerkennung von DDRRegelungen für ins Ausland mitgereiste Ehepartnerinnen und Ehepartner sowie von im Ausland erworbenen Ansprüchen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rentenrechtliche Anerkennung aller freiwilligen Beiträge aus DDR-Zeiten - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Präsident Dr. Norbert Lammert Befristetes System „sui generis“ für die Beseitigung des Versorgungsunrechts bei den Zusatz- und Sonderversorgungen der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vertrauensschutz für Versorgungsberechtigte der DDR mit einem Ruhestandsbeginn bis zum 30. Juni 1995 schaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Regelung der Ansprüche und Anwartschaften auf Alterssicherung für Angehörige der Deutschen Reichsbahn der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Regelung der Ansprüche und Anwartschaften auf Alterssicherung für Angehörige der Deutschen Post der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Angemessene Altersversorgung für Professorinnen und Professoren neuen Rechts, Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Dienst und weitere Beschäftigte universitärer und anderer wissenschaftlicher Einrichtungen in Ostdeutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Angemessene Altersversorgung für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes der DDR, die nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Angemessene Altersversorgung für Angehörige von Bundeswehr, Zoll und Polizei, die mit DDR-Beschäftigungszeiten nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einheitliche Regelung der Altersversorgung für Angehörige der technischen Intelligenz der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wertneutralität im Rentenrecht auch für Personen mit bestimmten Funktionen in der DDR - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 Geschiedenen - Drucksachen 17/1631, 17/3871, 17/3872, 17/3873, 17/3874, 17/3875, 17/3876, 17/3877, 17/3878, 17/3879, 17/3880, 17/3881, 17/3882, 17/3883, 17/3884, 17/3885, 17/3886, 17/3887, 17/3888, 17/4195, 17/4769 Berichterstattung: Abgeordnete Silvia Schmidt ({1}) Beide Fraktionen haben namentliche Abstimmung verlangt. Deshalb werden wir nach der Aussprache zunächst über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke namentlich auf einem Stimmzettel abstimmen. Anschließend erfolgt die namentliche Abstimmung mit der üblichen Stimmkarte über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wir werden also zwei getrennte Abstimmungsgänge durchführen. Auch für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Eckhardt Rehberg für die CDU/ CSU-Fraktion. ({2})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! In diesem Tagesordnungspunkt geht es um gerechte Alterseinkünfte für Beschäftigte in der DDR. Die Antragsteller führen auf Drucksache 17/1631 zum Schluss aus: 20 Jahre nach Herstellung der Einheit ist es an der Zeit, Regelungen zu treffen, die den sozialen Frieden zwischen Ost und West befördern. Dazu gehört unabdingbar auch die Angleichung des Rentenwerts Ost an West … Wenn man über die Rente in Ost und West redet, dann lohnt es sich, gelegentlich noch einmal darüber nachzudenken, woher wir bei diesem Thema kommen. Die Mindestrente betrug 1983 in der DDR 270 Mark. Das sind Almosen. ({0}) 1984 gab es 300 Mark Mindestrente, ({1}) nach 45 Arbeitsjahren gab es 370 Mark. Bei einem Bruttodurchschnittslohn 1984 von 1 080 DDR-Mark erhielt ein Rentner also ein Almosen von einem Drittel seines letzten Bruttodurchschnittslohnes. ({2}) Wenn ich heute über Durchschnittsrenten von über 1 000 Euro rede, dann wird deutlich, dass dies die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit, der Erfolg der letzten zwei Jahrzehnte ist. ({3}) Neben der Rente für die Masse der Beschäftigten in der DDR gab es 63 Zusatzversorgungssysteme und vier Sonderversorgungssysteme. In diesen 63 Zusatz- bzw. vier Sonderversorgungssystemen wurde das Rentenniveau dann auf 90 Prozent bis 100 Prozent des letzten Nettolohnes angehoben. Es ist aber ganz bemerkenswert, für wen das galt: Es gab vier Sonderversorgungssysteme für die Nationale Volksarmee, für die Volkspolizei, für die Zollverwaltung und für das MfS. Zusatzversorgungssysteme gab es für die technische Intelligenz, für hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparates usw. Meine Damen und Herren von den Linken, besonders pervers war die Einführung der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung 1971. Man merkte, dass die normale Rente so niedrig war, dass sie im Alter nicht mehr zum Leben reichte. Wer dann mehr Rente haben wollte im real existierenden Sozialismus, der musste sich privat zusätzlich versichern. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Viele haben außerdem vergessen, wie es chronisch Kranken ergangen ist. Sie hatten einen gesetzlichen Krankengeldanspruch von 300 DDR-Mark ab der siebten Krankheitswoche, wenn sie nicht freiwillig zusatzversichert waren. Lassen Sie sich bitte einmal auf der Zunge zergehen, was das zu DDR-Zeiten für chronisch Kranke bedeutet hat. Bereits an diesen wenigen Beispielen wird der Unterschied zwischen dem werteorientierten System der sozialen Marktwirtschaft und dem ideologiebehafteten System des Sozialismus deutlich. Das ist ein Kernpunkt. ({4}) Die Rentengeschichte der letzten zwei Jahrzehnte ist mehr als eine Erfolgsstory. Aus meiner Sicht haben wir viel zu wenig kommuniziert, dass wir die ostdeutschen Löhne auf den Durchschnittslohn West angehoben haben. Wir haben 1990 mit dem Faktor 3 begonnen und sind heute bei einer Aufwertung um knapp 19 Prozent. Beispielsweise bekommt heute ein Arbeitnehmer in Rostock, der 10 Euro brutto verdient, eine Aufwertung von 1,90 Euro und erhält das Rentenwertäquivalent eines Bruttolohns von 11,90 Euro, obwohl er nur einen Rentenbeitrag für 10 Euro bezahlt. Dieses haben viele aus dem Blick verloren, wenn sie leichtfertig darüber reden, dass wir den Rentenwert Ost an West angleichen müssen. ({5}) Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften solche Vereinbarungen schließen, wie in den letzten Wochen zum Beispiel für den Bereich der Zeitarbeit - branchenbezogener Mindestlohn Ost: 6,89 Euro, branchenbezogener Mindestlohn West: 7,79 Euro, Differenz: 90 Cent -, kann man aus Sicht der Arbeitgeber vielleicht sagen: Dafür habe ich Verständnis. Aus Sicht der Gewerkschaften muss man aber sagen: Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Ich habe gar kein Verständnis dafür, dass diese Schere in 2013 nicht deutlich, sondern lediglich geringfügig zusammengeht. Dann sinkt die Differenz von 90 Cent auf 79 Cent. Das heißt, solange zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften keine in Ost und West gleichen branchenspezifischen Mindestlöhne vereinbart werden, brauchen wir uns des ganzen Komplexes Rentenwert Ost/West bzw. Aufwertung der Löhne erst gar nicht anzunehmen. Ich will noch einen Punkt ansprechen, weil immer wieder beklagt wird, dass keine Rentengerechtigkeit hergestellt wurde. Die Punkte, die Sie in Ihren 19 Anträgen anführen, haben aus meiner Sicht nichts im Rentenrecht zu suchen. Allein zwischen 2001 und 2010 haben Bund und Länder rund 34 Milliarden Euro in die Abgeltung der Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorungssystemen stecken müssen. Pro Jahr sind das etwa 4 Milliarden Euro; das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Angesichts dieser Tatsache können Sie von den Linken nicht sagen, dass für die Beschäftigten in der DDR keine Rentengerechtigkeit hergestellt wurde. ({6}) Lassen Sie mich auch noch anmerken, dass die Zahlen frappierend sind. Rentenentgeltpunkte ≥ 1 - Durchschnittslohn oder mehr - haben im Jahr 2009 55 Prozent der Männer im Westen, 50 Prozent der Männer im Osten, 16 Prozent der Frauen im Westen und 14,4 Prozent der Frauen im Osten erworben. Das Beeindruckende ist für mich - das ist für mich ein Maßstab für Gerechtigkeit -, dass im Osten 38 Prozent der Männer und Frauen zusammen eine Monatsrente ≥ 1 050 Euro erreicht haben. Im Westen sind das nur 32 Prozent. Wenn jemand sagt, dass die Rentnerinnen und Rentner im Osten, gleich ob Bestands- oder Zugangsrentner, benachteiligt werden, muss ich sagen: Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Den Rentnern aus dem Osten ist mehr als Gerechtigkeit und Solidarität widerfahren. Die Überleitung in das Rentensystem ist eine Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit. Meine Damen und Herren von der Linken, das lassen wir uns von Ihnen nicht kaputt- und auch nicht kleinreden. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion. ({0})

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Rehberg, ich habe eine Korrekturanmerkung: Die männlichen Zugangsrentner im Osten haben seit 2008 5 Euro weniger als die Zugangsrentner West. Die Schere geht auch in diesem Bereich immer weiter auseinander. Als Willy Brandt gesagt hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, waren wir alle, glaube ich, voller Freude. Wir wussten aber auch, dass das ein langer und schwieriger Weg wird, dass das eine Herausforderung für unser Land ist. Gerade das Rentenüberleitungsgesetz ist - ich glaube, darin sind wir uns alle einig eine einmalige historische Leistung. Das war ein großer Erfolg. Das können wir alle hier feststellen. ({0}) Dieser Prozess des Zusammenwachsens ist aber noch nicht beendet, weder gesellschaftlich noch konkret im Rentenrecht. Deshalb ist eine Angleichung der Rentensysteme, die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP versprochen wurde, eine wichtige, aber bestimmt keine einfache Herausforderung. In der letzten Legislaturperiode haben auch wir das versucht. Das haben wir gesagt, und natürlich sind wir das auch angegangen. Da dieses große, schwierige und komplexe Thema aber nicht so leicht zu stemmen ist, sind wir keinen großen Schritt weitergekommen. Es gibt Fragen, die wir sehr schnell klären können. Ich könnte mir vorstellen, dass Kindererziehungszeiten im Osten wie im Westen gleich bewertet werden. Im Westen führen sie zu einem monatlichen Zahlbetrag in Höhe von 27,30 Euro, in den neuen Bundesländern zu einem monatlichen Zahlbetrag von 24,13 Euro. Die Wehrpflichtzeiten führen zu einem monatlichen Zahlbetrag von im Osten ungefähr 12 Euro, im Westen 15 Euro. Dieser Unterschied ist gesellschaftspolitisch nicht mehr zu halten; denn diese Lebensphasen sind in Ost wie West eigentlich identisch. Hier könnten wir sehr schnell einschreiten. Die Väter des deutschen Einigungsvertrages sind von einer weitaus schnelleren Angleichung der Lebensverhältnisse ausgegangen. Aber wir alle wissen: Die Angleichung vor allen Dingen der Löhne und damit auch des Rentenwertes Ost/West ist seit einem Jahrzehnt zum Stillstand gekommen. Es gibt regionale Unterschiede. Einige Regionen in den neuen Bundesländern, zum Beispiel das Umfeld von Berlin, die Potsdamer Region, stehen sehr gut da. Es gibt natürlich auch Regionen in den alten Bundesländern, die schlecht dastehen, zum Beispiel das Saarland. Das alles ist uns bekannt. Trotzdem liegen die Löhne in den neuen Bundesländern durchschnittlich 20 Prozent unterhalb der Löhne in den alten Bundesländern. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. 40 Prozent der Ostdeutschen arbeiten im Niedriglohnbereich. Niedriglohnbereich bedeutet: Trotz Arbeit leben sie an der Armutsgrenze. Auch das ist ein Tatbestand. Im Land Sachsen-Anhalt existieren 34 Tarifverträge, die einen Bruttolohn von weniger als 7,50 Euro vorsehen. Das heißt, die Erwerbstätigen in Sachsen-Anhalt und auch in Mecklenburg-Vorpommern arbeiten teilweise zu einem Hungerlohn. Da ist die Altersarmut im Grunde vorprogrammiert. Das heißt, wir brauchen hier einen gesetzlichen Mindestlohn, was übrigens unter anderem auch Jens Bullerjahn, der stellvertretende Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, eindeutig fordert. ({1}) Die Anträge der Fraktion Die Linke werden regelmäßig zu den Wahlkämpfen eingereicht, ({2}) und Sie lassen namentlich über diese Anträge abstimmen; das ist natürlich legitim. Diese Anträge zeigen aber auch deutlich Ihren Populismus und eine gewisse Häme. ({3}) Ich habe deutlich gemacht: Es ist kein leicht zu lösendes Problem, es ist ein komplexer Tatbestand. Wir alle wissen, dass das für die Bürger teilweise nicht nachvollziehbar ist. Wir dürfen auch den Anspruch der Solidarität für die Rentnerinnen und Rentner in den alten Bundesländern nicht vergessen. ({4}) Niemand wird Anträgen zustimmen, durch die die damals Staatsnahen begünstigt werden sollen. Das wäre eine Missachtung der DDR-Flüchtlinge. ({5}) Das kann man mit aller Sachlichkeit feststellen. Manche Flüchtlinge haben ihr Leben geopfert, andere sind unter schweren Repressalien in die alten Bundesländer geflüchtet. Das war kein Spaziergang, und das war auch keine freiwillige Übersiedlung. Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({6}) Noch zu einer Tatsache - es ist vorhin schon angesprochen worden -, die man vielleicht am persönlichen Bereich darstellen kann. Die Mindestrente lag bis 1983 bei ungefähr 165 Mark Ost. Man sagt: Etwa 30 Mark Miete mussten gezahlt werden, mehr Kosten habe es Silvia Schmidt ({7}) nicht gegeben. Nein, das war nicht so. Wenn Sie auf dem Land gewohnt haben, mussten Sie Kohlen dazukaufen. Energie, Wasser usw., das alles musste bezahlt werden. Jeder Rentner, der noch krauchen konnte - das sage ich so bitterböse -, hatte noch einen kleinen Garten, damit er zusätzliche Lebensmittel hatte; denn der Konsum war auch nicht gerade voll. ({8}) Das muss man sagen; ich kenne das zum Beispiel von meinen Großeltern. Wir haben dort gelebt. Damit will ich nichts verklären. Durch die Beitragsbemessungsgrenze von 600 Mark sollten höhere Renten vermieden werden. Glauben Sie tatsächlich, dass viele Ostrentner dieses Problem nicht sehen? Sie haben hart gearbeitet, 35 bis 45 Jahre eingezahlt, aber sie konnten nicht mehr erreichen. Festzuhalten ist, dass die DDR besonders in der Industrie die Menschen rigoros ausgebeutet hat. Viele in meinem eigenen Wahlkreis, im Mansfelder Land - Stichworte: Kupfer- und Silberhütte -, leiden noch heute unter den schrecklichen Umwelt- und Gesundheitsbedingungen der DDR-Wirtschaft. Ich komme aus dem Gesundheitswesen. Ich weiß, wovon ich spreche. Wir werden uns heute aus Sympathie für einige Personengruppen mit bestimmten Härtefällen enthalten. ({9}) Dabei geht es um die Personengruppe im Gesundheitswesen, die helfenden Familienmitglieder, zum Beispiel in der Landwirtschaft, die Balletttänzer, die Bergleute - in der Carbochemie wird es hoffentlich demnächst eine Einigung geben -, die pflegenden Familienangehörigen usw. Diese Probleme sind aber nicht rentensystematisch bedingt. Diese Probleme sind einheitsbedingt. Das muss jeder zur Kenntnis nehmen. Mit Zusatzversorgungen und Sondersystemen erkaufte man sich die politische Gefolgschaft bestimmter Gruppen; das wurde vorhin schon angesprochen. Sie wurden ungefähr 1970 eingeführt. Sie bilden ein komplexes Geflecht. Kaum jemand durchblickt es noch, aber jeder hat einen eigenen Anspruch. Dem mittleren medizinischen Personal wurden mit der 1,5-Regelung, dem Steigerungsbetrag von 1,5 bei der Altersversorgung, Versprechungen gemacht. ({10}) Ich selber komme aus dem Gesundheitsbereich. Ich weiß, was man mir gesagt hat. Ich weiß auch, wie hoch mein Lohn war. Das alles waren Versprechungen. Niemand wird doch behaupten, dass die DDR diesen Versprechungen nachgekommen wäre. Man hatte nämlich gar kein Geld dafür, diese sogenannten Sondersysteme zu bedienen. ({11}) Wir wissen: Rentnerinnen und Rentner haben Anspruch auf die Anerkennung ihrer Arbeitsleistung, unabhängig von staatlichen Systemen und unabhängig davon, wo sie gelebt und gearbeitet haben. Wir wissen auch ganz genau: Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten entstehen, zum Beispiel bei den pflegenden Angehörigen. Auch wenn es seit 1996 die Pflegeversicherung gibt, existieren auch hier Härtefälle. Was die Geschiedenen betrifft, würden wir sehr gern dem Antrag der Grünen folgen. Eine Bundesratsinitiative und eine gemeinsame Lösung sind wichtig. Es liegen viele Vorschläge, die geprüft werden müssen, auf dem Tisch. Wir reichen diese Vorschläge an die Alterssicherungskommission im Willy-Brandt-Haus weiter. Wir werden mit den betroffenen Personengruppen reden. ({12}) Wir werden alle Probleme noch einmal aufgreifen. Wir fordern ein Mindesteinkommen, das heißt einen Mindestlohn, der gesetzlich festgeschrieben wird. Wir fordern auch eine Rente nach Mindesteinkommen, damit die Lebensarbeitszeit gewürdigt wird. ({13}) Im Rahmen eines Rentenüberleitungsabschlussgesetzes, das wir schon in der letzten Legislaturperiode in Angriff genommen haben, wollen wir diese ungelösten Fragen aufgreifen. Wir fordern eine Härtefallregelung und einen Fonds, für den jährlich ungefähr 500 Millionen Euro zur Verfügung stehen; wir werden hierfür ein Konzept erarbeiten. ({14}) Wir fordern die Vollendung der sozialen Einheit Deutschlands durch rentensystematische Angleichungen. Wir fordern Maßnahmen, die Altersarmut verhindern, und, wie bereits erwähnt, einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir fordern eine Höherbewertung beschäftigungsloser Zeiten und geringer Verdienste ab sofort und rückwirkend, und das für das gesamte Bundesgebiet. Ich glaube, wenn wir gemeinsam über diese Fragen diskutieren, können wir im Hinblick auf Härtefälle vernünftige Lösungen finden. Das ist nicht ganz einfach, sondern relativ kompliziert. Das können wir aber nur gemeinsam schaffen. Populismus ist hier fehl am Platz. ({15}) Ich sage noch einmal: Es ist schwierig, dieses komplexe System zu durchschauen. Aber all die Rentner und Rentnerinnen, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt, haben unsere Solidarität verdient. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren dieses Thema heute nicht zum ersten Mal und, wie ich vermute, auch nicht zum letzten Mal. ({0}) Ich halte es für notwendig, in meinem Debattenbeitrag zu diesem Thema immer zunächst darauf hinzuweisen, dass die Überführung des Rentenrechts der DDR in das SGB VI eine große und herausragende Leistung der Politik und der Mitarbeiter der Deutschen Rentenversicherung war. Das war einmalig und ist - das kann man so festhalten - im Großen und Ganzen gelungen. Es ist nicht überraschend, dass bei einem so großen Projekt nicht jedes Anliegen zu jedermanns Zufriedenheit erfüllt werden konnte. Insofern steht das Rentenrecht vielleicht auch stellvertretend für das gesamte Projekt deutsche Einheit. Die Linke legt zu diesem Thema regelmäßig - und auch regelmäßig unveränderte - Anträge vor. ({1}) - Das müssen dann aber marginale Unterschiede sein. Aber Herr Gysi wird bestimmt gleich erläutern, wo die großen Fortschritte in Ihren Anträgen sind. ({2}) Ich glaube, insgesamt gesehen kann man sagen: Das ist das alte Muster, das da durchscheint, auch bei den jetzt vorgelegten Anträgen. ({3}) Sie bleiben hartnäckig bei Ihren Lösungsvorschlägen, obwohl in den letzten Jahren in Anhörungen und Ausschussdiskussionen mehrfach nachgewiesen worden ist, dass sie falsch sind. Wir hatten dem schon in 2008 einen kreativen Vorschlag entgegengestellt, und zwar wollten wir ein Nachversicherungsangebot unterbreiten, was systemgerecht gewesen wäre und immer noch ist, neue Ungerechtigkeiten vermeidet und allen Betroffenen die Chance gibt, ihre Situation zu verbessern. ({4}) Ähnliches hat sich bewährt, als 1992 die Rentenberechnung nach Angestelltenversicherungsgesetz in das SGB VI überführt worden ist. Wo unsere Vorschläge systemgerecht und überzeugend sind, liegen die Schwächen Ihrer Anträge: Sie schaffen neue Ausnahmetatbestände, neue Ungerechtigkeiten und Systemwidrigkeiten. Ich weise noch einmal darauf hin: Im Mai 2009 gab es in der Anhörung ein klares Ergebnis. Die Sachverständigen empfahlen keine Korrektur der geltenden Gesetze. Sie machten deutlich, dass jede Nachjustierung zu neuen Ungleichbehandlungen - also zu Ungerechtigkeiten - führt. Betroffene dürfen nicht bessergestellt werden als vergleichbare Rentner in den alten Bundesländern. ({5}) Betroffene dürfen auch nicht bessergestellt werden als andere Versicherte in den neuen Bundesländern. Diese beiden Maximen spielen für uns eine wichtige Rolle. ({6}) Wir haben nun einmal die paradoxe Situation, dass ein Teil der Betroffenen fordert, das frühere DDR-Recht nicht mehr wirken zu lassen, und ein anderer Teil fordert, dass die Ansprüche nach dem früheren Recht komplett anerkannt werden. Diesen Gegensatz kann man einfach nicht auflösen; das leisten auch Ihre Anträge nicht. Was mich stört an Ihrem Antragskonvolut, an diesem Paket, ist, dass Sie versuchen, uns neben 18 anderen Gruppen mal eben auch Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit und des Amtes für Nationale Sicherheit der DDR unterzuschieben. Wir bleiben dabei: Für MfS-Angehörige darf nicht mehr als das frühere Durchschnittsentgelt für die Rentenberechnung angesetzt werden. Diese Entscheidung haben wir getroffen, und sie ist ausdrücklich und mehrfach vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Das will ich hier sehr deutlich sagen. ({7}) Sie machen es sich zu einfach. Sie listen alle denkbaren Gruppen Betroffener auf und vermischen dabei Privilegierte, auch Verantwortliche aus DDR-Zeiten mit Menschen, die ganz einfach - ich sage es einfach einmal so - Pech mit ihrem DDR-Schicksal hatten. ({8}) Sie versuchen, sich als Fürsprecher aller möglichen Gruppen aufzuspielen, die sich benachteiligt fühlen könnten. Aber dabei übersehen Sie Folgendes: Teil der Gerechtigkeit, in die auch alle anderen einbezogen werden müssen, ist, auch die Situation und Befindlichkeit derjenigen zu berücksichtigen, die für Ihre großzügigen Lösungsvorschläge am Ende mitbezahlen sollen und müssen. Ich will hier festhalten: Ohne deutsche Einheit und Anpassung des Rentenrechts hätte kein DDR-Rentner auch nur annähernd den Lebensstandard erreichen können, den er heute hat. ({9}) Dazu fehlen angemessene Worte Ihrerseits. Vielleicht, Herr Gysi, ringen Sie sich in Ihrer jetzt folgenden Rede dazu durch. ({10}) Stattdessen erinnert Frau Bunge im Dezember bei der letzten Debatte und auch heute wieder per Zwischenruf an die 30 Mark Miete für eine DDR-Zweiraumwohnung. Frau Bunge, man muss doch sehen, wie das damals in Leipzig war! ({11}) Da sind Wohnungen „freigewohnt“ worden - das Wort kennt man in den alten Bundesländern gar nicht. Das heißt, man ist aus der nassen Dachgeschosswohnung eine Etage tiefer gezogen, weil es da gerade noch trocken war. So war das doch damals! ({12}) Wie war denn die Versorgung mit Obst und Gemüse für Rentner? Wie war es denn, wenn man freitags um 18 Uhr im HO-Laden noch ein viertel Pfund Bauchfleisch haben wollte? Das war damals einfach nicht verfügbar. ({13}) Das sind die Unterschiede im Vergleich zu heute. Heute können sich Rentner auch in den neuen Bundesländern all das leisten. ({14}) Und wo Sie sich schon so viel Mühe gemacht haben, Herr Gysi, für alle Gruppen, die Ihnen eingefallen sind, Anträge zu schreiben: Wo ist Ihr Antrag, das DDR-Unrecht an den Flüchtlingen, sofern sie ihre Flucht überlebt haben, wiedergutzumachen? Da ist Fehlanzeige bei Ihnen, und das ist nicht in Ordnung! ({15}) Stattdessen brandmarken Sie das Rentenrecht als „Rentenstrafrecht“, weil es Privilegien für SED- und Stasibonzen beschränkt. Was ist denn das für ein Weltbild, das hinter Ihren Anträgen steht, meine Damen und Herren? ({16}) Wir bleiben bei unserem Vorschlag zum Nachversicherungsangebot. Wir glauben, dass eine Nachversicherung auf freiwilligem Weg die richtige Lösung ist. Sie bietet die Chance, nicht in das SGB VI übertragene oder aus anderen Gründen ausgeschlossene Rentenansprüche geltend zu machen. Ich wiederhole: Die Höhe der Beitragsentrichtung ist an dem auszurichten, was zu DDRZeiten zur Erlangung eines vergleichbaren Anspruchs hätte aufgewendet werden müssen. Diese Lösung vermeidet Willkür und erreicht größtmögliche Gerechtigkeit. ({17}) Weil das auch in anderen Redebeiträgen betont wurde, will ich zum Schluss sagen: Neben den heute hier vorliegenden Fragen sehe ich auch die Angleichung des Rentenrechts Ost an das Rentenrecht West als eine große Herausforderung an. In dem Koalitionsvertrag ist dies für diese Wahlperiode zugesichert. Deswegen machen wir uns in diesem Jahr ernsthaft an die Arbeit. ({18}) - Herr Strengmann-Kuhn, Sie wissen: Im letzten Jahr waren wir sehr damit beschäftigt, Baustellen aus der rotgrünen Ära abzubauen: durch die Jobcenterreform, durch die Reform in Bezug auf die Hartz-IV-Regelsätze. Das haben wir in dieser Woche abgeschlossen. Jetzt gehen wir an neue Baustellen heran. Das werden wir tun, und zwar gerne, und wir hoffen auf Ihre Mitarbeit. Einstweilen bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müssen uns erst einmal darüber verständigen, worüber wir hier reden und um welche Anträge es geht. ({0}) Sie haben hinsichtlich der Flüchtlinge ja völlig recht. Wir haben auch mit ihnen gesprochen. Sie wollen gerne, dass alle drei Oppositionsfraktionen gemeinsam einen Antrag für sie stellen, um nicht in irgendeiner Form vereinnahmt zu werden. In Bezug auf die Verfolgten in der DDR haben Sie auch recht. Wir haben aber immer weiter gehende Anträge gestellt, als Sie je beschlossen haben - gerade für die Verfolgten in der DDR. Das ist die Wahrheit, die Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen. ({1}) Ferner versuchen Sie auf eine polemische Art und Weise, gegen die Rentnerinnen und Rentner aus dem OsDr. Gregor Gysi ten zu polemisieren. Das können wir nicht im Geringsten akzeptieren. ({2}) Ich sage Ihnen: Es ist und bleibt ein Verhängnis, dass es 20 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit noch immer keine gleichen Renten für gleiche Lebensleistungen in Ost und West gibt. Natürlich brauchen wir eine Angleichung der Rentenwerte, werter Herr Rehberg, und zusätzlich eine Höherbewertung der Einkommen im Osten, solange für dieselbe Arbeit in längerer Arbeitszeit weniger verdient wird als im Westen. Das akzeptieren auch alle Menschen in den alten Bundesländern. ({3}) Im Übrigen hat die Bild-Zeitung immer völlig unrecht, wenn sie sagt, die gesetzliche Durchschnittsrente im Osten liege höher als im Westen. Erstens wird ein Ehepaar betrachtet und vergessen, zu erwähnen, dass die meisten Frauen in der DDR berufstätig waren, während viele Frauen in der alten Bundesrepublik - gerade ältere - nicht berufstätig waren. Es macht eben einen Unterschied, ob man zwei Renten oder nur eine Rente hat. ({4}) Zweitens. Sie erwähnen nicht, dass es im Osten keine Pensionen gibt. Ein Professor für Gerichtsmedizin bezieht im Westen immer eine Pension, im Osten aber eine gesetzliche Rente. Natürlich ist sie höher als andere Renten. Deshalb ist der Vergleich des Durchschnitts völlig absurd. Das passt überhaupt nicht. ({5}) Es wird auch vergessen, zu erwähnen, dass alle Betriebsrenten im Osten gestrichen worden sind, während es sie im Westen noch gibt. Außerdem gab es im Westen Lebensversicherungen, mit denen man für das Alter ein gewisses Vermögen ansparen kann. Solche Regelungen gab es in der DDR gar nicht. ({6}) - Ja, natürlich. Bestreite ich, dass das ein Nachteil ist? Deshalb leben die Rentnerinnen und Rentner im Osten alleine von gesetzlichen Renten. Das nehmen Sie bis heute nicht zur Kenntnis. ({7}) Herr Kolb, Sie haben ja gerade geredet, und ich muss Ihnen sagen: Ich muss Sie irgendwann einmal zum Essen einladen, um Ihnen den Osten zu erklären. Sie haben wirklich überhaupt keine Ahnung. Ich lade Sie großzügig ein. ({8}) Jetzt komme ich zu den einzelnen Anträgen. Die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen in der DDR haben für ihre besonders schwere körperliche und psychische Belastung einen höheren Satz für ihre Renten zuerkannt bekommen, weil ihr Verdienst viel zu niedrig war. Warum erkennen Sie diesen Zusatzanspruch der Betroffenen bis heute nicht an? Es gibt keine Erklärung dafür. Sie hatten einen höheren Rentenspruch. Der ist aberkannt worden. Die geschiedenen Frauen bekamen in der DDR keinen Versorgungsausgleich. Die Bundesregierung erklärt uns, man habe nach Lösungen gesucht und keine gefunden. ({9}) Wir haben einen Antrag vorgelegt, der zwei Varianten enthält, wie man diesen geschiedenen Frauen rechtlich sauber entgegenkommen kann. Sie sagen dazu nur Nein. Warum? Erklären Sie das den geschiedenen Frauen im Osten! ({10}) Wir haben einen Antrag zu den Balletttänzerinnen und Balletttänzern vorgelegt. Sie bekamen eine berufsbezogene Zuwendung bei der Rente. Diese ist zum 1. Januar 1992 von Ihnen ersatzlos gestrichen worden. Warum? Erklären Sie das den relativ wenigen Balletttänzerinnen und Balletttänzern!

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gysi, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gysi, ich will Ihren Redefluss ungern unterbrechen. Aber wenn Sie Personengruppen in der DDR nennen und sagen: „Da brauchen wir eine Lösung“, dann kann es durchaus sein, dass das auch Wechselwirkungen für den Westen hat. Was die Geschiedenen angeht, gab es vor 1977 auch in der BRD keinen Versorgungsausgleich. ({0}) Wenn Sie jetzt einen fiktiven Versorgungsausgleich für Geschiedene in der DDR fordern, meinen Sie dann auch, dass es einen fiktiven Versorgungsausgleich für Geschiedene in der BRD vor 1977 geben muss? Nur dann wäre es gerecht. Alles andere wäre völlig ungerecht und einseitig. Dazu müssten Sie sich bekennen und auch sagen, wer den fiktiven Versorgungsausgleich bezahlen soll, den Sie fordern. Vielleicht die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die damit nun wirklich nichts zu tun haben? Wer soll das, was Sie fordern, bezahlen? ({1})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Hier kriegt man schon für die Frage Beifall. Ich dachte, den gibt es für die Antwort. ({0}) Warten Sie doch ab! Ich wollte dazu noch Folgendes sagen: Erstens können wir uns darauf verständigen, dass es auch für die entsprechenden Personengruppen aus den alten Bundesländern einen Ausgleich geben muss. Heute geht es um einen Antrag, der den Osten betrifft. Zweitens soll das Vorhaben nicht aus Beiträgen, sondern aus Steuern finanziert werden. ({1}) - Ja, warten Sie ab. Wenn wir in Deutschland nur den Steuerdurchschnitt der 15 alten EU-Mitgliedsländer erreichen würden, dann hätten wir jährlich Mehreinnahmen von 120 Milliarden Euro. Davon wäre das alles finanzierbar. ({2}) Jetzt komme ich zu einer weiteren Gruppe, nämlich zu den 500 Bergleuten der Braunkohleveredlung in Borna/Espenhain, die derartig schwere gesundheitliche Belastungen hatten, dass sie einen Rentenanspruch wie Bergleute unter Tage erwarben. Das ist von Ihnen aberkannt worden. Warum? Erklären Sie das diesen 500 Menschen! ({3}) Wer in der DDR Angehörige pflegte und dafür Pflegegeld erhielt, erwarb dafür Rentenanwartschaften. Diese haben Sie bis zum 31. Dezember 1996 anerkannt. Diejenigen, die danach in Rente gegangen sind, bekommen dafür nichts mehr. Erklären Sie jemandem, der im Dezember 1996 in Rente gegangen ist, dass er anders als derjenige, der im Januar 1997 in Rente gegangen ist, dafür eine Rente bekommt! Das ist indiskutabel. ({4}) Davon sind, um zu einer weiteren Kritik zu kommen, auch die Eltern von impfgeschädigten Kindern betroffen, die ihre Kinder jahrelang gepflegt haben und Rentenanwartschaften erwarben, die Sie nicht mehr anerkennen, und zwar im Unterschied zu Westdeutschen, bei denen diese Zeiten anerkannt werden. In der DDR gab es bis 1961 private Land- und Forstwirte. Es gab immer private Handwerker und andere Selbstständige sowie deren mithelfende Familienangehörige. Sie unterlagen in der DDR nicht immer einer Versicherungspflicht, erwarben aber auch in diesen Zeiten einen Rentenanspruch. Nach 1990 wurden die Zeiten ihrer Selbstständigkeit weiterhin rentenwirksam anerkannt, und zwar wiederum bis zum 31. Dezember 1996. Wer aber etwas jünger war und danach in Rente ging, bekam für die Zeit als Selbstständiger oder als mithelfende Ehefrau keine Rente mehr zuerkannt. Wozu gibt es eigentlich die FDP, wenn Sie sich nicht einmal mehr um die privaten Handwerker und deren Ehefrauen kümmern? Das alles muss die Linke machen, weil Sie nicht einmal diese Art der Interessenvertretung organisieren. ({5}) Es gab Personen, die auf dem zweiten Bildungsweg oder mit längeren Studiengängen verlängerte Ausbildungszeiten hatten. Das galt auch für die Spitzensportler. Diese verlängerten Ausbildungszeiten wurden rentenwirksam anerkannt. Sie haben auch das anerkannt, wiederum bis zum 31. Dezember 1996. Wer danach in Rente ging, bekam die verlängerten Ausbildungszeiten nicht mehr anerkannt. Warum bestrafen Sie immer die Jüngeren? Ich kann das nicht nachvollziehen. Ins Ausland mitgereiste Ehepartnerinnen und Ehepartner von dort Berufstätigen, die selbst nicht beruflich tätig waren, erwarben dennoch Rentenansprüche. Auch diese Ansprüche haben Sie für Personen anerkannt, die bis zum 31. Dezember 1996 in Rente gingen. Denjenigen, die danach in Rente gingen, haben Sie die Anerkennung versagt. Wieder eine Bestrafung der Jüngeren ohne jede Erklärung. ({6}) Dann gab es Versicherte in der DDR, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrachen, zum Beispiel wegen Kindererziehung. Es handelt sich dabei überwiegend um Hausfrauen und nur um ganz wenige Hausmänner. Diese konnten in dieser Zeit „Marken kleben“. Deshalb erwarben sie weiterhin Anwartschaften auf Rente. Das haben Sie einfach gestrichen. Warum? Erklären Sie doch einmal den Hausfrauen, die jahrelang „Marken geklebt“ haben, warum Sie ihnen diese Jahre nicht anerkennen und das einfach gestrichen haben! Das ist nicht nachvollziehbar. Das ist grob ungerecht. Die meisten Betroffenen erhalten heute Grundsicherung. ({7}) - Auch Sie haben wirklich keine Ahnung. Aber Sie lade ich nicht zusätzlich zum Essen ein. Einer reicht mir. ({8}) Kommen wir zum Versorgungsunrecht. In der DDR gab es - damit haben Sie recht - Zusatzversorgungen für wissenschaftliche, pädagogische, medizinische, technische und künstlerische Intelligenz sowie im öffentlichen Dienst. Außerdem gab es Sonderversorgungssysteme für sämtliche Sicherheitsorgane, Armee, Polizei, Staatssicherheit etc. Die hier erworbenen Ansprüche wurden zu großen Teilen nicht mehr anerkannt. Warum richten Sie nicht wenigstens ein befristetes Versorgungssystem sui generis ein, das die Ansprüche aus der Zusatzversorgung der DDR wenigstens einigermaßen wahrt? Für solche Personen, die einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem der DDR angehörten, werden die Ansprüche bis zum 30. Juni 1995 nur unvollständig, aber immerhin teilweise anerkannt. Wer allerdings danach in Rente ging, bekommt aus diesem System gar nichts mehr. Erklären Sie den Jüngeren, warum die einen schlimmere Verbrecher sind als die anderen! Das können Sie doch auch nicht erklären. Bloß weil jemand ein Jahr jünger ist, bekommt er gar nichts mehr aus dem Sonderversorgungssystem, ganz abgesehen davon, dass es sowieso falsch ist, Biografien bei der Rente zu bewerten. ({9}) Aber weshalb versagen Sie diesem Personenkreis bis heute den Vertrauensschutz? Dann gab es Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn, die eine spezielle Altersversorgung hatten. Diese galt - das ist interessant - von 1856 bis 1945. Sie wurde dann von den Sowjets ausgesetzt und 1956 wieder eingeführt. Sie haben das bis 1996 anerkannt. Wer aber ab 1997 in Rente ging, dem wird das nicht mehr anerkannt. Erklären Sie das den Reichsbahnerinnen und Reichsbahnern! ({10}) Eine ähnliche Regelung gilt für die Angehörigen der Deutschen Post. Dort haben Sie dieselbe Entscheidung getroffen. Dann gibt es Professorinnen und Professoren neuen Rechts, Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Dienst sowie Beschäftigte in universitären und wissenschaftlichen Einrichtungen. Sie erhalten wesentlich geringere Altersbezüge als ihre Kolleginnen und Kollegen in den alten Bundesländern. Besonders benachteiligt sind diejenigen, die zwischen 1995 und 2005 in Rente gingen. Die Ursache sind verspätete Verbeamtung und Aufnahme in die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder. Warum behandeln Sie diese Personen nicht nach dem seit 1990 geltenden Recht? Sie hätten sie von Anfang an in die Altersvorsorge einbeziehen müssen. Auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der DDR, die nach 1990 ihre Tätigkeiten im öffentlichen Dienst fortsetzen konnten, die Sie also übernommen haben, sind in ihrer Altersversorgung schlechter gestellt, weil auch bei ihnen die Verbeamtung und die Aufnahme in die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder erst 1997 erfolgten. Weshalb verschließen Sie sich bis heute einer Regelung, die die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes schon ab 1990 vollständig in die schon damals geltende Altersversorgung einbezieht? Dann gibt es Angehörige der Bundeswehr, des Zolls und der Polizei, die ihre Tätigkeit nach 1990 fortsetzten, die Sie also übernommen haben. Diese sind gegenüber ihren westdeutschen Kolleginnen und Kollegen ebenfalls schlechter gestellt, weil ihre in der DDR erworbenen Anwartschaften nicht vollständig anerkannt und berücksichtigt werden. Warum verweigern Sie hier die Übernahme? Des Weiteren gibt es keine einheitlichen Regelungen für Angehörige der technischen Intelligenz. Lassen Sie mich als Beispiel die Ingenieurinnen und Ingenieure nennen, die zu DDR-Zeiten eine spezielle Zusatzversorgung hatten. Bis heute sind bestimmte Berufsabschlüsse nicht anerkannt. Wenn der Betreffende Chemiker, die Betreffende Physikerin oder der Betreffende Mathematiker war, werden die Ansprüche nicht anerkannt. Wenn die Betreffenden in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften des Handwerks, beim Konsum oder bei der Interflug tätig waren, bekommen sie keine Zusatzversorgung. Dann gibt es eine Stichtagsregelung, die absurd ist. Danach muss die Ingenieurin oder der Ingenieur bis zum 30. Juni 1990 in einem volkseigenen Betrieb gearbeitet haben. Wenn der Betrieb zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Volkseigentum war, sondern schon umgewandelt war, bekommen die Betreffenden keine Rente. Erklären Sie einer Ingenieurin oder einem Ingenieur, weshalb sie oder er die Rente verliert, bloß weil der Betrieb nicht mehr Volkseigentum war, sondern sich in Privatbesitz befand. Das ist geradezu absurd, selbst aus kapitalistischer Sicht, finde ich. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Gysi, bedenken Sie: Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Außerdem gibt es Personen mit herausgehobenen Positionen im Partei- und Staatsapparat. Sie wurden früher nach der Einkommenshöhe beschnitten; jetzt werden sie wegen ihrer Tätigkeit beschnitten. Ich sage noch einmal: Strafrecht hat im Rentenrecht nichts zu suchen. Deshalb muss das weg. In Ihrem Koalitionsvertrag steht - damit schließe ich -: Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein. Wenn Sie das wirklich wollen, dann müssen Sie heute allen Anträgen zustimmen. Eines sage ich Ihnen auch: Es stimmt, in jeder Legislaturperiode kommen wir wieder mit diesen Anträgen. Es ist ein Glück, dass es die Linke gibt, die diese Ungerechtigkeit immer wieder anspricht. Sie würden das nie auf die Tagesordnung setzen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Gysi, was Sie vernachlässigen, ist: Die DDR gibt es nicht mehr. ({0}) Das System, in das eingezahlt worden ist, war nicht die gesetzliche Rentenversicherung, sondern das DDR-Rentensystem. ({1}) Dadurch wurden keine Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgebaut. Es ist in der Tat eine große Leistung gewesen, trotzdem die DDR-Rente in das Gesamtrentensystem zu überführen. ({2}) Dass dies gelungen ist, liegt an der Umlagefinanzierung. ({3}) Nur durch sie war dies möglich. ({4}) Insofern kann man nicht sagen, dass jegliche Zusatzversorgung übernommen werden musste. Es war ein komplett anderes System. Es ist klar: Wenn man zwei Systeme zusammenführt, dann gibt es immer einzelne Fälle, in denen sich Menschen benachteiligt fühlen oder tatsächlich benachteiligt sind. Für die Betroffenen haben wir großes Verständnis. Es ist aber falsch, den ganzen Prozess 20 Jahre später von vorne zu beginnen und alles neu zu überlegen. Deswegen halten wir die Generalüberholung, wie Sie sie mit Ihren 19 Anträgen vorschlagen, für falsch. Wir meinen aber nicht, dass man alles beiseiteschieben und dagegen stimmen sollte, wie das die Koalitionsfraktionen machen. Wir wollen vielmehr genau hinschauen. Dabei müssen nach unserem Dafürhalten vor allen Dingen zwei Kriterien erfüllt sein: Erstens. Die Gruppen, bei denen etwas getan werden muss, sind besonders benachteiligt worden. Zweitens. Es muss gewährleistet werden - darauf hat der Kollege Schaaf in seiner Zwischenfrage schon hingewiesen -, dass keine weiteren Ungerechtigkeiten entstehen, etwa in der Form, dass Ostrentner anders als Westrentner behandelt werden. Das heißt, es muss sich um eine Benachteiligung gegenüber Westrentnern handeln, die gegebenenfalls ausgeglichen werden muss. Wenn man diese beiden Kriterien zugrunde legt, kommen wir zu dem Ergebnis, dass nur bei einer sehr kleinen Anzahl von Gruppen Bedarf besteht, nachzujustieren. Darüber hinaus mag es einzelne Härtefälle geben. Daher finde ich den Vorschlag der SPD, einen Härtefallfonds einzurichten, durchaus sympathisch. Ich bin auf den entsprechenden Antrag gespannt. Gegebenenfalls kann man ihm zustimmen. Man müsste sich die Kriterien, den Umfang und die Finanzierung genau anschauen. Dass ganze Gruppen benachteiligt sind, ist häufig gar nicht unbedingt der Fall. Diese Behauptung ist zu grob, und es wird alles über einen Kamm geschoren. Es gibt tatsächlich einige wenige Gruppen, bei denen es Nachjustierbedarf gibt. Deswegen haben wir einen Antrag zur Verbesserung der Versorgung Geschiedener gestellt. Wir hoffen, dass dieser Antrag eine Chance hat, angenommen zu werden. Grundlage dieses Antrags ist nämlich ein Beschluss des Bundesrates, in dem die Grünen bekanntlich nicht die Mehrheit haben. Der Bundesrat hat am 24. September letzten Jahres beschlossen - ich zitiere -: Der Bundesrat bittet die Bundesregierung nachdrücklich, eine befriedigende Lösung für die im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 geschiedenen Ehegatten herbeizuführen. - Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, insbesondere die Abgeordneten aus Ostdeutschland, haben gleich die Möglichkeit, mit dafür zu sorgen, dass auch der Bundestag die Bundesregierung auffordert, eine Lösung herbeizuführen. Wir haben den Beschluss des Bundesrates einfach kopiert und dabei lediglich das Wort „bitten“ durch das Wort „auffordern“ ersetzt. Aber wir sagen wenigstens, woher die Kopie kommt. ({5}) - Insofern ist das kein Plagiat, sondern wir haben das korrekt zitiert. ({6}) Um es Ihnen besonders leicht zu machen, haben wir sogar eine identische Begründung verwendet. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, tun Sie es Ihren Landesregierungen nach und stimmen Sie unserem Antrag zu! Die Partei Die Linke beschäftigt sich wieder einmal mit der Vergangenheit, nämlich mit der Situation von vor 20 Jahren und mit dem, was damals bei der Rentenüberleitung vielleicht schiefgelaufen ist oder nicht. Deswegen möchte ich die restlichen anderthalb Minuten meiner Redezeit nutzen, um nach vorne zu gucken. Im Koalitionsvertrag steht, es solle ein einheitliches Rentenrecht geben. Ich habe gerade durch einen Zwischenruf nachgefragt, wann da endlich etwas passiert. Sicherlich gibt es beim zuständigen Bundesministerium eine Rentenabteilung; sie hat sich sicherlich nicht nur mit Hartz IV befassen müssen. ({7}) Aber bisher gibt es da noch keine Initiative. Wenn in dieser Legislaturperiode tatsächlich noch etwas passieren soll, dann wird die Zeit dafür langsam knapp; denn die Rentenversicherung braucht für eine solch umfangreiche Reform Zeit, um das zu implementieren. Wir finden, dass es über 20 Jahre nach der deutschen Einheit endlich Zeit ist, dass der Rentenwert in beiden Landesteilen identisch ist und die Rente identisch berechnet wird. Das heißt, wir wollen ein einheitliches Rentenrecht für Ost und West. Wir wollen auch, dass in beiden Landesteilen der gleiche Lohn zu einem gleichen Rentenanspruch führt. Wir werden den Menschen in Ostdeutschland gerecht, wenn wir sagen, ihr Lohn ist genauso viel wert wie im Westen und nicht 20 Prozent weniger. ({8}) - Herr Birkwald, zu Ihrem Zwischenruf. Ich finde nicht, dass man alle Ungerechtigkeiten dieser Welt im Rentenrecht lösen muss. Wir müssen in Ost und West in der Tat zu einer gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit kommen. Natürlich brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn, der in Ost und West gleich hoch ist, um da eine Untergrenze zu finden. So muss man an die Lösung gehen. Sie fordern ja auch nicht, dass Frauen für ihren Lohn höhere Rentenansprüche bekommen sollen, weil Frauen 25 Prozent weniger verdienen als Männer. Dazu sagen wir: Wir brauchen die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen und keine höheren Renten für Frauen wegen geringerer Löhne. ({9}) So muss man darangehen. Man darf nicht alles im Rentenrecht regeln. ({10}) Stattdessen wollen wir eine Untergrenze, eine Garantierente für Ost und West einführen. Jetzt sind die Renten im Osten höher. Wenn man jedoch alles zusammenzählt, sieht man: Die Einkommenssituation im Osten ist jetzt schlechter als im Westen - anders als vor 20 Jahren, als die Rentner im Osten die Gewinner der deutschen Einheit waren. Mit einer solchen Garantierente schaffen wir tatsächlich einen Schutzwall gegen künftige Altersarmut, von der der Osten besonders betroffen sein wird. Aber Altersarmut gibt es, wie gesagt, nicht nur im Osten. Wir sollten viel mehr gesamtdeutsch denken, als das die Linke in ihren Anträgen tut. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man könnte geradezu das Lied „Alle Jahre wieder“ anstimmen - wenn es nicht noch zehn Monate bis Weihnachten wären -; denn alle Jahre wieder bekommen wir ungefähr die gleichen Anträge vorgelegt, Anträge, über die wir schon zigmal beraten haben, ({0}) zu denen wir mehrmals Fachexperten angehört haben und die zu einem Großteil im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages behandelt worden sind. Es ist schon verwunderlich, dass das Urteil der Rentenexperten zu den vorgelegten Anträgen offensichtlich von einer Fraktion permanent nicht zur Kenntnis genommen wird. ({1}) Ich möchte Herrn Professor Ruland, immerhin Vorsitzender des Sozialbeirats, aus dem Jahr 2009 - damals haben wir unsere letzte Anhörung zu diesem Thema durchgeführt - zitieren. Er hat damals festgestellt: Es hat zu der grundsätzlichen Regelung im Rentenüberleitungsgesetz keine Alternative gegeben. ({2}) Er führt dazu weiter aus: Bei der Rentenüberleitung mussten ja in sehr kurzer Zeit sehr verschiedene Systeme zusammengeführt werden. Das Problem lag darin, dass es in der damaligen Situation außerordentlich schwer war, einen Überblick darüber zu bekommen, welche Regelungen galten und welche Sondersysteme existierten. Man hat in dieser Zeit fast täglich neue Sondersysteme entdeckt. Viele davon waren nicht einmal rechtlich kodifiziert, dafür gab es kein Gesetz. Im Einigungsvertrag ist die Schließung der Sonderversorgungssysteme bis zum Dezember 1991 festgelegt worden. Eine Regelung, die das rückgängig machte, stünde nicht in Übereinstimmung mit dem Einigungsvertrag. ({3}) Das ist das Problem. ({4}) Mit den Anträgen, die heute wieder zur Abstimmung gestellt werden, wird folgender Fakt vernebelt: Die Rentenüberleitung im Zuge der deutschen Einheit war, ist und bleibt die größte sozialpolitische Solidarleistung der Deutschen, die es je gegeben hat. ({5}) Peter Weiß ({6}) Hätten wir diese Rentenüberleitung nicht vorgenommen, dann würde heute der größte Teil der Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutschlands in Armut leben. Das ist die Wahrheit. Vor diesem Schicksal haben wir sie mit der Rentenüberleitung bewahrt. In diesem Zusammenhang möchte ich einen kurzen Blick in die Vergangenheit werfen: ({7}) Gerade einmal 30 bis 40 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens wurden in der ehemaligen DDR als Rente ausgezahlt. Wenn wir dieses System beibehalten hätten, könnte die Mehrheit dieser Rentnerinnen und Rentner nicht von dem Geld existieren. Sie würden in Altersarmut leben. ({8}) Mit der Rentenüberleitung haben wir dafür gesorgt, dass die Rentnerinnen und Rentner in der ehemaligen DDR im ersten Jahr der Wiedervereinigung rund 35 Prozent einer Westrente erhielten; das war schon wesentlich mehr als das, was ihnen in der DDR ausgezahlt worden wäre. Mittlerweile haben wir für die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern ein Rentenniveau in Höhe von 89 Prozent einer Westrente erreicht. Die Rentenüberleitung hat für eine Sicherheit im Alter gesorgt, die sich viele Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu DDR-Zeiten überhaupt nicht hätten vorstellen können. Es ist deshalb gegenüber der großartigen Solidarleistung, die im Wesentlichen von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern erbracht wird, ungerecht, dass die Linke jetzt verschiedene Sondersysteme aus alten DDR-Zeiten wieder öffnen will. Ich persönlich verstehe, dass sich diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen in der ehemaligen DDR in Form eines Sondersystems eine Leistungszusage gemacht worden ist, ungerecht behandelt fühlen, weil sie aus diesem Sondersystem jetzt keine Leistung erhalten. Aus Sicht dieser Menschen ist damit eine Rechtsposition aufgegeben worden, die sie vermeintlich hatten. Unser gesamtdeutsches Rentensystem kennt aber aus guten Gründen keine Sonderregelungen. Unsere Rente ist lohn- und beitragsbezogen, und das gilt für alle Personengruppen. ({9}) Damit ist unser Rentensystem ein Rentensystem, das Gleiches gleich behandelt. Es ist insofern gerecht, weil nicht danach unterschieden wird, in welchem Beruf ein Arbeitnehmer beschäftigt war. Die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rentenversicherung ist die Grundlage der Solidarität und der Gerechtigkeit in unserem gesamtdeutschen Rentensystem. ({10}) In der Anhörung hat der Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes ausdrücklich auf einen Punkt hingewiesen, der auch schon angesprochen worden ist. Die Frage, ob ein Bürger der ehemaligen DDR die aus einem Sonderversorgungssystem zugesagte Leistung je eingelöst bekommen hätte, wird von den Linken klugerweise gar nicht beantwortet. Es ist offenkundig, dass eine bankrotte DDR den betreffenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die zugesagten Leistungen nie und nimmer als Rente hätte auszahlen können. ({11}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, die Koalition aus CDU/CSU und FDP, wollen ein gesamtdeutsches einheitliches Rentensystem. Im Gegensatz zu dem, was der Kollege Gysi vorgetragen hat, ist zu sagen: Wer ein einheitliches, gesamtdeutsches Rentensystem will - dieses wird ja von allen Beitragszahlerinnen und -zahlern akzeptiert, weil es gerecht ist -, der darf Sonderversorgungssysteme und Sonderregelungen nicht neu auflegen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ottmar Schreiner von der SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst als Vorbemerkung sagen, dass die Rentenüberleitung in den frühen 90er-Jahren, aus meiner Sicht jedenfalls - ich war damals von sozialdemokratischer Seite gemeinsam mit Regine Hildebrandt und Rudolf Dreßler beteiligt -, einen herausragenden Beitrag zum sozialen Frieden im vereinigten Deutschland geleistet hat. ({0}) Das kann man sagen, wohl wissend, dass es in der Folge zu einer Reihe von Härtefällen und einer Reihe von Widersprüchen gekommen ist, die zum allergrößten Teil angesichts der enormen Komplexität des Themas und angesichts der Eile, in der das Thema damals parlamentarisch abgearbeitet werden musste, nicht vermeidbar waren. ({1}) - Bitte? Ich habe nicht ganz verstanden, was Sie gesagt haben. ({2}) Wollen Sie eine Frage stellen? Das geht ja schon früh los.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Zwischenfrage ist bereits genehmigt.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Schreiner, ich habe eine sehr hohe Achtung vor Ihnen, weil ich weiß, dass Sie damals, als im Deutschen Bundestag in Bonn über die Rentenüberleitung beraten wurde - ich habe dabei in der hinteren Reihe gesessen -, als Experte bei dem damaligen Staatssekretär Seehofer häufig nachgefragt haben: Herr Seehofer, wie war das in der DDR? Muss man heute diese Regelung so fällen? Da hat Herr Seehofer häufig gesagt: Nein, man muss das nicht so machen; das ist Ihre politische Entscheidung. Es waren dann nicht Sie, sondern andere, die gesagt haben: Nein, das muss man so machen, weil das Privilegien des Ostens waren. Dieses Argument kam vor allen Dingen von der CDU- und FDP-Seite. Können Sie bestätigen, dass es damals so war, ({0}) dass Sie dies hinterfragt haben und auch nicht mit allem einverstanden waren?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Ich habe eben ganz bewusst gesagt, dass das Thema damals eine ganze Menge Konfliktstoff in sich barg. Dieser besteht zum Teil, wie man an der heutigen Debatte sieht, bis in die Gegenwart. Das ist angesichts der enormen Komplexität und des hohen Schwierigkeitsgrads, zwei in Teilen sehr unterschiedliche Rentensysteme zusammenzubringen, auch nicht verwunderlich. Das geschah übrigens in der Regel auf der Basis der westdeutschen gesetzlichen Rentenversicherung, obwohl auch einige von uns der Meinung waren, man müsse einige damals im DDR-Rentensystem vorhandene Ansätze, die durchaus mit dem westdeutschen System zusammenführbar gewesen wären, stärker berücksichtigen. Das gilt insbesondere für die Verankerung von Mindestrenten im System; das ist nicht in dem Maße erfolgt, wie wir uns das vorgestellt hatten. Das ist ein Beispiel; ich könnte Ihnen eine Fülle von weiteren Beispielen nennen. All das hält mich nicht davon ab, in der Gesamtbewertung zu sagen: Die Zusammenführung der Systeme auf der Grundlage der gesetzlichen Rentenversicherung stellt einen großartigen Beitrag zur Wahrung des sozialen Friedens im gemeinsamen Deutschland dar, zumal wir Anfang der 90er-Jahre große Probleme auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt mit denkbar unkalkulierbaren Folgen hatten. Insofern war die Rentenversicherung ein Stabilisierungsfaktor. Das sollte sie auch zukünftig bleiben. ({0}) Wenn man sich die Anträge der Linkspartei anschaut, so stellt man fest: Diese sind seit geraumer Zeit, auch wenn es kleine Korrekturen gibt, im Wesentlichen unverändert. Ich habe mir das Protokoll der Anhörung vom 30. April 2009 durchgelesen. Diese ist jetzt knapp zwei Jahre her. Auf diese umfängliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales komme ich gleich zurück. Zunächst einmal möchte ich aber sagen, worum es geht, weil diese Debatte für viele außerhalb des Parlaments völlig unverständlich ist. Es geht im Kern um die Probleme, die bei der Überführung der sogenannten Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der ehemaligen DDR in die gesetzliche Rentenversicherung entstanden sind. Nach meinen Zahlen gab es in der ehemaligen DDR etwa 61 dieser Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, die teilweise außerordentlich unterschiedlich ausgestaltet waren. Es gab Systeme mit einer Beitragspflicht, und es gab Systeme ohne Beitragspflicht. Es bestand also eine extrem unübersichtliche Situation, was die Gesamtheit dieser Zusatz- und Sonderversorgungssysteme anbelangte. Daraus mussten sich Probleme ergeben, weil natürlich Kernelemente der gesetzlichen Rentenversicherung, in die diese Sondersysteme überführt worden sind, zu beachten waren. Darunter fielen die starke Beitragsabhängigkeit der Leistungen und die Begrenzung der Anwartschaften entsprechend der Beitragsbemessungsgrenze. Es war völlig klar, dass Besonderheiten der sozialrechtlichen Absicherung in der DDR nicht in dem Maße berücksichtigt werden konnten, wie das für einige Beteiligte wünschenswert gewesen wäre. Ebenso war klar, dass es sozialpolitisch nicht in jedem Fall unbedenklich war, so zu handeln, weil damals die DDR-Bürger wesentliche Entscheidungen in ihrem privaten und beruflichen Leben mit Blick auf rentenrechtliche Rahmenbedingungen getroffen hatten. Eine Reihe von sogenannten Härten wurde in der Folge durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeglichen. Ich sage hier in aller Klarheit für die SPD: Falls dennoch in einzelnen Bereichen Unterversorgung aufgrund der damaligen Maßnahmen besteht, sind wir gerne bereit, den Handlungsbedarf zu prüfen und die Probleme sehr schnell abzuarbeiten. ({1}) Was bei der Anhörung aufgefallen ist, ist Folgendes: Es ist von den Vertretern der Linkspartei gesagt worden, die Sachverständigen, die sich damals gegen die Vorschläge der Linkspartei ausgesprochen haben, seien die Sachverständigen der anderen Fraktionen. Da machen Sie es sich viel zu einfach. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Sozialverbände und die Deutsche Rentenversi10456 cherung sind keine Organisationen von irgendwelchen Fraktionen in diesem Haus. Das sind unabhängige Organisationen, die sich eine Einflussnahme strikt verbitten würden. Ich habe mir die Mühe gemacht, mir die schriftlichen Erklärungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Sozialverbände, in Sonderheit die des Sozialverbands Deutschland e. V., entlang dieser Anhörung etwas genauer anzuschauen. Sie werden so gut wie keinen einzigen Vorschlag der Linkspartei finden, der von diesen Verbänden nicht deutlich kritisiert worden ist. ({2}) Es ist bedauerlich, dass die Linkspartei letztlich keinen der Kritikpunkte, die von den Gewerkschaften und den Sozialverbänden angesprochen worden sind, aufgenommen hat und in veränderte Vorschläge einfließen ließ. Ich will einmal versuchen, das am Beispiel von zwei Bereichen deutlich zu machen. Der erste Bereich - er wurde bereits vom Kollegen Gysi angesprochen - betrifft die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen der ehemaligen DDR, die besonders schlecht bezahlt worden sind. Offenkundig war es als eine Entschädigung für die sehr schlechten Löhne gedacht, für diese Beschäftigten im DDR-Rentenrecht einen Steigerungsfaktor von 1,5 einzuführen. Jedweder Steigerungsfaktor war dem westdeutschen Rentenrecht völlig fremd. ({3}) - Bei der Knappschaft gibt es andere Regelungen; aber es gibt keine Steigerungsfaktoren, die generell in der gesetzlichen Rentenversicherung wirken. Das bundesdeutsche Recht kennt diese Steigerungsbeträge nicht. Ein anderes Problem betrifft die Frage, ob die niedrigen Löhne im Gesundheitsbereich der ehemaligen DDR heute rentenrechtlich noch korrigierbar sind und korrigiert werden sollten. Wenn man das macht, Kollege Gysi, dann muss man konsequenterweise hinzufügen, dass es damals auch in Westdeutschland Niedriglohnsektoren gab, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie heute. Man müsste also auch für diese Bereiche im Nachhinein eine spürbare Verbesserung bewerkstelligen, weil man sich ansonsten dem berechtigten Vorwurf aussetzte: Für die einen tut ihr was, und die anderen lasst ihr links, rechts oder sonst wo liegen. - Das ist politisch nicht durchzuhalten. ({4}) Das zweite Beispiel, das ich im Zusammenhang mit Ihren Anträgen nennen will, bezieht sich auf die Beseitigung von Rentennachteilen für Zeiten der Pflege von Familienangehörigen in der ehemaligen DDR. Das ist für mich ein besonders beeindruckendes Beispiel, weil ich immer zu denen gehört habe, die der Meinung waren, dass wir notwendige Pflegezeiten entsprechend honorieren müssen. Es gibt auch aktuell eine Debatte darüber, das verstärkt zu tun; das ist nichts Neues. Nur muss man dann natürlich konsequenterweise dazusagen, dass wir im bundesdeutschen Recht 1992 zum ersten Mal eine Anrechnung von Pflegezeiten hatten und dass die von Ihnen begehrte Anerkennung auf Zeiten fällt, in denen westdeutsche Versicherte, die notwendige Pflegedienste leisteten, keinerlei rentenrechtliche Ansprüche erwerben konnten. Wenn man diese Zeiten anerkennen würde, müsste man es für alle machen. Es macht keinen Sinn, eine isolierte Ostregelung zu forcieren, weil das in weiten Teilen des Westens auf großes Unverständnis stoßen würde.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schreiner, der Herr Kollege Gysi würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das abzulehnen, wäre jetzt wirklich merkwürdig. Bitte.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Schreiner, es geht doch um folgendes Problem: Den Krankenschwestern etc. in der DDR war das doch versprochen worden, ({0}) weil sie zu geringe Löhne bekamen. - Moment! Das habe ich doch gesagt. - Deshalb war ihnen bei der Rente ein Erhöhungsfaktor versprochen worden. Das war etwas, worauf sie sich bei der Arbeit verlassen hatten. Aber dann streichen Sie den Erhöhungsfaktor und sagen, dass das westdeutsche Recht dies nicht kenne. So bekommt man doch keine Vereinigung hin. Auch bei der Pflege hatten sie sich darauf verlassen, dass diese Zeiten als Rentenanwartschaftsjahre gelten. Aber dann sind sie einfach gestrichen worden. Verstehen Sie? Da ist doch Vertrauen verloren gegangen. Diese Menschen sagen: Ich habe immer gearbeitet, und das war mir zugesichert. Dann kommt die deutsche Einheit, und dann wird dieser Faktor gestrichen. ({1})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Gysi, wir sind im Kern in dieser Frage nicht so furchtbar weit auseinander. Wir sind in der Frage auseinander, ob dieser Stabilisierungsfaktor, der nur im DDR-Recht galt und vermutlich auch nur für ganz wenige Bereiche - mir ist nicht klar, ob dies außerhalb des Gesundheitswesens noch für irgendeinen anderen Sektor galt -, der Logik nach in die Konstruktion der gesetzlichen Rentenversicherung mit Beitrags- und Lohnbezogenheit, mit Beitragsbemessungsgrenze usw. hineinpasst. Es bleibt aber das Kernproblem einer rentenrechtlichen Besserstellung von Leuten im Osten wie im Westen, ({0}) die in schlecht bezahlten Niedriglohnsektoren gearbeitet haben, und Lösungsversuche stoßen bei der SPD auf ausgesprochen große Sympathien. ({1}) Ich will dazu einen Kollegen der CDU zitieren, und zwar den Kollegen Karl-Josef Laumann. Er ist inzwischen Fraktionsvorsitzender der CDU im nordrheinwestfälischen Landtag und gleichzeitig Chef der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Ich schätze den Kollegen Laumann sehr. Er hat vor kurzer Zeit die Einführung der Rente nach Mindesteinkommen gefordert. Er sagte, ein Durchschnittsverdiener müsse 27 Jahre in die Rentenkasse einzahlen, um die Grundsicherung zu bekommen. ({2}) Das sei nicht leistungsgerecht. Wer Jahrzehnte eingezahlt habe, müsse mehr bekommen als jemand, der nie Beiträge überwiesen habe. Dazu kann ich nur sagen: Bravo! Das ist völlig richtig. - Der Grundsatz „Leistung muss sich lohnen“ ist doch das Mantra, das die FDP pausenlos vor sich herträgt. Der Grundsatz „Arbeit muss sich lohnen“ muss für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch später bei der Rente gelten. Das ist doch völlig unbestritten. ({3}) Die Bekämpfung drohender Altersarmut, und zwar nicht erst die im Jahr 2030 drohende Altersarmut, ist - über die 19 Anträge der Linkspartei hinaus - die eigentliche Herausforderung. Ich zitiere aus Welt Online von gestern Morgen: Altersarmut wächst in Berlin rapide. In Berlin leben immer mehr ältere Menschen, und die Älteren werden immer ärmer. Im Jahr 2009 waren in der gesamten Stadt mehr als 57 500 Menschen darauf angewiesen, zusätzlich zu ihrer Rente eine Leistung der Sozialhilfe vom Staat zu bekommen. Die Rentenarmut wächst rapide. Das ist mit Ergebnis einer Politik, die den Niedriglohnsektor - prekäre Beschäftigungsverhältnisse - systematisch ausgeweitet hat. ({4}) - Es mag sein, dass auch wir da beteiligt waren. ({5}) Ich sage Ihnen nur: Wer erkannt hat, dass das ein Fehler war, und ihn korrigieren will, ist mir tausendmal lieber als Leute, die mit dem Kopf durch die Wand wollen, wie Sie, Herr Kolb. ({6}) Ich sage Ihnen nochmals: Der beste Beitrag zur Bekämpfung drohender Altersarmut ist es, Menschen für anständige Arbeit anständig zu entlohnen. Das gilt für Ostdeutschland, aber auch für Westdeutschland. Wir wissen aus den Zahlen, die wir haben, dass in absehbarer Zeit 30 bis 40 Prozent der Männer in Ostdeutschland eine Rente unterhalb der Grundsicherung erwartet. Bei den Frauen sind die Zahlen noch deutlich höher. Wir kennen Zahlen aus Westdeutschland, nach denen sich die Situation dort nicht ganz so dramatisch darstellt, wir es aber auch dort mit wachsender Altersarmut zu tun bekommen. Es ist kein Leben in Würde, wenn Menschen, die jahre- und jahrzehntelang in die Rentenversicherung eingezahlt haben, im Alter von der Sozialhilfe leben müssen. Deshalb besteht hier dringender Reformbedarf, weit über die 19 Einzelpositionen aus den Anträgen der Linken hinaus. ({7}) Wir von der SPD haben uns vor einiger Zeit dazu entschieden, eine Kommission mit dem vorrangigen Ziel einzusetzen, Vorschläge für die Bekämpfung der drohenden Altersarmut zu entwickeln. ({8}) Bei der einen oder anderen Frage werden die Probleme, die von der Linken dargestellt worden sind, mit aufgegriffen; das liegt auf der Hand. Lassen Sie mich zum Abschluss eine Bemerkung zu einem Thema machen, das in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu dem steht, worüber wir heute beraten. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass dieses Thema für alle Mitglieder des Hohen Hauses beschämend ist. Es geht um die Art und Weise, wie wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten rentenpolitisch mit ehemaligen DDRFlüchtlingen umgegangen sind. Das ist wahrlich kein Ruhmesblatt der deutschen Rentenpolitik. ({9}) Hier geht es zu erheblichen Teilen um Menschen, die bei Gefahr für Leib und Leben die damalige DDR verlassen haben. Es waren Menschen, die teilweise mit erheblichen Repressalien fertigwerden mussten und sich entschieden hatten, das Land zu verlassen. Die ehemaligen DDR-Flüchtlinge sind durch die Überleitungsgesetzgebung Anfang der 90er-Jahre deutlich schlechter gestellt worden. Vorher sind sie nach dem sogenannten Fremdrentengesetz behandelt worden und hatten sich - ähnlich wie andere aus der ehemaligen DDR - auf den Fortbestand dieser Regelung zu ihren Renten verlassen. Da sind sie bitter enttäuscht worden. Teilweise mussten sie mit Einkommensminderungen von mehreren Hundert Euro rechnen. Ich glaube, es stünde dem ganzen Haus gut an, bei dieser Frage alsbald zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Gysi, Sie haben Ihre Redezeit bedauerlicherweise nicht dafür genutzt, uns deutlich zu machen, worin sich die Anträge in diesem Jahr von den Anträgen vor zwei Jahren unterscheiden. ({0}) Insofern können Sie in der Tat nicht damit rechnen, dass Ihre Anträge, die die gleichen wie vor zwei Jahren sind ({1}) und damals von der großen Mehrheit des Hauses abgelehnt wurden, jetzt von der Mehrheit dieses Hauses angenommen werden. ({2}) Für uns gilt in der Tat: Leistung muss sich lohnen. Das, was Sie vorgelegt haben, ist aber keine parlamentarische Leistung. Deshalb wird die große Mehrheit dieses Hauses Ihre Anträge auch in diesem Jahr ablehnen. ({3}) Zweiter Punkt. Herr Gysi, Sie wollten in Ihrer Rede, soweit ich ihr folgen konnte, ({4}) an vielen Einzelbeispielen deutlich machen, warum die Überleitung der Renten, so wie sie geschehen ist, ungerecht sein soll. Die meisten Beispiele bezogen sich auf die Frage von Fristen und Stichtagen. Nun ist es aber Wesen des Gesetzgebungsprozesses, dass wir mit Stichtagen und Fristen arbeiten müssen. Es gäbe keine Weiterentwicklung des Rechts, wenn wir nicht Stichtage und Fristen setzen und diese dann auch anerkennen würden. Wenn wir dies nicht täten, würde nämlich immer altes Recht gelten und neues Recht nicht möglich sein. Sie haben in Ihrer Rede versucht, die grundsätzlich richtige Entscheidung zur Rentenüberleitung anhand einer Fülle von Einzelbeispielen zu kritisieren. ({5}) Sie versuchen nach wie vor, das Vertrauen in diese grundsätzliche Entscheidung zu erschüttern. Ich möchte dazu etwas Grundsätzliches sagen. Die Redner haben in dieser Debatte, aber auch schon in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen: Man muss feststellen, dass es eine Herkulesaufgabe und eine Meisterleistung gesetzgeberischer, aber auch finanzieller Art war, zwei ganz unterschiedliche Rentensysteme zusammenzuführen. ({6}) Dass die Grundsatzentscheidung, das DDR-Rentensystem in das bundesdeutsche Rentenversicherungssystem zu überführen, richtig war, bestreitet niemand. Auch nationale und internationale Gerichte bestätigen seit Jahren, dass die Grundsatzentscheidung, im wiedervereinigten Deutschland ein einheitliches und gemeinsames beitrags- und lohnbezogenes Rentenrecht einzuführen, richtig war. ({7}) Die Alternative wäre gewesen, dass bestimmte Einzelregelungen des DDR-Rechts in das Sozialgesetzbuch VI hätten übertragen werden müssen, obwohl dies in vielen Fällen nicht passt und den Grundsätzen des Sozialgesetzbuchs VI widerspricht. Durch eine solche Übertragung von Einzelregelungen des DDR-Rentensystems in das bundesdeutsche Rentenrecht wäre es im Übrigen zu neuen Ungerechtigkeiten gekommen. Bei einem so komplexen Projekt wie der Überführung zweier so komplexer Systeme zu einem gemeinsamen System Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, ist unmöglich. ({8}) Wir müssen selbstverständlich auch beachten, dass die Umsetzung dessen, was in manchen Anträgen gefordert wird, bedeuten würde, dass wir Privilegien einzelner Berufsgruppen in der DDR gegenüber anderen Berufsgruppen in der DDR in unser heutiges gesamtdeutsches Rentenrecht übernähmen. Wir sollten festhalten: Die Integration des Rentensystems der DDR in das Rentensystem der Bundesrepublik ist wahrlich eine große Leistung. Dadurch ist dafür gesorgt, dass Millionen von Menschen im Alter einen Lebensstandard haben, der ihnen durch das DDR-Rentensystem nicht gewährt worden wäre. ({9}) Unbestritten gehören die Rentnerinnen und Rentner der ehemaligen DDR in ihrer Gesamtheit zu der Gruppe, die finanziell gesehen am meisten von der Einheit profitiert hat. ({10}) Schon zweieinhalb Jahre nach der deutschen Einheit hatte sich der Wert der Rentenzahlungen für das Gebiet der ehemaligen DDR mehr als verdreifacht. Das verdeutlicht die große Leistung, die damals insgesamt erbracht worden ist. Ohne die Überleitung der Renten würden die Rentnerinnen und Rentner im Osten der Republik heute fast alle in Armut leben. Trotzdem sehen wir als FDP durchaus Handlungsbedarf. Die FDP tritt dafür ein - Herr Kolb hat es schon ausgeführt -, dass wir den Menschen über eine günstige Nachversicherungslösung auf freiwilliger Basis eine Perspektive geben, um manche individuellen Härten abzumildern. ({11}) Vorredner heute und in vergangenen Debatten zu diesem Thema haben stets betont, wie schwierig eine gerechte Lösung ist. ({12}) Im Koalitionsvertrag haben FDP und CDU/CSU festgehalten, dass wir das Rentensystem von Ost und West vereinheitlichen werden. Persönlich habe ich die Hoffnung, dass wir im Zuge dieses Verfahrens zahlreiche Einzelfragen der Rentenüberleitung erneut behandeln und abschließend beantworten können. ({13}) Wir können bei diesem Thema keine Einzelfallgerechtigkeit schaffen, auch wenn das wünschenswert wäre. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Linken, machen es sich bei diesem Thema wieder einmal viel zu einfach. Die Lösung des Problems liegt für Sie darin, einfach allen Forderungen einzelner Berufsgruppen pauschal und vollkommen nachzugeben. Dies kann aber wieder zu neuen Ungerechtigkeiten zwischen den verschiedenen DDR-Erwerbsbiografien und den daraus resultierenden Rentenansprüchen führen. Wir dürfen nicht versuchen, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen; denn das würde zu neuen Ungerechtigkeiten führen. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, man sollte bei diesem Thema vielleicht auch darüber nachdenken, dass heutzutage viele Menschen aus der ehemaligen DDR eine geringere Rente erhalten, weil ihnen aus politischen Gründen durch das System der DDR eine bessere Ausbildung oder bessere Berufschancen untersagt oder vorenthalten wurden. ({15}) Das muss man in diesem Zusammenhang ansprechen, auch wenn wir die Ungerechtigkeit des DDR-Systems nicht durch unser Rentenrecht im Nachhinein rückgängig machen können. Ich persönlich finde das schmerzlich, kann an dieser Stelle aber nur in Erinnerung rufen, wo die Zuständigkeiten für dieses Unrecht liegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion gerieren sich heute wieder einmal als Rächer der Enterbten und tun so, als ob sie die Einzigen wären, die sich um die Rentnerinnen und Rentner im Osten kümmern. ({0}) Vergessen wird, wie die Lage der Rentnerinnen und Rentner in der DDR war. Zu Beginn der Debatte wurden schon einige Zahlen genannt; ich möchte noch einige nennen. Anfang der 60er-Jahre lag das Rentenniveau bei etwa 27 Prozent des Bruttoarbeitseinkommens. Von 1972 bis zum Ende des Jahrzehnts stieg die Mindestrente von 160 Mark auf 270 Mark. 1989 beschloss die SED, den Mindestsatz von 300 Mark auf 330 Mark anzuheben. Im Juni 1990 betrug die durchschnittliche Ostrente 475 DDRMark. Vier Jahre später lag sie bei 1 200 D-Mark. ({1}) - Durchschnittlich. Es ist beschämend, wie die Menschen in der DDR behandelt wurden. Zahlreiche Rentnerinnen und Rentner waren aufgrund des geringen Rentenniveaus gezwungen, nach Eintritt in das Rentenalter weiter zu arbeiten. Man sollte sich genauso vor Augen halten, unter welchen Bedingungen die Menschen gelebt und gearbeitet haben. Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, haben zum Beispiel auch einen Antrag für die Bergleute aus der Braunkohleveredelung eingebracht. Ich komme aus dem Süden von Leipzig, einer Landschaft, die früher - auch jetzt noch - stark von der Braunkohleindustrie geprägt war. Ich weiß, wie die Lebensbedingungen und Arbeitsbedingungen der Menschen dort waren. Es wurde in den Betrieben keinerlei Rücksicht auf die Menschen genommen. ({2}) Deshalb können Sie sich doch jetzt hier nicht als Retter darstellen. ({3}) Die SED war doch damals dafür zuständig. ({4}) Die Betriebe wurden bankrottgefahren, und jetzt stellen Sie sich so hin, als seien Sie überhaupt nicht schuldig. ({5}) - Die DDR existiert zum Glück nicht mehr. ({6}) Nach der Ablehnung Ihrer Anträge im Jahr 2009 haben Sie im Bundestagswahlkampf ein Flugblatt gemacht. ({7}) Die Kolleginnen und Kollegen der ostdeutschen Länder können sich sicherlich gut daran erinnern. Ich habe die sächsische Version davon mitgebracht. ({8}) - Bitte nicht vorher lachen. - Wissen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wer genauso gestimmt hat wie Sie? Henry Nitzsche, ehemaliger Rechtsausleger der CDU, später fraktionsloser Abgeordneter im Deutschen Bundestag und jetzt im nationalkonservativen Lager in Sachsen unterwegs. Sind das wirklich Ihre Mitstreiter? ({9}) - Wir sehen das Problem durchaus differenziert. Mein Kollege hat schon gesagt, dass wir bei einigen in den Anträgen angesprochenen Punkten durchaus Veränderungsbedarf sehen. Die DDR-Geschiedenen sind bereits angesprochen worden. Ihr Verein ist sehr aktiv, und ich persönlich habe auch sehr gute Kontakte und unterstütze ihn. Die DDRGeschiedenen haben - das richtet sich an die Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen - übrigens auch Beistand von europäischer Ebene bekommen. Sie klagen jetzt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und auch der CEDAW-Ausschuss, also der UN-Überprüfungsausschuss zur Bewertung der Diskriminierung der Frauen, will sich der Sache annehmen. Wir hatten schon in der letzten Wahlperiode einen Antrag dazu eingebracht. Heute steht ein Antrag zur Abstimmung, der - mein Kollege hat das schon angedeutet vom Bundesrat übernommen wurde. Wir würden uns wirklich sehr freuen, wenn insbesondere für diese Gruppe Abhilfe geschaffen wird. Es gibt eine Regelungslücke, und wir müssen einer größeren Gruppe Betroffener gerecht werden und sollten nicht erst auf die europäische Rechtsprechung warten. Eine langfristige Lösung ist, wie viele Rednerinnen und Redner zu Recht schon gesagt haben, mit den Anträgen der Linksfraktion natürlich nicht zu erreichen. Wir müssen uns gemeinsam mit allen Fraktionen bemühen, endlich ein einheitliches Rentensystem zu schaffen. Viele Bundesregierungen in der Vergangenheit haben sich das schon vorgenommen. Bisher ist es leider nicht geglückt. Wir sind sehr gespannt, was die aktuelle Bundesregierung vorlegen wird. Vielleicht schaffen wir es ja in dieser Wahlperiode, zu einem einheitlichen System zu kommen, das diesen Namen auch verdient. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0}) - Das ist zu spät. Ich habe Herrn Straubinger schon aufgerufen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Vorbemerkung machen: Das Rentenüberleitungsgesetz war und ist für die Menschen in der ehemaligen DDR ein großer Erfolg. Es gibt ihnen eine materielle Sicherheit im Alter, die in der DDR nie möglich war und nie möglich gewesen wäre. Trotz aller Sonderversicherungssysteme und Zusatzsysteme wäre diese materielle Sicherheit für die Menschen in der ehemaligen DDR nie erreicht worden. ({0}) Auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten hat das Rentenüberleitungsgesetz einen großen Beitrag geleistet. Es hat nämlich - das ist die soziale Komponente - zum Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands, von Ost und West, beigetragen. Hinter diesem Erfolg stehen die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die Steuerzahler in unserem Land, die die Grundlage dafür schaffen, dass die Leistungen, die den Menschen über das Rentensystem zuteilwerden, erbracht werden können. Natürlich ist es immer möglich, für Verbesserungen für vermeintlich Benachteiligte einzutreten, wie die Fraktion Die Linke dies heute wieder darzustellen versucht. Damit will sie sich in der Öffentlichkeit bei Personenkreisen, die sie begünstigen will, anbiedern. Diese Menschen sollen glauben, dass die Linke die aus ihrer Sicht berechtigten Ansprüche hier einbringt. Ich möchte schon herausstellen, dass es in der DDR aufgrund eines Unrechtssystems zu diversen Sonderzulagen und Sonderzusagen gekommen ist. Ich habe mir berichten lassen, dass die Menschen in der ehemaligen DDR es ebenfalls als große Ungerechtigkeit empfunden haben, dass die Intelligenzrente wesentlich höher war, die Beitragszahlungen dafür niedriger. Das können wir in einem bundesdeutschen Rentensystem nicht fortführen. ({1}) Das Rentenüberleitungssystem ist gelungen, und deshalb lehnen wir Ihre Anträge zu den einzelnen Bereichen ab. Es ist entscheidend, dass wir der Öffentlichkeit unser Rentensystem erklären. Wir müssen immer wieder sagen, dass Beitragszahlungen die Grundlage dieses Systems sind und Ansprüche auf diese Art und Weise erworben werden. In der ehemaligen DDR gab es den von der Linken heute so sehr bekämpften Niedriglohnsektor. Er wurde so begründet: Ihr bekommt zwar jetzt niedrige Löhne, aber dafür später eine höhere Rente. Die Leistung der Arbeit sollte sozusagen erst in der Zukunft belohnt werden. Auch das ist ein eigenartiges System geMax Straubinger wesen. Wir kämpfen dafür, dass der entsprechende Lohn sofort ausgezahlt wird. Wir verweisen nicht auf die Zukunft. ({2}) Auch daran wird die Ungerechtigkeit des DDR-Systems deutlich. Diese Ungerechtigkeit wollen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, im deutschen Rentensystem fortführen. Auch deshalb lehnen wir diese Anträge ab. ({3}) Heute wurde wieder vorgetragen, dass es zukünftig mehr Altersarmut geben würde. Natürlich gilt es, das zu beachten, und natürlich lohnt es sich auch, sich damit auseinandersetzen. Ich möchte aber daran erinnern: Ich komme aus einem Landstrich, in dem die Löhne nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich niedrig waren. Er ist ausschließlich landwirtschaftlich geprägt, ohne industrielle Arbeitsplätze. In Niederbayern fand der Aufschwung erst in den 70er-/80er-Jahren statt. Letztendlich würde das bedeuten, dass in diesem Landstrich alle Menschen der Altersarmut anheimgefallen sind, weil in den Jahrzehnten nach dem Krieg nur geringe Löhne erwirtschaftet werden konnten. Es gab Perioden, in denen in einzelnen Landkreisen eine Arbeitslosigkeit von 40 Prozent und mehr geherrscht hat, insbesondere im Winter, weil mit der Landwirtschaft viele Saisonberufe verbunden sind. Trotzdem hat unser Rentensystem es zustande gebracht, dass wir keine höhere Altersarmut zu verzeichnen haben als vielleicht das Ruhrgebiet. Das zeigt sehr deutlich, dass die beste Grundlage gegen Altersarmut in unserem Land Arbeitsplätze sind. Es lohnt sich, hier dafür einzutreten. ({4}) Geringere Rentenansprüche sind oft verbunden mit hoher Arbeitslosigkeit, wie sie zum Beispiel in der Vergangenheit bei Rot-Grün geherrscht hat. Damals gab es 5 Millionen Arbeitslose, heute sind es nur noch 3 Millionen Arbeitslose; aber auch das sind 3 Millionen Arbeitslose zu viel. Deshalb ist es hier mitentscheidend, nicht bessere Versprechungen gegenüber den Menschen zu machen, sondern daran zu arbeiten, dass wir Arbeitsplätze, dass wir sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, durch die die Menschen hohe Rentenansprüche erwerben. Ein Letztes, verehrte Damen und Herren. Kollege Schreiner hat auf ein Problem hingewiesen, das mit dem Fremdrentengesetz und den Flüchtlingen aus der ehemaligen DDR und der damit verbundenen Bewertung dieser Zeiten zu tun hat. Wir haben entsprechende Petitionen im Bundestag. Es gilt, diese Petitionsverfahren abzuwarten. Ich glaube nicht, dass wir dies so einfach lösen können. Wir müssen aufpassen, dass wir keine neuen Tatbestände der möglichen Ungerechtigkeit schaffen. Deshalb gilt für uns, dies alles sehr sachgerecht zu beurteilen, aufzunehmen und natürlich auch in einem parlamentarischen Verfahren darüber zu diskutieren. Hier sind alle eingeladen, weiterhin, wenn es notwendig und möglich ist, an gerechten Lösungen in unserem Rentensystem mitzuarbeiten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Heinrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass ganz am Anfang der Debatte ein Kollege von mir, Herr Rehberg, mit folgender Frage begonnen hat: Woher kommen wir? In der ganzen Debatte sind wir immer wieder zu dieser Frage zurückgekehrt. Wo beginnt denn die Überleitung, die im Titel dieser Debatte steht? Ich möchte den Bogen spannen. Bei einer Überleitung denkt man an eine Brücke. Wenn es ein Woher gibt, dann muss es auch ein Wohin geben. Ich bin dankbar, dass Sie, Frau Lazar, gesagt haben: Wir wollen eine Perspektive, wohin das führen soll. Zu den Anträgen von Ihnen, von den Linken, ist viel gesagt worden, nicht erst heute und, wie Kollege Kolb gesagt hat, wahrscheinlich nicht zum letzten Mal. Die 19 Anträge sind unseres Erachtens nicht im ureigensten Interesse der Gruppen, für die Sie hier sprechen. Das Vorgehen wird kaum einer der Gruppen - manche sagen uns das sogar - gerecht. Da wird instrumentalisiert, und es riecht nach seltsamen Motiven. Herr Gysi, wenn Sie hier sagen, dass der Grund, keinen Antrag bezüglich der Flüchtlinge zu stellen, der ist, dass diese gern gemeinsam etwas machen wollen, dann muss ich darauf hinweisen, dass ich das auch schon von anderen Gruppen gehört habe. Diese dürften Sie dann auch nicht vertreten. Am Ende kann die Linke letztlich allen diesen Gruppen sagen, dass sie sich für sie eingesetzt hat. Frau Schmidt, Sie haben vollkommen recht: Das ist ein Stück weit Populismus. Wir hören - wir haben miteinander darüber gesprochen - aus den Gruppen andere Einstellungen dazu. Es ist inzwischen zur Genüge gesagt worden, dass es eine große gesellschaftliche Leistung ist, die ihresgleichen sucht. Die Komplexität der Lösung, die dann noch nötig sein kann, kommunizieren Sie nicht, weil es viel zu schwierig ist, das in drei Sätzen zu sagen. Herr Schreiner, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Da sind die 63 Zusatz- und Sonderversorgungssysteme. Da ist die juristische Realität, die vielem davon im Weg steht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit bestätigt. Die UN-Menschenrechtskommission ist damit befasst worden und hat dem Ganzen stattgegeben. Der Europäische Gerichtshof hat gesagt: Das ist so nicht widersprüchlich. Es gibt die Grundsätze des Bundessozialgerichts und rentenrechtliche Regelungen im SGB. So viele Dinge muss man dazusagen, wenn man solche einfachen Forderungen - polemisch, wie ich meine - nutzen möchte. Auch die Fachleute, die auch Sie in den Anhörungen gehört haben, waren eindeutig. Dazu gab es Bedingungen und Prinzipien, über die wir nicht einfach springen dürfen: Der Gleichheitsgrundsatz - wir haben hier von Ost und West gesprochen - muss auf beiden Seiten gewährleistet sein - Herr Schaaf, das haben Sie in Ihrer Zwischenfrage erwähnt -, der Grundsatz der Lohn- und Beitragsbezogenheit ist ein hohes Gut in unserem Land, die Systematik der auch schon vorher bestehenden Rechtsverordnungen und die Vorgaben im Einigungsvertrag, darüber können wir uns nicht einfach hinwegsetzen. Ich halte es für polemisch, dass Sie das einfach tun und so einfach kommunizieren wollen. Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Wie ernst nehmen Sie dieses Anliegen tatsächlich? Wenn einzelne kleine Nachbesserungen nötig sind, dann sind wir bereit, daran mitzuarbeiten. Die meisten der Forderungen sind allerdings realitätsfern, insbesondere wenn Sie - da bin ich mir mit den Kollegen von der SPD einig - Anträge für Personengruppen mit großer Nähe zum Staat, wie man das allgemein sagen kann, formulieren. Eines noch ganz persönlich zur Debattenkultur, zur politischen Auseinandersetzung. Sie stellen sich hier hin und fordern, dass wir alle gemeinsam so entscheiden sollen - als ob Sie diese Anliegen vertreten! Ich verstehe nicht, dass sich, seit ich der Sprecher bzw. der Berichterstatter meiner Fraktion im Bundestag zu diesem konkreten Thema bin, nicht einer von Ihnen mit mir zusammengesetzt und gesagt hat: Das Anliegen ist uns so wichtig, dass wir hier gemeinsam etwas bewegen sollten. - Kein Versuch Ihrerseits, Gespräche dieser bilateralen Art zu führen. Das ist bei den anderen Fraktionen anders gewesen. Ob das wirklich ein Anliegen um der Sache willen ist, möchte ich zumindest bezweifeln. Ein zweiter Gedanke. Nachdem ich die Frage gestellt habe, inwiefern es Ihnen hier um Quantität - 19 Anträge anstatt um Qualität geht, stellt sich auch die Frage nach dem Wort „gerecht“. In all Ihren Anträgen kommt das Wort „gerecht“ vor. ({0}) Durch die Wende - das haben Sie an keiner Stelle verschwiegen; das habe auch ich in meinen Reden hier explizit gesagt - sind Ungerechtigkeiten passiert - Sie haben das von uns an verschiedenen Stellen gehört -: durch Stichtage - Herr Kober hat das gesagt -, durch Fristenregelungen. Und doch sind wir in unserem Rechtssystem an diese Regeln gebunden. Welche Gerechtigkeit spielen wir gegen welche aus? Generationengerechtigkeit? Einzelfallgerechtigkeit? Wir brauchen Rechtssicherheit für die kommenden Generationen. Gestern telefonierte ich mit einer Frau in ungefähr meinem Alter. Sie sagte mir in etwa Folgendes: Egal wie wir in dieser zugegebenermaßen verfahrenen und teilweise ungerechten Situation entscheiden, wir werden wegen der Komplexität immer wieder neue Ungerechtigkeiten schaffen. - Gestern fiel in einem weiteren Gespräch auch der Begriff der Minimalstungerechtigkeit, die wir anstreben. Ich glaube, wir sind mit den momentanen Möglichkeiten nah an sie herangekommen. Wir wollen schauen - das ist unsere Haltung als Koalition; das ist deshalb auch im Koalitionsvertrag verankert -, dass wir so nah wie möglich an die Grundsätze der Gerechtigkeit herankommen. Aber da gibt es die Grenze des Einzelfalls. Diese Grenze kann das Gesetz nicht überwinden, schon gar nicht bei einem so starken Bruch in der deutschen Geschichte, einschließlich der Fehler, die auch noch danach - wohlgemerkt: danach - gemacht wurden. Ich denke, an der Minimalstungerechtigkeit sind wir nahe dran. Jetzt gibt es noch Möglichkeiten des Weiterdiskutierens. Sie von der Opposition redeten vorhin von einer Fondslösung, die die größten Schwierigkeiten und die größten Schärfen, die durch die Gesetze passiert sind, auszugleichen versucht. Wir setzen uns da zusammen; das haben wir schon vereinbart. Wie diese Fondslösung aussehen könnte und ob es eine Fondslösung geben wird, kann ich noch nicht sagen. Insgesamt betrachtet unterstreiche ich noch einmal: Es war eine gewaltige gesellschaftliche Leistung, das hat sich immer wieder gezeigt; das haben auch Sie an einer Stelle in Ihrem Antrag - fairerweise muss ich das sagen geschrieben. Aber die wirtschaftlichen Fehler von vor der Wende, die sich in unzähligen Lebensläufen, in die widerrechtlich eingegriffen wurde, niedergeschlagen haben, kann man heute trotz aller rechtmäßigen Bestrebungen nicht einfach ausgleichen. Ungerechtigkeit kann man nicht gegen Gerechtigkeit aufwiegen, auch ein demokratischer Rechtsstaat kann das nicht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. Unser Anliegen: Woher, wohin? Wohin wollen wir? Wir wollen zu einem einheitlichen Rentenrecht kommen. Dazu haben wir uns bekannt, deshalb werden wir uns auch mit Ihnen auseinandersetzen; Herr Strengmann-Kuhn, Herr Schaaf, Sie haben darauf hingewiesen. Wir unterstützen dieses Bestreben. Allerdings dürfen bestimmte Gruppen nicht erneut benachteiligt werden. Wir gehen das an; wir werden in diesem Jahr damit beginnen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise bin ich eine begeisterte Anhängerin der Volksweisheit: Wiederholung ist die Mutter des Erfolgs. - Aber die Rentenantragsserie der Linken zeigt ganz deutlich, dass dieser Ansatz dann nicht stimmt, wenn bei der Lösung des Grundproblems einfach an der falschen Stelle angesetzt wird. Sie fordern mit Ihren Anträgen - dabei hangeln Sie sich an den einzelnen Sachverhalten entlang, und das zum wiederholten Male - eine gründliche Überprüfung und Korrektur der Rentenüberleitung. Das - das ist in der Debatte sehr deutlich geworden - ist nach fast 20 Jahren der Überleitung in eine beitrags- und lohnbezogene Rentensystematik einfach der falsche Ansatz. Sie können noch so viele Anträge stellen, Sie werden niemals unsere Zustimmung dazu bekommen. ({0}) Denn Politik ist nicht, das Wünschenswerte zu formulieren und die anderen für die Umsetzung bezahlen zu lassen. Das war gelegentlich - nach Gutsherrenart - die Methode der alten SED-Regierung. Unser Prinzip heißt, das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu vergleichen, sich am Realistischen zu orientieren und das dann durchzusetzen. ({1}) Die politische Grundsatzentscheidung war damals auf dem Weg zur deutschen Einheit richtig. Wir müssen uns noch einmal in Erinnerung rufen: Das Rentenniveau lag damals bei 40 Prozent; und jetzt liegt es bei 88, 89 Prozent. Wer meint, das sei keine besondere Leistung, der verkennt die gesamtdeutsche Solidarität, für die ich mich hier noch einmal ausdrücklich bedanken möchte. ({2}) Ich verkenne natürlich auch nicht, dass es bei Stichtagsregelungen, die im politischen Geschäft normal und manchmal nicht abwendbar sind, auch Einzelschicksale gibt, die einem in der Seele leidtun. Aber im Osten - das war dort die Realität - gab es ein System ohne rote Linie. Herr Gysi, es wird Ihnen nicht gelingen, die Grundsätze des Einigungsvertrages durch die Hintertür aufzuheben. ({3}) Ich nenne einmal das heute schon mehrfach angeführte Beispiel der Krankenschwester. Ich frage mich: Wieso mussten in den meisten Fällen die Frauen zu einem so niedrigen Lohn diese ganz schwere Arbeit verrichten? Es gab damals noch keine Pflegebetten oder Badewannen mit Lift. Erinnern Sie sich an die damaligen Zustände: Das war eine äußerst schwere Arbeit in Schichten. Die meisten Frauen haben nebenbei Kinder erzogen, und wenn es ganz dicke kam, dann hatten Sie auch noch einen Mann, der sie betrogen hat. Dann haben sie oft, wissend, dass es keinen Versorgungsausgleich gibt, der Scheidung zugestimmt, weil das für sie der bessere Weg für die Zukunft war. Wer meint, man könne jedes Einzelschicksal mit einem Grundsatzsystem korrigieren, der verkennt, was Politik leisten kann. Wir bemühen uns in unseren Diskussionen durchaus, Brüche zu erkennen und Lösungen zu finden. Ich halte in diesem Zusammenhang nichts davon, immer nur Durchschnittszahlen zu zitieren. Sie sind interpretationswürdig; in manchen Statistiken werden Berufsgruppen involviert - zum Beispiel Ingenieure oder Ärzte -, die nach heutigem Recht eigene Versorgungswerke haben. Insofern kann man nicht jede Statistik korrekt miteinander vergleichen. Das führt zu einem falschen Ansatz. Uns ist wichtig, dass man jetzt nicht so tut, als ob wir mit unseren vielfältigen Bemühungen in diesem komplexen Prozess der Überführung dieses Wirrwarrs von Rentensondersystemen Probleme verursacht hätten. Dazu ist es aufgrund des Systems gekommen, das diejenigen zu vertreten haben, die die Anträge stellen. Es geht nicht, dass Sie erst die Sozialsysteme an die Wand fahren, quasi das Haus anbrennen und sich jetzt wiederholt zum Feuerwehrmann aufspielen. Das funktioniert nicht. ({4}) Deshalb sage ich es noch einmal ganz konkret: Dass wir uns bemühen, merken Sie doch; das war auch in der rot-grünen Regierungszeit so. Als es zum Beispiel um das Problem ging, eine Regelung für die geschiedenen Ehefrauen zu finden, hat es eine interministerielle Arbeitsgruppe gegeben. Von den Anhörungen der Experten wurde schon gesprochen. Auch die Länder waren an dieser Abstimmung und an der interministeriellen Arbeitsgruppe beteiligt. Sie haben eben kein Ergebnis vorlegen können, das politisch diskutiert und beschlossen werden konnte, weil es neue Ungerechtigkeiten bedeutet hätte. Deshalb ist die Lösung nicht so einfach. Ich sage Ihnen - ich habe von diesem Pult aus ja wiederholt zu diesem Thema gesprochen -: ({5}) Wir erkennen, dass sich das Prinzip „Wer arbeitet, soll mehr Lohn haben als jemand, der nicht gearbeitet hat“ im Grunde genommen in der Rente widerspiegeln muss. Klar haben wir die Grundsicherung im Alter. Das ist ein Rechtsanspruch. Aber wir sind uns einig: Es ist nicht gerade sehr bequem, das zu beantragen. Ich kenne vor allen Dingen viele Frauen, die sich schwertun, diesen Antrag zu stellen. Ich sage aber immer wieder: Das ist ein Rechtsanspruch. Die Kommission, deren Einsetzung wir in unserem Koalitionsvertrag beschlossen haben, wird dieses Gesamtbild betrachten, weil das dann nicht mehr alleine nur ein ostdeutsches Problem ist. Ich bitte Sie herzlich, dafür Verständnis zu haben, dass wir bei unserer Grundsatzhaltung bleiben, weil sie von Fachexperten, in vielen Anhörungen und von Gerichten bestätigt worden ist. Arbeitsminister aller Couleur in diesem Haus haben keine Patentlösung vorlegen können. Das ist der Beweis dafür, dass das ein sehr schwieriger Prozess ist, dem wir uns stellen werden. Darüber freue ich mich. Wir werden hier wiederholt darüber diskutieren, aber nicht auf der Grundlage Ihrer Anträge, sondern wir gehen das Gesamtpaket an. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich Ih- nen noch einige Hinweise zum Abstimmungsverfahren geben. Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass eine grö- ßere Zahl von Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord- nung von Mitgliedern der SPD-Fraktion vorliegt, die wir zu Protokoll nehmen.1) Wir kommen zunächst zur namentlichen Abstimmung über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke zu Korrektu- ren bei der Überleitung der Alterssicherungen der DDR in das bundesdeutsche Recht. Bitte beachten Sie: Abge- stimmt wird über die Anträge selbst und nicht über das Votum der Beschlussempfehlung. Es ist vereinbart, die insgesamt 19 namentlichen Abstimmungen auf einem Stimmzettel durchzuführen. Die Stimmzettel erhalten Sie, falls noch nicht geschehen, von den Plenarassisten- ten hier im Saal. Schreiben Sie bitte zunächst Ihren Na- men und die Bezeichnung Ihrer Fraktion deutlich in Druckbuchstaben auf den Stimmzettel. Stimmzettel ohne Namensangabe sind ungültig. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4769 unter den Buchstaben a bis s die Ablehnung der Vorlagen. Auf dem Stimmzettel fin- den Sie unter Ihrem Namen eine Auflistung der 19 abzu- stimmenden Anträge. Sie können über jeden einzelnen Antrag mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ abstimmen. Einzelne Abstimmungen mit mehr als einem oder kei- nem Kreuz sind ungültig. Sie können die Stimmzettel auf Ihrem Platz ankreuzen. Nachdem Sie den Stimmzet- tel ausgefüllt haben, werfen Sie ihn in eine der aufge- stellten Urnen. Bevor wir nun zur Abstimmung kommen, möchte ich Sie an die unmittelbar folgenden zwei namentlichen Ab- stimmungen mit der üblichen Stimmkarte erinnern. Zunächst folgt die Abstimmung über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze einzunehmen. - Sind an al- len Wahlurnen die notwendigen Schriftführer? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke. Ich bitte, die Stimm- zettel einzuwerfen. Ich will daran erinnern, dass die Namen auf den Stimmzetteln eingetragen sein müssen; sonst ist der Stimmzettel ungültig. 1) Anlagen 2 bis 4 Gibt es noch Mitglieder des Hauses, die ihren Stimm- zettel nicht eingeworfen haben? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, sich wieder auf ihre Plätze zu begeben, damit man den Über- blick behalten kann. Da die vollständige Auswertung der Stimmzettel ei- nen erheblichen Zeitbedarf erfordert, werden die Schrift- führerinnen und Schriftführer zunächst noch kein zah- lenmäßiges Ergebnis ermitteln können, sondern nach Sichtung der Stimmzettel feststellen, ob die Anträge an- genommen oder abgelehnt wurden. Das vorläufige Er- gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege- ben.2) Bevor wir zu der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kommen, weise ich vorsorglich darauf hin, dass wir unmittelbar nach dieser namentli- chen Abstimmung bei den Beratungen ohne Aussprache eine weitere namentliche Abstimmung zu Tagesord- nungspunkt 34 b vorzunehmen haben. Ich bitte Sie also, den Saal nach dieser namentlichen Abstimmung nicht zu verlassen. Jetzt setzen wir die Abstimmungen fort. Der Aus- schuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe t seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4195 mit dem Titel „Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 Geschiedenen“. Wir stimmen nun über den Buchstaben t der Beschlussempfehlung zu der Vorlage von Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab. Hier wird wie üblich über die Beschlussempfehlung und nicht über den Antrag abgestimmt, damit es hier kein Missverständnis gibt. Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen Plätze eingenommen? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimmkarte noch nicht eingeworfen? - Wenn das nicht der Fall ist, dann schließe ich den Wahlgang und bitte, auszuzählen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä- ter bekannt gegeben.3) Wir setzen die Beratungen fort. Ich darf zunächst einmal darum bitten, dass sich die Kolleginnen und Kollegen wieder zu ihren Plätzen bege- ben, damit wir die Beratungen vernünftig fortsetzen kön- nen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 f sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 k auf: 33 a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes- 2) Ergebnis Seite 10471 C 3) Ergebnis Seite 10471 C Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Immissionsschutzgesetzes - Privilegierung des von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kinderlärms - Drucksache 17/4836 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 1. Juli 2010 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen - Drucksache 17/4806 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung der Zahlung von Entschädigungsleistungen bei der Anrechnung des Lastenausgleichs und zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes ({1}) - Drucksache 17/4807 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 20. August 2009 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schwei- zerischen Eidgenossenschaft über die Wehr- pflicht der Doppelstaater/Doppelbürger - Drucksache 17/4810 - Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss e) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und FDP Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung zur Ergänzung von Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ({3}) hinsichtlich der Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({4}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäische Union - Drucksache 17/4880 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Bockhahn, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine weiteren Einlagerungen ins Zwischenlager Nord ({6}) - Drucksache 17/4848 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Renate Künast, Claudia Roth ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichte zur NS-Vergangenheit des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz veröffentlichen - Drucksache 17/4696 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({8}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunternehmen neu ausrichten - Drucksache 17/4698 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9}) Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner Simmling, Ernst Burgbacher, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn - Drucksache 17/4861 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Kumpf, Christian Lange ({12}), Rainer Ar10466 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms nold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausbau der Rheintalbahn als Modell für Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz - Drucksache 17/4856 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen schaffen - Drucksache 17/4851 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14}) Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tierschutzgesetz ändern - Kennzeichnung von Pferden tierschutzgerecht ausgestalten - Drucksache 17/4850 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reformprozesse in Nordafrika und Nahost umfassend fördern - Drucksache 17/4849 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({15}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist - Ratsdok. 17629/10 ({16}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Herstellung des Einvernehmens bezüglich der Ergänzung von Art. 136 AEUV zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({17}) verantwortlich gestalten - Drucksache 17/4881 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({18}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist - Ratsdok. 17629/10 ({19}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes - Drucksache 17/4882 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({20}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herstellung des Einvernehmens zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Änderung des Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 17/4883 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({21}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich fixieren - Drucksache 17/4855 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({22}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 h auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich weise darauf hin, dass wir zu Tagesordnungspunkt 34 b namentlich abstimmen werden. Bitte begeben Sie sich erst an die Urnen, wenn zur namentlichen Abstimmung aufgerufen wird. Tagesordnungspunkt 34 a: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung eines Gremiums gemäß § 16 des Restrukturierungsfondsgesetzes - Drucksache 17/4859 Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 17/4859? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Damit ist das Gremium gemäß § 16 des Restrukturierungsfondsgesetzes eingesetzt. Tagesordnungspunkt 34 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Privatisierung von Äckern, Seen und Wäldern - Drucksachen 17/239, 17/587 Buchstabe b Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Brackmann Carsten Schneider ({24}) Otto Fricke Alexander Bonde Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/587, den An- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/239 ab- zulehnen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, wieder ihre Plätze an den Urnen einzunehmen. Wir stimmen auch diesmal über die Beschlussempfehlung ab. Die Beschlussemp- fehlung lautet, den Antrag der Fraktion Die Linke abzu- lehnen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Gibt es noch Mitglieder, die ihre Stimmkarte nicht eingeworfen haben? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.1) Ich bitte darum, jetzt wieder die Plätze einzunehmen, damit wir mit den Abstimmungen fortfahren können. Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 34 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 218 zu Petitionen - Drucksache 17/4711 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 218 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 219 zu Petitionen - Drucksache 17/4712 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 219 ist angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 34 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 220 zu Petitionen - Drucksache 17/4713 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 220 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 34 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 221 zu Petitionen - Drucksache 17/4714 - Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Sammelübersicht 221 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion, 1) Ergebnis Seite 10473 D Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 34 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 222 zu Petitionen - Drucksache 17/4715 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 222 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen. Tagesordnungspunkt 34 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 223 zu Petitionen - Drucksache 17/4716 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 223 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Eskalation der Gewalt in Libyen Es gibt eine Änderung in der Rednerreihenfolge. Die Aussprache soll eröffnet werden von Staatsminister Dr. Werner Hoyer. ({31})

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Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in diesen Tagen auf Libyen schauen, dann sehen wir dort genau das Gegenteil dessen, was wir als human, ethisch und verantwortbar bezeichnen und anstreben. Wir sehen Verwüstung, Verzweiflung, Verletzte und unzählige Tote. Das Bild ist natürlich nicht komplett. Der Informationszugang ist begrenzt. Es ist wieder einmal eine Situation, in der wir uns bewusst machen können, welche Bedeutung eine freie, überall tätig sein dürfende Presse für uns hat. Wir sehen Menschen, die gezielt ermordet werden, weil sie ihre Freiheit und ihre Würde zurückerlangen wollen. Wir sehen einen Diktator, der nach 40 Jahren Herrschaft nicht davor zurückschreckt, mit offen kommuniziertem Vernichtungswillen gegen das eigene Volk vorzugehen. Wir sehen einen Diktator - hier liegen die Unterschiede zu den anderen Ereignissen der letzten Wochen -, der sich zu einer Zeit, wo sich andere konstruktiv in den Nahost-Friedensprozess eingebracht haben, für einen anderen Weg entschieden hat. Wir sehen einen Diktator, der unverhohlen auf das Instrument der Erpressung setzt - nicht erst jetzt. Ich wiederhole dies deshalb, weil wir Europäer uns bewusst sein müssen, um was für ein Regime es sich hier handelt. Wir alle haben die letzte Rede Gaddafis im Fernsehen gesehen. Sie war nicht nur bizarr und schockierend, sie weckte auch deutliche Zweifel an seinem Realitätssinn. ({0}) Aber das macht es gerade so gefährlich. Die Lage vor Ort bleibt unübersichtlich. Wir schauen daher äußerst besorgt und angesichts des Vorgehens des Regimes sehr empört auf die Lage in Libyen. Anders als in Ägypten sind in Libyen die Voraussetzungen für den Sieg der Freiheit ungleich schwerer. Das liegt am Regime. Das liegt natürlich aber auch an den schwierigen tribalen Strukturen des Landes. Es ist gewissermaßen eine Parallele zu dem, was wir in den 90erJahren im früheren Jugoslawien gesehen haben, wo alle ethnischen Konflikte plötzlich wieder hochkamen und virulent wurden, nachdem die Eisdecke des Kommunismus weggezogen worden war. In Libyen ist unter dem Wüstensand vieles verborgen geblieben, was es an tribalen Konflikten gegeben hatte, bis Gaddafi vor mehr als 40 Jahren die Macht übernahm. Meine Damen und Herren, unsere erste Sorge gilt natürlich den deutschen sowie den europäischen und nichteuropäischen Staatsangehörigen. Viele der ursprünglich über 600 deutschen Staatsangehörigen konnten das Land inzwischen verlassen. Die Evakuierungsmaßnahmen laufen weiterhin auf Hochtouren. Zusätzliche Kapazitäten wurden sowohl kommerziell als auch seitens der Bundeswehr bereitgestellt. Ich bedanke mich bei der Bundeswehr ebenso wie bei der Lufthansa für die hervorragende Zusammenarbeit. Wir konnten Deutsche auch auf anderem Wege, per Schiff und auf dem Landweg, aus dem Land herausholen. Wir danken unseren Partnern, die in ihre Evakuierungsbemühungen auch deutsche Staatsbürger einbezogen haben, so wie wir es umgekehrt selbstverständlich auch getan haben. Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben von Anfang an die Gewaltanwendung des libyschen Regimes mit deutlichen Worten verurteilt und ein sofortiges Ende der Gewalt gefordert. Europa hat sich inzwischen deutlich positioniert. Als derjenige, der am Sonntag und am Montag die Verhandlungen für Deutschland im Rat geführt hat, sage ich: Ich hätte mir gewünscht, Europa wäre schneller, deutlicher und geschlossener gewesen. ({1}) Ich bin mir der Probleme der Südländer der Europäischen Union selbstverständlich bewusst, und wir haben auch keinen Nachholbedarf an Solidarität. Aber das darf nicht dazu führen, unsere eigenen Werte zu verraten. Wir müssen hier in dieser Angelegenheit klar Position bezieStaatsminister Dr. Werner Hoyer hen. Wir haben das im Außenministerrat am Montag, wie ich finde, noch nicht endgültig befriedigend getan. Mittlerweile hat das Politische und Sicherheitspolitische Komitee der Europäischen Union nachgelegt, sodass wir damit jetzt ganz zufrieden sein können. Aber es ist schon bemerkenswert, dass der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen, der nicht zuletzt auf deutsches Betreiben hin zusammengetreten ist, in dieser Frage eine klarere Positionierung vorgenommen hat. Wir werden den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen auch noch an manchen Stellen brauchen. Außenminister Westerwelle hat früh auf die Notwendigkeit von Sanktionen hingewiesen, sollte das System seinen Kurs der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung weiterverfolgen. Das ist leider der Fall. ({2}) - Nein. Es gibt hier gar keinen Zweifel, dass dann, wenn diese Gewaltexzesse weitergehen - und sie gehen weiter -, an Sanktionen kein Weg vorbeiführt. Diese kann man allerdings nicht einmal eben aus dem Ärmel ziehen. Wenn Sie zum Beispiel Asset Freeze machen wollen, müssen Sie schon sehr präzise die Konten, deren Inhaber und den strafrechtlich relevanten Vorwurf definieren. Man kann sich also nicht überschlagen; aber an Sanktionen geht kein Weg vorbei. Morgen wird sich auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen mit dem Thema Libyen befassen, das ja pikanterweise Mitglied des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen ist. Meine Damen und Herren, wir dürfen über die eskalierende Lage in Libyen die Situation und die Entwicklung in den anderen Ländern der Region nicht vernachlässigen. Diese ist - das müssen wir uns immer wieder klarmachen - in jedem der betroffenen Länder anders. Wir haben kein geschlossenes, homogenes Bild für die Problemlagen in den nordafrikanischen und arabischen Ländern. Aber eines ist völlig klar: Die Europäische Union muss ihre Nachbarschaftspolitik neu kalibrieren, ({3}) und zwar gilt das für die Mittelmeerpolitik ebenso wie für die Politik gegenüber dem Osten; denn die Diskussion, die wir jetzt über Gaddafi und andere „nette“ Menschen führen, haben wir vor wenigen Wochen auch über Lukaschenko geführt. Das Grundproblem bleibt. ({4}) Daraus müssen wir die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Wir haben seitens der Bundesregierung in der letzten Woche konkrete Vorschläge für eine Neuausrichtung der Politik der Europäischen Union vorgelegt. Dadurch, aber auch bereits durch frühere deutsche Beiträge zu den Diskussionen um Tunesien und Ägypten ist es uns gelungen, den Entscheidungsfindungsprozess in der Europäischen Union nachhaltig zu prägen. Auch da muss ein Bewusstseinswandel stattfinden. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass es in der Europäischen Union Länder gibt, die aufgrund ihrer geografischen Positionierung in Europa entweder nur nach Süden oder nur nach Osten blicken. Als Mitglied der großen Europäischen Union und auch des Binnenmarktes der Europäischen Union ist eben auch Finnland ein Mittelmeerland. Wir müssen auch diejenigen, die weit vom Mittelmeerbereich entfernt sind, mit in die Verantwortung nehmen; genauso geht auch das, was in Weißrussland passiert, einen Portugiesen etwas an. Wir als Deutsche sind diejenigen, die es sich aufgrund ihrer zentralen Lage - geografisch, politisch und auch wirtschaftlich - am allerwenigsten leisten können, den Blick nur auf den Süden oder nur auf den Osten zu verengen. Deswegen werden wir auch hier eine engagierte Führungsrolle wahrnehmen. ({5}) Es geht jetzt im Kern darum, Ländern wie Ägypten und Tunesien eine Transformationspartnerschaft anzubieten. Wir müssen bei der Gratwanderung zwischen Ownership, die wir immer in den Vordergrund rücken müssen, und Verteidigung der eigenen Werte insbesondere demokratische und rechtsstaatliche Transformationsprozesse gezielter unterstützen. Es kann nicht im Sinne des Erfinders sein, dass am Ende eines rein formalen Wahlprozesses entweder diejenigen, die jetzt schon recht gut organisiert sind, wieder die alten Strukturen befestigen oder diejenigen, die aufgrund ihrer bisherigen Organisation in der Opposition einen riesigen Vorteil gegenüber anderen haben, am Ende des Tages sagen: Jetzt haben wir die Wahlen gewonnen; das waren auch die letzten Wahlen, die in diesem Land stattgefunden haben. Das ist die Lehre, die wir aus den Erfahrungen mit Algerien in den 90er-Jahren gezogen haben. Deswegen müssen wir uns so stark einbringen und Angebote bei der Entwicklung des rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Rahmens für die beteiligten Länder machen. Meine Damen und Herren, seien wir aber auch ehrlich: ({6}) Die Menschen in Tunesien, in Ägypten und in anderen Ländern haben nach Freiheit gerufen, nach Partizipation, nach Würde; aber sie haben auch nach Brot gerufen. Wenn keine Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage erreicht wird, kann der ganze Prozess, der uns mit so viel Mut und so viel Freude ausgestattet hat, auch schnell in sich zusammenbrechen. Deswegen müssen wir auch ökonomisch handeln. Das heißt, wir müssen sehen, wann und wie - möglichst schnell, sofern verantwortbar - der Tourismus wieder in Gang gesetzt werden kann. Dass das gegenwärtig nicht möglich ist, ist ein riesiger Verlust für ein Land wie Tunesien. Aber wir müssen auch - das müssen wir in der Europäischen Union klar durchdeklinieren - unsere Märkte öffnen. ({7}) Ich erinnere mich an entsprechende Vorgänge aus den 90er-Jahren. Damals wurde gesagt: Wenn wir den Menschen in Nordafrika keine Perspektive bieten können, weil wir beispielsweise noch nicht einmal ein paar Tonnen Dosentomaten aus Marokko in die Europäische Union importieren wollen, dann werden wir unglaubwürdig. - Auch bei diesem Thema muss sich daher etwas ändern. Die Migrationsfrage wird uns sehr beschäftigen. Sie hat bisher, seien wir ehrlich, eine überschaubare Dimension. Die Bilder sind furchtbar. Sie sind deshalb so furchtbar, weil man relativ schlecht vorbereitet war und weil man die Lager zwischenzeitlich geschlossen hatte. Wenn ich die Gesamtzahl der Flüchtlinge mit der Zahl von Asylbewerbern, die es in Deutschland im Jahr 2010 gab, vergleiche, dann muss ich sagen, dass die Situation nicht so dramatisch ist. Aber dies kann sich ändern, wenn wir es nicht schaffen, den Menschen vor Ort wieder eine Perspektive zu bieten. Das kann sich ändern, wenn die Gewaltexzesse weitergehen. Am Ende des Tages werden wir es an Solidarität sicherlich nicht fehlen lassen. Aber gegenwärtig ist all das, was angesichts dieser Situation gefordert wird, ein bisschen übertrieben. Wir haben eine klare Aufgabe. Das Fenster der Freiheit ist geöffnet. Ob es möglicherweise vorzeitig wieder geschlossen wird, wird von den Menschen in den betroffenen Ländern abhängen. Ich möchte aber nicht, dass wir uns eines Tages den Vorwurf machen müssen, dass wir den Menschen nicht genügend geholfen haben, die Möglichkeit der Freiheit zu nutzen. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das friedliche Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürger in vielen arabischen Staaten ist das, was man historisch wohl als Meilenstein bezeichnen wird. Es wurden Diktatoren gestürzt, die 30 oder 40 Jahre lang an der Macht waren und ihr Volk geknechtet haben. Als Ben Ali stürzte und Mubarak aufgab, waren die anderen arabischen Autokraten in den Nachbarländern relativ ruhig. Nur der libysche Revolutionsführer alGaddafi hat sich geäußert. Er hat öffentlich den Sturz dieser Diktatoren bedauert und riet zur Übernahme seiner „Herrschaft der Massen“-Doktrin, die er in seinem Grünen Buch beschrieben hat. Auch in anderen Ländern gibt es grüne Bücher. Ich nenne beispielsweise Turkmenistan. Dort jedenfalls hat derjenige, der ein grünes Buch herausgegeben hat, sicherlich Schwierigkeiten, was seine geistigen Kapazitäten anbelangt. Menschenrechtsverletzungen zeichnen alle diese Regime aus bzw. haben sie ausgezeichnet: Tunesien, Ägypten und auch Libyen. Wir sehen die Bilder aus Libyen. Der besagte Diktator lässt die protestierenden Massen beschießen. Er lässt den Aufstand blutig niederschlagen oder versucht es zumindest. Er hat angeblich die eigene Luftwaffe in Alarmbereitschaft versetzt und lässt die Aufständischen bombardieren oder von eigens angeheuerten afrikanischen Söldnern jagen. Die Zahlen widersprechen sich zwar etwas, aber wir können davon ausgehen, dass in den letzten Tagen zwischen 600 und 2 000 Menschen bei diesem Aufstand ums Leben gekommen sind. Ich denke, das wird leider noch nicht das Ende sein. Wie war die Situation in Libyen? Wichtige Grundrechte wurden missachtet. Es gab kein Recht auf freie Meinungsäußerung. Opposition war ein Fremdwort. All das rächt sich jetzt. Die Aufständischen und all diejenigen, die für ihre Rechte kämpfen, werden wohl in den nächsten Wochen und Monaten die Schwierigkeit haben - das könnte in den anderen Ländern besser funktionieren -, sich eine Plattform für einen eigenen Staat zu schaffen. Wir müssen uns aber auch mit der Frage beschäftigen, warum es so viele Flüchtlinge aus diesen Ländern gibt. Die Flüchtlingssituation hat gravierende Ausmaße angenommen. Die Menschen fliehen auf der einen Seite in die Nachbarländer. Die Nachbarländer haben aber die bereits von mir beschriebenen Probleme. Sie werden wohl nicht in der Lage sein, diese Flüchtlinge vernünftig aufzunehmen. Auf der anderen Seite gibt es die Flucht nach Europa. Da frage ich mich, ob es sich jetzt nicht rächt, dass die EU mithilfe von Gaddafi bisher versucht hat, sich diese Flüchtlinge vom Hals zu halten. ({0}) Sie werden die Möglichkeit, die sich ihnen nun bietet, ergreifen und über das Mittelmeer fliehen. Sie werden, wie gesagt, auch versuchen, in die anderen Länder zu fliehen. Sie versuchen, auch vor der wirtschaftlich desaströsen Situation in ihrem Land zu fliehen. Ich kann Ihnen, Herr de Maizière, nicht recht geben, wenn Sie sagen: „Wir können nicht alle armen Afrikaner nach Europa lassen.“ - Ich denke, wir müssen unserer Verantwortung gerecht werden, die wir deshalb haben, weil sich die EU eben bisher die Menschen mithilfe von Gaddafi vom Hals gehalten hat. Dieser Verantwortung müssen wir gerecht werden, und wir müssen dafür sorgen, dass auf der einen Seite in den Nachbarländern Strukturen entstehen, die es den Flüchtlingen, soweit es in dieser Situation irgend möglich ist, ermöglichen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Auf der anderen Seite müssen Angelika Graf ({1}) wir auch innerhalb Europas Solidarität - zum Beispiel mit Italien - üben. Martin Schulz von der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament hat die europäischen Länder massiv dazu aufgefordert, Solidarität innerhalb Europas zu üben; denn es kann nicht sein, dass allein Italien die Last der Vorgänge trägt, die wir im Augenblick erleben. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger solcher Staaten jetzt unserer Unterstützung versichern. Ich denke, der Marshallplan, den Günter Gloser und Frank-Walter Steinmeier angeregt haben, ist die richtige Lösung. Dieser Marshallplan ist etwas, was auf Dauer wirken kann. Wir müssen aber akut etwas gegen die schlimme Lage der Flüchtlinge tun. Wir müssen daran arbeiten, dass wir bei der Demokratisierung dieser Region weiterkommen. Die Demokratisierung dieser Region ist der Schlüssel zum Erfolg und zu mehr Ruhe im Mittelmeerraum sowie zu einer vernünftigen regionalen Entwicklung. Dazu gehört auch, dass wir die Wirtschaften, die in diesen Regionen existieren, anerkennen; denn Menschen ohne Arbeit werden weiterhin aus Libyen und aus dem gesamten Raum fliehen. Das ist etwas, was Sie auch bei der Menschenrechtsratssitzung gemeinsam mit Libyen besprechen sollten. Ich denke, es ist auch eine Chance, dass Libyen dabei ist. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, will ich Ihnen kurz die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentli- chen Abstimmungen mitteilen. Ich komme zunächst zum Ergebnis der Abstimmungen über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke zu Korrekturen der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht auf den Drucksachen 17/1631 und 17/3871 bis 17/3888. Die Auszählung der namentlichen Abstimmungen hat eine Mehrheit von Nein-Stimmen ergeben. Damit sind die Anträge abgelehnt. Das detaillierte Ergebnis der na- mentlichen Abstimmungen wird später im Stenografi- schen Bericht veröffentlicht.1) ({0}) Wir kommen nun zum Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen. Es ging dabei um die Ver- besserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 Geschiedenen. Abgegebene Stimmen: 578. Mit Ja haben 313 gestimmt, mit Nein 264. Es gab eine Enthaltung. Die Beschlussempfehlung ist damit an- genommen. 1) Anlagen 5 bis 23 Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 577; davon ja: 312 nein: 264 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({1}) Manfred Behrens ({2}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({3}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({4}) Dirk Fischer ({5}) Axel E. Fischer ({6}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({7}) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Peter Götz Ute Granold Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({8}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({9}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Julia Klöckner Axel Knoerig Jens Koeppen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt ({10}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Michael Luther Karin Maag Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({11}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({12}) Nadine Schön ({13}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({14}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Daniela Ludwig Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({15}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({16}) Anita Schäfer ({17}) Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({18}) Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({19}) Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({20}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({21}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({22}) Peter Weiß ({23}) Sabine Weiss ({24}) Ingo Wellenreuther Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({25}) Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Sylvia Canel Reiner Deutschmann Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther ({26}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({27}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({28}) Michael Link ({29}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Jan Mücke Petra Müller ({30}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({31}) Hans-Joachim Otto ({32}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören ({33}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({34}) Nein SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({35}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({36}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({37}) Michael Groß Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({38}) Hubertus Heil ({39}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Hinz ({40}) Frank Hofmann ({41}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({42}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christian Lange ({43}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Dr. Carola Reimann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({44}) Michael Roth ({45}) Marlene Rupprecht ({46}) Axel Schäfer ({47}) Bernd Scheelen Ulla Schmidt ({48}) Silvia Schmidt ({49}) Carsten Schneider ({50}) Swen Schulz ({51}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz ({52}) Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({53}) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Harald Weinberg Katrin Werner Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({54}) Volker Beck ({55}) Birgitt Bender Ekin Deligöz Katja Dörner Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz ({56}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({57}) Agnes Malczak Kerstin Müller ({58}) Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({59}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Enthalten CDU/CSU Manfred Kolbe Nun zum Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Keine Privatisierung von Äckern, Seen und Wäldern“. Abgegebene Stimmen: 578. Mit Ja haben 313 gestimmt, mit Nein 69. Es gab 196 Enthaltungen. Auch diese Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 578; davon ja: 313 nein: 69 enthalten: 196 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({60}) Manfred Behrens ({61}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({62}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({63}) Dirk Fischer ({64}) Axel E. Fischer ({65}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({66}) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Florian Hahn Holger Haibach Dr. Stephan Harbarth Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({67}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({68}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Julia Klöckner Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach ({69}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Michael Luther Karin Maag Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({70}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({71}) Nadine Schön ({72}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({73}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Daniela Ludwig Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({74}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({75}) Anita Schäfer ({76}) Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({77}) Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({78}) Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({79}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({80}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({81}) Peter Weiß ({82}) Sabine Weiss ({83}) Ingo Wellenreuther Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({84}) Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Sylvia Canel Reiner Deutschmann Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther ({85}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({86}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({87}) Michael Link ({88}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Jan Mücke Petra Müller ({89}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({90}) Hans-Joachim Otto ({91}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören ({92}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({93}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nein DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({94}) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Harald Weinberg Katrin Werner Sabine Zimmermann Enthalten CDU/CSU SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({95}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({96}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({97}) Michael Groß Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({98}) Hubertus Heil ({99}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Hinz ({100}) Frank Hofmann ({101}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({102}) Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christian Lange ({103}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Dr. Carola Reimann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({104}) Michael Roth ({105}) Marlene Rupprecht ({106}) Axel Schäfer ({107}) Bernd Scheelen Ulla Schmidt ({108}) Silvia Schmidt ({109}) Carsten Schneider ({110}) Swen Schulz ({111}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz ({112}) Manfred Zöllmer Brigitte Zypries BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({113}) Volker Beck ({114}) Birgitt Bender Ekin Deligöz Katja Dörner Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz ({115}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({116}) Agnes Malczak Kerstin Müller ({117}) Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({118}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Markus Tressel Daniela Wagner Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nun hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU das Wort. ({119})

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Libyen steht in Flammen, und das libysche Regime trägt hierfür die volle Verantwortung. Mit brutaler Gewalt unterdrückt es die Proteste der eigenen Bevölkerung. Diktator Gaddafi hat zur Ermordung der Demonstranten aufgerufen. Ein Regime, das sein eigenes Volk derart behandelt, begeht systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Verbrechen gegen die Bürgerinnen und Bürger müssen sofort aufhören. Dieses Vorgehen ist vollkommen inakzeptabel. Wir verurteilen es auf das Schärfste. Die Demonstranten nehmen ihre Menschen- und Bürgerrechte wahr. Meinungsfreiheit und das Recht, sich friedlich zu versammeln, sind fundamentale Rechte eines jeden Menschen, die respektiert und geschützt werden müssen. Sie haben dabei unsere uneingeschränkte Unterstützung. ({0}) Die Lage in Libyen hat sich in den letzten Tagen sehr unübersichtlich dargestellt. Herr Staatsminister, Sie konnten auch heute ein nur sehr unvollständiges Lagebild geben. Vorrangiges Ziel musste zunächst der Schutz der deutschen und europäischen Bürger in Libyen sein. Die CDU/CSU-Fraktion dankt deshalb der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt, dass sie in dieser schwierigen Lage innerhalb kürzester Zeit deutsche Staatsbürger sicher nach Hause haben ausfliegen lassen. Die libysche Führung hat den Tod mehrerer Hundert Menschen zu verantworten; es klebt Blut an den Händen der libyschen Führung. Dies darf nicht ohne Folgen bleiben. Es muss deshalb Sanktionen gegen die Regierung Gaddafi geben. Die EU muss hier mit einer Stimme sprechen. ({1}) Es ist völlig inakzeptabel, dass vor allem ein EU-Land aus falsch verstandener Partnerschaft zu Libyen die EU am dringend erforderlichen Handeln hindert und damit zugleich eine Ignoranz der brutalen Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck bringt. ({2}) Am kommenden Montag beginnt die nächste Sitzungsperiode des UN-Menschenrechtsrates. Es ist für mich ein völlig unerträglicher Gedanke, dass Libyen dann wieder in diesem Gremium sitzt, und dies im Beisein von Lady Ashton, die ihre Teilnahme angekündigt hat. Herr Staatsminister, ich erwarte, dass Lady Ashton für die EU die geeigneten Worte findet. Ich bin dankbar, dass sich die Bundesregierung im Vorfeld der Sitzung des UN-Menschenrechtsrates dafür starkmacht. ({3}) Der UNO-Sicherheitsrat muss darüber beraten, wie die libysche Zivilbevölkerung vor Söldnern des GaddafiRegimes geschützt werden kann. Wir erwarten, dass Deutschland und andere EU-Staaten die Initiative ergreifen und eine Dringlichkeitssitzung beantragen. Nötig ist ein Mandat der Vereinten Nationen, um die Flüge nach Libyen zu unterbinden, mit denen Söldner in das Land gebracht werden sollen. Die Sperrung der Konten - es ist gesagt worden, was dafür technisch erforderlich ist sollte ohnehin selbstverständlich erfolgen. Es gibt unterschiedliche Zahlen hinsichtlich der Flüchtlingssituation. Der Rote Halbmond meldet 5 700 Menschen, die ins benachbarte Tunesien geflohen seien. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir Flüchtlingsströme herbeireden. Um diese zu verhindern, müssen wir die Ursachen der Migration in Afrika - das ist zu Recht von Herrn HoDr. Andreas Schockenhoff yer und von meiner Vorrednerin gesagt worden - kurzfristig wie auch langfristig bekämpfen. Wir müssen dafür sorgen, dass den Menschen in ihrer Heimat stabile Verhältnisse und wirtschaftliche Perspektiven geboten werden. Wir brauchen natürlich auch eine Stärkung der europäischen Grenzschutzorganisation FRONTEX, aber nicht, um die Menschen draußen zu halten ({4}) - nein -, sondern um den Menschen dort, wo sie sind, eine echte Lebensperspektive zu geben. ({5}) Die CDU/CSU-Fraktion kann Innenminister de Maizière nur zustimmen: Wir sollten keine Flüchtlingsströme organisieren, sondern Aufbauhilfe leisten und Lebensperspektiven in den Heimatländern bieten. ({6}) Bei aller Tragik müssen wir die Ereignisse auch als eine Chance begreifen und beherzt agieren. Ich unterstütze ausdrücklich die Initiative der Bundesregierung, den betroffenen Ländern eine Transformationspartnerschaft anzubieten. ({7}) - Wir brauchen uns nicht gegenseitig Vorwürfe zu machen. - Natürlich müssen wir die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union im Süden wie im Osten völlig neu überdenken und uns fragen, was wir falsch gemacht haben und warum wir erst dann reagieren, wenn es brennt. Die Europäische Union darf universelle Menschenrechte nicht nur predigen; sie muss vielmehr für diejenigen einstehen, die die Geltung dieser Rechte für sich einfordern. Es wird uns in der Europäischen Union auf Dauer nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarn schlecht geht. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Schönen Dank, Frau Präsidentin! - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, im ganzen Hause muss Klarheit darüber bestehen, dass wir fordern und nicht bitten, dass die Gewalt gegen Demonstranten in Libyen sofort und endgültig eingestellt wird. ({0}) Das ist die erste Forderung. Da kann es überhaupt kein Vertun geben. Wir müssen dem libyschen Staat, der Familie Gaddafi und ihm selbst deutlich machen, dass nichts, aber auch gar nichts diese Orgie der Gewalt rechtfertigen kann und dass wir uns als deutsches Parlament schützend an die Seite der Demonstranten stellen. Das ist zwar eine symbolische Geste, aber solche symbolischen Gesten sind in bestimmten Situationen politisch außerordentlich wichtig. ({1}) Ich sage genauso klar: Wer in der jetzigen Situation anfängt, mit dem Gedanken an militärische Maßnahmen zu spielen und in der Öffentlichkeit über den Einsatz von Militär zu spekulieren, der hilft der Familie Gaddafi bei der Durchsetzung ihrer Gewaltpolitik. ({2}) Das schafft ein Klima, das nicht mehr zu steuern ist. Ich halte auch nichts von der Debatte, Flugverbotszonen einzurichten. Wenn man sie einrichtet, hat man immer das Problem, sie gewaltsam durchsetzen zu müssen. Damit befindet man sich mitten in einer militärischen Auseinandersetzung. Das Militär ist in der jetzigen Situation das schlechteste Mittel, das man anbieten oder mit dem man drohen kann. Das muss völlig klar sein. ({3}) Ich mache Ihnen zwei andere Vorschläge. Ich würde mich freuen, wenn wir uns demnächst mit Anträgen zu diesem Thema befassen könnten. Ich möchte unbedingt, dass sich die Europäische Union und auch Deutschland selbst für Flüchtlinge aus dem gesamten arabischen Raum öffnen ({4}) und in der jetzigen Situation FRONTEX nicht verstärken. Vielmehr muss man sich jetzt zurücknehmen. Das wäre ein erster Vorschlag. Vielleicht können wir uns darauf einigen. Das wäre eine konkrete Hilfe für die Menschen, nicht ausreichend, aber immerhin eine Hilfe. Mein zweiter Vorschlag: Lassen Sie uns gegenüber allen Staaten der Europäischen Union, aber auch in unserem eigenen Land dafür eintreten, dass die Waffenlieferungen sofort eingestellt werden, und zwar endgültig. ({5}) Vor diesem Problem kann man sich nicht drücken. Über alles andere reden Sie, aber über solche Probleme reden Sie nicht. Das hat Ursachen. Ich möchte über einen weiteren Punkt diskutieren. Ich frage mich: Machen Sie sich eigentlich Gedanken darüber, wie gering die Europäische Union und auch unser Land in den arabischen Ländern angesehen sind? Machen Sie sich keine Gedanken darüber, dass man dort bemerkt, dass unsere Politik mit doppelten Standards arbeitet? ({6}) Ich habe mich gefragt, warum gerade jetzt, nachdem vieles passiert ist, eine kritische Abrechnung mit Mubarak beginnt. Zuvor haben alle geschwiegen. Ich frage mich, warum Gaddafi gerade jetzt - zu Recht, das möchte ich betonen - angegriffen wird, obwohl man vorher mit ihm zur Abwehr der Flüchtlingsströme paktiert hat. Das ist doch die Realität. Glauben Sie nicht, dass das die Menschen nicht spüren? ({7}) Ich war dieser Tage in Ägypten und anderen arabischen Ländern. Auf der Straße spürt man, dass die Europäische Union, unser Land und auch unsere Bundesregierung keine Glaubwürdigkeit mehr besitzen. Ich bin der Auffassung, wir müssen unsere Nahostpolitik, unsere Politik gegenüber den arabischen Ländern grundsätzlich korrigieren. Herr Hoyer hat recht: Es gibt unterschiedliche Ursachen für die Proteste, aber es gibt auch vergleichbare. Ich möchte Ihnen einige nennen. Erstens. In allen Bewegungen erleben wir sehr stark, dass speziell junge Menschen soziale Rechte einfordern. Die soziale Entwurzelung ist eine der Ursachen der Proteste. Wenn man die nicht bekämpft, wird man keine demokratische Entwicklung befördern können. Ein zweiter Punkt, der eine Rolle spielt, ist der Wunsch nach wirklicher Demokratie, das heißt, die klare Ablehnung kleptokratischer Regime in diesen Ländern. Ein dritter Punkt hat etwas mit Würde zu tun. Wenn Menschen über lange Zeit entwürdigt worden sind, hat das politische Auswirkungen und Nachwirkungen. Das ist in vielen Ländern identisch. ({8}) Entwürdigung muss gestoppt werden. ({9}) Wir haben allen Anlass, uns selbstkritisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Warum gehen wir den selbstkritischen Auseinandersetzungen aus dem Weg, wenn wir uns wirklich ändern wollen? Das ist nicht glaubwürdig, das hat keinen Effekt, und das stärkt Demokratien nicht, sondern schwächt Demokratien. Es ist falsch, den Ägypterinnen und Ägyptern, die sich selbst befreit haben, jetzt zu sagen: Wenn es um eine Verfassung und den Aufbau von Demokratie geht, dann stehen wir euch zur Verfügung. Ihr könnt von uns lernen. - Umgekehrt ist es richtig: Wir können von vielen Ägypterinnen und Ägyptern sowie Libyerinnen und Libyern lernen, die ihren Kopf für die Demokratie - nicht für weise Ratschläge - hingehalten haben. Schönen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Hans-Christian Ströbele. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das „liebe“ sage ich heute aus voller Überzeugung, weil ich den Eindruck habe, dass wir uns im Grunde weitgehend einig sind bei der Beurteilung der Situation Nordafrikas, insbesondere derjenigen Libyens. ({0}) In Nordafrika gibt es - ich habe einmal nachgezählt ein Dutzend Länder, in denen die Bevölkerung tage-, manchmal wochenlang für Demokratie, für Freiheit, für Menschenrechte, für Würde, aber auch für Brot und Arbeit auf der Straße ist. Das zeigt uns, dass auch Völker, die islamisch geprägt sind, sehr wohl etwas von friedlicher Revolution verstehen und eine friedliche Revolution machen können, und zwar ohne unsere Anleitung. Und das ist gut so. ({1}) Nun stellen wir bezüglich Libyens leider fest, dass das Volk auf der Straße ist und sich bemüht, diesen Diktator loszuwerden, dieser aber zurückschlägt und das Volk unterdrückt. Die Krone der Unterdrückung und Repression ist der kaum für möglich gehaltene Umstand, dass er sein eigenes Volk aus Flugzeugen der Luftwaffe bombardieren und beschießen lässt und dass er Söldner aus anderen afrikanischen Staaten einfliegen und sein Volk zusammenschießen lässt. Auch ich sitze, wie wahrscheinlich viele von uns, abends vor dem Fernseher oder vor dem Radio und höre wie vor gut 20 Jahren die Nachrichten und frage mich: Klappt es? Ist er bald weg? So war es in Bezug auf Ägypten, wo es die ganze Nacht darum ging: Geht Mubarak jetzt, oder geht er nicht? So ist es jetzt wieder bezüglich Libyens, nur dass die Situation für die Bevölkerung dort noch viel dramatischer und schlimmer ist, weil Menschen getötet werden, und zwar nicht Hunderte, sondern - wenn die Meldungen stimmen - bereits über 2 000. Das ist unerträglich. Die internationale Gemeinschaft, die UNO und Europa müssen klar sagen, dass das Mordtaten sind. Sie müssen die Fakten benennen und dürfen es nicht dabei bewenden lassen, vielmehr müssen sie auch Konsequenzen ziehen und Sanktionen verhängen. ({2}) Zunächst fragen wir uns natürlich: Was hat Europa damit zu tun, was haben wir damit zu tun, dass das GaddafiRegime so reagieren kann? Wir müssen uns daran erinnern, dass der Diktator Gaddafi mit seinem Hofstaat noch vor wenigen Wochen und Monaten in Europa hofiert worden ist. Er durfte seine Zelte auf großen Plätzen in europäischen Hauptstädten aufschlagen. Alle waren stolz, wenn sie mit ihm eingeladen wurden. ({3}) Damit haben wir nicht etwa lediglich auf das falsche Pferd gesetzt; wir haben vielmehr wieder einmal den Fehler gemacht, den wir in vielen Ländern der Welt - nicht nur in Nordafrika - machen: Wir haben auf Potentaten gesetzt, weil wir dachten, Stabilität sei wichtiger als Menschenrechte. Das darf nicht wahr sein. So kann das nicht weitergehen. Wir haben an Libyen sogar Technologien geliefert, mit denen die Machthaber jetzt die Handys abschalten und den Zugang zum Internet sperren können. Wir haben Polizeihilfe geleistet. Europa hat über 100 000 Kalaschnikows geliefert. Wir müssen es uns eine Lehre sein lassen, dass solche Unterstützungsleistungen, dass solche Hilfen für Militär und Polizei, die als Unterdrückungsinstrumente fungieren, gegen die Bevölkerung eingesetzt werden, wie es jetzt in Libyen der Fall ist. Es reicht nicht aus, dass wir sagen: Wir verurteilen das, wir stehen an der Seite der Bevölkerung, die auf die Straße geht und der Ermordung droht. Wir müssen etwas tun. ({4}) Sanktionen sind erforderlich, und zwar zunächst gegen den Clan von Gaddafi. Sie dürfen nicht ausreisen. Wenn sie ausreisen wollen, müssen sie festgehalten und festgesetzt werden. Sie müssen vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Das müssen wir ganz offensiv fordern. Diese Verfahren müssen wir einleiten. ({5}) Wir müssen die Konten sperren. Wir müssen ihre Vermögen einfrieren. All das kann jetzt auf den Weg gebracht werden, damit es irgendwann in den nächsten Tagen oder Wochen umgesetzt werden kann. Wir müssen aber auch den Soldaten Zuflucht gewähren, die ihre Flugzeuge nach Europa bringen wollen, um ihre Bevölkerung nicht bombardieren zu müssen. Diesen Piloten und den Kapitänen und Matrosen, die mit Schiffen unterwegs sind, müssen wir Asyl anbieten. Darüber hinaus müssen wir den Menschen helfen, die jetzt in Libyen verfolgt werden. Ich meine die Tunesier und Ägypter, die ermordet werden, deren Frauen vergewaltigt werden, die verfolgt werden, die in Nachbarländer fliehen. Diesen Menschen müssen wir helfen. Gerade Länder wie Tunesien und Ägypten müssen wir unterstützen, damit sie diesem Flüchtlingsstrom einigermaßen Herr werden können. Sie müssen in die Lage versetzt werden, die Flüchtlinge zu humanitären Bedingungen unterzubringen. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz. - Damit nicht genug: Das Volk in Libyen erwartet von uns ganz konkrete Unterstützung. Wir sollten medizinische, humanitäre Hilfe anbieten, und wir sollten in den Gebieten, die bereits befreit sind, eine solche Hilfe bereits jetzt anbieten. Das ist möglich. Das kann auf den Weg gebracht werden. Ich habe heute in der Zeitung gelesen,

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, keinen neuen Anlauf, bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- dass deutsche Kriegsschiffe unterwegs sind. Sie sollten der Bevölkerung in den befreiten Gebieten so helfen. Das ist jetzt unsere Aufgabe. Daran müssen wir arbeiten. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die gesamte arabische Welt befindet sich derzeit in Aufruhr. Der Funke, der sich in Tunesien entzündete, ist auf Ägypten, Algerien, die Golfregion und andere arabische Länder und nun auch auf Libyen übergesprungen. Ich glaube allerdings nicht, dass man angesichts der Entwicklung in der arabischen Welt von einem Dominoeffekt sprechen kann. Zu unterschiedlich sind Ausgangslage, aktuelle Situation und Perspektiven in den einzelnen Ländern. Libyen ist kein historisch gewachsener Staat. Die Revolten in Tunis und Kairo stellten nie die Einheit des jeweiligen Landes infrage. In Libyen verhält sich das anders. Außerdem gibt es kein homogenes Staatsvolk. Deshalb drohen alte Stammeskonflikte jetzt wieder aufzubrechen. Anders als in Ägypten und Tunesien sind keinerlei Ansätze für eine Zivilgesellschaft und nicht einmal rudimentäre demokratische Strukturen zu erkennen. Es gibt keine politische Landschaft und vor allem niemanden, der das Land auf Anhieb repräsentieren oder in einer Übergangsphase regieren könnte. Auch ist das libysche Militär, anders als beispielsweise in Ägypten, kein stabilisierender Faktor. Die Armee ist vielmehr gespalten. Deshalb ist die Zukunft Libyens ungewiss. Aber nicht nur in den genannten Punkten unterscheiden sich die aktuellen Vorgänge in Libyen von den Vor10480 gängen in der übrigen arabischen Welt. Vor allem die brutale Gewalt, mit der Gaddafi sein eigenes Volk niedermetzeln lässt, ist ohne Beispiel. Hunderte von Menschen - wahrscheinlich muss man inzwischen von Tausenden sprechen, darunter auch Ausländer - sind in den letzten Tagen gewaltsam ums Leben gekommen, nur weil sie für Freiheit, Menschenrechte und ein Leben in Würde auf die Straße gegangen sind. Viele Tausende sind auf der Flucht. Während eines bizarren Sekundenauftritts droht der Diktator seinem eigenen Volk sogar mit Bürgerkrieg und spricht in einer theatralisch-grotesken Ankündigung von seiner Bereitschaft zum Märtyrertod. Bei dem Vorgehen des Regimes gegen die Demonstranten handelt es sich mittlerweile längst nicht mehr nur um die leider allzu bekannten Menschenrechtsverletzungen, die in Libyen seit nunmehr 42 Jahren zum Alltag gehören. Die wenigen Bilder, die wir aus dem isolierten Land bekommen, zeigen eine Reaktion des Regimes, die nur noch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet werden kann. Dieses barbarische Vorgehen gegen das eigene Volk ist weltweit schärfstens verurteilt worden. Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang die Reaktion der Arabischen Liga, die Gaddafi unmissverständlich aufgefordert hat, die Gewalt einzustellen, so wie es bereits zu einem frühen Zeitpunkt die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister getan haben. Die Bundesregierung gehört damit zu den Ersten, die in der internationalen Staatengemeinschaft klar Position gegen den libyschen Despoten und sein Regime bezogen haben. Oberste Priorität muss nun für uns haben, alle sich noch in Libyen befindenden Deutschen sicher außer Landes zu bringen. Des Weiteren darf es keinen Zweifel an der gemeinsamen Haltung der EU gegenüber der libyschen Regierung geben. ({0}) - Ja, ja. - Auch wenn die Interessenlage in der EU vielschichtig ist, muss Europa, wenn es um die elementarsten Menschenrechte geht, mit einer Stimme sprechen. Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Staatsminister Hoyer, dass man da schon früher hätte mehr erwarten können. Es ist Zeit, dass es jetzt zu einer gemeinsamen Haltung der EU kommt. Sollte Gaddafi weiterhin mit brutaler Gewalt sein Regime aufrechterhalten wollen - leider sind keine Anzeichen dafür erkennbar, dass er umdenkt -, müssen Sanktionen folgen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Libyen im Chaos versinkt. Für Deutschland, die EU und die gesamte westliche Welt ist es von elementarer Bedeutung, Libyen bei der Ingangsetzung eines Demokratisierungsprozesses zu unterstützen und zu verhindern, dass es zum Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen wird. Auch die nachhaltige Eindämmung der Flüchtlingsströme - nicht nur aus Libyen - liegt im klaren Interesse aller EU-Länder. Das wird aber nicht funktionieren, wenn sich Europa abschottet, sondern nur, wenn wir dabei behilflich sind, dass die Probleme in Nordafrika selbst gelöst werden. ({1}) - Hilfe zur Selbsthilfe. ({2}) - Das heißt, es sollte keinen unbegrenzten Zufluss von Flüchtlingen geben, Herr Kollege - das hat Kollege Schockenhoff vorhin bereits angesprochen -, ({3}) sondern wir müssen vor Ort für bessere Lebensbedingungen, für bessere politische und wirtschaftliche Bedingungen sorgen. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Vorgänge in der arabischen Welt haben inzwischen - da stimme ich dem Bundesaußenminister zu - die Dimension einer Zeitenwende, einer historischen Zäsur angenommen. Auch wenn der Westen wenig Einfluss auf die weitere Entwicklung der Ereignisse hat, kommt es jetzt darauf an, klar Position zu beziehen und ebenso besonnen wie entschlossen zu agieren. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, wir sind Zeugen einer dramatischen, furchtbaren und mörderischen Entwicklung in Libyen, und wir fordern, ich glaube, als gesamter Deutscher Bundestag: Das muss sofort beendet werden. Wir brauchen einen Gewaltverzicht. ({0}) Wir müssen eine friedliche Entwicklung in Libyen einfordern und diese nach unseren Möglichkeiten unterstützen. Ich warne ein bisschen davor, auf die Posen von Gaddafi hereinzufallen. Er ist voll zurechnungsfähig. Er ist verantwortlich für die Taten, und er muss dafür auch einstehen. Wenn ihn das eigene Volk oder die eigenen Institutionen nicht zur Rechenschaft ziehen, dann muss der Internationale Strafgerichtshof handeln, dann müssen die Möglichkeiten, die wir in der internationalen Gemeinschaft in den letzten Jahren gegen die Verletzung der Menschenrechte entwickelt haben, sofort genutzt werden. Ich hoffe, dass die Bundesregierung dies im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützt. ({1}) Ich bin der festen Überzeugung, dass das, was innerhalb der Europäischen Union in den letzten Tagen unternommen worden ist, in die richtige Richtung geht. Ich will das auch an die Adresse der Bundesregierung sagen. Ich glaube, Sie haben diesmal schneller, umfassender und deutlicher reagiert. Im Gegensatz zu den Erfahrungen im Zusammenhang mit Tunesien und Ägypten ist die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union zurzeit vorbildhaft. Aber das heißt auch, Herr Kollege Schockenhoff: Sie müssen mit Ihrem Parteifreund Berlusconi ({2}) über die Sonderrolle Italiens sprechen. ({3}) Zumindest müssen Sie versuchen, ihn mithilfe der Kontakte, über die Sie aus der Vergangenheit vielleicht noch verfügen, zu überzeugen; ich glaube, alles andere ginge in genau die falsche Richtung. Wenn man das nicht auf Parteiebene machen will, dann muss es letztlich die Bundeskanzlerin in ihren Konsultationen mit dem Regierungschef tun. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine bestimmte Debatte, vor der ich ein bisschen warnen möchte, sollten wir in Deutschland nicht befördern. ({5}) Ich habe wirklich Verständnis für die herrschende Skepsis, auch für die der Menschen in Deutschland, die vor dieser Entwicklung natürlich Angst haben; das ist gar keine Frage. Wir wissen noch nicht, was in allen Einzelheiten auf uns zukommt. Aber ich finde, wir Politikerinnen und Politiker dürfen die Situation nicht dramatisieren. Wir dürfen auch nicht die falschen Maßstäbe anlegen. Ein Beispiel ist die Diskussion über die Flüchtlinge. Ich bin der festen Überzeugung, Libyen und seine Nachbarländer werden an den Grenzen viel größere Probleme mit Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen haben, als es in Europa jemals der Fall sein wird. Auch das gehört zum Bild der Lage. Wir müssen bei diesem Thema alle Möglichkeiten, die wir in unserer Geschichte entwickelt haben, nutzen, auch in Sachen Toleranz. Insbesondere finde ich, dass wir ein vollkommen falsches Bild von den Menschen zeichnen, die zurzeit versuchen, in ihrer Region, in ihren Ländern neue Gesellschaften aufzubauen. Sie demonstrieren doch nicht, um fliehen zu können. Sie wollen in ihren Ländern bleiben. Sie wollen sich selbst ermöglichen, in ihrem Land zu leben. Darin müssen wir sie auch von hier aus unterstützen, und wir dürfen nicht dramatisieren. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass die Chancen überwiegen, sowohl für die Region als auch für Europa. Junge Frauen und Männer, Arbeiterinnen und Arbeiter, gut ausgebildete Menschen haben ihr Schicksal in die Hand genommen. Sie stehen für Modernisierung und Mobilität und auch für ein anderes Bild einer islamischen Gesellschaft. Die Demonstranten haben nicht gesagt, der Islam sei die Lösung für ihre Probleme, sondern sie wollen eine moderne, mobile, demokratische, freie Gesellschaft. Ich finde, Europa muss signalisieren, dass wir diese Bestrebungen unterstützen und sie als Chance begreifen. So hat es auch Europa geschafft, nach dem Zweiten Weltkrieg eine friedliche Entwicklung in unserer Region einzuleiten. Setzen wir doch ein positives Signal! Das heißt natürlich auch, dass man ehrlich sein muss. Wir werden in der Europäischen Union eine neue Flüchtlingspolitik brauchen. Ich begrüße das, was Herr Staatsminister Hoyer hierzu für die Bundesregierung erklärt hat. Wir müssen uns klar darüber sein, dass wir den Menschen bestimmte Möglichkeiten eröffnen und ihnen einen temporären Aufenthalt anbieten müssen. Auch die Frage des politischen Asyls wird in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Wir werden im Ausbildungssektor Hilfe leisten müssen. Insbesondere die Abschottung der Europäischen Union im Agrarsektor muss beendet werden. Hier geht es um genau das, was Sie eben gesagt haben. Wir unterstützen das. ({7}) Wir haben die Chance, in dieser Region eine stabilisierende Rolle zu spielen. Insbesondere wird es aber auf die Länder selbst ankommen. Ich hoffe, dass die Türkei eine Menge wird bewegen können. Wenn es dann noch gelingt, dazu beizutragen, dass Ägypten als stabiles, freiheitliches Land in dieser Region einen Stabilitätsanker bildet, werden davon auch Europa und die Menschen, die hier leben, profitieren können. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vorletzten Sitzungswoche haben wir uns mit Tunesien beschäftigt, in der letzten Sitzungswoche mit Ägypten, und heute befassen wir uns mit Libyen. Man könnte die Frage stellen: Womit beschäftigen wir uns in der nächsten Plenarwoche? ({0}) - Es kann so sein; aber wir wissen es noch nicht. Wir alle wissen nicht, wie sich die Situation entwickelt. Wir alle wissen auch nicht, was am Ende des Tages bei den Reformprozessen herauskommt. ({1}) In den Ländern, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben, herrscht eine vergleichbare Situation: Die Leute, die normalen Menschen, haben es gewagt, auf die Straße zu gehen. Ich finde es unglaublich mutig, dass es Menschen in Libyen heutzutage immer noch wagen, auf die Straße zu gehen, obwohl sie dort abgeschossen werden so muss man das sagen. Wir können uns vor diesem Mut der Bevölkerung in Libyen nur verneigen und sie mit den allerbesten Wünschen begleiten. ({2}) Auf der einen Seite gibt es also etwas Vergleichbares, auf der anderen Seite gibt es aber auch große Unterschiede. Das müssen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Kenntnis nehmen und auch sehr deutlich sagen. Wir können die Situation in Libyen nicht mit der in Tunesien oder Ägypten vergleichen. Während wir in Ägypten und Tunesien wenigstens eine Chance haben und Strukturen erkennen können, in die sich etwas hineinentwickeln kann, gibt es dafür in Libyen nach meinem Dafürhalten bisher nicht den geringsten Ansatzpunkt. Das ist ein großer Unterschied. Von daher sage ich auch: Was da passiert, ist hochriskant. Wir wissen nicht, wie das Ende aussieht. Wir können nur unterstützen, wo wir können. Libyen ist also anders. Deshalb finde ich es auch richtig, dass die Reaktion der Bundesregierung auf die Situation in Libyen anders ist als im Fall von Ägypten und Tunesien. Wir müssen uns den Situationen, die wir vorfinden, anpassen. Ich finde es sehr richtig, dass die Bundesregierung bzw. der Außenminister als erster europäischer Führer deutliche Worte gefunden hat. Das war völlig richtig. In Libyen wird auf der Straße geschossen, und Libyens Führer hat zum Bürgerkrieg aufgerufen; das ist in Ägypten und Tunesien nicht passiert. Das ist eine völlig andere Situation, und es bedarf auch anderer Gegenmaßnahmen. Es gibt eventuell die Möglichkeit, gegen Libyen Sanktionen zu verhängen, wobei das vielleicht zum Teil nur von symbolischer Bedeutung ist. Ich möchte aber sehr deutlich sagen, dass ich große Probleme damit habe, wenn Politiker in Deutschland, vor allem aber auch im Ausland in diesem Zusammenhang von Völkermord sprechen und daran entsprechende Konsequenzen knüpfen. Das Wort „Völkermord“ beinhaltet erstens, dass eine bestimmte Situation vorherrschen muss, die nach meinem Dafürhalten - aber ich bin kein Völkerrechtler - heute in Libyen trotz der furchtbaren Ereignisse immer noch nicht besteht. Wenn der Terminus „Völkermord“ verwendet wird, bedeutet das zweitens, dass unmittelbar und notwendigerweise Konsequenzen gezogen werden müssen. Herr Asselborn hat das gestern Morgen in Deutschland gefordert. Ich hätte mir gewünscht, dass er auch gesagt hätte: Wir Luxemburger sind bereit, heute Nachmittag ein Bataillon der luxemburgischen Armee in Marsch zu setzen. - Denn das wäre die Konsequenz. Wer A sagt, von Völkermord spricht und sagt, man müsse etwas dagegen tun, der muss auch B sagen und erklären, woher er die Soldaten nehmen will. Ich sage hier und heute deutlich: Ich bin nicht bereit, darüber nachzudenken, Bundeswehrsoldaten nach Libyen zu schicken. Das wäre aber die Konsequenz, wenn man von Völkermord spricht; das müssen wir sehr deutlich sagen. Aber wir müssen aus dieser Situation auch etwas lernen. Wir müssen bereit sein, zu erkennen, dass wir erstens von der Region nicht genug gewusst haben und uns zweitens nicht genügend - wir haben ja auch andere Baustellen - darum gekümmert haben. Wir müssen daraus lernen, wie wir in Europa vorgehen. Dazu möchte ich sagen - als Abgeordneter kann man ja deutlicher sprechen als die Regierung -: Für mich ist es völlig inakzeptabel, wie die italienische Regierung bisher mit dem Thema umgegangen ist. ({3}) Das müssen wir als Abgeordnete deutlich zum Ausdruck bringen. Ich kann die Bundesregierung nur ermutigen und ermuntern - diese Unterstützung soll sie mitnehmen, und dazu hat sie, jedenfalls von mir und meiner Fraktion, auch das Mandat -, in der Europäischen Union in Freundschaft, aber auch in Klarheit dafür zu sorgen, dass die Mittelmeerpolitik nicht von einem Klub von Ländern dominiert wird, die ihre eigenen Interessen - historische Bindungen usw. - verfolgen. Dafür ist das Thema für uns alle in Europa zu wichtig. Hier muss Europa an einem Strang ziehen, und Deutschland ist besonders gefordert. Ich bin besonders froh darüber, dass die Bundesregierung die ersten wichtigen und richtigen Maßnahmen schnell ergriffen hat. Zunächst einmal ging es darum, in dem Chaos in Libyen dafür zu sorgen, dass Deutsche und andere Staatsbürger in Sicherheit gebracht werden Leib und Leben retten. Das hat die Bundesregierung effektiv und effizient gemacht. Das war hervorragend. Ich glaube, ich kann im Namen aller sprechen, wenn ich den Deutschen, die vor Ort, aber auch in Deutschland dazu beigetragen haben, dass das schnell möglich war, ausdrücklich Dank und Anerkennung ausspreche. Herr Staatsminister, bitte übermitteln Sie das Ihren Mitarbeitern! ({4}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Wir sind politisch gefordert. Wir sind zunächst gefordert, die wichtigen Dinge, die jetzt, in dieser Woche und in diesen Tagen, anstehen, anzugehen. Dann sind wir mittelfristig politisch gefordert, eine neue Mittelmeerpolitik in Europa zu entwickeln. Daran müssen wir arbeiten. Dazu muss Deutschland einen wichtigen Beitrag leisten. Wir dürfen dieses Thema nicht nur einigen wenigen Staaten überlassen. Deutschland muss seine Rolle spielen, und wir, das Parlament, werden die deutsche Bundesregierung mit Kräften unterstützen. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Johannes Selle. ({0})

Johannes Selle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen erleben wir einmal mehr, wie viele Opfer es kosten kann, wenn ein Diktator nicht aufgeben will. Man kann bei der Fülle von Einzelinformationen nicht mehr erkennen, ob 600, 1 000 oder bereits 2 000 Tote zu beklagen sind. Wer in die Menge schießt, hat jeden Anspruch auf Respekt verloren. ({0}) Er kämpft für niemanden mehr als für sich selbst. Eine unübersehbare Zahl von brutalen Bildern kann man im Netz finden - auch von toten Soldaten, die auf Befehl Gaddafis getötet wurden, weil sie nicht auf Landsleute schießen wollten. Wenn Soldaten durch ins Land geholte Söldner ersetzt werden, dann hat der Diktator allein dadurch sein Recht verloren, das Volk zu vertreten. Er kämpft bis zum letzten Blutstropfen um seine Herrschaft und sein Einkommen. Dabei hat er durch die Arroganz der Macht schon lange den Blick für die Realität verloren. Das bedeutet, er nimmt nicht mehr wahr, dass er ohne die Zustimmung des Volkes handelt. Von auf das Wohl des Volkes ausgerichteter Politik kann schon lange keine Rede mehr sein. Wenn man in dieser Zeit die Zeitungen liest, dann sieht man, dass jetzt viele nationale und internationale Vergehen aufgelistet werden, die einen erschaudern lassen. Es war bekannt, wes Geistes Kind das Regime ist, und es fühlt sich nachträglich nicht gut an, für die Stabilität so manchen anderen europäischen Wert vernachlässigt zu haben. Jetzt aber ist die Zeit für klare Worte gekommen. Es reicht nicht, das Ende der Gewalt zu fordern, sondern es muss die Verurteilung der Verantwortlichen verlangt werden. Es wird ohnehin nicht mehr möglich sein, politisch mit diesem System zu verhandeln. Alles, was für ein schnelles Ende getan werden kann, muss auch schnell getan werden. Dieses System darf durch nichts mehr Zeit gewinnen, auch damit das libysche Volk in der verbleibenden Zeit nicht das Nachsehen hat und weiter betrogen wird. Wenn wir das Regime zögerlich verurteilen, werden wir auf zögerliches Vertrauen der Bevölkerung beim Neubeginn treffen. Bei diesem Neubeginn sollten wir bereit sein, finanzielle Unterstützung und vor allem Unterstützung beim Aufbau eines pluralen demokratischen Systems zu leisten. Jede Opposition wurde brutal unterdrückt. Es gibt keine geübten Strukturen. Wenn wir nicht zu einer geeigneten Unterstützung gelangen, werden vom Chaos nichtplurale Kräfte profitieren. Auch dafür gibt es Beispiele. In der taz habe ich gelesen, dass islamische Führer gesagt haben, es bestehe die Pflicht der Muslime, gegen die libysche Führung aufzubegehren. Die arabische Welt wird nicht mehr so sein, wie sie war. Das ist die Chance, über die Selbstbestimmung der nordafrikanischen Völker und die geografische Nähe zu einer echten und engen Zusammenarbeit zu kommen. Darüber sollten wir hier noch oft reden. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp für die FDP-Fraktion. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Wir sind uns darüber einig, dass die Gewaltherrschaft in Libyen ein Ende haben und die Herrschaft von Gaddafi überwunden werden muss. Das ist eine Riesenhürde. Wir haben eben gehört, welche nächsten Schritte zu gehen sind. Ich möchte an dieser Stelle einmal betrachten, wie es denn eigentlich einem Volk ergeht, das aufbegehrt und wohl einen Neubeginn haben möchte, und welche Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Ich betone ausdrücklich, dass vor Ort keine Entwicklung ohne eine gute Regierungsführung stattfinden kann. An dem Beispiel dieses Landes wie auch anderer Länder sehen wir, wie wichtig es ist, hier zu ganz neuen demokratischen Strukturen zu kommen. Dabei stellt sich die Frage: Kann man mit der Entwicklungszusammenarbeit in Libyen die neuen Strukturen, die hoffentlich demokratischer Natur sind - wir müssen das weiter beobachten -, unterstützen? Ein Blick auf die derzeitige Situation zeigt: Bisher war Libyen kein Partnerland bei der Zusammenarbeit in der Entwicklungspolitik. Es gab zwei kleine regionale Projekte, die über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit verwirklicht wurden. Aber diese Projekte erfolgten in regionalem Zusammenhang und gegen Bezahlung, also nicht durch Einsatz von Steuermitteln. Das war und ist derzeit nicht unbedingt erforderlich, weil Libyen über große Erdölvorkommen und damit auch sehr viele eigene Ressourcen verfügt. Wenn aber die derzeitigen Strukturen überwunden sein sollten und sich abzeichnet, dass es in Libyen demokratische Strukturen und Kräfte gibt, die den Neuaufbau wollen, wie wir uns das vorstellen, stellt sich die Frage, ob wir dann helfen können. Ich verweise darauf, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) drei Fonds für Nordafrika und Nahost aufgelegt hat, zu denen ich einige Details nennen möchte. Es gibt einen Demokratiefonds, einen Bildungsfonds und einen Wirtschaftsfonds. Der Demokratiefonds ist mit 3,25 Millionen Euro ausgestattet, die für den Aufbau und die Unterstützung der politischen Stiftungen, die Akademie der Deutschen Welle, die Gründung von Parteien und die Organisation von Wahlen bestimmt sind. Der Bildungsfonds mit einem Umfang von 8 Millionen Euro hat die Qualifizierung von jungen Menschen insbesondere im beruflichen Bereich im Blick. Der Wirtschaftsfonds mit einem Umfang von 20 Millionen Euro soll dieser Region helfen, die Perspektiven zu verbessern und insbesondere durch die Gründung von Kleinstunternehmen und mittelgroßen Unternehmen mithilfe von Mikrofinanzierung Arbeitsplätze zu schaffen. Es gibt also einen breiten Rahmen. Wir müssen sehen, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, dass die westlichen Länder möglicherweise von außen diktieren wollen, was demnächst vor Ort in den genannten Ländern in Nordafrika und im Nahen Osten passiert. Vielmehr muss der Neubeginn von innen heraus vor Ort gestaltet werden. Die Menschen vor Ort müssen eine Perspektive haben, damit sie Arbeitsplätze finden, dort bleiben können und eine Zukunft haben. Ich glaube, das ist für uns eine sehr wichtige Aufgabe. ({1}) Wir brauchen zudem sehr individuelle, maßgeschneiderte Hilfen und Unterstützung. Auch dafür gibt es keine Allgemeinlösung. Zum Schluss möchte ich einen Punkt betonen. Der Kollege Stinner sprach von einer neuen Mittelmeerpolitik, die wir brauchen. Das ist sehr richtig. Denn die Kräfteverhältnisse und die Verhältnisse überhaupt haben sich vollkommen geändert. Im Bereich einer neuen Mittelmeerpolitik müssen wir aber den Fokus insbesondere auf die ländliche Entwicklung richten. Für die ländliche Entwicklung und den Agrarsektor ist es absolut notwendig, dass die EU-Agrarsubventionen im Export gestrichen werden ({2}) und die Länder eine Chance haben, in Zukunft weiter agieren zu können, um den Aufbau voranzutreiben, statt weiter den Mangel zu verwalten. Herzlichen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Günter Gloser für die SPD-Fraktion.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer auf seine eigene Bevölkerung schießen lässt, wer Söldner anwirbt, um Menschen töten zu lassen, wer unzählige Menschen auf dem Gewissen hat, wer seine eigene Bevölkerung als Ratten tituliert, der hat wahrlich keinen Schutz verdient. ({0}) Schutz verdient haben aber die vielen mutigen Menschen in Libyen, die auf die Straße gegangen sind. ({1}) Es gibt auch keinen Streit über die Analyse. Alle haben gesagt, welche Verhältnisse in Libyen herrschen, auch im Vergleich zu Ländern wie Ägypten, Tunesien oder anderen in der Golfregion. Es ist daher wichtig, jetzt ein Zeichen zu setzen. Manchmal habe ich den Eindruck, wir haben immer noch nicht richtig verstanden, was eine, zwei oder drei Flugstunden vom europäischen Kontinent entfernt passiert. Angesichts dieser Umbruchphase wäre es wichtig gewesen, dass die Europäische Union, abgesehen von der vielbeschworenen einen Stimme, zumindest gesagt hätte: Wir setzen uns mittelfristig zusammen und beraten über die Konsequenzen aus einem solchen Umbruch. - Aber ich kann nicht sehen, dass man das macht. Verschiedene Redner haben bereits Kritik an der Vorgehensweise geübt. Herr Staatsminister Hoyer, es ist vollkommen richtig, was Sie gesagt haben. Ich glaube, Sie können die breite Unterstützung des Hauses für Ihre Vorschläge bekommen. Aber das, was am Montag auf europäischer Ebene herausgekommen ist - Sie haben an den entsprechenden Sitzungen teilgenommen; ich zitiere Sie jetzt nicht -, ist ein schwaches Bild. ({2}) Wenn ein Regierungschef den Eindruck erweckt - ich zitiere nur aus einer Zeitung, mit einer Fußnote versehen -, dass er sich als Schutzmacht für Herrn Gaddafi geriert, und sagt, man könne keine Sanktionen verhängen, weil sonst möglicherweise Flüchtlinge zu uns kämen, dann kann ich als Reaktion nur sagen: Das ist nicht die europäische Politik, auf die wir uns vor vielen Jahren verständigt haben. ({3}) Bevor ich auf die Binnenwirkung in unserem Land zu sprechen komme, darf ich mit Einverständnis der Frau Präsidentin aus der Berliner Erklärung zum 50. Jahrestag der Europäischen Union zitieren: Wir leben und wirken in der Europäischen Union auf eine einzigartige Weise zusammen. Dies drückt sich aus in dem demokratischen Miteinander von Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen. Die Europäische Union gründet sich auf Gleichberechtigung und solidarisches Miteinander. So ermöglichen wir einen fairen Ausgleich der Interessen zwischen den Mitgliedstaaten. Wenn das so ist, dann müssen wir uns auch in der Flüchtlingspolitik gegenseitig helfen. ({4}) Es hat doch keinen Sinn, dass manche auf der Einhaltung jedweder bürokratischen Regelung, die im Rahmen von Dublin II getroffen wurde, bestehen. Da wir gerade über Flüchtlingspolitik reden: Herr Staatssekretär Bergner, ich bin Ihnen dankbar, dass jetzt auch das Innenministerium vertreten ist. Sonst hätte ich das negativ angemerkt. Schließlich geht es auch um eine Aufgabe Ihres Ministeriums. Ich möchte einen Aspekt nennen, über den wir uns, glaube ich, einig sind. Es ist sicherlich kein Widerspruch, wenn gesagt wird: Auf der einen Seite müssen die Länder ihre Aufgaben machen. Auf der anderen Seite müssen wir dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder in Schwung kommt und dass Demokratie und Freiheit herrschen. Das bestreitet niemand. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann man ernsthaft annehmen, dass die betreffenden Länder dies alles allein schultern können, sodass wir uns nicht um Flüchtlingspolitik und Migrationsfragen wie Arbeitsmigration und Bildungsmigration kümmern müssen? Das alles muss doch im Gleichklang geschehen. Ich finde es fatal, wenn ein oberster Polizeifunktionär nach den ersten Flüchtlingsbewegungen nach Lampedusa sagt: Wir müssen Europa zur Festung ausbauen. - Das kann nicht die richtige Antwort der Europäischen Union auf die aktuellen Fragen sein. ({5}) Ich wünsche und hoffe, dass in diesen Stunden Sanktionen gegen Gaddafi und seine Clans verhängt werden. Herr Staatsminister Hoyer, ich war gestern etwas überrascht - weil das sozusagen Ihre eigene politische Familie betrifft -, als ich die Meldung von Reuters gelesen habe, wonach Herr Brüderle gesagt hat: Sanktionen stehen aktuell nicht an. - Das finde ich angesichts der Tatsache, dass Ihr Außenminister zuvor in Kenntnis dessen, was am Montag in der Europäischen Union passiert ist, etwas anderes gesagt hat, nicht gut. Die Vielstimmigkeit in der Regierung sollte ein Ende haben. Ich möchte am Schluss ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort in den deutschen Botschaften, in verschiedenen Vertretungen und Institutionen tätig sind, Dank für ihr Engagement und ihre Arbeit sagen. ({6}) Ich glaube, sie haben keine einfache Aufgabe. Das, was in den letzten Tagen in Libyen passiert ist, ist nicht vergleichbar mit der Situation in anderen Ländern. Auch deshalb bitte ich, Dank auszurichten. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Fischer das Wort. ({0})

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Libyen befindet sich in einem Kontext mit Tunesien, Ägypten, den MENA-Staaten insgesamt. Trotzdem ist jedes Land unterschiedlich. Wie wir sehen, könnten die Auswirkungen in Tunesien, Ägypten und Libyen nicht unterschiedlicher sein. Wir sehen, dass die Rebellion in Tunesien und Ägypten gegen die eigenen Regierungen in weiten Bereichen Früchte getragen hat. Wir sehen aber auch, dass es für die Menschen in Libyen, wo der Machthaber auf die eigene Bevölkerung schießt, im Augenblick keinerlei Perspektiven gibt. Es gibt immer noch Diktatoren, die ihre Völker in Geiselhaft nehmen: Castro, Ahmadinedschad, Baschir, Kim Jong-il und einige andere. Der Massenmörder Gaddafi zeigt jetzt, dass es noch schlimmer geht: brutale Unterdrückung seit 40 Jahren, Mord, Inhaftierung, Isolierung, Folterung. Man nimmt den Menschen ihre Würde. Man gibt ihnen keinerlei Chance zur Teilhabe. Viele Menschen leben unterhalb des Existenzminimums. Wie wir vom ehemaligen Justizminister Libyens hören, war der Massenmörder Gaddafi am Mord von Lockerbie direkt beteiligt: Er hat ihn befehligt. Dies ist jetzt in Schweden bekannt geworden. Er hat den Abschuss des PanAm-Jumbos 103 am 21. Dezember 1988, bei dem 259 Fluggäste und 11 Bewohner Lockerbies ums Leben kamen, zu verantworten. Ich danke ausdrücklich unserem Außenminister, aber auch Herrn Staatsminister Hoyer und Herrn Niebel dafür, dass man sofort gehandelt hat, dass man sofort Gespräche in den entsprechenden Nachbarländern von Libyen geführt und aufgezeigt hat, dass man denen, die dort rebellieren, Chancen gibt, damit man dort Perspektiven sieht. Ich bin dankbar, Herr Hoyer, dass Sie mir eben, als ich Sie kurz gefragt habe, bestätigen konnten, dass es vollkommen klar ist, dass diese Bundesregierung den Menschen in Hartwig Fischer ({0}) Libyen sofort, wenn wir die Chance haben, Hilfestellung zu geben, medizinische Hilfe und Nothilfe zukommen lässt - direkt oder über NGOs -, damit sich die Situation für die Menschen nicht über Wochen oder Monate schlecht darstellt. Wir sind dankbar, dass das Versorgungsschiff „Berlin“ und die Fregatten „Brandenburg“ und „Rheinland-Pfalz“ bereits auf Kurs gegangen sind und dass weitere Menschen mit dem Airbus der Bundeswehr zurückgeführt werden können, wie bereits gestern Abend geschehen. Herr Gehrcke, ich muss kurz auf Sie eingehen, weil Sie kritisiert haben, dass in der Vergangenheit Gespräche mit Mubarak und anderen dort auf höchster Ebene stattgefunden haben. ({1}) - Doch, auch Gespräche. Wir können es im Protokoll nachlesen. - Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass gerade in der Vergangenheit Männer wie Herr Gloser, aber auch Ihr Kollege Aydin als Verantwortliche in den Parlamentariergruppen bei allen Gesprächen dabei waren, die dort geführt wurden - daran waren Kollegen aus allen Fraktionen beteiligt - und in denen die menschenunwürdigen Zustände in den einzelnen Staaten, das Unterdrücken der Bevölkerung, die Inhaftierung von Menschen, die Sperrung der Kontakte zu diesen Menschen grundsätzlich thematisiert worden sind. Ich lege darauf Wert, weil es eine der Hauptaufgaben unserer Parlamentariergruppen ist, Brücken zu schlagen, damit es den Menschen in ihren Ländern besser gehen kann. ({2}) Ich sage ebenfalls ganz deutlich: Wenn wir den Menschen Perspektiven geben wollen, dann müssen sie nachhaltig sein. Dazu gehört, die Märkte zu öffnen. Das müssen wir in dem einen oder anderen Fall, etwa wenn es um die Landwirtschaft geht, auch dann tun, wenn wir im eigenen Land Gegenwind verspüren. Nur nachhaltige Entwicklung, gerade im Maghreb, wird den Menschen vor Ort helfen und ihnen die Chance geben, in ihren Ländern Perspektiven zu finden. ({3}) Dazu gehört, dass es zu Einigkeit in der Europäischen Union kommt. Es gibt derzeit ein klares Auseinanderklaffen zwischen den Nordländern und den Südländern in der Europäischen Union, weil die Interessenlagen unterschiedlich sind. Es ist entscheidend, dass wir bei den Gesprächen in den nächsten Tagen und Wochen eine gemeinsame Linie finden werden. Wir brauchen eine begleitende Partnerschaft für diese Länder und auch für Libyen, sobald sich dort die entsprechenden Gesprächspartner zeigen. Wir brauchen eine nachhaltige Partnerschaft. Das heißt, wir dürfen diese Länder, wenn sie aus dem medialen Fokus wieder verschwunden sind, nicht vergessen, wie es bei anderen Ländern in der Vergangenheit passiert ist. Ich will da gar keine Regierung in der Vergangenheit ausnehmen. Eine Bitte habe ich noch: Ich glaube nicht, dass es angehen kann, dass bereits am Freitag der Menschenrechtsrat tagt und Libyer aus der derzeitigen Regierung am Tisch sitzen. Libyen muss vom Menschenrechtsrat suspendiert werden. Gaddafi muss vor den Internationalen Gerichtshof gezogen werden. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a bis c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes - Drucksache 17/4803 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Bürgerschaftliches Engagement der jungen Generation anerkennen und fördern - Drucksache 17/4692 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Auswärtiger Ausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Koch, Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst einführen - Drucksache 17/4845 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Innenausschuss Vizepräsidentin Petra Pau Sportausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. ({3})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wehrpflicht geht und mit ihr auch der Zivildienst. Wie schwer der Abschied fällt, merken viele von Ihnen zurzeit in ihren Wahlkreisen. Viele kranke, ältere und behinderte Menschen sind in Sorge, weil sie die Arbeit der Zivis als große Hilfe empfunden haben. Viele soziale Einrichtungen befürchten, dass sie nicht mehr all das anbieten können, was aus Pflege Fürsorge macht: Zeit, Hilfe und Zuwendung über das medizinisch Notwendige hinaus. Die spürbare Wehmut in den Wochen des Abschieds ist aber auch eine große, eine schöne Anerkennung für all das, was junge Männer in den letzten 50 Jahren in mehr als 37 000 Einrichtungen in Deutschland geleistet haben. Sie haben mit dem Zivildienst über die Jahre hinweg ein dicht geknüpftes Netz der Fürsorge gespannt und es zu einem tragenden Pfeiler für den Zusammenhalt der Gesellschaft gemacht. Gerade deshalb haben wir jetzt die Chance, diesen Dienst weiterzuentwickeln zu einem freiwilligen Angebot, das Männern und Frauen jeden Alters offensteht, zu einem Angebot, das Menschen davon überzeugt, sich Zeit für Verantwortung zu nehmen, und zu einem Angebot, das Jung und Alt verbindet. Mit dem Bundesfreiwilligendienst haben wir dafür die Voraussetzungen geschaffen. Der Bundesfreiwilligendienst ist der Nährboden für eine neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland, für ein Umfeld, in dem sich jüngere und ältere Menschen beteiligen wollen und aus eigener Motivation heraus aktiv werden können. Kurz die Eckpunkte: Der Bundesfreiwilligendienst steht Männern und Frauen jeden Alters offen. Die Freiwilligen sind gesetzlich sozialversichert. Sie erhalten ein Taschengeld, das in Ost und West die gleiche Obergrenze hat. Der Einsatz soll zwischen 6 und 24 Monate betragen, in der Regel Vollzeit. Bei den über 27-Jährigen ist eine Teilzeit von mehr als 20 Wochenstunden möglich. Die Einsatzbereiche werden auf Sport, Integration, Kultur, Bildung, Zivil- und Katastrophenschutz ausgedehnt. Unser Ziel für den neuen Bundesfreiwilligendienst sind 35 000 Freiwillige pro Jahr. Das ist zwar ein ehrgeiziges Ziel, aber ich bin optimistisch, dass wir dieses Ziel erreichen werden. Optimistisch stimmt mich zum Beispiel, dass schon im Moment 30 000 junge Männer in Deutschland die Möglichkeit nutzen, ihren Zivildienst freiwillig zu verlängern. Das ist eine Möglichkeit, die wir erst ganz aktuell geschaffen haben. Viele Menschen im Ruhestand sind Gott sei Dank so fit und wollen etwas von ihrer Lebenserfahrung und ihrem Wissen weitergeben. Auch in anderen Lebensabschnitten sind Auszeiten, zum Beispiel in Form von Sabbaticals, attraktiv. Die Bereitschaft, sich zu engagieren, ist also vorhanden. Gleichzeitig werden das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr ausgebaut. Insgesamt fördert der Bund die Freiwilligendienste künftig mit mehr als 350 Millionen Euro im Jahr. Gemeinsam mit den Trägern und den Verbänden bin ich davon überzeugt, dass das vorliegende Gesetz die Freiwilligendienste in Deutschland insgesamt stärken wird. ({0}) Die Opposition wird dennoch zum x-ten Mal die angeblichen Doppelstrukturen kritisieren. ({1}) Da Ihnen jetzt wahrscheinlich auch wieder nichts anderes einfällt als die scheinheilige Frage, warum wir neben dem FSJ und dem FÖJ noch einen Bundesfreiwilligendienst brauchen, will ich Ihnen das ganz präzise beantworten: Wir brauchen ihn, weil die Länder schlicht nicht bereit sind, für den Ausbau der Freiwilligendienste 300 Millionen Euro auszugeben. ({2}) Der Bund hingegen ist dazu bereit. Wir investieren das Geld in die Engagementförderung. Damit sind wir die Bundesregierung, die wie keine Bundesregierung zuvor so viel Geld in den Ausbau des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland steckt. ({3}) Vor uns liegt eine gewaltige Gemeinschaftsaufgabe. Wir müssen dafür werben, dass sich möglichst viele Männer und Frauen, jüngere und ältere, in einem Freiwilligendienst engagieren. Dafür brauchen wir passgenaue Angebote sowie Tätigkeiten, die attraktiv und sinnvoll sind. Wir brauchen aber auch mehr Anerkennung für gesellschaftliches Engagement in Deutschland. Im Januar dieses Jahres habe ich Vertreter der Bundesländer, der kommunalen Spitzenverbände, der Hochschulrektorenkonferenz, der Wirtschaftsverbände und viele andere an einen Tisch geholt, um darüber zu beraten, wie wir die Anerkennungskultur in Deutschland stärken können. Wir waren uns darüber einig, dass eine uniforme Anerkennung nicht weiterhilft. Es mag beispielsweise für den einen oder anderen eine super Sache sein, den Freiwilligendienst als Wartezeit für einen Studienplatz anrechnen zu lassen. Das bringt aber demjenigen relativ wenig, der im Ruhestand vielleicht noch einmal für ein Jahr in einer Kita aushelfen möchte. Deshalb brauchen wir ein ganzes Bündel unterschiedlicher Anreize, mit denen die jeweiligen Zielgruppen angesprochen werden sollen. Dafür müssen wir gemeinsam sorgen. Ich persönlich finde es wichtig, dass wir dabei ganz besonders junge Menschen mit Migrationshintergrund in den Blick nehmen. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, bei Doppelstaatlern mit den jeweiligen Herkunftsländern darüber zu verhandeln, ob dort von der Wehrpflicht abgesehen werden kann, wenn in Deutschland ein Bundesfreiwilligendienst absolviert wurde. Dabei denke ich vor allem an junge Männer mit türkischem Migrationshintergrund. Bei der Wehrpflicht gibt es momentan bereits ähnliche Absprachen. Es wäre sehr gut, wenn wir das auf den Bundesfreiwilligendienst übertragen könnten. Mit Sicherheit ist nichts so wirksam für die Integration wie ein Bundesfreiwilligendienst. Dieser Dienst bringt mehr als so manche staatliche Maßnahme. ({4}) - Entschuldigung, Ihr Zwischenruf zeugt davon, dass Sie leider relativ wenig Ahnung haben. In Deutschland gibt es allein aufgrund des Optionsmodells sehr viele junge Männer mit doppelter Staatsangehörigkeit, die noch Zeit haben, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Die Möglichkeit, hier in Deutschland einen Bundesfreiwilligendienst zu absolvieren, kann dabei ein wichtiges Entscheidungskriterium sein. Wenn Sie den Geist des Zivildienstes erhalten und auch weiterhin ein Netz der Fürsorge und der Hilfe in Ihrem Wahlkreis haben wollen, dann helfen Sie mit, eine neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland zu etablieren. Sagen Sie Ja zum Bundesfreiwilligendienst. Überzeugen Sie gemeinsam mit mir die Menschen in unserem Land davon, dass es sich lohnt, sagen zu können: Ich habe gedient. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Griese hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesem Land engagieren sich sehr viele Menschen ehrenamtlich. Ohne sie wären unsere Städte und Gemeinden ärmer. Sehr viele Jugendliche in unserem Land machen ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges Ökologisches Jahr. Wir gehen von etwa 35 000 Jugendlichen im Jahr aus. Leider wird nur ein Teil von ihnen durch den Bund gefördert. Der Bedarf ist noch viel größer. Es sind etwa doppelt so viele Jugendliche, die sich um einen Platz bewerben. Bei den Auslandsdiensten und in der Kultur - wir haben das gestern Abend noch einmal bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung sehr deutlich gehört - sind es sogar noch viel mehr. All diese Jugendlichen wollen sich im Rahmen des FSJ oder FÖJ in den Bereichen Soziales, Sport, Kultur oder Ökologie engagieren. Dazu kommen noch die Jugendlichen bei „weltwärts“ in der Entwicklungspolitik. Deshalb möchte ich zuallererst - ich hoffe auch, dass ich das in Ihrer aller Namen tun kann - all denen danken, ob Alt oder Jung, ob im FSJ oder in den vielen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände, in Initiativen und Kirchengemeinden, in der Nachbarschaftshilfe, in der Telefonseelsorge, in Umweltverbänden, in Kitas und Schulen, in Behinderteneinrichtungen und Obdachlosenunterkünften, die sich freiwillig engagieren und die einen so wichtigen Beitrag leisten. Ihnen allen ein herzliches Dankeschön dafür! ({0}) Sie, liebe Frau Ministerin, haben mit dem Zivildienst angefangen. Ich will ausdrücklich zum FSJ, zum Freiwilligen Sozialen Jahr, etwas sagen; denn das hat in den letzten Jahren großen Zuspruch erfahren und es ist eine bewährte, langfristig erprobte Form des freiwilligen Engagements Jugendlicher. Es ist auch deshalb so gut, weil es im Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenleben die Möglichkeit gibt, sich persönlich oder beruflich neu zu orientieren, sich auszuprobieren, Fähigkeiten einschätzen zu lernen. Von diesem Engagement profitieren natürlich nicht nur die Jugendlichen, sondern die Gesellschaft insgesamt. Es ist die Chance, sich um Mitmenschen zu kümmern, einander zu begegnen, und für viele, mit denen man spricht, die dieses Jahr gemacht haben, war das auch ein Jahr, in dem sich ihr Berufswunsch entwickelt hat. Gerade junge Männer kommen häufig erst dadurch auf die Idee, in soziale Berufe zu gehen. Wenn Sie sich mit ehemaligen Zivis oder FSJlern unterhalten, sehen Sie oft, wie ihre Augen glänzen, wenn sie von dieser Arbeit und von den Menschen erzählen, die ihnen anvertraut sind. Der Freiwilligendienst bietet auch eine Chance, weil Jugendliche dort unabhängig vom Elternhaus mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen. Wir haben ja nun leider eine viel zu frühe Selektion im Bildungswesen. Deshalb ist auch das eine ganz wichtige Sache. Mit dem Wegfall des Wehr- und Zivildienstes wird jetzt ein Feld geräumt, wo sich Menschen begegnen können. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so wichtig, jetzt die Chance richtig zu nutzen und im Zuge der Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes attraktive und gut ausgestattete Freiwilligendienste konsequent zu stärken. Die SPD-Fraktion hat der Bundesregierung ihren konstruktiven Beitrag dazu angeboten. Wir stehen für eine einheitliche Lösung im Interesse der jungen Menschen, die diese Freiwilligendienste machen wollen, bereit. ({1}) - Danke. Die Bundesregierung hat diese Chance ja bisher nicht ergriffen, sondern will weiterhin - auch wenn Sie es nicht mehr hören können - neben den bewährten, bestehenden Freiwilligendiensten einen neuen Bundesfreiwilligendienst installieren. Wir alle kennen die juristische Debatte dazu. Wir sagen aber noch einmal ausdrücklich: Wir halten diese Doppelstruktur weiterhin nicht für eine gute und richtige Lösung; denn sie wird mehr Bürokratie und Kosten verursachen. Wenn Sie mit den Trägern des FSJ sprechen - viele von uns tun das; einige haben das gerade auch gestern Abend wieder getan -, erleben Sie da sehr viel Verunsicherung. Nach einer ersten Phase, die durchaus von Freude darüber geprägt war, dass es mehr Mittel, wenn auch leider nicht alle, die durch den Wegfall des Zivildienstes frei werden, für das freiwillige Engagement gibt, gibt es jetzt sehr große Verunsicherung darüber, wie diese neuen Bundesfreiwilligendienste organisiert werden sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat es mit ihrem Hin und Her wirklich geschafft, alle zu verunsichern: erstens die jungen Menschen, die wissen wollten, wie es bei ihnen biografisch weitergeht, zweitens die Menschen in den Einrichtungen, die ihre Zivis und FSJler zu schätzen wissen, drittens die Träger, die qualifizierte Angebote machen wollen und Planungssicherheit brauchen. Wir haben jetzt in kurzer Zeit von fünf verschiedenen Modellen gehört: von der Verkürzung des Zivildienstes, von der freiwilligen Verlängerung, von der Abschaffung, von der Aussetzung und nun vom neuen Bundesfreiwilligendienst. Hier muss man auch feststellen dürfen: Der Zeitplan ist nicht optimal, und die Einrichtungen wissen immer noch nicht, worauf sie sich ab dem 1. Juli einlassen können. Deshalb wird es auch schwierig sein, genügend Menschen zu finden, obwohl wir ausdrücklich sagen: Wir wollen viel dafür tun, damit sich junge Menschen in diesem neuen Bundesfreiwilligendienst engagieren. Es besteht weiterhin die Gefahr einer Zweiklassengesellschaft zwischen denen, die im FSJ sind, und denen, die im neuen Bundesfreiwilligendienst sind. ({2}) Sie wissen, dass die SPD in ihren Regierungsjahren auf den Ausbau des FSJ gesetzt hat. Da können Sie sicherlich kritisieren, dass das noch nicht genug war. Das würde ich auch selbstkritisch annehmen; denn gerade die Jugend- und Familienpolitiker wollten gerne mehr. Dabei waren Sie, liebe Frau Kollegin, allerdings auch nicht immer hilfreich. Aber wir haben auf den Ausbau des FSJ gesetzt. Wir haben den Zivildienst zum Lerndienst weiterentwickelt. Wir haben die generationsübergreifenden Freiwilligendienste erfunden. Auch das ist, wie ich glaube, eine wichtige Sache, die Sie ja auch teilweise fortgesetzt haben. Ich denke, darauf hätte man mehr aufbauen müssen. Wir wünschen uns auch eine sinnvolle Fortsetzung des freiwilligen Engagements für Ältere. Ich glaube immer noch, es braucht unterschiedliche Konzepte, je nachdem, ob man einen Dienst für Jugendliche anbietet, die sich in einer Phase der beruflichen und biografischen Orientierung befinden, oder ob man neue Möglichkeiten des freiwilligen Engagements für Ältere schaffen will. Dieser muss im Hinblick auf die Begleitung anders aussehen. ({3}) Das Jahr 2011 - viele wissen es noch gar nicht - ist von der Europäischen Union zum „Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven Bürgerschaft“ - in der EU-Sprache, ein etwas sperriger Titel erklärt worden. In Deutschland werden sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure unter dem Motto „Freiwillig. Etwas bewegen!“ engagieren. Die Rahmenbedingungen sollen - das hat die EU so vorgeschlagen - in diesem Jahr verbessert werden. Die Freiwilligenorganisationen sollen gestärkt werden. Das freiwillige Engagement soll mehr anerkannt werden, und die Menschen sollen für die Bedeutung der Freiwilligentätigkeiten sensibilisiert werden. Ich möchte ausdrücklich den Appell an die Bundesregierung richten: Nutzen Sie diese Chance! Wir brauchen ein klares Auftreten der Bundesregierung beim Einsetzen für die Ziele des Europäischen Jahres der Freiwilligentätigkeit. Die Zuständigkeit ist ja in Ihrem Haus, Frau Ministerin, und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege angesiedelt. Ich appelliere weiterhin an Sie: Begreifen Sie dieses Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit als Chance, das freiwillige Engagement europaweit zu unterstützen! Zeigen Sie etwas mehr Herzblut! Denn es ist eine große Chance, die wir alle ergreifen sollten. Wir brauchen in Deutschland bessere Strukturen zur Förderung des freiwilligen Engagements. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Bernschneider hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilligendienst und dem Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung der Jugendfreiwilligendienste beraten wir heute nicht mehr und nicht weniger als eine der größten engagementpolitischen Reformen, die es jemals in Deutschland gegeben hat. Bereits im Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP haben die Förderung des bürgerlichen Engagements sowie der quantitative und qualitative Ausbau der Freiwilligendienste breiten Raum eingenommen. Ich er10490 innere an die bisherigen Schritte: Die Neuregelung des § 14 c Zivildienstgesetz, aber auch die im Oktober 2010 vorgelegte erste Nationale Engagementstrategie waren erste wichtige Maßnahmen, die wir heute mit den vorliegenden Anträgen und dem Gesetzentwurf fortschreiben. Damit - es wurde gerade angesprochen - ist dieses Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit mehr als eine Worthülse. Diese Koalition tut alles dafür, dieses Europäische Jahr mit Leben zu erfüllen. Ich glaube, wir gehen da mit gutem Beispiel für die anderen europäischen Länder voran. ({0}) Mit der Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch mit der Aussetzung des Zivildienstes geht diese Koalition einen mutigen Schritt, zu dem bisherige Regierungen leider nicht bereit waren. Wir gehen den Schritt weg von Pflichtdiensten hin zur Freiwilligkeit. Das ist auch richtig so. Denn es ist doch absurd, dass wir so lange darüber diskutiert haben, ob wir einen Pflichtdienst brauchen. Dabei war doch klar, dass sich jeden Tag drei junge Menschen auf einen Platz bewerben, um sich freiwillig engagieren zu können. Wir mussten zwei von ihnen eine Absage erteilen, weil eben geförderte Plätze nicht in genügender Anzahl zur Verfügung standen. Ich möchte ein besonderes Beispiel herausheben, weil immer gefragt wird: Gibt es überhaupt genug junge Menschen, die sich freiwillig engagieren wollen? Allein im Freiwilligendienst „kulturweit“ des Auswärtigen Amtes haben sich auf 300 Plätze 2 000 junge Menschen beworben. Das macht uns allen deutlich, dass es genug junge Menschen gibt, die freiwillig tätig werden wollen. ({1}) In diesem Punkt gebe ich Ihnen durchaus recht, Frau Kollegin Griese: Nach den Diskussionen um die Verkürzung der Dauer der Wehrpflicht und des Zivildienstes, die wir geführt haben, mag man vielleicht sagen: Da hätte man auch gleich auf Wehrdienst und Zivildienst verzichten können. - Als Liberaler würde ich das durchaus unterschreiben. Aber manchmal ist es in einer Koalition so, dass erst jemand für einen kleinen Schritt kämpfen muss, um dann gemeinsam einen großen Schritt zu gehen. Wenn man sich diesen großen Schritt anschaut, nämlich der Wechsel weg von Pflichtdiensten hin zur Freiwilligkeit, den wir gehen wollen, und wenn man sich vergegenwärtigt, wie kleinteilig mittlerweile die Kritik der Opposition an dem Gesamtkonzept ist, dann wird deutlich, dass wir unsere Arbeit in den letzten Wochen und Monaten sehr gut erledigt haben. ({2}) Ich möchte noch einmal an den Anfang dieser Diskussion erinnern. Damals standen wir vor der Frage: Wie können wir eigentlich all das Gute, das der Zivildienst gebracht hat, nämlich das Engagement junger Männer für unsere Gesellschaft und auch die Entwicklungschancen junger Männer zu fördern, beibehalten, wenn wir den Wehrdienst und den Zivildienst aussetzen? Damals war das Konzept vom freiwilligen Zivildienst im Gespräch. Da gab es vonseiten der Opposition, aber auch von der FDP - das wissen Sie - die Befürchtung, dass ein solcher freiwilliger Zivildienst die bisherigen durchaus guten Dienste - das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr - in ihrer Existenz bedrohen könnten. Aber wenn Sie heute sehen, was wir Ihnen hier vorlegen - den Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilligendienst und den Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung der Jugendfreiwilligendienste -, dann wird, glaube ich, klar, dass sich diese Befürchtungen längst in Luft aufgelöst haben. Wir nutzen die Fördermöglichkeiten des Bundes hinsichtlich der bisherigen Jugendfreiwilligendienste, die - das mag einem gefallen oder nicht zu einem Großteil in der Zuständigkeit der Länder liegen, endlich voll aus. Wir fördern trotz angespannter Haushaltslage - auch das muss man einmal herausstellen - all jene Plätze für ein FSJ und FÖJ, für die seit langem zwar Bedarf besteht, für die aber bisher keine Regierung das nötige Geld hatte. ({3}) Wir erhöhen die Förderung für die Bildungsarbeit von 72 Euro auf 200 Euro. In diesen Tagen, in denen auch viel über die Teilhabechancen junger Menschen diskutiert wird, möchte ich - auch weil es ein Herzensanliegen der FDP war - noch einmal sagen, dass für all diejenigen jungen Menschen, die es bisher nicht immer ganz leicht im Leben hatten und die besonderen pädagogischen Förderbedarf aufweisen, noch einmal 50 Euro zusätzlich investiert werden. Sie sehen also: Bevor wir überhaupt angefangen haben, darüber zu diskutieren, ob wir eine zweite Säule brauchen, haben wir uns erst einmal um das Wichtige gekümmert, nämlich die bestehenden Jugendfreiwilligendienste zu stärken, ihnen die Stärke zu geben, die sie seit langem verdient haben. Dann kann immer noch die Befürchtung bestehen, dass das nicht ausreicht, dass sie trotzdem in eine Konkurrenzsituation geraten. Deswegen haben wir - das erkennen Sie, wenn Sie das Gesetz sehen - das Kopplungsmodell eingeführt, was auch wirklich garantiert, dass beide Dienste nur stark sein können, wenn sie miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Einen Unterschied gibt es, dass sich nämlich im Bundesfreiwilligendienst auch Ältere engagieren können. Das geht in den Jugendfreiwilligendiensten nicht. Aber ich erinnern daran: Wir sind mitten im demografischen Wandel. Wir haben immer mehr Ältere, die aber immer gesünder und fitter sind. Deswegen ist es auch gut, dass wir gerade diesen die Möglichkeit geben, sich dauerhaft - und nicht nur mit Projekten - in einem Freiwilligendienst zu engagieren. Wenn die Regierungsfraktionen von zwei starken Säulen sprechen, dann gehört es wohl auch zum alltäglichen politischen Hickhack, dass die Opposition eher von Doppelstrukturen spricht. Ich kann auch gut verstehen, dass man aufseiten der Opposition eher geneigt ist, die Grenzen, die uns nun einmal durch die unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund und Ländern vorgegeben sind, zu übergehen. ({4}) Aber ich möchte noch einmal daran erinnern: Doppelstrukturen sind doch überhaupt nicht Kern des Problems. Was haben wir denn bisher? Wir haben den Zivildienst und die Jugendfreiwilligendienste. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir haben häufig zwei junge Menschen in derselben Einrichtung, die teilweise genau die gleichen Aufgaben übernehmen, jedoch mit völlig anderen Rahmenbedingungen. Das ist der Status quo, an dem Sie als Rot-Grün auch nie etwas getan haben. Deswegen sind nicht die Doppelstrukturen Kern des Problems, sondern es geht darum, dass zukünftig, wenn zwei junge Menschen freiwillig tätig sind, diese auch die gleichen Rahmenbedingungen vorfinden. ({5}) Nichts anderes tun wir jetzt. Sie haben die gleiche Anzahl an Urlaubstagen, die gleiche Anzahl an Arbeitsstunden. Sie haben das gleiche pädagogische Rahmenprogramm und am Monatsende auch das Gleiche in der Tasche. In Bezug auf das Kindergeld wird immer wieder ein Punkt angesprochen, über den man zu Recht diskutieren kann: Ist es gut so, wie es jetzt gelöst ist? ({6}) Ich sage auch im Namen der FDP, dass man über diese Frage durchaus diskutieren kann, dass man darüber nachdenken kann, ob man zu einer besseren, zu einer optimalen Lösung kommen kann. Ich bin auch zuversichtlich, dass uns das vielleicht noch gelingen wird. In der Anhörung mit den Experten haben wir jetzt die Chance, diese Detailfragen zu diskutieren. Ich würde mir aber wirklich wünschen, dass die Opposition - gerade SPD und Grüne - nicht länger diese Detailfragen nutzt, um ihre Fundamentalkritik an diesem wirklich guten Konzept zu begründen, sondern dass sie endlich anfängt, sich konstruktiv einzubringen. Tun Sie uns, tun Sie sich, aber tun Sie vor allem den freiwillig Engagierten und den Einrichtungen vor Ort den Gefallen, diese Diskussion endlich konstruktiv zu führen. Mit dem vorliegendem Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung der Jugendfreiwilligendienste und mit diesem Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilligendienst haben wir alle hier im Haus die Chance, endlich den Weg für Freiwilligkeit anstelle von Pflichtdiensten freizumachen. Ich glaube, das ist etwas, was viele von uns unterschreiben wollen. Also tun wir es. Begleiten Sie uns dabei. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Dittrich hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn in diesem Jahr der letzte Zivi geht, dann muss der neue Bundesfreiwilligendienst diese Plätze ersetzen. Die Entscheidung, den Dienst mit der Waffe zu verweigern, war eine politische Entscheidung für den Frieden. Den Kriegsdienstverweigerern wurde es nicht leicht gemacht. Mit Bedacht wurden ihnen die schwersten Arbeiten im sozialen Bereich zugewiesen, gewissermaßen zur Abschreckung. Jetzt fehlen mindestens 40 000 Billigarbeitskräfte in der Pflege. Gerade diese Lücke soll der neue Bundesfreiwilligendienst ausgleichen. ({0}) Die Heimleiter freuen sich auf die neuen Freiwilligen; denn sonst wäre die soziale Arbeit nicht gewinnbringend zu verrichten. Abgesehen davon halten wir es für richtig, soziale Arbeit nicht profitorientiert zu organisieren, sondern sie staatlicherseits zu unterstützen. Wer hat den Bundesfreiwilligendienst eigentlich erfunden? Die Bundeswehr. ({1}) Damit Sie merken, dass wir hier keine Märchenstunde abhalten, zitiere ich kurz aus dem Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr, veröffentlicht im Oktober 2010, Seite 28. Dort empfiehlt die Kommission, einen … freiwilligen, bis zu 23-monatigen Dienst einzuführen, der allen erwachsenen Bürgerinnen und Bürgern offen steht und ihnen die freie Wahl des Engagements bietet. Die Möglichkeiten können von der Pflege und Betreuung ({2}) über die Bildung und Erziehung ({3}), Umweltschutz, … und Entwicklungshilfe bis hin zum militärischen Dienst in der Bundeswehr reichen. Die Linke ist als einzige Fraktion gegen den neuen Bundesfreiwilligendienst, ({4}) weil damit die Strukturen beibehalten werden, die eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und der Ersatzdienste ermöglichen - das wurde bereits heute Morgen in der Debatte zum Wehrrechtsänderungsgesetz vermutet -, falls sich zu wenige Soldaten freiwillig für die Bundeswehr melden. Seit wann plant ein Verteidigungsministerium die sozialen Belange der Bundesrepublik mit? Seit wann gilt der Leitspruch der Bundeswehr „Tu was für dein Land!“ auch für das Familienministerium? Die soziale und pädagogische Arbeit soll nun in die Form eines militärischen Dienstes gegossen werden. Aus Zwang folgt nichts Gutes. Herr Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, hat an der Strukturreform der Bundeswehr mitgearbeitet. Auch er verfügt über eine Offiziersausbildung. Er war sich nicht zu schade, die passenden Arbeitskräfte dafür vorzuschlagen, nämlich die Migrantinnen und Migranten, die arbeitslosen Jugendlichen, die Frauen und die älteren Arbeitskräfte sowie die Frührentnerinnen. Übrigens wird der Freiwilligendienst bei der Bundeswehr mit 1 100 Euro vergütet, der Freiwilligendienst im sozialen Bereich mit ungefähr 500 Euro. Der lebende Mensch ist also nur die Hälfte wert. ({5}) Um die große Arbeitslosigkeit zu verdecken, werden die genannten Personenkreise gezielt für den Bundesfreiwilligendienst angeworben. So sieht also die generationen- und nationenübergreifende Integration in den Arbeitsmarkt aus, und zwar im untersten Niedriglohnsektor. ({6}) Diese Menschen fallen natürlich aus der Arbeitslosenstatistik heraus. Die Bundesregierung bekämpft nicht die Armut, indem sie Arbeitsplätze schafft, sondern die Armen. Von Anerkennung - davon hat die Ministerin gesprochen - und Teilnahme an Gemeinschaftsaufgaben können sich die Menschen nichts kaufen, von dem guten Gehalt, das ihnen ein Arbeitsplatz bietet, schon. ({7}) Der Geist des Zivildienstes war der eines Zwangsdienstes; wir halten ihn nicht für erhaltenswürdig. Denn was kommt beim Bundesfreiwilligendienst heraus? Eine ungeheuerliche Benachteiligung von Frauen. Berufe in der Alten- und Krankenpflege oder Sozialarbeit werden zu 80 Prozent von Frauen ausgeübt. Auch in den Freiwilligendiensten sind seit jeher mehr als 70 Prozent der Aktiven Frauen; die Tendenz ist steigend. Gerade junge Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt noch mehr benachteiligt, weil frauenspezifische Arbeitsplätze im sozialen und pflegerischen Bereich durch den Einsatz von Freiwilligen vernichtet werden. Es ist nicht nur eine schlechte Nachricht, sondern ein Skandal, was Sie den Frauen kurz vor dem Internationalen Frauentag am 8. März zumuten. ({8}) Der Staat soll in die staatliche Fürsorge investieren und darf sich im sozialen Bereich nicht aus der Verantwortung zurückziehen. Sonst treffen wir auf solche Anzeigen von älteren Menschen: „Jung gebliebene Frührentnerin sucht älteren Herrn, um häusliche Pflegearbeit zu leisten.“ Die Frührentnerin will also ihre geringe Rente aufstocken, und das als Ungelernte in der Pflege, ohne Anspruch auf Mindestlohn. Das ist erzwungene Freiwilligkeit durch Armut und weniger durch eigene Motivation, wie die Ministerin Schröder eben meinte. Freiwillige werden benutzt, um qualifizierte Fachkräfte zu ersetzen, und das, obwohl schon jetzt ein Mangel an ausgebildeten Pflegefachkräften besteht. Statt Jugendliche zu qualifizieren, sollen sie ohne Mindestlohn im Pflegebereich arbeiten; denn es herrscht Pflegenotstand. Die Behinderten und Kranken haben aber das Recht auf eine menschenwürdige Pflege. Unqualifizierte Kräfte sind mit der Betreuung von Schwerstkranken oft überfordert. Im geplanten Bundesfreiwilligendienst sollen sich Freiwillige aller Generationen von 16 bis 70 Jahren dem Freiwilligendienst verpflichten. Das ist ein schöner Widerspruch. Was denn nun: freiwillig oder dienstverpflichtet? CDU/CSU und FDP weisen in ihrem Antrag darauf hin - ich zitiere -: … dass ein abgeleisteter Freiwilligendienst ein besonders positives Merkmal im Lebenslauf ist. Eine Ausbildung als Krankenschwester bzw. Krankenpfleger erhalten also jene Personen, die einen Freiwilligendienst abgeleistet haben? Wir lehnen den Bundesfreiwilligendienst ab und fordern ein besseres FSJ und FÖJ im sozialen Bereich. Beim Freiwilligen Sozialen Jahr darf es sich nur um eine berufliche Orientierung beim Übergang von der Schule zur Ausbildung handeln. Es soll kein Ersatz für sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse sein. Wir möchten auch keine Ausweitung des Niedriglohnbereichs. Wir fordern in unserem Antrag Mitbestimmungsmöglichkeiten von Jugendlichen und Mindeststandards. ({9}) Die Trägervielfalt in den 16 Bundesländern soll erhalten werden, aber nicht zum Nachteil der Jugendlichen. Eine angemessene Aufwandsentschädigung ist zu gewährleisten. Ein Abbruch bzw. ein Wechsel in einen anderen Bereich darf nicht zum Nachteil im Lebenslauf werden. Deshalb möchten wir ein verbessertes Gesetz zum Ausbau der Jugendfreiwilligendienste bis 27 Jahre und lehnen den Bundesfreiwilligendienst ab. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Gehring das Wort. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kehre jetzt zurück zum Thema unserer Debatte, ({0}) nämlich zum Thema Freiwilligendienste und bürgerschaftliches Engagement. Ich kann der Koalition nicht die Kritik ersparen, ({1}) dass man ihrem Gesetzentwurf zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes deutlich anmerkt, dass er unter erheblichem Zeitdruck entstanden ist. Es wurde offenkundig mit heißer Nadel gestrickt. Jedenfalls ist dabei keine langfristig tragfähige Lösung herausgekommen, sondern Flickschusterei. ({2}) Das ist allerdings auch kein Wunder, da die Bundesregierung völlig überstürzt und planlos handeln musste und gehandelt hat. Minister Guttenberg preschte bei der Wehrpflicht mit einem wahren Zickzackkurs voran, der abstrus gewesen ist. Die Wehrpflicht war vor kurzem noch konservativer Markenkern der Union, ({3}) dann wurde sie von neun auf sechs Monate verkürzt. Jetzt ist die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen. Ministerin Schröder war lange Zeit Zaungast, anstatt den Ausstieg aus dem Zivildienst aktiv, schrittweise und verlässlich zu gestalten. An dieser Stelle hilft keine Wehmut, sondern wir müssen beherzt anpacken und überlegen, wie wir so schnell wie möglich Alternativen aufbauen können. ({4}) Minister Rösler müsste angesichts seiner mangelnden Aktivität zur Bekämpfung der Pflegemisere und zur Bekämpfung des Fachkräftemangels im Sozialbereich eigentlich „Tu-nix-Minister“ heißen. ({5}) Hier fehlen Initiativen vollständig. Frau Ministerin Schavan hat am Kabinettstisch offensichtlich viele Monate geschlummert; denn nach wie vor ist keine Vorsorge dafür getroffen worden, dass 150 000 junge Männer ein Jahr früher einen Ausbildungs- oder Studienplatz brauchen. Deshalb stelle ich fest: Der Gesetzentwurf ist einfach schlecht gemacht. ({6}) So sehr wir als Grüne den Ausstieg aus den Pflichtdiensten begrüßen und den Ausstieg aus den Pflichtdiensten für überfällig und richtig halten, so klar kritisieren wir die schlechte Umsetzung der Koalition. Ihnen fehlt eine konsistente Gesamtstrategie. Sie stehen für eine schlechte Umsetzung. ({7}) Für uns sind Freiwilligendienste und das Jugendengagement für eine aktive Bürgergesellschaft ein Wert an sich. Der Ausbau der Freiwilligendienste ist seit vielen Jahren überfällig. Wir haben das in den letzten Jahren gebetsmühlenartig vorgetragen und immer wieder Anträge und Initiativen aus der Opposition heraus und vorher im Regierungshandeln eingebracht, um die Quantität, Qualität und Attraktivität von Freiwilligendiensten deutlich zu steigern. ({8}) Dass Sie sich dem fünf Jahre lang verweigert haben, rächt sich heute. Heute rächt es sich, dass die Freiwilligendienste von zwei CDU-Jugendministerinnen über Jahre hinweg systematisch vernachlässigt wurden. ({9}) Es ist bedauerlich, dass Frau Schröder den Bundesfreiwilligendienst jetzt zu einer Art Lückenbüßer für den wegfallenden Zivildienst degradiert. Das klappt allein rechnerisch nicht, weil wir im vergangenen Jahr 90 000 Zivildienstleistende hatten, Sie aber nur 35 000 Freiwilligendienstleistende anstreben. ({10}) Wenn es darum geht, Zivildiensttätigkeiten wirklich zu ersetzen, dann muss Herr Rösler etwas tun. Es muss vor allem darum gehen, dass im Sozial- und Pflegebereich mehr fair bezahlte Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. ({11}) Die Pflege muss attraktiver werden, und sie muss besser bezahlt werden. Das ist eine Hausaufgabe dieser Bundesregierung. Unser Kernkritikpunkt am Bundesfreiwilligendienst bleibt: die Doppelstruktur. Sie bekommen es nicht hin, die bewährten Freiwilligendienste deutlich auszubauen, sondern bauen einen staatsfixierten Bundesdienst als Konkurrenz zu den bewährten Freiwilligendiensten FSJ, FÖJ etc., die von zivilgesellschaftlichen Trägern organisiert werden, auf. Diese Doppelstruktur ist einfach ineffizient, teuer und nichts anderes als eine Not- und Übergangslösung. Jedenfalls ist sie nicht der große Wurf, als den Sie sie heute verkaufen wollen. ({12}) Sie hätten sich schon vor Jahren mit den Ländern und mit den Trägern zusammensetzen und nach Lösungen suchen können. Jetzt ist nichts anderes als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für das Bundesamt für den Zivildienst herausgekommen. Die Aussetzung der Pflichtdienste hätte als Chance genutzt werden können, die Zivildienstbürokratie abzubauen und bei den 52 Kreiswehrersatzämtern, die ihre historischen Aufgaben erfüllt haben, erheblich einzusparen. Die Mittel, die an dieser Stelle hätten eingespart werden können, hätten in die Konversion und die Freiwilligendienste investiert werden können. Dass selbst die FDP diese Chance auf Bürokratieabbau nicht erkennt, wundert mich sehr. Sie müssen die Zivilgesellschaft fördern und nicht bürokratische Strukturen. ({13}) Frau Schröder, Sie haben sich heute selbst sehr dafür gelobt, dass Sie so viel investieren. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass im bisherigen Zivildiensthaushalt circa 600 Millionen Euro enthalten waren, in Ihren neuen Bundesfreiwilligendienst aber nur 350 Millionen Euro investiert werden. Mich würde interessieren, wo die anderen 250 Millionen Euro geblieben sind. ({14}) Dienen die jetzt der Haushaltskonsolidierung? Können die nicht genutzt werden für die Bekämpfung der Pflegemisere oder für Qualitätsverbesserungen? ({15}) Frau Schröder, Sie haben sich auch unheimlich dafür gelobt, dass Sie den Bundesfreiwilligendienst für neue Gruppen öffnen, ja sogar für Frauen. Was ist denn daran neu? Die bestehenden Freiwilligendienste sind natürlich für alle Geschlechter und für alle Generationen offen gewesen, ({16}) weil es auch den bewährten Freiwilligendienst aller Generationen gegeben hat. ({17}) Es wäre eine sinnvolle Perspektive gewesen, den bewährten Freiwilligendienst aller Generationen weiter auszubauen. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass Ihre Doppelstruktur nicht notwendig ist. Bei dem weiteren Gesetzgebungsverfahren und in der Praxis des neuen Bundesfreiwilligendienstes wird es sehr wichtig sein, dass die Arbeitsmarktneutralität gewährleistet wird. Das müsste auch in Ihrem Interesse sein; denn es darf nicht sein, dass Bundesfreiwilligendienstleistende reguläre Arbeitskräfte ersetzen, insbesondere dadurch, dass ein neues öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis geschaffen wird. ({18}) Der Freiwillige schließt künftig ja keinen Vertrag mit der Einrichtung vor Ort, sondern mit dem Bundesamt für den Zivildienst oder wie auch immer es künftig heißen wird. Dabei ist es ganz wichtig, dass reguläre Jobs nicht bedroht werden, damit das ohnehin sehr niedrige Lohnniveau bei sozialen Dienstleistungen nicht noch stärker unter Druck gerät. Das müssen wir uns in den nächsten Monaten und Jahren sehr genau anschauen, damit Arbeitsmarktneutralität gewährleistet wird und wir kein neues Niedriglohnverhältnis schaffen. Ganz wichtig ist es mir, die bestehende Ungleichbehandlung bei den Freiwilligendiensten zu beheben. Alle Freiwilligendienstleistenden brauchen gleiche Bedingungen und gleiche Qualitätsstandards. Deshalb hätten Sie den ersten Schritt zuerst machen müssen und nicht den zweiten oder dritten. Sie hätten jetzt den Entwurf eines Freiwilligendienststatusgesetzes vorlegen müssen, in dem Sie klar hätten definieren müssen, was der Freiwilligendienst ist, und zwar in Abgrenzung zu Ausbildung, Praktika und Arbeitsverhältnissen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gehring, achten Sie bitte auf die Zeit.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - In diesem Gesetz hätten auch Sozialversicherungsfragen gelöst werden müssen. Dieses Gesetz ist jetzt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden. Das wird sich sicherlich rächen. Finanzieren Sie nicht Bürokratie, sondern sorgen Sie dafür, dass die Zivilgesellschaft gestärkt wird und die bestehenden Freiwilligendienste deutlich ausgebaut werden. Das wäre das Gebot der Stunde, nicht dieser Gesetzentwurf. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Bär. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gehring, ich muss mit Ihrer falschen Rechnung anfangen. Sie haben davon gesprochen, dass wir jetzt 90 000 Zivildienstleistende haben und in Zukunft 35 000 Freiwilligendienstleistende haben wollen. Diese Rechnung könne nicht aufgehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Zivildienst gegenwärtig für ein halbes Jahr geleistet wird. Wir stellen uns vor, dass diese 35 000 ihren Dienst für ein Jahr bis hin zu zwei Jahren leisten. Deshalb kann man die Zahlen nicht miteinander vergleichen. ({0}) - Nein, zusätzlich. Jetzt haben wir sechs Monate. Wir wollen, dass die Dauer des Dienstes in Zukunft verlängert werden kann. ({1}) Deshalb werden wir in Zukunft mehr Dienstleistende haben. Der Kollege Gehring hat die Rechnung falsch aufgemacht. Ich bitte ihn, das noch einmal nachzurechnen. ({2}) Uns wurde die Aufgabe gestellt, den Zivildienst neu zu regeln. Wir haben es uns nicht ausgesucht, dass wir uns anderthalb Jahre lang nur mit dem Zivildienst beschäftigt haben. Natürlich wäre es auch uns recht gewesen, wenn wir den Zivildienst in seiner jetzigen Form hätten erhalten können. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht mussten wir aber auch den Zivildienst zum 1. Juli 2011 neu regeln. Wir wissen, dass die ersten anerkannten Kriegsdienstverweigerer ihren Dienst am 10. April 1961 angetreten haben. Insofern ist es in diesem Jahr genau 50 Jahre her, dass die ersten jungen Männer auf diese Weise unserem Land gedient haben. Am 10. April 2011 werden wir dieses Jubiläum also noch begehen, für die Zeit nach dem 1. Juli 2011 müssen wir uns aber ein neues Modell überlegen. Zwar war der Zivildienst in erster Linie als Wehrersatzdienst vorgesehen, aber er war natürlich wesentlich mehr. Dieser Dienst war nicht nur für die Gesellschaft eine ungeheure Bereicherung, sondern auch für die jungen Männer selbst; das stellt man fest, wenn man sich mit den Zivildienstleistenden unterhält. Dieser Dienst stellte aber auch eine Bereicherung für kranke Menschen, für Menschen mit Behinderungen und für alte Menschen dar. In dieser Zeit wurden Vertrauensverhältnisse aufgebaut, von denen viele auch in der Zeit nach dem aktiven Zivildienst fortgeführt wurden. Weil wir diesen - ich sage das in Anführungszeichen - positiven „Nebeneffekt“ hoch schätzen, weil diese Zivildienstleistenden die Welt menschlicher gemacht haben, wollen wir dafür Sorge tragen, dass es auch nach dem 1. Juli 2011 mit diesem Erfolgsmodell weitergeht. Wenn ich mit einem Zivildienstleistenden gesprochen habe, hatte ich noch nie das Gefühl, dass er nach seinem Zivildienst nicht glücklicher war als vorher. Schließlich sind Bindungen entstanden, und er hat fürs Leben gelernt. Dies ist natürlich ein Dienst für das Land - daran finde ich überhaupt nichts verwerflich, ganz im Gegenteil -, aber man leistet den Dienst auch für sich selbst. Man hat die Chance, in einem unbekannten Bereich Erfahrungen zu sammeln, sich weiterzuentwickeln und die eigene Persönlichkeit zu formen. Der Zivildienst war auch wichtig für die Stärkung des Ehrenamtes. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt. Aus dem Erleben im sozialen Bereich, zum Beispiel beim Roten Kreuz oder bei den Hilfsdiensten, entwickelte sich oft ein lebenslängliches Engagement. Diejenigen, die Zivildienst geleistet haben, haben sich in der Folge häufig viel stärker ehrenamtlich engagiert als Jugendliche, die diesen Dienst nicht geleistet haben. Mehrfach ist gesagt worden, ein einheitlicher Dienst sei besser. Wir haben lange überlegt, ob es möglich wäre, Dienste zusammenzulegen. Das gehört zur Wahrheitsfindung dazu. Aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen ist das aber nicht möglich, weil der Bund nur eine eingeschränkte Förderkompetenz für die von den Ländern verwalteten Jugendfreiwilligendienste hat. An dieser Stelle muss man auch sagen, dass die Länder nicht bereit waren - ich betone: leider -, die Verwaltung ihres Erfolgsmodells künftig einfach an den Bund abzutreten. Weil das nicht möglich war, haben wir jetzt diese Lösung gefunden und entwickeln dieses Erfolgsmodell. Es ist kein Konkurrenzmodell; das behaupten Sie. Vielmehr haben wir ein gutes Nebeneinander entwickelt. ({3}) Sehr positiv ist - das muss man in den Mittelpunkt stellen -, dass dieser Dienst nicht nur jungen Männern zur Verfügung steht, sondern Männern und Frauen gleichermaßen. Ich sehe da überhaupt keine Benachteiligung für Frauen, ganz im Gegenteil. ({4}) - Natürlich ist das neu. - Er ist auch nicht nur für junge Menschen, sondern für junge und für ältere Menschen, für Männer und für Frauen. Er ist für alle Altersbereiche offen. Wir haben in Gesprächen mit der Bundesregierung erreicht, dass der neue Bundesfreiwilligendienst keine Konkurrenz ist; denn die Förderpauschalen werden angehoben. Sie werden von monatlich knapp 73 Euro auf 200 Euro bzw. bei Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf auf 250 Euro erhöht. Die Förderung wird auf alle besetzten Plätze sämtlicher - auch der regionalen - Träger ausgeweitet. Auch das ist ein Verdienst. An dieser Stelle bin ich unseren Haushältern dankbar. ({5}) Wir werden diese Dienste nebeneinanderstellen. Wir müssen jetzt natürlich - da sind wir alle gefordert - mit den Ländern darüber sprechen, was die Länder zum Beispiel hinsichtlich der Anrechnung von Wartesemestern, der Anerkennung des Dienstes als Praktikum und der finanziellen Ermäßigung für kulturelle Veranstaltungen, in kommunalen Einrichtungen und im öffentlichen Nahverkehr leisten können. Vieles davon liegt nicht in der Kompetenz des Bundes; das ist für uns als Bundespolitiker natürlich bedauerlich. Aber ich bin sicher: Wenn wir uns alle gemeinsam hinter diesen Dienst stellen, wenn wir dies jetzt alle gemeinsam anpacken und versuchen, 35 000 junge und auch ältere Menschen zu erreichen, wenn wir mit Begeisterung für diesen Dienst werben und die Kommunen und die Länder mit ins Boot holen, dann wird dies tatsächlich ein Erfolgsmodell. Deswegen lade ich alle ein, hier mitzumachen. Sie sollten nicht stolz darauf sein, dass Sie es ablehnen; das ist peinlich. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Rix hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Es ist gut, dass es hier im Haus mittlerweile einen breiten Konsens gibt, dass wir mehr auf Freiwilligkeit setzen sollten und die Pflicht zum Wehrdienst und auch zum Zivildienst abschaffen sollten. Das ist zu loben. Da darf man ohne Umschweife sagen: Nach 50 Jahren Zivildienst und Wehrpflicht ist es eine historische Leistung, dass wir nun hier in diesem Hohen Hause einen breiten Konsens darüber haben, die Wehrpflicht abzuschaffen bzw. auszusetzen und bei der Bundeswehr, aber auch bei anderen Diensten auf Freiwilligkeit zu setzen. Das ist in Ordnung. ({0}) Wir dürfen dies aber nicht aus dem Grund tun, dass die Wehrgerechtigkeit nicht mehr gegeben war. Das ist ja einer der Gründe, der immer genannt wird. Wir dürfen es erst recht nicht aus finanziellen Gründen tun und sagen: Wir haben haushaltspolitische Herausforderungen und wollen an einigen Stellen sparen. Der Wegfall des Zivildienstes und die Wehrdienstreform hängen natürlich eng mit der Abschaffung der Wehrpflicht zusammen, und die Ankündigung, die Wehrpflicht abzuschaffen, erfolgte gleich nach der Haushaltsklausur der Bundesregierung. Das sind falsche Gründe für die Abschaffung der Wehrpflicht. Vielmehr gibt es grundsätzliche Erwägungen, die dagegen sprechen, Menschen für ein Jahr oder mehrere Monate zu verpflichten, einen Dienst zu tun. Das ist der eigentliche Grund, warum wir die Wehrpflicht ablehnen. So ein historischer Schnitt stellt natürlich eine große Herausforderung an die Gesellschaft und an den Staat an sich dar. Was machen wir danach? Eben wurde von Ihnen, Herr Bernschneider, gesagt, dass wir eine historische Engagementreform auf den Weg bringen, indem wir den Bundesfreiwilligendienst einführen. Ich glaube, eine historische Engagementreform sieht ganz anders aus und besteht nicht einfach nur aus der Einführung eines zusätzlichen Freiwilligendienstes. Eine historische Engagementreform bedarf auch einer Verbesserung der Rahmenbedingungen des bürgerschaftlichen Engagements insgesamt. ({1}) Ihre einzige Antwort auf den Wegfall des Zivildienstes ist der Bundesfreiwilligendienst. ({2}) In dem Gesetzesvorhaben, über das wir heute diskutieren, und auch in anderen Gesetzesvorhaben findet sich keine weitere Maßnahme zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Sie verweisen natürlich auf die Engagementstrategie. Aber auch hier muss ich darauf hinweisen: Das ist eine Auflistung mehrerer Projekte, die schon seit Jahren laufen; etwas Neues ist aber nicht dabei. Als Zweites wird immer erwähnt: Wir stärken auch FSJ und FÖJ. - Ja, aber am Jugendfreiwilligendienstegesetz ändern Sie gar nichts. Das Einzige, was Sie getan haben, ist, dass Sie angekündigt haben, die Pauschalen zu erhöhen. Mehr wird in diesem Bereich nicht getan. ({3}) Gesetzlich tun Sie an dieser Stelle nichts. Es wird nach wie vor jedes Jahr vom Haushalt abhängig sein, wie FSJ und FÖJ finanziell ausgestattet sind. Das ist wirklich keine historische Leistung. ({4}) Zu einem Gesamtkonzept, das, wie gesagt, nicht vorliegt, würde auch gehören, dass neben der Stärkung der Freiwilligendienste - unser Vorschlag ist, lieber FSJ und FÖJ weiter zu stärken - auch darauf zu achten ist, welche Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Zivildienst vielleicht auch im Rahmen sozialversicherungspflichtiger Jobs verrichtet werden können. Das versäumen Sie. ({5}) Sie wollen in Ihrem Gesetz festschreiben, dass sämtliche Zivildienstplätze einfach anerkannt werden; das soll auch für Bundesfreiwilligendienstplätze gelten. Sie haben aber kein Programm, wie an dieser Stelle - das müssten Sie eigentlich gemeinsam mit Herrn Rösler tun - mehr sozialversicherungspflichtige Jobs entstehen können. Keine Antwort, kein Gesamtkonzept! Natürlich müssen wir uns auch mit dem Freiwilligendienstestatusgesetz beschäftigen; es ist schon angesprochen worden. Es gibt die Ankündigung, dass wir darüber reden werden. Aber dazu liegt nichts vor. Auch das wäre Bestandteil einer sogenannten historischen engagementpolitischen Leistung gewesen. Man muss sich das sportliche Tempo vor Augen halten. Es ist natürlich so, dass die meisten großen Verbände sagen: Okay, wenn der Bundesfreiwilligendienst kommt, dann beteiligen wir uns aktiv daran. - Das ist auch in Ordnung. Aber waren Sie einmal vor Ort und haben mit Verantwortlichen in den Einrichtungen gesprochen? Die Einrichtungen sind total ins Schwimmen gekommen. Je kleiner eine Einrichtung ist, desto mehr kam sie ins Schwimmen. Sie wissen nicht, woran sie sind: erst die Verkürzung des Zivildienstes, dann die Ankündigung, dass der Zivildienst wegfällt, dann ein Bundesfreiwilligendienst, dann eine angebliche Stärkung des Freiwilligen Sozialen Jahres - aber nichts Konkretes, nichts Festes. Die Einrichtungen geraten immer mehr ins Schwimmen. Bis zum 1. Juli dieses Jahres soll das Ganze umgesetzt sein. Ich frage Sie, ob Sie sich das wirklich gut überlegt haben. ({6}) Meine Damen und Herren, wenn man von einer historischen engagementpolitischen Leistung spricht, dann hätte man auch eine breite Debatte führen müssen, nicht nur hier im Haus, sondern vor allen Dingen mit der Zivilgesellschaft. Auch das haben Sie versäumt. Sie haben keine breite Debatte mit der Zivilgesellschaft geführt: Wie gehen wir damit um, dass der Zivildienst wegfällt? Welche Chancen ergeben sich daraus? Der Bundesfreiwilligendienst soll nicht nur ein Lückenbüßer für den Zivildienst sein. Wir wollen eine Gesamtlösung. Sie haben es versäumt, darüber einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu führen. Das kreiden wir Ihnen natürlich an. Über Ihre angeblich großen Taten beim FSJ habe ich schon gesprochen. Es gab nur eine Pauschalerhöhung, aber keine weiteren Veränderungen im Jugendfreiwilligendienstegesetz. ({7}) Wo bleiben denn die weiteren Anerkennungsmöglichkeiten? Wo bleibt die wirkliche Stärkung der jungen Menschen, die diesen Dienst machen? ({8}) Dazu haben Sie nichts vorgelegt. Sie sagen immer, unsere Kritik an den Doppelstrukturen sei Detailkritik. Gut, vielleicht ist das ein Detail; das mag sein. Aber ich glaube, ich habe gerade deutlich gemacht, dass es noch viel gravierendere Probleme gibt, zum Beispiel das Fehlen eines Gesamtkonzeptes. Natürlich sind aber auch die Doppelstrukturen ein Problem. ({9}) Sie kündigen immer wieder an: Jemand, der den Bundesfreiwilligendienst macht, soll genauso behandelt werden wie jemand, der ein FSJ oder ein FÖJ macht. Das ist aber nicht der Fall. Sie glauben das vielleicht manchmal. Aber ich sage Ihnen: Das ist schon bei der Kindergeldzahlung nicht der Fall. Das zeigt sich auch bei der Auszahlung des Taschengeldes an die Leistenden: Die einen bekommen es vom Bund, die anderen von den Trägern, die Höhe ist variabel. ({10}) Hier gibt es keine Gleichbehandlung. Die Betroffenen wundern sich, warum jemand, der in der gleichen Einrichtung einen Dienst macht, ein anderes Taschengeld bekommt. Diese Doppelstruktur bleibt vorhanden. Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Das ist unser Hauptkritikpunkt, den wir nach wie vor vortragen. Hinzu kommen finanzielle Probleme. Es wird immer noch argumentiert: Das ist finanzverfassungsrechtlich problematisch. Deshalb können wir nicht ausschließlich auf FSJ und FÖJ setzen. - Gleichzeitig kündigen Sie an, die Mittel zu erhöhen. Gleichzeitig kündigen Sie auch an, für mehr Anerkennung der Freiwilligendienstleistenden und der Jugendfreiwilligendienste sorgen zu wollen. Aber wenn das verfassungsrechtlich bedenklich ist, warum tun Sie es dann trotzdem? Wenn man Ihrer Logik folgen würde, dann müsste man sagen: FSJ und FÖJ können wir gar nicht mehr durchführen, weil wir das eigentlich gar nicht dürfen. - Das passt einfach nicht zusammen. Kurz und bündig zusammengefasst: Legen Sie ein Gesamtkonzept vor! Der Zivildienst kann nicht einfach nur durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden, vielmehr brauchen wir ein gesamtgesellschaftliches Konzept. Nutzen Sie die Chancen beim Wegfall des Zivildienstes und lösen Sie diese Doppelstrukturen auf! Schönen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Grübel für die Unionsfraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen haben wir über die Aussetzung der Wehrpflicht beraten. Infolge der Aussetzung der Wehrpflicht kommt es auch zur Aussetzung des Zivildienstes. Wir antworten darauf mit dem Bundesfreiwilligendienst und mit einer Stärkung der anderen Jugendfreiwilligendienste. Darin steckt eine Chance, darin steckt aber auch eine große Herausforderung. Sie von der Opposition haben viel kritisiert, aber keine gangbare Alternative aufgezeigt. ({0}) Wir können positiv anmerken: Es gab noch nie so viele Möglichkeiten für Freiwillige in Deutschland, wie es künftig geben wird, und es gab noch nie so viel Geld für Freiwillige im Bundeshaushalt, wie es künftig geben wird. Die Frau Ministerin hat vorhin darauf hingewiesen. Es gibt neue Einsatzbereiche: Soziales, Kultur, Sport, Ökologie, Integration, Zivil- und Katastrophenschutz. ({1}) - Soziales und Ökologie ja, aber gab es zum Beispiel ein FSJ im Bereich Integration? ({2}) - Nein, das ist neu, Sönke Rix. Das Nebeneinander wurde angesprochen: Der Bund nimmt künftig 350 Millionen Euro und die Länder nehmen 12 Millionen Euro in die Hand. Über den Europäischen Sozialfonds fließen 8 Millionen Euro. Vor diesem Hintergrund ist es doch klar, dass der Bund die Verantwortung behalten will. Hätten wir die Mittel an die Länder übertragen, dann würde ich auch für die CDU-geführten Länder nicht meine Hand ins Feuer legen, dass sie diese 350 Millionen Euro nicht nehmen und andere wichtige Aufgaben - Polizei, Schule, Kinderbetreuung, innere Sicherheit, Hochschulen - daraus finanzieren würden. Ich bin mir sicher, dass nur ein Bruchteil tatsächlich bei den Einrichtungen, Trägern und Freiwilligen, bei den Freiwilligendiensten ankommen würde. Deshalb war dieser Weg richtig. Wir stärken die klassischen Jugendfreiwilligendienste: das FSJ, das FÖJ. Wir hatten die Anzahl der Plätze auf 25 000 gedeckelt, jetzt wollen wir 35 000, möglicherweise sogar noch mehr Plätze fördern. Früher wurden die Plätze mit 72 Euro im Monat gefördert, künftig sind es 200 Euro im Monat. 50 Euro kommen noch hinzu, wenn ein besonderer pädagogischer Betreuungsbedarf besteht. Es gibt das Kopplungsmodell. Zugegeben, es gibt Unterschiede beim Kindergeld, die sich aber begründen lassen. Beim Jugendfreiwilligendienst bleibt der Unterhaltsbedarf bei den Eltern bestehen, deshalb wird in dieser Zeit auch Kindergeld gezahlt. Beim Bundesfreiwilligendienst werden Taschengeld, Unterkunft, Verpflegung, Dienstbekleidung und Sozialversicherung bezahlt. Daher entfällt der Unterhaltsbedarf bei den Eltern, sodass kein Kindergeld ausgezahlt wird. Es gibt keine Ost-West-Unterschiede bei der Taschengeldobergrenze - darauf hat die Opposition früher hingewiesen. Der Bundesfreiwilligendienst ist arbeitsmarktneutral. Er darf nicht zu einem Wegfall oder einer Verdrängung von regulärer Arbeit führen. Aber in einem positiven Sinne ist er gleichzeitig auch nicht arbeitsmarktneutral: Junge Menschen erwerben soziale Kompetenz, die sie in vielfältigen Berufsfeldern einsetzen. Das ist zwar nicht arbeitsmarktneutral, aber gut. Auch die Berufswahl wird beeinflusst. Menschen kommen in Berufsfelder, die sie sich vorher kaum vorstellen konnten. Durch den Freiwilligendienst sind sie plötzlich an Pflegeberufen und vielen anderen sozialen Berufen interessiert. Mehr Männer kommen in klassische Frauenberufe. Zum Beispiel kommen auch mehr junge Menschen in die Pflege, was dort gut tut. So betrachtet ist der Bundesfreiwilligendienst in der Tat nicht arbeitsmarktneutral, aber diese Auswirkungen sind trotzdem sehr positiv. Es gibt keine Umsatzsteuerpflicht beim Leistungsaustausch zwischen Bund und Einsatzstellen. Auch das ist immer wieder angesprochen worden. Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Lerndienst; ich verweise auf die Seminarangebote und die pädagogische Begleitung. Wir wollen einen „Bundesfreiwilligendienst plus“ ermöglichen, der zwei Jahre dauert: Wir wollen eine Verknüpfung des Bundesfreiwilligendienstes mit einem Schulabschluss, einen Bundesfreiwilligendienst, ein Freiwilliges Soziales Jahr plus Realschulabschluss für diejenigen, die ihn nicht auf dem ersten Bildungsweg gemacht haben. Wir arbeiten an einem Freiwilligendienstestatusgesetz, das wir noch in dieser Wahlperiode verabschieden wollen. Diese Arbeit machen wir gründlich. Sie sagen beim Freiwilligendienstestatusgesetz, es sollte schneller gehen; husch, husch! Andererseits beklagen Sie, das es zu schnell geht. So richtig recht kann man es euch auch nicht machen. ({3}) Gute Informationen und Werbung für diesen Freiwilligendienst sind jetzt in der Tat wichtig. Es ist eine große Herausforderung, 35 000 überwiegend junge Menschen für ein Jahr Freiwilligenarbeit zu begeistern. Ab Mai wird es Informations- und Werbekampagnen dazu geben. Die Information der Einsatzstellen findet ja schon jetzt statt. Neu ist: Auch die über 27-Jährigen sind angesprochen. Der Bundesfreiwilligendienst soll auch für erwachsene und ältere Menschen gelten - 20 Stunden die Woche. Künftig sparen wir auch Ressourcen. Wir sparen zum Beispiel beim Bundesamt für den Zivildienst. Von früher 1 000 Stellen wird nur ein Teil für den Bundesfreiwilligendienst gebraucht. Auch im Bereich der Kreiswehrersatzämter können wir sparen. Deren Anzahl wird von 52 auf 20 reduziert. Insgesamt heißt das, dass 6 000 Mitarbeiter der Bundesverwaltung umgesetzt werden müssen. Auch hier tut sich also etwas. Ich fasse zusammen. Wir schaffen einen deutlich besseren Rahmen für die Freiwilligenarbeit in Deutschland, und ich fordere alle auf, auch die Opposition, sich hier nicht zu verweigern. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über den neuen Bundesfreiwilligendienst, aber auch über einen deutlichen Ausbau der Jugendfreiwilligendienste. Herr Kollege Rix, das hätten Sie gemerkt, wenn Sie unseren Antrag ein bisschen ausführlicher studiert hätten. ({0}) Ich glaube, das muss man an dieser Stelle sagen; ({1}) denn das, was wir hier machen - vielleicht ist Ihnen auch das noch nicht bewusst -, geht nicht nur weit über das hinaus, was wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, ({2}) sondern auch weit über das hinaus, was Sie in den letzten Jahren zu diesem Thema formuliert haben. ({3}) Wir machen hier etwas, was Sie sich in der Vergangenheit in Ihren kühnsten Träumen nicht haben vorstellen können; das muss man deutlich sagen. ({4}) An dieser Stelle beziehen wir uns natürlich auf die Aussetzung der Wehrpflicht. Deswegen darf ich hier einige Sätze dazu sagen: Wir setzen die Wehrpflicht aus sicherheitspolitischen Gründen aus. Für uns als Union waren die Wehrpflicht und der Zivildienst immer auch Ausdruck unserer Überzeugung als Bürgerinnen und Bürger, dass unser Gemeinwesen nur funktioniert, wenn alle bereit sind, mehr zu tun, als nur Steuern zu zahlen und wählen zu gehen. Dieses Symbol, das die Wehrpflicht und der Zivildienst darstellten, entfällt nun. Ich glaube, es ist gut, dass wir etwas Neues schaffen, um jungen Menschen die Gelegenheit zu geben, in unserem Land Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen. Genau das machen wir durch den Bundesfreiwilligendienst. Die Länder alleine - das ist deutlich geworden - können das gar nicht leisten. Deswegen ist es gut, dass wir einen Großteil der Mittel, die wir bisher für den Zivildienst aufgewendet haben, künftig für den Bundesfreiwilligendienst zur Verfügung stellen. ({5}) Ich glaube, dass das auch deswegen richtig ist, weil - das wird durch die Zahlen deutlich - 90 Prozent derjenigen, die derzeit freiwillig dienen - in welcher Form auch immer, ob im FSJ oder im FÖJ -, danach zu der Überzeugung kommen, dass es sich lohnt, sich in dieser Gesellschaft ehrenamtlich zu engagieren. Ein übergroßer Teil sagt, sie wollen dieses Engagement, in welcher Form auch immer, fortsetzen. Deswegen wollen wir an sehr vielen Stellen neue Möglichkeiten dafür schaffen, dass junge Menschen sich ausprobieren und mit ihren Fähigkeiten, Neigungen und Interessen im Bereich der Integration, des Sports oder auch der Kultur und eben nicht nur im sozialen Bereich, auf den wir die Debatte in den letzten Minuten aus meiner Sicht zu sehr verengt haben, einbringen. Wir schaffen dafür die Rahmenbedingungen. Wir geben so viel Geld für die Freiwilligendienste wie noch nie aus: für den neuen Bundesfreiwilligendienst, aber auch für die bestehenden Strukturen. Wir schaffen in diesem Modell zwei stabile Säulen. Wir lösen die Konkurrenz, von der Sie dauernd reden, auf. Wenn Sie die Diskussion wirklich verfolgt haben, dann wissen Sie, dass es am Anfang eine unheimlich große Skepsis bei Trägern und Einrichtungen darüber gab, wie das funktionieren wird. Wenn Sie die letzten Stellungnahmen gelesen haben, dann wissen Sie auch, dass die Vorbehalte zum Teil gänzlich verschwunden, zum Teil deutlich leiser geworden sind. ({6}) Über die Stellen, wo es noch hakt, werden wir in den nächsten Jahren weiter reden müssen. Denn wir schaffen hier ja etwas fundamental Neues. Es hätte Ihnen gut angestanden, mitzumachen, statt danebenzustehen und nur zu meckern. Diese Chance haben Sie eben gerade verpasst. ({7}) Ich persönlich finde es schade, weil wir auch in den Berichterstattergesprächen gemerkt haben, dass wir in sehr vielen Punkten eigentlich in dieselbe Richtung gehen wollen. Dort haben Sie Ihre Bedenken auch nicht so laut vorgetragen wie eben. Vielleicht liegt es an der Öffentlichkeit und an der Kulisse hier; das weiß ich nicht genau. ({8}) Es bleibt dabei: Wir haben noch nie so viel Geld für Freiwilligendienste zur Verfügung gestellt. Wir haben die Begrenzung bei der Förderung der Plätze aufgehoben. Länder und Kommunen sind aufgefordert, ihr Engagement ebenfalls fortzusetzen und weiter zu steigern, statt sich zurückzuziehen. Wir erweitern die Einsatzbereiche und kommen damit den Interessen und Fähigkeiten der jungen Menschen viel weiter entgegen. Wir wollen eine attraktive Werbekampagne machen, um aufzuzeigen, welche Möglichkeiten junge Menschen künftig haben. Wir wollen auch eine andere Anerkennungskultur, die deutlich über das hinausgeht, was es bisher gibt. Sie wissen, dass wir das nicht alleine in diesem Hohen Hause entscheiden können, sondern dass wir mit vielen reden müssen. Ich bin der Ministerin dankbar, dass sie schon entsprechende Gespräche geführt hat. ({9}) Das wird eine Daueraufgabe bleiben, weil wir ständig fragen müssen, welche Zertifizierung, Anerkennung und Qualifizierung jemand aus seinem Einsatzbereich mitnehmen kann. Das muss ihm für seinen weiteren Lebensweg bescheinigt werden. Das ist nicht allein in unseren Gremien und in der Diskussion zu erreichen. Wir müssen mit Einsatzstellen, Trägern, Ländern und Kommunen reden. ({10}) Dazu haben Sie nach wie vor die Möglichkeit. Ich würde mich freuen, wenn Sie mitmachen. Frau Kollegin Dittrich, ich habe mir lange überlegt, ob ich auf Ihre Rede eingehen soll, ({11}) auch weil Sie wieder dieselbe Platte aufgelegt haben wie immer. Ich habe daran gedacht, das vorzulesen, was die junge Frau aus den neuen Bundesländern, über die Sie ausführlich gesprochen haben, nach Ihrer Rede auf meinem Facebook-Profil gepostet hat. Ich lese es aber nicht vor, weil ich dann für die Formulierung der jungen Frau zu Recht einen Ordnungsruf der Präsidentin bekommen würde. Sie können es aber nachlesen. Ich glaube, das hilft Ihnen ein bisschen. Ansonsten bleibt es dabei: Es ist richtig, junge Menschen für ein Engagement für unser Land zu begeistern. „Tu was für dein Land! Tu was für dich!“ ist die richtige Botschaft. Vielleicht bekommen Sie noch die Kurve und machen mit. Sonst machen wir das in der christlich-liberalen Koalition, und es wird gut. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4803, 17/4692 und 17/4845 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a bis c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD Missbrauch der Leiharbeit verhindern - Drucksachen 17/4189, 17/4756 - Berichterstattung: Abgeordnete Beate Müller-Gemmeke b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung - Drucksache 17/4804 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strikten Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung - Drucksache 17/3752 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Verabredet wurde, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vor. Ich möchte einige Bemerkungen zu den wesentlichen Inhalten machen. Der Gesetzentwurf enthält Regelungen, in denen die Vorgaben der sogenannten europäischen Leiharbeitsrichtlinie umgesetzt werden. Es war das erklärte Ziel der Minister Müntefering und Scholz bei den Beratungen über diese Richtlinie, den Kernbestand der deutschen Regelungen zur Zeitarbeit bzw. zur Arbeitnehmerüberlassung auch durch die Richtlinie unangetastet zu lassen. Dieses von der Großen Koalition insgesamt getragene Vorhaben ist erfolgreich abgeschlossen worden. Das, was an Umsetzungsbedarf in nationales Recht gleichwohl besteht, wird mit diesem Gesetzentwurf geregelt. Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf eine Regelung vor, die vermeidet, dass die Zeitarbeit als Drehtür zur Absenkung von Arbeitsbedingungen missbraucht wird. Nachdem ein eklatanter Fall von Missbrauch im letzten Jahr öffentlich geworden ist, ({0}) hat die Bundesregierung sehr sorgfältig geprüft, welcher gesetzliche Änderungsbedarf besteht angesichts des Umstandes, dass dankenswerterweise die Tarifvertragsparteien auf die Situation reagiert und in den Tarifverträgen entsprechende Änderungen vorgesehen haben. Die Bundesregierung ist nach sorgfältiger Überprüfung zu dem Ergebnis gekommen, dass gleichwohl ergänzender gesetzlicher Handlungsbedarf besteht; denn es geht hier um Fälle, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gekündigt wurde, um sie dann als Zeitarbeitnehmer in ihrem ehemaligen Unternehmen zu schlechteren Bedingungen wieder zu beschäftigen. Ich sage für die Bundesregierung ganz klar: Wer Zeitarbeit in dieser Form zur Lohndrückerei missbraucht, der diskreditiert und missbraucht ein gutes Instrument der Arbeitsmarktpolitik. ({1}) Das ist mit der Bundesregierung nicht zu machen. ({2}) Die Zeitarbeit hat in den letzten Jahren einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, den Arbeitskräftebedarf von Unternehmen flexibel zu decken, ({3}) Beschäftigungspotenziale in den Unternehmen zu erschließen und Wirtschaftswachstum schneller in mehr Beschäftigung umzusetzen. Man darf nie vergessen, dass Zeitarbeit gerade Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen eine Chance auf Beschäftigung bietet. Etwa zwei Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren unmittelbar vor ihrer Beschäftigung in der ZeitarParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe beit nicht beschäftigt. Ein Drittel der Zeitarbeitskräfte hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das heißt, das Instrument bietet Chancen; die wollen wir nutzen. Missbrauch gilt es mit aller Schärfe zu verhindern. ({4}) Die positiven Beschäftigungseffekte werden auch durch den aktuellen Boom in der Zeitarbeitsbranche belegt. Der bereits seit April 2009 zu verzeichnende Anstieg der Zahl der Zeitarbeitnehmer hat sich auch im Jahr 2010 fortgesetzt. Gleichwohl dürfen wir nicht vergessen, über welche Dimensionen wir reden. Ende Juni 2010 lag der Anteil der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bei 2,6 Prozent. Unter den offenen Stellen ist der Anteil der Zeitarbeit deutlich größer; da liegt er bei knapp einem Drittel. Das heißt zweierlei: Die Zeitarbeit spielt nicht die überragende Rolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Arbeitsplätze werden nicht überwiegend in der Zeitarbeit geschaffen. Aber gleichzeitig reden wir über ein Segment, das so groß ist, dass man sehr behutsam über Änderungen reden und sie so justieren sollte, dass die Menschen faire Arbeitsbedingungen haben, dass aber die Zeitarbeit als Jobmotor nicht abgewürgt wird. Genau das ist es, worum es uns mit diesem Gesetz geht. ({5}) Ich bin froh, dass es gelungen ist, auch im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zum Sozialgesetzbuch II gemeinsam mit der sozialdemokratischen Opposition zu Vereinbarungen zu kommen, genauso wie beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dessen Regelungen betreffend die Löhne geändert werden sollen. In diesem Fall hilft sozusagen das Hartz-IV-Vermittlungsverfahren, um Fehler zu korrigieren, die damals die Regierung Schröder bei Hartz I gegen die Stimmen der Opposition ({6}) gemacht hat. ({7}) Ich stelle fest, dass diese Regelungen seinerzeit gegen die Stimmen der damaligen Opposition beschlossen worden sind. ({8}) Es bedurfte bei diesem nicht zustimmungspflichtigen Gesetz nicht der Zustimmung der Opposition. - Ich stelle fest: Der Kollege Heil bezeichnet das als Lüge. Es ist nicht meine Aufgabe, das zu bewerten. Ich rede hier über Tatsachen. ({9}) Wenn wir über Hartz IV reden, Herr Kollege: ({10}) Das war ein zustimmungspflichtiges Gesetz. ({11}) Es hat auch die Zustimmung des Bundesrates gefunden, die Regelung zur Arbeitnehmerüberlassung nicht; das war ein anderes Gesetz. ({12}) Ich bitte Sie, das noch einmal zu prüfen, damit wir bei der Wahrheit bleiben. ({13}) Ich finde es gleichwohl wichtig, dass wir uns gerade im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit den Herausforderungen stellen, die dort bestehen. Arbeitnehmerfreizügigkeit ist richtig. Es ist ein selbstverständlicher Bestandteil eines freien Europas, dass Menschen in einem anderen Land nicht nur Urlaub machen können, sondern auch arbeiten dürfen. Arbeitnehmerfreizügigkeit darf aber nicht für Lohndrückerei missbraucht werden. Darum geht es uns. ({14}) Deswegen ist es wichtig, dass wir auch im Hinblick auf die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union für die sensible Branche der Zeitarbeit zu Regelungen kommen, durch die eine Lohnuntergrenze festgelegt ist. Diese Lohnuntergrenze gilt dann auch für all diejenigen, die zu uns kommen und in der Zeitarbeitsbranche tätig sein wollen. Es ist gut, dass im Rahmen des angesprochenen Vermittlungsverfahrens hierüber ein Konsens erzielt worden ist. Wir wollen eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit, die tariflich vereinbart ist und die für alle in der Zeitarbeit Beschäftigten im Inland und im Ausland gilt. Ich bin dankbar, dass die Koalitionsfraktionen Entsprechendes im Zuge des weiteren Gesetzgebungsverfahrens einbringen wollen. Ich habe die SPD bisher so verstanden, dass sie dabei mitmachen will. Ich hoffe, dass das keine unzutreffende Einschätzung ist. Ich finde nämlich, es ist wichtig, dass wir gemeinsam dafür sorgen, ({15}) dass die Zeitarbeit denjenigen Menschen Chancen gibt, die sie brauchen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen, die in der Zeitarbeitsbranche tätig sind, fair bezahlt werden, dass es dort faire Löhne und faire Arbeitsbedingungen gibt. ({16}) Es muss dort gute Aufstiegschancen geben. Dazu leisten wir auch mit diesem Gesetzentwurf einen Beitrag. Herzlichen Dank. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hubertus Heil hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brauksiepe, wissen Sie, warum Olaf Scholz am Sonntag in Hamburg gewonnen hat? ({0}) Dafür, dass er die absolute Mehrheit geholt hat, gibt es viele gute Gründe. Der Hauptgrund ist, dass er glaubwürdig - das ist der Unterschied zu Ihnen - dafür eingestanden ist, dass man wirtschaftlichen Erfolg nicht gegen soziale Gerechtigkeit ausspielen darf. ({1}) Gleiches muss für die Zeit- und Leiharbeitsbranche gelten. Zeit- und Leiharbeit können - so war es gemeint, als das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz novelliert wurde ein wirtschaftlich vernünftiges Instrument zur Abdeckung von Auftragsspitzen in Unternehmen sein. Herr Staatssekretär, trotz vieler warmer Worte sage ich Ihnen: Wir dürfen nicht zulassen, dass Zeit- und Leiharbeit weiterhin das größte Scheunentor für Lohndumping in Deutschland sind. Sie tun bisher nichts dagegen. ({2}) Zur Wahrheit gehört, dass wir Ihnen in den Verhandlungen einen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeitsbranche abringen mussten. Da verbiegen Sie hier die Wahrheit. Das, was Sie in den Verhandlungen angeboten haben, haben wir nicht zugelassen; wir haben vielmehr etwas anderes durchgesetzt. Sie wollten nicht einmal einen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeitsbranche. Sie wollten, dass es einen Mindestlohn in dieser Branche nur in der verleihfreien Zeit gibt. Sie haben uns dann angeboten, dass man einen sogenannten Referenzlohn für die Einsatzzeit bildet, von dem nach unten abgewichen werden könnte. Zu Deutsch: Diese Koalition, bestehend unter anderem aus Herrn Kolb, der Frau von der Leyen in Geiselhaft genommen hat, wollte, dass Leiharbeitnehmer, wenn sie nicht arbeiten, möglicherweise mehr Geld bekommen, als wenn sie arbeiten. Das ist leistungsfeindlich; das ist schwachsinnig. Deshalb haben wir gegen Ihren Widerstand im Vorfeld des 1. Mai einen gesetzlichen Mindestlohn im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz für die Zeit- und Leiharbeitsbranche durchgesetzt, der nicht abgesenkt werden kann. Wir haben den Mindestlohn durchgesetzt, nicht Sie! ({3}) Jetzt haben Sie eine „Lex Schlecker“ vorgelegt. Wir werden sie benutzen, um den Mindestlohn vor dem 1. Mai durchzusetzen; so viel Zustimmung ist da. Aber am wesentlichen Punkt, nämlich an dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Stamm- und Leihbelegschaften“, geht diese Koalition kalt vorbei. Ich habe am späten gestrigen Abend ferngesehen: das Nachtmagazin in der ARD. ({4}) - Nein, bei denen darf man nicht schlafen. Da muss man aufpassen, Fritz Kuhn. Das weißt du auch. Wir haben wenig Zeit gehabt zum Schlafen. Wir haben gearbeitet und gemeinsam in diesem Bereich viel erreicht. - In dieser Sendung wurde ein Bericht über eine Stamm- und eine Leihbelegschaft gezeigt. Es wurde sehr eindrucksvoll beschrieben, wie sich zwei Kollegen, die dieselbe Qualifikation haben und dieselbe Tätigkeit ausüben - der eine gehört zur Stammbelegschaft, der andere zur Leihbelegschaft -, fühlen. Der Verdienstunterschied liegt bei 900 Euro. Mit anderen Worten: Der Arbeitnehmer der Stammbelegschaft bekommt 900 Euro mehr als der Leiharbeitnehmer, obwohl sie dieselbe Tätigkeit ausüben und dieselbe Qualifikation haben. Der Zeitarbeitnehmer hat im Übrigen auch weniger Urlaub. Der eine fühlt sich entwürdigt, weil er für die gleiche Leistung nicht den gleichen Lohn bekommt. Der andere, der Kollege aus der Stammbelegschaft, sagt: Ich habe Angst, dass ich demnächst durch Zeit- und Leiharbeiter ersetzt werde. Das ist die Realität in Deutschland. ({5}) Wir haben in diesen Verhandlungen gesagt: Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dann hat die FDP gesagt: nach neun Monaten. - Dazu muss man wissen, dass 30 Prozent der Leih- und Zeitarbeitnehmer weniger als drei Monate arbeiten. Die FDP, die CDU und die Bundesministerin wollten dann, dass nach neun Monaten gar nicht Equal Pay - gleicher Lohn für gleiche Arbeit - gilt, sondern sie wollten das umdefinieren und die Zuschläge, die vor allen Dingen in der Industrie 30 Prozent der Lohnbestandteile ausmachen, herunterdrücken. Herr Brauksiepe, ich weiß nicht, welchen Einfluss Sie als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales tatsächlich haben, Hubertus Heil ({6}) ({7}) aber Sachkenntnis gibt es in Ihrem Ministerium. Die Wahrheit ist: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses kennen die Situation offensichtlich besser als Frau von der Leyen und Sie. Das ist der Skandal: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist im Bereich des Missbrauchs der Zeit- und Leiharbeit im wahrsten Sinne des Wortes kopflos. Das ist eine Schande! ({8}) Die gute Nachricht ist, dass wir in den Verhandlungen mit Ihnen für 1,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, darunter 900 000 Beschäftigte in der Zeitund Leiharbeit, einen Mindestlohn durchgesetzt haben. Das ist gut, das ist wichtig, und das ist richtig. Genauso richtig und gut ist, dass wir uns beim Thema Equal Pay nicht auf einen faulen Kompromiss einlassen. Die deutsche Sozialdemokratie wird nicht eher ruhen, als bis wir den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für die Menschen in Deutschland durchgesetzt haben, und zwar für Männer und Frauen, auch in der Zeit- und Leiharbeit. ({9}) Ich will Ihnen sagen, warum ich das nicht nur für sozial geboten halte: Es stört den Betriebsfrieden, wenn Kollegen unterschiedlich behandelt werden, obwohl sie das Gleiche leisten. Das ist leistungsfeindlich. Auch wirtschaftspolitisch ist es vernünftig, dass wir die Zeit- und Leiharbeit auf das konzentrieren, was ökonomisch gemeint ist, nämlich um Auftragsspitzen in Unternehmen abzudecken, aber nicht, um Lohndumping zu ermöglichen. Das ist auch aus Gründen der finanzpolitischen Solidität des Haushalts notwendig. Vor allen Dingen in der Zeit- und Leiharbeit gibt es immer mehr Menschen, die Vollzeit arbeiten, die jeden Tag schuften, die morgens in die Fabrik gehen, die sich anstrengen und mühen, aber die sich dann, weil es zum Leben nicht reicht, ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt abholen müssen. Das verantwortet die schwarzgelbe Koalition. Wir werden darum kämpfen, das zu ändern. Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. ({10}) Ich sage Ihnen noch etwas: Ein fauler Kompromiss, der so tut, als würde er das Problem des Missbrauchs von Zeit- und Leiharbeit in Deutschland bekämpfen, ist mit uns nicht zu machen. Sie haben sich seit Jahren gegen die Einführung von Mindestlöhnen gewehrt. Wir haben die Mindestlöhne Branche für Branche gegen den schwarz-gelben Widerstand durchkämpfen müssen. Wir sind jetzt in drei Branchen zum ersten Mal einen großen Schritt vorangekommen. Wir werden Sie treiben, und wir werden nicht ruhen, bis Equal Pay auch für die Zeit- und Leiharbeit durchgesetzt wird. Da wird es kein Gepfusche an dem Begriff geben, was „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ meint. In dieser Hinsicht ist das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in seiner Definition des § 3 ziemlich klar. Darin steht: „… wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts“. Das ist übrigens auch das, was in der Richtlinie steht. Sie versuchen, da herumzudoktern und so zu tun, als ginge es nur um den Stundenlohn und nicht um die Zuschläge, die es in der Industrie gibt. Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor in der Hoffnung, dass wir in den Verhandlungen zu Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf auch im Bereich Equal Pay noch zu Fortschritten kommen. Ich bin mir da nicht ganz sicher, weil wir erleben müssen, dass die FDP in der Sozialpolitik Frau von der Leyen offensichtlich an der Leine führt. ({11}) Das ist nicht gut für Deutschland, aber in diesem Bereich ist es offensichtlich so. Ich sage Ihnen: Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir brauchen einen Mindestlohn, den wir schon gegen Sie durchgesetzt haben. Wir brauchen ein Synchronisationsverbot, um Drehtüreffekte zu vermeiden, und zwar nicht nur bei Schlecker. Herr Brauksiepe, es ist sowieso ein Ding der Unmöglichkeit, dass Frau von der Leyen erst jetzt - sie ist fast anderthalb Jahre im Amt - beim Thema Schlecker gemerkt hat, dass es einen Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit gibt. So viel Ignoranz gegenüber den hart arbeitenden Menschen in Deutschland ist nicht zu akzeptieren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb werden wir kämpfen und dafür sorgen, dass dieses Gesetz im Interesse der arbeitenden Menschen besser wird. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Heinrich Kolb für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Zeitarbeit wird in der letzten Zeit sehr häufig diskutiert. Herr Kollege Heil, Sie haben heute eine Rede nach altem Muster gehalten. Ich glaube, es ist jetzt aber an der Zeit, verbal abzurüsten. Wenn wir morgen in Bundestag und Bundesrat die Beschlüsse zu Hartz IV fassen und anschließend im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz das normieren, was wir in den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss gemeinsam verabredet haben, dann haben wir einen Rahmen für die Zeitarbeit in Deutsch10504 land geschaffen, der zum einen Missbrauch verhindert und der zum anderen dieses Instrument auch in Zukunft einsatzfähig erhält. Das ist uns wichtig, und das ist auch richtig so. ({0}) Herr Heil, wir wollen Zeitarbeit. Sie ist für uns ein wichtiges und gutes arbeitsmarktpolitisches Instrument. Wir wollen, dass Zeitarbeit möglich ist, weil mit ihr eine Integrationsleistung erbracht wird und weil sie vielen zuvor arbeitslosen Menschen, auch Langzeitarbeitslosen, dazu verholfen hat, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Dieses Instrument wollen wir uns nicht kaputtmachen lassen. Deswegen haben die FDP und die Union in den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss auch so hart gekämpft. ({1}) Wir wollen gleichwohl, dass Missbrauch verhindert wird. - Der Kollege Gabriel möchte eine Zwischenfrage stellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Und Sie möchten die gerne zulassen, Herr Kolb?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sicher. Ich bin schon ganz wild darauf.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank, dass Sie sozusagen als Leiharbeiter meine Arbeit übernommen haben. Herr Gabriel, bitte.

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte Sie fragen, ob es zutrifft, dass Sie uns in den nächtlichen Verhandlungen am 20. Februar ungefähr drei Stunden lang Ihre Version von Equal Pay wie folgt erklärt haben: Gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Leiharbeitnehmer und Festangestellte soll es sofort geben - so war Ihre Vorstellung -, wenn der Lohn geringer ist als im Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche. Wenn der Lohn höher ist als der in der Zeitarbeitsbranche, soll das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ allerdings erst nach neun Monaten gelten. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie diese Position, die Sie uns stundenlang weismachen wollten, immer noch aufrechterhalten.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gabriel, Sie wissen, dass wir uns auf einen Kompromiss verständigt haben. Wir stehen zu diesem Kompromiss. Ich will aber gerne, weil Sie gefragt haben, die Gelegenheit nutzen, noch einmal deutlich zu machen, worum es uns eigentlich geht. ({0}) - Das will ich doch. - Es ist ja nicht so, wie Sie behaupten, dass der Mindestlohn in diesem Bereich etwas Neues wäre. Es ist vielmehr so, dass es schon heute für 98 Prozent der Zeitarbeiter einen tariflichen Mindestlohn sowohl für die Verleihzeit als auch für die verleihfreien Zeiten gibt. Der tarifliche Mindestlohn gilt vom ersten Tag an, ganz gleich, ob die Zeitarbeiter ausgeliehen sind oder nicht. ({1}) - Ich beantworte doch gerade die Frage. - Herr Gabriel, Sie können bestätigen, dass ich in den Verhandlungen immer darauf hingewiesen habe, dass nach der Logik des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Equal Pay dann gilt, ({2}) wenn nicht durch einen Tarifvertrag davon abgewichen wird. Es ging um die Frage: Soll es in Unternehmen, die nicht tarifgebunden sind ({3}) - das ist der Punkt; Herr Gabriel bestätigt es mir -, möglich sein, dass ein Tariflohn der Einsatzbranche gezahlt werden kann, der unter der Lohnuntergrenze der Zeitarbeit liegt? ({4}) - Dafür waren wir. ({5}) Wir haben aber auch festgestellt: Die praktische Relevanz dieses Bypasses - wenn ich das einmal so sagen darf - ist nicht sonderlich hoch. Das ist eine ordnungspolitische Grundsatzfrage. Wir haben in den Verhandlungen am Ende deutlich gemacht, dass wir einen wichtigen Kompromiss, den wir im Bereich Hartz IV anstreben, nicht an dieser Frage scheitern lassen werden. Noch einmal: Entscheidend war, dass wir heute schon praktisch flächendeckend einen Mindestlohn für deutsche Zeitarbeiter haben. Deswegen ist es falsch, wenn der Kollege Heil sagt, dass wir für 1,2 Millionen Menschen neue Mindestlöhne schaffen würden. Das kann man so nicht sagen, weil es für 900 000 Zeitarbeiter schon einen Mindestlohn gibt. Dazu kommen 20 000 Menschen aus dem Bereich der Aus- und Weiterbildung sowie 170 000 Menschen aus dem Bereich des Wach- und Sicherheitsgewerbes; das ergibt für mich 190 000. Es stellt sich aber die Frage, was im Zuge der Freizügigkeit nach dem 1. Mai dieses Jahres mit den Zeitarbeitern passiert, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen. Welchen Lohn werden diese Menschen bekommen? Da ist jetzt über diese Lohnuntergrenze, die eine absolute sein soll, sichergestellt, dass ein bestimmter Lohn nicht unterschritten werden kann. Auch polnische, lettische, litauische Zeitarbeiter werden nach dem 1. Mai, wenn sie nach Deutschland kommen, mit Löhnen, die mindestens dieser Lohnuntergrenze entspreDr. Heinrich L. Kolb chen, bedient werden. Diese Verabredung haben wir gemeinsam getroffen. Dazu stehen wir auch. Damit will ich zu einem zweiten Thema kommen, Herr Kollege Heil: Equal Pay. Nachdem ein großes deutsches Einzelhandelsunternehmen Anfang letzten Jahres damit angefangen hatte, die Stammbelegschaft zu entlassen und sie als Zeitarbeiter zurückzuholen, haben Kollege Schiewerling und ich gleichlautend, am selben Tag und unabgesprochen - da sind wir uns sehr einig - gesagt: Das machen wir nicht mit. Diese Drehtür werden wir relativ schnell wieder schließen. - Die Tarifpartner haben das dann sogar selbst getan, was ich gut finde. Darüber hinaus hat die FDP auch früh, nämlich im Frühsommer letzten Jahres, gesagt: Weil es für die deutschen Zeitarbeiter ja längst einen Mindestlohn gibt, ist die viel wichtigere Frage die nach dem Equal Pay. - An dieser Stelle würde ich gerne eine Zwischenfrage des Kollegen Heil zulassen, Frau Präsidentin, wenn es geht. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich unterbreche Sie so ungerne im Redefluss, Herr Kolb. Deshalb wollte ich warten, bis Sie Luft holen. Bitte schön, Herr Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Kolb, nachdem Sie Sigmar Gabriel bestätigt haben, dass Sie unter Mindestlohn einen Lohn verstehen, von dem man noch nach unten abweichen kann, hätte ich eine Frage zu dem Thema, was Sie unter Equal Pay verstehen. Entspricht es den Tatsachen - ich kenne Sie als einen wahrhaftigen Menschen, ({0}) der zu seiner Überzeugung steht, auch wenn sie nicht meine ist -, dass Sie erstens versucht haben, den EqualPay-Begriff, worunter wir weitgehend gleiche Arbeitsbedingungen inklusive gleiches Entgelt verstehen, wie es jetzt auch im AÜG steht, umzudefinieren, und zweitens nicht bereit waren, Equal Pay vor einer Einarbeitungszeit von mindestens neun Monaten zuzulassen? Auf Deutsch: Sie wollten, dass es neun Monate lang keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt und nach den neun Monaten auch keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir reden ja hier vom Gehalt der Stammbelegschaften im Vergleich zu Leihbelegschaften. Entspricht es den Tatsachen, dass Sie im Gespräch mit mir und der SPD in den Verhandlungen gesagt haben: „Man muss den Equal-Pay-Begriff ändern, und erst nach neun Monaten sollen die Menschen gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen“? Ja oder nein? Das ist eine Ja-oderNein-Frage.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das kann man ein bisschen ausführlicher beantworten.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das ist eine einfache Frage.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie stellen die Fragen, ich liefere die Antworten. Ich bin der Meinung, dass man darauf etwas ausführlicher antworten muss, und ich will es gerne tun. Ich will zunächst darauf hinweisen, dass die FDP, wenn ich mich recht erinnere, als eine der ersten Fraktionen in diesem Hause im Frühsommer letzten Jahres gesagt hat: Es geht nicht in erster Linie um Mindestlohn, sondern um Equal Pay, also um die Heranführung der Entlohnung der Zeitarbeiter an die der Stammbelegschaften. Das war uns wichtig. Wir haben aber auch immer gesagt: Diese Heranführung muss auf der Zeitschiene erfolgen. Das ist der eine Teil Ihrer Frage gewesen. Equal Pay ab dem ersten Tag, was Sie nachdrücklich und massiv gefordert haben, wäre aus unserer Sicht das Ende der Zeitarbeit in Deutschland. ({0}) - Nein, Herr Heil. Wenn Sie hier schon aus den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses und seiner Arbeitsgruppen berichten, ({1}) dann muss man hier auch sehr deutlich darauf hinweisen, dass Sie in einer Sitzung unmissverständlich gesagt haben: Wir wollen Equal Pay ab dem ersten Tag. ({2}) Sie haben hinzugefügt: Wenn wir das nicht bekommen, machen wir überhaupt keinen Abschluss. ({3}) Am Ende haben wir trotzdem einen Abschluss hinbekommen, was ich auch richtig finde. Sie haben sich bewegt, wir haben uns bewegt, und wir sind am Ende trotzdem nicht zusammengekommen, Herr Heil. Das bedaure ich, weil es schöner gewesen wäre, wenn man nach außen hin hätte signalisieren können: ({4}) Politik ist sich in diesem Bereich einig. Wir haben immer gesagt: Equal Pay, also gleiche Entlohnung für Stammbelegschaften und Zeitarbeiter, muss auf der Zeitschiene erfolgen. ({5}) Nicht die FDP hat im Vermittlungsausschuss und in der Arbeitsgruppe Angebote gemacht, sondern die Koalition hat Angebote gemacht. Das ist doch wahr, Herr Kollege Heil; da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln. Herr Kollege Schiewerling hat für die Koalition zunächst an10506 geboten, Equal Pay nach zwölf Monaten festzuschreiben, und dann haben wir als Koalition gesagt: Wir können uns Equal Pay auch schon nach neun Monaten vorstellen. - Das gehört noch zur Beantwortung der Frage; Frau Präsidentin, ich finde, er hat sich zu früh hingesetzt. ({6}) - Das ist eng an Ihrer Frage, Herr Kollege Heil, ({7}) und zwar deswegen, weil es uns darum ging, eine Auffangfrist zu schaffen. Im Vorfeld dieser Auffangfrist sehen wir die Tarifpartner, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, gefordert. Diese haben uns ja in den Wochen bzw. - das kann man fast so sagen - Monaten dieser Diskussion förmlich bombardiert mit Zuschriften des Inhaltes: Finger weg! Bloß keine gesetzliche Regelung! Lasst uns das doch selbst machen, weil wir näher dran sind. Genau das, Herr Kollege Heil, wollen wir jetzt tun. Darin sind wir uns in der Koalition vollkommen einig. Wir geben den Tarifpartnern zwölf Monate Zeit und sagen ihnen: Alle Fragen im Zusammenhang mit diesem Thema, dessen Wichtigkeit ihr erkannt habt, werdet ihr jetzt nach Möglichkeit in eigener Verantwortung regeln. Wenn ihr keine Lösung findet, dann müsst ihr euch gefallen lassen, dass wir handeln. ({8}) - Aber diese Kommission wird eine Empfehlung geben, die umgesetzt werden würde, wenn es notwendig wäre. Ich bin allerdings sehr zuversichtlich - das wäre auch der richtige Weg -, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber dieses Problem selber lösen und wir ein sehr feingliedriges Netz von Vereinbarungen bekommen. Das Problem bei Ihrem Ansatz ist, dass man alle Branchen über einen Kamm scheren würde und dass ab dem ersten Tag Equal Pay die Folge wäre. Das ist kontraproduktiv. Es mag zwar Branchen geben, in denen das nach einer relativ kurzen Frist möglich ist. ({9}) Aber es gibt auch Branchen, in denen die Frist länger sein muss. ({10}) Diese von uns gewünschte Differenzierung kann nicht der Gesetzgeber liefern. Es ist vielmehr eine Herausforderung, der sich letztendlich die Tarifpartner stellen müssen. Ich will zusammenfassen: In beiden Bereichen gibt es Lösungen. ({11}) Wir werden mit Ihnen zusammen, Herr Kollege Heil, eine absolute Lohnuntergrenze vereinbaren. Ich hoffe, dass Sie dieser Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in der zweiten und dritten Lesung zustimmen werden. Das ist die Nagelprobe für Sie. Wir werden auch am Thema Equal Pay dranbleiben. Wir haben früh erkannt, dass das die eigentliche Herausforderung für die Zeitarbeit in Deutschland ist. Die Zeitarbeiter, die heute durch einen tariflichen Mindestlohn gut geschützt sind, interessiert diese Frage. Aber sie ist vorrangig von den Tarifpartnern zu beantworten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jutta Krellmann hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem Gerede hin und her stellt sich die Frage, wo wir beim Thema Leiharbeit stehen. ({0}) Wir sollen einen Mindestlohn in der Leiharbeit bekommen, nicht nur in der verleihfreien Zeit; aber von gleichem Lohn für gleiche Arbeit ist keine Rede mehr. Dieses Ergebnis zur Leiharbeit ist der Stand der Verhandlungen zum Hartz-IV-Regelsatz. Das ist schlichtweg enttäuschend. ({1}) Der beschlossene Branchenmindestlohn in der Leiharbeit ist ein untaugliches Feigenblatt und wird Lohnund Sozialdumping weiterhin zulassen. Die Leiharbeitsfirmen werden damit geschützt, und eine spürbare Verbesserung für die Beschäftigten wird es nicht geben. Wir reden über 7,60 Euro im Westen und 6,55 Euro im Osten. Keiner von Ihnen würde für so wenig Geld irgendwo arbeiten wollen. ({2}) Diese Beträge sind derzeit in Tarifverträgen festgelegt. Das haben die Gewerkschaften in den letzten Jahren vereinbart, also zu einer Zeit, als Sie die Rahmenbedingungen für das Aushandeln von vernünftigen Tarifverträgen systematisch zerstört haben. Die Bundesregierung und „Frau von der Leiharbeit“ ({3}) legalisieren damit Lohndumping für immer mehr Beschäftigte. Leiharbeiter bekommen weiterhin nur die Hälfte des Lohnes, den ihre festangestellten Kollegen bekommen, und das bei gleicher Arbeit. Die Zahl der Aufstocker in der Leiharbeit steigt jedes Jahr. Im angeblichen Jobwunderland Baden-Württemberg sind seit Mitte letzten Jahres circa 33 000 neue Arbeitsplätze entstanden, allein 27 000 davon in der Leiharbeitsbranche. Das sind 83 Prozent; ich wiederhole: 83 Prozent. Ihr Jobwunder basiert also auf Leiharbeit. Es handelt sich um 27 000 Beschäftigte, die auch in Zukunft weniger Geld bekommen als ihre Kolleginnen und Kollegen nebenan. Ich sage Ihnen: Diese moderne Lohnsklaverei muss endlich aufhören. ({4}) Heute ist der Aktionstag der Gewerkschaften gegen Leiharbeit und prekäre Beschäftigung. Die Beschäftigten geben sich nicht mit Mindestlösungen zufrieden, und das zu Recht. Im Moment demonstrieren beispielsweise Beschäftigte der Firma MetoKote gemeinsam mit Kollegen der Firma John Deere in Mannheim vor den Betriebstoren. Warum? Die Firma John Deere hat einen ganzen Produktionszweig einfach an ihren Zulieferer MetoKote ausgegliedert und beschäftigt jetzt nur noch Leiharbeitnehmer. Das Schlimmste an der Sache ist: Diese Praxis des Unternehmens bleibt auch nach dem neuen Gesetzentwurf der Bundesregierung legal. Wir als Linke unterstützen die zahlreichen Proteste der Gewerkschaften und der Beschäftigten gegen Unternehmenswillkür und prekäre Beschäftigung per Gesetz. ({5}) Die Bundesregierung legt hier einen Entwurf vor, der für viele Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer keine großen Verbesserungen bringt. Trotzdem stellt sich Arbeitgeberpräsident Hundt hin und sagt: Egal, was Sie neu regeln, wir werden es unterlaufen. - Dem muss man doch die Stirn bieten können. Das ist Gesetzesbruch mit Ansage. Das ist unglaublich. ({6}) Das kann die Bundesregierung doch nicht dulden. Wer darf das wieder ausbaden? Die betroffenen Beschäftigten der Leiharbeit, denen Equal Pay verwehrt wird, und die Menschen, die mit ihren Steuern Aufstockerleistungen an Arbeitnehmer in Leiharbeitsfirmen subventionieren müssen, leiden darunter. Leiharbeit bedeutet Unsicherheit für die Betroffenen und auch weniger Geld, weniger Rechte und weniger Anerkennung der eigenen Arbeit. Meine Damen und Herren von der SPD, das Tragische an diesem Kompromiss ist, dass Sie dazu beigetragen haben und morgen dieser Kuhhandel mit Ihren Stimmen den Bundestag passieren wird. Das ist äußerst bedauerlich und aus meiner Sicht eine absolut verpasste Chance. Wir wollen eine Lösung bei der Leiharbeit, die den Beschäftigten wirklich hilft. Der vorliegende Antrag der SPD hört sich nicht schlecht an, liest sich auch nicht schlecht, ist aber aus meiner Sicht absolut unglaubwürdig. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nicht einmal das Papier wert, auf dem er steht. ({7}) Die Linke zeigt, dass es auch anders geht. Wir haben ein klares Konzept und stehen auch dazu. Unsere zentrale Forderung ist: gleiches Geld für gleiche Arbeit von Anfang an, und ohne Ausnahme. ({8}) Wer die Arbeit der Beschäftigten in Deutschland schätzt, der gesteht den Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern auch gleichen Lohn zu. Wir wollen die Verleihdauer wieder auf maximal drei Monate begrenzen; das ist ja nichts Neues. Leiharbeit muss wieder ein Thema für Auftragsspitzen in Unternehmen sein und darf keine reguläre Beschäftigung ersetzen. Wer ständig die Arbeit und den Arbeitsplatz wechselt, der hat auch Anspruch auf eine höhere Bezahlung und verdient mehr Anerkennung. Eine Flexibilitätsprämie von 10 Prozent ist an dieser Stelle das richtige Zeichen für die Beschäftigten. ({9}) Aber auch die Leiharbeitsfirmen müssen endlich Verantwortung übernehmen. Deswegen muss das Synchronisationsverbot wieder eingeführt werden. ({10}) Sie dürfen ihre Beschäftigten nicht mehr zwingen, als Streikbrecher zu fungieren. ({11}) Nicht zuletzt ist es notwendig, die Mitbestimmung innerhalb der Betriebe zu stärken; denn nur der Betriebsrat kann beurteilen und einschätzen, ob Leiharbeit überhaupt notwendig ist oder für Lohndumping benutzt wird. Wir waren noch nie so dicht am Kern des Problems und an einer möglichen Lösung. Die Linke ist damit die einzige Partei, die zu ihrem Wort steht, weil wir Equal Pay prinzipiell richtig und wichtig finden. ({12}) Deshalb fordere ich als Gewerkschafterin die Abgeordneten aller Fraktionen, die wie wir gegen Leiharbeit und prekäre Beschäftigung sind, auf: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, damit endlich etwas zugunsten dieser Kolleginnen und Kollegen passiert. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Beate Müller-Gemmeke hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute wird also endlich der Gesetzentwurf der Regierung in den Bundestag eingebracht. Seit über einem Jahr warten wir schon darauf. Ministerin von der Leyen hat bereits zwei Anläufe gestartet; die wurden aber immer vom Koalitionspartner, der FDP, gestoppt. Die Koalitionsfraktionen sind bei wichtigen sozialpolitischen Themen einfach nicht handlungsfähig. Das ist die übliche schwarz-gelbe Chaospolitik; aber das kennen wir schon aus dem Vermittlungsausschuss. ({0}) Das, was jetzt vorliegt, kann ich nur als Minimalvariante bezeichnen. Die wichtigsten Punkte fehlen, etwa das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und der Mindestlohn. Mit diesem Gesetz bleiben die Leiharbeitskräfte die Verlierer. Auch der Staat verliert, und zwar Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Dafür werden die Ausgaben für das aufstockende Arbeitslosengeld II steigen, und das nur, weil sich die schwarz-gelbe Koalition lieber um Hoteliers und minimale Entlastungen, beispielsweise beim Arbeitnehmerpauschbetrag, kümmert. ({1}) Ich hoffe nur, dass der Gesetzentwurf im Laufe des Verfahrens um den Mindestlohn ergänzt wird. Ich hoffe übrigens auch, dass die Arbeitsbedingungen normiert werden; hier geht es auch um Arbeitszeiten. Das wäre wenigstens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. ({2}) Es ist mir aber immer noch unverständlich, warum sich die FDP so hartnäckig gegen einen Mindestlohn gewehrt hat. Der Mindestlohn in der Leiharbeit ist mit Blick auf die ab Mai gewährte Arbeitnehmerfreizügigkeit unerlässlich. ({3}) Darüber sind sich mittlerweile alle Branchenverbände inklusive BDA einig; nur die FDP hat es einfach nicht kapiert. ({4}) Mit dem Gesetzentwurf muss auch die EU-Leiharbeitsrichtlinie umgesetzt werden; die Bundesregierung ist verpflichtet, sie bis zum Ende des Jahres umzusetzen. Ich finde - das wird Sie kaum überraschen -, dass der geforderte Gesamtschutz der Leiharbeitskräfte nicht gewährleistet ist. Laut Richtlinie müssen die Leiharbeitskräfte zumindest die Arbeitsbedingungen von festangestellten Beschäftigten erhalten. Sie werden dieser Vorgabe mit Ihrem Gesetzentwurf aber nicht im Geringsten gerecht. Auch die hochgelobte sogenannte Schlecker-Klausel ist nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Es gibt genügend Möglichkeiten, diese Regelung zu umgehen. Beispielsweise können entlassene Beschäftigte sechs Monate lang geparkt und danach als Leiharbeitskräfte am gleichen Arbeitsplatz eingesetzt werden; es können aber auch gleich andere Leiharbeitskräfte angefordert werden. Damit bleibt vom Gesetzentwurf bis auf kleine Detailregelungen nicht mehr viel übrig. Die Substitution von Stammbelegschaften ist weiterhin möglich; aber das wollten Sie ja auch nicht verhindern. ({5}) Nicht nur die im Entwurf enthaltenen Regelungen sind problematisch. Entscheidend ist, dass die wirklich wichtigen Verbesserungen fehlen, beispielsweise die Einführung von Equal Pay und die Wiedereinführung des Synchronisationsverbots, aber auch mehr Rechte für Betriebsräte. Das führt dazu, dass die Leiharbeit immer salonfähiger wird und Stammbelegschaften entweder aktiv oder schleichend ersetzt werden. Aus regulären Beschäftigungsverhältnissen werden also Leiharbeitsverhältnisse. Ich frage mich, wohin das führen soll. Frau Connemann von der CDU/CSU, aber auch Herr Kolb von der FDP finden das natürlich in Ordnung; denn ihrer Meinung nach gibt es in der Leiharbeit reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Das stimmt aber nicht. ({6}) Ich möchte einmal ausführen, was ich unter regulärer Arbeit verstehe und warum ich die Leiharbeit als prekär bezeichne. ({7}) Reguläre Beschäftigungsverhältnisse sind unbefristet. Die Beschäftigten werden entsprechend ihrer Qualifikation oder der Art ihrer Tätigkeit bezahlt, und zwar nach dem gleichen Tarifsystem wie alle anderen auch. Im Kreis der Kolleginnen und Kollegen haben sie ein stabiles soziales Umfeld; man kennt sich, sie erhalten Anerkennung und Wertschätzung. Vor allen Dingen gibt es klare Rahmenbedingungen, das heißt, die Beschäftigten haben die Möglichkeit, ihr Leben wirklich zu planen. Jobs in der Leiharbeit sind aber in der Regel befristet, und zwar nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, häufig nur für die Dauer des Einsatzes, und können jederzeit vorzeitig gekündigt werden. Wenn der Einsatz zu Ende ist, bleibt nur noch der Gang in die Arbeitslosigkeit. Das nenne ich prekär. Leiharbeitskräfte verdienen 30 bis 50 Prozent weniger als regulär Beschäftigte, und zwar unabhängig von ihrer Qualifikation. Von dem Lohn können sie nicht leben, und darüber hinaus werden sie noch wie Beschäftigte zweiter Klasse behandelt. Auch das bezeichne ich als prekär. Leiharbeitskräfte werden im Betrieb häufig als Konkurrenz angesehen. Sie stehen unter einem deutlich höheren Leistungsdruck; denn sie wollen regulär angestellt werden. Sie müssen sich immer wieder an neue Tätigkeiten gewöhnen; die Umgebung wechselt und natürlich auch die Menschen, die sie um sich herum haben. Anerkennung, Wertschätzung - Fehlanzeige. Leiharbeitskräfte leben in Unsicherheit. Eine Lebens- und Familienplanung ist nicht möglich. Auch das bezeichne ich als prekär. ({8}) Alles zusammen zeigt eindrücklich, mit welchen Lebensbedingungen die Leiharbeitskräfte tagtäglich zu kämpfen haben. Hören Sie also endlich auf damit, immer wieder zu behaupten, die Leiharbeit sei eine reguläre und normale Beschäftigungsform. Die Realität sieht anBeate Müller-Gemmeke ders aus. Die Leiharbeit ist und bleibt unsicher und unfair. Ich frage die Regierungsfraktionen nochmals: Wo soll das hinführen? In manchen Industriebranchen ist die Leiharbeit und im Dienstleistungsbereich wird die Leiharbeit zur Normalität. Jede fünfte Bäckerei, jeder vierte Kfz-Betrieb und jedes siebte Bauunternehmen setzt auf Leiharbeit. ({9}) Im Gesundheitsbereich nimmt die Leiharbeit dramatisch zu. In Banken, Versicherungen, Kitas, Schulen und sogar in den Jobcentern werden Leiharbeitskräfte eingesetzt, wie ich vor kurzem gehört habe und was mich wirklich schockiert hat. Es geht schon lange nicht mehr um Flexibilität und um das Abfedern von Auftragsspitzen. Es geht darum, eine zweite Niedriglohnlinie einzuführen. Es geht um Profit, und es geht um den Wettbewerb um die niedrigsten Löhne. Diese Tendenz wird mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht gestoppt. Ich wiederhole: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft, sondern sozial ist nur, was gute Arbeit schafft. ({10}) Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessern und Zukunftschancen eröffnen. Um dem gerecht zu werden, müssen Sie Ihren Gesetzentwurf gewaltig überarbeiten. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Karl Schiewerling hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeitarbeit hat sich in der Tat von einem Arbeitsmarktinstrument zu einem Wirtschaftszweig entwickelt, in dem etwa 1 Million Menschen - Stand heute - beschäftigt sind. Das ist durch die Regelungen der Hartz-Gesetze möglich geworden, insbesondere durch die Regelung in Hartz I. Equal Pay kann demnach unterlaufen werden, indem die Tarifpartner in der Zeitarbeitsbranche von der Möglichkeit Gebrauch machen, miteinander Tarifverträge abzuschließen; denn dann gilt Equal Pay nicht. Das hat die damalige rot-grüne Koalition alleine beschlossen. Das Gesetz war nicht mitbestimmungspflichtig durch den Bundesrat. Die Union hat dem nicht zugestimmt. ({0}) - Ich halte es für wichtig, Herr Kollege Heil, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, weil Sie den Herrn Staatssekretär Dr. Brauksiepe als Lügner bezeichnet haben. Mir liegt daran, dass es durch uns richtiggestellt wird. ({1}) In der Tat waren zwei Drittel der Menschen, die Zeitarbeitsverträge neu abgeschlossen haben, vorher arbeitslos. ({2}) Sie hatten keine Beschäftigung und sind über diesen Weg in Arbeit gekommen. ({3}) Das möchte ich an dieser Stelle konzedieren. Ein weiterer Punkt. Zahlreiche Menschen, die sonst keine Chance hätten, weil sie geringqualifiziert sind, kommen über den Weg der Leiharbeit in Beschäftigung. ({4}) Sie bleiben in einer Größenordnung von etwa 13 bis 15 Prozent im ersten Arbeitsmarkt, und dies über einen längeren Zeitraum. Ich kann das beklagen und sagen: Das ist viel zu wenig, das ist alles vom Teufel. - Ich sage Ihnen: Die 15 Prozent, die anschließend im ersten Arbeitsmarkt bleiben und einer Beschäftigung jenseits der Zeitarbeit nachgehen, sind froh, dass sie über diesen Weg in eine solche Situation gekommen sind. ({5}) Ich möchte dies nicht kleinreden lassen. Mit Zeitarbeit wird flexibel auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes reagiert. ({6}) Ich gestehe gerne zu, dass nicht zuletzt durch die Regelungen, die wir heute haben, Entwicklungen eingetreten sind, die auch aus meiner Sicht nicht alle glücklich sind. Deswegen ist es notwendig, die Dinge zu verändern. Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Durch den seit der Neuregulierung durch die Hartz-Gesetze im Jahr 2005 verbreiteten Glauben, alles sei möglich und alles sei machbar in der Wirtschaft - auch bei den Zeitarbeitsfirmen -, hat sich Missbrauch eingeschlichen, der zuletzt in der Situation kulminierte, die wir bei einem großen Discounter erlebt haben. Genau in dieser Frage haben wir gehandelt. Wie haben wir gehandelt? Der Kollege Dr. Kolb und ich haben Anfang letzten Jahres auf das Problem aufmerksam gemacht. ({7}) Wir haben den Tarifpartnern dann Zeit eingeräumt, das zu regeln. Die Tarifpartner haben es nicht zu unserer Zufriedenheit geregelt. Deswegen machen wir jetzt ein Gesetz, um den Drehtüreffekt zu unterbinden. ({8}) Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen, dass es vielfältige Möglichkeiten gibt, Menschen über die Zeitarbeit in regulärer Beschäftigung zu beschäftigen. Es gibt aber vielfältige Erscheinungsformen der Zeitarbeit. ({9}) In der Stahlbranche haben wir etwa einen Tarifvertrag, der Equal Pay für Zeitarbeiter vom ersten Tag an vorsieht. Diese Entwicklung begrüßen wir alle miteinander. Das ist eine richtige und gute Entscheidung. ({10}) Es gehört allerdings auch zur Wahrheit, dass die Zeitarbeitnehmer, die unter diesem Tarifvertrag offiziell bei Equal Pay anfangen, zunächst in abgesenkten Stufen anfangen und am Anfang keineswegs dasselbe Gehalt wie ihre Kollegen bekommen, weil die Einarbeitungszeit zugestanden werden muss. ({11}) Mir ist es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass es unterschiedlichste Formen und unterschiedlichste Entwicklungen gibt. Dort allerdings, wo die Zeitarbeit systematisch zur Lohndrückerei genutzt wird, wollen wir einschreiten. Das ist richtig. ({12}) Wir machen dies mit dem heute in erster Lesung eingebrachten Gesetzentwurf. Bis zur zweiten und dritten Lesung werden wir das, was im Vermittlungsausschussverfahren geklärt worden ist, einbringen, ({13}) sodass wir zumindest auf diesem Weg erreichen, dass es eine Lohnuntergrenze gibt, die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mit den Instrumentarien des Entsendegesetzes so geregelt wird, dass sie nicht mehr unterlaufen werden kann. Ich halte diese Dinge, die wir jetzt auf den Weg bringen, für einen wichtigen Fortschritt, für eine gute Entwicklung und für eine gute Botschaft an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({14}) In dem Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, sind auch die Dinge enthalten, die Europa uns vorschreibt. Wir setzen die europäische Zeitarbeitsrichtlinie eins zu eins um. Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hinweisen, der mir sehr wichtig ist: Keine Branche und kein Betrieb auf dieser Welt wird sich auf Dauer halten können, wenn sie oder er keine gesellschaftliche Akzeptanz hat. Es wird im Interesse der Zeitarbeitsbranche liegen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Genau deswegen ist die Entscheidung im Vermittlungsausschuss richtig, ({15}) dass die Zeitarbeitsbranche jetzt Zeit hat, gemeinsam mit den Gewerkschaften nach einem Weg zu suchen, wie Equal Pay sichergestellt werden kann. Schaffen sie das nicht, dann wird es - wie jetzt in dem Fall des großen Discounters - nach einem Jahr zu einer Regelung durch die Bundesregierung kommen. ({16}) Ich halte das unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten für den richtigen Weg. Glauben Sie mir: Die Tarifhoheit und die Verantwortung der Gewerkschaften sind uns sehr wichtig. Im Übrigen

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- dann komme ich zum Ende, Frau

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nicht „dann“. Jetzt.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- könnte ich etwas hinterfotzig darauf hinweisen, dass wir heute schon Equal Pay vom ersten Tag an haben könnten, wenn die Gewerkschaften darauf verzichten würden, Tarifverträge mit der Zeitarbeitsbranche abzuschließen. Hätten wir dort keine Tarifverträge, würde Equal Pay vom ersten Tag an gelten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Schiewerling!

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß, wie schwierig das Ganze ist. Ich denke, dass wir in den weiteren Beratungen alles tun werden, um den Menschen eine gute Perspektive zu geben. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich habe um das Wort gebeten, weil Herr Schiewerling mich aufgrund eines Zwischenrufes, den ich vorhin gemacht habe, angesprochen hat. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ein Wort des Bedauerns auszusprechen, und mich bei dem Herrn Staatssekretär entschuldigen. Ich habe mich in einem Streit in der Sache dazu hinreißen lassen, das Wort „Lügner“ in den Mund zu nehmen. Das gehört sich in einer inhaltlichen Debatte nicht; in anderen Zusammenhängen muss man auch das aussprechen können. Ich habe mich dazu hinreißen lassen, weil ich den Eindruck hatte, dass Sie mit Ihrem Hinweis auf das Stimmverhalten der CDU/CSU, der damaligen Oppositionsfraktion, beim Thema Hartz I insinuieren wollten, dass die CDU/CSU damals gegen die Liberalisierung von Leiharbeit war. Das ist mir so nicht in Erinnerung. Deshalb nehme ich den Begriff zurück, die Gesamtdarstellung kritisiere ich aber nach wie vor. Ich bitte Sie um Entschuldigung. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Anette Kramme hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Prinzip wissen wir alle in diesem Haus ganz genau, dass die Leiharbeit in der jetzigen Ausgestaltung ein Irrweg der deutschen Arbeitsmarktpolitik ist. ({0}) Leiharbeit hat häufig niedrigste Löhne gezahlt, 3,60 Euro sind ein Beispiel aus meinem Wahlkreis. Manchmal sind es 4,00 Euro, manchmal 4,50 Euro. Sehr häufig sind es Löhne in der Kategorie von 7,00 Euro bzw. 7,50 Euro. Wir wissen auch: Die Arbeitsverhältnisse sind von kürzester Dauer. 55 bis 60 Prozent aller Arbeitnehmer sind kürzer als drei Monate beschäftigt. Wir wissen um die härteren physischen Arbeitsbedingungen. Wir wissen um den schlechteren Gesundheitsschutz. Vor allen Dingen haben wir durch eine neue Untersuchung gelernt, dass eine systematische Ausgrenzung von Leiharbeitnehmern in den Betrieben stattfindet. Das hat selbstverständlich seine psychischen Auswirkungen. Über die Jobcenter geben wir immerhin 500 Millionen Euro für Aufstockungsleistungen aus. Das ist ein Skandal, weil wir damit die Dumpingpolitik der Leiharbeitsunternehmen finanzieren. Selbstverständlich unterstützen wir die Leiharbeitnehmer damit, aber wir gestatten es dadurch einer Branche auch, mit Löhnen zu arbeiten, die unter regulären Bedingungen nicht möglich wären. ({1}) Vor allen Dingen wissen wir, dass Leiharbeitsfirmen immer häufiger als Hilfsmittel dienen, tarifvertragliche Strukturen in Stammbetrieben zu unterlaufen. Das macht vielen Menschen in dieser Republik Angst. Das geht weit über das Phänomen hinaus, dass wir circa 1 Million Leiharbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland haben. Wir müssen von dem Ammenmärchen abrücken, das Herr Schiewerling am heutigen Tag hier wieder verbreitet hat: Es gibt keine positiven Arbeitsmarkteffekte der Leiharbeitspolitik. ({2}) Es gibt keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, ({3}) sondern im Regelfall kommt nach drei Monaten das Ende des Arbeitsverhältnisses. Das ist keine Brücke, sondern allenfalls ein Steg, möglicherweise auch nur ein Strohhalm. Der Handlungsbedarf ist unübersehbar. Auch der Handlungsdruck kann nicht übersehen werden. Ich sage, dass wir als SPD durchaus in einer besonderen Verantwortung sind. Wir haben geholfen, die Büchse der Pandora zu öffnen. ({4}) Wir wollen aber auch dazu da sein, diese Büchse der Pandora wieder zu schließen und zu regulären Bedingungen zu kommen. Meine Damen und Herren von der FDP einerseits und von der CDU/CSU andererseits, wir haben in den letzten Wochen hart über die Leiharbeit verhandelt. ({5}) Ich kann Ihnen sagen, wie ich das beurteile: Ihr Verhalten in den Verhandlungen war schamlos und von Ignoranz gekennzeichnet. ({6}) Wir haben einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Sie haben klipp und klar gesagt, den wollen Sie nicht. ({7}) In dieser Republik verdienen 23 Prozent aller Arbeitnehmer weniger als 8,50 Euro pro Stunde. ({8}) Fast ein Viertel aller Arbeitnehmer arbeitet unter schlechtesten Arbeitsbedingungen. Wir mussten dieses Nein, dieses No-Go hinnehmen, aber wir haben gesagt, dass wir zumindest etwas für den Bereich der Leiharbeit tun müssen. Wir haben deshalb einen Mindestlohn für die verleihfreie Zeit und Equal Pay für Verleihzeiten gefordert. Sie haben uns dann ein Angebot unterbreitet. Dieses Angebot war von Lächerlichkeit gekennzeichnet. Sie haben Leiharbeit zu Equal-Pay-Bedingungen nach neun Monaten angeboten. ({9}) Dabei wissen wir alle: Leiharbeitnehmer sind überwiegend nur zu drei Monaten in den Betrieben. Was soll dieses Angebot? Hilfreich war es sicherlich nicht. ({10}) Sie haben sich zunächst nicht einmal auf einen Mindestlohn einlassen wollen. Sie haben die feine Differenzierung getroffen, dass ein Mindestlohn nur für verleihfreie Zeiten gelten soll. Im Übrigen haben Sie von einem sogenannten Referenzlohn gesprochen, der auch hätte unterschritten werden dürfen. Gott sei Dank haben wir das verhindern können. Dieser Mindestlohn ist jetzt vorgesehen. Das ist mit Sicherheit ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ihr Arbeitnehmerüberlassungsgesetz enthält einen weiteren wichtigen Schritt, allerdings ist das nur ein ganz kleiner Schritt. ({11}) Sie schließen Fallkonstellationen wie bei Schlecker aus, aber im Prinzip wissen wir alle in diesem Haus, dass wir ein weiteres Aufwachsen des Niedriglohnsegments nicht zulassen dürfen. Sie bleiben Ihrem Weg jedoch treu und betreiben Subventionspolitik zugunsten der Unternehmen und Arbeitsrechtspolitik gegen Leiharbeitnehmer und Leiharbeitnehmerinnen. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Herr Kolb würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber sicher, ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kramme, nachdem Ihnen das alles nicht gefällt, möchte ich nur gern wissen: Werden Sie am Ende zustimmen, wenn wir jetzt im AÜG das umsetzen, was wir gemeinsam besprochen haben, oder werden Sie es ablehnen? ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir werden dem Gesamtpaket zustimmen, ({0}) und zwar deshalb, weil wir Mindestlöhne für die Leiharbeit, einen Mindestlohn für das Bewachungsgewerbe und einen Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche haben werden, weil wir erreicht haben, dass es Schulsozialpädagogen gibt etc. Wir wollen den Menschen diese positiven Leistungen nicht vorenthalten, aber Sie wissen: Von dem Weg, den wir gehen müssen, gehen Sie mit uns gemeinsam nur ein kurzes Stück. Das ist zu wenig. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen gleiches Geld für gleiche Arbeit, sonst zerstört Leiharbeit weitere Normalarbeitsverhältnisse. Es darf keine Verträge von Fall zu Fall mehr geben. Leider müssen wir immer wieder beobachten, dass Verleiher Leiharbeitnehmer nur für kurze Zeiträume beschäftigen. Wenn der Entleiher den Leiharbeiter nicht mehr braucht, geht damit gleichzeitig die Kündigung einher. Deshalb sollte es keine Verträge von Fall zu Fall mehr geben. Wir sind auch der Auffassung, dass ein Leiharbeitnehmer, wenn er für die Dauer eines Jahres beschäftigt war, das Recht haben soll, in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. ({2}) Wir sagen ganz klar: ein Platz, ein Jahr. Es geht auch darum, die Rechte des Betriebsrates zu stärken. Wir wollen ein echtes Mitbestimmungsrecht nach § 87 des Betriebsverfassungsgesetzes. Betriebsräte sollen mit darüber entscheiden können, ob es Leiharbeitnehmer in ihrem Betrieb gibt, wie lange sie beschäftigt werden und in welchen Bereichen sie eingesetzt werden. Wenn wir alle in diesem Hause ehrlich miteinander umgehen, können Sie im Prinzip nichts anderes machen, als dieser Vorlage zuzustimmen. Dazu fordere ich Sie an dieser Stelle auf. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition ist dafür da, die Regierung zu kritisieren. Nur, wenn ich mir das Verhalten von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in den letzten MonaJohannes Vogel ({0}) ten und auch heute wieder anschaue, habe ich das Gefühl, Sie kritisieren sich selbst. ({1}) Rente mit 67? Das war jemand anderes; das wollen wir nicht mehr. Leiharbeit? Die kennen wir nicht. Was haben wir da gemacht? ({2}) Sie kritisieren sich selbst. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist, dass wir das, was Sie richtigerweise eingeführt haben, erhalten wollen und gemeinsam schauen wollen: Wie können wir Missbrauch wirklich verhindern? ({3}) Nur, Sie kommen mir vor wie jemand, der, wenn Schimmel in der Garage ist, das ganze Haus abreißen will. Das macht keinen Sinn. Man muss die wirklichen Probleme lösen und darf nicht das Gute kaputtmachen. ({4}) Zwei Worte dazu. Erst einmal, weil das hier gerade wieder falsch dargestellt wurde, zur Frage: Was ist gut an der Zeitarbeit? Die Zeitarbeit ist für Flexibilität da, ja. Aber sie ist auch ein Jobmotor. Sie hilft Menschen aus der Arbeitslosigkeit ({5}) - zwei Drittel der Zeitarbeiter kommen aus der Arbeitslosigkeit - und gibt ihnen einen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt. Eben wurde gesagt, das sei nicht dauerhaft. Da kann ich nur auf das IAB verweisen. Das IAB hat letztes Jahr festgestellt, dass drei Viertel der Langzeitarbeitslosen durch die Zeitarbeit dauerhaft in den Arbeitsmarkt integriert werden. ({6}) Das wollen wir nicht wegschmeißen. Sie machen sich daran schuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. ({7}) Jetzt schauen wir einmal auf den echten Missbrauch. ({8}) Wegen der angeblichen Bedrohung durch Dumpinglöhne von ausländischen Leiharbeitern gibt es da jetzt einen Mindestlohn. Den haben wir gemeinsam vereinbart, ({9}) weil wir natürlich nicht wollen, dass das Lohnniveau in Deutschland dort unterschritten wird. Herr Heil, ich ärgere mich wirklich darüber, wie Sie das darstellen, dass Sie hier einen Pseudounterschied aufmachen und sagen, wir hätten einen echten Mindestlohn verhindern wollen; auch über die Zwischenfrage Ihres Parteivorsitzenden habe ich mich eben gewundert. ({10}) - Herr Heil, wir zwei saßen in der Unterarbeitsgruppe. ({11}) Sie wissen doch ganz genau, über welches Detail wir diskutiert haben. ({12}) Wenn hier, wie eben, aus internen Runden zitiert wird, mache ich es auch. Wir haben die Frage gestellt, ob es denn sinnvoll sein kann, wenn wir Equal Pay stärken wollen, dass jemand in den ersten Monaten als Zeitarbeiter, wenn er einmal lange in einem Unternehmen ist, mehr verdient und dann ab der Grenze, ab der Equal Pay einsetzt - sagen wir einmal, es wäre nach neun Monaten; was auch immer die Tarifpartner da vereinbaren -, auf einen niedrigeren Lohn zurückfällt. Wir haben gesagt: Das ist doch absurd. - Herr Heil, Sie wissen genau: Sie haben zugestimmt. ({13}) Auch Sie haben gesagt, dass das absurd ist und dass es das nicht sein kann. Da ist es unredlich, uns hier zu unterstellen, wir hätten nur einen Pseudomindestlohn angeboten. ({14}) Sie wissen genau, dass wir eine sachgerechte Lösung wollen und hier niemand den Mindestlohn mit Blick auf das Ausland infrage gestellt hat, liebe Kolleginnen und Kollegen. So sieht es aus. ({15}) - Wir haben alle gewonnen, wenn die Leute etwas davon haben. Johannes Vogel ({16}) ({17}) Darum geht es nämlich in der Politik. Da geht es nicht darum, wer gewonnen hat, sondern darum, dass wir eine gute Lösung für die Menschen finden. ({18}) Das Problem Mindestlohn haben wir also gelöst. Wir haben Ihrer Lösung letztlich zugestimmt, weil wir gesagt haben: Da geht es nur um wenige Fälle; daran kann es nicht scheitern. Deswegen finden wir eine gemeinsame Lösung. Auch beim Equal Pay werden wir eine gute Lösung finden. ({19}) - Ja. - Wir werden das an die Tarifvertragsparteien übergeben. Wir haben gesagt: Wir können uns nicht auf eine vernünftige Lösung einigen. Denn wenn der Gesetzgeber eine Frist festlegt, dann ist das wie ein grober Keil. Die passt nicht auf alle Probleme für alle Menschen. ({20}) Wir haben uns einmal die Praxis angeschaut. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Unternehmen START Zeitarbeit NRW sitzt die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Ihre Landesregierung, mit im Aufsichtsrat. Die haben eine sehr differenzierte Lösung für Equal Pay gefunden. Da wird schrittweise an Equal Pay angeglichen. Da wird unterschieden zwischen ungelernten und qualifizierten Arbeitskräften. Das sind sachgerechte Lösungen, die den Menschen wirklich helfen. Solche Lösungen können nur die Tarifvertragsparteien finden. Deshalb haben wir gesagt: Wir wollen Equal Pay. Aber wir wollen eine kluge Lösung, die die Zeitarbeit nicht kaputtmacht. Das ist bei den Arbeitgebern und Gewerkschaften richtig aufgehoben. Genauso werden wir es deshalb jetzt auch machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({21}) Herr Heil, als mein letzter Satz: Sie haben eben auf Olaf Scholz verwiesen. Sie haben gesagt - ich habe es mir aufgeschrieben -, die SPD habe in Hamburg Erfolg gehabt, weil sie wirtschaftlichen Erfolg und soziale Gerechtigkeit zusammenbringen will. Wissen Sie, was? Ich glaube, Sie haben recht. Das war der Erfolg von Olaf Scholz. Das Problem ist, dass Sie diesem Anspruch hier im Deutschen Bundestag nicht genügen. ({22}) Was wir jetzt mit dieser Lösung machen - ich freue mich, dass Sie ihr zustimmen -, ({23}) ist, die Brücke, die die Zeitarbeit in den Arbeitsmarkt bildet, ({24}) mit einem Geländer zu versehen, damit weniger Menschen straucheln. Sie wollen sie abreißen. ({25}) Da machen wir nicht mit. Insofern freue ich mich, dass wir doch noch eine Lösung gefunden haben, der auch Sie zustimmen werden. ({26}) Auch bei Equal Pay werden wir über die Tarifvertragsparteien eine gute Lösung finden. Das ist die beste Lösung für die Menschen in diesem Land und auf dem Arbeitsmarkt. Vielen Dank. ({27})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ulrich Lange hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ziemlich genau vor einem Jahr haben wir an gleicher Stelle die Causa Schlecker diskutiert. Wir alle waren uns einig, dass wir die Wiederholung eines solchen Falles nicht erleben wollen. Wir haben seither aus der Branche positive Signale bekommen. Die Tarifvertragsparteien haben gehandelt. Aber unsere Ministerin hat schon damals deutlich gesagt: Wenn es nicht zu einer wirklich befriedigenden Lösung kommt, dann werden wir gesetzgeberisch handeln. Heute liegt dieser Gesetzentwurf in erster Lesung vor. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine Lösung in Sachen Drehtüreffekt gefunden, die, glaube ich, aus dem Rechtsgedanken der „Zuvor-Arbeitsverhältnisse“ heraus diese Missbrauchsmöglichkeit sehr wohl schließen wird. - Ich sehe schon Ihr Kopfschütteln, aber wir werden ja sehen. Ich glaube schon, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir haben aber auch feststellen können, dass die Ankündigung eines Gesetzentwurfes bei den Tarifvertragsparteien eine enorme - ich sage es ausdrücklich so pädagogische Wirkung hatte. ({1}) Denn daraufhin wurde gehandelt. Ich glaube, die ganze Branche hat gemerkt, dass es ohne gesellschaftliche Akzeptanz nicht möglich ist, Zeitarbeit zu halten. ({2}) - Jurist. Dazu werde ich Ihnen auch gleich noch etwas erklären, Herr Heil. ({3}) - Ohne. Aber Fachanwalt für Arbeitsrecht. Und zu Ihrer etwas missverständlichen Auslegung werde ich Ihnen gleich noch etwas sagen. Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf gleichzeitig eine EU-Richtlinie um. Anders als Rot-Grün bei einigen Richtlinien schießen wir dabei nicht über das Ziel hinaus. Auch darüber haben wir in diesem Haus schon einmal diskutiert. ({4}) In einem zweiten Schritt - da wird die SPD ja mit ins Boot kommen; so habe ich das jetzt auch verstanden werden wir eine Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einführen, und zwar auf Antrag der Tarifvertragsparteien. ({5}) - Herr Heil, wenn ich es richtig verstanden habe, dann haben Sie vorhin von einem „gesetzlichen Mindestlohn“ gesprochen. So habe ich es verstanden. ({6}) - Ja, bitte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Heil, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen? Und Sie möchten sie gerne zulassen, Herr Lange? - Bitte schön.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich lasse sie zu und freue mich auf die Beantwortung.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, weil Sie Fachanwalt für Arbeitsrecht sind, will ich Ihnen das gerne erläutern. Sie werden das dann auch so sehen. ({0}) - Man muss übrigens nicht unbedingt eine Zwischenfrage stellen, Herr Kollege, man kann auch eine Zwischenbemerkung machen. ({1}) Herr Kollege, ich mache es ganz fix, damit wir nicht so lange brauchen. Wir wollten den Weg über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gehen, der zur Erstreckung von tarifvertraglichen Mindestlöhnen eingeübt ist. Ihre Seite wollte den Weg über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, sodass ein Tarifvertrag jetzt nicht klassisch nur erstreckt und zur Grundlage genommen wird, sondern es wird im AÜG gesetzlich eine verbindliche Lohnuntergrenze - sprich: ein Mindestlohn - verankert. Deshalb ist es aus unserer Sicht ein branchenspezifischer, aber gesetzlicher Mindestlohn für die Leih- und Zeitarbeitsbranche. Das können Sie nicht bestreiten. Wenn wir den Weg über das Entsendegesetz gegangen wären, dann wäre es ein Branchentarifvertrag gewesen, den wir für allgemeinverbindlich erklären. Aber das Rechtsinstrumentarium AÜG sieht das bisher noch nicht so vor. Nur zur Aufklärung, okay?

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay. - Ich darf auch gleich darauf antworten: Das Wort „branchenspezifisch“ haben Sie vorhin in Ihren Ausführungen, wenn ich richtig aufgepasst habe, nicht verwendet. Sie hatten ganz allgemein vom gesetzlichen Mindestlohn gesprochen. ({0}) Wir kommen wahrscheinlich am Ende des Tages, wenn wir alle zustimmen, in der juristischen Auslegung zusammen. Frau Kollegin Kramme, Sie haben gesagt, bei Ihnen im Wahlkreis - ich habe nachgeschaut, Sie kommen über die Landesliste in Bayern - würde es Zeitarbeit für 3,50 Euro die Stunde geben. Das kann ich nicht nachvollziehen; das kann nur im Zusammenhang mit Tarifbruch möglich sein. ({1}) Aber die richtige Antwort müssen die Tarifparteien geben. Denn auch der 1. Mai - das ist klar - kann eines nicht: das Wertesystem tarifautonomer Regelungen außer Kraft setzen. Darauf möchte ich ganz besonders hinweisen. Unsere Aufgabe ist es, grenzenlose Lohnunterbietung in einem am Ende grenzenlosen Europa zu verhindern. Das und nicht die Einführung von staatlichen Mindestlöhnen ist die Aufgabe, die wir hier als Gesetzgeber zu leisten haben. ({2}) Am Ende des Tages muss es auch wieder über den Weg der Tarifparteien nach einer mehrmonatigen - ich unterstreiche: mehrmonatigen - Einarbeitungszeit gleichen Lohn für gleiche Arbeit im - jetzt auch wieder gleichen Land geben. ({3}) - Ich habe „nach einer mehrmonatigen“ gesagt. ({4}) - Sechs, sieben, ({5}) acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn. Ich kann weiter zählen. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Krellmann zulassen?

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nur, wenn dieses Mal die Uhr richtig angehalten wird. Bitte mir nicht auch noch meine Zeit nehmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die ist auch vorhin angehalten worden, solange Sie geantwortet haben. - Frau Krellmann, bitte.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, dass Sie meine Frage zulassen. - Wir sind uns einig, dass wir über einfache Arbeit reden, oder? ({0}) In erster Linie reden wir aber über einfache Arbeit. Was glauben Sie, wie lange man braucht, um sich in Dinge einzuarbeiten? Wissen Sie, dass in so gut wie jedem Tarifvertrag schon heute Regelungen über die Einarbeitungszeit enthalten sind? Warum wollen Sie dann noch eine zusätzliche Regelung haben? Die Tarifvertragsparteien haben das doch schon vereinbart, oder?

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Krellmann, damit geben Sie mir ja geradezu die Antwort. Wir überlassen es den Tarifvertragsparteien, weil sie wissen, wie lange man braucht, um sich einzuarbeiten. ({0}) Ich bedanke mich ganz herzlich dafür, dass Sie das, was ich gerade eben gesagt habe, jetzt bestätigt haben. ({1}) Eines möchte ich in diesem Zusammenhang aber auch noch einmal ganz klar sagen: Wenn die Tarifvertragsparteien zu keinem Ergebnis kommen, dann schwingen wir schon noch einmal die pädagogische Keule und dann werden wir auch hier eine gesetzliche Regelung finden; denn eines muss bitte klar sein: Es geht hier nicht um eine Schonfrist für die Branche, ({2}) sondern es geht ganz klar um eine Handlungsfrist für die Tarifvertragsparteien. Das möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich unterstreichen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Idee der seriösen Zeitarbeit ({4}) ist weiterhin richtig. Herr Kollege Heil, das haben Sie damals in rot-grüner Koalition beschlossen, und in dem AÜG-Bericht, der auch noch unter Olaf Scholz, der heute ja schon mehrfach lobend erwähnt worden ist, erstellt wurde, wird dies unterstrichen. Sie haben sich - das halten wir Ihnen zugute - der Verantwortung gestellt. Wir korrigieren heute in erster Lesung die von Rot-Grün verantwortete schrankenlose Zeitarbeit und geben der Zeitarbeit gemeinsam mit Ihnen ein neues Gesicht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir bieten den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit der Brücke Zeitarbeit eine arbeitsmarktpolitisch faire Chance. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute geht es einmal mehr um die Frage: Was ist gute Arbeit? Am besten kann dies sicherlich Frank-Jürgen Weise beurteilen. Er ist bekanntlich Chef der Bundesagentur für Arbeit und der Arbeitsmarktexperte in Deutschland. Seine Kompetenz ist über Parteigrenzen hinweg anerkannt; denn Sie, meine Damen und Herren von RotGrün, haben ihn 2004 in sein Amt berufen. ({0}) Herr Weise wurde nun befragt, ob er den Rekordstand bei der Zeitarbeit für eine gute Sache halte. Seine Antwort lautete: Ja, zu arbeiten sei immer besser, als nicht zu arbeiten. ({1}) Er wurde auch gefragt, ob die Arbeit eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt sei. Seine Antwort lautete wieder: Ja, die Zeitarbeit sei ein Sprungbrett in einen festen Job. Das Wort von Herrn Weise hat Gewicht - eigentlich; es sei denn, es passt gerade nicht in Ihr Konzept. ({2}) Meine Damen und Herren von der SPD, wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, dann wäre dies das Aus für die Zeitarbeit in Deutschland. ({3}) Es wäre auch das Ende für den Turbo am Arbeitsmarkt. Denn jede dritte neue Stelle am Arbeitsmarkt kommt aus der Zeitarbeit. ({4}) Das hat damit zu tun, dass Flexibilität am Arbeitsmarkt erforderlich ist, die nicht grundsätzlich gewährt wird. Deshalb ist Zeitarbeit gefragt. Es wäre aber vor allem ein besonders schwerer Schlag für die Schwächsten am Arbeitsmarkt. Denn die Zeitarbeit gibt gerade denen eine Chance, die vorher keine hatten: Geringqualifizierte, Menschen ohne Schulbildung oder ohne Ausbildung. ({5}) 100 000 ehemalige Hartz-IV-Empfänger haben so allein im letzten Jahr Arbeit gefunden. Zwei Drittel der neu eingestellten Zeitarbeiter waren vorher arbeitslos oder noch nie beschäftigt. Sie haben jetzt Arbeit, und zwar, Frau Müller-Gemmeke, reguläre Arbeit. ({6}) Ich bitte Sie insoweit, einen Blick ins Gesetz zu wagen. Denn wenn Sie statt irgendwelcher Unterlagen nur ein einziges Mal das Gesetz lesen würden, dann würden Sie feststellen, dass jeder Zeitarbeitnehmer Anspruch auf Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz, nach Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz und übrigens auch auf einen Tariflohn hat. Denn die Tarifbindung liegt in der Zeitarbeit bei 98 Prozent. ({7}) Es gibt keine andere Branche mit einem vergleichbaren Niveau. Ich bitte Sie, das endlich zur Kenntnis zu nehmen. Denn es sind Tatsachen, ({8}) die Herr Weise kennt und die Sie ignorieren, weil sie nicht in Ihre Welt passen. ({9}) In dieser Welt steht Zeitarbeit für Lohndumping. Ihr vermeintlicher Beleg auch ganz aktuell in den letzten Tagen war ein fünfseitiger Newsletter des DGB. Danach ist das durchschnittliche Lohnniveau in der Zeitarbeitsbranche niedriger als in der Gesamtwirtschaft. Welche Erkenntnis! ({10}) In der Zeitarbeit haben überdurchschnittlich viele Ungelernte bzw. Hilfsarbeiter einen neuen Job gefunden. ({11}) Es braucht keine Weisheit, um zu wissen, dass Hilfsarbeiter nun einmal weniger Geld verdienen als ein Facharbeiter. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin Connemann, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke zulassen?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollegin Connemann, ich habe eine Nachfrage. Sie reden die ganze Zeit davon, dass die Leiharbeitskräfte unqualifiziert sind, zum Teil nie gearbeitet haben und endlich eine Chance brauchen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass über 60 Prozent der Leiharbeitskräfte eine abgeschlossene Berufsausbildung haben? ({0}) Ich finde es schlimm, dass man bei 1 Million Menschen, die in der Leiharbeit arbeiten müssen, weil es zurzeit keine anderen Jobs mehr gibt, so tut, als wenn sie alle Probleme, Hemmnisse und keine Qualifikation haben und vielleicht auch noch faul sind. Ich finde es langsam unerträglich, dass so über diese Menschen geredet wird. ({1}) Das war der erste Punkt. Ich muss noch einen zweiten Punkt ansprechen. Man tut immer so, als wenn es diese 1 Million Arbeitsplätze in der Leiharbeit nicht gäbe, wenn sie nicht so attraktiv wäre, wie es jetzt der Fall ist. Dazu frage ich Sie: Ist tatsächlich die ganze Branche ein Sozialunternehmen, das nur deshalb Leiharbeitskräfte einstellt, um gute Bedingungen zu bieten? Oder geht es um Auftragslagen, so10518 dass die Jobs auch ohne Leiharbeit besetzt werden müssten?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben eben davon gesprochen, was Sie unerträglich finden. Ich finde es unerträglich, von Ihnen ganz bewusst falsch zitiert zu werden. ({0}) Denn ich habe mit keinem Wort meiner Rede - Sie können das im Plenarprotokoll nachlesen ({1}) in irgendeinem Zusammenhang gesagt, Zeitarbeitnehmer seien faul. Gerade das finde ich unglaublich. Denn Zeitarbeitnehmer sind diejenigen, die eine Chance, die ihnen geboten wurde, ergreifen. Diffamieren Sie nicht immer diese Personen, die ihre Chance ergreifen! ({2}) - Vielleicht hören Sie einfach zu! ({3}) Wenn Sie nicht so schreien würden, dann könnte ich die Frage endlich beantworten. ({4}) - Sie dürfen nicht reden. Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Fraktion darüber reden. Das Zweite ist, dass Sie behaupten, ich hätte gesagt, 60 Prozent hätten keinen Abschluss. ({5}) Das ist vollkommen unzutreffend. Ich habe Ihnen gesagt, dass 100 000 Zeitarbeitnehmer im letzten Jahr einen Job gefunden haben, die zuvor im Hartz-IV-Bezug gewesen sind; das war meine Formulierung. ({6}) Bei diesen 100 000 handelt es sich um Langzeitarbeitslose oder solche, die zuvor noch nie eine Beschäftigung hatten. Ich bitte Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Zeitarbeit baut Brücken in den ersten Arbeitsmarkt. ({7}) Sie haben als Letztes gesagt, die Zeitarbeit sei eine soziale Branche. Das ist sie sicherlich nicht. Die Zeitarbeit ist eine Wirtschaftsbranche - der Kollege Schiewerling hat darauf zutreffend hingewiesen - wie viele andere, ({8}) eine Wirtschaftsbranche, die zum Beispiel an Tarifverträgen teilnimmt, eine Wirtschaftsbranche, die Menschen einstellt und manchmal auch Menschen entlässt. Sie befristet allerdings Arbeitsverträge nicht annähernd in dem Umfang, wie Sie es behaupten. Ein Drittel der Arbeitsverträge ist befristet, wie in allen anderen Wirtschaftsbereichen. ({9}) Die Zeitarbeit ist nicht besser als andere Wirtschaftsbereiche, aber sie ist auch nicht schlechter. Das, was Sie machen, ist eine dauerhafte Diffamierungskampagne auf Kosten von hart wirtschaftenden Betrieben und ihren Mitarbeitern. ({10}) Das ist offensichtlich Ihr Stil, den ich persönlich wirklich abstoßend finde; das sei an dieser Stelle auch gesagt. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Connemann, es gäbe noch den Wunsch von Frau Kipping nach einer Zwischenfrage.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Connemann, Sie haben hier den Eindruck erweckt, die Opposition diffamiere Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen, nur weil wir die Bedingungen und die Praxis der Leiharbeit als Sklavenarbeit kritisieren. ({0}) Ich will an dieser Stelle festhalten, dass das ein ganz hilfloser Dreh Ihrerseits ist, vor der notwendigen Kritik die Augen zu verschließen. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass schon beim gestrigen Treffen des Ausschusses für Arbeit und Soziales mit einer Delegation des DGB einer Ihrer Kollegen versucht hat, diesen Dreh anzuwenden, dass ihm aber vonseiten der DGB-Delegation sehr deutlich widersprochen wurde. Betriebsräte, die die Realität der Leiharbeit in ihren Betrieben selber erlebt haben, haben sehr deutlich gesagt: Wir selber bezeichnen Leiharbeit als Sklavenarbeit, weil wir erleben, dass sie sowohl für die Betroffenen als auch für die Kernbelegschaft, die dadurch gleichermaßen permanent unter Druck gesetzt wird, eine Belastung ist. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. ({1})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kipping, darf ich Ihnen antworten? ({0}) Frau Kollegin Kipping, Sie haben mich angesprochen, und ich werde Ihnen antworten. Die Tatsache, dass Sie diffamieren, zeigt allein die Verwendung des Wortes „Sklavenarbeit“. ({1}) Ich finde es unglaublich, dass annähernd 1 Million Menschen in diesem Land allein durch diese Bemerkung Ihrerseits als Sklaven bezeichnet werden. Das mag vielleicht in früheren Zeiten in anderen Teilen dieses Landes so üblich gewesen sein. Bei uns, in diesem Land, ist das nicht mehr üblich. ({2}) Ich wünsche mir, dass Sie nicht ungeprüft irgendwelche Begrifflichkeiten übernehmen, sondern dass Sie selber Tatsachen und Fakten prüfen. In dem Gespräch, das Sie gestern mit dem DGB geführt haben, haben Sie sicherlich hinterfragt, auf welcher Datengrundlage der besagte Newsletter entstanden ist. Das wird Ihnen der DGB an dieser Stelle vielleicht auch gesagt haben: Zwischenzeitlich hat der Autor dieses Newsletters - das ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachzulesen eine methodische Unschärfe eingeräumt und sich dafür entschuldigt. ({3}) Haben Sie danach gefragt? Haben Sie danach gefragt, dass die Tarife für die Zeitarbeit von DGB-Gewerkschaften, unter anderem von Verdi, abgeschlossen worden sind und dass gemäß diesen Tarifverträgen in der Zeitarbeit flächendeckend ein Grundlohn in Höhe von 7,60 Euro im Westen und ein Grundlohn in Höhe von 6,65 Euro im Osten gelten? Bitte, erklären Sie mir, was das mit Zeitarbeit zu tun hat. Das ist wieder eine reine Diffamierung, für die Sie sich schämen sollten. ({4}) Keiner von uns stellt infrage, dass es schwarze Schafe in der Zeitarbeitsbranche gibt. ({5}) Ja, Firmen wie Schlecker treiben Schindluder mit der Zeitarbeit. Das, was dort geschieht, ist Schein-Zeitarbeit, nichts anderes. Deshalb hat die Bundesregierung gehandelt, auch auf Intervention unseres sozialpolitischen Sprechers Karl Schiewerling und von Dr. Kolb. ({6}) Zukünftig ist deshalb ein „Schleckern“ in Deutschland nicht mehr möglich. Im gleichen Gesetzentwurf setzt die Ministerin die EU-Arbeitsrichtlinie um. Wir tun noch mehr - auch darauf ist hingewiesen worden -: Wir werden im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eine Lohnuntergrenze verankern. Damit schützen wir die Zeitarbeit vor ausländischer Billigkonkurrenz; ({7}) denn der Tariflohn gilt dann für alle. Vielleicht erklärt sich dadurch aber auch die Kampagne des DGB. Zukünftig müssen nämlich er bzw. seine Tochtergesellschaften offen Verantwortung für das übernehmen, was er unterschreibt, ({8}) übrigens auch für alle Vereinbarungen, die jetzt getroffen werden, was das Entgelt, Equal Pay oder die Höchstüberlassungsdauer angeht. Ich bin gespannt, was vorgeschlagen werden wird. Der DGB hat heute unter anderem bei VW protestiert. Ich habe das gesehen. ({9}) VW hat inzwischen zwei Zeitarbeitsunternehmen. In diesen Zeitarbeitsunternehmen werden mehr als 7 000 Mitarbeiter innerhalb des Konzerns verliehen. ({10}) - Übrigens mit Zustimmung der Gewerkschaft. ({11}) Dasselbe Prozedere treffen wir an unter anderem bei DB Zeitarbeit, Vivento Interim Services, BASF Jobmarkt - jeweils mit Wissen und Unterstützung der dortigen Betriebsräte und des DGB.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dies zeigt mir sehr deutlich: Alle, die mit der Frage „Was ist gute Arbeit?“ befasst sind, sind gut beraten, sich nicht von Vorurteilen, sondern von Fakten leiten zu lassen ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- und Verantwortung zu übernehmen. Wir haben dafür den Aufschlag gemacht. Stimmen Sie deshalb dem Gesetzentwurf zu. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Ich will deutlich machen, dass ich mich sehr freue, dass die Kollegen des US-Congress, die unserer Debatte beiwohnen, eine so lebendige Diskussion erleben konnten. Herzlich willkommen hier bei uns! ({0}) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Miss- brauch der Leiharbeit verhindern“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4756, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksa- che 17/4189 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluss- empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zuge- stimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegenge- stimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke hat sich enthalten. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 17/4804 und 17/3752 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro- thee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP 100 Jahre Internationaler Frauentag - Drucksache 17/4860 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Roth ({1}), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gleichberechtigung in Entwicklungsländern voranbringen - Drucksache 17/4846 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Lazar, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Frauen verdienen mehr - Gleichstellung ist Innovationspolitik - Drucksache 17/4852 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. Ich sehe und höre keinen Widerspruch zu der beschlossenen Redezeit. Dann werden wir so verfahren. Besonders willkommen sind uns viele Männer im Saal. ({5}) - Zwar sind Männer bei dieser Debatte willkommen, aber sie müssen nicht unnötig ausführlich auf sich aufmerksam machen, indem sie auch noch hin und her laufen. Ich nehme an, dass sie der Debatte folgen wollen, und zwar in besonderer Weise und mit besonderer Aufmerksamkeit. Als Erster gebe ich das Wort der Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion. ({6})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor 92 Jahren und fünf Tagen eine Sozialdemokratin das erste Mal ihre Rede mit den Worten „Meine Herren und Damen“ eröffnet hat, hat das Protokoll „Heiteres Gelächter“ vermerkt, weil es eben das allererste Mal war, dass vor 92 Jahren und fünf Tagen eine Frau im Parlament das Wort ergriffen hat. Heutzutage lacht bei den Anreden „Meine Damen und Herren“ und „Meine Herren und Damen“ kein Mensch mehr. Deswegen müssen wir einmal festhalten, was sich in den letzten 100 Jahren an dieser Stelle entwickelt hat. Wenn wir jetzt nicht 2011, sondern das Jahr 1911 hätten, dann wären die meisten von uns nicht hier. Die meisten, die hier wären, dürften keine Hosen anhaben. Wahlrecht gab es sowieso keines. Wenn überhaupt einmal eine Erlaubnis bestanden hätte, dann hätte man sich wahrscheinlich auf seinen Ehemann berufen müssen. Wir müssen also festhalten, dass in den letzten 100 Jahren sehr viel passiert ist. Das 100-jährige Jubiläum das Weltfrauentages nehmen wir zum Anlass, zum einen einen historischen Rückblick zu machen und zum anderen, um uns zu fragen, wo wir heute, im Jahr 2011, gleichstellungspolitisch stehen. ({0}) Als 1911 der Weltfrauentag ins Leben gerufen wurde, stand eine Hauptforderung im Raum. Diese Hauptforderung war ein Wahlrecht für Frauen. Auch das können wir uns heute nicht mehr vorstellen. Daneben gab es die Ablehnung des Ersten Weltkrieges. Später wurde dieser Frauentag vor allem durch arbeits- und sozialrechtliche Forderungen getragen. In der DDR wurde dieser Frauentag zunehmend zu einer Art sozialistischem Muttertag. ({1}) Die Frauenbewegung in Westdeutschland hat sich bis in die 90er-Jahre überhaupt sehr schwer mit diesem Tag getan. Aber man muss festhalten, dass sich der Weltfrauentag in den vergangenen Jahren im wiedervereinten Deutschland eine neue Selbstverständlichkeit gegeben hat. Was vor 100 Jahren die Frage nach dem Stimmrecht für Frauen war, ist heute für uns die Frage nach der Besetzung von Frauen in Führungspositionen; denn wir müssen festhalten, dass Frauen in Führungspositionen nach wie vor massiv unterrepräsentiert sind. Wir führen diese Debatte mittlerweile fast jede Woche. Die Zahlen werden von Woche zu Woche nicht besser. Nur 3,2 Prozent der Vorstandssitze in den 200 größten Unternehmen werden von Frauen besetzt. Keinem einzigen Vorstand in den Top-100-Unternehmen steht eine Frau vor. Selbstverständlich sehen wir hier einen ganz konkreten Handlungsbedarf. ({2}) Selbstverständlich widmen wir uns auch dem Thema, was sinnvoll ist, um diese Zustände zu ändern. Wir haben in der Vergangenheit schon öfter über das Thema Quote gesprochen: Quote ja, Quote nein? Wir ringen insgesamt auch in unseren Fraktionen - das ist kein Geheimnis - um die Details. Aber wir wissen, dass das nicht nur ein gesellschaftliches Topthema ist; denn immerhin haben wir dieses Thema auf die Agenda gebracht im Gegensatz zu den vorangegangenen Regierungen. ({3}) Trotz des gekünstelten Gelächters der Oppositionsfraktionen muss man festhalten - dies habe ich schon in meiner letzten Rede angesprochen -, dass Ihre Ministerin, eine gewisse Frau Bergmann, an die sich niemand mehr erinnern kann, es nicht geschafft hat, sich durchzusetzen, weil sie von Schröder ohne Ende abgewatscht wurde, und sich auch noch für Sachen entschuldigen und rechtfertigen musste, die sie nicht wollte. ({4}) Wir stehen neben dem Thema Quote und neben der Geschlechtergerechtigkeit in diesem Land auch zu anderen Themen - auch in unserem Antrag -, nämlich zu der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, was für uns im Vordergrund steht. Was für mich aber noch entscheidender ist als die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil das noch schwieriger durchzusetzen ist, ist die Vereinbarung von Familie und Karriere. Wir setzen uns für den Ausbau der Kinderbetreuung ein. Auch dafür macht diese Regierung sehr viel. Wir wollen flexiblere Arbeitszeitmodelle und sagen: Wir wollen auf keinen Fall, dass es in diesem Land mit der übertriebenen Anwesenheitskultur so weitergeht, die leider Gottes noch immer gilt; denn auch die Qualität steht im Vordergrund, nicht nur die Quantität. ({5}) Wir haben jedes Jahr wieder dieselbe Debatte über die Entgeltungleichheit. Deshalb haben wir das Logib-D eingeführt. Logib-D stößt nicht nur in Europa auf ein ganz großes Interesse. So stellen wir Logib-D morgen, am 25. Februar, auf der 55. Frauenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in New York, die seit Dienstag tagt, einem internationalen Publikum vor, weil jeder von uns lernen und wissen möchte, wie wir das Instrument umsetzen. ({6}) Wir rollen das gesamte frauenpolitische Feld weiter auf. Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu dem wichtigen Thema der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen wollen wir noch weitergehen. Hierzu gehören häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, aber natürlich auch Bräuche, Riten und Traditionen zum Schaden von Frauen. Hierunter fallen für uns ganz besonders die Genitalverstümmelung, die Zwangsehen und die sogenannten Ehrenmorde. Schätzungen zufolge haben 20 bis 25 Prozent aller Frauen mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt erlitten. Deswegen führen wir unser Programm gegen häusliche Gewalt fort. Wir wollen ein bundesweites Hilfstelefon für von Ge10522 walt betroffene Frauen einrichten. Hierzu haben wir bereits die nötigen Mittel in den Haushalt eingestellt. ({7}) Beim Brückenschlag zum Thema 100 Jahre Frauenbewegung und 100 Jahre Weltfrauentag sehen wir, dass sich Frauen seit vielen Jahren für ihre Rechte engagieren. Vieles ist seitdem besser geworden; das darf man auf jeden Fall festhalten. Trotzdem sind wir noch lange nicht am Ziel. Die Frauen haben für ihr Wahlrecht und für die Zulassung an Universitäten gekämpft. Die Frauen haben in diesem Hohen Hause dafür gekämpft, dass sie Hosenanzüge anziehen dürfen. ({8}) Die Frauen mussten gegen unbewusste Rollenbilder angehen und sich gegen gläserne Decken durchsetzen. Ich bin mir aber sicher, dass wir gemeinsam weiterkommen können. Dabei würde es helfen, wenn die Debatte von denselben immer wiederkehrenden reflexhaften Beißreaktionen der SPD befreit würde und wir alle an einem Strang ziehen könnten. ({9}) Dafür wäre ich sehr dankbar. Stellvertretend für alle großartigen Frauen, die sich heute in diesem Hohen Hause befinden, möchte ich eine besondere Frau herausgreifen. Ich darf hoffentlich im Namen aller der Kollegin Katharina Landgraf zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren. Liebe Katharina, alles Gute! ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Caren Marks für die SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 100 Jahre Internationaler Frauentag - in der Tat, welch gleichstellungspolitische Zeitstrecke. Die Koalitionsfraktionen präsentieren uns heute zu diesem Jahrestag einen Antrag, über den sofort abgestimmt werden soll nach dem Motto: heute schnell debattieren, und dann bloß nicht weiter darüber reden. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Über diesen Antrag von Union und FDP lohnt eine weitere Debatte allerdings nicht wirklich. ({0}) Dieser Antrag enthält genauso wenig Substanz wie die Gleichstellungspolitik der Bundesregierung, nämlich keine. Ein Beleg dafür ist folgendes Zitat aus dem Antrag: Der Internationale Frauentag verpflichtet als Feiertag der Frauenbewegung dazu, der Lobbyarbeit von Frauen im politischen Raum Gehör zu schenken und frauenpolitische Projektarbeit zu stärken. ({1}) Ich denke, hier ist kein Kommentar notwendig. Die SPD hingegen meint es mit der Gleichstellungspolitik ernst, so wie bereits vor 100 Jahren. 1911 gingen mehr als 1 Million Frauen auf die Straße und kämpften für ihre Rechte, insbesondere für das Recht, zu wählen. Sieben Jahre später führte die Sozialdemokratie unter erbittertem Widerstand konservativer Kräfte das Frauenwahlrecht ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den zurückliegenden Jahrzehnten hat die Frauenbewegung in Deutschland in der Tat viel erreicht. Ich glaube, darauf können wir stolz zurückblicken. Aber wir sind gleichstellungspolitisch längst noch nicht am Ziel; auch das ist richtig. Frauen und Männer sind zwar juristisch gleichgestellt, nicht aber in der Realität. So gibt es nach wie vor eine strukturelle Benachteiligung von Frauen, insbesondere im Erwerbsleben. Wir suchen Frauen in Führungsetagen noch immer mit der Lupe. Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit - Fehlanzeige. Der Anteil von Frauen im Niedriglohnbereich und in Minijobs ist überproportional hoch, Teilzeitarbeit ist überwiegend weiblich. Die Ursachen dafür liegen in veralteten Rollenstereotypen und auch in der nach wie vor schlechten Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es gäbe also für die Bundesregierung und insbesondere für die zuständige Ministerin einiges zu tun; denn die bis jetzt vorhandenen rechtlichen Rahmenbedingungen helfen Frauen nicht wirklich weiter. Um Benachteiligung abzubauen und eine eigenständige Existenzsicherung zu ermöglichen, sind weitere gesetzliche Maßnahmen unumgänglich. Die Bundesfrauenministerin und die schwarz-gelbe Koalition verharren jedoch in Lethargie. Sie stehen leider für gleichstellungspolitischen Stillstand, Frau Schröder. ({2}) Dabei, Frau Ministerin, müssten Sie, nachdem Sie es schon nicht selbst entgegengenommen haben, nur das aktuelle Gutachten der Sachverständigenkommission für den ersten Gleichstellungsbericht lesen und entsprechend handeln. Aber wie im aktuellen Antrag ersichtlich setzen Sie und die Koalition unbeirrt und ignorant auf Freiwilligkeit, Appelle und Projekte - und das alles vor dem Hintergrund, dass selbstverständliche Frauenrechte immer hart erkämpft werden mussten. Von alleine und mit Freiwilligkeit ging es gleichstellungspolitisch leider nie voran. ({3}) Die SPD streitet deshalb für gesetzliche Regelungen. Sie sind wirklich notwendig, um verkrustete Strukturen aufzubrechen. Wir fordern einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, da dieser vor allem Frauen zugutekäme. Weiter müssen wir für eine Aufwertung von sogenannten typischen Frauenberufen, beispielsweise in der Altenpflege, kämpfen. Nur durch eine gesetzliche Quote von mindestens 40 Prozent wird eine angemessene Vertretung von Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen möglich werden. ({4}) Dass in den 100 größten Unternehmen in Deutschland Frauen nur zu 2,2 Prozent in den Vorständen vertreten sind, ist nicht nur beschämend. Es ist diskriminierend. ({5}) Ein Antrag der SPD zur Quote wird ja morgen diskutiert. Wir fordern endlich gesetzliche Regelungen zur Durchsetzung von Entgeltgleichheit; denn 23 Prozent Lohnunterschied sind skandalös. Wir fordern weiterhin familien- und geschlechtergerechte Arbeitszeitmodelle wie die sogenannte Große Teilzeit für beide Geschlechter und auch ein Rückkehrrecht für Eltern von Teilzeit in Vollzeit. Außerdem fordern wir die gesetzliche Eingrenzung der Minijobs. Immer mehr Minijobs zulasten guter, das heißt existenzsichernder Arbeit sind nicht zu akzeptieren. Minijobs werden für Frauen zur Armutsfalle, ganz besonders im Alter. ({6}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das alles sind konkrete Schritte für die Verwirklichung von Gleichstellung und mehr Geschlechtergerechtigkeit und damit für mehr Fortschritt in unserem Land. Die schwarz-gelbe Bundesregierung einschließlich der Kanzlerin ist jedoch nicht bereit, wirklich aktiv zu handeln und etwas zu ändern. Abschließend möchte ich eine bemerkenswerte Feststellung der Sachverständigenkommission für den ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung zitieren: Die Kosten der gegenwärtigen Nicht-Gleichstellung übersteigen die einer zukunftsweisenden Gleichstellungspolitik bei weitem.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ob das der Bundesfinanzminister weiß? Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sibylle Laurischk hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 100 Jahre Internationaler Frauentag - ein langer Weg von den ersten Forderungen nach dem Frauenwahlrecht über die Kampagne beispielsweise von Elisabeth Selbert zur Formulierung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Art. 3 Grundgesetz liegt hinter uns Frauen. Der Weg ist nicht zu Ende. Seit 1994 steht in Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes Satz 2. Dieser lautet: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Auch die Opposition hatte in der Zeit reichlich Gelegenheit, auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. ({0}) Stichworte wie Equal Pay und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf - anscheinend nur ein Thema für Frauen und leider immer noch nicht für Männer - beschreiben noch offene Punkte. Zurzeit wird das Thema insbesondere an der unzureichenden Zahl von Frauen in Führungsgremien der Bundesbehörden oder der Wirtschaft gemessen. Dies zu ändern, ist Ziel der Koalition von FDP und CDU/CSU. Wir setzen auf einen Stufenplan und den im Mai letzten Jahres überarbeiteten sogenannten Corporate Governance Codex, der Berichtspflichten zum Stand der Beteiligung von Frauen enthält. ({1}) Die Aussage ist klar: Frauen wollen entsprechend ihrer Ausbildung Führungsaufgaben und Verantwortung übernehmen. Angesichts des demografischen Wandels ist dies auch gar keine Frage mehr. Dieses gesellschaftlich und damit auch wirtschaftlich gebotene Ziel muss angesteuert werden - auch von den Männern. ({2}) Das sage ich auch an die Adresse von Herrn Kauder, der mir im Moment den Rücken zuwendet. ({3}) Dieses Ziel ist sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft umzusetzen. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass sich die FDP, seit weit über 100 Jahren eine echte Emanzipationsbewegung, ({4}) auf ihrem nächsten Bundesparteitag im Mai mit einem Satzungsänderungsantrag der liberalen Frauen, in dem eine 40-Prozent-Quote für die Führungsgremien der Partei gefordert wird, auseinandersetzen muss. ({5}) Die Unternehmen sind ihrerseits aufgefordert, zu handeln. Sollten wir keine erhebliche Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen von Unternehmen bis 2013 feststellen können, ist die Einführung einer Quote meines Erachtens absehbar. ({6}) Gleichstellungspolitik ist aber nicht nur ein Thema der Bundespolitik, auch Europa fordert dies ein. So ist das Thema „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ in der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010 bis 2015 verankert. An der Umsetzung dieser europäischen Strategie müssen wir mit Nachdruck arbeiten. Frauen müssen sich klar darüber sein, dass nur ein qualifizierter und ausgeübter Beruf ihrer Altersarmut entgegenwirkt. Trotz des 100. Geburtstages des Internationalen Frauentages: Gewalt gegen Frauen und familiäre Gewalt sind nach wie vor Alltag. Verlässlich finanzierte Frauenhäuser und Unterkünfte für Frauen in Not gibt es auch nach 100 Jahren Gleichstellung noch nicht. In den Kommunen kämpfen die Frauen um jeden Cent zur Finanzierung. Schutz und Hilfe für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder müssen jedoch flächendeckend vorliegen. Die christlich-liberale Koalition hat jetzt zumindest einen Haushaltstitel geschaffen, um eine bundeseinheitliche Notrufnummer für gewaltbetroffene Frauen einzurichten. Unbürokratische Hilfe soll so möglich werden. Ein letztes Stichwort zum Internationalen Frauentag, das Ausländerinnen besonders betrifft: die Bekämpfung der Zwangsheirat. Ein Gesetzentwurf hierzu liegt vor. Es ist vorgesehen, die Mindestbestandszeit einer Ehe zur Begründung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts von zwei auf drei Jahre zu erhöhen. Der Gesetzentwurf hat das Ziel, Opfer von Zwangsheirat besser zu schützen. Die Erhöhung der Ehebestandszeit steht meines Erachtens dazu im Widerspruch. Im Koalitionsvertrag heißt es hierzu, die Erhöhung der Ehebestandszeit sei zu prüfen. Meine Herren, meine Damen, ich bitte um Prüfung. Als Liberale bin ich stolz, einer Emanzipationsbewegung anzugehören, die weit älter als 100 Jahre ist. 100 Jahre Internationaler Frauentag bedeuten 100 Jahre Ringen um Gleichberechtigung. ({7}) Uns Frauen bleibt die Einsicht: Geschenkt wird uns nichts; wir müssen für unsere Rechte immer wieder aufs Neue kämpfen. Wir sollten dies gemeinsam tun. Dann sind wir stark. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Kipping hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 100 Jahre Frauentag - zu den Wurzeln dieses Tages gehören auch folgende Etappen: Am 8. März 1857 streiken in New York Textilarbeiterinnen. Am 8. März 1908 kommen über 100 streikende Textilarbeiterinnen bei einem Fabrikbrand ums Leben, weil sie während des Streiks in der Fabrik eingeschlossen wurden. Vor 100 Jahren wurde der Frauentag in einigen Ländern erstmals am 19. März begangen. Am 8. März 1917 waren es wieder Textilarbeiterinnen, die in Russland gegen Hunger, Krieg und Zarismus streikten. Anknüpfend an diese Arbeitskämpfe wurde der Frauentag von der Zweiten Kommunistischen Frauenkonferenz auf Initiative von Clara Zetkin auf den 8. März gelegt. ({0}) Betrachten wir die Geschichte des Frauentages, so können wir festhalten: Der Frauentag ist nicht bei Kaffeekränzchen entstanden, er ist nicht Blumenrabatten entsprungen, sondern er ist aus Kämpfen um Rechte entstanden. Genau an diese Tradition des Frauentages sollten wir anknüpfen. ({1}) Die Art, den Frauentag zu begehen, hat sich über die Jahrzehnte verändert, aber an der Notwendigkeit, um Frauenrechte zu kämpfen, hat sich nichts, aber auch gar nichts verändert. Kämpfe um Geschlechtergerechtigkeit sind hochaktuell - und das weltweit. ({2}) Geschlechterungerechtigkeit hat viele Gesichter. Das beginnt damit, dass auf den obersten Etagen der Wirtschaft faktisch immer noch „oben ohne“ - also ohne Frauen - gilt. Schließlich sind noch nicht einmal 10 Prozent aller Aufsichtsratsposten in Frauenhand. Es geht damit weiter, dass Frauen im Durchschnitt ein Viertel weniger verdienen als Männer und dass Frauen überdurchschnittlich stark in Minijobs gedrängt werden. Wir wissen: Auf Minijobs folgen Minirenten. Altersarmut ist somit gerade bei Frauen vorprogrammiert. Hier müssen wir deutlich gegensteuern. ({3}) Geschlechterungerechtigkeit geht weiter mit den Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. Das führt zum einen dazu, dass Frauen, die womöglich ihr Leben lang gewohnt waren, von ihrer eigenen Hände Arbeit zu leben, dann, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren und der Partner etwas über den entsprechenden Grenzen verdient, sofort in die Position von Taschengeldempfängerinnen gedrängt werden. Oder es führt dazu, dass Alleinerziehende, die einen neuen Partner kennenlernen, mit diesem faktisch nicht zusammenziehen können, weil er ansonsten sofort als Aufstocker in Hartz-IV gedrängt werden würde, wenn sein geringes Einkommen auf das Einkommen des Kindes angerechnet wird. Bei der Geschlechterungerechtigkeit spielt die ungerechte Verteilung der verschiedenen Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern eine Schlüsselrolle; denn leider ist es immer noch so, dass vor allen Dingen die Hausund Familienarbeit den Frauen obliegt. Sie werden eher in die Rolle der Hinzuverdienenden gepresst, während die Männer die Rolle des Hauptverdienenden übernehmen. Das Ehegattensplitting zementiert diese überkommene alte Arbeitsteilung. Deswegen gehört das Ehegattensplitting abgeschafft. ({4}) - Frau Bär, Sie sagen, das gehört nicht abgeschafft. Damit unterstreichen Sie noch einmal eindeutig, dass Sie diese überkommene Arbeitsverteilung zementieren wollen. ({5}) Das Statistische Bundesamt führt aus, dass die Arbeitsverteilung wirklich ungerecht ist. 75 Prozent der Putzarbeiten und 85 Prozent der Arbeit mit Wäsche werden immer noch von Frauen erledigt. Der Armuts- und Reichtumsbericht weist aus, dass von den Müttern mit Kindern ab sechs Jahren gerade einmal 17 Prozent vollzeiterwerbstätig sind. Diese Zahlen zeigen, wie stark die überkommene Arbeitsverteilung immer noch unseren Alltag bestimmt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Mir geht es nicht darum, Männer oder Frauen mit den angeblichen Segnungen der Erwerbsarbeit zwanghaft zu beglücken. Aber meine Kritik an dieser Verteilung setzt dann an, wenn Menschen - vor allen Dingen Frauen - von der Erwerbsarbeit - entweder aufgrund von überkommenen Geschlechterrollen oder aufgrund eines Mangels an Kitaplätzen - sozusagen weggedrängt werden. Das ist für uns als Linke nicht hinnehmbar. ({6}) Doch reden wir anlässlich einer Debatte über den Frauentag nicht nur über Probleme, sondern auch über Perspektiven, die Mut machen. Für mich ist die von der Feministin Frigga Haug entwickelte Vier-in-einem-Perspektive Mut machend und ermunternd. Diese geht davon aus, dass es vier gleichwertige Tätigkeitsbereiche gibt: erstens die Erwerbsarbeit; zweitens die Sorgearbeit, auch bekannt als Reproduktionsarbeit oder Haus- und Familienarbeit; drittens die Weiterentwicklung bzw. die Weiterbildung, auch vorstellbar als Muße; viertens die Politik, die in einer Demokratie nicht nur Berufspolitikerinnen und Berufspolitikern obliegen sollte. ({7}) Zunehmend begeistern sich Frauen für einen solchen Aufbruch in ein Leben im Viervierteltakt, in dem eine Arbeitswoche aus vier gleichen Teilen besteht: ein Viertel Erwerbsarbeit, ein Viertel Sorgearbeit, ein Viertel Weiterentwicklung und Muße sowie - um das Ganze vollständig zu machen - ein Viertel Politik. Eine konsequente Arbeitszeitverkürzung für Männer und Frauen gleichermaßen wäre die Grundlage für einen Aufbruch in ein solches Leben im Viervierteltakt. ({8}) Kämpfen wir nicht nur am Frauentag, sondern an allen Tagen im Jahr konsequent und engagiert dafür, dass die Erwerbsarbeitszeit verkürzt wird und die vorhandenen Tätigkeitsfelder gerecht zwischen den Geschlechtern verteilt werden. Das heißt, dass ein Großteil der prestigeträchtigen Jobs von Männer- in Frauenhand wechseln muss; im Gegenzug würde man gerne Sorgearbeit abgeben. Kämpfen wir dafür, dass die Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand kommt. Kämpfen wir für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Kämpfen wir für globale soziale Rechte, und sorgen wir dafür, dass aus den Chefsesseln Sitzgelegenheiten werden, die mindestens zu 50 Prozent von Frauen besetzt sind. Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Deligöz das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bär, wenn ich die Entwicklung der Debatten verfolge, höre ich durchaus Zwischentöne aus Ihrer Fraktion: Offenbar nehmen Sie die Frauenpolitik zunehmend ernst. Ich hätte aber gern, dass das durch Taten bestätigt wird. Wenn ich mir Ihren Antrag durchlese und mir das Verhalten Ihrer Ministerin in den vergangenen Wochen anschaue, dann muss ich feststellen: An dem, was Sie zu tun gedenken, ist nicht einmal im Ansatz zu erkennen, dass Sie Frauenpolitik ernst nehmen. ({0}) Stattdessen streiten sich zwei Ministerinnen in der Öffentlichkeit. Die Kanzlerin kommt in Basta-Manier, zieht darunter einen Strich und zieht sich auf die Position zurück, dass der Wirtschaft „noch einmal die Chance gegeben werden“ solle, auf der Grundlage von Absichtserklärungen „freiwillig zu Fortschritten zu kommen“. Jetzt ist es so: Sie kreiden uns an, dass wir vor zehn Jahren, unter der rot-grünen Regierung, über freiwillige Vereinbarungen geredet haben; das sei zu wenig gewesen. ({1}) Warum machen Sie genauso weiter, wenn es angeblich schon vor zehn Jahren falsch war? Dann ändern Sie es doch! ({2}) Wenn es ein Fehler war, dann muss man es jetzt ändern. Kreiden Sie es uns nicht an, sondern machen Sie es heute anders! Noch eines: Es hat mich schon gestört, dass Sie eben „eine gewisse Frau Bergmann“ gesagt haben. Ihre Regierung hat Frau Bergmann zur Beauftragten in einem sehr wichtigen Themengebiet benannt, nämlich bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Sie hat in dieser Gesellschaft einen wirklich wichtigen Auftrag. ({3}) Jetzt sprechen Sie, Frau Bär, aber von „Frau Bergmann, an die sich niemand mehr erinnern kann“, so als ob sie unwichtig sei. Wie ernst nehmen Sie diesen Auftrag, wenn Sie Frau Bergmann dermaßen degradieren? Wie ernst nehmen Sie denn dieses Thema? ({4}) Mit diesen Fragen sollten Sie sich einmal selber befassen. Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Sie sagen in Ihrem Antrag, dass sich die Herausforderungen aus dem Ersten Gleichstellungsbericht ergeben würden. Da schlucke ich ganz schön. Brauchen wir denn in diesem Parlament wirklich Berichte, die erst von den Ministerien und der Regierung abgenommen werden müssen, bevor sie vorgelegt werden, um zu wissen, wie es Frauen in diesem Land geht? Müssen wir es erst schriftlich vorliegen haben? Müssen wir einem Bericht entnehmen, was in diesem Land zu tun ist? ({5}) Was noch viel schlimmer ist: Dieser Bericht liegt eigentlich schon vor; der Sachverständigenrat hat ihn bereits im Januar vorgelegt. ({6}) Nur haben Sie, Frau Ministerin, den Bericht noch nicht abgenommen, sondern gerade einmal Ihren Staatssekretär hingeschickt, um ihn abnehmen zu lassen; dann haben Sie ihn sofort wieder in die Schublade verbannt. ({7}) Jetzt sagen Sie: Wir warten einmal, was die Ministerien dazu sagen. - Was ist denn das für ein Selbstverständnis von einer Frauenministerin? Wenn es nichts mit Ihrem Selbstverständnis zu tun hat, dann seien Sie zumindest so ehrlich, zu sagen, dass Ihnen schlicht und einfach die Ergebnisse nicht gefallen. In dem Bericht steht nämlich, dass noch viel getan werden muss, um echte Chancengerechtigkeit in diesem Land zu schaffen. Dieser Befund gefällt Ihnen nicht. Da ist es viel geschickter, den Bericht in der Schublade verschwinden zu lassen, anstatt ihn uns vorzulegen und im Parlament darüber zu debattieren. Sie müssen schon ehrlich sagen, was Sie mit dem Bericht machen. Jetzt komme ich zum 100. Internationalen Frauentag. Ja, richtig: Viele Frauen haben gekämpft und sind auf die Straße gegangen. Diesen Frauen sind wir etwas schuldig; wir müssen ihre Erbschaft antreten. ({8}) Das, was die Frauen geschaffen haben, verpflichtet. Wenn wir aber in dem Tempo, das die Regierung gerade an den Tag legt, weitermachen, dann sind wir in weiteren 100 Jahren nicht viel weiter. Dann bleiben wir auf der Stelle stehen. In 100 Jahren drehen wir uns dann um und sind dankbar, dass es vor 200 Jahren wenigstens ein paar Frauen gegeben hat, die aktiv geworden sind. Ich sage Ihnen aber auch, was mich an der Diskussion in Deutschland insgesamt stört. Wir haben in den letzten Tagen viel gelesen; viele Bücher sind veröffentlicht worden. In all diesen Debatten reden wir immer über das Trennende zwischen den Frauen: Es werden die Frauen mit Kindern gegen die ohne Kinder ausgespielt, Hausfrauen gegen Berufstätige, Junge gegen Alte, Frauen mit Männern gegen solche ohne Männer, man spricht von freiwilligen Annäherungen oder aber von einer Verpflichtung. Ich finde, wir sollten heute hier im Bundestag den Mut haben, all diese Debatten hinter uns zu lassen; denn konzentrieren müssen wir uns auf die heutigen und künftigen Rahmenbedingungen. Konzentrieren müssen wir uns auf das, was das Parlament, die Politik machen kann, um die Dinge zu verändern und um dieses zu Land gestalten. Ich spreche noch einmal die zehn Jahre Erfahrung mit der Selbstverpflichtung an. Wenn die Politik es nicht wagt, konkrete Schritte und Vorgaben zu machen, wird sich in diesem Land nichts, aber auch rein gar nichts ändern. Wir sind in der Verantwortung, angesichts dieser 100 Jahre Frauentag etwas zu ändern. ({9}) Frau Allmendinger - viel zitiert, heute hier noch nicht sagt: Frauen wollen Kinder und Karriere. Sie wollen alles. Sie sind auf dem Sprung. Sie wollen erwerbstätig sein. - Die Zahl der Erwerbstätigen ist eindeutig gestiegen, und zwar kontinuierlich. Gleichzeitig gibt es auch die bittere Wahrheit: Das Arbeitsvolumen nimmt ab und 37 Prozent - nur 37 Prozent - der Frauen in diesem Land haben einen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob. 84 Prozent der Teilzeitstellen sind von Frauen besetzt. Es gibt noch eine Zahl, die mich selber ehrlich gesagt erschreckt hat, sodass ich zweimal nachschauen musste: Lediglich 25 Prozent der Frauen in diesem Land erziehen minderjährige Kinder. 75 Prozent der Frauen haben entweder keine Kinder mehr im Haushalt oder haben volljährige Kinder. Trotzdem wird auf dem Arbeitsmarkt ein Argument immer gegen sie verwendet. Die Unternehmen und auch die FDP sagen nämlich: Frauen können gar nicht in die Führungsetagen, weil ihnen die Vereinbarkeitsfrage im Weg steht. - Das mag für 25 Prozent gelten. Warum sind die anderen 75 Prozent dann aber trotzdem nicht vertreten? Warum muss man sie dann trotzdem mit der Lupe suchen? Da kann doch das Argument der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf nicht gelten. ({10}) Noch eines: Sie, Frau Ministerin, glorifizieren in der heutigen Ausgabe der Zeit die Ehe. Das kann jeder halten, wie er will. Das ist eine private Sache. Das Steuerrecht und das Sozialversicherungsrecht in Deutschland sind aber doch auf der Grundlage gestaltet, dass Frauen zu Hause bleiben und eben nicht erwerbstätig sind. ({11}) Es führt de facto zur Benachteiligung von Frauen. Solange das so ist, sind wir in der Pflicht, das infrage zu stellen. Wenn die politischen Strukturen Frauen benachteiligen, dann müssen sie geändert werden. Das gilt auch und gerade für die ehebezogenen Leistungen. ({12}) Was müssen wir tun, Frau Ministerin? Zu tun gibt es viel: Gleichstellungsgesetz, Quote, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, eine Weiterentwicklung des Ehegattensplittings zu einer Individualbesteuerung. Die Liste ist lang. Vor allem aber brauchen wir endlich eine Frauenministerin, die auch zur Frauenpolitik steht. ({13}) Politik muss meines Erachtens ermutigen. Sie, Frau Ministerin, entmutigen Frauen. Politik muss gestalten. Sie aber schieben auf. Das ist zu wenig. Dies gilt insbesondere angesichts der Verpflichtung gegenüber all den Frauen, die vor 100 Jahren auf die Straße gegangen sind. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 100. Weltfrauentag ist für meine Generation ein Tag, um Danke zu sagen, Danke für all das, was Generationen von Frauen vor uns erkämpft haben: ({0}) das Frauenwahlrecht, die formale rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit - Dinge, die für uns heute ganz selbstverständlich sind. Deshalb ist der 100. Weltfrauentag ein Feiertag weiblicher Emanzipation, und zwar nicht nur von traditionellen Rollenmustern, sondern junge Frauen emanzipieren sich auch von manchen Vorkämpferinnen weiblicher Emanzipation. ({1}) Viele Frauen meiner Generation haben es satt, sich von anderen Frauen sagen zu lassen, wie man als emanzipierte Frau zu leben hat. ({2}) Wir wollen Wahlfreiheit. Wir wollen uns für Lebensmodelle entscheiden können, und zwar auch für solche, die nicht den Vorstellungen anderer Frauen entsprechen, ohne dafür wahlweise als egoistisch oder feige hingestellt zu werden. ({3}) Deshalb sollte von der heutigen Debatte vor allen Dingen auch einmal folgendes Signal ausgehen: Respekt vor privaten Lebensentscheidungen statt Diffamierung von bestimmten Rollenmodellen. ({4}) Dafür müssen wir uns nur auf etwas verständigen, was eigentlich selbstverständlich ist: Gleichberechtigung ist nicht Gleichschaltung und Gleichsetzung. Gleichberechtigung berücksichtigt die Verschiedenartigkeit von Männern und Frauen. ({5}) - Sie fragen mich, woher ich das habe? Das sage ich Ihnen: Die Frauenrechtlerin Helene Weber hat diesen Satz 1949 vor dem Deutschen Bundestag gesagt, ({6}) und zwar kurz nachdem sie im Parlamentarischen Rat als eine von vier Frauen den wohl revolutionärsten Grundsatz unseres Grundgesetzes erkämpft hat: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft zu fördern - nicht im Sinne von Gleichsetzung, von Ergebnisgleichheit, sondern von Chancengleichheit -, das bleibt unsere gemeinsame Aufgabe, liebe Kolleginnen und auch liebe Kollegen. ({7}) Da ist viel zu tun. Frauen sind in Führungspositionen kaum vertreten. Wir alle sind uns einig, dass sich das ändern muss. Das fängt bei den Arbeitszeiten und bei der Arbeitskultur an. Unsere Arbeitswelt ist gerade in den Führungsetagen auf Männer oder - ich sage es allgemeiner - auf Menschen zugeschnitten, die familiäre Verantwortung delegieren können ({8}) oder die von vornherein auf Familie verzichten. Eine 70-Stunden-Woche nach dem Prinzip „Karriere wird nach Feierabend gemacht“ bezahlen diejenigen mit eingeschränkten Karrierechancen, die nach Feierabend die Kinder bettfertig machen. ({9}) Frauen erwarten deshalb zu Recht mehr von uns als lächerliche Überbietungswettbewerbe der Opposition nach dem Motto: Wer fordert die höchste Quote? Frauen erwarten vielmehr, dass wir bei den Ursachen ungleicher Chancen ansetzen und dass wir ihre Bedürfnisse in den Blick nehmen. ({10}) Wenn Frauen Teilzeit arbeiten, um Zeit für Familie zu haben - gestern konnten wir in einer Allensbach-Studie lesen, dass 59 Prozent der unter 45-Jährigen in Deutschland dieses Modell für das optimale halten -, dann sind diese Frauen doch nicht feige. Das ist eine selbstbewusste Entscheidung, die wir genauso respektieren und ermöglichen müssen wie diejenige, ganz auf den Beruf zu setzen oder ganz für die Familie da zu sein. ({11}) Nicht die Frauen müssen sich also ändern. Ändern muss sich unsere Arbeitswelt. ({12}) Die windelweiche Selbstverpflichtung unter der rot-grünen Bundesregierung 2001 war doch ein Rohrkrepierer. Es gab viel joviales Schultergeklopfe, aber keine Inhalte. Aber so war Gerhard Schröder eben. ({13}) Ich setze deshalb auf gesetzliche Regelungen. ({14}) Erstens. Ich will Unternehmen gesetzlich verpflichten, sich konkrete Zielvorgaben für den Vorstand und für den Aufsichtsrat zu setzen. ({15}) Diese Zielvorgaben können die Unternehmen - anders als es bei Ihrer Selbstverpflichtung der Fall war - nicht ignorieren. ({16}) Zweitens. Die Unternehmen werden auch gesetzlich verpflichtet, diese Zielvorgaben transparent zu machen. Da wird es ruck, zuck Rankings geben. Diese Zielvorgaben müssen vor der Belegschaft, vor dem Betriebsrat, vor einer kritischen Presse und vor der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden. ({17}) Drittens. Ich will Sanktionen, wenn die eigenen Zielvorgaben nicht eingehalten werden, ({18}) zum Beispiel die Anfechtbarkeit von Aufsichtsratswahlen. ({19}) Immer mehr Unternehmen haben sich gerade in den letzten Wochen und Monaten selbst solche Zielvorgaben gesetzt. Das ist nicht mehr nur die Telekom. In den letzten Monaten sind BMW, Daimler, Bosch, Eon, Merck und Airbus hinzugekommen. Es geht also, meine Damen und Herren. Union und FDP setzen auf eine Politik der fairen Chancen, die allen Frauen zugutekommt. Diese Politik hat die Union in den letzten Jahrzehnten geprägt. Es war eine unionsgeführte Bundesregierung, bei der es die erste Frau in einem Bundeskabinett gab: Elisabeth Schwarzhaupt. ({20}) Es war die Union, die vor 25 Jahren das Frauenressort eingerichtet hat. Es war die Union, die die Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei der Rente durchgesetzt hat, ({21}) die einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt hat, ({22}) die die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen durchgesetzt hat, und es war die Union, die den Ausbau der Kinderbetreuung auf den Weg gebracht hat. ({23}) Jetzt geht es darum, die Jungen und die Männer stärker einzubeziehen. ({24}) Wenn wir Frauen zu fairen Chancen verhelfen wollen, dann müssen wir auch Männern die Chance geben, sich von Rollenmustern zu lösen und auf Partnerschaft zu setzen. ({25}) Auch das hat schon Helene Weber gesagt: Es gibt in der Politik wie überall zwischen Mann und Frau eine Partnerschaft. Auf diese Partnerschaft sollten wir bauen. Das muss eine gleichberechtigte Partnerschaft werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Ministerin, Sie können natürlich weiterreden, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass das zulasten der Redezeit Ihrer Kolleginnen und Kollegen geht. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Ich komme zum Schluss. - Setzen wir auf diese Partnerschaft und schaffen wir die Voraussetzung für Wahlfreiheit und selbstbestimmte Entscheidungen von Männern und Frauen. Wir werden das ebenso packen wie die Frauen, die vor 100 Jahren das Wahlrecht erkämpft haben: mit Selbstbewusstsein, mit Stolz und mit einer gesunden Portion Sturheit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Roth das Wort. ({0})

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, die Leidenschaft Ihres Vortrags ({0}) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eigentlich um Wichtiges geht, nämlich um die Frage, wie die Bundesregierung, das Parlament, von mir aus fraktionsübergreifend, Rahmenbedingungen schaffen kann, damit die sicher schon gut fortgeschrittene Gleichberechtigung in Deutschland noch besser wird. ({1}) Das heißt, es geht um Fortschritt und nicht um Pause. Es geht nicht darum, hier zu sagen, was wir alles schon erreicht haben, Frau Ministerin. ({2}) Vor 100 Jahren haben 1 Million Frauen dafür gekämpft, dass das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Damals hat sich die Sozialdemokratie das Frauenwahlrecht auf ihre Fahnen geschrieben. Es bedurfte auch noch einer Revolution im wahrsten Sinne des Wortes, ehe das Frauenwahlrecht 1919 eingeführt wurde. ({3}) Das ging nicht nach dem Motto: Schauen wir mal, wir machen mal eine Quote, und dann gucken wir mal, ob es geht oder nicht. Nein, wir haben Rahmenbedingungen gesetzt. Die Rahmenbedingung war die Einführung des Frauenwahlrechts. Dafür sind wir dankbar, und darauf sind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stolz. ({4}) Ich will mich jetzt nicht nur zu dem Thema Wahlfreiheit einlassen. Es gilt: Wahlfreiheit setzt voraus, dass das, was wir wählen wollen, auch wählbar ist. Es kann aber nicht von Wahlfreiheit gesprochen werden, wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht vorhanden ist. ({5}) Das ist eine Binsenweisheit. ({6}) Ich will auf den Antrag der SPD zu sprechen kommen. Wir nehmen diesen 100. Geburtstag zum Anlass, um nicht nur über Deutschland und die Frauenpolitik in Deutschland zu reden, sondern auch über die Frage der Gleichstellung der Frauen in der Welt, vor allem in Entwicklungsländern. Deshalb ist das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hier ja auch vertreten. Es geht vor allen Dingen darum, dass wir die Unterdrückung der Frauen dort überhaupt erst einmal wahrnehmen. Sie haben wirklich noch einen langen Weg vor sich. Ich weiß das, wir alle wissen das. Es geht in der Entwicklungspolitik im wahrsten Sinne des Wortes auch darum, dass über das Leben von Millionen von Frauen in den Entwicklungsländern entschieden wird. Eine Zahl ist mir heute ganz wichtig: 75 Prozent der unbezahlten Arbeit in diesen Ländern übernehmen die Frauen. Wenn die Frauen nicht bereit wären, diese unbezahlte Arbeit zu erledigen, würden diese Länder ganz anders dastehen. Diese Situation der Frauen muss sich aber ändern. Es ist unsere Aufgabe, dies im Rahmen der Entwicklungspolitik zu unterstützen. ({7}) Die Armut ist weiblich; dies ist auch bei uns so, aber vor allen Dingen dort. Es geht darum, den Frauen in diesen Ländern beispielsweise die Möglichkeit zu eröffnen, nicht nur einen Schulabschluss, sondern auch einen Uni10530 Karin Roth ({8}) versitätsabschluss zu erreichen, auch und gerade um weiterzukommen. Es ist wichtig, dass auch die Vereinten Nationen festgestellt haben, dass die Gleichberechtigung der Frauen - das gilt auch für uns - ein zentrales Thema ist und die soziale Lage der Frauen, insbesondere in den Entwicklungsländern, dadurch verbessert wird. Frauen sind der Motor für wirtschaftliches Wachstum und für soziale Verantwortung. Das gilt natürlich auch bei uns, aber vor allen Dingen in Entwicklungsländern. Die Frauen, die sich dort engagieren, sind ehrgeizig und übernehmen Verantwortung. Interessant ist, dass die Quotenregelungen in diesen Ländern - Frau Ministerin, jetzt hören Sie einmal zu ({9}) dazu geführt haben, dass Frauen in den Parlamenten in Afrika vertreten sind, zum Beispiel in Angola, Burundi, Tansania und Uganda mit über 30 Prozent. Ruanda hat mit über 56 Prozent die weltweit höchste Frauenquote im Parlament. Das kam nicht einfach nur so, sondern wurde durch eine Frauenquote in den entsprechenden Wahlgesetzen erreicht. ({10}) Insofern sollten wir uns hier in Deutschland nichts vormachen: Ohne Frauenquote in den Unternehmen werden wir die Gleichberechtigung nicht erreichen. Das wissen wir im Grunde alle. Die Schonfrist ist zu Ende. Nach zehn Jahren der Selbstverpflichtung der Unternehmen ist jetzt Schluss. Ich hoffe, dass das Thema morgen noch einmal einen besonders prominenten Part bekommt. ({11}) Wir sind der Meinung: Die Frauen in den Entwicklungsländern setzen auf uns als Vorbild. Dass wir in den Parlamenten so gut vertreten sind, ist ja auch ein Ergebnis der Frauenquote in den Parteien. ({12}) Diejenige Partei, die noch keine Frauenquote hat, überlegt sich ja zurzeit, eine einzuführen. Das wissen wir. ({13}) Wir wollen Sie ermuntern: Führen Sie die Frauenquote ein! Entscheidend für uns Frauen, die etwas bewegen wollen - Frau Ministerin, natürlich gemeinsam mit den Männern, partnerschaftlich sowieso -, ist, dass wir die entscheidenden Prioritäten setzen und Strukturen schaffen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Roth, achten Sie bitte auf die Zeit.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- Danke. - In der Entwicklungspolitik, Frau Staatssekretärin, brauchen wir natürlich weiterhin Genderpolitik. Wir brauchen weiterhin die Zielgrößen und die entsprechende Finanzierung. Wir brauchen im Entwicklungsbereich die Unterstützung der Frauenpolitik und der Frauenorganisationen in diesen Ländern. Das ist zentral. Das gilt im Übrigen auch für die Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Dies muss ein Ende haben. Dafür müssen wir eintreten. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Bracht-Bendt das Wort. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 1911 zogen in Berlin die Frauen auf die Straße, um für das Frauenstimmrecht zu kämpfen. Auch 100 Jahre nach Einführung des Internationalen Frauentages sind Frauen häufig schlechter gestellt als die Männer. Frauen sind in vielen Ländern bis heute die Schwächsten der Gesellschaft. Unter dem Vorwand der Tradition werden Mädchen von Bildung ausgeschlossen. Weltweit sind 12 Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung. In Deutschland ist die Gleichheit von Männern und Frauen in Art. 3 des Grundgesetzes verankert. Dennoch - das wissen wir alle - sind wir noch nicht am Ziel; ich sage als Stichwort nur Entgeltgleichheit bzw. Entgeltungleichheit. Deshalb ist der Internationale Frauentag ein guter Anlass, um Probleme beim Namen zu nennen. ({0}) Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. In den letzten 15 Jahren ist die Zahl der Familienernährerinnen deutlich gestiegen. Im Westen stieg die Zahl von 6,3 auf 9,5 Prozent, im Osten von 10,4 sogar auf 13,1 Prozent. ({1}) Viele Frauen werden nicht freiwillig zu Hauptverdienerinnen; Sie haben recht. Sie werden es, wenn zum Beispiel plötzlich der Mann arbeitslos wird. Hinzu kommt die steigende Zahl der Alleinerziehenden. Deshalb werden Fragen der Einkommens- und Aufstiegschancen von Frauen immer bedeutender. Obwohl in Deutschland 51 Prozent der Hochschulabsolventen Frauen sind, beträgt der Verdienstunterschied 23 Prozent. In Europa haNicole Bracht-Bendt ben wir damit die rote Laterne; da gibt es nichts zu beschönigen. ({2}) Die Ursachen sind vielfältig. Deshalb muss an verschiedenen Stellen - ich sage: an verschiedenen Stellen angesetzt werden. ({3}) Es beginnt bei der Berufsauswahl; das liegt mir besonders am Herzen. Hier dominieren immer noch traditionelle Bilder. Jungen lernen Kfz-Mechatroniker und Industriemechaniker, Mädchen werden Verkäuferin, Friseurin oder Bürokauffrau. Aber leider entscheiden sich Mädchen oft für Berufe, die von vornherein eine Einbahnstraße sind. Damit verbunden sind häufig ein niedriges Einkommen und wenige Aufstiegsmöglichkeiten. Wir müssen die Ausbildung von Frauen in technischen Fächern fördern. ({4}) Es reicht nicht, wenn einmal ein Berufsberater in die Schule kommt. „Fit machen fürs Leben“ muss in der Schule immer wieder Thema sein. Eine andere Frage lautet: Warum bekommt ein KfzMechatroniker mehr Gehalt als eine Altenpflegerin? Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Die Unterbewertung von sozialen Berufen zu beenden, ist für mich ein gesellschaftliches Anliegen. Das müssen wir in Angriff nehmen. Ich bin froh, dass Gesundheitsminister Rösler in der Pflege einen Schwerpunkt setzt. ({5}) Ein anderer Grund, warum Frauen statistisch gesehen weniger verdienen als Männer, sind die Erwerbsunterbrechungen; sie wurden schon mehrmals angesprochen. Anders als in Frankreich und Skandinavien steigen viele Frauen in Deutschland mehrere Jahre aus dem Berufsleben aus, um sich ganz der Erziehung der Kinder zu widmen. Viele Frauen arbeiten Teilzeit - wir hörten vorhin: 84 Prozent -, und zwar nicht, weil sie dazu gedrängt werden, sondern weil viele Frauen Teilzeit arbeiten wollen - ich wiederhole: arbeiten wollen. Das muss klargestellt sein. Jeder Monat, den eine Frau im Beruf aussetzt, bedeutet Abstriche bei der Rente. Ich glaube, dass viele Frauen die Änderungen im Unterhaltsrecht nicht kennen. Vor dem Hintergrund, dass jede zweite Ehe geschieden wird, ist eine längere Auszeit aus dem Beruf gefährlich. Deshalb wird das erfolgreich gestartete Aktionsprogramm „Perspektive Wiedereinstieg“ von großer Bedeutung sein. Altersarmut von Frauen ist für mich ein Schreckgespenst. Gleichstellungspolitik muss darauf abzielen, soziale Risiken in den Lebensläufen und Erwerbsbiografien zu erkennen, und eine Bandbreite von Möglichkeiten bereithalten. Im Mittelpunkt muss der Abbau von Stereotypen bei Bildung, Ausbildung und Beschäftigung stehen. Gleichstellungspolitik für heute und morgen muss Vielfalt bedeuten. Familienfreundliche Personalpolitik in Unternehmen - sie wurde schon mehrmals angesprochen - muss Hand in Hand gehen mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten, das Berufsleben individuell zu gestalten. Bei der Gleichstellungspolitik müssen wir alle ran: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Aber wir wollen keine Ergebnisgleichheit. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ziegler für die SPD-Fraktion - wenn der Kollege Wunderlich sie bitte vorbeilässt. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Männer stehen uns eben doch öfter einmal im Weg. ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die französische Regierung gilt ja nicht unbedingt als Hort linken Sektierertums. Und doch hat gerade Frankreich unter seinem konservativen Präsidenten Sarkozy beschlossen, dass bis 2017 40 Prozent der Aufsichtsrats- und Verwaltungssitze mit Frauen besetzt sein müssen. Damit hat Frankreich das nachvollzogen, was Norwegen bereits vor Jahren erfolgreich eingeführt hat, nämlich gesetzliche Quotenregelungen, um den Stillstand in Sachen Gleichstellung endlich zu überwinden. Das ist natürlich im Interesse der Frauen, aber - seien wir ehrlich - auch im Interesse der Unternehmen selbst. Wir wissen genauso wie die Franzosen und die Norweger, dass freiwillige Maßnahmen nahezu wirkungslos sind. Wir haben es mehrfach betont: Das, was wir uns erhofft haben, ist seit zehn Jahren nicht in dem Maß eingetreten, wie wir es uns vorgestellt haben. Die Menschen sehen das und ziehen ihre Schlüsse daraus. Ich freue mich, dass auch die FDP-Frauen zum Teil ihre Schlüsse daraus gezogen haben. Wir werden also immer mehr. Wir werden Zeugen eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels. Immer mehr Frauen und Männer sagen: Wir brauchen keine freiwilligen Maßnahmen, sondern verbindliche gesetzliche Regelungen. Was aber tut unsere Ministerin Schröder? Einzig bei ihr und bei der Bundesregierung zeichnet sich leider keinerlei Erkenntnisgewinn ab. Sie verkündet immer wieder unverdrossen, wiederum ein Gesetz vorlegen zu wollen, mit dem sie erneut auf Freiwilligkeit bei den Unternehmen setzt. Als mögliche Sanktion hebt sie den Zeigefinger ({1}) mehr ist nicht. Das kann nicht sein. So viel Naivität können wir nicht mehr zulassen. ({2}) Um die Gleichstellung endlich voranzutreiben, braucht es die ganze Frau. Ihre Kollegin von der Leyen ist da von einem anderen Kaliber; das haben wir in den letzten Wochen erlebt. Um von ihren Versäumnissen bei Hartz IV abzulenken, hat sie flugs eine 30-Prozent-Quote für Frauen in Aufsichtsräten gefordert. Leider ist sie dann von unserer Bundeskanzlerin Merkel zurückgepfiffen worden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bär, das Versagen der Frauenministerin kommt uns teuer zu stehen. Denn wenn Frauen weiterhin vergebens auf gleiche Teilhabe in Wirtschaft und Gesellschaft warten müssen, ({4}) dann schwindet das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen. Die Bemerkung bzw. Unterstellung der Ministerin, wenn sich Frauen für Teilzeit entschieden, dann sei das frei gewähltes Schicksal, fand ich ziemlich vermessen. Das ist für viele Frauen purer Hohn. ({5}) Der Schaden, den Ihre Untätigkeit anrichtet, lässt sich auch konkret in Cent und Euro beziffern. ({6}) Denn Frauen, die man mit Niedriglöhnen abspeist - Frau Bär, davon haben Sie sicherlich noch nichts zu spüren bekommen -, sind später häufig von Altersarmut betroffen. Auch die Vernachlässigung unserer gut ausgebildeten weiblichen Fachkräfte in der Wirtschaft bedeutet für diese Wirtschaft Milliardenverluste. Man muss sich einmal hinsetzen und die Fakten genau anschauen. ({7}) Die Kosten für eine aktive und wirkungsvolle Gleichstellungspolitik wären sehr viel geringer. Deshalb kann ich Ihnen wirklich nur noch einmal ins Stammbuch schreiben: Lesen Sie das Gutachten! Ziehen Sie für den ersten Gleichstellungsbericht kluge Schlüsse aus dem Gutachten, und lassen Sie es nicht in der unteren Schublade verschwinden! Wir befürchten allerdings, dass genau das passiert. Deshalb bleibt unseren Frauen wohl nur übrig, auf die nächste Wahl zu warten. Ich verleihe aber meiner Erwartung und Hoffnung trotzdem noch einmal Ausdruck und sage: Es gibt viele Frauen in der Koalitionsfraktion, die so denken wie wir. Lassen Sie uns doch einfach einmal gemeinsam eine Initiative starten! ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Fischbach hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Frau Marks, wir haben heute eine Chance verpasst; das haben Sie gerade wieder belegt. Wenn unsere Mütter und Großmütter das Thema Frauen und Gleichberechtigung vor 100 Jahren so angegangen hätten, dann hätten sie es, glaube ich, nicht geschafft, dass Frauen heute gleichberechtigt, selbstbewusst und eigenverantwortlich leben können. ({0}) Aber sie haben eines besser gemacht als wir. Dass wir das heute in dieser Debatte zum Teil nicht hinbekommen haben, stimmt mich etwas traurig; ich hätte die Chance gern genutzt. Anstatt dass wir uns an den Stellen, an denen wir gemeinsam etwas erreichen können, gemeinsam auf den Weg machen, schaffen wir es immer wieder, uns gegenseitig - ({1}) - Sehen Sie, das ist genau der Punkt, Frau Humme: Ein bisschen mehr Ruhe, den anderen ausreden lassen, ihn respektieren, auch seine Entscheidung respektieren, ({2}) das wäre ein guter Weg. Frau Marks, Sie haben gesagt, von alleine gehe gleichstellungspolitisch nichts voran; da haben Sie recht. Aber es geht auch nichts voran, wenn wir die Männer nicht mitnehmen. ({3}) - Nicht „die Armen“, Frau Roth, das ist genau falsch. Das ist genau der Punkt, der uns alle Möglichkeiten, die wir haben, kaputtmacht. Wir brauchen Mehrheiten. Wenn die Männer nicht mitziehen, können wir uns so weit aus dem Fenster lehnen, wie wir wollen. Wir müssen die Männer mitnehmen. Das haben unsere Großmütter und Mütter früher auch geschafft. ({4}) Sie haben die Männer überzeugt, dass es richtig war. Wir wollen das ja nicht, weil wir angeblich besser sind, sondern wir haben andere Dinge zu bieten; denn wir sehen die Dinge anders. ({5}) Wir gehen aufgrund unserer Entwicklung und Geschichte pragmatischer an die Dinge heran und treffen Entscheidungen anders. Deswegen ist es wichtig, dass wir davon überzeugen, dass dann, wenn Frauen mitmischen - an allen Stellen und in allen Bereichen -, bessere Ergebnisse erzielt werden. Das gilt genauso für Aufsichtsräte und Vorstände. Alle Unternehmen, die Frauen in der Führungsriege haben, schreiben bessere Ergebnisse. ({6}) Ich finde es wirklich schade, dass wir diese Chance heute vertun. ({7}) Es ist ein 100. Geburtstag. An dieser Stelle sollte man doch wirklich einmal schauen, was wir gemeinsam auf den Weg bringen können, und nicht immer dazwischenrufen. ({8}) Es gibt Forderungen, die wir gemeinsam durchsetzen müssen. Es ist für mich und für viele junge Frauen nicht hinnehmbar, dass Frauen in Deutschland bei gleicher Ausbildung und gleichwertiger Arbeit heute noch 23 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. ({9}) Lassen Sie uns doch einmal an die Ursachen herangehen, gemeinsam Grenzen überschreiten und sagen: Das wollen wir jetzt verändern; das ist unsere Aufgabe, die wir gemeinsam angehen. - Ich glaube, hierfür brauchen wir bei unseren Kollegen gar keine große Überzeugungsarbeit zu leisten. ({10}) Vielleicht müssen wir vermehrt bei den Gewerkschaften Überzeugungsarbeit leisten, die die Löhne ja auch ausverhandeln. Wenn ich mir die dortigen Vorstandsriegen anschaue, dann muss ich ganz ehrlich sagen: Für Tarifabschlüsse sind vorrangig Männer verantwortlich. ({11}) - Sie handeln doch die Tarifverträge aus. Da müssen Sie hier nicht den Kopf schütteln. ({12}) - Aber Boni und Sonderzahlungen. Haben Sie schon einmal an Verhandlungen teilgenommen? Wer denkt denn daran, dass Frauen andere Erwerbsbiografien oder auch Erwerbsbrüche in ihrer Biografie haben? ({13}) Hier muss man doch ansetzen und dafür sorgen, dass die Situationen anders bewertet werden. ({14}) Wie wird denn Teilzeitarbeit bei uns bewertet? Auch hier müssen wir etwas tun. Sie sehen es doch: Sie reagieren genau so, wie man nicht reagieren sollte. ({15}) - Das ist genau der Punkt. Wenn man die Gewerkschaften auch einmal in die Pflicht nimmt, dann sagen Sie: Die haben nichts damit zu tun, das müssen die Unternehmen machen. - Ich möchte, dass sich die Gewerkschaften nach 100 Jahren auch den Frauenfragen verpflichtet fühlen. ({16}) Sie können 100-mal dagegenrufen; das nützt nichts. Das sind diejenigen, die verhandeln. Ich wünsche mir, dass auch in den Gewerkschaften Frauen an der Spitze sind. Für andere Bereiche werden entsprechende Forderungen aufgestellt. Warum nicht in Bezug auf die Gewerkschaften? Wir müssen mit bestem Beispiel vorangehen. Wir als CDU/CSU-Fraktion können das. Die Frau Ministerin hat noch einmal deutlich gemacht - dafür bin ich sehr dankbar -, welche gleichstellungspolitischen Erfolge unter einer CDU/CSU-Bundesregierung erzielt wurden. ({17}) Es gab Zeiten - das geben wir ehrlich zu -, in denen das nicht das große Thema war. Da hatten wir andere Probleme, die wir lösen mussten, und das Thema trat etwas in den Hintergrund. Das bedeutet aber nicht, dass wir das Schiff nicht wieder gemeinsam in Fahrt und auf den Weg bringen können. Ich finde, wir haben eine gute Chance, gemeinsam für Verbesserungen zu sorgen, damit die Grundsatzarbeit, die unsere Mütter und Großmütter geleistet haben, nicht umsonst war. Lassen Sie uns die Arbeit fortführen. Ich möchte mit einem Auszug aus der Stellungnahme des Katholischen Frauenbundes in Deutschland schließen, der zu seinem 100. Geburtstag geschrieben hat: Heute nutzen wir die Möglichkeiten unserer Zeit, um einen Neuaufbruch zu schaffen - mit dem Ge10534 wicht der hundertjährigen Geschichte im Gepäck, mit dem Wind der hundertjährigen Geschichte im Rücken. Morgen werden unsere Töchter dort das fortsetzen, wozu heute die Zeit für Veränderungen noch nicht reif war. Sie werden dies tun, wenn wir mutig auch für jene Forderungen eintreten, die nicht selbstverständlich Beifall finden. Dazu lade ich Sie herzlich ein. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Schön für die Unionsfraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ungarische Schauspielerin Zsa Zsa Gabor hat einmal gesagt: Wenn ein Mann zurückweicht, weicht er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können. ({0}) Das ist ein schönes und passendes Zitat, wenn wir in diesen Tagen den 100. Geburtstag des Weltfrauentags feiern. Es ist ein Tag mit einer beeindruckenden und wechselvollen Geschichte. Diese Geschichte haben wir im Antrag der Regierungskoalition bewusst in den Vordergrund gestellt. Liebe Kollegin Marks, Sie haben diesen guten Antrag eben kritisiert. Ich frage mich, warum die Oppositionsparteien nicht selber einen Antrag zum 100. Jahrestag vorgelegt haben. ({1}) Die Grünen haben einen Antrag vorgelegt, der aber auf einen speziellen Teil des ganzen frauenspezifischen Spektrums reduziert ist. Das finde ich sehr schade. Wir erinnern in unserem Antrag an die Genese der Frauenbewegung, an ihren unterschiedlichen Verlauf in Ost und West - die Kollegin Bär hat das dargestellt und auch an die weltweite Bedeutung dieses Tages. Wir erinnern an all die Verbesserungen für Frauen und an diejenigen, die dazu beigetragen haben. Wir definieren in unserem Antrag aber auch zukünftige Herausforderungen. Denn 100 Jahre Weltfrauentag sind nicht nur ein Grund zum Feiern, sondern in erster Linie Ansporn und Verpflichtung für die nächsten 100 Jahre. ({2}) Ich will kurz auf die Herausforderungen eingehen. Ich sehe die Hauptherausforderung derzeit darin, in unseren Anstrengungen nicht nachzulassen. Denn gerade weil schon so vieles erreicht wurde, scheint das Thema vor allem junge Menschen nicht sonderlich zu interessieren. Studien bestätigen das. Fragt man 20-jährige Frauen und Männer nach ihrer Meinung zur Gleichstellung, wie es in der Sinus-Studie der Fall war, so stellt man fest, dass sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass sie gleiche Chancen haben. Bei genauer Nachfrage werden die Unterschiede im Rollenverständnis und in den Lebensentwürfen jedoch sehr wohl erkennbar. Dabei wird deutlich: Gleichberechtigung ist noch längst nicht in allen Köpfen angekommen. Das ist aber notwendig. Denn nur dann, wenn sich im Denken etwas ändert, wird sich auch in der Praxis etwas ändern. Umgekehrt gilt: Nur dann, wenn sich in der Praxis etwas tut, wird sich auch im Denken etwas ändern. Dass es in der Praxis Nachholbedarf gibt, ist deutlich geworden. Die einzelnen Punkte sind heute Nachmittag oft genug genannt worden: Frauen in Führungspositionen, in der Wissenschaft und in den Hochschulen, in den Medien, sowohl aktiv als auch passiv - das ist noch nicht angesprochen worden -, aber auch die politische Partizipation auf allen Ebenen. In all diesen Bereichen schlummern noch große Potenziale. Dabei geht es nicht darum, wie Herr Ackermann vielleicht glaubt, etwas farbiger und schöner zu machen, sondern es soll schlicht und einfach fairer und besser gemacht werden. ({3}) Das Thema ist nach wie vor aktuell. Es besteht nach wie vor Handlungsbedarf, was das Denken und die Praxis angeht. Ich wünsche mir, dass der Weltfrauentag in diesen Tagen dem Ganzen neuen Schwung gibt, und zwar mit Ihrer aller Unterstützung. Wir sollten am 8. März unser Augenmerk allerdings nicht nur auf die Frauen als Gestalterinnen richten, sondern auch auf die Verbrechen, die ihnen angetan werden. Tagtäglich werden Frauen misshandelt, missbraucht und zum Verkauf ihres Körpers gezwungen. Um diesen Frauen zu helfen, gibt es viele Hilfsorganisationen und Angebote. Ich denke, auch der 100. Weltfrauentag ist eine gute Gelegenheit, um all den Menschen, die sich für diese Frauen einsetzen, ein Wort des Dankes zu sagen. ({4}) Auch auf internationaler Ebene bestehen noch große Herausforderungen. Weltweit werden Frauen als Mittel der Kriegsführung vergewaltigt. Bei Kriegen und Katastrophen sind gerade Frauen die Hauptleidtragenden. Man muss aber auch sehen, dass es gerade die Frauen sind, die in von Kriegen und Naturkatastrophen zerrütteten Ländern die Gesellschaft zusammenhalten. Es sind die Frauen, die Aufbauarbeit, Versöhnungs- und Zukunftsarbeit leisten. Es sind starke Frauen in den Entwicklungsländern und Krisenregionen, die am heutigen Nadine Schön ({5}) Tag besonders unseren Respekt und unsere Solidarität verdienen. Gerade in diesen Tagen haben wir es tagtäglich vor Augen: In Tunesien, Ägypten und Libyen werden wir Zeugen einer nie für möglich gehaltenen Demokratisierungsbewegung. Dabei marschieren häufig die Frauen vorweg. Es sind mutige Frauen, denen am Weltfrauentag unsere Solidarität gilt. ({6}) Ich freue mich, dass wir in diesen Tagen und auch zukünftig intensiv über diese Themen diskutieren können. Ich bin stolz darauf, den 100. Jahrestag des Weltfrauentags mit Ihnen und all den Frauenverbänden und -organisationen sowie den Gleichstellungsbeauftragten, die in diesen Tagen in Berlin tagen, und natürlich mit allen Frauen feiern zu können. Ich sage: Happy Birthday, auf die nächsten 100 Jahre und darauf, dass wir Frauen in diesen 100 Jahren noch oft zurückweichen, allerdings nur um Anlauf zu nehmen! Danke. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4860 mit dem Titel „100 Jahre Internationaler Frauentag“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. ({0}) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4846 und 17/4852 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Bettina Herlitzius, Friedrich Ostendorff, Undine Kurth ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs Beschränkung der Massentierhaltung im Außenbereich - Drucksache 17/1582 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) - Drucksache 17/4724 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Götz Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir später namentlich über diesen Gesetzentwurf abstimmen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich würde gern die Aussprache eröffnen, werde das aber erst tun, wenn all diejenigen, die an dieser Debatte teilnehmen wollen, einen Sitzplatz gefunden haben und alle anderen ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaales fortsetzen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Götz für die Unionsfraktion. ({3})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Jahr wollen wir das Baugesetzbuch anpassen und die Baunutzungsverordnung ändern. Dabei geht es vor allem darum, den Klimaschutz stärker zu verankern, den Vorrang der Innenentwicklung zu stärken und die Genehmigungsverfahren weiter zu entbürokratisieren. Das ist nichts Neues, sondern steht so in der Koalitionsvereinbarung. Es macht allerdings wenig Sinn, Woche für Woche jede einzelne Bestimmung im Baugesetzbuch oder in der Baunutzungsverordnung kleckerweise hier im Plenum auf die Tagesordnung zu setzen. ({0}) Es ist purer Aktionismus, wenn die Grünen ständig neue Einzelanträge zum Bauplanungsrecht produzieren. Heute ist es der Außenbereich nach § 35 des Baugesetzbuches. Einmal geht es um die Spielhallenproblematik in der Baunutzungsverordnung, ein anderes Mal um Kinderlärm in Wohngebieten. ({1}) Hierzu ändern wir übrigens gerade das Bundes-Immissionsschutzgesetz. Außerdem haben wir erklärt, dass wir zusätzlich die Baunutzungsverordnung ändern werden, um Rechtssicherheit zu schaffen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, machen Sie konstruktiv mit, wenn wir wie vorgesehen das Bauplanungsrecht insgesamt novellieren! Lassen Sie einfach diese Spielchen mit Einzelanträgen! Sie verwirren damit nur die Leute vor Ort, die mit dem Baugesetzbuch wirklich arbeiten müssen. ({3}) Das Gesetzgebungsverfahren für das gesamte Bauund Planungsrecht wird gründlich vorbereitet. Ich begrüße, dass das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung das Deutsche Institut für Urbanistik damit beauftragt hat, eine Reihe von Expertengesprächen mit dem Titel „Berliner Gespräche zum Städtebaurecht“ durchzuführen. Auf diesem Weg konnten frühzeitig Erfahrungen von Experten, und zwar aus der Wissenschaft und der Praxis vor Ort, gewonnen werden. Es war auch selbstverständlich, dass die kommunalen Spitzenverbände ebenso frühzeitig in dieses Verfahren eingebunden waren. Die durchgeführte Auswertung ist eine ausgezeichnete Grundlage für die anstehende Novellierung des Baugesetzbuchs und der Baunutzungsverordnung. ({4}) Diese Auswertung bestätigt nochmals, dass sich das geltende Bau- und Planungsrecht dem Grunde nach bewährt hat. Es wird in den Städten und Gemeinden in hohem Maße akzeptiert. Deshalb sind - auch das sage ich an dieser Stelle - revolutionäre Veränderungen nicht zu erwarten. Vielmehr wird es im Wesentlichen darum gehen, die bestehenden Planungsinstrumente weiterzuentwickeln und fortzuschreiben. Dabei ist auch klar, dass wir die Belange des Klimaschutzes und die Anpassungen an den Klimawandel als dauerhafte Zukunftsaufgabe der Städte und Gemeinden stärker verankern werden. Klimaschutz hat vor allem eine städtebauliche Dimension. Ihm können die Gemeinden bei ihren Vorgaben zur örtlichen Bodennutzung Rechnung tragen. Wir wollen im Bau- und Planungsrecht den Bereich der Entwicklung von Windenergie an Land angemessen regeln. Dies entspricht übrigens den Grundzügen unseres bereits beschlossenen Energiekonzepts. Konkret geht es dabei um die Absicherung des Ersatzes alter durch neue Windenergieanlagen. Davon sind sowohl Anlagen im Bebauungsplangebiet als auch im Außenbereich betroffen. Wenn wir über Änderungen in Bezug auf den Außenbereich nachdenken, sind wir ganz schnell bei der privilegierten landwirtschaftlichen Nutzung, mit der wir uns ebenfalls auseinandersetzen müssen. Wir wissen sehr wohl, dass die Ansiedlung von Anlagen der Intensivtierhaltung im planungsrechtlichen Außenbereich in bestimmten Regionen stark zugenommen hat. Dies führt vor Ort zu entsprechenden Nutzungskonflikten in den Gemeinden. Deshalb war dieses Problem auch Thema der eingangs von mir zitierten „Berliner Gespräche zum Städtebaurecht“. Dort war man überwiegend der Auffassung, dass die Kommunen nach der geltenden Rechtslage über eine Reihe von bauplanungsrechtlichen Steuerungsinstrumenten verfügen, um mit den Nutzungskonflikten umgehen zu können. Die Kommunen haben heute einen ganzen Instrumentenkasten, aus dem sie das Passende für ihre Gemeinde auswählen können, von der Aufstellung eines einfachen Bebauungsplanes für den Außenbereich nach § 30 Baugesetzbuch über die Aufstellung mehrerer Bebauungspläne, die den Außenbereich der Gemeinde ganz oder teilweise erfassen, bis zur Ausweisung von Sondergebieten in Bebauungsplänen für gewerbliche Tierhaltungsbetriebe. Im letztgenannten Fall würde außerhalb dieser Gebiete in der jeweiligen Gemeinde der gesamte Privilegierungstatbestand nicht mehr greifen. Das heißt, ein geplantes Bauvorhaben muss unter Hinweis auf das Sondergebiet nicht mehr genehmigt werden. Es gibt also vor Ort viele Möglichkeiten, mit dieser Problematik umzugehen. Sie muss allerdings auch genutzt werden. Die Entscheidung darüber treffen nicht wir hier in Berlin, sondern ausschließlich die Gemeinden in Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten, ({5}) und das ist auch in Ordnung. Sie tun dies im Rahmen ihrer kommunalen Planungshoheit. ({6}) Meines Wissens sind zum Beispiel im Landkreis Emsland gegenwärtig mehrere Gemeinden dabei, mit den Instrumenten der geltenden Bauleitplanung die Entwicklung größerer Anlagen zur Haltung von Tieren zu steuern. ({7}) Unabhängig davon werden wir dieses Thema mit in die Beratungen zum Baugesetzbuch aufnehmen, und werden, wenn notwendig, auch eine Lösung finden. Es ist unsere politische Aufgabe, im parlamentarischen Verfahren das Für und Wider sorgfältig abzuwägen. Ich kann Ihnen versichern: Das werden wir auch tun. ({8}) Wichtig ist uns, dass wir uns nicht nur mit dem Außenbereich beschäftigen, sondern auch mit der Innenentwicklung. Innenstädte und Ortskerne sind die Schlüssel für eine gute Stadtentwicklung. Dort findet die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger statt. Innenstädte und Ortskerne dienen der Versorgung und sind der kulturelle und gesellschaftliche Mittelpunkt - auch wenn Ihnen das offensichtlich nicht gefällt. Urbanität und Baukultur setzen den qualitativen Anspruch für eine positive und attraktive Kommune, in der man gerne lebt. Unser Ziel ist, diese Entwicklung im Inneren zu stärken und die Neuinanspruchnahme von Flächen auf der grünen Wiese weitgehend zu vermeiden. 2006 haben wir mit dem Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte eine Reihe von Instrumenten für die Stärkung der Innenentwicklung geschaffen. Nun wollen wir sowohl im Baugesetzbuch als auch in der Baunutzungsverordnung weitere Verbesserungen für die Kommunen im Interesse der Kommunen vornehmen. Schließlich wollen wir Planungs- und Genehmigungsverfahren weiter beschleunigen. Das wird zu Kostenentlastungen führen. Beim Bau- und Planungsrecht hat sich seit Jahrzehnten bewährt, notwendige Änderungen sorgfältig vorzuPeter Götz bereiten. Dies ist durch die frühzeitige Einbindung von Experten und Kommunen geschehen. Die im November vergangenen Jahres vorgestellten Ergebnisse der Gespräche zum Städtebaurecht sind eine ausgezeichnete Grundlage, auf der aufgebaut werden kann. Im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion danke ich dafür Bauminister Dr. Peter Ramsauer und allen daran Beteiligten. ({9}) - Man kann auch jemandem danken, der nicht hier ist, Herr Kollege. Im Planungsrecht ist es eine gute Tradition, mit ausgewählten unterschiedlichen Städten, Gemeinden und Kreisen zur Vorbereitung des Gesetzgebungsverfahrens die Auswirkungen der beabsichtigten Änderungen in Planspielen zu erproben. Das ist besser als irgendwelche Schnellschüsse. Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir das Bau- und Planungsrecht nicht gestückelt, sondern im Zusammenhang beraten und in diesem Jahr zum Abschluss bringen. Das ist für die, die in den Kommunen damit arbeiten müssen - davon bin ich fest überzeugt -, der bessere Weg. Deshalb lehnen wir den Einzelantrag zu § 35 des Baugesetzbuches ab. Ich lade alle Fraktionen dazu ein, aktiv an der Weiterentwicklung des Baugesetzbuches und der Baunutzungsverordnung mitzuwirken. Dann werden wir gemeinsam ein gutes Ergebnis erzielen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Vegetarier in Deutschland hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vervielfacht. Sicherlich ist es die Aufgabe der Ernährungsforschung, herauszufinden, woran das liegt. Es ist nicht auszuschließen, dass es nicht nur an dem einen oder anderen Essen liegt, das einem einfach nicht schmeckt, sondern auch an dem Wissen darüber, wie Tiere gehalten werden. Wer kennt nicht die Berichte über die Haltungsbedingungen von Geflügel, Schweinen und anderen Tieren zur Nahrungsproduktion, und wer war davon nicht schon einmal schockiert und abgestoßen? Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland fragen immer kritischer danach, wie Tiere gehalten und wie Fleisch und Geflügel produziert werden. Diese Fragen drängen sich auf. Die Bundespolitik darf nicht wegschauen, insbesondere deshalb nicht, weil immer wieder Lebensmittelskandale öffentlich werden. ({0}) Wer Fleisch und Geflügel in Deutschland isst, soll als Verbraucher nicht nur sicher sein, dass es nicht verseucht oder vergiftet ist, sondern auch wissen, dass die Tiere artgerecht gehalten werden. Dafür setzt sich die SPDBundestagsfraktion ein. Nach unserer Auffassung stehen nicht zuletzt tierschutzrechtliche Regelungen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Sie können und müssen weiter verbessert werden. Eine baurechtliche Regelung allein löst das Problem nicht. ({1}) Beispielsweise bedarf die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung dringend einer Überarbeitung. Das haben auch Fachgespräche am heutigen Tage noch einmal belegt. Das ist seit langem eine Forderung von uns. Diese Forderung muss erfüllt werden. Bereits seit mehreren Jahren entstehen immer mehr und immer größere Tiermastanlagen in Deutschland; weitere sind geplant und stehen vor der Realisierung. Wir alle kennen die Probleme im Land Niedersachsen. Dort werden mehr als 5 Millionen Puten, also etwa zwei Drittel der Puten in Deutschland, gehalten. Dort werden 57 Millionen Hühner - das sind 50 Prozent der Masthühner in Deutschland - gehalten. Die riesigen und immer größer werdenden Anlagen müssen kontrolliert und besser überwacht werden. Dazu gehört auch - das fordern wir ebenso - die Einführung eines Tierschutz-TÜV; denn wir als Verbraucher wollen, dass Tiere ordentlich und artgerecht gehalten werden. ({2}) Zur Wahrheit gehört auch: Die Tierproduktion ist ein gewaltiger Markt mit hohen Umsätzen und vielen Arbeitsplätzen. Es liegt an uns, einen Weg zu finden, um Tierschutz und Nahrungsmittelproduktion in Einklang zu bringen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Lösung dieser Problematik im Baugesetzbuch sucht. Beabsichtigt ist eine Regelung, nach der künftig für Massentieranlagen im Außenbereich keine Privilegierung mehr möglich sein soll. ({3}) Der Gesetzentwurf greift allerdings - hier verweise ich auf meine Eingangsausführungen - die Problematik der Massentierhaltung nur einseitig auf. ({4}) Fragen des Tierschutzes, der Kontrollen und der Hygiene werden nicht thematisiert. Dazu gibt es in diesem Gesetzentwurf keine Lösungsansätze. ({5}) Es greift aber zu kurz, sich dem Thema lediglich baurechtlich zu nähern. ({6}) Der Gesetzentwurf enthält zudem eine juristische Unschärfe, die in der Rechtsanwendung eher zur Verwirrung führt, als dass damit Klarheit geschaffen wird. Was meinen Sie denn mit dem Satz: Ein Vorhaben, das der Tierhaltung dient und nicht nach Satz 1 Nr. 1 - des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch zugelassen werden kann, ist in der Regel auch nicht nach Satz 1 Nr. 4 zulässig. Was bedeutet diese Regelung? Diese Formulierung öffnet der subjektiven Auslegung Tür und Tor und führt nicht dazu, dass die von vielen nachvollziehbar kritisierte Massentierhaltung im Außenbereich beendet wird. Ihr Gesetzentwurf spricht in der Überschrift selbst lediglich von einer Beschränkung der Massentierhaltung im Außenbereich. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird dann auch richtigerweise ausgeführt - ich zitiere -, dass die vorgeschlagene Regelung nicht zu einem Totalverbot der Massentierhaltung führt. Vielmehr kann diese auch in Zukunft insbesondere dort zulässig sein, wo die Gemeinden entsprechende bauleitplanerische Entscheidungen treffen. Das ist aber bereits nach geltender Rechtslage weitestgehend möglich. ({7}) Die Zielgenauigkeit und die praktische Wirksamkeit Ihres Vorschlages zur Ergänzung des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch werden nicht nur von Mitgliedern der SPDBundestagsfraktion hinterfragt, sondern auch von unabhängigen Fachexperten. Hinzu kommt: Die Positionen der Länder sind in dieser Frage ebenfalls unterschiedlich. In einigen Ländern werden hygienerechtliche Vorschriften diskutiert und in den Bundesrat eingebracht; hier erinnere ich an den Vorschlag von Nordrhein-Westfalen. Andere Länder lehnen eine Änderung des § 35 Baugesetzbuch hinsichtlich der Problematik der Massentierhaltung im Außenbereich jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab. In der Tat gibt es auch heute schon baurechtliche Möglichkeiten, um die Ansiedlung von gewerblichen Tierhaltungsanlagen zu steuern. Hierzu gehören die Aufstellung von Bauleitplänen oder die Ausweisung von geeigneten Standorten für solche Anlagen im Flächennutzungsplan. Im Kern geht es aber nicht darum, Anlagen generell zu verhindern, sondern Standorte dort zu planen, wo sie verträglich sind. Das muss der baurechtliche Ansatz sein. Diesem baurechtlichen Ansatz verschließt sich die SPD-Bundestagsfraktion nicht. Darüber hinaus - das will ich noch einmal unterstreichen - bedürfen tierschutzrechtliche Regelungen, insbesondere das Tierschutzgesetz und weitere Verordnungen, in unterschiedlichen Bereichen einer dringenden Klarstellung. ({8}) Die Widersprüche, die hier existieren, müssen gelöst werden. Das ist aber mit einer Änderung des § 35 Baugesetzbuch nicht möglich. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, es gibt auch nicht die Alternative, Tierhaltungsbetriebe statt im Außenbereich im Innenbereich anzusiedeln. Das ist, so denke ich, auch nicht streitig. Diese Alternative stellt sich nicht; denn schon zur Vermeidung von Verkehr ist es notwendig, Tierhaltungsanlagen in der Nähe von landwirtschaftlichen Betrieben anzusiedeln, in denen Futter produziert und Gülle unschädlich abgefahren werden kann. Ich möchte auf Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, zugehen und Sie zu einer Diskussion einladen, in der es darum geht, wie wir ein besseres Steuerungsinstrument im Planungsprozess für die Errichtung von Anlagen der Massentierhaltung finden können. ({10}) - Wir wollen nicht jahrelang diskutieren. Eine solche Regelung muss kommunalfreundlich sein und darf die Möglichkeiten der Gebietskörperschaften nicht übersteigen. ({11}) Eine solche Regelung, wie ich sie hier angemahnt habe, muss kommunalfreundlich sein, und sie muss sowohl baurechtliche Aspekte lösen wie auch Erfordernisse der spezialgesetzlichen Regelungen einbeziehen. Die SPD-Bundestagsfraktion enthält sich bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf, ({12}) weil mit diesem Gesetz die Balance zwischen den notwendigen Verbesserungen im Tierschutz und den Möglichkeiten zur Lebensmittelproduktion nicht hergestellt wird. Der Gesetzentwurf enthält Unschärfen - ich hatte darauf hingewiesen - mit dem Begriff „in der Regel“, mit denen wir dem Lösungsziel nicht näher kommen. Damit ist das Thema aber für uns längst nicht beendet. Die Diskussion über die baurechtlichen Aspekte muss fortgesetzt werden. Ich greife an dieser Stelle das Ergebnis der Berliner Gespräche zur Novelle des Baugesetzbuches auf; Herr Götz, Sie hatten das schon angesprochen. Das wird in der SPD-Bundestagsfraktion ernsthaft diskutiert. Wir werden die Vorlagen in den weiteren Diskussionsprozess einfließen lassen. Unter den Experten gab es bei dieser Diskussion zum Thema Massentierhaltung keine einheitliche Auffassung dahin gehend, dass eine Änderung des § 35 Baugesetzbuch notwendig ist. Die Experten haben gesagt, das bedarf einer ernsthaften Prüfung. Ich sage es noch einmal: Die SPD-Bundestagsfraktion verschließt sich solchen Überlegungen nicht. Wir müssen aber justiziable Regelungen finden, die nicht zu mehr Unklarheit führen, als bisher besteht, und es den Kommunen ermöglichen, hier effektiver zu arbeiten. ({13}) Der Ort für weitere Diskussionen sind die Beratungen über die bevorstehende Novelle des Baugesetzbuches. Herr Scheuer, ich fordere Sie als Staatssekretär auf, die Erkenntnisse aus den genannten Berliner Gesprächen und aus weiteren Expertengesprächen, die Sie in Ihrem Hause ja durchgeführt haben, dem Parlament zugänglich zu machen. Wir wollen, dass wir jetzt zu konkreten Lösungen kommen. Ich plädiere dafür, dass wir darüber eine sachliche Diskussion führen - hier in Berlin, aber auch in den Wahlkreisen. Damit meine ich insbesondere, dass wir diese Diskussion fair führen und in den Wahlkreisen den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr versprechen als das, was wir hier schon gemeinsam als richtig erkannt haben und als Lösungsmöglichkeit ansehen. ({14}) Notwendig ist, alle Fragen zur Änderung des Baugesetzbuches wie in den letzten Jahren oder gar Jahrzehnten im Paket zu beleuchten, und nicht, über Einzelanträge oder einzelne Gesetzentwürfe das Thema zu zerfasern. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion stehen einer Diskussion über die Massentierhaltung, ihrer Begrenzung und rechtlichen Reglementierung - das will ich noch einmal unterstreichen - offen gegenüber, meinen aber auch, dass weitere Regelungen in § 35 - ich denke insbesondere an Abs. 1 Nr. 6 über Biogasanlagen - ebenso in die Prüfung einbezogen werden sollten. Ich lade Sie zu einer solchen Diskussion ein. Ich glaube, die Begründung, warum wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten - dabei haben wir uns ja insbesondere auf die juristischen Unschärfen bezogen -, ist überzeugend rübergekommen. Ich werbe auch bei den Grünen um Verständnis ({15}) und bitte sie, sich auf den Weg der Diskussion mit den anderen Fraktionen in diesem Haus zu begeben. Vielen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Petra Müller für die FDPFraktion. ({0})

Petra Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004115, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ihrem Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/ Die Grünen, erzeugen Sie zunächst einen Widerspruch: einen Widerspruch zwischen dem landwirtschaftlichen Raum einerseits und der industriellen Fleischproduktion auf der anderen Seite. Hier eine krasse Grenze zu konstruieren, macht für uns Liberale keinen Sinn. Pflanzlicher Anbau, Tierhaltung, traditioneller extensiver Bauernhof oder Intensivtierhaltung - das alles sind wichtige und notwendige Bestandteile einer modernen und differenzierten Landwirtschaft. ({0}) Wir Liberale stehen zu allen, ({1}) zu den Unternehmen, zu den Einzelbauern, zu den Angestellten und auch zur modernen intensiven Tierhaltung. Diese ist notwendig, ({2}) weil der Fleischkonsum in Deutschland seit den 50erJahren kontinuierlich gestiegen ist. Gleichzeitig ist die Fleischwarenindustrie ein erfolgreicher mittelständischer Wirtschaftszweig. Mit Ihrer grünen Propaganda zum „traditionellen kleinbäuerlichen Betrieb“ ist keines von beidem machbar: ({3}) Weder die Erzeugung sozialverträglich preiswerter Lebensmittel noch ein Wirtschaftszweig mit 85 000 Beschäftigten in der Fleischproduktion ist damit möglich. ({4}) Für beides steht die christlich-liberale Koalition. Wir setzen uns für jeden Arbeitsplatz in diesem Berufszweig ein. ({5}) Petra Müller ({6}) Worum geht es in Ihrem Gesetzentwurf? Sie wollen die Abschaffung der Intensivtierhaltung durch die Hintertür Baugesetzbuch erreichen. ({7}) Denn eines ist klar: Ihr Vorschlag macht Genehmigungen fast unmöglich. Sie gefährden Arbeitsplätze im Mittelstand, und Sie sorgen dafür, dass in Deutschland die Lebensmittelversorgung keinerlei Perspektive hat. Das werden wir nicht zulassen. ({8}) - Super! Aus Sicht der Stadtplanung sind Eingriffe in Genehmigungsverfahren nicht notwendig. Die Kommunen haben heute schon Möglichkeiten, die Errichtung von Tierhaltungsanlagen zu beeinflussen: entweder auf dem Weg der Bauleitplanung oder durch das Versagen des Einvernehmens im Rahmen des Genehmigungsverfahrens. Gerade von dem zweiten Fall fühlen sich viele Kommunen abgeschreckt, weil sie Haftungsprobleme sehen. Dieses Problem ist bekannt und nicht neu. Hier würde ich mit Ihnen gemeinsam eine Lösung suchen. Der Kollege von der SPD hat schon angedeutet, dass er diskussionsbereit ist. ({9}) - Danke, ich weiß. Aber er hat sich umgedreht und hört mir im Moment nicht zu. Das finde ich nicht nett. Ein schöner Rücken kann zwar entzücken, aber nicht immer. ({10}) Wir können in diesem Hause zum Beispiel über stärker spezifizierte Planungsvorbehalte bei der gewerblichen Tierhaltung diskutieren. Wir können auch über Zurückstellungen nach § 15 Abs. 3 Baugesetzbuch und über die Verlängerung der Jahresfrist nachdenken. All das können wir sicher tun. ({11}) Wenn Sie Tierschutz wollen, dann muss es konsequente Regeln, hohe Standards und Kontrollen geben. Da können wir zusammenarbeiten. Aber städtebaulich mithilfe des Baugesetzbuches Tierethik zu steuern, das kann nicht sein. ({12}) Sie können damit keinen Skandal wie den Dioxinskandal verhindern. ({13}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Sie müssen sich in die Pflicht nehmen lassen. ({14}) Genehmigungsverfahren sind vor allem dazu da, Projekte, Investitionen und unternehmerisches Handeln zu ermöglichen, nicht zu verhindern. ({15}) Ich muss noch eines sagen: Packen Sie bitte die Fachpolitiker aus und die Wahlkämpfer ein. Sie sind eine Verhinderungspartei. Deshalb lehnt die FDP Ihren Gesetzentwurf ab. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Alexander Süßmair für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Süßmair (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004172, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dann läute ich jetzt mal die Runde der Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker aus dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ein. ({0}) Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zu dem Bereich Massentierhaltung. Sie wollen eine Einschränkung der Privilegierung von forstwirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Betrieben. ({1}) Ihre Intention ist vollkommen nachvollziehbar. Ich möchte ganz klar sagen, dass wir von der Linken diese Intention unterstützen. ({2}) Ich muss aber dennoch einschränkend sagen, dass ich Ihren Gesetzentwurf als Etikettenschwindel empfinde; denn er hält nicht das, was er verspricht. Im Titel Ihres Gesetzentwurfs steht unter anderem „Beschränkung der Massentierhaltung im Außenbereich“. Damit ergibt sich für mich schon die erste ungeklärte Frage: Was ist Massentierhaltung? Wir haben derzeit keine klare Definition für Massentierhaltung. Diesen Begriff müssen wir aber klären, wenn wir diesbezüglich etwas ändern wollen. Sie drücken sich in Ihrem Gesetzentwurf aber um die Definition des Begriffs Massentierhaltung. ({3}) Sie sprechen nur davon, dass die Tierhaltung „ihrer Produktionsweise nach eine landwirtschaftstypische“ sein muss. Aber was bedeutet das genau? ({4}) Ich gebe ein Beispiel. Ist ein Ökobetrieb mit 30 000 Legehennen in einer Stallanlage - solche Anlagen gibt es schon, zum Beispiel im brandenburgischen Wittstock schon eine Massentierhaltung, die man aber akzeptieren könnte, weil sie unter ökologischen Gesichtspunkten betrieben wird? In vielen Regionen gibt es eine sehr große Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe mit nach heutigen Maßstäben intensiver Tierhaltung - allerdings in kleiner Dimension. Ein weiteres Beispiel: In einem Dorf in Westfalen gibt es zehn Betriebe mit jeweils 2 000 Mastschweinen. In dem Ort gibt es dann 20 000 Mastschweine. Nach Annahme der Grünen fällt das wohl nicht unter Massentierhaltung, da es sich um einzelne landwirtschaftliche Betriebe - aber in einem einzigen Ort - handelt. ({5}) Wenn es nur ein Betrieb mit 20 000 Schweinen wäre, wäre das Massentierhaltung, obwohl die Zahl der Schweine in beiden Fällen gleich wäre. ({6}) Wir müssen die Massentierhaltung definieren, um sie vor Ort regeln und verbieten zu können. Es ist aber für uns von der Linken nicht nur eine rein quantitative Frage, sondern auch eine qualitative Frage. ({7}) Deshalb geht das meiner Ansicht nach nicht über das Baurecht, sondern zum Beispiel über Regelungen zu Emissionen, zu Haltungsformen der Tiere, zu ökologischen und kulturellen Auswirkungen und auch zu den Arbeitsbedingungen. ({8}) Industrielle Tierhaltung ist keine Frage des Baugesetzbuches, sondern Ergebnis eines marktradikalen Denkens und eines Willens zur Profitmaximierung des Kapitals. ({9}) Produktionskosten werden - auf Kosten der Tiere, der Umwelt und des Menschen - auf das absolute Minimum gedrückt. Deshalb ist auch die Linke gegen die Industrialisierung und Konzentration von Tierhaltung. ({10}) Ihr Antrag taugt aber nicht, das zu verhindern; denn Sie täuschen das nach außen nur vor. Selbst Sie schreiben in der Begründung: Hinzuweisen ist darauf, dass die vorgeschlagene Regelung nicht zu einem Totalverbot der Massentierhaltung führt. Und weiter: Vielmehr kann diese auch in Zukunft insbesondere dort zulässig sein, wo die Gemeinden entsprechende bauleitplanerische Entscheidungen treffen. Diese Feststellung beschreibt für mich aber schon das nächste gravierende Problem, das ich in diesem Antrag sehe. Sie wollen den Gemeinden bei der Ansiedlung von großen Einheiten der Tierhaltung mehr Spielraum einräumen. Dabei verkennen Sie allerdings meiner Meinung nach folgende Gefahr: Wie wollen Sie denn verhindern, dass sich Betriebe, deren Bauten man im Außenbereich dann nicht mehr haben will, in Gewerbeund Industriegebieten ansiedeln? Angesichts der chronisch leeren Kassen der Kommunen bin ich mir sicher, dass sich genügend Gemeinden finden werden, die noch Industrie- oder Gewerbegebiete haben, in denen Platz ist. Die Massentierhaltung insgesamt können wir dadurch aber nicht verhindern. Das Einzige, was eventuell passiert, ist, dass die Genehmigungsverfahren länger dauern; aber es wird eben nicht verhindert. Statt im Baurecht sind unserer Meinung nach rechtliche Regelungen im Bereich der Bürgerbeteiligung, des Naturschutzes und vor allem des Emissionsschutzes gefragt, um konzentrierter industrieller Tierhaltung ein Ende zu setzen und unsere Nahrungsmittelproduktion wieder enger an die Natur zu koppeln. ({11}) Was noch viel entscheidender ist: Wir brauchen - zum Nutzen für Tiere, Umwelt und Menschen - einen grundlegenden Ideologiewechsel in der Agrarpolitik. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der § 35 des Baugesetzbuches mit der Privilegierung der Landwirtschaft im Außenbereich ist ein sehr gutes planerisches Instrument. Er schützt den Außenbereich vor Zersiedelung und planloser Bebauung. Es gibt jedoch durch den Ausnahmetatbestand in Abs. 1 Nr. 4 seit 1983 unter anderem die Möglichkeit der gewerblichen Tierhaltung - nur darum geht es - ohne Flächen10542 bindung. Dies führte in den letzten Jahren oftmals zu krassen Fehlentwicklungen ({0}) beispielsweise durch Schweinemäster, die ihre Flächen hinsichtlich der Anzahl der Schweine bis zum Letzten ausgereizt haben. Als Bauernhof unterliegen sie der Flächenbindung. Sie bauen - oftmals viele Hundert Meter vom Hof entfernt in die freie Landschaft - 40 000er-Hühnchenställe - 22 Hühnchen, je 1,6 Kilogramm schwer, auf einem Quadratmeter - und weitere Schweineställe nach § 35 Abs. 1 Nr. 4 gewerblich expansiv obendrauf. Allein 900 dieser 40 000er-Hühnchenställe sind bundesweit noch in der Planung. Die Nr. 4 des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch wurde 1983 nicht für solche Massenställe geschaffen, sondern für Anlagen, die nur in atypischen Fällen - wie Kompostanlagen - in den Außenbereich gehören. Herr Hacker, wir brauchen deshalb eine Änderung des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch, um klarzustellen, dass die gewerbliche Massentierhaltung nicht zu den privilegierten Vorhaben beim Bauen im Außenbereich gehört. ({1}) Drei Motive leiten unseren Antrag: Erstens. Massentierhaltungen haben nichts mit Bauernhöfen zu tun. ({2}) Diese Anlagen ohne eigene Futterfläche und ohne eigene Fläche für Gülle- und Mistverbringung dürfen im Außenbereich nicht genehmigungsfähig sein. Tierhaltung muss an die Fläche des Bauernhofes gebunden sein. ({3}) Zweitens. Die Riesenställe sind eine erhebliche Belastung für Tier, Umwelt und Natur und zerstören ganze Landschaften. Drittens. Die Großtierhaltungsanlagen produzieren massive Ammoniakemissionen, Ausscheidungen wie Bioaerosole und Gerüche. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität und Gesundheit der Anwohner und Nachbarn. Herr Götz, die Bürgerinnen und Bürger wollen das nicht mehr hinnehmen. Sie engagieren sich landauf, landab in Hunderten von Bürgerinitiativen. Während der Grünen Woche haben über 20 000 Menschen ihren Protest auf einer vom Netzwerk „Bauernhöfe statt Agrarfabriken“ organisierten Demo unter dem Motto „Wir haben es satt!“ nach Berlin getragen. Hier sind wir alle gemeinsam gefordert. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, wie wir den Fehlentwicklungen auf dem Lande begegnen wollen. Wenn wir jetzt nicht die Bremse ziehen, wird die freie Landschaft, die wir für die Artenvielfalt und Naherholung so schätzen und brauchen, zum landwirtschaftlichen Gewerbegebiet. Herr Götz, die Kommunen sind absolut machtlos: Es gibt keine Regelungsmechanismen für die Kommunen. Die Werkzeuge der Kommunen sind stumpf, ihre Anwendung ist aufwendig und kostenintensiv. ({5}) In der letzten Woche konnte ich im münsterländischen Billerbeck mit der Baudezernentin und der Bürgermeisterin sprechen. Wir haben uns angesehen, was es bedeutet, in Billerbeck Gewerbebetriebe anzusiedeln, und welche Planungsprozesse dabei in Gang gesetzt werden: bürgerfreundlich, langfristig angelegt, mit allen abgestimmt. Bei der Massentierhaltungsanlage, die 300 Meter von der Molkerei entfernt steht, hat die Kommune keine Möglichkeit, einzugreifen. ({6}) Die Anlage steht im Landschaftsschutzgebiet, oben auf dem Berg; jeder in der Gemeinde sieht sie, denn sie ist von überall einzusehen. Hier ist die Kommune machtlos; der Investor hat die Planungshoheit, niemand sonst. Herr Götz, dieser Zustand ist unhaltbar. Wir müssen diesen Wildwuchs beenden. ({7}) Wir liegen doch bei der Beurteilung der Lage gar nicht weit auseinander. Staatssekretär Ferlemann hat hier in der Antwort auf unsere Frage bestätigt, dass § 35 Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch „nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eher eng auszulegen“ ist. Ministerin Aigner kritisiert die Fehlentwicklung im ländlichen Raum. Staatssekretär Peter Bleser hat in der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 12. Februar Nachdenklichkeit hinsichtlich der Konzentration der Schweine- und Hähnchenmast gezeigt. Viele von uns haben sich zu Hause klar positioniert. Wir müssen doch jetzt nur das, was wir zu Hause erklären, mit der Gesetzeslage im Bund in Einklang bringen. Das kann doch nicht so schwer sein. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns versuchen, so wie das Parlament der Niederlande gemeinsam vorzugehen. Das niederländische Parlament hat vor wenigen Tagen einen Baustopp für industrielle Massentierhaltungsanlagen beschlossen. Intensive Viehhaltung als ein System organisierter Verantwortungslosigkeit solle abgeschafft werden - so das niederländische Parlament. Der Beschluss wurde mit großer Mehrheit gefasst; auch die Sozialdemokraten in den Niederlanden haben zugestimmt. ({9}) Lassen Sie uns durch eine kleine Weiterentwicklung des Baugesetzbuches eine wichtige Weichenstellung für die weitere Entwicklung des ländlichen Raumes vornehmen, für den Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft, für eine nachhaltige regionale Entwicklung, für den Erhalt der Landschaften und der Lebensqualität im ländlichen Raum. ({10}) Die Bürgerinnen und Bürger draußen erwarten unser Handeln; sie werden es uns danken. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Max Lehmer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben bei der Entwicklung der Landwirtschaft klare Ziele: ({0}) Wir wollen die Entwicklungsmöglichkeiten unserer landwirtschaftlichen Betriebe erhalten. Wir wollen eine starke und wettbewerbsfähige Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland erhalten und sie weiterentwickeln. Wir wollen auch in Zukunft eine durch bäuerliche und unternehmerische Betriebsstrukturen gestaltete flächendeckende Landbewirtschaftung. ({1}) Wir wollen ausdrücklich keine Großinvestoren in der tierischen Veredelung haben. ({2}) Dafür müssen wir aber auch die entsprechenden Entscheidungsspielräume für wirtschaftliche Betriebsformen erhalten. Die Entwicklung bleibt nicht stehen, Herr Kollege Ostendorff. ({3}) Nur so können sich die Landwirte am Markt behaupten und die aufgrund des weltweiten Bevölkerungswachstums steigende Nachfrage nach Lebensmitteln decken. Herr Ostendorff, mit den Systemen, von denen Sie reden, können wir nicht einmal ansatzweise den Bedarf in Deutschland decken. Ich habe nachgeschaut: Der Beitrag der Biolandwirtschaft bei Rindfleisch beträgt 4,5 Prozent, bei Schweinen unter 1 Prozent. ({4}) - Hören Sie doch einmal zu, Herr Kollege. - Bei der Eierproduktion sind es 3,5 Prozent und bei der Milch 2 Prozent. Sie sind weit davon entfernt, wenigstens die Menschen in unserem Land mit Lebensmitteln zu versorgen. ({5}) Sie müssen bei der Wahrheit bleiben und die Dinge so nehmen, wie sie sind. Unverhältnismäßige Einschränkungen der Grundstückseigentümer und der Betriebsinhaber in ihrem Grundrecht auf Eigentum und freies Unternehmertum sind hier kontraproduktiv und abzulehnen. Das Vorhaben der Opposition, vor allen Dingen der Grünen, ist allzu leicht zu durchschauen. Hier geht es nicht um Korrektur oder Beseitigung von Fehlentwicklungen; die sehen wir auch in manchen Punkten. Bei Ihrer beabsichtigten Beschränkung der sogenannten Massentierhaltung - die muss erst einmal definiert werden; das sagte die Kollegin schon - geht es um die Verhinderung der weiteren positiven Entwicklung eines wichtigen großen Wirtschaftsbereiches im ländlichen Raum. ({6}) Der gesamte Gesetzentwurf ist von einer ungerechtfertigten Übertreibung und Polemik gekennzeichnet. Dies zeigt sich nicht nur an der Verwendung des Begriffs „Massentierhaltung“, der schon an sich unsachlich und abwertend ist, sondern auch an der Beschwörung des - so heißt es im Text - unrealistischen Szenarios einer flächendeckenden industriellen Fleischproduktion im Außenbereich. Lassen Sie mich das anhand von Zahlen erläutern: Im Durchschnitt gibt es in Deutschland 337 Schweine pro Betrieb. Je nach Bundesland schwankt die durchschnittliche Anzahl an Schweinen pro Betrieb zwischen 80 und etwa 1 000 Stück. Damit liegt Deutschland zwar knapp über dem europäischen Schnitt, aber noch weit hinter den Niederlanden - diese Zahlen haben Sie richtig zitiert - mit 1 340 Schweinen pro Betrieb und Dänemark mit knapp 2 000 Schweinen pro Betrieb. ({7}) Auch bei der Legehennenhaltung sind die in Deutschland durchschnittlich in einem Betrieb gehaltenen Hennen mit 700 Stück pro Betrieb zwar mehr als im europäischen Durchschnitt. Dennoch ist die Zahl der Legehennen pro Betrieb - Frau Höhn, hören Sie zu - in sechs anderen EU-Ländern erheblich größer als bei uns, nämlich in Belgien, Dänemark, Finnland, den Niederlanden, Schweden und Großbritannien. ({8}) In den Niederlanden werden im Schnitt sogar über 25 000 Legehennen pro Betrieb gehalten. Darum nehmen sie dort jetzt Änderungen vor. Sie liegen aber um den Faktor 40 über unseren durchschnittlichen Betriebsgrößen. ({9}) Diese Zahlen zeigen, dass es sehr große lokale und regionale Unterschiede gibt. Wir müssen dabei auch be10544 rücksichtigen, dass unsere Landwirte im internationalen Wettbewerb stehen und die tierische Erzeugung an die 50 Prozent des Produktionswertes der deutschen Landwirtschaft ausmacht. Die Tierhaltung erfolgt dabei fast ausschließlich in familiengeführten Betrieben. Das ist bitte unbedingt festzuhalten. ({10}) Tierhaltung in größeren Beständen kann darüber hinaus nicht gleichgesetzt werden mit einer nicht artgerechten Haltung; das tun Sie immer wieder. Die Beschränkung bestimmter Haltungsformen in Deutschland führt zudem oft nur dazu - das bitte ich zu bemerken -, dass die Produktion ins Ausland verlagert wird. Dort können wir die Haltungsbedingungen nicht mehr kontrollieren. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Legehennenhaltung. Die Entwicklung zeigt, dass seit dem Verbot der Käfighaltung in Deutschland der Selbstversorgungsgrad mit Eiern von 70 Prozent auf unter 55 Prozent gesunken ist. Die Haltung in dieser Produktion ist nicht tiergerechter. Das Gegenteil ist der Fall; das bitte ich zu berücksichtigen. ({11}) Ich verschweige nicht, dass es auch in Deutschland Strukturen gibt, die wir kritisch beobachten müssen. ({12}) Obwohl die Strukturen in weiten Bereichen in Ordnung sind, ist es uns bewusst, dass es in einigen Regionen Entwicklungen gibt, bei denen Stallbauvorhaben an die Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz stoßen; das ist richtig. Darauf wollen und werden wir reagieren; das hat Herr Götz schon gesagt. Wir werden aber nicht mit pauschalen Verboten reagieren. Die helfen hier nicht weiter. ({13}) Wir wollen im Rahmen der im Koalitionsvertrag vereinbarten Novelle zum Baugesetzbuch eine ergebnisoffene Diskussion über die zukünftige Steuerung der Betriebsentwicklung im Außenbereich führen. Es macht keinen Sinn, jetzt den Teilbereich der Tierhaltung in größeren Beständen vorab ohne ausreichende Prüfung reglementieren zu wollen. Außerdem, Herr Ostendorff, haben Behörden und Gemeinden bereits nach geltendem Recht - ich bin selbst seit 35 Jahren in Kommunalparlamenten tätig - vielfältige planerische Möglichkeiten, die Genehmigung gewerblicher Tierhaltungsanlagen sozial- und umweltverträglich zu steuern. Beispiele sind die Aufstellung von Flächennutzungs- oder Bebauungsplänen. Insbesondere durch positive Planung können die Verantwortlichen vor Ort die Zulässigkeit von Vorhaben der gewerblichen Tierhaltung beeinflussen. Darüber hinaus darf eine Genehmigung auch bei privilegierten Vorhaben ohnehin nur dann erfolgen, wenn öffentliche Belange nicht entgegenstehen. Über all diese bereits bestehenden Möglichkeiten sollten die Kommunen verstärkt informiert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass eine geradezu offensichtliche Tatsache weiterhin fest im Bewusstsein verankert bleibt: Die Landwirtschaft ist nicht Gegner des ländlichen Raumes, sondern eine tragende Säule für die Erwerbsmöglichkeiten und die Wertschöpfung im ländlichen Raum sowie die Erzeuger hochwertiger Nahrungsmittel. Zur Landwirtschaft gehören aber auch gewerbliche Tierhaltungsbetriebe. Wenn durch den Gesetzentwurf der Grünen Entwicklungsmöglichkeiten durch Verbote eingeschränkt werden, gefährdet das den ländlichen Raum als Produktionsstandort sowie Arbeitsplätze, und zwar nicht nur in den Landwirtschaftsbetrieben, sondern auch in den vor- und nachgelagerten Bereichen, die im ländlichen Raum erhebliche Arbeitsplatzpotenziale beinhalten. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassen: Im vorliegenden Gesetzentwurf ist die Thematik völlig überzeichnet. Es wird sogar die Befürchtung geäußert, dass sich der Außenbereich - ich zitiere - „… nahezu flächendeckend in einen Standort der industriellen Fleischproduktion“ verwandelt. Dies ist keineswegs der Fall. Außerdem ist die vorgeschlagene Regelung sehr pauschal und nicht ausreichend geprüft. Im Rahmen der bevorstehenden Novelle zum Baurecht werden wir uns der Thematik sach- und fachgerecht umfassend annehmen und gewiss auch passende Lösungen finden. Vielen herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der § 35 des Baugesetzbuches ist zweifellos kein ganz einfacher Paragraf. ({0}) Er leidet darunter, dass er im Grunde genommen eine bundesrechtliche Regelung beinhaltet, die vor Ort in völlig unterschiedlichen Situationen anzuwenden ist. Der § 35 des Baugesetzbuches ist ein guter Paragraf, ({1}) weil er genau das schützt, was Sie, lieber Kollege Ostendorff, im Grunde genommen im Sinn haben, nämlich die traditionelle bäuerliche Landwirtschaft. Aber das, was Sie in Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen, bedeutet gerade das Ende der bäuerlichen Landwirtschaft, ({2}) - nein, nicht der gewerblichen -, weil Sie die Entwicklung eines landwirtschaftlichen Betriebes unmittelbar an Fläche binden. ({3}) Dazu ist ein einigermaßen aufwachsender Milchviehbetrieb heute aber gar nicht in der Lage, weil er aufgrund der schlechten Milchpreise und der explodierenden Frachtkosten nicht die Fläche erwerben kann, die er braucht, um auf dem Milchmarkt einigermaßen vernünftig zurechtzukommen. ({4}) Mit der Regelung, die Sie vorschlagen, öffnen Sie genau den Anlagen Tür und Tor, die Sie scheinbar nicht wollen; denn diese Betriebe werden in die Vorranggebiete gehen, die die Kommunen werden ausweisen müssen, ({5}) - Herr Ostendorff, hören Sie doch zu -, um die Säule der intensiven Produktion in Deutschland zu sichern. Verschiedene Kollegen haben schon gesagt, dass es nicht nur gilt, träumerische Ökolandwirtschaft zu realisieren, sondern dass es gilt, alle Säulen agrarischer Produktion zu realisieren: ({6}) die ökologische, die konventionelle, die regionale und natürlich auch die intensive. Kollege Ostendorff, ich bin von der fachlichen Seite Ihres Antrags sehr enttäuscht, das will ich ganz deutlich sagen. Dieser Antrag beinhaltet einen fundamentalen Fehler. Er setzt Massentierhaltung mit Qualzucht gleich und sagt im Grunde genommen: Alle, die heute gegen diesen Antrag sind, stimmen dafür, dass Tiere in Ställen gequält werden. ({7}) Ihnen geht es überhaupt nicht um die Sache. Bei diesem Antrag geht es Ihnen allein um eine populistische Botschaft. ({8}) Sie springen damit auf einen Zug auf. Das halte ich für die Produktionssituation in der Landwirtschaft insgesamt für gefährlich. ({9}) - Frau Höhn, es wäre schön, wenn Sie das im Ausschuss zur Kenntnis bringen würden. Ich komme aus einer Region, in der es sehr viel Intensivhaltung gibt. Ich will gerne sagen: Wir sind an der Grenze angekommen. Darüber sind wir uns alle einig. Nur, wissen Sie, woran das liegt? Wir waren zu dumm, um es einmal ganz ehrlich zu sagen. Als ich in den Kreistag kam, habe ich gesagt: Wir müssen unsere Räume besser ordnen. Aber nein, die Räume sollten nicht geordnet werden. Wenn Sie das kommunale Instrumentarium, das es heute schon gibt, ({10}) - Entschuldigung, ich habe davon Ahnung, Sie nicht -, ({11}) für die regionale Raumordnung und die kommunale Planung nutzen, wenn Sie Keimgutachten, Brandschutzgutachten und die gute fachliche Praxis bei Filteranlagen nutzen, haben Sie mit diesem Sachverhalt überhaupt kein Problem. Wir müssen das endlich anpacken und umsetzen. Dann können wir eine tierschutzgerechte intensive Haltungsform auch zukünftig in Deutschland realisieren. ({12}) Ihr Antrag taugt nichts, und das wissen Sie genau. Ihnen geht es nur um Stimmung, und das ist schlecht für jemanden, der sonst so tut, als ob er Ahnung hätte. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Baugesetzbuchs - Beschränkung der Massentierhal- tung im Außenbereich. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/4724, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1582 abzulehnen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen na- mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle vorgese- henen Plätze von den Schriftführern besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Inzwischen setzen wir die Bera- tung fort.1) Ich bitte die lieben Kolleginnen und Kolle10546 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse gen, Platz zu nehmen, damit der kommende Redner auch Gehör finden kann. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2010 ({0}) - Drucksache 17/4400 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Wehrbeauftragen des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus. ({1}) Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bitte erlauben Sie mir eine kurze Vorbemerkung, bevor ich zum Jahresbericht komme. Wir werden morgen in Regen drei unserer Soldaten, die in Afghanistan Opfer eines hinterhältigen Anschlages wurden, gedenken. Ich habe mit zweien von ihnen erst vor wenigen Wochen in Afghanistan gesprochen wie auch mit einigen der jetzt Verwundeten. Ich bin daher in diesen Tagen mit meinen Gedanken vor allem bei den Hinterbliebenen, den Verwundeten und ihren Angehörigen. Ich wünsche den Verwundeten natürlich eine baldige Genesung. Ereignisse wie dieses erinnern uns immer wieder daran, welche Risiken unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz auf sich nehmen. Gerade im Angesicht dieses tragischen Ereignisses möchte ich all denen, die jetzt leiden, mein tief empfundenes Mitgefühl aussprechen. Ich möchte den Kameradinnen und Kameraden der Gefallenen und Verwundeten, die auch nach diesem tragischen Geschehen weiter treu ihren Dienst und ihren Auftrag ausführen, dafür meinen besonderen Dank und meine Anerkennung aussprechen. ({2}) Vor dem Hintergrund solchen Leides, vor dem Hinter- grund von Tod und Verwundung können Sie sicher nach- vollziehen, weshalb ich mich als Wehrbeauftragter so nachdrücklich um Ausbildung, Ausstattung und Ausrüs- tung, und zwar vor, nach und bei dem Einsatz, kümmere. Es ist unsere gemeinsame Pflicht, ohne Rücksicht auf Kosten oder sonstige Belange die Sicherheit unserer Sol- datinnen und Soldaten auf das bestmögliche Niveau zu bringen. 1) Ergebnis Seite 10548 C Dieser Jahresbericht ist natürlich nicht nur den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz gewidmet, sondern allen Angehörigen der Bundeswehr. Sie nehmen eine für die Gesellschaft unverzichtbare und leider immer noch viel zu wenig gewürdigte Aufgabe wahr. Auch ihnen gelten mein Dank und meine Anerkennung. Mit der sehr frühzeitigen Befassung mit diesem Jahresbericht macht dieses Hohe Haus deutlich, dass es den Streitkräften und ihren Anliegen eine herausragende Bedeutung beimisst. Das ist, wie ich weiß, ein wichtiges Signal für die Truppe. Der Jahresbericht enthält keine Anmerkungen zu den zuletzt in der Öffentlichkeit diskutierten aktuellen Ereignissen, die beispielsweise unter den Stichworten „Gorch Fock“ oder Feldpost erörtert wurden. Er behandelt eben nicht jene Vorgänge, deren Bedeutsamkeit sich erst im laufenden Jahr zeigte, auch wenn sie sich bereits im vergangenen Jahr, im Berichtsjahr, zutrugen. Dennoch will ich hier einige Worte zum Thema „Gorch Fock“ anfügen, weil die öffentliche Diskussion dazu Veranlassung gibt. Viele in der öffentlichen Meinung und in den Medien sahen bereits in der Befassung mit den Vorgängen einen unzulässigen Angriff auf die hergebrachten Traditionen der Marine. Darum aber geht es hier ganz gewiss nicht. Tradition kann Gemeinschaft stiften und Werte vermitteln. Tradition findet aber dort ihre Grenzen, wo Rechte von Soldatinnen und Soldaten verletzt werden. Allein der Rückzug auf Tradition ist keine gelebte Innere Führung. ({3}) Das Grundgesetz und die Grundsätze der Inneren Führung werden nicht durch die Tradition begrenzt, sondern umgekehrt. Genau um eine solche Grenzziehung geht es hier. Angehörige der Ausbildungscrew der „Gorch Fock“ haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden, weil sie sich in ihren Rechten verletzt sahen. Ihr Vorbringen, das aus meiner Sicht von Gewicht ist, habe ich meinem gesetzlichen Auftrag entsprechend an das Parlament und an den Bundesminister der Verteidigung herangetragen. Damit ist natürlich keine abschließende Wertung verbunden und schon gar keine Vorverurteilung. Aber es ist natürlich Anlass, in eine Prüfung der Praxis der Segelausbildung auf dem Schiff im Allgemeinen und des Führungsverhaltens Einzelner im Besonderen einzutreten. Ich würde es begrüßen, wenn die pflichtgemäße Erfüllung meines gesetzlichen Auftrages nicht in den Verdacht parteipolitischer Motive gerückt würde. Als Wehrbeauftragter des gesamten Deutschen Bundestages bin ich von der Verfassung zum Schutz der Rechte der Soldaten und zur Unterstützung der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte berufen. Ich darf und werde mich niemals instrumentalisieren lassen, schon gar nicht parteipolitisch. ({4}) Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus Meine Damen und Herren, der Jahresbericht 2010 hat drei Schwerpunkte. Besonders eingehend behandelt er das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“. Daneben widmet er sich, wie schon in den Jahren zuvor, eingehend den Einsätzen und den fortbestehenden Problemen im Bereich des Sanitätsdienstes. Mängel und Defizite in der Ausbildung und Ausrüstung reichen von den Defiziten bei der einsatzvorbereitenden Ausbildung über Mängel bei der persönlichen Ausstattung bis hin zur Frage nach Bewaffnung und Eignung des eingesetzten Gerätes. Verbesserungen in diesem Bereich sind unverkennbar. Sie dürfen aber nicht über noch bestehende Mängel und Defizite hinwegtäuschen. Ich werde Sie hierzu demnächst erneut in einem Sonderbericht näher unterrichten. Zu den Problemen im Einsatz gehört allerdings auch der Aspekt der Fürsorge. Insbesondere die Einsatzdauer und die Verlässlichkeit der Einsatzplanung, die Kommunikation mit der Heimat sowie die Betreuung und Versorgung während des Einsatzes und nach dem Einsatz sind Stichworte, die die Problemfelder leider noch immer kennzeichnen. Meine Damen und Herren, Sie haben heute Vormittag in erster Lesung die Aussetzung der Wehrpflicht beraten. Gerade jetzt wird die Verbesserung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften besonders dringlich. Attraktivität schließt übrigens die Frage nach der Absicherung und Versorgung der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, aber auch ihrer Familien ein. Hier gibt es weiß Gott noch viel zu tun, insbesondere bei der Versorgung der Hinterbliebenen. Ich bin sehr dankbar, dass der Deutsche Bundestag noch bestehende Versorgungslücken schließen will; das ist Beschlusslage. Es ist zu wünschen - das ist nämlich noch nicht gesichert -, dass die Bundesregierung hierzu die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen vorbereitet. Darüber hinaus muss natürlich auch der tägliche Dienst mit den Erwartungen und Bedürfnissen der Familien in Einklang gebracht werden. Insbesondere eine heimatnahe Stationierung und Ausbildung ist zu fordern. Wir müssen die Chance der Strukturreform unbedingt nutzen, einzelne Truppengattungen regional zu konzentrieren, um den Umfang des Wochenendpendelns zum Dienstort - nur als Stichwort genannt - und lehrgangsbedingter Trennungen von der Familie so weit wie möglich zu reduzieren. Ein besonders dringendes Problem ist dabei übrigens nach wie vor die Kinderbetreuung. Ich begrüße es, dass hierzu erste Maßnahmen ins Auge gefasst sind. Es wird jetzt aber darauf ankommen, dass sie auch schnell umgesetzt werden. Denn die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist keine Frage von ein bisschen mehr oder weniger Fürsorge, sondern dieser Anspruch ist uns vom Grundgesetz aufgegeben: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ Das gilt natürlich erst recht dann, wenn der Staat selbst der Dienstherr ist. Ich wiederhole das immer wieder. Ich glaube, es ist auch wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, wenn es um die konkrete Umsetzung geht. ({5}) Besondere Aufmerksamkeit benötigt auch weiterhin der Sanitätsdienst. Der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal konnte noch nicht ausgeglichen werden. Ich habe auch schon darüber gesprochen, als wir den Jahresbericht 2009 erörtert haben. Ja, es hat in diesem Bereich zwar Verbesserungen gegeben, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal konnte nicht ausgeglichen werden. Seit mehreren Jahren kann der Sanitätsdienst seinen Auftrag nicht mehr ohne Rückgriff auf zivile Ressourcen erfüllen. Das macht mir Sorge; das wird in der Zukunft ein immer drängenderes Problem werden. Wenn die Streitkräfte vom Einsatz her gedacht werden, dann muss der Sanitätsdienst in der Lage sein, die sanitätsdienstlichen Leistungen aus eigener Kraft zu erbringen. Damit an dieser Stelle kein falscher Eindruck entsteht: Unsere Streitkräfte sind insgesamt in einer guten Verfassung. Wenn es gelingt, die Bundeswehr zu einer neuen Struktur zu führen, die sie noch leistungsfähiger, aber auch noch lernfähiger macht und die auch eine Fehlerkultur herbeiführt, dann hat sie eine gute Zukunft. Lassen Sie mich an dieser Stelle abschließend noch Dank sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meinem Amt, an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den beteiligten Partnerdienststellen, im Ministerium, in den militärischen Strukturen. Einen letzten Dank möchte ich auch an den Minister richten - an einem Punkt hat er das wirklich verdient -: ({6}) Immer dann, wenn es um problematische Einzelfälle geht, ist er jederzeit ansprechbar, insbesondere auch ohne Kamera und ohne Presse ({7}) - dann sagt er sicher auch die Wahrheit -, ({8}) und kümmert sich um diese konkreten Fälle. Für diese Form der Empathie muss man ihm, glaube ich, danken. Die Betroffenen haben das immer sehr geschätzt. ({9}) Damit möchte ich die Vorstellung meines Jahresberichts beenden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Königshaus, und Ihren Mitarbei10548 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt terinnen und Mitarbeitern im Namen des ganzen Hauses für die Vorlage des Berichts und für die Arbeit herzlich danken. ({0}) Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen zunächst noch das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Baugesetzbuchs - Beschränkung der Massentierhaltung im Außenbereich - bekannt geben: abgegebene Stimmen 534. Mit Ja haben gestimmt 65, mit Nein 291. Es gab 178 Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 534; nein: 291 davon ja: 65 enthalten: 178 Ja CDU/CSU SPD Dietmar Nietan Silvia Schmidt ({1}) Peer Steinbrück DIE LINKE Eva Bulling-Schröter Jan Korte BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({2}) Volker Beck ({3}) Birgitt Bender Ekin Deligöz Katja Dörner Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Priska Hinz ({4}) Ulrike Höfken Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Renate Künast Undine Kurth ({5}) Jerzy Montag Kerstin Müller ({6}) Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Lisa Paus Tabea Rößner Claudia Roth ({7}) Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Ilse Aigner Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({8}) Manfred Behrens ({9}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({10}) Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({11}) Dirk Fischer ({12}) Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({13}) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Florian Hahn Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({14}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({15}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Julia Klöckner Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach ({16}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Dr. Michael Luther Karin Maag Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({17}) Dr. Michael Meister Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({18}) Nadine Schön ({19}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({20}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Daniela Ludwig Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({21}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({22}) Anita Schäfer ({23}) Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({24}) Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Thomas Strobl ({25}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({26}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({27}) Peter Weiß ({28}) Sabine Weiss ({29}) Ingo Wellenreuther Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Holger Ortel FDP Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({30}) Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Sylvia Canel Reiner Deutschmann Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther ({31}) Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Pascal Kober Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({32}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({33}) Michael Link ({34}) Oliver Luksic Jan Mücke Petra Müller ({35}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({36}) Hans-Joachim Otto ({37}) Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Stephan Thomae Florian Toncar Serkan Tören ({38}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({39}) Enthalten SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({40}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({41}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({42}) Michael Groß Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({43}) Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Hinz ({44}) Frank Hofmann ({45}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({46}) Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christian Lange ({47}) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Manfred Nink Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Dr. Carola Reimann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({48}) Marlene Rupprecht ({49}) Axel Schäfer ({50}) Bernd Scheelen Werner Schieder ({51}) Carsten Schneider ({52}) Swen Schulz ({53}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Dr. Dieter Wiefelspütz ({54}) Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Matthias W. Birkwald Dr. Martina Bunge Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Nicole Gohlke Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Andrej Hunko Dr. Lukrezia Jochimsen Harald Koch Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Richard Pitterle Yvonne Ploetz Ingrid Remmers Paul Schäfer ({55}) Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Sahra Wagenknecht Harald Weinberg Katrin Werner Nun können wir in der Debatte fortfahren. Ich erteile der Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({56})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Wehrbeauftragter! Vorweg möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern, lieber Herr Königshaus, einmal ein ganz schlichtes Lob aussprechen. Dieser erste von Ihnen verantwortete Jahresbericht besticht durch seine übersichtliche Gestaltung, die es dem Leser leichter macht. Das ist gar kein so unwichtiges Detail. Zwar verfassen Sie als Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages Ihren Bericht zunächst für uns Parlamentarier - ich hoffe, dass wir uns alle mit der gebotenen Sorgfalt seiner Lektüre widmen -, aber natürlich wirkt er auch in die weite Öffentlichkeit hinaus. Es ist schließlich wünschenswert, dass sich möglichst viele Menschen für den Zustand der Bundeswehr interessieren; denn der interessierte und informierte Staatsbürger ist ebenso wie der uniformierte Staatsbürger innerhalb der Truppe eine wesentliche Voraussetzung für die Verankerung der Streitkräfte in der Gesellschaft. Wir wollen eine Gesellschaft, die Anteil an dem nimmt, was innerhalb der Bundeswehr geschieht - auch an den Sorgen und Klagen der Soldaten, die für die Sicherheit dieser Gesellschaft in den Einsatz gehen. Wir wollen keine Gesellschaft, der die Bundeswehr egal ist oder die sie als Fremdkörper betrachtet, ({0}) ebenso wie wir keine Bundeswehr wollen, die sich gerade jetzt, da wir für den Übergang zur Freiwilligenarmee stehen, als Fremdkörper fühlt. Deswegen ist jedes Detail wichtig, durch das die Beschäftigung mit der Truppe erleichtert wird. Meine Damen und Herren, andererseits gibt es Grenzen dafür, wie viele Details aus aktuellen Vorgängen in die Öffentlichkeit getragen werden. Angesichts kürzlicher Debatten muss die Frage erlaubt sein, ob für politische Ziele, für die Auflage oder für die Quote noch zusätzlich auf den Betroffenen herumgetrampelt werden muss, indem etwa mit Einzelheiten aus dem Feldjägerbericht operiert wird, Pauschalurteile über Marinebesatzungen gefällt werden oder ganz Deutschland über das Körpergewicht einer tödlich verunglückten Kadettin diskutiert. Dadurch werden in erheblichem und völlig unnötigem Umfang die Familien von Opfern und von Soldaten belastet, die sich Ermittlungen ausgesetzt sehen. Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben wir natürlich ein Recht auf Information über die Vorgänge in der Parlamentsarmee Bundeswehr, und zwar sowohl durch das Verteidigungsministerium als auch durch den Wehrbeauftragten. Das gilt zwar nicht für jedes einzelne Disziplinarproblem und jeden Dienstunfall - wofür es schließlich den Bericht des Wehrbeauftragten gibt, in dem eine jährliche Gesamtschau vollzogen wird -, aber für schwerwiegende Vorfälle, über die wir schnellstmöglich, vollständig und unmittelbar informiert werden müssen, also nicht auf Umwegen über die Presse. Als Berichterstatterin für den Einzelplan 02 muss ich sagen, Herr Wehrbeauftragter, dass ich mir gelegentlich eine noch frühere Einbindung gewünscht hätte. Diese Medaille hat aber natürlich noch eine andere Seite. Die Politik sollte auch die Disziplinarvorgesetzten und die zuständigen Ermittlungsbehörden ihre Arbeit Anita Schäfer ({1}) machen lassen, bevor öffentliche Urteile abgegeben werden, auch wenn der mediale Druck groß ist, wobei ich mir von Medienseite ebenfalls etwas mehr Zurückhaltung wünschen würde. So viel zum Formalen; nun komme ich zum Inhalt. Meine Damen und Herren, in dem Bericht wird auf drei Schwerpunkte hingewiesen, die gegenüber den Vorjahren gleich geblieben sind. Bei diesen sehen wir erneut einiges an Schatten, aber mittlerweile auch einiges an Licht. Erstens: die Attraktivität des Dienstes und die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Gerade mit Blick auf die Nachwuchswerbung für eine künftige Freiwilligenarmee, so stellt der Wehrbeauftragte richtig fest, stelle sich die Frage der Attraktivität in allen Bereichen. Der Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes, den wir heute Morgen in erster Lesung behandelt haben, bildet hier die Grundlage für weitere Verbesserungen. Ich begrüße es sehr, dass der Bundesverteidigungsminister bereits angekündigt hat, 200 weitere Eltern-Kind-Arbeitszimmer einrichten zu wollen. Das Programm des Ministeriums zur Attraktivitätssteigerung enthält viele weitere wertvolle Anregungen. Es liegt an uns, diese umzusetzen. Durch das Reformbegleitgesetz, das bald vorliegen wird, wird uns die Möglichkeit dazu gegeben. Wir von der Union haben bereits eine interne Unterarbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit der Verbesserung der Attraktivität des Dienstes bei der Bundeswehr befasst, ({2}) nicht zuletzt hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Familie. Der zweite Punkt sind die fortbestehenden Probleme im Sanitätsdienst. Hier geht es insbesondere um den erheblichen Mangel an Fachpersonal. Die dagegen ergriffenen Maßnahmen werden erst mittel- bis langfristig vollständig umgesetzt werden können. Das ist umso wichtiger, als die Bundeswehr weiterhin im Wettbewerb mit dem zivilen Gesundheitssektor steht. Drittens können wir bei den Auslandseinsätzen erneut konstatieren, dass sich die Ausrüstungssituation laufend verbessert. So ist die früher stets kritisierte Ausstattung mit geschützten Fahrzeugen und Bewaffnung in Afghanistan mittlerweile zufriedenstellend. Aber noch immer sehen die Soldaten dieses Gerät vielfach erst im Einsatzland. Deswegen müssen und deswegen werden wir unsere Anstrengungen in diesem Bereich fortsetzen. Bei einem anderen leidigen Thema zeichnet sich ebenfalls eine Verbesserung ab: Der neue Rahmenvertrag zur Betreuungskommunikation sichert einen Verbindungsumfang, der den gestiegenen technischen Möglichkeiten und Anforderungen entspricht, sodass beispielsweise trotz des erheblich gestiegenen Kontingentumfangs künftig wieder das Skypen, also die Videotelefonie, nach Hause möglich wird. Zudem erhält jeder Soldat pro Woche 30 Freiminuten zum Telefonieren nach Hause, und zwar zusätzlich zum Auslandsverwendungszuschlag, der eigentlich Belastungen wie die teure Kommunikation aus dem Einsatz bereits berücksichtigt. ({3}) Der Hinweis des Wehrbeauftragten auf Ausbildungsmängel gerade beim Gebrauch von Schusswaffen erscheint vor dem Hintergrund der derzeit öffentlich diskutierten jüngsten Vorfälle bei der Bundeswehr besonders prägnant. Ausdrücklich betont der Bericht die Notwendigkeit drillmäßigen Übens. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Nur ständige Wiederholung gibt beim Umgang mit gefährlichem Gerät und bei dem Ausüben gefährlicher Tätigkeiten die notwendige Sicherheit. Das steht im Gegensatz zu der medialen Kritik an militärischem Drill, die etwa in der Berichterstattung über die Vorgänge auf der „Gorch Fock“ zu lesen war. Dieser Drill ist kein Selbstzweck, sondern dient der Vorbereitung der Soldaten auf einen Dienst, in dem sie das Gelernte buchstäblich im Schlaf beherrschen müssen. Selbstverständlich findet dies aber seine Grenzen an den Grundsätzen der Inneren Führung, des Strafrechts und der Menschenwürde. Ich möchte zum Schluss noch ein aktuelles Ereignis ansprechen. Am vergangenen Freitag erreichte uns erneut eine schlimme Meldung aus Afghanistan. Ein Angreifer in afghanischer Armeeuniform erschoss heimtückisch drei Bundeswehrsoldaten innerhalb eines Beobachtungspostens und verwundete sechs weitere, zwei davon schwer. Leider ist das in der Berichterstattung quasi nur als Fußnote erwähnt worden. Es war offenbar wichtiger, über andere Fußnoten zu debattieren. Ich möchte den Angehörigen der drei Gefallenen an dieser Stelle unser Mitgefühl und Beileid aussprechen, besonders angesichts der schweren Stunden, die ihnen morgen mit dem Abschiednehmen bei der Trauerfeier bevorstehen. Zudem wünsche ich den Verwundeten eine rasche und vollständige Genesung. Es ist besonders bitter, dass dieser Angriff im Rahmen der Ausbildung für die afghanischen Sicherheitskräfte geschah, die in wenigen Jahren die Verantwortung für ihr Land übernehmen sollen, damit wir uns zurückziehen können. Unsere Soldaten kämpfen dort in einem Konflikt, in dem sich der Gegner an keinerlei Regeln des Völkerrechts hält, während wir diese peinlich genau befolgen und bereits beim bloßen Verdacht auf Verstöße staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren einleiten und Untersuchungsausschüsse einrichten, wie es die Pflicht eines Rechtsstaates ist. Dennoch erfüllen unsere Soldaten dort weiter den gefährlichen Auftrag, den wir ihnen gegeben haben, auch um die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten. Dafür verdienen sie unseren Dank, unseren Respekt und unsere volle Unterstützung. Ich wünsche mir, dass sich das in der öffentlichen Debatte noch stärker zeigt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion.

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch meine Fraktion möchte den Familien und Angehörigen der gefallenen Soldaten in Afghanistan sagen, dass wir mit ihnen fühlen in dem Wissen, dass in dieser Situation nichts ihren Schmerz stillen kann und nichts ihrem Schmerz gerecht wird. Den verwundeten Soldaten wünschen wir baldige und vollständige Genesung. All unseren Soldaten im Einsatz wünschen wir, dass sie heil und gesund zurückkommen. ({0}) Ich danke dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Gerade in letzter Zeit haben wir erfahren müssen, dass wir mehr wertvolle Informationen von ihm bekommen als von unserem Verteidigungsminister. ({1}) Aus dem Bericht des Wehrbeauftragten geht erfreulich klar hervor, dass die Bundeswehr nicht genug für Soldatinnen und Soldaten und deren Familien tut. Die Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist ein „zentraler Attraktivitätsfaktor“; so steht es im aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten. Das kann ich hier und heute nur noch einmal mit Nachdruck unterstreichen. Wenn die Bundeswehr zukünftig ohne Wehrpflichtige auskommen muss, dann gilt das umso mehr. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist nicht nur eine wesentliche Erleichterung für Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien, sondern ist auch ein ganz wichtiges Argument für junge Leute, wenn sie vor der Entscheidung für oder gegen die Bundeswehr als Arbeitgeber stehen. Vor vier Jahren hat die Bundeswehr eine Teilkonzeption zum Thema „Familie und Dienst“ vorgelegt. In der Folge gab es sogar einige hoffnungsvolle Pilotprojekte. Aber insgesamt ist eigentlich viel zu wenig passiert. Ein großes Problem ist die Kinderbetreuung. Es gibt genau einen einzigen Betriebskindergarten der Bundeswehr, und der ist ausgerechnet in Bonn, und zwar im Verteidigungsministerium. Das ist sicherlich gut und richtig für die Mitarbeiter im Ministerium. Aber das ist natürlich weit entfernt von einem ernstzunehmenden Betreuungsangebot für die Truppe. Auch wenn man den Grundsatz verfolgt, dass man zuerst die Kooperation mit Kindertagesstätten vor Ort sucht, bleibt das Problem, dass der Soldatenberuf und seine besonderen Anforderungen eben nicht mit den Öffnungszeiten eines kommunalen Kindergartens in Einklang zu bringen sind. Deswegen ist ganz klar: Bundeswehr und Verteidigungsministerium müssen die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausbauen und zu einem Teil ihres Attraktivitätsportfolios machen. ({2}) Natürlich kostet das auch Geld. Bisher gilt, dass Kinderbetreuung kein zusätzliches Geld kosten darf. Aber mit diesem Ansatz wird es bestimmt nicht gehen. Wenn wir eine Bundeswehr wollen, die als Arbeitgeber wirklich attraktiv ist, dann werden wir alle miteinander so ehrlich sein müssen und das dann auch so sagen. Genauso sage ich, dass nicht alles, was zur Familienfreundlichkeit beiträgt, letztendlich mehr Geld kostet. Beispielsweise leiden Soldatinnen und Soldaten darunter, dass bei der Personalerfassung oft nicht berücksichtigt wird, dass der Partner oder die Partnerin auch Soldat ist. Die Folge ist dann, dass bei Versetzungen eben nicht bedacht wird, welche Verwendung für den Partner eingeplant ist. Das könnte man zum Beispiel durch einen Eintrag in die Personaldaten verhindern. Ähnliches gilt für die Planung von Fortbildungen. Hier könnte die Bundeswehr recht kurzfristig ihren guten Willen zeigen und untermauern. Kommen wir jetzt zum Thema Auslandseinsätze. Noch wichtiger wird die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wo Soldatinnen und Soldaten in den Einsatz gehen. Der Bericht des Wehrbeauftragten räumt diesem Punkt zu Recht besonders viel Platz ein. Das fängt an bei der Einsatzdauer. Im Jahr 2010 gab es eine schleichende Verlängerung der Afghanistan-Mandate über die eigentlich vorgesehenen vier Monate hinaus. Im Januar dieses Jahres ging ein Kontingent nach Afghanistan, dessen Soldaten schon vor der Abreise gesagt wurde, dass sie für sechs Monate eingesetzt seien, manche sogar noch länger. Wir haben das hier vor einigen Wochen schon einmal angesprochen. Ich will es trotzdem wiederholen: Das schadet unseren Soldaten, weil die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen mit jedem zusätzlichen Tag im Einsatz steigt. ({3}) Der Wehrbeauftragte hat auch dazu im letzten Jahr einige Berichte bekommen. Es ist ebenfalls nicht einzusehen, dass auf einmal die breite Masse der Soldatinnen und Soldaten zu Spezialisten geworden ist, für die wir eine längere Einsatzdauer eigentlich vorgesehen haben. Das sollten und sollen wirklich Ausnahmen bleiben. Sonst müssen Sie so ehrlich sein und begründen, warum ganze Kontingente ein halbes Jahr und länger in den Einsatz gehen. Was bei diesen Einsätzen oft unter den Tisch fällt: Die lange Abwesenheit hat spürbare Folgen für die Familien. Da fehlt die Mama oder der Papa einfach mal für ein halbes Jahr, und zwar nicht, weil er mit einem Schirmchendrink auf den Malediven sitzt, sondern weil er in einen gefährlichen Einsatz geht. Das zehrt an den Nerven der Angehörigen. Es ist nicht in Ordnung, dass sich viele Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien nicht mehr auf das Wort ihres Dienstherrn verlassen können, wenn es um die Länge ihres Auslandseinsatzes geht. ({4}) Verschlimmert wird das noch durch eine undurchsichtige Einsatzplanung. Im Bericht ist von Fällen zu lesen, in denen es keine rechtzeitige Information über verschobene In- und Out-Termine gab. Das betraf übrigens auch Kontingente für das Kosovo, bei denen in der zweiten Septemberwoche noch nicht feststand, wann in der zweiten Monatshälfte die Rückflüge stattfinden sollten. Dass die Soldaten dann nach ihrer Ankunft in Deutschland noch durch die halbe Republik reisen müssen, um zu ihrem Heimatstandort zu kommen, das komplettiert das Bild eines Arbeitgebers, der solche Fragen offensichtlich nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit behandelt. Das sind natürlich Kleinigkeiten im Vergleich zu Tod und Verwundung im Einsatz. Aber es sind wichtige Dinge, die nicht nur das Leben der Soldatinnen und Soldaten erleichtern, sondern auch der Bundeswehr helfen; denn sie erhält als Gegenwert zufriedenere Mitarbeiter, die sich wertgeschätzt fühlen. Die Bundeswehr sollte daher nicht den Fehler begehen, Dinge wie Familienbetreuung und Fürsorge während eines Auslandseinsatzes als Sozialdudelei zu verniedlichen. Ich glaube, viele große Unternehmen in Deutschland haben mittlerweile gelernt, dass das ein großer Fehler ist. Die meisten haben dazugelernt, und das Verteidigungsministerium sollte sich diesem Lernprozess anschließen. ({5}) Ein weiterer Punkt in dieser Reihe ist das Thema „Kommunikation aus dem Einsatzland“. Wir haben uns im Ausschuss wiederholt damit beschäftigt. Im Vergleich zu dem, was unsere Partnernationen den Soldatinnen und Soldaten anbieten, befindet sich unsere Bundeswehr immer noch im letzten Jahrtausend. Neue Mobilfunkverträge sollen bis Mitte des Jahres stehen. Aber es ist schon jetzt abzusehen, dass auch diese Verträge nicht ausreichen werden. ({6}) Es ist doch eigentlich ganz einfach: Dinge wie Skype gehören heute einfach zur Alltagskommunikation, besonders wenn man über Tausende von Kilometern kommunizieren muss. Das sollte sich auch in den Vertragsanforderungen niederschlagen; es fehlt aber bisher. Ich bitte, das noch einmal zu überprüfen. Alles andere führt doch nur zu unnötiger Frustration. Unsere Soldatinnen und Soldaten warten dringend auf eine Verbesserung und vertrauen auf die Ankündigung des Ministeriums. Wenn es entgegen dieser Ankündigung bis Mitte des Jahres immer noch keine Lösung für die Kommunikation aus den Einsatzgebieten gibt, dann wird dieses Vertrauen verschenkt. Das führt mich zum nächsten Schwerpunkt im Jahresbericht, zum Thema „Verlässlichkeit und Qualität“. Wir haben heute Vormittag über den Entwurf zum Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 beraten. Zum 1. Juli 2011 soll die Wehrpflicht wegfallen. Was mir bei der Diskussion bisher zu kurz kommt, ist die Frage, wie die Bundeswehr in Zukunft eigentlich den Nachwuchs gewinnen will, den sie braucht. Die Bundeswehr wird sich nach dem Wegfall der Wehrpflicht doch viel intensiver als bisher um Nachwuchsgewinnung kümmern müssen. Das wird für die Truppe zu einer wirklichen Herausforderung werden. Die Nachwuchsgewinnung wird durch den demografischen Wandel noch erschwert. Unsere Bundeswehr wird in Zukunft also viel mehr mit der freien Wirtschaft um gute Köpfe konkurrieren müssen. Wenn ich mir die Äußerungen aus der Bundeswehrführung der letzten Tage dazu vergegenwärtige, dann bin ich skeptisch, ob das schon überall erkannt worden ist. Ich glaube wirklich, dass es ein falsches Signal ist, wenn die Bundeswehrführung davon spricht, in Zukunft vor allem Geringqualifizierte ansprechen zu wollen. Umgekehrt wäre es richtig: Sie sollten den Anspruch haben, die wirklich gut Qualifizierten anzuwerben. Dazu braucht man natürlich auch eine entsprechende finanzielle Ausstattung. In Zukunft steigen also die Anforderungen an eine effiziente Nachwuchsgewinnung. Die Bundeswehr hat bei einer Stärke von rund 185 000 Mann einen jährlichen Regenerationsbedarf von 10 000 Kurzzeitdienern und 17 000 Zeit- und Berufssoldaten. Wenn wir für die Zeit- und Berufssoldaten ein Verhältnis von drei Bewerbern auf eine Stelle und für Kurzzeitdiener ein Verhältnis von zwei zu eins ansetzen, dann können wir feststellen, dass die Bundeswehr jährlich mehr als 70 000 Bewerber benötigt. Legt man die Ausgaben anderer Armeen für die Nachwuchswerbung zugrunde, müsste die Bundeswehr künftig pro Jahr deutlich über 1 Milliarde Euro aufwenden, um neue Kräfte anzuwerben. Wie diese wirklich beträchtliche Summe von über 1 Milliarde Euro im Verteidigungshaushalt aufgebracht werden soll, ist noch immer nicht klar. Auch die geplante Reduzierung der Zahl der Kreiswehrersatzämter macht uns große Sorgen. Damit sinken die Chancen der Bundeswehr, auch in der Fläche präsent zu sein. Natürlich spielt die Bezahlung eine wichtige Rolle; aber das ist nicht das Einzige. Fairness, Transparenz und Verlässlichkeit dürfen nicht auf der Strecke bleiben. Dazu gibt es ein paar negative Beispiele: Die versprochene Sonderzahlung, die Weiterzahlung des Weihnachtsgeldes, ist nicht erfolgt. Das hat unsere Soldaten sehr enttäuscht. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage weiterkommen. Mir ist sehr wichtig, zu sagen, dass meine Fraktion erwartet, dass uns hinsichtlich der Vorkommnisse auf dem Schulschiff „Gorch Fock“ möglichst bald ein vollständiger Bericht vorliegt. Wir erwarten mit Ungeduld die Ergebnisse der angekündigten Untersuchung. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Christoph Schnurr für die FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf im Namen der FDP-Fraktion zu Beginn meiner Ausführungen und meiner Berichterstattung zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten zum Ausdruck bringen, dass auch unsere Gedanken bei den Hinterbliebenen der bei den tragischen Ereignissen der letzten Woche in Afghanistan Gefallenen sind. Wir hoffen, dass die Verwundeten schnellstmöglich genesen. Wir senden von dieser Stelle - ich glaube, ich tue das auch im Namen des ganzen Hauses - die besten Wünsche. ({0}) Der Wehrbeauftragte hat dem Parlament Ende Januar dieses Jahres den Jahresbericht für 2010 vorgelegt. Er hat die Erkenntnisse, die er im Jahr 2010 bei unterschiedlichsten Truppenbesuchen, bei Gesprächen, bei diversen anderen Gelegenheiten mit den Soldatinnen und Soldaten sowie Angehörigen der Bundeswehr, aber auch mit unterschiedlichen Institutionen gewonnen hat, in dem Jahresbericht gebündelt und ihn dem Deutschen Bundestag sehr zeitnah übergeben. Ich glaube, es ist der erste Bericht, der dem Deutschen Bundestag so zeitnah übergeben wurde. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass wir die Gelegenheit haben, ebenfalls zeitnah über diesen Bericht zu diskutieren. Herr Minister, ich setze auch in diesem Zusammenhang auf die Offenheit Ihres Hauses, darauf, dass Sie den Inhalt des Berichts nicht nur prüfen werden, sondern dass Ihr Haus die Stellungnahme zu diesem Bericht nach Möglichkeit zeitnah dem Parlament übermittelt, damit wir dann hier über die Konsequenzen, die aus dem Jahresbericht 2010 resultieren, angemessen diskutieren können. Sie, Herr Königshaus, nehmen Ihre verantwortungsvolle Aufgabe als Wehrbeauftragter sehr ernst. Dies zeigt sich insbesondere dadurch, dass Sie den Verteidigungsausschuss im Jahr 2010 bereits zweimal unterrichtet haben. Es ist gut, zu wissen, dass Sie uns nicht nur am Ende des Jahres mit dem komprimierten Jahresbericht informieren, sondern dass Sie die Mitglieder des Verteidigungsausschusses auch regelmäßig über Ergebnisse und Ereignisse unterrichten, die sich in der Truppe abspielen. Auch der 52. Jahresbericht legt viele Missstände dar, die jedoch zum Teil - das ist das Positive daran - wieder abgestellt sind. Der Jahresbericht 2010 hat im Wesentlichen drei Schwerpunkte: die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, die Situation in den Auslandseinsätzen und, damit verbunden, die Ausrüstung der Soldaten sowie die Probleme im Sanitätsdienst. Im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Dienst besteht Nachholbedarf. In der Kinderbetreuung gibt es zwar erste Erfolge; ein flächendeckender großer Durchbruch ist aber noch nicht erzielt worden. Es ist darüber nachzudenken, ob beispielsweise eine Kinderbetreuung an den Universitäten und an den Bundeswehrschulen sinnvoll erscheinen würde. Nachzudenken ist auch über weitere Betriebskindergärten, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Frauenanteil in der Truppe mittlerweile bei knapp 9 Prozent liegt. Wir wollen diesen Anteil auf 15 Prozent steigern. Deswegen ist es begrüßenswert, dass der Bundesminister im letzten Jahr angekündigt hat, an 200 Standorten weitere Eltern-Kind-Arbeitszimmer neben denen zu schaffen, die bereits existieren. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich bin mir sicher, dass es nicht der letzte Schritt sein wird. ({1}) Wenn wir über die Auslandseinsätze und die vorhandene Ausrüstung sprechen, dann dürfen wir nie vergessen, dass Ausbildung und Ausrüstung die höchste Priorität haben müssen. Die haben sie auch. Das Training mit den Handwaffen und den Fahrzeugen kann nicht oft genug unter harten Bedingungen erfolgen, damit die Soldatinnen und Soldaten dieses Material im Einsatz auch in schwierigen Situationen sicher beherrschen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir sind hier auf dem richtigen Weg, wenngleich es noch viel zu tun gibt. Deswegen ist es eine richtige Entscheidung gewesen, im Verteidigungsministerium eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe zu gründen, die aus den Erfahrungen im Einsatzkontingent Ausrüstungsmängel identifiziert, damit diese dann abgestellt werden können. Es ist auch richtig, dass wir als Parlamentarier den Haushaltsansatz für den einsatzbedingten Sofortbedarf im Jahr 2011 auf 300 Millionen Euro angesetzt haben, der unmittelbar unseren Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen zugutekommt. ({2}) Dass das richtig war, sehen wir daran, dass sich die Anzahl der geschützten Fahrzeuge insbesondere in Afghanistan maßgeblich erhöht hat. Ein wichtiger Punkt, der nicht nur im letzten Bericht erwähnt wurde, sondern auch immer wieder im Gespräch mit den Soldaten ein Soft Skill ist, ist die Möglichkeit der Kommunikation mit der Heimat. Der ehemalige Anbieter hat einiges geleistet, wenngleich wir uns alle erhofft haben, dass die Möglichkeiten der Soldatinnen und Soldaten, mit ihren Angehörigen in Deutschland zu kommunizieren, besser werden. Deswegen ist es richtig und gut, dass nicht nur eine Ausschreibung stattgefunden hat, sondern dass auch die Entscheidung getroffen wurde, einen neuen Anbieter zu suchen und die damit verbundenen Leistungen für die Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz wesentlich zu verbessern. Hierzu gehört nicht nur, dass mehr Computerarbeitsplätze und höhere Geschwindigkeitsraten für Telefonie und Internet zur Verfügung stehen, sondern auch, dass das Ministerium zugesagt hat, den Soldatinnen und Soldaten 30 Telefonfreiminuten in der Woche zur Verfügung zu stellen. Das sind erste Schritte, um die Attraktivität der Bundeswehr zu steigern. ({3}) Der Sanitätsdienst ist selber zum Patienten geworden. Das hat der Wehrbeauftragte bereits angeführt. Auch hier haben wir mit einem erhöhten Mittelumfang die Talfahrt beenden können. Im letzten Jahr fehlten noch rund 600 Ärzte. Mittlerweile hat sich diese Zahl auf 360 reduziert. Wir konnten sogar 85 Seiteneinsteiger aus der freien Wirtschaft für die Bundeswehr gewinnen. Wir müssen neue Anreize schaffen. Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, insbesondere der Umstrukturierung der Bundeswehr, müssen wir die Bundeswehr noch attraktiver machen. Herr Wehrbeauftragter, ich wünsche Ihnen für die Arbeit in diesem Jahr, die sicherlich vor dem Hintergrund der Strukturreform und der Aussetzung der Wehrpflicht, aber auch vor dem Hintergrund der bestehenden Einsätze äußerst interessant werden wird, alles Gute. Am Ende meiner Rede - Frau Präsidentin, ich sehe das Licht - möchte ich den Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, aber auch ganz bewusst deren Familien, Angehörigen und den Freunden der Soldaten sowie den Soldatinnen und Soldaten in Deutschland danken. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich meinen Dank an den Wehrbeauftragten für diesen wertvollen Bericht und seine wichtige Arbeit aussprechen. Solange es eine Bundeswehr gibt, ist die Institution des Wehrbeauftragten in jedem Fall sinnvoll und notwendig. ({0}) Der Bericht zeigt aber auch, warum die Vorstellung einer Bundesrepublik ohne Armee so attraktiv ist. Ein Teil der aufgeführten Missstände und Exzesse wie Bedrohung von Untergebenen oder gar Körperverletzung oder entwürdigende Behandlung ist wohl eher ein Zerrbild als ein Spiegel der Gesellschaft. ({1}) Da helfen die jährlichen Berichte, wenigstens die Probleme der real existierenden Bundeswehr zu beschreiben. Wie wichtig die Arbeit des Wehrbeauftragten als Anwalt der Soldatinnen und Soldaten ist, zeigten die letzten Monate schmerzlich. Besorgte Bundeswehrangehörige haben sich über die Feiertage an mein Büro und wohl auch an viele andere Abgeordnete gewandt. Die Anlässe sind in der Zwischenzeit hinlänglich bekannt, aber noch lange nicht aufgeklärt: geöffnete Briefe, lebensgefährliche Missstände auf der „Gorch Fock“ und Waffenspiele in Afghanistan. Das alles beunruhigte Soldaten, lange bevor es die Bild-Zeitung aufgriff. Meinen Brief mit der Bitte um Aufklärung beantwortete das Verteidigungsministerium erst gut einen Monat später. Auch die erste Sitzung des Verteidigungsausschusses in diesem Jahr trug kaum zur Klärung bei. Dort erzählte der Staatssekretär Kossendey, der Soldat sei in Afghanistan beim Waffenreinigen gestorben. Auch der Minister redet zwar gerne mit ausgewählten Medien, nimmt aber seine Auskunftspflichten gegenüber Abgeordneten nicht allzu ernst. ({2}) Ohne einen Wehrbeauftragten wären dem Verteidigungsausschuss wohl wieder einmal wesentliche Informationen vorenthalten worden. Eine wirkliche parlamentarische Kontrolle der Armee ist so kaum möglich. ({3}) Ich bin dankbar für das Korrektiv des Wehrbeauftragten. Doch eigentlich ist es Aufgabe des Ministeriums, alle wesentlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Stattdessen wird vertuscht und verschleiert. So kann das nicht weitergehen. ({4}) Der größte und gewichtigste Teil der Probleme der Soldatinnen und Soldaten bezieht sich auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr und ganz speziell auf den Kriegseinsatz in Afghanistan. Der Bericht des Wehrbeauftragten macht sichtbar, was es konkret bedeutet, dass Deutschland eine „Armee im Einsatz“ hat. Die verfahrene Lage in Afghanistan wird überdeutlich. Wir können nachlesen, dass die „Intensität der Einsätze kontinuierlich zugenommen“ hat, dass Soldaten „nahezu täglich in Feuergefechte verwickelt“ sind, dass sie „durch zunehmend militärisch organisierte Hinterhalte und Angriffe bedroht“ sind. So steigt die Zahl der Soldatinnen und Soldaten ständig, die dies nicht mehr verkraften. Im Jahr 2010 wurden 40 Prozent mehr posttraumatische Erkrankungen festgestellt als im Vorjahr. Das ist nur die Spitze des Eisberges; die Dunkelziffer ist hoch. Diese Erkrankungen, aber auch die immer häufigeren und immer längeren Kriegseinsätze belasten auch die Angehörigen. Deshalb wenden sich auch immer mehr Familienangehörige an den Wehrbeauftragten. In dem Bericht des Wehrbeauftragten wird auch sehr deutlich, dass es der Bundesregierung mehr um militärische Interessen als um die Soldatinnen und Soldaten geht. So dauern die Versorgungsverfahren zur Anerkennung von posttraumatischen Erkrankungen sehr lange, und nur etwa ein Drittel der Anträge auf Wehrdienstbeschädigung im Falle von PTBS wurde anerkannt. Das ist zynisch. ({5}) Es kann nicht sein, dass Soldaten und ihre Angehörigen den Preis für die Kriegspolitik der Regierung zahlen und dann auch noch mit den Folgen alleingelassen werden. ({6}) Kriege ohne Traumatisierung gibt es nicht; das gilt für Soldaten ebenso wie für die Zivilbevölkerung - ein weiterer Grund, warum die deutsche Kriegsbeteiligung so schnell wie möglich beendet werden muss. ({7}) Es gibt nur einen wirklichen Schutz für die Soldatinnen und Soldaten: Das ist ein Ende dieses Krieges. In den letzten zwölf Monaten starben elf deutsche Soldaten in Afghanistan. Etwa 70 wurden verletzt. Jeder Einzelne von ihnen ist einer zu viel. ({8}) Die Mehrheit in diesem Haus hat es in der Hand, wenigstens weitere Opfer zu verhindern. Holen Sie die Bundeswehr zurück! Beenden Sie diesen Kriegseinsatz! ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Freiherr zu Guttenberg. ({0})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Höger, das war wieder einmal eine bemerkenswerte Rede, ({0}) die Sie mit den Worten „solange es eine Bundeswehr gibt“ eingeleitet haben. ({1}) Ich kann nur sagen: Solange es die Linke gibt, wird es auch die Bundeswehr geben. ({2}) Gott sei Dank ist das der Fall. ({3}) Ich darf auch Ihr hartes Urteil über das Ministerium, das letztendlich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und alle Soldaten trifft, mit Nachdruck zurückweisen. Das haben sie nicht verdient. Ein solches Urteil sollte man nicht fällen. ({4}) Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten Herrn Königshaus ist „den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie ihren Angehörigen gewidmet“. Weiter heißt es im Vorwort: Sie nehmen eine für die Gesellschaft unverzichtbare und viel zu wenig gewürdigte Aufgabe wahr. Das ist, wenn man so will, der Schlüsselsatz in Ihrem Jahresbericht, der auch das gesamte Spannungsfeld aufzeigt, in dem wir uns immer wieder befinden und das letztlich auch bei den Soldaten sowie bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr vorzufinden ist. Ich kann daher nur das unterstreichen, was Sie mit diesem Satz zum Ausdruck bringen, nämlich dass immer noch viel zu wenig gewürdigt und wahrgenommen wird, was an Dienst für unser Land - auch fern davon - geleistet wird. Daher haben unsere Soldaten Dank und nicht ein solches Pauschalurteil verdient. ({5}) Diese klare Aussage wird dann mit vielen Beispielen untermauert. Ich will dem Wehrbeauftragten für seine Tätigkeit danken. Er macht meinen Dienst nicht immer ruhiger; das liegt aber in der Natur der Sache. Ich glaube, dass wir eine sehr gute Form gefunden haben, die Probleme aufzugreifen, anzugehen und zu bearbeiten. Ich bin überzeugt von der Richtigkeit der Einrichtung des Amts eines Wehrbeauftragten, weil es unsere Arbeit ergänzt und weil wir Dinge oftmals erst über den Wehrbeauftragten erfahren. Deshalb ist es eine wichtige und für Sie, Herr Königshaus, oft auch eine hoch emotionale Arbeit, die sicherlich nicht immer ganz einfach ist. Uns eint das Ziel, dass wir die Sorgen, die Nöte und die Hoffnungen der Soldatinnen und Soldaten nicht nur ernst nehmen, sondern sie aufgreifen und unsere Bemühungen letztlich in Ergebnisse münden lassen. Wir wollen ein klares Bild zeichnen, das die Realitäten wiedergibt. Wenn Vorwürfe von Soldaten kommen oder Vorwürfe über einzelne Soldaten uns erreichen - manchmal erreichen sie uns erst über die Medien -, dann gehen wir vernünftig und ruhig damit um und versuchen, Abhilfe zu schaffen. Die Einrichtung des Wehrbeauftragten macht sichtbar, wie eng der Dienst in unseren Streitkräften an das Grundgesetz gebunden ist. Der jährlich vorgelegte Bericht ist immer auch willkommener Anlass, die Frage nach dem Zustand und nach dem inneren Gefüge unserer Streitkräfte zu stellen. Die teilweise eher laute öffentliche Diskussion über einzelne Missstände der letzten Monate darf uns allerdings nicht den Blick auf eine Sache verstellen: Es ist mir wichtig, dass wir keine voreiligen Schlüsse über die innere Gesamtlage der Bundeswehr ziehen. Wir müssen uns immer wieder deutlich machen, dass es sich um Fehlverhalten Einzelner handelt und dass das nicht den Zustand der gesamten Bundeswehr widerspiegelt. ({6}) Es ist und bleibt ein gefährlicher Dienst, den unsere Soldatinnen und Soldaten in unserem Auftrag leisten. Morgen Nachmittag - darauf wurde von fast allen Rednern hingewiesen - kommen wir zusammen, um in Regen der drei in der vergangenen Woche gefallenen Soldaten zu gedenken. Herr Königshaus, Sie haben mit zwei der gefallenen Soldaten noch gesprochen. Ich selbst war einen Tag vor diesem schrecklichen Vorfall in dem OP North. Ich habe dort Soldaten getroffen und mit ihnen gesprochen. Dieser Vorfall hat mich daher in besonderer Weise erschüttert. Wir denken an Hauptfeldwebel Georg Missulia, wir denken an den Stabsgefreiten Konstantin Menz und an den Hauptgefreiten Georg Kurat, alle aus der 4. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 112 in Regen. Wir sind mit unseren Gedanken und Gebeten bei ihnen, bei den Angehörigen, insbesondere aber auch bei den Verwundeten. Es waren zehn Verwundete an diesem Tag. Es gab zwei unterschiedliche Vorfälle. Wir wünschen uns baldige und beste Genesung gerade für die Verwundeten. ({7}) Die öffentliche Anteilnahme ist in den letzten eineinhalb bis zwei Jahren sehr gewachsen. Das ist trotz der Schrecklichkeit der Vorfälle ein positives Zeichen, da die Menschen aufnehmen und wahrnehmen, was unsere Soldaten leisten. Es zeigt, dass die Menschen in unserem Land hinter unseren Soldaten stehen. Ohne diesen Rückhalt könnten die Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst auch gar nicht in dieser Weise leisten. Wenn wir heute über diesen Bericht diskutieren, debattieren wir immer über Verantwortung, über die Verantwortung des Dienstherrn, über meine Verantwortung und die Verantwortung, die wir alle gegenüber der Bundeswehr und den Soldaten haben. Gleichwohl dürfen wir uns auch durch Vorfälle wie am vergangenen Freitag, durch Rückschläge, gerade was den Einsatz in Afghanistan betrifft, nicht entmutigen lassen. Wegen eines solchen Vorfalls dürfen wir unseren afghanischen Partnern nicht generell misstrauen. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Wenn wir jetzt ein pauschales, generelles Misstrauen gegenüber unseren afghanischen Partnern an den Tag legen würden, wäre das ein gänzlich falscher Schritt. Es entspricht unserer Verantwortung, dass wir an unserer Strategie des Aufbaus der afghanischen Sicherheitskräfte und der engen Kooperation mit ihnen festhalten. Der Wehrbeauftragte kennt die Sorgen und Nöte unserer Soldaten von vielen Reisen und Besuchen. Zu Recht betont er in seinem Bericht die Bedeutung und Notwendigkeit der Solidarität und Unterstützung der Gesellschaft. Neben den Auslandseinsätzen liegen weitere Schwerpunkte des Berichts auf der Situation des Sanitätsdienstes und vor allem auf der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr, insbesondere bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese Anregungen - allesamt wertvolle Anregungen - werden bei der bevorstehenden Neuausrichtung der Bundeswehr in unsere Überlegungen mit einfließen. Sie sind teilweise schon Bestandteil dessen, was konzeptionell vorliegt, was es an Überlegungen gibt und worüber in den nächsten Wochen zu entscheiden ist. Deshalb verbessern wir mit einem Maßnahmenpaket die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr insgesamt. Dort, wo in dem Bericht auf bestehende Mängel hingewiesen wird, gehen wir den Einzelfällen konsequent nach. Wir werden, wo immer es möglich ist, auch Abhilfe schaffen. Insbesondere die Kritik an Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte nehme ich außerordentlich ernst. Es wurde im letzten Jahr einiges erreicht, fraglos in den letzten Monaten. Der Bericht würdigt das auch; aber wir können es nicht dabei belassen. Weitere Verbesserungen müssen folgen, und sie werden auch folgen. Wir haben uns dem mit aller Kraft anzunehmen. Wir alle sind dabei in der Pflicht, ein jeder an seinem Platz: der Wehrbeauftrage, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, der Bundesminister der Verteidigung und das Bundesministerium der Verteidigung. Vergessen wir nicht: Es geht um die Sicherheit unseres Landes, es geht um unsere Soldatinnen und Soldaten. Von daher sage ich dem Wehrbeauftragten noch einmal Danke. Wir alle müssen weiterhin die Kraft aufbringen, gemeinsam an der Aufarbeitung dessen zu arbeiten, was an Missständen gegeben ist. Wir müssen aber auch das aufgreifen, was in der Breite an Positivem in der Bundeswehr vorzufinden ist. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir trauern um die getöteten Soldaten. Wir fühlen mit den Angehörigen. Wir wünschen den seelisch wie körperlich Versehrten schnellstmögliche und vollständige Genesung. Wir danken denjenigen, die wir als Parlament in den Einsatz geschickt haben. ({0}) Der Vorfall, der uns morgen nach Regen führen wird, zeigt nicht nur, wie gefährlich dieser Einsatz ist, sondern auch unsere Verantwortung als Parlament. In diesem Zusammenhang möchte ich auch Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihrem Stab herzlich danken. Sie üben eine wichtige Hilfsfunktion aus, damit wir eine Parlamentsarmee haben können. Herzlichen Dank dafür. ({1}) Sie sind als Institution nicht nur international einmalig, sondern gerade in diesen Zeiten deswegen besonders wichtig, weil es irgendeine Person geben muss, denen die Soldaten in diesen Zeiten tatsächlich vertrauen können. Herr Minister, wenn Sie dem Wehrbeauftragten hier danken, ihn an anderer Stelle aber eine wandelnde Defizitanalyse nennen, ist das nicht nur ein unfreundlicher Akt, sondern auch ein Zeugnis dafür, dass Sie die Einmaligkeit und Wichtigkeit dieser Institution nicht erfasst haben. Natürlich macht er Ihnen Arbeit. Aber die Tatsache, dass Sie ihn als Klotz am Bein empfinden, zeigt, dass es Ihnen nicht darum geht, die Verhältnisse zu verbessern, sondern darum, einen bequemen Job machen zu können. ({2}) So geht es nicht. Die Vorfälle auf der „Gorch Fock“ und bei der Feldpost sind nur zwei Beispiele für eine viel zu zäh verlaufende Aufklärungsarbeit. Das hat etwas mit Ihrem Krisenmanagement zu tun, Herr zu Guttenberg. Am Fall der „Gorch Fock“ erkennt man exemplarisch, wie viele Haken Sie geschlagen haben: Freitagvormittag haben Sie sich jede Vorverurteilung verbeten. Freitagnachmittag wurde der Kommandant geschasst. ({3}) - Nein, habe ich nicht. - Am Samstag war von einer Suspendierung die Rede. Am Montag haben Sie dann gesagt, Sie hätten die Abkommandierung nur befohlen, um ihn zu schützen. Ich glaube, dass das sowohl der Kommandant als auch die Stammbesatzung der „Gorch Fock“ anders empfunden haben und es bis heute tun. Herr Minister, an dieser Stelle haben Sie wiederum den Überblick verloren. ({4}) Lassen Sie mich auf zwei Punkte aus dem Bericht des Wehrbeauftragten eingehen, zum einen auf den direkten Draht der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz zu ihren Familien; das ist von fast allen Rednern angesprochen worden. Die Kollegin Evers-Meyer hat völlig zu Recht gesagt, dass die Situation bisher desolat war. Der alte Vertrag - ich weiß, dass Sie das nicht zu verantworten haben - war alles andere als gut. Das Problem ist: Der neue Vertrag ist es auch. Ich will ein paar Beispiele nennen: Höchstens ein Drittel der Soldatinnen und Soldaten wird skypen können, was gerade in Zeiten, in denen man sich nicht so ganz auf die Feldpost verlassen kann, wahnsinnig wichtig ist. ({5}) Die Peak-Zeiten, also die Hochzeiten, in denen die Rechner tatsächlich benutzt werden, nämlich nach dem Abendessen, werden bei der Bereitstellung der Kapazitäten nicht wirklich berücksichtigt. Besonders witzig ist: Der Vertrag ist so gestrickt, dass die Gebühren für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz steigen, wenn das eintritt, was die Bundesregierung verspricht, nämlich dass bereits zum Ende des Jahres Soldatinnen und Soldaten abgezogen werden und das Kontingent verkleinert wird. Der Vertrag wurde ohne jeden Überblick abgeschlossen. Es wäre schön, wenn Sie bei der Lösung solcher Probleme einmal mit dem Wehrbeauftragten reden und ihm zuhören würden. Das zweite Beispiel: Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Natürlich ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einer der zentralen Bausteine im Hinblick auf die Attraktivität der Bundeswehr, gerade wenn die Wehrpflicht ausgesetzt wird. In dieser Situation stellen Sie sich hin und sagen: Ich mache etwas dafür; denn ich werde 200 zusätzliche Eltern-Kind-Zimmer bereitstellen. - Das zeigt, wie kurzsichtig Ihre Überlegungen sind. Ich habe viele Kasernen besucht. Die dortige Angebotssituation ist ambivalent. Viele Menschen wissen nicht so genau, was sie mit den Eltern-Kind-Zimmern machen sollen. Die Bundeswehr braucht - wie der Rest der Gesellschaft - echte Betreuungsangebote. Allerdings ist an dieser Front bisher Fehlanzeige. Uns wurde ein Katalog mit Vorschlägen vorgelegt, wie die Attraktivität der Bundeswehr gesteigert werden kann. Dabei war auch von Inländern ohne deutschen Pass die Rede. Herr Wehrbeauftragter, in diesem Zusammenhang möchte ich eine Bitte wiederholen: Ich glaube, dass es den Realitäten und den Veränderungen unserer Gesellschaft entspräche, wenn Sie sich in Ihrem nächsten Bericht mit der Situation der Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundeswehr beschäftigen würden; denn sie haben, wie Sie dann erfahren würden, nicht nur eigene Probleme, sondern bringen auch eigene Erfahrungen mit. Es ist sinnvoll, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Nach dem Katalog mit Vorschlägen, der uns vorgelegt wurde, soll es möglich sein, Menschen ohne deutschen Pass bei der Bundeswehr zu beschäftigen. Ich spreche hier von Inländern ohne deutschen Pass; damit wird der Unterschied zu Söldnern deutlich. Herr Minister, wir haben erfahren, dass Sie das abgelehnt haben; Sie wollen das nicht. Mein Verdacht ist: Sie verfallen hier einer Loyalitätsparanoia und sind nicht imstande, zu erkennen, dass wir hier über die Kinder dieses Landes reden; da gibt es keine Schwierigkeiten mit der Loyalität. Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren Punkt ansprechen, nämlich das von Ihnen beschriebene Partnering. Natürlich müssen wir in dieser Situation in erster Linie von den Afghanen fordern, dass sie das Vertrauen wieder herstellen; sie müssen uns erklären, wie sie das machen wollen. Da ist einiges zu tun. Es geht nicht darum, die Intensität der Ausbildung der afghanischen Soldaten durch die Bundeswehr grundsätzlich infrage zu stellen. Die Frage ist nur, ob man das ganze Konzept für sakrosankt erklären sollte, ob man also sagen sollte: So, wie es ist, ist es richtig; alles andere machen wir nicht. Ich glaube, dass die Verunsicherung in der Truppe viel zu groß ist, um einfach zu sagen: Alles bleibt so, wie es ist; es gibt keinerlei Überprüfung des Konzepts. Sie sollten da besser zuhören, um auch bei diesem Thema den Überblick zu behalten. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4400 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Lambrecht, Sören Bartol, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Maklerkosten gerecht verteilen - zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren - Drucksachen 17/3212, 17/4202, 17/4614 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Stefan Ruppert Ingrid Hönlinger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Saales führen, können wir mit der Aussprache beginnen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion das Wort. ({2})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute Abend zwei Anträge abschließend zu beraten: den Antrag der SPDFraktion, die Maklerkosten gerecht zu verteilen, und den Antrag über die Einführung eines Bestellerprinzips. Lassen Sie mich zu Beginn eines feststellen: Wir brauchen weder den einen noch den anderen Vorschlag; denn die derzeitigen gesetzlichen Regelungen sind völlig ausreichend. Zum einen haben wir einen Grundsatz in unserem Zivilrecht, der sich klar durch alle Regelungen zieht. Es handelt sich dabei um den Grundsatz der Vertragsfreiheit. Die Menschen sollen, weil wir ihnen vertrauen, dass sie ihre Dinge am besten selbst regeln können, ihre Verträge selber schließen und die Preise, die im Rahmen der Verträge zu verabreden sind, selber aushandeln können. Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, darüber zu befinden, wie das, was die Parteien aushandeln, gerecht verteilt werden soll. Das ist der erste Punkt: Wir brauchen Vertragsfreiheit und keine Verteilung im Zivilrecht. Schon aus diesem Grund ist das, was Sie vorschlagen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, abzulehnen. ({0}) Wenn man Ihren Antrag im Detail liest, wird sichtbar, wie suspekt er ist. Wir machen hier ein Recht für Großstädte, das auch für alle anderen Bereiche in Deutschland gilt. Wenn es in einer Großstadt aus verschiedenen Gründen zu einer Wohnungsnot kommt, die zu Marktverschiebungen führt, dann heißt das nicht, dass beispielsweise wir in Mecklenburg-Vorpommern dieselbe Situation haben. In Mecklenburg-Vorpommern ist es eher so, dass Vermieter Schwierigkeiten haben, Mieter für ihre Wohnungen zu finden. Dort müssen die Mieter nichts bezahlen, weil der Markt dafür sorgt, dass der Vermieter die Maklerkosten trägt. Der Mieter hat eine wesentlich bessere Verhandlungsposition. Sie aber wollen die Kosten des Maklers zur Hälfte auf den Mieter übertragen. Es ist völlig falsch, zu versuchen, ein Recht aufgrund Gerechtigkeits- und Verteilungserwägungen zu verschieben, nur weil man etwas, was in München, Stuttgart oder Berlin gilt, auch auf das - ich darf das so salopp formulieren - platte Land übertragen möchte. Dritter Punkt. Das, was Sie wollen, ist bereits gesetzlich geregelt. Wir haben das Wohnraumvermittlungsgesetz. Darin ist auch enthalten, was die Grünen wollen. In diesem Gesetz steht, dass ein Makler bei der Wohnraumvermittlung nur dann tätig werden darf, wenn er vom Vermieter einen Auftrag hat. Das ist das Bestellerprinzip. Außerdem ist darin eine Begrenzung der Maklercourtage festgeschrieben, und zwar auf zwei Mieten. Insofern wurde mittels dieses Gesetzes reagiert, um ungerechte Marktentwicklungen zu verhindern, die für Verbraucher belastend sein können. Das ist ein weiterer Punkt, der es nicht sinnvoll erscheinen lässt, auch nur annähernd über das, was Sie hier vorschlagen, nachzudenken. ({1}) - Nachdenken schadet nie, Herr Kollege Danckert. Aber manchmal ist es auch sinnvoll, nachzudenken, bevor man einen Antrag vorlegt. ({2}) Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen keine Bevormundung im deutschen Recht. Unser deutsches Recht, insbesondere unser Zivilrecht, gründet auf Vertragsfreiheit. Die Menschen sind in der Lage, ihre Verträge selbst auszuhandeln. Sie sollen das nach den vorhandenen Marktsituationen auch selbst tun. Aus den genannten Gründen lehnen wir Ihre Vorschläge ab. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Ahrendt, wenn Sie sagen, wir brauchen dieses Gesetz nicht, weil die Menschen das alles selbst regeln können, dann mag das vielleicht für Menschen wie Sie gelten, für die zwei Wohnungsmieten Maklergebühr keine große Rolle spielen. Aber für eine ganze Reihe von Menschen, die auch bedingt durch die Anforderungen der Arbeitswelt häufiger umziehen müssen und vielleicht nicht über das Einkommen eines Bundestagsabgeordneten oder eines Anwalts verfügen, spielt es eine ganz große Rolle, ob sie jedes Mal diese Maklergebühr bezahlen müssen oder nicht. Deshalb glaube ich sehr wohl, dass dieses Thema hierher gehört. ({0}) Ich will das mit einigen Zahlen belegen. Wir haben in Deutschland circa 23 Millionen Mietverhältnisse. Bei einer Umzugsquote von 11 Prozent - sie ist so hoch aufgrund der Anforderung, dass die Menschen flexibel sein und den Wohnort wechseln müssen, wenn sie woanders einen Arbeitsplatz bekommen können - haben wir jedes Jahr 2,3 Millionen neue Mietverhältnisse. Davon ist fast die Hälfte, nämlich 1 Million, mit Maklergebühren belegt, Tendenz steigend. ({1}) Angesichts dessen können Sie hier doch nicht sagen, das spiele alles keine Rolle, die Menschen müssten diese Verträge mit Maklerkosten ja nicht abschließen. Denn die Realität ist eine andere. Es ist nicht so, dass nur in Großstädten wie Berlin, Hamburg, München, Stuttgart und Frankfurt die Situation vorherrscht, dass die Menschen gar keine andere Möglichkeit mehr haben, an geeigneten Wohnraum zu kommen, als durch Verträge, die über Makler abgewickelt werden, ({2}) sondern das gibt es durchaus auch in ganz anderen Bereichen. ({3}) Beispielsweise findet man in einem riesigen Ballungsgebiet wie der Rhein-Main-Region so gut wie keine Wohnung mehr, wenn man keinen Makler einschaltet. Jetzt kann man natürlich sagen, man habe doch die Freiheit, einen Vertrag zu schließen, bei dem Maklergebühren anfallen, oder es zu lassen. Das bedeutet aber nichts anderes, als sich zu entscheiden, ob man eine Wohnung bekommt oder nicht. Das ist eine ziemlich zynische Auslegung der Vertragsfreiheit. ({4}) Deswegen ist es dringend erforderlich, das von Ihnen eben angeführte, nach dem Wohnraumvermittlungsgesetz geltende Bestellerprinzip kritisch zu hinterfragen. Sie selbst haben gesagt, dass der Makler nur dann tätig werden darf, wenn der Vermieter ihn beauftragt. Aber was geschieht denn dann? Die Kosten der Beauftragung werden auf denjenigen abgewälzt, der den Wohnraum anmietet. Der Vermieter bestellt - da haben Sie recht -, aber bezahlen muss dann alleine der Mieter. Das hat nichts mehr mit dem Bestellerprinzip zu tun, und deswegen wollen wir einen fairen Ausgleich bei dieser Belastung erreichen. Ich sehe durchaus ein, dass auch ein Mieter etwas davon hat, wenn ein Makler eingebunden wird, denn selbstverständlich koordiniert dieser Besuchs- und Besichtigungstermine usw. Deswegen ist uns der Antrag der Grünen zu weitgehend, nach dem allein der Vermieter oder Verkäufer die Maklergebühren tragen soll. Wir wollen einen Ausgleich, weil beide davon profitieren und weil es in der jetzigen Situation, die sich noch dramatisch verschlechtern wird - vielleicht nicht in jedem Ort Mecklenburg-Vorpommerns, aber auch in Kleinstädten und Dörfern, beispielsweise in der RheinMain-Region -, schwierig ist, an bezahlbaren und akzeptablen Wohnraum zu kommen. Für Sie mag das vielleicht nicht von Belang sein, aber für eine ganze Menge Menschen ist es sehr wohl wichtig, ob sie zusätzlich zu Umzugs- und Renovierungskosten auch noch Maklergebühren zu entrichten haben, wenn sie umziehen und ein neues Mietverhältnis eingehen müssen. Springen Sie deshalb über Ihren Schatten, und unterstützen Sie unseren Antrag! Das würde zeigen, dass Sie die Lebensrealität der Menschen durchaus wahrnehmen. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden: Auch die Union wird diese beiden Anträge, die von SPD und Grünen vorgelegt wurden, ablehnen. Ich will Ihnen gerne erläutern, warum das so ist: Ihre Anträge gehen erstens von falschen Annahmen aus, sie sind zweitens zum Teil kontraproduktiv, und drittens sind sie vom ganzen Ansatz her auf staatliche Interventionen ausgelegt und damit ordnungspolitisch verfehlt. ({0}) Zunächst einmal zu den falschen Annahmen. Ich bin selber gerade erst vor kurzem in Berlin umgezogen. Ich habe durchaus lange nach einer Wohnung suchen müssen. Deswegen habe ich mich recht intensiv mit dem Immobilienmarkt in Berlin, also in einer großen Stadt, wie Sie das in Ihrem Antrag schreiben, auseinandergesetzt. Ich kann Ihnen also aus persönlicher Erfahrung - der Umzug liegt erst einige Monate zurück - berichten. ({1}) Nach meiner Erfahrung ist das ganz eindeutig: Hier in Berlin haben Sie keinerlei Probleme, eine Wohnung zu finden, die gänzlich ohne Provision vergeben wird. - Da Sie dazwischenreden, sage ich: Es mag sein, dass es darauf ankommt, wo man sucht. ({2}) Dazu muss man aber sagen, dass man in seiner Freiheit nicht beschränkt ist, sich auf ein bestimmtes Gebiet zu beschränken. Der Bundestag hat sich vor knapp anderthalb Jahren, zu Beginn der 17. Legislaturperiode, neu zusammengesetzt. Ich gehe davon aus, dass auch einige Kollegen von der SPD-Fraktion sich eine neue Wohnung in Berlin gesucht haben, auch wenn aufgrund des Wahlergebnisses vermutlich mehr von Ihnen aus Berlin weggezogen als zugezogen sind. Das war ja auch nicht schlecht so. ({3}) - Ja, finde ich auch. - Jedenfalls dürften Sie in der Sache keine anderen Erfahrungen gemacht haben als ich. In Ihrem Antrag behaupten Sie aber das komplette Gegenteil. Dort sagen Sie nämlich, dass Makler „regelmäßig“ eingeschaltet werden. Das entspricht nicht meiner Erfahrung. ({4}) Ich bin nun ein bisschen verwirrt. Die Kollegin Lambrecht hat nämlich in einer früheren Debatte zu diesem Thema zu Protokoll ausgeführt, dass im Bundesdurchschnitt lediglich bei der Hälfte der Neuvermietungen ein Makler eingeschaltet wird. Was gilt denn nun? Wird er regelmäßig eingeschaltet, in der Hälfte der Fälle oder noch seltener? Sie scheinen sich bei Ihren Zahlen selber nicht so ganz sicher zu sein. ({5}) Ich glaube eigentlich nicht, dass Sie unter kollektivem Gedächtnisschwund leiden. ({6}) Deswegen glaube ich, dass Sie Ihre Erfahrungen zurückstellen, um politisches Kapital aus der Sache zu schlagen. Das hat mit politischer Seriosität an dieser Stelle aber nur noch recht wenig zu tun. ({7}) Zugegebenermaßen mag die Wohnungsmarktsituation in Berlin anders sein als in anderen Regionen. Das muss man sich schon genau anschauen. In den neuen Bundesländern gibt es zum Beispiel aufgrund der demografischen Entwicklung, wohl auch, weil viele Menschen in wirtschaftlich besser aufgestellte Regionen ziehen, Gebiete, in denen nach wie vor ein hoher Wohnungsleerstand herrscht. Dort gibt es so wenig Nachfrage, dass die Vermieter im Grunde gezwungen sind, einen Makler einzuschalten, wenn sie ihre Wohnung schnell wieder vermieten wollen. Weil die Nachfrage in diesen Gebieten so gering ist, zahlt fast immer der Vermieter die Provision. Sonst würde er seine Wohnung nämlich überhaupt nicht vermieten können. Dort herrscht also eine Situation, die die Grünen mit ihrem Antrag letztlich erreichen wollen. Der Markt hat an dieser Stelle sozusagen das Bestellerprinzip durchgesetzt. Anders ist das zum Beispiel in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Soweit dort überhaupt eine Provision verlangt wird - das ist sehr unterschiedlich -, ist es vollkommen üblich, dass die Maklercourtage zwischen Mieter und Vermieter gleichmäßig aufgeteilt wird. ({8}) Dort herrscht also eine Situation, die die SPD mit ihrem Antrag herbeiführen möchte. Einer gesetzlichen Regelung, eines staatlichen Eingriffs hat es in beiden Fällen nicht bedurft. Bei den regionalen Unterschieden, die ich hier gerade aufgezeigt habe, muss man auch beachten, dass es innerhalb der Regionen ganz unterschiedliche Marktsegmente gibt. Die Höhe der Maklerkosten ist sehr unterschiedlich. Es gibt große und kleine Wohnungen. Es gibt eher einfach ausgestattete Wohnungen, und es gibt Wohnungen mit gehobener Ausstattung. Es gibt Wohnungen, die von Kleinvermietern angeboten werden, und es gibt Wohnungen, die von Wohnungsgesellschaften angeboten werden. Manchmal ist die Nachfrage groß, manchmal ist sie gering. Manchmal wird eine Provision verlangt und manchmal eben nicht. Wenn man sich das genau anschaut, stellt man also fest, dass sich die Situation bezüglich der Maklerprovisionen für Mietwohnungen in Deutschland regional ausgesprochen unterschiedlich darstellt und entwickelt hat. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sind Sie eigentlich deutschlandweit tätig mit Ihrem Unternehmen? Jetzt stellt sich die entscheidende Frage: Ist das nun ein Grund, diese Unterschiede durch ein Gesetz, also durch staatlichen Zwang aufzuheben? Ist das ein Grund, alles über einen Kamm zu scheren, oder ist es nicht vielleicht klug, mal dahinter zu schauen und zu fragen, woher diese Unterschiede kommen? Dazu findet man in Ihren beiden Anträgen kein Wort. Ich sage, dass eine bundesweit einheitliche, staatlich festgelegte Regelung den unterschiedlichen Interessenlagen und den bestehenden regionalen Unterschieden in keiner Weise gerecht wird. ({9}) Im Übrigen ist die Wohnungssituation keineswegs statisch, sondern es gibt durchaus Veränderungen. Auf diese Veränderungen kann der Markt - Angebot und Nachfrage - am flexibelsten, am schnellsten und damit auch am besten reagieren. Man muss sich verdeutlichen - das hat Kollege Ahrendt hier schon angesprochen -, was mit Ihren beiden Anträgen verfolgt wird. Es handelt sich dabei um einen ganz erheblichen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien. Es müsste schon bedeutende Gründe geben, um einen solchen Eingriff in ein immerhin auch grundrechtlich, nämlich durch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes geschütztes Recht zu rechtfertigen. Solche Gründe kann ich aber nicht erkennen. Im Gegenteil: Man sieht an den regionalen Unterschieden, dass der Markt tatsächlich funktioniert und den unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung trägt. Schauen wir einmal weiter: Ihr Antrag blendet völlig die Entwicklungen und Veränderungen aus, die auf dem Immobilienmarkt durch neuere technische Entwicklungen entstehen, zum Beispiel das Internet. Es gibt diverse Plattformen. Ich nenne nur das Beispiel Immobilienscout. Dort findet man 1,2 Millionen Immobilienangebote, sowohl Miet- als auch Kaufwohnungen, und zwar pro Monat. ({10}) Diese Internetportale ermöglichen es sowohl Miet- als auch Kaufinteressenten, sich schnell und unkompliziert einen Angebotsüberblick zu verschaffen und eine geeignete Immobilie auszusuchen. Wer keine Maklercourtage zu zahlen bereit ist, kann die entsprechenden Angebote mit einem einfachen Klick aussortieren. Er klickt einfach an, dass er nur die Angebote sehen möchte, bei denen keine Provision zu zahlen ist. Kein Problem, dann bekommt er auch nur diese angezeigt. Vor allen Dingen können auch Vermieter und Verkäufer mit nur wenigen Klicks ihre Immobilien selber in diesen Portalen einstellen. Dazu brauchen sie keinen Makler. Allein durch diese in den letzten Jahren stark zunehmende Anbahnung und Abwicklung von Vertragsverhältnissen über das Internet gibt es immer weniger Notwendigkeit, überhaupt einen Makler einzuschalten. Wenn man in die Zukunft denkt, geht Ihr Antrag tendenziell ohnehin ins Leere. Sie schreiben an anderer Stelle in Ihrem Antrag ja auch selbst, dass die Anbahnung des Vertrages häufiger direkt über den Vermieter oder den Verwalter erfolgt. In diesen Fällen wäre es ohnehin unzulässig, eine Maklerprovision zu verlangen. Das ist ja auch richtig. Aber Sie nehmen das nicht zum Anlass, Ihren Antrag einmal kritisch zu hinterfragen, sondern Sie ignorieren diese Tatsache einfach. Da muss ich wieder sagen, dass Sie mit diesem Antrag Schaufensterpolitik betreiben. Das vermeintliche Problem, das Sie mit Ihrem Antrag aufgreifen, ist also, wenn es überhaupt je eines war, in den letzten Jahren deutlich kleiner geworden. Es wird in Zukunft noch kleiner werden. Damit schwindet zugleich die Rechtfertigung für diesen erheblichen Eingriff in die Privatautonomie, den Sie hier vornehmen wollen. Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin bestimmt niemand, der immer sagt, der Markt regelt alles. ({11}) An bestimmten Stellen ist es durchaus richtig, dass man gesetzgeberisch tätig wird, aber an dieser Stelle, wenn es um die Maklerprovision geht, zeigen uns die tatsächlichen Gegebenheiten: Der Markt funktioniert. Deswegen ist es ordnungspolitisch völlig verfehlt, hier staatlich intervenieren zu wollen. ({12}) Meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, eines kommt noch hinzu. Ihr Antrag ist - selbst wenn man Ihr Anliegen teilen würde - in der Sache sogar kontraproduktiv. Denn Sie lassen außer Acht, dass es nicht nur Außenprovisionen - über diese reden Sie hier -, sondern auch Innenprovisionen gibt. ({13}) Bei diesen geht es darum, dass ein Vermieter einen Makler mit der Vermittlung beauftragt, aber die Provision selber, also im Innenverhältnis, zahlt. Dazu schreiben Sie in Ihrem Antrag, dass man auch hier hälftig teilen müsse. ({14}) Das würde ja in der Konsequenz dazu führen, dass der Mieter, der vorher möglicherweise überhaupt keine Provision zahlen musste, auf einmal die Hälfte zahlen muss. Ich glaube, da geben Sie ihm Steine statt Brot. Das haben Sie bestimmt nicht damit gewollt. Das scheint erneut deutlich zu machen, dass Sie Ihren Antrag offensichtlich nicht bis zu Ende gedacht haben. Wir haben bislang nur von Mietern und Vermietern gesprochen, aber der Antrag der SPD ist durchaus weitergehend. Es geht nicht nur um Miete, sondern Sie wollen ja auch bei Kaufimmobilien die Provision reglementieren. Da wird es nun ganz absurd. Jeder Verkäufer möchte für seine Immobilie natürlich einen bestimmten Kaufpreis erzielen. Wenn Sie jetzt aber den Verkäufer gesetzlich zwingen, die Hälfte der Provision selbst zu zahlen, dann kann man sich doch an drei Fingern abzählen, was dann passieren wird. Selbstverständlich wird der Verkäufer den zu tragenden Provisionsteil, also die Hälfte, schlicht auf den Kaufpreis aufschlagen. Zumindest würde das jeder wirtschaftlich denkende Mensch so tun. Eine Entlastung für den Käufer erreichen Sie damit also keineswegs. Im Gegenteil: Sie würden letztlich nur eine Kostenspirale in Gang setzen, die für alle Beteiligten zu einer Erhöhung der Kosten führt. Deswegen ist Ihr Antrag an dieser Stelle absolut kontraproduktiv. Es gibt - zugegebenermaßen - vielleicht einen, der sich darüber freuen würde. Das ist nämlich der Makler selber, weil sich die Provision nach dem Kaufpreis richtet. Er kriegt dann, wenn der Kaufpreis deswegen höher ist, auch eine höhere Provision. Auch die Notare werden das vielleicht ganz nett finden, weil sich auch deren Gebühren nach dem Kaufpreis richten. Aber ich glaube, Ihr Antrag ist nicht so zu verstehen, dass Sie den Maklern und den Notaren hier etwas Gutes tun wollen, sondern Sie wollten eigentlich Mieter und Käufer entlasten. Das ist wieder einmal ein Beispiel dafür: Sie haben an dieser Stelle nicht bis zum Ende gedacht. Ihnen geht es vor allen Dingen um die Mieter, jedenfalls in Ihrer Antragsbegründung. Da heißt es immer nur: Im Übrigen gilt das entsprechend auch für Kaufimmobilien. - Aber vornehmlich fokussieren Sie sich auf die Mieter. Da verhält es sich im Kern auch nicht anders. Natürlich wird sich ein Vermieter, wenn er jetzt die Hälfte der Provision zahlen muss, auch fragen: Wie kriege ich diese Provision wieder herein? Das heißt, er wird tendenziell eine höhere Miete verlangen, um das Geld über die Zeit wieder hereinzubekommen. Das führt aber dann dazu, dass ein Mieter nicht nur einmal mit einer Provision belastet wird, sondern dauerhaft über eine höhere Miete. Meine Damen und Herren, auch die von mir sonst sehr geschätzten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen haben ihren Antrag, so scheint mir, nicht ganz bis zum Ende gedacht. ({15}) Sie schreiben nämlich in Ihrem Antrag, dass gerade in Zeiten eines flexibilisierten Arbeitsmarktes, wo Arbeitnehmer häufig umziehen müssen, die Maklercourtage ein Preissteigerungsfaktor sei, der wirtschaftlich eine spürbare und eine extreme Belastung darstelle. Meine Damen und Herren, das ist schlichtweg falsch. Sie sollten bei Ihren Anträgen auch einmal ein Stück weit über den Tellerrand schauen. ({16}) Wenn Sie auch einmal andere Rechtsgebiete in den Blick genommen hätten, dann hätten Sie nämlich festgestellt, dass man die Maklerkosten, die beruflich veranlasst sind - wenn man also beruflich bedingt umziehen musste -, steuerlich absetzen kann. Insofern findet an dieser Stelle gar keine Belastung der Mieter statt. Insofern geht Ihr Argument an dieser Stelle auch völlig ins Leere. Ich komme zum Schluss. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der SPD, normalerweise erwarte ich von Ihnen eigentlich kein Verständnis. Da aber die Anträge, die Sie uns hier vorlegen, die tatsächlichen Gegebenheiten verkennen, ihr inhaltliches Ziel zum Teil sogar konterkarieren, also in dieser Hinsicht nicht zu Ende gedacht sind, und auch ordnungspolitisch insgesamt verfehlt sind, werden Sie, glaube ich, vielleicht doch Verständnis dafür haben, dass die Union diesen Anträgen beim besten Willen nicht folgen kann. Vielen Dank. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Jens Petermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jens Petermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004128, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Worum geht es bei diesen Anträgen im Kern? Es geht um soziale Gerechtigkeit bei der Anbahnung eines Mietverhältnisses; so könnte man das Thema der Debatte überschreiben. Übrigens wird diese Debatte aufmerksam verfolgt. Das haben mir Zuschriften bereits nach der ersten Lesung gezeigt. Die Leute schauen also, was wir hier treiben; das finde ich sehr interessant. SPD und Grüne haben mit ihren Anträgen zu einem großen Sprung angesetzt. Ob auch das Ziel damit erreicht wird, das wird sich zeigen. Zur Ausgangslage. In Großstädten und Ballungsräumen mit geringen Leerständen erfolgt die Vermittlung von Wohnraum meist über einen Makler, der vom Eigentümer beauftragt wird. Der potenzielle Mieter hat bei derartigen Angeboten regelmäßig keinen Verhandlungsspielraum. Entweder zahlt er die Provision, oder er ist außen vor. Gerade der stark zunehmende Flexibilisierungsdruck in unserer Gesellschaft führt zu einem rapiden Anstieg der Umzugsraten. Kollegin Lambrecht, Sie hatten die Zahlen geschildert; sie sind insoweit auch valide. Die angespannte finanzielle Situation der Betroffenen wird durch diese Praxis noch verstärkt und führt nicht selten zu einer weiteren Verschuldung. Das trifft übrigens verstärkt auch auf Studentinnen und Studenten zu, die es doppelt so hart trifft, wenn sie auf den privaten Wohnungsmarkt angewiesen sind. Beispielsweise in der beliebten Thüringer Universitätsstadt Jena werden von privat überwiegend Wohnungen über Makler angeboten. Zu den ohnehin schon überdurchschnittlich hohen Mieten kommen neben den üblichen Kautionen noch die Provisionen, sodass ein Student, ohne auch nur einen Tag studiert zu haben, bereits mit 2 000 Euro in Vorkasse gegangen ist, ohne überhaupt eine möblierte Unterkunft zu bekommen; Geld, das übrigens oft nur geborgt ist. Man kann also durchaus von einer sozialen Schieflage sprechen, derer wir uns annehmen müssen und annehmen sollen. Hier wird auch das Verständnis von sozialer Politik sehr deutlich. Ich sage Ihnen: Der Wohnungsuchende ist eindeutig in der schwächeren Position und bedarf unseres besonderen Schutzes. ({0}) Die Verhandlungsmacht liegt bei knappem Wohnraum immer beim Vermieter. Damit kommt das im Bürgerlichen Gesetzbuch geschützte Privatrechtsverhältnis auf Augenhöhe, Kollege Ahrendt, zunehmend abhanden. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie versucht haben zu erläutern. Wir müssen also den Mieter, aber auch den Käufer vor einer Abwälzung der Maklerkosten schützen. ({1}) Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen setzt den richtigen Schwerpunkt. ({2}) Er stellt eine konsequente Umsetzung des Bestellerprinzips dar, indem der Besteller der Maklerleistung diese allein zu zahlen hat. Allerdings ist der Immobilienkauf außen vor geblieben. Wenn Sie diesen Punkt noch mit aufgenommen hätten, wäre Ihr Antrag perfekt gewesen. ({3}) Meine Damen und Herren der Koalition, wenn das, was Sie meinen, eine Einschränkung der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit ist, dann ist dies jedenfalls an dieser Stelle gerechtfertigt. Worum es geht, hat bereits Rousseau erklärt - den haben Sie beim Studium vielleicht auch einmal kennengelernt -: ({4}) Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. ({5}) Das Gesetz soll also den Schwächeren schützen. Dem sind wir verpflichtet. Darum ist die hier geforderte Regelung unseres Erachtens auch zulässig. Das gesamte Wohnraummietrecht kennt Regelungen mit Einschränkungen für den Eigentümer. Kein Mensch käme auf die Idee, die gesetzlichen Kündigungsfristen für Mietwohnungen mit dem Argument der Einschränkung der Privatautonomie zu streichen, ({6}) jedenfalls nicht in einem sozialen Rechtsstaat. Ich denke, die Koalition geht davon aus, dass wir einen solchen haben. Zeigen Sie doch einfach einmal Ihre soziale Seite, sofern davon noch etwas vorhanden ist! ({7}) Blenden Sie die unsoziale Lobbypolitik aus, damit Studierwillige nicht auf der Strecke bleiben, nur weil sie nicht von wohlhabenden Eltern abstammen und sich eine solche Wohnung nicht leisten können! Die Linke sagt: Wer die Musik bestellt, soll sie auch bezahlen. ({8}) Das gilt auch für Maklerkosten. Danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Wagner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe es zur Kenntnis genommen, Herr Kollege. Wir wollen aber auch noch steigerungsfähig sein. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben es schon in anderen Reden gehört: Die Grünen wollen, dass die Umlagefähigkeit von Maklerkosten gestrichen und ein konsequentes Bestellerprinzip in das Gesetz zur Regelung der Wohnungsvermittlung integriert wird. Unser Antrag zielt darauf ab, den im Dienstleistungssektor übrigens eigentlich absolut üblichen Marktmechanismus auch für die Maklerprovision einzusetzen. Ich habe von Ihnen bisher noch nie gehört, dass das Bestellerprinzip falsch wäre, aber hier ist es ganz offensichtlich fehl am Platz. Sie wissen, wenn jemand in unserem Land eine Dienstleistung bestellt, dann zahlt er diese in der Regel auch. Das Bestellerprinzip wird auch der Unterschiedlichkeit unserer Wohnungsmärkte, die Sie zu Recht benannt haben, am ehesten gerecht. Die Situation sieht in Kassel in der Tat anders aus als in Frankfurt. Sie sieht in Nordrhein-Westfalen auch anders aus als im Großraum Stuttgart. Im Übrigen ist der Hauptnutzer der Leistung natürlich in erster Linie der Eigentümer, also der Vermieter. Er ist deswegen in aller Regel auch derjenige, der bestellt. Denn für den Mieter ist es im Grunde genommen vollkommen gleichgültig, ob er mit dem Hauseigentümer, mit dem Hausverwalter - was zunehmend der Fall ist - oder mit einem Makler die Verhandlungen und Gespräche führt und die Wohnungsbesichtigung durchführt. Er hat nichts davon. Und wenn er etwas davon hat und selber bestellen will, dann soll er es auch bezahlen. Das ist, denke ich, die richtige Herangehensweise. Im Übrigen stellt die Maklerprovision insbesondere in angespannten Mietwohnungsmärkten einen nicht zu unterschätzenden Preissteigerungsfaktor dar. Zum BeiDaniela Wagner spiel sind die Mieten in den Jahren von 2005 bis 2011 in Hamburg um 22 Prozent und in Berlin um 20 Prozent gestiegen. Ganz interessant ist in diesem Zusammenhang das Frühjahrsgutachten des Jahres 2011, das diese Zahlen darstellt und gleichzeitig feststellt, dass diese Mietsteigerungen keineswegs auf Qualitätssteigerungen, zum Beispiel durch umfassende Sanierungen, zurückzuführen sind. Das heißt, diese Mietsteigerungen ergeben sich aus den jeweiligen Wohnungsmärkten. Deswegen wollen wir insbesondere auf diesen schwer angespannten Wohnungsmärkten die Mietwohnungsuchenden, die Mieterpartei bei der Maklerprovision etwas entlasten. ({0}) Sie haben auch im Ausschuss schon die Einwände erhoben, das würde gegen die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit verstoßen. Das verstehe ich nun überhaupt nicht. Es ist schon jetzt so, dass es natürlich auch in diesem Geschäft begrenzende Regeln gibt. Nach dem, was Sie sagen, wäre es auch ein Eingriff in die Vertragsfreiheit, wenn man diese Gebühren begrenzt; denn man kann nicht versuchen, beliebig hohe Maklergebühren von jemandem abzupressen, selbst dann nicht, wenn man den Eindruck haben kann, dass er genug Geld hat. Deswegen sage ich Ihnen: Wir greifen keineswegs in die Vertragsfreiheit ein. Nein, im Gegenteil: Wir schlagen sogar vor, den schwächeren Marktteilnehmer mit einem klassischen Marktmechanismus - wer bestellt, bezahlt - auf geschicktere Art und Weise erfolgreicher zu schützen und dem stärkeren Marktteilnehmer unter Umständen mehr abzuverlangen. Das soll sich aber jeweils im Einzelfall regulieren. Wer bestellt, bezahlt! ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Mein Auftrag von der Fraktion war, nachdem meine Christine Lambrecht alles Wesentliche zu dem Antrag von unserer Fraktion gesagt hat, auf die Argumente einzugehen, die aus dem Kreis der Kollegen hier gekommen sind. Eines ist mir besonders aufgefallen, das ist die Tatsache, dass hier ein Kollege von der CDU/CSU gesprochen hat, der Kollege Luczak, der nicht nur Rechtsanwalt, sondern nach der App, die man vom Bundestag aufs iPhone geliefert bekommt, auch Inhaber der Firma Luma Hausverwaltung ist. Ich finde es allerdings sehr interessant, dass er sich hier als Experte auf diesem zugegeben sehr schwierigen Terrain bewegt, eine Propagandarede für die Hausverwaltungen hält und sich damit ganz in der Nähe der Vermieter befindet. ({0}) Möglicherweise gibt es an dieser Stelle einen Interessenkonflikt. Die jetzige Situation muss meines Erachtens dringend geändert werden. Momentan beauftragen die Vermieter den Makler, und es wird ein Vertrag zulasten Dritter geschlossen. Das ist eine sehr unfaire Regelung. Deshalb liegen heute hier zwei Anträge vor, die beide in die richtige Richtung gehen. Zum einen wird in dem Antrag der Grünen ganz klar gesagt: Wer den Auftrag erteilt, soll am Ende auch bezahlen. Wir sagen an dieser Stelle: Der erste Schritt muss sein, dass es einen fairen Kompromiss zwischen Vermieter und Mieter gibt. Beide haben einen Nutzen von dieser Sache. ({1}) Deshalb haben sie sich den Betrag für den Makler gerecht zu teilen. Diese beiden Anträge gehen also in die richtige Richtung. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, unseren Antrag zu unterstützen, damit wir für die Mieter, die in allererster Linie die Zeche bezahlen müssen, an dieser Stelle eine Erleichterung schaffen. Durch diesen Antrag kommt es zur Entlastung der Mieter, die bei der Beschaffung von Wohnraum in eine schwierige Situation geraten. Ich bitte um Unterstützung unseres Antrages. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/4614. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3212 mit dem Titel „Maklerkosten gerecht verteilen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4202 mit dem Titel „Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen, und zwar mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen ({0}) - Drucksachen 17/3629, 17/4233 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) - Drucksache 17/4895 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Michael Kauch Hans-Josef Fell - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/4896 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte Sören Bartol Heinz-Peter Haustein Michael Leutert Sven-Christian Kindler Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Die Aufmerksamkeit für die Redner scheint gesichert zu sein. Damit eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort für die Bundesregierung Frau Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche. ({3})

Katherina Reiche (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003209

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der sperrige Titel „Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien“ beschreibt nur unzureichend, worum es heute Abend geht. Dahinter verbirgt sich: Deutschland ist vorbildlich, wenn es um die Förderung erneuerbarer Energien geht. ({0}) Unser nationales Recht entspricht bereits weitgehend dem, was die Europäische Union mit ihrer ErneuerbareEnergien-Richtlinie vorgibt. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und dem Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz haben wir die Weichen richtig gestellt, übrigens in vorbildlicher Art und Weise zuallererst in BadenWürttemberg. Das Land ist bundesweit Vorreiter, wenn es darum geht, erneuerbare Wärme zu fördern. ({1}) Beide Gesetze sind die zentralen Säulen für eine Entwicklung der erneuerbaren Energien in Deutschland, die weltweit Anerkennung findet und inzwischen mehr als 340 000 Arbeitsplätze bei uns geschaffen hat. Wenn wir heute das Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien beschließen, geht es darum, den eingeschlagenen Weg konsequent weiter zu beschreiten. Ich möchte zwei Punkte aus dem Gesetzentwurf nennen, die mir besonders wichtig sind. Erstens. Wir wollen den Wärmemarkt durch eine Vorbildfunktion bei den öffentlichen Gebäuden stärken. Die Richtlinie der Europäischen Union sieht vor, dass ab dem nächsten Jahr alle bestehenden öffentlichen Gebäude eine Vorbildfunktion für die Nutzung erneuerbarer Energien übernehmen müssen, wenn sie grundlegend renoviert werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, die Nutzung erneuerbarer Wärme weiter voranzubringen. Es geht darum, die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude zu stärken, wenn beispielsweise ein Rathaus oder das Landratsamt vor Ort durch Solarthermie oder aus einem lokalen Biomasseheizkraftwerk beheizt wird. Dies kann andere dazu ermuntern, ebenfalls auf erneuerbare Energien umzusteigen. Natürlich steigt der Anteil erneuerbarer Energien an der Wärmeversorgung, wenn die öffentliche Hand konsequent erneuerbare Energien nutzt. Wir nehmen bei dieser Vorbildfunktion aber auch Rücksicht auf die finanzielle Situation der Städte und Gemeinden. Für überschuldete Gebietskörperschaften sehen wir eine Ausnahmeregelung vor. So verhindern wir, dass Kommunen überfordert werden, und so haben wir einen guten Kompromiss zwischen den kommunalen Interessen und dem Klimaschutz gefunden. Zweitens wollen wir die Kosten der Förderung für die Stromverbraucher im Rahmen halten. Wenn die Kosten der Förderung eines erneuerbaren Energieträgers nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu seinem Anteil am Gesamtstromaufkommen der erneuerbaren Energien stehen, wenn es also zu einer deutlichen Überförderung kommt, dann gefährdet das die allseits große Akzeptanz für die erneuerbaren Energien und das Erneuerbare-Energien-Gesetz insgesamt. Das kann niemand wollen. Deshalb nehmen wir heute eine erneute Anpassung der Photovoltaikförderung vor, indem wir die Degression teilweise vom 1. Januar 2012 auf den 1. Juli dieses Jahres vorziehen. Die Degression in diesem Jahr kann in der Summe bis zu 24 Prozent - je nach Zubauraten - betragen. Dieser Schritt war zwingend erforderlich. Wir verhindern so eine unverhältnismäßige Belastung der Stromverbraucher durch zu stark steigende EEG-Kosten. Es ist erstaunlich, aber auch gut, dass dieser Schritt diesmal auch von denen akzeptiert wird, die bei der Anpassung vor gut einem halben Jahr noch den Niedergang der deutschen Photovoltaikindustrie prophezeit haben. Dafür gab es damals keinen Anlass. Es war ein Stück weit Panikmache zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Wir müssen in diesem Jahr auf jeden Fall erneut korrigieren. Auch in Zukunft kann es hier zu weiteren Anpassungen kommen, wenn sich die Schere zwischen sinkenden Anlage- und Modulkosten sowie den Vergütungssätzen weiter öffnen sollte. Mit der Begrenzung des Grünstromprivilegs ab dem 1. Januar 2012 auf 2 Cent je Kilowattstunde schränken wir Mitnahmeeffekte zulasten der Stromverbraucher ein. Auch das ist ein Beitrag zur Kostenbegrenzung. Beide Maßnahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind unverzichtbar und dringend notwendig. ({2}) Sie konnten nicht bis zur großen EEG-Novelle 2012 warten, die Ende des Jahres in Kraft treten soll. Wir verbessern so die Kosteneffizienz des EEG und geben Anreize für Innovationen. Mit der EEG-Novelle 2012 werden die nächsten Schritte folgen. Wir wollen die Erfolgsgeschichte des Erneuerbare-Energien-Gesetzes fortschreiben. Wir wollen die erneuerbaren Energien in Deutschland weiter fit für die Zukunft machen und bauen dabei auf Ihre Unterstützung. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dirk Becker. ({0})

Dirk Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003736, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, Frau Staatssekretärin, es geht hier im Wesentlichen um die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude bei unserem Bestreben, den Anteil der erneuerbaren Wärme bis zum Jahr 2020 in Deutschland von derzeit 7 auf 14 Prozent zu steigern, und zwar im Gesamtkontext der Klimaschutzpolitik in der EU und in Deutschland. Warum eine Vorbildfunktion? Wir werden bis zum Jahr 2015 die Einsatzpflicht im Hinblick auf die erneuerbare Wärme für alle Gebäude beschließen und ausgestalten. Wichtig ist, dass wir schon heute sagen, wie man in den Gebäuden auf allen staatlichen Ebenen die vorgegebenen Ziele erreichen kann, wie es gelingen kann, erneuerbare Wärme einzusetzen. Da stellt sich in der Tat die Frage, Frau Staatssekretärin: Was versteht man eigentlich unter einer Vorbildfunktion? Über diese Fragestellung wird in diesen Tagen auf unterschiedlichen politischen Ebenen diskutiert. Keine Sorge, es gelingt mir auch bei diesem Thema, deutlich zu machen, dass die Vorbildfunktion nicht gewahrt wird. ({0}) Der Normalfall für den Einsatz erneuerbarer Energien ist doch wohl dann gegeben, wenn die alte Heizungsanlage ausfällt, wenn sie kaputt ist, wenn sie sozusagen fällig ist und sowieso repariert werden muss. Aber genau diesen Tatbestand lassen Sie nicht zu. Sie verkomplizieren das Ganze. Zusätzlich müssen nämlich 20 Prozent der Gebäudehülle erneuert werden, und das innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren. Das heißt, für jeden, der erneuerbare Wärme nicht einsetzen will, wird es nach der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs leicht, die Einsatzpflicht zu umgehen. So dienen Sie dem Klimaschutz nicht. Mit Vorbildfunktion hat das rein gar nichts zu tun. ({1}) Sie begründen Ihr Vorgehen zum Teil mit der Rücksicht auf die finanzielle Situation der Kommunen. An dieser Stelle bin ich bei Ihnen: Wir dürfen die Kommunen, die in einer schwierigen finanziellen Lage sind, nicht überfordern. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, da gibt es auch andere Instrumente. Man sollte den Kommunen ihre Steuereinnahmen lassen, anstatt unsinnige Steuergeschenke zu machen, mit der Folge, dass den Kommunen Geld fehlt. ({2}) - Wir haben diese Steuergeschenke nicht beschlossen. Unsere Fraktion hat zusammen mit den anderen Fraktionen in dieser Woche die Bürgermeister der Großstädte angehört. Ihre Fraktion hat das als einzige nicht getan. Tun Sie jetzt nicht so, als wären Sie eine Kommunalpartei. ({3}) Der entscheidende Punkt ist in der Tat die finanzielle Situation der Kommunen. Allerdings: Ist es denn richtig, hier nur einen Umgehungs- und Ausnahmetatbestand herzustellen, die Kommunen aber dauerhaft in der Falle zu belassen, hohe Brennstoffkosten tragen zu müssen - wir erleben gerade die Entwicklung des Ölpreises -, anstatt ihnen über den kommunalen Klimaschutz, über ein umfangreiches Marktanreizprogramm Wege zu eröffnen, Investitionen zu tätigen, die sie nachhaltig entlasten? Das wäre der richtige Weg gewesen. ({4}) Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Es wird seit langem darüber gestritten, wie man Biogas, Biomethan am sinnvollsten einsetzt. Wir haben in der Großen Koalition die Pflicht zum Einsatz von Biomethan im Neubaubereich ganz bewusst an die Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung gebunden. Warum? Weil wir gesagt haben: Biogas ist eben kein erneuerbares Abfallprodukt, nicht irgendein Produkt, das einfach so da ist, sondern ein wertvolles Gut. Wir erleben doch zurzeit, wie über Biogas auf unterschiedlichsten Ebenen diskutiert wird und welche Akzeptanzprobleme damit verbunden sind. Auch um die Akzeptanz des Biogases nach Effizienzkriterien auszurichten, müssen wir bei der Verwendung von Biomethan darauf achten, dass es so effizient, so klimaverträglich wie möglich eingesetzt wird. ({5}) Dieser Einsatz ist eben nicht die schlichte Verwertung in der Therme, sondern die Verwertung bei der Kraft-WärmeKopplung. Wenn eine Vorbildfunktion der öffentlichen Gebäude angestrebt wird, dann muss das Effizienzkriterium gerade in diesem Bereich vorbildlich berücksichtigt werden. Daher muss es hier bei der KWK-Verpflichtung bleiben, und es darf nicht der Verbrennung in der Therme der Vorrang gegeben werden. ({6}) Frau Reiche, ich will noch auf die Themen PV und Grünstromprivileg - auch Sie haben sich dazu geäußert eingehen. Dabei geht es nicht um die ureigenen Regelungstatbestände des Europarechtsanpassungsgesetzes Erneuerbare Energien; wir regeln diese Bereiche mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes mit. Ich sage ganz klar: Ja, auch wir wollen die Absenkung der PVVergütung im Markt. Warum? Weil die Marktentwicklung hier weitere Vergütungsabsenkungen zulässt. Es ist ein Erfolg, dass die Kosten durch die Nutzung erneuerbarer Energien wesentlich schneller als geplant gesunken sind. Das hilft uns allen. Die Zubauzahlen und die Entwicklungszahlen machen uns stolz. Es zeigt sich, dass das EEG das richtige Instrument ist und im Kern daher so bleiben muss, wie es ist. ({7}) An einer Stelle haben wir eine andere Auffassung. Wir glauben, dass es der falsche Weg ist, wieder mit einem unterjährigen Schritt nur für 2011 dieses Preissenkungspotenzial abzuschöpfen. Wir hätten uns vielmehr gewünscht - auch für alle Investoren, für alle Anleger -, über zwei Jahre Verlässlichkeit im Markt zu haben, indem wir jährlich in vier Absenkungsschritten bis zum 1. Januar 2013 dazu kommen, dass der Strom aus großen PV-Anlagen günstiger ist als der Strom aus Offshorewindparks. Wir hätten damit Verlässlichkeit und Planbarkeit. Wir glauben, das wäre besser gewesen. Jetzt ist wieder nicht klar, was zum 1. Januar 2012 kommt. Herr Fuchs sagt, dass es noch einmal einen kräftigen Schlag werde geben müssen. Wichtig wäre hier gewesen, auch um unterjährig keine neue Marktüberhitzung zu provozieren, dass man dem Markt längerfristig, für zwei Jahre, Sicherheit gegeben hätte. Wir haben Ihnen das angeboten, aber Sie haben sich jetzt auf einen anderen Vorschlag verständigt. Wichtig bleibt für mich, dass wir, wenn wir dann im Rahmen der EEG-Novelle über das Thema PV reden, auch noch andere Aspekte berücksichtigen wie zum Beispiel die Frage, dass man auch regional nach Sonneneinstrahlung prüft. Möglicherweise könnte man hier PVAnlagen fördern. Letzter Punkt: das Grünstromprivileg. Frau Reiche, an diesem Punkt darf ich der Koalition zunächst einmal sagen: Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Sie von Ihrem ursprünglichen Vorhaben, was die Neuregelung des Grünstromprivilegs anbelangt, abgewichen sind und jetzt sagen: Wir machen jetzt einen klaren Schritt - das sind die 2 Cent -, aber die Neuausrichtung erfolgt mit der Novelle zum 1. Januar 2012. - Das ist richtig und wichtig, um nicht in bestehende Verträge einzugreifen. Aber eines müssen wir schon jetzt wissen: Wir müssen den Stromhändlern frühzeitig sagen, wie es in 2012 weitergeht. Wir können damit nicht bis irgendwann nach der Sommerpause warten; denn es geht darum, auch für den Strombezug aus erneuerbaren Energien im Jahr 2012 Verlässlichkeit herzustellen. Von daher die Bitte an Sie im Ministerium, möglichst frühzeitig gerade das Thema Grünstromprivileg zu regeln, einen Vorschlag zu unterbreiten und dabei nicht nur die schlichte Absenkung auf 2 Cent zu prüfen, sondern auch die wichtige Frage zu klären, wie sich die Reststrommenge zusammensetzen soll. Wir schlagen vor, die Reststrommenge ganz klar mit dem Gütesiegel „Ökostrom“ oder „KWKStrom“ zu versehen. Das sind nur einige Punkte. Alles Weitere werden wir im Rahmen der EEG-Novelle diskutieren. Noch einmal: Vorbildfunktion - gerade der Wärmebereich ist der schlafende Riese, wie Herr Röttgen gesagt hat - in diesem Bereich sieht deutlich anders aus. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat: Wir setzen mit dem Europarechtsanpassungsgesetz eine Richtlinie für die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude im Wärmemarkt um und stellen gleichzeitig die Weichen dafür, dass es im Bereich der erneuerbaren Wärme weiter vorangeht. Wir wissen, wir sind in Deutschland ziemlich gut, was erneuerbare Energien beim Strom angeht, und wir sind ziemlich schlecht, wenn es um die Wärme und um den Verkehr geht. Das muss sich ändern; denn wir haben bei der erneuerbaren Wärme große Potenziale, nicht nur an CO2-Einsparung, sondern auch an kostengünstiger CO2-Einsparung. Das müssen wir mit unseren Förderinstrumenten stärker umsetzen und heben. Es macht einen Unterschied, ob die FDP regiert oder nicht. Das zeigt sich beispielsweise beim Thema Biogas. Seit vielen Jahren war es unser Anliegen, dass wir mehr Technologieoffenheit in das Wärmegesetz bekommen. ({0}) Es ist unser Anliegen, dass wir diese Form von erneuerbarer Wärme nicht weiter so diskriminieren, wie es die alte Regierung gemacht hat. ({1}) Die Vorgabe, die Sie beim Biogas machen und die Herr Becker hier angesprochen hat, nämlich das Biogas sei zu wertvoll, um es zu verheizen - im Übrigen nicht in der Therme; hier ist von effizientester Technik die Rede; das ist der Brennwertkessel -, müssten Sie mit der gleichen Logik auch beim russischen Erdgas machen. Denn es geht nicht um die Frage, welches Molekül - egal ob ein Biogasmolekül oder ein Erdgasmolekül - gerade in der ineffizienten Anlage ankommt. Das können Sie am Schluss im Gasnetz ohnehin nicht mehr unterscheiden. Vielmehr geht es darum, dass wir die Produktion und die Verwendung effizient machen, aber bitte nicht nur bei denen, die Biogas verkaufen wollen, sondern auch bei denen, die Erdgas verkaufen. Wir stehen hier insgesamt vor einer Effizienzfrage. ({2}) Wir haben auf die Argumente reagiert, dass nämlich der Einsatz von Biogas in der Tat eine sehr kostengünstige Lösung ist - was grundsätzlich für die Verbraucher erst einmal nichts Schlechtes ist -, dass man hier hohe Anfangsinvestitionen spart und dass wir deswegen beim Biogas auch etwas anspruchsvoller sein können als bei anderen Formen erneuerbarer Wärme. Deshalb haben wir vorgesehen, dass das Biogas dort, wo die Solarthermie nur 15 Prozent der Wärme erbringen muss, 25 Prozent erbringen muss. Das macht es gerade noch wettbewerbsfähig, ermöglicht aber dem Bauherrn, selbst zu entscheiden, welche Technologie er wählt. Ich möchte die Entscheidung, was für die Menschen gut ist, nicht immer Beamten und Politikern überlassen. Sie sollen selbst entscheiden, welche Technologie sie einsetzen wollen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben mit diesem Gesetz vernünftige Regelungen für die Kommunen geschaffen, insbesondere für diejenigen, die überschuldet sind. Das sage ich als jemand, der aus einem Wahlkreis kommt, der sich seit Jahren in der Haushaltssicherung befindet, wo sich die SPD-Kommunalführung trotzdem immer wieder schicke Leuchtturmprojekte gönnt, für die energetische Sanierung der Schulen aber kein Geld hat. Das ist nämlich auch die Wahrheit bei den ach so armen Kommunen. ({4}) Für bestimmte Prestigeprojekte ist immer Geld da. Für die energetische Sanierung von Schulen fehlt es dann. Deswegen haben wir gesagt: Die Verwaltung darf nicht einfach unter dem Tisch entscheiden, das Gesetz fallen zu lassen, weil man ja so überschuldet ist. Stattdessen haben wir geregelt, dass der Rat der Stadt als das demokratische Gremium entscheiden muss. Er muss sagen: Liebe Bürger, uns ist das Prestigeprojekt wichtiger, als erneuerbare Wärme in die Gebäude zu bekommen. Das bedeutet für die Kommunen einen politischen Druck. Sie sollen nicht so verfahren, wie es ihnen von Herrn Becker unterstellt wird, nämlich zu versuchen, diesem Gesetz auszuweichen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, klar.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie tun mir ja so leid. - Ich bin glücklicherweise ein Vertreter einer Stadt, die noch nicht im Haushaltssicherungskonzept ist, aber da sie vor einiger Zeit kurz davorgestanden hat, haben wir uns natürlich mit den Regularien eines Haushaltssicherungskonzepts sehr genau auseinandergesetzt. Teilen Sie meine Auffassung, dass eine Stadt wie die Ihre, die im Haushaltssicherungskonzept ist, gar keine freiwilligen Prestigeprojekte beschließen kann, weil die Kommunalaufsicht ihr das als Ausgabe verbietet?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kelber, ich kann Ihnen ein klassisches Beispiel aus der Stadt Dortmund nennen, die seit ungefähr 50 Jahren von der SPD geführt wird. ({0}) - Auch nach einem Haushaltsbetrug wiedergewählt. Ich kann Ihnen sagen, dass beispielsweise der U-Turm, das Museum, das Dortmund für die „Kulturhauptstadt Europas 2010“ neu gebaut hat, ein sehr schönes Museum ist. Dem Radeberger-Konzern - das ist wohlgemerkt eine Tochtergesellschaft von Oetker, also nicht gerade ein armes Unternehmen - wurde in diesem Zusammenhang für 35 Millionen Euro die städtebauliche Verantwortung abgenommen. Das hat der Regierungspräsident sanktioniert. Es ist also durchaus möglich, Prestigeprojekte zu bauen und dafür die Schulen nicht energetisch zu sanieren. Das zeigt leider die Realität in unseren Städten, gerade auch im Ruhrgebiet, wo die SPD herrscht. ({1}) Wenn Sie sagen, die Koalition tue nichts für die Kommunen, dann möchte ich Sie darauf hinweisen, dass alleine mit dem Hartz-IV-Kompromiss auf Initiative von Union und FDP die Kommunen schrittweise bis zum Jahr 2014 um 3,5 Milliarden Euro jährlich durch die Übernahme der Grundsicherung im Alter entlastet werden. ({2}) Hier sind es wieder besonders die Städte mit einer schwierigen Sozialstruktur, die davon profitieren. Behaupten Sie also nicht, Sie seien die Kommunalpartei. Wir tun etwas für die Kommunen. Wir entlasten sie. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Gesetz für die erneuerbaren Energien auch noch andere wichtige Dinge erreicht. Wir tun das, was wir immer gesagt haben, nämlich die erneuerbaren Energien aufzubauen, die Verbraucher dafür aber nur so viel zahlen zu lassen, wie es unbedingt nötig ist. ({4}) Sie von der SPD und Sie von den Grünen haben im letzten Jahr Zeter und Mordio geschrien, als wir 15 Prozent bei der Photovoltaik abgesenkt haben. Sie haben gesagt, der Markt bricht zusammen, die Photovoltaikindustrie geht pleite. ({5}) Nichts davon ist passiert. Die Werte liegen um mehr als das Doppelte über dem Zielkorridor. Wir liegen bei 7 000 Megawatt. Sie hatten unter Gabriel noch 1 900 Megawatt als Ziel. ({6}) Die Photovoltaik boomt, und zwar trotz der Kürzungen. ({7}) Deswegen sind wir verpflichtet, die Einsparungen, die der Weltmarkt hergibt, auch an die Verbraucher weiterzugeben. ({8}) Sie haben die Leute im letzten Jahr hinters Licht geführt, und wir hatten recht mit unserer Politik. ({9}) Als Letztes, meine Damen und Herren, möchte ich sagen: Wir haben der Bundesregierung mit einem Entschließungsantrag auch eine Aufgabe mitgegeben. Wir wollen das nationale EEG erhalten, aber wir wollen ebenso Brücken zu einem europäischen Strombinnenmarkt auch für die erneuerbaren Energien bauen, und zwar unter anderem deswegen, damit wir Projekte wie Desertec an den deutschen Markt anbinden können. Deshalb haben wir der Bundesregierung gesagt: Bis Mitte 2012 erwartet der Deutsche Bundestag ein Gesamtkonzept für flexible Kooperationsmechanismen in der EU. Das öffnet die Märkte anderer europäischer Länder. Wir werden das in dieser Wahlperiode abschließen und den Investoren einen klaren Rahmen geben. Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Energiepolitik der schwarz-gelben Koalition erscheint mir einmal mehr wie eine Slalomfahrt bei Nebel. Eigentlich haben wir es hier mit der Anpassung nationalen Rechts an europäische Vorgaben zu tun, aber - das ist schon angesprochen worden - ganz verschämt und fast nebenbei werden die Vergütungen für Photovoltaikstrom weiter abgesenkt und ein erster Schritt zur Eliminierung des Grünstromprivilegs gemacht. Das hat mit Europarecht überhaupt nichts zu tun. Man hätte das hier nicht eben einmal so nebenbei abhandeln müssen. ({0}) Aber wir Parlamentarier sind es ja schon fast gewohnt, da wir uns immer öfter Ad-hoc-Aktionen gefallen lassen müssen. Das ist allerdings das Gegenteil von dem, was Ihr Umweltminister immer propagiert, nämlich Planungssicherheit für die Akteure. Gezielte Falschinformationen schüren Ängste bei der Bevölkerung, zum Beispiel davor, dass erneuerbare Energien den Strompreis verteuern würden. Ich merke, dass diese Angst teilweise sogar bis in die eigenen Reihen geht. Tatsache ist aber, dass der weitaus größte Teil des Strompreises auf die Erstellung von Strom und nicht auf das EEG bzw. staatliche Abgaben oder Steuern zurückzuführen ist. Diese machen den geringsten Teil des Strompreises aus. Tatsache ist auch, dass der Strompreis an der Börse in den letzten zwei Jahren um 1,5 Cent je Kilowattstunde gesunken ist - also von wegen steigende Strompreise. Tatsache ist auch, dass in den letzten beiden Jahren die großen Stromversorger jeweils circa 35 Milliarden Euro an Gewinnen eingefahren haben. Da bleibt also das Geld. Darauf ist die Kostensteigerung zuDorothee Menzner rückzuführen und nicht darauf, dass wir erneuerbare Energien so stark ausgebaut haben. ({1}) Oder haben Sie eine Mitteilung Ihres Stromlieferanten bekommen mit dem Inhalt: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass der Strompreis gesunken ist und dass wir, obwohl es mehr erneuerbare Energien im Netz gibt, den Preis nicht anheben müssen“? Nein, das findet nicht statt. Erhöhungen werden sofort an den Kunden weitergegeben, aber keine Preissenkungen. Was passiert denn nun praktisch? Stück für Stück wird mittels Ad-hoc-Aktionen das EEG in seine Einzelteile zerlegt. Für dieses Jahr ist jedoch die Vorlage eines Erfahrungsberichts über das EEG angekündigt. Diesen auszuwerten und daraus Schlüsse zu ziehen, ist mit uns durchaus machbar. Natürlich kann man darüber reden, ob die Photovoltaikförderung weiterhin auf diesem hohen Niveau bleiben muss, aber bitte nach Evaluierung und nicht vor Vorlage der Ergebnisse. So weiß doch kein Mensch, was demnächst kommt. Wenn Sie das umsetzen, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht, wird die Einspeisevergütung in wenig mehr als zwei Jahren um 40 oder gar 50 Prozent abgesenkt. Das ist ein Nachsteuern im Hauruckverfahren. Das sorgt nicht für Verlässlichkeit. Das kaschiert die Probleme, die Sie eigentlich haben. Das eigentliche Problem ist nämlich, dass Sie den Einfluss auf die Höhe des Strompreises und auf die Stromwirtschaft längst verloren haben, dass Sie sich von den großen EVUs auf der Nase herumtanzen lassen, dass Sie die erneuerbaren Energien gegen andere Energien ausspielen und den Lobbyisten der Stromwirtschaft die Gewinne hinterherwerfen. Ihre Politik hat den Namen Verbraucherschutz nicht verdient, und das ist mit uns nicht zu machen. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Josef Fell für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Regierungsfraktionen betonen immer wieder - Frau Staatssekretärin Reiche hat es vorhin ausdrücklich getan -, dass sie hinter dem Ausbau der erneuerbaren Energien stünden. Das Europarechtsanpassungsgesetz wäre nun eine gute Gelegenheit, dies auch wirklich unter Beweis zu stellen. Aber anstatt eines großen Wurfes haben Sie die Vorgaben der EU verwässert und eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen gestreut. Dies ist wirklich kein Hinter-den-erneuerbaren-Energien-Stehen. Ich nenne beispielsweise den Wärmebereich. Es wäre schön gewesen, wenn Sie die Gesetzesnovelle nun genutzt hätten, um den Wärmesektor einmal richtig voranzubringen und die EU-Vorgaben auch für den Altbausektor endlich umzusetzen, damit wir dort eine Bauverpflichtung bekommen. ({0}) Nichts davon ist zu sehen. Herr Kauch, Ihre Umsetzung ist auch nicht technologieoffen. Noch immer wird die Windenergie im Wärmegesetz diskriminiert. Dafür haben Sie das Biogas in die Wärmenutzung aufgenommen, womit verhindert wird, dass innovative Technologien tatsächlich auf den Markt kommen; denn das wirkt sich auf die Bestände der Thermen aus. Das ist keine innovative Technologie. ({1}) Insofern wurde eine große Chance für den Ausbau des Wärmesektors vertan und die Technologie eben nicht nach vorne getrieben. ({2}) Statt dass sich die Regierungsfraktionen endlich gegen die Kampagne der Energiekonzerne und des BDEW stellen, bleiben die dreisten Verleumdungen gegen die erneuerbaren Energien als Strompreistreiber unwidersprochen. Sie sollten endlich Gesetze verabschieden, die einen Missbrauch verhindern. Anstatt den Ökostromanteil zu erhöhen, setzen Sie einen Deckel und lassen sogar die EEG-Umlagebefreiung für Atomstrom zu. Das ist ein Beleg, dass Ihnen der Atomstrom wichtiger ist als der Ökostrom. So haben Sie das Grünstromprivileg nicht optimal umgesetzt und haben keinen optimalen Zustand erreicht. ({3}) Zur Photovoltaik. Wir sind fraktionsübergreifend der Meinung, dass die Photovoltaikvergütung in dem Umfang gesenkt werden sollte, wie dies ohne Probleme für die Photovoltaikbranche möglich ist. Darin sind wir uns in der Tat einig. Aufgrund der - von Schwarz-Gelb abgelehnten - Markteinführung der Photovoltaik durch das rot-grüne EEG ist eine industrielle Erfolgsgeschichte entstanden, die wohl keine Parallele in der weltweiten Industriegeschichte hat. Die Produktionskosten befinden sich sensationell im steilen Sinkflug. Folglich ist es ein richtiger Schritt, weitere marktabhängige Vergütungsabsenkungen noch in diesem Jahr vorzunehmen. Aber statt aus der Vergangenheit zu lernen, wiederholen Sie genau den Fehler des letzten Jahres und konzentrieren die Absenkung auf ein einziges Datum. Ein neuer Schlussverkaufseffekt ist ebenso zu befürchten wie daraus resultierende Attacken der erbitterten Photovoltaikgegner in Ihren Reihen. Ich kann nur an Sie appellieren: Wenn im Juni der Markt wieder explodiert, dann geben Sie sich bitte selbst die Schuld und nicht der Solarbranche. Gestehen Sie dann endlich Ihren Fehler ein. ({4}) Die Photovoltaik ist eine wichtige Zukunftstechnologie. Die chinesische Regierung hat das begriffen und vergibt zinsgünstige Kredite. Allein die Kredite an zwei chinesische Solarunternehmen sind höher als die ge10572 samte deutsche EEG-Vergütung für Photovoltaik. Die Bundesregierung redet stattdessen lieber die Nutzung der Solarenergie schlecht, redet von hohen Kosten und überlässt den Chinesen einen der größten Exportmärkte der kommenden Jahre. Ich würde mich freuen, wenn irgendein Vertreter der Koalition endlich einmal das Wort Industriepolitik in den Mund nehmen würde, wenn es um erneuerbare Energien geht, und wenn nicht immer nur von der Strompreistreiberei gesprochen werden würde. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie haben mit der zusätzlichen Absenkung der Solarvergütung und auch mit der Korrektur beim Grünstromprivileg - ich erwähnte es schon - wenigstens einige Trippelschritte in die richtige Richtung gemacht. Das sehen wir ein. Wir werden deswegen Ihr Gesetz nicht ablehnen, sondern uns enthalten. Aber wir hätten uns eine wesentlich bessere Umsetzung mit größeren Chancen gewünscht. Uns ist auch klar: Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, haben mit dem Nichtergreifen wichtiger neuer Maßnahmen erneut bewiesen, dass Sie die Blockierer für einen schnellen Transformationsprozess unserer Energiewirtschaft hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien sind. Ihre Atomwünsche blockieren dies einfach. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sachverständigen haben uns in der Anhörung zu diesem Gesetzesvorhaben bescheinigt: Deutschland ist bei der Umsetzung dieser Erneuerbaren-Energien-Richtlinie weit fortgeschritten. Ob es das Erneuerbare-EnergienGesetz ist, das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz, die Biokraftstoffförderung oder auch die Nachhaltigkeitsverordnungen - wir sind europaweit vorbildhaft. Daher bedurfte es lediglich einiger kleinerer Anpassungen im Rahmen des EEG und auch des EEWärmeG, um diese EG-Richtlinie umzusetzen. Beim EEG handelt es sich um kleine Anpassungen beim Herkunftsnachweisregister. Das ist ein elektronisches Register für die Herkunftsnachweise für Strom aus erneuerbaren Energien. Das soll demnächst beim UBA geführt werden. Weiterhin geht es um Informationspflichten bei einem Netzanschlussbegehren für EEG-Anlagen. Das soll konkretisiert, klargestellt und auch zügiger ausgestaltet werden. Das alles sind kleine Schritte, die wir aufgrund dieser Richtlinie noch gehen mussten. Wir haben dann allerdings noch zwei Bereiche - das haben auch verschiedene meiner Vorredner gesagt - im Rahmen des EEG novelliert, bevor wir dann im Sommer dieses Jahres die große Novelle in Angriff nehmen werden. Es geht auf der einen Seite um die Neuregelung der Photovoltaikvergütung, und auf der anderen Seite geht es um das Grünstromprivileg. Die große Akzeptanz in der Bevölkerung für erneuerbare Energien ist ein großes Pfund, mit dem wir wuchern können, da auch wir als Parlament insgesamt den Ausbau der erneuerbaren Energien wollen. Nichts anderes sieht auch das Energiekonzept der Bundesregierung vor. Deshalb müssen wir mit dieser Akzeptanz auch sehr sorgsam umgehen und schauen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger, die Stromkunden, die über die Strompreise letztendlich auch die Kosten für die erneuerbaren Energien aufzubringen haben, nicht überfordern. ({0}) Deshalb ist es doch vernünftig - wenn wir im Bereich PV insgesamt 17 000 Megawatt installierter Leistung haben, von denen mehr als 7 000 im Jahr 2010 installiert worden sind -, dass wir jetzt schon bezüglich der Vergütung des PV-Stroms nachsteuern. Ich glaube, es ist durchaus erträglich, was wir da - für Dachanlagen zum 1. Juli und für Freiflächenanlagen zum 1.September vorgesehen haben. Das ist aber auch noch von der Marktentwicklung in den Monaten März, April und Mai 2011 abhängig. Diese Regelung findet auch in der Branche weite Akzeptanz. Deshalb kann ich, ehrlich gesagt, einige Angriffe aus der Opposition überhaupt nicht nachvollziehen. Es ist doch kein Qualitätszeichen, dass PV-Strom so teuer wie möglich ist, sondern im Gegenteil, es ist ein Qualitätszeichen, dass er so preisgünstig wie möglich ist. ({1}) Bei der Frage des Grünstromprivilegs haben wir auch schon einmal eingegriffen; denn letztendlich können nach derzeitiger Regelung Energieversorgungsunternehmen von der Zahlung der EEG-Umlage ausgenommen werden, wenn sie mindestens 50 Prozent erneuerbaren Strom am Markt vertreiben. Dann sind auch die restlichen 50 Prozent des sogenannten grauen Stroms von der EEG-Umlage befreit. Das führt aber eben auch dazu, dass diejenigen, die dann noch als Umlagezahler bleiben, entsprechend mehr Umlage bezahlen müssen. Aufgrund der preislichen Entwicklung in diesem Jahr schien es geraten, dass wir diese Regelung schon vorzeitig in Angriff nehmen, bevor wir uns, wie gesagt, im Sommer an eine Neuregelung begeben, um Mitnahmeeffekte zulasten der nichtprivilegierten Stromversorger zu verhindern. Aber eines muss ganz klar sein: Die Frage, wie wir erneuerbare Energien besser in den Markt bzw. ins Netz integrieren, wird die zentrale Frage sein, die wir im Rahmen der EEG-Novellierung gemeinsam zu diskutieren haben. Es wird vorrangig nicht darum gehen, ob es hier einen etwas höheren Bonus und da ein bisschen weniger Vergütung gibt - wie auch immer - oder welche Degressionsschritte gewählt werden. Letztendlich müssen wir einen qualitativen Schritt in die richtige Richtung machen: Die erneuerbaren Energien müssen erwachsen werden; sie müssen sich dem Markt noch mehr stellen und müssen ernstzunehmende Wettbewerber werden. Dabei stellen wir die Bedeutung des EEG überhaupt nicht infrage. ({2}) Jetzt eine Bemerkung zum Erneuerbare-EnergienWärmegesetz. Wir haben da tatsächlich eine Tür geöffnet: Das Ordnungsrecht schreibt jetzt vor, dass bei einer grundlegenden Sanierung von Bestandsgebäuden der öffentlichen Hand Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien mit installiert werden. ({3}) Hier geht es um die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand. Wir wissen aber, wie es unseren Kommunen derzeit geht: Ihre Finanzen sind, um es zart auszudrücken, sehr knapp gestrickt. Deshalb haben wir Härtefallregelungen vorgesehen: ({4}) Bei akuter Haushaltsnotlage tritt die Nutzungspflicht nicht ein. Allerdings konnten wir im Rahmen der parlamentarischen Beratungen Verfahrensregeln durchsetzen, dass die Räte diese Problematik in aller Offenheit thematisieren und darüber abstimmen müssen, damit der Bürger darüber informiert ist, wofür in seiner Stadt, in seiner Kommune Geld ausgegeben wird und wofür nicht. Ich bin sicher, dass wir einen ausgewogenen Entwurf eines Europarechtsanpassungsgesetzes vorgelegt haben, mit dem wir unsere Klimaschutzziele in einem ehrgeizigen, aber dennoch realistischen Rahmen umsetzen. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4895, den Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 17/3629 und 17/4233 - in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. ({0}) Uns liegt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsord- nung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4895 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4897. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Dagmar Ziegler, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide nach Abzug der Bundeswehr - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Friedliche Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide und Interessen der Region sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth ({2}), Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhalten - Voraussetzungen für eine chancenreiche Regionalentwicklung schaffen - Drucksachen 17/1961, 17/1972, 17/1989, 17/4276 Berichterstattung: Abgeordnete Anita Schäfer ({3}) Michael Groschek Paul Schäfer ({4}) 1) Anlage 24 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Anita Schäfer von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({5})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor sechs Wochen hat der offizielle Auflösungsappell des Bundeswehrstandortes Wittstock stattgefunden. Die letzten Soldaten werden bis zum 30. September 2011 abziehen. Damit endet die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide. Drei verschiedene Bundesregierungen haben den Bedarf gesehen, das ehemals sowjetische Übungsgelände weiter zu nutzen, wenn auch in erheblich geringerem Umfang als vormals die Rote Armee. Zudem wäre mit zahlreichen Einschränkungen zugunsten der Anwohner und nicht mit scharfer Munition geübt worden. Dieser Bedarf hat sich in den letzten Jahren geändert. Was sich nicht geändert hat, ist die Notwendigkeit für ein umfassendes Training unserer Soldaten, gerade für das Zusammenwirken von Luft- und Bodenstreitkräften. Der gegenwärtige Einsatz in Afghanistan unterstreicht diese Notwendigkeit. Aber der damalige Verteidigungsminister Jung ist zu dem Schluss gekommen, dass hierfür künftig auf den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock verzichtet werden kann. Der durch seinen Nachfolger angestoßene Umbau der Bundeswehr, der mit einer Reduzierung einhergeht, bestätigt dies im Nachhinein. ({0}) - Ich meine Freiherrn zu Guttenberg. Eines muss klar sein: Die Ausbildung für alle Einsatzarten, auch unter mitteleuropäischen Bedingungen, bleibt unverzichtbar. Wir sind daher aufgefordert, diese auch nach dem Verzicht auf Wittstock sicherzustellen. Das bedeutet im Sinne der Lastenteilung im Bündnis auch weiterhin Übungsbetrieb in Deutschland. Weder können wir Deutsche die damit einhergehende Belastung einfach vollständig auf unsere Partner abwälzen, noch können wir uns in ein Luftschloss zurückziehen und alle Übungsplätze schließen, wie es im Antrag der Linken einmal mehr durchklingt. ({1}) Für die Stadt Wittstock ({2}) war die mit dem Schießplatz verbundene Garnison über viele Jahre lang eine Grundlage für stabile und sichere Arbeitsplätze, die nicht der Abhängigkeit von verschiedensten Faktoren unterlagen und deren Zahl mit der ursprünglich geplanten Nutzung noch erheblich angewachsen wäre. Für die Region geht es nun darum, eine zivile Nachnutzung zu finden, die diese Pläne kompensiert. Mittlerweile sind die ersten Schritte für eine Konversion des Truppenübungsplatzes Kyritz-Ruppiner Heide eingeleitet. Gegenwärtig befasst sich eine Arbeitsgemeinschaft unter Beteiligung des Landes Brandenburg und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben mit diesem Thema. ({3}) Deren zweite Sitzung soll im Frühjahr stattfinden. Ein Gutachten zur Weiterverwertung, insbesondere im Hinblick auf die Munitionsbelastung, befindet sich derzeit im Zulauf. - Herr Hacker, zuhören! ({4}) Insofern sind zahlreiche Forderungen der vorliegenden Oppositionsanträge bereits überholt. Bei allen vorangegangenen Differenzen besteht kein Zweifel daran, dass jetzt allen Beteiligten daran gelegen ist, sobald wie möglich zu einer Abgabe der Liegenschaft zu gelangen. Vor Oktober ist damit jedoch nicht zu rechnen. Zusätzlich wird die notwendige Altlastensanierung dazu beitragen, dass die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide erst in einiger Zeit realisiert werden kann. Für die Nutzung durch die Bundeswehr wurde ein finanzieller Bedarf von rund 220 Millionen Euro ermittelt. Eine zivile Nutzung setzt aber ganz andere Standards voraus. Hier muss man von einer deutlich höheren Kostenbelastung ausgehen. Was die in allen drei Anträgen geforderte teilweise oder vollständige Eingliederung der Kyritz-Ruppiner Heide in das nationale Naturerbe betrifft, das in unserem Koalitionsvertrag mit 25 000 Hektar festgeschrieben ist: Für tragfähige Entscheidungen müssen der Bund, die Länder und die Bundesanstalt ausreichend Zeit für die Klärung noch offener Fragen haben. ({5}) Daher werden voraussichtlich zunächst 12 000 Hektar in diesem Projekt für die Kyritz-Ruppiner Heide reserviert. Nach Auswertung der derzeitigen Gespräche wird man dann sehen, welche Flächen entsprechend überführt werden können. ({6}) Sosehr ich der Region eine touristische Weiterentwicklung durch die Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide wünsche: Quasi im Schnellwaschgang, wie die drei vorliegenden Anträge dies suggerieren, ({7}) wird man dies nicht erreichen können. Viel wichtiger ist es, hierfür eine sichere rechtliche und finanzielle Basis zu schaffen. Zeitliche und inhaltliche Festlegungen, wie sie ganz konkret in den Anträgen Anita Schäfer ({8}) gefordert werden, sind aber derzeit nicht glaubhaft machbar. Der Antrag der Linken taugt schon wegen der erwähnten sicherheitspolitischen Luftschlösser darin nicht als Grundlage. ({9}) Bei dem Antrag der Fraktion der SPD ist zwar anzuerkennen, dass man sich bei ihm sehr viel mehr um Sachlichkeit bemüht hat, gleichwohl ist auch er abzulehnen. ({10}) Denn ihm ist mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und dem Antrag der Linken gemein, dass er vor allen notwendigen Prüfungen weitgehende Festlegungen des Bundes fordert. ({11}) - Ich warte darauf. Ich bin auf die Rede gespannt. Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker von der SPD-Fraktion. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir heute erst zu vorgerückter Stunde über eine so wichtige Thematik für den Landkreis Ostprignitz, für die Region Kyritz-Ruppiner Heide sprechen. Wenn ich Ihre Rede richtig verstehe, Frau Schäfer, dann hätten Sie dem SPDAntrag eigentlich zustimmen können; denn genau das, was Sie hier vorgetragen haben, haben wir in unserem Antrag gefordert. Genau das war Gegenstand unseres Antrages. Wir haben unseren Antrag mit dem Land Brandenburg abgestimmt, und wir haben auch den Bund nicht über Gebühr in die Verantwortung drängen wollen, weil der Bund nur bestimmte Aufgaben hat. Er hätte aber gemeinsam mit dem Land und natürlich auch mit den Akteuren vor Ort dieses Verfahren gestalten können. „Die Heide ist frei!“ - dieser Aufkleber ist auf Schildern in vielen Orten im Norden Brandenburgs zu lesen, mit denen sich Bürgerinnen und Bürger in diesen Städten und Gemeinden in der Ostprignitz gegen den geplanten Luft-Boden-Schießplatz der Bundeswehr zur Wehr gesetzt hatten. Dieser Aufkleber ist Ausdruck des jahrelangen und am Ende erfolgreichen Bemühens von Bürgerinitiativen, aber auch der Bemühungen aus dem politischen Bereich; wir haben das Thema in den letzten Jahren zum Teil auch hier im Bundestag begleitet. Wir wollen, dass für diese Region eine Perspektive zur Entwicklung des sanften Tourismus geschaffen wird. Mit der Entscheidung des Bundesverteidigungsministeriums vom Juli 2009, den Luft-Boden-Schießplatz aufzugeben, haben sich für die Region neue Chancen für die zivile Nutzung und natürlich auch für den Naturschutz eröffnet. ({0}) Damit endet die Verantwortung der Bundeswehr und der Bundesregierung aber nicht; denn nach einer jahrzehntelangen militärischen Nutzung müssen deren Folgen bewältigt werden. Munition und andere Altlasten müssen beseitigt werden, um die Heide nicht nur von der militärischen Nutzung zu befreien, sondern um sie vor allen Dingen für die Menschen in der Region, aber auch für Besucher aus Nah und Fern zu öffnen. ({1}) Für diese strukturschwache Region können Potenziale für den sanften Tourismus, aber auch für Windparks und andere erneuerbare Energien erschlossen werden. Genau dies ist Gegenstand des Antrages der SPD-Bundestagsfraktion, liebe Kollegin Schäfer. Der zentrale Gedanke ist der Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Nutzung und Naturschutz. Die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide kann aber nur gemeinsam mit den Menschen in dieser Region gestaltet werden. Die Bürgerinitiativen waren erfolgreich. Jetzt müssen sie auch an der Zukunftsplanung für diese Region beteiligt werden. Die SPD-Fraktion hat deswegen in ihrem Antrag gefordert, die lokalen Akteure mit einzubeziehen. Unsere Forderungen richten sich aber auch ganz klar an den Bund. Er ist in der Pflicht, mit seiner eigenen Koordinierungsstelle für Konversionsfragen an Nachnutzungskonzepten zu arbeiten und die Altlasten zu beseitigen. Das kann nicht allein Angelegenheit des Landes Brandenburg sein. Ich habe gehört - Frau Schäfer, Sie sind ja auch dafür -, dass das im gegenseitigen Einvernehmen zwischen dem Bund und dem Land Brandenburg geschehen soll. Die Entwicklung der Kyritz-Ruppiner Heide war seit Jahren ein parteiübergreifendes Anliegen. Nach Vorlage der auf der Tagesordnung stehenden Anträge gab es Bemühungen, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu entwickeln. Ein solcher Antrag - das muss hier gesagt werden - ist am Starrsinn der Unionsfraktion im vorigen Jahr gescheitert. ({2}) Er ist, um das konkret zu benennen, am Starrsinn der Landesgruppe Brandenburg der CDU/CSU-Fraktion gescheitert, die nicht bereit war, einen solchen fraktionsübergreifenden Antrag zu gestalten. Frau Behm, ich entsinne mich noch gut an unsere Gespräche. Wir hätten das hier gemeinsam gestalten können. Frau Schäfer, wir waren auch bereit, auf die Belange und Forderungen Ihrer Fraktion einzugehen. ({3}) Wir haben aber nicht ein Signal bekommen, dass Sie zum Zusammenwirken bereit sind. Wenig hilfreich - auch das muss an dieser Stelle gesagt werden - war der Antrag der Linken. Sie haben von vornherein reine Kritik an der Bundeswehr geübt. Sie haben mit dieser blassen Kritik ({4}) von vornherein einen Kompromiss ausgeschlossen. Das war offenbar Ihre Absicht. ({5}) Sie wollten sich vermutlich vor Ort entsprechend präsentieren. Sie haben nichts dazu beigetragen, dass wir hier einen fraktionsübergreifenden Kompromiss erreichen. ({6}) - Sie haben einen Antrag gestellt, der von vornherein nicht kompromissfähig war, Frau Tackmann. Lesen Sie doch Ihren eigenen Antrag! ({7}) Wir sagen klar: Wir wollen einen Nutzungsmix. Neben Flächen für die touristische Nutzung soll es unter Naturschutz gestellte Flächen geben, aber auch Flächen für die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen. Allein dieser Mix kann die Region voranbringen. Wenn der Antrag heute nochmals von der Koalition abgelehnt wird, wenn nochmals der Versuch unternommen wird, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sagen wir: Frau Schäfer, diese Fahnenflucht kann nicht erfolgreich sein. „Die Heide ist frei“ bedeutet eben nicht, dass die Bundesregierung und die Bundeswehr frei von Verantwortung sind. Die Heide ist erst dann frei, wenn sie frei von Munition und Altlasten ist, wenn Tier und Mensch das Gelände gefahrlos betreten können (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Das hätte alles schon sein können! und eine vernünftige Balance zwischen wirtschaftlicher Nutzung und Naturschutz erreicht wurde. Genau das ist der Inhalt unseres Antrages. Frau Schäfer, ich lade Sie und die CDU/CSU-Fraktion noch einmal ein: Stimmen Sie unserem Antrag zu. ({8}) Sie haben gleich die Chance dazu. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Spatz von der FDP-Fraktion. ({0})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hacker, dass wesentliche Forderungen, die in Ihrem Antrag stehen, bereits jetzt in der Umsetzungsphase sind, ist kein Grund dafür, dem Antrag zuzustimmen; ({0}) das ist vielmehr ein Beleg dafür, dass die Koalition und die Bundesregierung in Partnerschaft mit den lokalen und den Landesautoritäten auch ohne Ihren Antrag handlungsfähig sind. ({1}) Bundesminister Jung hat entgegen dem, was vom Verteidigungsministerium jahrelang als notwendig erachtet worden ist, auf die Nutzung verzichtet. Wir sind froh darüber. Als neuer Abgeordneter kann ich dem vorbehaltlos zustimmen. Andere Kollegen, die jahrelang die andere Richtung vertreten haben, haben sich damit ein bisschen schwerer getan. Auch das sei hier einmal erwähnt. Natürlich muss jetzt durch die BImA in Partnerschaft mit den lokalen und Landesgebietskörperschaften ein Nachnutzungskonzept gefunden werden. Seit dem 5. November 2010 gibt es einen Lenkungskreis, dem die Betroffenen angehören. Unter Leitung der BImA und Beteiligung des Landes Brandenburg, des Landkreises und des Bundesministeriums der Verteidigung wird ein abgestimmtes Konversionskonzept gesucht. Eines ist aber schon klar: Die weitgehenden Festlegungen, die von diesem Lenkungskreis getroffen werden, sind für den Bund ein bisschen schwierig; denn die Kosten der Dekontaminierung sind natürlich noch nicht genau zu beziffern. Schließlich geht es hier nicht um ein kleines Areal, sondern um ein Riesenareal. Natürlich muss man erst einmal wissen, über welche Größenordnung man verhandelt, bevor man letztendlich Festlegungen trifft. ({2}) Die Einbindung der lokalen Autoritäten ist, wie gesagt, gewährleistet. Auch wir sind für ein gemischtes Nutzungskonzept. Die Einbeziehung der Kyritz-Ruppiner Heide in das nachhaltige Energiekonzept für Brandenburg ist vorgesehen. Ferner ist eine touristische Entwicklung vorgesehen. Auch die Stiftung „Nationales Naturerbe“ und ähnliche Dinge sollen eine Rolle spielen. Ein großes, einheitliches Konzept ist auch aus unserer Sicht relativ unwahrscheinlich. Im Übrigen sind wir dafür, dass verschiedene Eigentumsformen in diesem Gebiet möglich sind; auch private Investoren sollen erlaubt sein. Deswegen ist es nicht vertretbar, dass, wie von Linken und Grünen gefordert, bereits zum jetzigen Zeitpunkt private Investoren generell ausgeschlossen werden. Wer in anderen Städten lebt - auch in meiner Heimatstadt Würzburg gibt es ein giJoachim Spatz gantisches Konversionsprogramm -, der weiß, dass das nur mit privaten Investoren funktionieren kann. Andernfalls ist es für die beteiligten Kommunen überhaupt nicht zu stemmen. ({3}) Das ist Fakt. Natürlich kann man sich die Welt schönmalen, aber mit Realität hat das dann nichts zu tun. Zu den Linken kann man in dem Fall keine ernstzunehmende Stellungnahme abgeben. Es ist wie bei jedem Thema, das mit der Bundeswehr zu tun hat - wir haben das heute bei der Wehrrechtsreform gesehen -: An allem, was eine funktionierende Armee benötigt, in diesem Fall die Möglichkeit, Luft-Boden-Übungen durchzuführen, wird Generalkritik geübt. Dies wird auch an anderer Stelle kritisiert. Das geht natürlich überhaupt nicht. Sie verabschieden sich völlig von der seriösen Diskussion über den vorliegenden Fall, die Umnutzung der Kyritz-Ruppiner Heide, und üben Generalkritik an der Bundeswehr. Damit haben Sie ein Stück weit - da gebe ich dem Kollegen von der SPD recht - die Anträge der anderen Oppositionsparteien kontaminiert. Das sage ich ganz deutlich. ({4}) - Ja, in der Tat, kontaminiert mit Ihrer Fundamentalkritik an der Bundeswehr und ihren Übungsmöglichkeiten. ({5}) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollen für die Zukunft bei der Bundeswehr bestimmte Fähigkeiten erhalten. Dazu gehören Luftfähigkeiten. Das betrifft auch die anderen Übungsplätze, die Sie apostrophiert haben. Wir wollen diese erhalten und nicht schließen. Wir achten darauf, dass auch bei diesen Übungsplätzen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen militärischen Notwendigkeiten und den berechtigten Interessen der Anwohner erhalten bleibt. Wie gesagt: Dieser Fundamentalkritik können wir uns nicht anschließen. Wir wünschen, dass die Kooperation zwischen Land, Bund und Kommune in unserem konkreten Fall zu einer positiven Entwicklung vor Ort führt. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute Abend nicht um irgendwelche 12 000 Hektar märkischen Boden; vielmehr geht es bei der Kyritz-Ruppiner Heide um ein Symbol für eine lebendige Bürgerdemokratie. Der Verzicht auf das Bombodrom war formal eine Entscheidung von Regierenden; aber erzwungen wurde sie durch ein breites überparteiliches Bündnis in der Region mit überregionaler Unterstützung. ({0}) Die Bürgerinitiativen „Freie Heide“ und „Freier Himmel“ waren neben „Pro Heide“ und vielen anderen Initiativen Motor dieses Widerstandes. Die Linke war immer an ihrer Seite. Wir haben gemeinsam gekämpft, auch wenn die Ziele im Einzelnen unterschiedlich waren: gegen Kriegsübungen, gegen Naturzerstörungen oder einfach nur gegen die Blockade der regionalen Wirtschaftspotenziale. Fast 20 Jahre lang hat die Bundeswehr versucht, eine Nutzung des Geländes als Bombodrom zu erzwingen, und zwar gegen eine übergroße demokratische Mehrheit in der Region und mit rechtsstaatswidrigen Mitteln, wie in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg festgestellt wird. Am Ende war es die Hartnäckigkeit des politischen und juristischen Widerstands, die zum Erfolg geführt hat. ({1}) Das sollte auch denen Mut machen, die in Nordhorn und Siegenburg für die Schließung von Übungsplätzen kämpfen. Wieso erzähle ich das? Weil die Bundespolitik gegenüber der Region in ganz besonderer Verantwortung steht, nach diesem sehr langen, sehr steinigen Weg zu einer friedlichen Zukunft in der Kyritz-Ruppiner Heide zu kommen. ({2}) Angesichts des breiten überparteilichen Bündnisses vor Ort wäre es ein wichtiges Signal gewesen, einen gemeinsamen überfraktionellen Gruppenantrag zu erarbeiten. Das ist leider gescheitert - das wurde hier schon gesagt -, aber es ist nicht an den Linken gescheitert. ({3}) In unserem Antrag haben wir ausdrücklich den Diskussionsstand in der Region aufgegriffen, weil uns das besonders wichtig ist. Unsere Kernforderungen lauten: Erstens. Wir fordern den rechtssicheren und unumkehrbaren Verzicht auf eine militärische Nutzung des Geländes und die Streichung aus dem Standortkonzept. Es gibt nach wie vor viel Misstrauen in der Region. Ich finde, dass man hier wirklich eine klare Entscheidung treffen muss. ({4}) Zweitens. Wir fordern einen Zeitplan für den Abzug der Bundeswehr. Es wurde hier schon gesagt: Der Abzug hat bereits begonnen. Drittens. Wir fordern die Übernahme aller Verpflichtungen nach Art. 14 Grundgesetz durch den Eigentümer Bund. Das heißt, er muss dieses Eigentum zum Gemein10578 wohl verwenden. Dazu müssen die Region und die Landesregierung eng in alle Entscheidungen einbezogen werden. Das ist mit der Schaffung verschiedener Arbeitsgremien unterdessen auf den Weg gebracht worden. Allerdings wurde der Antrag der Linken zur finanziellen Unterstützung der Kommunalen Arbeitsgemeinschaft Kyritz-Ruppiner Heide durch den Bund abgelehnt. Ich finde, das ist nicht richtig. ({5}) Viertens fordern wir, unverzüglich mit einer nutzungsorientierten Kampfmittel- und Altlastenbeseitigung zu beginnen und sie bedarfsgerecht zu finanzieren. Niemand will die gesamte Heide sofort beräumen; aber es sollte zumindest bedarfsgerecht und nutzungsorientiert geschehen. ({6}) Das ergibt sich nach Auffassung der Linken vor allen Dingen daraus, dass der Bund nach jahrzehntelanger Blockade der Region zur Wiedergutmachung aufgefordert ist. ({7}) Es ist auch inakzeptabel, dass für diese Beräumung nach wie vor kein Geld zur Verfügung steht und auch nicht in Aussicht gestellt wurde. Unsere fünfte Forderung lautet, auf die Privatisierung der gesamten Fläche zu verzichten; das wurde bereits betont. Ich finde, das ist richtig. Sechstens. Dem Naturschutz soll auf dem Gelände ein besonderer Stellenwert eingeräumt werden. Dazu soll die Option der Aufnahme des Geländes in das Nationale Naturerbe ernsthaft geprüft werden. ({8}) Über das Nationale Naturerbe gibt es sehr intensive Diskussionen, nicht nur in der Region, sondern auch darüber hinaus. Als Linke teilen wir ausdrücklich die Position der Kommunalen Arbeitsgemeinschaft Kyritz-Ruppiner Heide. Das heißt, wir könnten uns die Aufnahme in das Nationale Naturerbe vorstellen, wenn dabei eine sanfte touristische Nutzung möglich bleibt. Bei dieser Frage gehen aber zwei Dinge ganz bestimmt nicht: Erstens. Diese Entscheidung darf nicht über die Region und die Landesregierung hinweg entschieden werden, schon gar nicht im Haushaltsausschuss des Bundestages. Zweitens. Die bereits für das Nationale Naturerbe vorgesehenen 25 000 Hektar an anderen Orten müssen um die Kyritz-Ruppiner Heide aufgestockt werden. Sie darf nicht Bestandteil dieser 25 000 Hektar sein; denn diese 25 000 Hektar stehen bereits in einer Liste und wurden nach einem Kompromiss verteilt. Sie müssen absolut „on top“ kommen; sonst geht das gar nicht. ({9}) Ich denke, dass die Linke einen sehr wichtigen Antrag vorgelegt hat, der von der Region, von denen, die die Kyritz-Ruppiner Heide freigekämpft haben, in ganz großer Breite befürwortet wird. Schon der Respekt vor dieser Bewegung sollte Sie eigentlich dazu bringen, den Antrag zu unterstützen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm vom Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass der Weg in die zivile Zukunft der KyritzRuppiner Heide ein langer und steiniger werden würde, das ahnte man seit langem, ist doch das Gelände, das Anfang der 50er-Jahre zwangsenteignet worden ist, von den Sowjets genutzt worden, um diverse international im Einsatz befindliche militärische Geräte, unter anderem Bomben, zu prüfen und zu testen; daher kam auch der Name „Bombodrom“. Dass aber so schwer eine Einigung darüber zu erzielen ist, wie mit den kostenträchtigen Altlasten auf der einen Seite und den verständlichen Ansprüchen der Region und der Anrainer auf der anderen Seite umzugehen ist, das ist in der Tat ein Trauerspiel. Das Bemühen um einen Gruppenantrag blieb erfolglos - es ist hier schon erwähnt worden -, weil sich die Union sperrte. Das ist ein Armutszeugnis, wird doch den Menschen vor Ort von allen Parteien - ich wiederhole: von allen Parteien - immer wieder versprochen, dass sie sich für eine zivile Nutzung des Geländes einsetzen. ({0}) Die Bevölkerung in den 14 Anliegergemeinden hat im Übrigen schon 1990, als die Sowjets abzogen, Pläne zur Nutzung der Heide gemacht. So wurde damals beispielsweise ein Wegenetz für die touristische Erschließung konzipiert. Diese Pläne wurden aber zu Makulatur, als die Bundeswehr 1992 ankündigte, das Gelände als Truppenübungsplatz nutzen zu wollen, und zwar als Luft-Boden-Schießplatz. Nun ist die Heide frei. Doch noch immer gibt es politisches Gezerre um Zuordnung, Zuständigkeit und Verantwortung. Man könnte vom Glauben abfallen. Denn am 11. November des vergangenen Jahres hatte der Haushaltsausschuss des Bundestages mit der Mehrheit der Regierungskoalition beschlossen, die Kyritz-Ruppiner Heide in das Nationale Naturerbe zu übertragen, und zwar nicht, wie wir es in unserem Antrag fordern, zusätzlich zu den im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP vereinbarten 125 000 Hektar. Die 13 000 Hektar sollten vielmehr auf die sogenannte zweite Tranche von 25 000 Hektar, die noch nicht übertragen worden sind, angerechnet werden. Nicht einmal mit den eigenen Fachpolitikern hatten die Haushälter das abgesprochen. Ich habe danach mit ihnen geredet: Die eigenen Leute waren entsetzt. Da blockiert der Bund mit seinen Schießplatzplänen erst 17 Jahre lang die Entwicklung einer Region, ({1}) verbrennt Tausende Euro in zig verlorenen Gerichtsprozessen - Steuergelder und Geld der klagenden Kommunen -, und dann versucht er, sich auf Kosten von zahlreichen anderen Regionen in Deutschland, die darauf warten, dass wertvolle Naturschutzflächen durch den Status Nationales Naturerbe dauerhaft geschützt werden, der Verantwortung für die Heide zu entledigen. ({2}) Ist denn hier kein Bewusstsein dafür vorhanden, dass der Bund in der Bringpflicht ist? Diese sogenannte zweite Tranche darf nicht beschnitten werden. Ich fordere Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen aus Union und FDP - ich richte mein Wort insbesondere an die Haushälter -: Nehmen Sie den Beschluss des Haushaltsausschusses zurück! Beschließen Sie meinetwegen eine dritte Tranche, die nur naturschutzfachlich wertvolle ehemalige Militärflächen enthält. Im Zuge der Reform der Bundeswehr wird zusätzlich zur Kyritz-Ruppiner Heide noch eine ganze Menge an Flächen anfallen. Aber stellen Sie endlich die Weichen für eine zivile Nutzung des ehemaligen Bombodroms! ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Brackmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu den Regelkreisläufen, über die wir heute zu sprechen haben: Das Gelände, über das wir heute sprechen - ein naturbelassenes Gebiet -, ist der Natur für eine besondere staatliche Aufgabe entzogen worden. Heute sind wir in der glücklichen Lage, dass diese militärische Nutzung aufgegeben werden kann. Deswegen ist es doch geradezu ein Gebot der Nachhaltigkeit, in einem solchen Moment zu sagen: Wir müssen das, was wir der Natur vor einiger Zeit vorübergehend entzogen haben, der Natur auch wieder zuführen. Genau dieses Ziel verfolgen wir mit Blick auf die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide. ({0}) Von daher ist diese neue Nutzung ein Glücksfall für Natur und Mensch gemeinsam. Wir befinden uns glücklicherweise überhaupt nicht auf dem Weg zu einem „Heide 21“, ({1}) sondern Bund und Land, Kreis, BImA und die betroffenen Menschen vor Ort sind mittlerweile in sehr konstruktiven Gesprächen über die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide. Das sollten wir alle begrüßen ({2}) und nicht das Gegenteil davon tun. Die Gespräche brauchen Zeit; denn es soll einen gesellschaftlichen Konsens über die Zukunft dieser Fläche geben. ({3}) - Dagegen steht eben nicht der Haushaltsausschuss. Der Haushaltsausschuss hat etwas beschlossen, weil es für bestimmte große Entscheidungen nur ganz bestimmte Zeitfenster gibt. Es handelt sich hier nicht um irgendeine zusammenhängende Fläche mit einer Größe von 11 900 Hektar, sondern um eine Fläche, von der über 9 000 Hektar als FFH-Gebiet ausgewiesen sind und die damit allerhöchsten Naturschutzwert hat. Der Haushaltsausschuss hat diese Fläche nur im Gesamtzusammenhang gesichert, um sie nicht zerbröseln zu lassen. Denn wir machen Umweltschutz nach Umweltgesichtspunkten und nicht nach Länderquoten. ({4}) Deswegen haben wir auch keine Chancen für die Zukunft „gebaut“; denn wir wissen, dass in allen Ländern hochwertigste Umweltflächen angeboten werden und zur Verfügung stehen. Das Stichwort ist ja schon gefallen. Man mag zu gegebener Zeit über eine dritte Tranche reden können; ({5}) aber heute ist es erst einmal an der Zeit, das zu entscheiden, was wir entscheiden können, nämlich diese zusammenhängende, höchst wertvolle Naturschutzfläche dauerhaft für den Naturschutz zu sichern. Damit haben wir als Haushaltsausschuss einen deutlichen Hinweis gegeben. ({6}) Das ist auch keine Frage, die nur den betroffenen Landkreis betrifft. Das ergibt sich schon daraus, dass das gesamte Gebiet, wenn man es der Natur tatsächlich wegnehmen und komplett für andere, touristische Zwecke nutzen wollte ({7}) - partiell, aber wir reden hier ja auch über Geld -, für rund 600 Millionen Euro dekontaminiert werden müsste. Das übersteigt mit Sicherheit die Leistungsfähigkeit eines Landkreises. Wir sind doch schon viel weiter, als Sie hier glauben machen. Selbst wenn wir dort nur die partielle Nutzung sicherstellen und die entsprechenden Flächen dekontaminieren wollen, kommen wir immer noch, je nachdem, wie man es macht, auf einen Preis von bis zu 81 Millionen Euro. Auch die wollen erst einmal aufgebracht werden. Sie haben hier gehört, dass wir von der Regierungskoalition in Verantwortung für die Natur einstehen. Ich glaube, das ist auch für die betroffene Region ein ganz wertvolles und wichtiges Signal. ({8}) Vor diesem Hintergrund geht es darum, diese Fläche ganz konkret zu sichern und die Möglichkeit für eine Mischnutzung zu eröffnen. ({9}) Ich habe darauf hingewiesen, dass über 9 000 Hektar FFH-Gebiet sind. Damit bleiben immer noch 3 000 Hektar übrig, die, wenn Sie so wollen, im Konsens mit den Menschen vor Ort für eine andere Nutzung bereitgestellt und als andere Naturschutzflächen ausgewiesen werden können. ({10}) - Ja, stellen Sie sich dieser Diskussion. ({11}) Sie sind herzlich eingeladen. Die Diskussion wird ja geführt. Um für all dies einen Konsens zu erzielen, braucht man Zeit. Ein altes afrikanisches Sprichwort lautet: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Man könnte auch sagen: Gut Ding will Weile haben. ({12}) Geben Sie uns für die Diskussion also die erforderliche Zeit. Wir sind davon überzeugt, dass das Ganze ein gutes Ende nehmen wird. Wir haben die entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Dazu bedarf es nicht der Unterstützung durch Ihre Anträge. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort der Kollegin Dagmar Ziegler von der SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mich wundert, dass es zwischen Ihren Reden und dem, was im Haushaltsausschuss beschlossen wurde, eine eklatante Spanne gibt. Nur damit wir wissen, worüber wir hier debattieren, will ich den zweiten Punkt, der im Haushaltsausschuss beschlossen wurde, noch einmal zitieren: Der Haushaltsausschuss fordert die Bundesregierung auf, in der o. g. Gesamtumsetzung die noch ausstehende Übertragung der Liegenschaft Wittstock … mit rund 11.900 Hektar vollständig zu berücksichtigen. Ich lege hier Wert auf das Wort „vollständig“. ({0}) Ich zitiere einmal Frau Schäfer, in deren Rede am 10. Juni 2010 im Bundestag es heißt: Daher ist auch die zum Beispiel von der SPD geforderte Einbeziehung in den Flächenpool des Nationalen Naturerbes nicht angebracht. … Wichtig ist es, dass nun die verschiedenen Stellen des Bundes gemeinsam mit dem Land Brandenburg sämtliche Modalitäten der Eigentumsübertragung klären und hinsichtlich künftiger Nutzungsüberlegungen frühzeitig auch die Interessenträger vor Ort in die entsprechenden Verfahren einbinden. Herr Brackmann, Sie kann ich auch gleich zitieren: Bevor diese Schritte abschließend erfolgt sind, kommt die Opposition mit der Forderung daher, geeignete Flächen in das Nationale Naturerbe zu überführen. ({1}) Wir verschließen uns keinesfalls einer solchen Überlegung, jedoch ist dies der zweite Schritt vor dem ersten. Ob und in welcher Form die Liegenschaft dem Nationalen Naturerbe zugeführt werden kann, ist abhängig von der Ermittlung der Munitions- und Altlastenbelastung und der Feststellung der naturfachlichen Eignung. Ich frage mich: Wo sind wir hier? In der Rede von Herrn Ackermann von der FDP heißt es - Zitat -: Es gilt nun, das Verfahren für die umfassende zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide mit den betroffenen Kommunen eng zu verzahnen und den Willen der Bürger vor Ort zu berücksichtigen. Das war am 10. Juni letzten Jahres. Im November letzten Jahres hat der Haushaltsausschuss dann die vollständige Übertragung dieser Flächen in das Naturerbe definitiv beschlossen. Heute reden Sie wiederum so, als wäre dieser Haushaltsbeschluss nicht relevant; man könne noch einmal vor Ort über eine Mischnutzung und alle möglichen Modalitäten reden. Vor Ort fühlt man sich mittlerweile wirklich vergackeiert. Man wird den Initiativen, die sich seit Jahren um eine zivile Nutzung bemüht haben, nicht gerecht. Deshalb kann ich Sie nur bitten, Ihr Reden und Tun miteinander in Einklang zu bringen und dem Antrag der SPD-Fraktion zuzustimmen. Denn sonst verspielen Sie das Vertrauen vor Ort. Das Hü und Hott der Koalition bringt uns in der Sache nicht voran; es verunsichert vielmehr die Menschen. Überall wird gesagt: Wir wissen nicht, was dabei herauskommt. Alles, was jetzt vor Ort an Kommunikation stattfindet, kommt uns vor wie eine Beschäftigungstherapie. Es stand von vornherein fest, was die Koalition will. Das andere ist nur noch Schauwerk vor Ort. Dagegen verwahren wir uns. Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu. Dadurch können Sie beweisen, dass Sie wirklich das meinen, was Sie hier immer vortragen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 17/4276. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1961 mit dem Titel „Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide nach Abzug der Bundeswehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1972 mit dem Titel „Friedliche Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide und Interessen der Region sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1989 mit dem Titel „Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhalten - Voraussetzungen für eine chancenreiche Regionalentwicklung schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur Änderung weiterer Vorschriften - Drucksachen 17/3630, 17/4145 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 17/4893 Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Manuel Höferlin Jan Korte Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Clemens Binninger von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! E-Mail und Internet sind mittlerweile Massenkommunikationsmittel geworden. Wir alle nutzen täglich E-Mail. Bürgerinnen und Bürger senden uns täglich E-Mails. Auch Behörden versenden E-Mails. Trotzdem muss uns eines immer bewusst sein: Eine E-Mail hat kein besonders hohes Sicherheitsniveau. Sie hat etwa das Sicherheitsniveau einer Postkarte, die Sie an das schwarze Brett hängen, mit dem Text nach außen. Sie ist also alles andere als sicher. Ein jährliches Volumen von etwa 17 Milliarden Briefsendungen in Deutschland macht deutlich, dass durchaus ein großes Potenzial für sicheren E-Mail-Verkehr besteht. Genau dieses Potenzial wollen wir ausschöpfen, indem wir heute in zweiter und dritter Lesung das De-Mail-Gesetz verabschieden und damit einen Rahmen für eine sichere, komfortable und vertrauensvolle Kommunikation mit E-Mail schaffen. Das ist ein wichtiger Baustein für eine moderne Verwaltung und eine moderne Gesellschaft. ({0}) Lassen Sie mich die Kerninhalte des Gesetzes ganz kurz darlegen, weil sie von Bedeutung sind. Mit dem De-Mail-Gesetz schaffen wir den rechtlichen Rahmen dafür, dass ein Provider, der diese Technik anbieten will, vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zertifiziert sein und hohe Sicherheitsanforderungen erfüllen muss. Ich füge hinzu: Es kann bis heute noch keinen zertifizierten De-Mail-Provider geben. Aber sobald das Gesetz in Kraft tritt, können die Zertifizierungsmaßnahmen anlaufen. Wer De-Mail als Nutzer in Anspruch nimmt, muss sich beim ersten Mal zweifelsfrei identifizieren. Das heißt, man weiß, wer hinter der De-Mail-Adresse steht. Das weiß man heute bei der E-Mail-Adresse nicht. Wir regeln in diesem Gesetz auch, dass der Versand von DeMails verschlüsselt erfolgen muss, und zwar auf zwei unterschiedlichen Niveaus: Transportverschlüsselung auf dem gesamten Weg und als zusätzliche Option bei hohem Sicherheitsbedürfnis eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Wir regeln des Weiteren, dass eine Versandbestätigung gesendet wird, wenn De-Mails verschickt werden. Eine solche Bestätigung schafft Rechtssicherheit und ermöglicht es Unternehmen, insbesondere kleinen Unternehmen und mittelständischen Betrieben, ihre Kommunikation mehr über De-Mail rechtssicher abzuwickeln. Wir schaffen noch etwas anderes Wichtiges: Wir verbinden Sicherheit und Komfort. Machen wir uns nichts vor: Es gibt schon immer Methoden, mit denen man E-Mails verschlüsseln kann. Auch die elektronische Signatur gibt es schon seit einigen Jahren. Nichts davon konnte sich durchsetzen, weil es offensichtlich zu kompliziert, zu anspruchsvoll und zu technisch für den Nutzer war. Deshalb ist unser Ziel, mit dem De-Mail-Gesetz einen Rahmen zu schaffen, der beides gewährleistet: Sicherheit und Komfort. Ich glaube, das ist uns mehr als geglückt. Es wird sicher sein, und es wird komfortabel sein. ({1}) Ich will noch ein paar Sätze zum Verfahren sagen; das ist mir wichtig. Die Koalition hat sich ausreichend Zeit für dieses Gesetz genommen. Wir haben keinen Punkt, der an uns herangetragen wurde, beiseitegewischt, nach dem Motto „Wir wissen es besser“. Wir haben viele Gespräche mit Vertretern der Wirtschaft und von Verbänden, mit den Kollegen der Opposition und mit Ländervertretern geführt. Wir haben wirklich versucht, auf jeden Punkt einzugehen. Wir haben eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Wie es für Sachverständigenanhörungen üblich ist, gab es Lob und Kritik. Wir haben aber auch Anregungen, die wir erhalten haben, umgesetzt. In dem von uns vorgelegten Änderungsantrag haben wir viele Punkte, die wir für bedenkenswert halten, aufgegriffen. So haben wir es am Ende geschafft, ein Gesetzeswerk zu etablieren, das nach meiner Meinung nicht nur einen ersten Schritt, sondern einen wichtigen, soliden Schritt hin zu einer digitalen Raumordnung darstellt. Es schafft Sicherheit für alle Beteiligten und ist ein echter Fortschritt für unser Land. ({2}) Trotzdem gibt es noch immer Kritikpunkte. Ich nehme an, dass wir nachher einiges dazu hören werden. Auch ich will auf die Kritikpunkte eingehen, die in der Ausschussberatung deutlich wurden und mit denen wir uns sehr lange befasst haben. Erster Punkt. Warum gibt dieses Gesetz keinen einheitlichen Domainnamen vor? Warum gibt es keine staatlich verordnete E-Mail-Adresse? Anfangs wurde gesagt, man brauche das, weil sonst die Gefahr der Verwechslung von normalen E-Mails mit sicheren De-Mails bestehe. Wir wissen aber nun - davon haben wir uns mehrfach überzeugt -, dass es sich um getrennte Systeme handelt. Die Gefahr, dass man eine E-Mail versehentlich als De-Mail erhält, geht gegen null, weil man in seinem E-Mail-Postfach gar keine De-Mails empfangen kann. Im E-Mail-Postfach erhält man nur seine normalen E-Mails. De-Mails sind sicher. Eine Verwechslungsgefahr ist ausgeschlossen, weil man nur dort De-Mails empfangen kann, wo man auch dafür registriert ist. Es ist deshalb nicht notwendig, anhand des Namens eine Unterscheidung zu treffen. Es wäre sogar gefährlich, wenn man den Bürgern suggerieren würde: Sie müssen nicht mehr schauen, wo eine E-Mail ankommt; Hauptsache, die Adresse ist eindeutig gekennzeichnet; dann ist sie sicher. So wenig wie die Sicherheit eines Autos oder eines Ausweisdokumentes an der Farbe festzumachen ist, so wenig gilt dies für den Namen einer Domain bei einer Mail. Deshalb war es ordnungspolitisch, aus Sicherheitsgründen und technisch nicht notwendig, hier eine staatlich verordnete E-Mail-Adresse vorzugeben. Wir haben als Kriterien festgelegt, dass die entsprechenden Adressen nur für De-Mails genutzt werden dürfen. Ich wiederhole: Eine einheitliche, staatlich vorgegebene Domain war nicht notwendig. Zweiter Punkt: Warum gibt es nicht nur Ende-zuEnde-Verschlüsselungen, sondern auch Transportverschlüsselungen? Es stimmt natürlich - das werden wir sicherlich nachher von der Opposition hören -, dass Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen ein etwas höheres Sicherheitsniveau als die Transportverschlüsselung auf dem gesamten Weg gewährleisten. Aber schon die Transportverschlüsselung wird den Bedürfnissen der Nutzer mehr als gerecht und hebt das Sicherheitsniveau einer De-Mail. ({3}) Wir haben Folgendes gesagt: Wenn der Nutzer es will - Stichwort „Eigenverantwortung“ -, dann muss er die Möglichkeit haben, zwischen Transportverschlüsselung und Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu wählen. Eine staatliche Vorgabe darf es aber nicht geben. Genau in diesem Sinne haben wir uns entschieden: Transportverschlüsselung als Standardsicherheit; wer dies will, kann von der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung Gebrauch machen. Was würde denn passieren, wenn wir nur die höchste Verschlüsselungsform vorgeben würden? Das würde für den Nutzer mehr Aufwand nach sich ziehen. Er bräuchte mehr technisches Know-how. Ich garantiere Ihnen: Dann würde das De-Mail-Gesetz den gleichen Weg gehen wie die elektronische Signatur und andere komplizierte Anwendungen. Es gäbe keine Massenanwendung, sondern es entstünde eine Nische. Das war nicht unser Ziel. Wir wollten den Rahmen dafür schaffen, dass De-Mails zu einem Massenkommunikationsmittel werden - sicher und komfortabel. ({4}) Ich glaube, dass wir auch an einem anderen wichtigen Punkt sehr gute Arbeit geleistet haben, nämlich bei der Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern. Wenn ein Bürger mit einer Behörde per De-Mail kommunizieren will, muss er das der Behörde eröffnen. Das ist schon einmal ein Beitrag zum Verbraucherschutz. Eine De-Mail gilt erst dann als zugestellt, wenn dieser Bürger sich an seinem Postfach angemeldet hat, unabhängig vom jeweiligen Tag. Und nur für den Fall, dass er ausschließlich per De-Mail mit seiner Behörde kommunizieren will, den Postweg also ausgeschlossen hat, gilt die Zustellfiktion, dass das zugesandte Schriftstück dem Empfänger nach drei Tagen als zugestellt gilt, wie im normalen Briefverkehr. Daran gibt es wirklich nichts zu kritisieren. Gestatten Sie mir, auch ein paar Sätze zur Opposition zu sagen. Bei der Linkspartei bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie an diesem Thema überhaupt interessiert ist. Die Form, wie Sie in den letzten Monaten im Ausschuss und auch in der Anhörung Ihre Beiträge dazu geleistet haben, wirkte relativ uninspiriert und gelangweilt. Wahrscheinlich kommt nachher wieder die einzige Nummer, die Sie können: Wir schaffen angeblich das Briefgeheimnis ab. Das ist völlig falsch: Im Gesetzentwurf steht eindeutig, dass am Briefgeheimnis nicht gerüttelt wird. Es gilt das Gleiche wie für den gedruckten Brief. Ohne Richtervorbehalt gibt es keinen Zugriff auf den Inhalt. Da ist bei den De-Mails nicht anders. Von der Linkspartei gab es also wenige Beiträge. Zur SPD muss ich sagen: Ich verstehe sie nicht. Dieser Gesetzentwurf hatte ja einen Vorläufer: das Bürgerportalgesetz. Dadurch wäre im Wesentlichen das Gleiche geregelt worden. Seine Ausarbeitung haben wir in der Großen Koalition begonnen, konnten sie aber wegen Ablaufs der Legislatur nicht mehr zu Ende bringen. Damals war die SPD dafür, heute ist sie gegen den vorliegenden Gesetzentwurf, obwohl wir den damaligen Gesetzentwurf weiterentwickelt haben. ({5}) Ich glaube, das macht es Ihnen ein bisschen schwierig, Herr Kollege Reichenbach. Der Bürger weiß bei Ihnen nicht so richtig, woran er ist. Gestern waren Sie noch dafür, heute sind Sie schon dagegen oder vielleicht auch beides am gleichen Tag. Auf jeden Fall haben Sie keine konstante Meinung. Das ist zu wenig, um einen wichtigen Beitrag zu diesem wichtigen Thema zu leisten. ({6}) Ich wiederhole: Bei Ihnen weiß man nicht, woran man ist. Bei den Grünen weiß man, woran man ist: ({7}) Sie sind, wie bei allen anderen Themen, dagegen. So wie es sich gehört, sind sie auch gegen dieses Gesetz. ({8}) Sie sind zwar schon ein bisschen für E-Government, und ein bisschen modern wären Sie schon gern, aber wenn es dann konkret wird, dann verlässt Sie der Mut. ({9}) - Herzlichen Dank für diesen Zwischenruf, Kollege Winkler. Ich habe Ihren Entschließungsantrag gelesen. ({10}) Gestatten Sie mir, dass ich den zahlreichen interessierten Kollegen nur drei Punkte - bitte kurz zuhören, es lohnt sich! - aus Ihrem Entschließungsantrag dazu vorstelle, was die Grünen gerne hätten. Wenn es bei De-Mail nach den Grünen ginge, dann würde der Staat vorgeben, dass es nur eine Verschlüsselungstechnik gibt, ({11}) nämlich die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, selbst wenn damit für den Bürger ein Mehraufwand verbunden ist und er es daher vielleicht gar nicht anwendet. Wenn es nach den Grünen ginge, dann gäbe es eine staatlich verordnete E-Mail-Adresse, die staatliche Einheitsadresse. Auch das steht in Ihrem Antrag. ({12}) Wenn es nach den Grünen ginge, dann würde nicht nur die staatliche Einheitsadresse vorgegeben, sondern dann würden vom Staat einheitlich auch das Porto und der Preis vorgegeben. ({13}) All das steht in Ihrem Antrag. Das ist nicht modern und nicht innovativ. Das, was Sie da machen, ist Internetsozialismus, nichts anderes! ({14}) - Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so darauf anspringen, dann hätte ich es gleich zu Beginn meiner Rede gesagt; das hätte sich gelohnt. ({15}) Es reicht, zu wissen, welche Punkte in Ihrem Antrag stehen. Ich glaube, wir haben hier einen wichtigen Schritt zum Thema digitale Raumordnung sowie für einen sicheren und komfortablen E-Mail-Versand gemacht. Die Koalition wird das weiterentwickeln. Wir werden Ende des Jahres ein E-Government-Gesetz vorlegen und bei diesem Thema einen Baustein auf den anderen setzen. Ich darf mich zum Schluss ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesministerium des Innern bedanken, die uns über viele Monate hinweg fachlich sehr kompetent unterstützt haben. Herr Staatsse10584 kretär, wenn Sie den Dank bitte an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Abteilung von Herrn Schallbruch weitergeben. Die christlich-liberale Koalition hat heute einen guten Beitrag für ein wichtiges und modernes Thema vorgelegt. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben recht: Grundsätzlich sind die Idee und das Vorhaben De-Mail zu begrüßen. Sie haben es angesprochen: Wir haben uns mit dem Vorschlag eines Bürgerportalgesetzes - damals noch gemeinsam in der Großen Koalition - auf den Weg gemacht. Ziel war: Der Bürger soll schnell, bequem, sicher und rechtssicher online mit der Behörde auch vertrauliche Daten kommunizieren können. Vertrauenswürdige und sichere Kommunikation, die Verbindlichkeit und Rechtssicherheit gewährt, war das Ziel. Das Projekt gelingt nur dann, wenn De-Mail von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen wird, wenn es für den Bürger, für den Verbraucher einen Mehrwert gibt bzw. wenn es einen Vorteil für ihn hat. Zu dieser Idee stehen wir noch immer. ({0}) Ihre Frage, Kollege Binninger, warum wir jetzt nicht zustimmen, haben Sie selbst beantwortet, nämlich weil Schwarz-Gelb es weiterentwickelt hat. Wie so vieles, was Schwarz-Gelb weiterentwickelt hat, hat sich auch dies nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren entwickelt. ({1}) Genau das wurde Ihnen doch von der Mehrheit der Sachverständigen - übrigens auch von den wohlwollenden Sachverständigen, die von CDU und FDP benannt worden sind - in der Anhörung bestätigt. Sie haben dem Gesetzentwurf nach wie vor erhebliche Schwächen und Mängel bescheinigt, die Sie mit den von Ihnen jetzt eingebrachten Änderungsanträgen und mit der kleinen nachgereichten Änderung nicht wirklich beheben. ({2}) Die Mängel, die der Gesetzentwurf nach wie vor vorweist, sind gravierend, und sie gehen überwiegend zulasten des Verbrauchers. ({3}) Es gibt keine erleichterte Portabilität, und bei der einheitlichen Kennung geht es nicht um Sicherheitsfragen. Die Portabilität kennen wir heute bereits von der Mobiltelefonnummer, die man, wenn man den Provider wechselt, mitnehmen kann. Diese Situation ist mit der Situation bei E-Mails nicht vergleichbar. Wie wir wissen, ändert sich, wenn man den Provider wechselt, auch die E-Mail-Adresse. Hier geht es darum, einen rechtsverbindlichen Schriftverkehr zu organisieren, der mit Behörden, Versicherungen oder wichtigen Geschäftspartnern geführt werden soll. Das ist so, als müssten Sie, wenn Sie im normalen Briefverkehr aus Kostengründen zu einem anderen Diensteanbieter wechseln, allen Beteiligten - den Behörden, den Versicherungen usw. - mitteilen, dass Sie jetzt eine neue Adresse haben. Wie das zu mehr Wettbewerb auf dem Markt insbesondere für den kleinen Kunden führen soll, das wissen nur CDU und FDP. Sie haben die Verbraucherinteressen den Marketinginteressen der großen Unternehmen geopfert. Das ist doch der Hintergrund. ({4}) Es fehlt eine verbindlich angebotene sichere Ende-zuEnde-Verschlüsselung, die dem Gesetzeszweck einer vertrauenswürdigen und zuverlässigen Kommunikationsform gerecht wird. Wenn ich eine wirklich sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung will, dann muss ich mich laut Ihrem Entwurf nach wie vor selbst darum kümmern, so wie ich es jetzt auch schon kann und so, wie ich auch jetzt schon eine E-Mail mit einer sicheren Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und einer Signatur ausstatten kann. Es gibt nur einen Unterschied: Dann darf ich dafür bezahlen. Sie verschärfen die Zustellungsfiktion im digitalen Raum faktisch zulasten des Verbrauchers. Die Beweislast für den Empfang bzw. Nichtempfang von Nachrichten wird auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälzt, und dies in einem hochkomplizierten technischen System. Nach den Änderungen im Verwaltungszustellungsgesetz soll der Bürger nicht mehr wie bisher nur glaubhaft machen, sondern einwandfrei beweisen müssen, dass er nicht auf sein Postfach zugreifen konnte oder die Abholbestätigung fälschlicherweise generiert wurde, weil etwa nach dem Einloggvorgang die Verbindung abgebrochen ist und er sich nicht erneut einloggen konnte. Diese Verschärfung führen Sie ohne Not herbei, und zwar nicht mehr in der normalen Welt wie früher bei der Post, sondern in einem hochtechnischen System, bei dem ich es unter Umständen mit mehreren Diensteanbietern zu tun habe. Das ist eindeutig eine Verschiebung zulasten der Nutzer und Verbraucher. ({5}) Bei der Aufhebung der Pseudonymisierung, der Herausgabe von Namen und Anschriften, soll der Provider abwägen, ob das Verlangen rechtsmissbräuchlich ist oder schutzwürdige Interessen des Nutzers überwiegen. In anderen Bereichen stellen wir eine solche Abwägung unter einen Richtervorbehalt. Hier wird die Abwägung einem Provider überlassen, wogegen sich sogar die Provider selbst gewehrt haben. Mit den Identitätsbestätigungsdiensten, die Sie in § 6 Ihres Gesetzentwurfs planen, werden Sie Ihr Sicherheitsversprechen nicht einlösen, weil nicht überprüft werden kann, ob jemand, der seine Identitätsbestätigung durch Anmeldung in einem De-Mail-Dienst bekommen hat, nicht anschließend mit dieser Bestätigung als ein vermeintlich sicheres Unternehmen De-Mails verschickt und etwa für Kaffeefahrten oder Ähnliches wirbt nach dem Motto: Sie haben gewonnen. Wie soll sich der Bürger unter diesen Bedingungen für das De-Mail-Verfahren entscheiden, wenn er dabei schlechter gestellt ist als bei der normalen Briefpost? Der Vertreter des Anwalts- und Notarvereins hat in der Anhörung gesagt: Ich kann keinem meiner Klienten das De-Mail-System empfehlen. Wieso soll sich aufgrund Ihres Gesetzes der Bürger in den De-Mail-Verkehr begeben? Weil es ein Geschäftsmodell ist? Weil es den Behörden und Versicherungen Kosten erspart? Weil sich für die Behörden und Unternehmen im Gegensatz zum Briefverkehr die Beweislast zulasten des Bürgers verschiebt? Weil es zwar etwas sicherer ist als E-Mails, aber nicht wirklich sicher? Oder weil der Bürger im Gegensatz zu einer sicheren Verschlüsselung, die er mit wenig Aufwand und ohne Kosten selbst vornehmen kann, dafür Gebühren zahlen muss? Genau das ist der Mangel an Ihrem Gesetz. Sie haben nicht versucht, dieses Gesetz verbraucherfreundlich auszugestalten, sondern Sie haben versucht, dieses Gesetz behördenfreundlich, unternehmensfreundlich und providerfreundlich auszugestalten. Das wird leider dazu führen, dass die Akzeptanz beim Bürger nicht herbeigeführt werden kann. ({6}) Nebenbei sind Sie noch nicht einmal sicher, ob Ihr Gesetzentwurf überhaupt mit EU-Normen und den neuen Post-DIN-Normen kompatibel ist. Deswegen ist es kein Zufall, dass jetzt auch die Europäische Union an die Bundesregierung Fragen hinsichtlich der europarechtskonformen Ausgestaltung Ihres De-Mail-Gesetzes richtet. Die Antwort liegt auf der Hand: Das Projekt ist gut, aber Sie sind gerade dabei, es in den Sand zu setzen. Deswegen können wir diesem Gesetz nicht zustimmen. Weil viele von diesen Kritikpunkten, die ich eben vorgetragen habe, auch in dem Entschließungsantrag der Grünen enthalten sind, werden wir diesem Entschließungsantrag zustimmen. Nehmen Sie die Kritik an, ziehen Sie das Gesetz zurück, und versuchen Sie, es zu verbessern! Denn im Grundsatz ist De-Mail eine vernünftige Sache, aber nicht in der Form, wie Sie es jetzt hier probieren. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin von der FDP-Fraktion. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem De-Mail-Gesetz schafft die christlich-liberale Koalition die Rahmenbedingungen für eine moderne digitale Kommunikation. Bürgerinnen und Bürger haben jetzt endlich die Möglichkeit, mit Behörden, mit Unternehmen, aber auch untereinander verbindlich Informationen digital auszutauschen. Es gab bisher immer Schwierigkeiten bei der Frage, welche Verbindlichkeit E-Mails in der Kommunikation haben. Es konnte nur schlecht nachgewiesen werden, dass eine E-Mail zugestellt wurde. Herr Reichenbach, nachdem ich Ihre Ausführungen gehört habe, muss ich feststellen, dass Sie offensichtlich bestimmte Eigenschaften von De-Mail immer noch nicht begriffen haben. Es geht nämlich darum, dass bei einer E-Mail nicht nachgewiesen werden kann, ob sie zugestellt wurde, aber bei der De-Mail eben doch. ({0}) Das zweite Problem der E-Mails war und ist immer noch, dass die Nutzer nicht mit Sicherheit wissen, mit wem sie kommunizieren. Genau das ändern wir jetzt mit der Einführung von De-Mail. ({1}) De-Mails sind eben rechtsverbindlich und können vor Gericht dann auch als Beweismittel eingesetzt werden, wenn es um die Frage der Zustellung geht. Die Zustellung wird mithilfe einer Übermittlungsbestätigung erbracht. Das kann nachgewiesen werden. Das ist rechtssicher. Das ist auch ein Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger, wenn sie De-Mails verschicken. De-Mail ist an dieser Stelle einfacher E-Mail überlegen. Diese neue Verbindlichkeit - das ist richtig - stellt auch gesteigerte Anforderungen an die Sicherheit von De-Mail. Die christlich-liberale Koalition hat im Austausch mit zahlreichen Sachverständigen und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hohe Sicherheitsstandards für De-Mail entwickelt. Wir haben auch in der Anhörung mit zahlreichen Experten gesprochen. De-Mails müssen beim Transport auf jeden Fall verschlüsselt sein. Das ist die Mindestanforderung an die Sicherheit, die bei dieser digitalen Korrespondenz geboten ist. Daneben können De-Mails, wenn gewünscht, eben auch mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung versehen werden oder mit einer Unterschrift nach dem Signaturgesetz oder auch mit einer Verschlüsselung nach dem Signaturgesetz. De-Mail und Signaturgesetz stehen eben nicht im Widerspruch zueinander, sie ergänzen sich ge10586 genseitig. Genau das haben wir so in der christlich-liberalen Koalition auch gewollt und ins De-Mail-Gesetz geschrieben. ({2}) Das hat auch einen einfachen Grund; denn eine zentral vorgegebene Ende-zu-Ende-Verschlüsselung würde auch der Verbreitung von De-Mail entgegenstehen. Das haben die Erfahrungen mit dem Signaturgesetz gezeigt. Es gibt schon seit über 15 Jahren die Möglichkeit, Endezu-Ende-Verschlüsselung bei E-Mails anzuwenden. Diese hat sich deshalb nicht durchgesetzt, weil sie für den einzelnen Nutzer schwer umzusetzen ist, weil es für ihn umständlich ist, weil er nicht überall von unterwegs mailen kann. Alle Verfahren, die uns in der Anhörung von den Experten genannt wurden, bieten keine echte Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Wir wollten nicht generell solche Verfahren vorschreiben; denn das würde die Verbreitung von De-Mail verhindern bzw. ihr nicht förderlich sein. Zugleich wollten wir aber den Nutzern, die es möchten, die Möglichkeit zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung geben. Dieses Ziel wollten wir erreichen, und das ist uns auch gelungen. ({3}) Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Koalition hat mit dem De-Mail-Gesetz einen Rahmen geschaffen, in dem im freien Wettbewerb verschiedene Anbieter ein modernes Produkt entwickeln können, das diesen Sicherheitsanforderungen Genüge tut. Die Kollegen von den Grünen dagegen haben einen Entschließungsantrag gestellt, der einmal mehr beweist, dass sie teilweise sehr viel und sehr lautstark fordern können, dass das aber nicht immer mit Sachverstand und Augenmaß zu tun hat. ({4}) - Da kann man auch klatschen, sehr geehrter Herr Kollege. - Die Grünen fordern zum Beispiel ein definiertes Höchstporto für De-Mails. Wir lehnen dies ab. Wir wollen keinen Preis für die De-Mail festsetzen. Wir wollen, dass darüber der Wettbewerb entscheidet. Deswegen müssen wir Wettbewerb schaffen. Wir tun dies mit dem De-Mail-Gesetz, was letztendlich verbraucherfreundlich ist. ({5}) Sie wollen, dass De-Mail nicht verpflichtend für die Bürgerinnen und Bürger ist. Das haben wir aber ins Gesetz geschrieben. Die christlich-liberale Koalition hat jedem Bürger freigestellt, die De-Mail zu nutzen. Er muss sogar erst den Kommunikationsweg öffnen. Noch nicht einmal das Veröffentlichen im Verzeichnis reicht aus. Nein, der Nutzer muss wirklich bewusst sagen, er möchte die De-Mail benutzen. Genauso wollten wir es haben. Auch das ist verbraucherfreundlich. ({6}) Mit Ihrem Wunsch nach Portabilität verhält es sich genauso. Auch das haben Sie, Herr Reichenbach, nicht verstanden. Wenn man keine Domäne einheitlich festlegt und jeder eine Domäne benutzen kann, so wie er es möchte - das haben wir mit den Domänennamen im Internet erreicht -, dann ist es ein portables System. ({7}) Wenn wir alle nur eine Domäne benutzen würden, wie Sie das fordern, dann würde es sich um eine Staats-DeMail handeln, wie es der Kollege Binninger schon richtig gesagt hat. Genau das wollten wir eben nicht. ({8}) Ein solches Monopol bei der digitalen Kommunikation und eine Sammlung von Kommunikationsdaten können wir Liberale jedenfalls nicht unterstützen. Unser Entwurf für die De-Mail bietet jedoch nicht nur Sicherheit und hohe Standards. Er schafft auch neue Möglichkeiten für Verbraucher und Unternehmen. Es zeichnet sich schon jetzt ein intensiver Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern im De-Mail-Bereich ab. Dadurch können sich auch die Sicherheitsstandards weiterentwickeln. Außerdem gibt es einen Wettbewerb um günstige Tarife. Letztlich profitieren davon die Nutzerinnen und Nutzer. Mit dem De-Mail-Gesetz in der jetzt von uns geänderten Fassung haben wir es geschafft, einen vernünftigen und nutzerfreundlichen Rahmen für moderne digitale Kommunikation zu schaffen. Die De-Mail ist sicher, rechtsverbindlich, schnell und preiswert. In diesem Rahmen können die Anbieter nun ihre Dienste anbieten. Genau das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns. Ich bitte alle Fraktionen um die Zustimmung zu diesem Gesetz. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Linken begrüßen es, wenn elektronische Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Verwaltung einer höheren Vertraulichkeit und Authentizität unterliegt. Mit diesem Gesetzentwurf wird dieses Ziel allerdings nicht erreicht. Deshalb wird die Linke diesen Gesetzentwurf ablehnen. ({0}) Sie verkaufen De-Mail als große Vereinfachung für Bürgerinnen und Bürger. Wenn Ihnen aber tatsächlich daran gelegen wäre, neue, gute und sichere Kommunikationswege zu schaffen, hätten Sie nach der Anhörung im Innenausschuss am 7. Februar Anregungen aufgenommen und Änderungen an Ihrem Entwurf vorgenommen, und zwar Änderungen, die in der Anhörung angesprochen worden sind, und nicht die, die Sie tatsächlich vorgenommen haben. Sie fahren aber lieber eingleisig und halten an Ihrem Entwurf fest, der - einmal vorausgesetzt, die Verbraucher machen mit; das sehe ich bei Ihrem angeblich bürgerfreundlichen Gesetz aber noch nicht - eher dem Staat dient und der Wirtschaft ermöglicht, Kosten zu sozialisieren, Profite zu maximieren und Kontrollmechanismen auszubauen. ({1}) Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass Sachverständigenanhörungen zu Alibiveranstaltungen verkommen. Im Rahmen der Anhörung spielte die fehlende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung beispielsweise eine zentrale Rolle. Solange eine solche Ende-zu-Ende-Verschlüsselung fehlt oder nicht verbindlich festgeschrieben ist, können wir diesem Gesetz nicht zustimmen. Da sind wir tatsächlich Fundamentalisten. ({2}) Wir wollen eine durchgehende Inhalteverschlüsselung und nicht lediglich eine Verschlüsselung vom Absender zum Provider und dann vom Provider zum Empfänger. Solange das nicht passiert, sehen wir tatsächlich - da hat Herr Binninger recht - das Post- und Fernmeldegeheimnis als nicht gesichert an. ({3}) Es gibt im Übrigen, wie in der Anhörung vorgetragen, auch keine kollidierenden Verfassungsgüter, die eine Außerkraftsetzung dieser Grundrechte begründen könnten; es sei denn, es gibt einen Generalverdacht. Ohne Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist es so, als würde beispielsweise die Post des Finanzamtes an den Bürger und die Bürgerin und umgekehrt grundsätzlich vorher geöffnet - ich sage: geöffnet, nicht gelesen -, bevor sie an den Empfänger weitergeleitet wird. In der analogen Welt wäre dies unvorstellbar; in der digitalen Welt halten Sie es offensichtlich für vertretbar. Wir tun das aber nicht, und das macht den kleinen, aber feinen Unterschied aus. ({4}) Sie werden hier auch selbst unlogisch; denn der Gesetzentwurf soll angeblich Kosten sparen. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie Kosten sparen wollen, wenn das BSI zusätzliches Personal für jährlich eine halbe Million Euro und der Bundesdatenschutzbeauftragte Personal für eine Viertelmillion Euro einsetzen soll. Oder sehen wir uns die Prognose der Bundesregierung bezüglich der Endpreise für die Verbraucher und Behörden an. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf: Außerdem ist nicht auszuschließen, dass der Preis pro De-Mail-Nachricht unter den heute üblichen Portokosten liegen wird. - „Es ist nicht auszuschließen“: Das ist wirklich überzeugend. Für mich klingt das nicht nach einer sicheren Bank. ({5}) Ein weiterer Grund für unsere fehlende Zustimmung ist das Fehlen einer einheitlichen, verbindlichen und providerunabhängigen Kennzeichnung der De-Mail-Adresse. Nur so kann tatsächlich eine Unterscheidbarkeit zu normalen E-Mail-Adressen erreicht werden. Vor allem ist nur so für den Verbraucher und die Verbraucherin die Sicherheit gegeben, dass sie im Rahmen des Wettbewerbs den Anbieter wechseln können. Und wenn Sie schon nicht auf mich hören wollen, dann hören Sie wenigstens auf den Deutschen Landkreistag, der ausdrücklich kritisiert, dass die Festschreibung einer einheitlichen Kennzeichnung fehlt. ({6}) Herr Binninger, die Mitglieder des Landkreistages sind genauso wenig wie die Grünen Sozialisten. Für demokratischen Sozialismus war, ist und bleibt die Linke zuständig, und das ist auch gut so. ({7}) Mit diesem Gesetz leisten Sie leider einen Beitrag, die vielfältig noch anzutreffende und nicht immer von der Hand zu weisende Kritik in Bezug auf elektronische Verfahren zur Verwaltungsvereinfachung zu bestätigen. Damit erreichen Sie genau das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. Das Gesetz schadet mehr, als es nutzt. Und das machen wir nicht mit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz vom Bündnis 90/ Die Grünen das Wort. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einig sind wir uns darin: De-Mail könnte eine gute und attraktive Anwendung sein. Gut gemacht könnte sie für Rechtssicherheit bei der Onlinekommunikation sorgen. Sehr gut gemacht - das haben Sie, Herr Kollege Binninger, vorhin ja angedeutet - könnte sie sogar den Ausbau von Open-Government-Strukturen stärken. Aber leider erfüllt das Gesetz die Anforderungen an eine erfolgreiche Einführung nicht. Wenn Sie so wollen: Es ist nicht wirklich sicher und auch nicht komfortabel, Herr Kollege Binninger. Deswegen lehnen wir Grünen diesen Gesetzentwurf ab. ({0}) Unsere Befürchtung bleibt: De-Mail wird floppen, denn es handelt sich um einen freiwillig zu nutzenden Service. Und der muss - gerade die FDP ist doch so wettbewerbsorientiert - attraktiv sein. ({1}) In der vorgelegten Form ist De-Mail eben nicht attraktiv, sondern hat vor allem gegenüber dem Hauptkonkurrenzprodukt, nämlich dem traditionellen Brief, massive Nachteile. Davon möchte ich einige aufzählen. Mit der Transportverschlüsselung bringt De-Mail letztlich nichts Neues auf den Markt. Das hat heute praktisch jeder Mailanbieter als Standard im Angebot. Innovativ wäre es gewesen, eine Vorgabe für eine anwendungsfreundliche Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu machen. Das haben Sie aber explizit - gegen das Anraten fast aller unbefangenen Fachleute, die in der Anhörung waren - nicht gewollt. ({2}) Wenn die Bundesnotarkammer erklärt, ein Umstieg auf De-Mail sei für sie der Tausch einer schusssicheren Kevlarweste gegen einen römischen Lederharnisch, dann sind Sie einfach im falschen Film, wenn Sie hier versuchen, die Bundesnotarkammer und den Landkreistag in die Sozialismusecke zu schieben. Die haben handfeste Argumente, und damit müssen Sie sich auseinandersetzen. ({3}) Gerade wenn es darum gehen soll, den analogen Briefverkehr zu digitalisieren - das ist ja das Ziel, wenn ich es richtig verstehe -, ist es doch dringend geboten, die Erfolgsgaranten des traditionellen Kommunikationsverkehrs, nämlich das Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, auch in den digitalen Raum zu übertragen. Wer von Ihnen will eigentlich ein Einschreiben egal welchen Inhalts verschicken oder bekommen, von dem man weiß, dass es an einer Stelle des Transportweges aufgemacht wird? Die fehlende Ende-zu-EndeVerschlüsselung ist eben - wie hier so getan wird - keine Petitesse, sondern sie ist der Kardinalfehler Ihres Gesetzentwurfs. ({4}) Das Gesetz bringt aber auch Nachteile hinsichtlich der Verbraucherfreundlichkeit oder, Herr Kollege Binninger, wenn Sie so wollen, hinsichtlich des Komforts mit sich. Als Verbraucher bin ich doch nicht in der Lage, den Beweis für den Empfang oder Nichtempfang einer E-Mail anzutreten - Sie sollen mir einmal erklären, wie das in der Praxis gehen soll -, aber genau das verlangen Sie in Ihrem Gesetzentwurf. Die harten Rechtsfolgen bei der Nutzung von DeMail werden die Menschen verunsichern; das sage ich Ihnen heute voraus. Einmal eingewilligt, wird es unerbittlich: Spätestens alle drei Tage muss nachgeschaut werden, ({5}) ob beispielsweise ein Gerichtsurteil oder ein Strafmandat zugestellt worden ist. Ich sage es Ihnen: Die Angst vor dem Bagger vor dem Haus nach der versäumten Kenntnisnahme einer Abrissverfügung via De-Mail wird die Menschen verunsichern. Ihr gedanklicher Kardinalfehler bei dem gesamten Gesetzentwurf ist: Sie tun so, als ob der traditionelle Briefkasten und das elektronische Postfach dasselbe wären. Aber die ganzen tradierten Sorgfaltspflichten, die wir bei der traditionellen Briefpost für den Krankheitsfall oder den Urlaub entwickelt haben - die Nachbarin, die den Briefkasten kontrolliert -, können Sie nicht auf das elektronische Postfach übertragen. Schließlich verstößt Ihr Gesetzentwurf - Herr Binninger, jetzt wird es noch einmal ganz interessant - gegen das Gebot der Technik- und Wettbewerbsneutralität. Ihre Vorlage ist eine deutsche Insellösung. ({6}) Dieses wettbewerbsrechtliche Problem hat inzwischen auch die EU-Kommission erkannt. Mich interessieren Ihre Antworten auf die Fragen, die die EU-Kommission schon zu diesem Bereich gestellt hat. Insgesamt ist der Gesetzentwurf einfach zu stark von Unternehmensinteressen geprägt. ({7}) Wir befürchten, dass das Gesetz die Bildung eines Oligopols einiger weniger Anbieter begünstigen würde. Was Oligopole für den Wettbewerb bedeuten, können Sie jeden Tag am deutschen Strommarkt verfolgen. Ich komme zum Schluss. Geben Sie sich einen Ruck, besinnen Sie sich! Wir alle wollen, dass De-Mail gut funktioniert. Dafür muss der Gesetzentwurf aber überarbeitet werden; sonst floppt De-Mail wie die digitale Signatur oder der E-Perso. Sie haben nicht mehr viele Chancen, die Kompetenzen des Bundes in Sachen ITProjekte unter Beweis zu stellen. Es hilft der Sache nicht, das Gesetz jetzt schnell durchzupeitschen, um auf der CeBIT ein für die PR verwertbares Projekt vorweisen zu können. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur Änderung weiterer Vorschriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4893, den Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 17/3630 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms und 17/4145 - in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4894. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Forderungen des Goldstone-Berichts nach unabhängigen Untersuchungen des Gaza-Kriegs unterstützen - Drucksache 17/2418 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Annette Groth von der Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde auf der Tribüne! Letzte Nacht haben israelische Kampfjets und Hubschrauber die schwersten Angriffe auf den Gazastreifen seit dem Krieg 2008/2009 durchgeführt. In den letzten Wochen und Monaten wurde Gaza immer wieder bombardiert. Die meisten dieser Angriffe fanden in der von Israel festgelegten Pufferzone statt, die 17 Prozent der Fläche von Gaza einnimmt. Die meisten Opfer sind Bauern und Kinder. 13 Schulen gibt es in der Pufferzone. Weil es zu gefährlich ist, dürfen Rettungswagen und Mitarbeiter internationaler Organisationen nicht in diese Zone. Aber Schulkinder müssen jeden Tag dahin. Sie leben in ständiger Angst. Viele leiden an Depressionen, Bettnässen und anderen psychischen Krankheiten. In einem Brief vom 4. Februar 2011 fragten 13 israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen die Hochkommissarin für Menschenrechte der UNO: Ist der Goldstone-Bericht tot? Zwei Jahre sind seit der israelischen Offensive „Gegossenes Blei“ auf dem Gazastreifen vergangen und Gerechtigkeit für die Opfer steht immer noch aus. Politische Interessen wiegen offenkundig stärker. Gibt es einen Weg aus der vorherrschenden Kultur der Straflosigkeit? Die Goldstone-Kommission hat Kriegsverbrechen auf israelischer und palästinensischer Seite dokumentiert. Die Zusammenarbeit mit der Goldstone-Kommission wie auch Untersuchungen dieser Verbrechen durch unabhängige Kommissionen lehnt die israelische Regierung bis heute ab. Nach zweimaliger Fristverlängerung für nationale Untersuchungen muss jetzt die internationale Strafgerichtsbarkeit eingeschaltet werden. Bei dem israelischen Überfall auf Gaza wurden 850 palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten getötet, darunter 350 Kinder und 200 Frauen. Über 5 000 Menschen wurden verletzt. Für Hina Jilani, Mitverfasserin des Goldstone-Berichts, waren die Zeugnisse über das bewusste Zielen auf Kinder das Schlimmste, was sie jemals gehört hat. Frau Jilani war UN-Sonderberichterstatterin in Darfur. Die Kommission untersuchte Vorfälle, bei denen Familien mit weißer Flagge ein Haus verließen und die trotzdem gezielt beschossen wurden. Das ist ein gravierender Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und gehört bestraft. ({0}) Yehuda Shaul, Direktor der israelischen Menschenrechtsorganisation „Das Schweigen brechen“ befürchtet, dass zukünftige Kriege wieder mit den gleichen Mitteln oder sogar noch schlimmer geführt werden, wenn die Armee sich keinen unabhängigen Untersuchungen stellen muss und Schuldige nicht bestraft werden. Im 9. Menschenrechtsbericht der Bundesrepublik heißt es: Die Verhinderung der Straflosigkeit für schwere Völkerrechtsverbrechen bleibt ein wichtiges Anliegen. ({1}) Der jüdische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel schreibt in seinem Bestseller-Büchlein „Empört Euch“: Der Gaza-Bericht von Richard Goldstone vom September 2009 sollte Pflichtlektüre sein. Was den Gaza-Streifen betrifft, so ist er für anderthalb Millionen Palästinenser ein Gefängnis unter freiem Himmel. Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich. Seit den Diskussionen um den Goldstone-Bericht stehen Menschenrechtsverteidiger in Israel unter großem Druck. Undemokratische Gesetzesinitiativen boomen. Damit sollen Aussagen vor internationalen Untersuchungskommissionen verboten werden, wenn sie zu einem Strafverfahren gegen israelische Staatsbürger wegen Kriegsverbrechen führen könnten. Die israelische Friedensbewegung „Gush Shalom“ veröffentlichte in der Tageszeitung Haaretz am 18. Februar 2011 folgendes Inserat: Das ägyptische Volk kämpft tapfer für die Menschenrechte. Die israelische Knesset kämpft tapfer darum, die Menschenrechte abzuschaffen. ({2}) Wenn gravierende Verstöße gegen das Völkerrecht nicht angeklagt werden, führt dies zu einer Legitimierung von Kriegsverbrechen und einem allgemeinen Klima der Straflosigkeit. Die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und internationaler Menschenrechtsnormen ist eine wesentliche Voraussetzung für Frieden in der Region. ({3}) Als Mitglied im Weltsicherheitsrat kann die deutsche Regierung den Goldstone-Bericht auf die Tagesordnung setzen. Im Namen vieler Menschenrechtsaktivisten fordere ich Sie auf, dies zu tun und dafür zu sorgen, dass Schuldige bestraft werden. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Da alle übrigen Redner ihre Reden zu Protokoll1) geben, schließe ich jetzt die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/2418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes - Drucksache 17/4805 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen laut Tagesordnung zu Protokoll genommen werden.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten heute den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsge- setzes. Es ist ein kleiner, ein kurzer Gesetzentwurf; denn er beinhaltet lediglich die Aufhebung eines einzelnen Absatzes, nämlich des § 1 Abs. 2 des Steinkohlenfinan- zierungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Dezember 2007. Ein kurzes Gesetz, aber sehr bedeutend für den Steinkohlenbergbau in Deutschland und insbesondere für die Revierländer Nordrhein-West- falen und Saarland. Denn mit diesem Gesetz beschreiten wir den Weg des endgültigen sozialverträglichen Aus- stiegs aus der subventionierten Steinkohlenförderung in Deutschland. 1) Anlage 15 Was ist der Hintergrund? Das Gesetz, das wir heute ändern, nämlich das Steinkohlefinanzierungsgesetz aus dem Jahr 2007, stellt eine Landmarke in der Geschichte der deutschen Steinkohlenförderung dar. Europaweit einzigartig ist der Vorgang, dass im Wege eines Kompromisses ein wirtschaftliches und sozialverträgliches Gesamtkonzept zum Auslaufen des subventionierten Bergbaus in einem Staat der Europäischen Union vorgelegt wird. Es war ein gut austariertes Konzept, das das Jahr 2018 als anvisierten Endpunkt der heimischen Kohlenförderung vorsah. Im Zuge einer Revisionsklausel sollte 2012 noch einmal darüber beraten werden, ob der Zeitpunkt 2018 endgültig ist oder ob es die Möglichkeit eines Sockelbergbaus in Deutschland geben wird. Es war ein gutes Konzept; denn es war wirtschaftlich, sozialverträglich und mit dem Enddatum 2018 vor allem verlässlich. Wieso also beschäftigen wir uns überhaupt heute mit einer Änderung? Kurz gesagt: um Schlimmeres abzuwenden. Schlimmeres drohte in dem Fall von der EU; denn Beihilfegenehmigungen und auch die entsprechende Kontrolle obliegen der EU. Rechtsgrundlage für die Gewährung von Kohlenbeihilfe war bisher die Verordnung ({0}) NR. 1407/2002 des Rates. Diese läuft zum Ende des Jahres aus. Im Juli vergangenen Jahres wurde nun von der Kommission ein Vorschlag für eine „Verordnung des Rates über staatliche Beihilfen zur Erleichterung der Stilllegung nicht wettbewerbsfähiger Steinkohlenbergwerke“ vorgelegt. Die darin enthaltenen Bestimmungen hätten für Deutschland das Ende des subventionierten Bergbaus schon im Jahre 2014 bedeutet. Wäre die Verordnung entsprechend diesem Vorschlag in Kraft getreten, hätte dies massive Auswirkungen auf Deutschland gehabt: Der Kohlenkompromiss hätte nicht eingehalten werden können. Damit wäre - dieser Punkt wird in der Öffentlichkeit kaum genannt - der im Kohlenkompromiss vereinbarte Zeitraum zum Aufbau eines Kapitalstocks der RAG-Stiftung zur Übernahme der Ewigkeitslasten massiv verkürzt worden. Dies hätte Auswirkungen auf die Übernahme der Ewigkeitskosten gehabt, die in einem Bergwerk, wie der Name schon sagt, auch noch Jahrzehnte nach der Schließung anfallen, etwa zur Wassererhaltung und zur Versorgung der Flächen. Der Beschluss hätte auch der Zulieferindustrie die benötigte Zeit genommen, sich im Ausland neue Märkte für die hochtechnisierten Produkte zu suchen. Schließlich haben Experten für Ende 2014 technische und praktische Probleme in den betroffenen Bergwerken vorhergesagt. Die schlimmste Folge aber wären die Auswirkungen auf die Beschäftigten gewesen: Mit einem Ausstieg 2014 wäre ein sozialverträglicher Personalabbau kaum möglich gewesen. Dies hätte als unmittelbare Folge betriebsbedingte Kündigungen nach sich gezogen. Viele der jetzt noch 25 000 Kumpels stünden vor der Arbeitslosigkeit mit entsprechenden Auswirkungen auf die Familien - und auch auf die Allgemeinheit, die ja die Kosten der Arbeitslosigkeit zahlen muss. Nadine Schön ({1}) Als saarländische Abgeordnete kann ich sagen, dass der Vorschlag der Kommission die saarländischen Bergleute tief erschüttert hat. In den vergangenen Jahren gab es mehrfach Phasen, in denen sie und ihre Familien massiven Existenzängsten ausgesetzt waren. Gleich drei Mal in wenigen Jahren mussten sie um ihre Existenz fürchten: Zum einen waren die Verhandlungen zum Kohlenkompromiss 2007 eine harte Zeit voller Unsicherheit für die Bergleute. Doch hier konnte - wie bereits erwähnt eine für alle tragfähige Lösung erzielt werden. Einschneidend war dann ein Ereignis von genau gestern vor drei Jahren, am 23. Februar 2008. Nach schlimmen, bergbaubedingten Erderschütterungen in Saarwellingen beschloss das Unternehmen den sofortigen Abbaustopp in der Primsmulde, unserem größten und profitabelsten Abbaugebiet. Mehrere Tausend Bergleute wurden freigestellt. Viele fürchteten um ihre Existenz. Dank einer unglaublich effektiven Gemeinschaftsaktion unter Führung der saarländischen Landesregierung ist es gelungen, allen davon betroffenen Bergleuten eine Perspektive zu geben. Als Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft und Grubensicherheit habe ich diesen Prozess mitbegleitet und weiß um die Bedeutung eines solchen Transformationsprozesses für alle Beteiligten. Elementarer Bestandteil dieses Prozesses ist die Möglichkeit für 1700 Bergleute, für einige Jahre in Ibbenbühren in NRW zu arbeiten. Auch wenn es für die betroffenen Familien hart ist, 500 km von zu Hause arbeiten zu müssen, so ist dennoch die Verlässlichkeit ein hohes Gut. Und so können Sie sich vorstellen, dass es ein Schock für die Bergleute war, als die Kommission Mitte letzten Jahres den Zeitpunkt 2018 wieder infrage gestellt hat und damit zum dritten Mal in kurzer Zeit ihr Arbeitsplatz in Gefahr war. Das Jahr 2018 ist somit ein maßgeblicher Zeitpunkt für Bergleute in beiden Revierländern. Ein frühzeitiges Auslaufen im Jahr 2014 wäre fatal gewesen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich deshalb mit großem Einsatz für eine Modifikation des Kommissionsvorschlags eingesetzt. Ihrem Verhandlungsgeschick und Einfluss auf europäischer Ebene ist es zu verdanken, dass der Bergbau in Deutschland wie vereinbart noch bis 2018 weitergeführt werden kann. Der Kompromissvorschlag sieht vor, dass Beihilfen für die Bergwerke nur weitergewährt werden dürfen, wenn für jedes Bergwerk ein definitiver, irreversibler Stilllegungszeitpunkt und ein entsprechender Stilllegungsplan festgelegt wird. Dieser Kompromiss ermöglicht also ein Festhalten am Jahr 2018 als Ausstiegsdatum, er lässt aber keinen Raum für einen subventionierten Sockelbergbau nach 2018 und macht somit die Revisionsklausel obsolet. Indem wir heute den § 1 Abs. 2, nämlich die Revisionsklausel, aus dem Gesetz streichen, kommen wir der Forderung der EU nach einem ernsthaften und endgültigen Ausstiegsszenario nach. Jeder, der meint, ein subventionierter Sockelbergbau hätte auch nur den Hauch einer Chance auf Genehmigung der EU, der irrt. Darum ist es besser, heute ein klares Ausstiegsszenario vorzulegen, auf das sich alle einstellen können, als wohl wissend, dass das Unterfangen keine Chance hat, auf eine Fortsetzung über 2018 hinaus zu hoffen. Ein Festhalten an der Revisionsklausel hätte das Ende des Bergbaus schon in den nächsten Jahren bedeutet. Deshalb sollten wir heute gemeinsam den Verzicht auf die Revisionsklausel beschließen und unseren vereinbarten Weg des Ausstiegs bis 2018 gemeinsam beschreiten. Diese Lösung gibt den Bergleuten in den Revierländern, vor allem in NRW, die Möglichkeit, sich in den nächsten sieben Jahren umzuorientieren. Im Saarland haben wir gesehen, dass es durchaus möglich ist, für gut ausgebildete Bergleute Ersatzarbeitsplätze zu finden. Das Auslaufen bis 2018 gibt allen die Möglichkeit, diesen Prozess sukzessive zu gestalten. Die Sozialverträglichkeit ist damit sichergestellt. Diese Lösung ist auch dem Steuerzahler zumutbar. Die Steinkohlensubventionen von etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr machen nach wie vor einen großen Teil des Bundeshaushalts aus. Es ist nicht abzusehen, dass sich an der Notwendigkeit zur Subventionierung etwas ändern wird; denn wir bauen weiterhin deutlich über dem Weltmarktpreis ab. Steinkohle für unsere Wirtschaft kann zu wesentlich günstigeren Preisen aus sicheren Abbaugebieten im Ausland mit geologisch günstigeren Abbaubedingungen importiert werden. Daher ist eine dauerhafte Subventionierung nicht nur EU-rechtlich unmöglich, sondern auch wirtschaftspolitisch nur schwer zu begründen. Er sieht also ein Ende der Subventionen vor, ohne gleichzeitig hohe Kosten zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit zu generieren. Der Kompromiss gibt außerdem der Zulieferindustrie die Möglichkeit, neue Märkte im Ausland zu erschließen. Ein wichtiger Punk; denn deutsche Zulieferer stehen weltweit für Qualität und Innovation, und diese Innovationen und damit die Arbeitsplätze sollten wir weiter in Deutschland zu halten versuchen, auch wenn wir keinen eigenen Absatzmarkt dafür haben. An der saarländischen Zulieferindustrie können sie sehen, dass diese Umorientierung auf neue Märkte machbar ist. Der sozialverträgliche Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau kann nicht von heute auf morgen geschehen. Er braucht Zeit und einen klaren Ausstiegsplan. Im Einvernehmen mit der EU wollen wir diesen Weg bis 2018 gehen. Gehen wir ihn gemeinsam, schaffen wir heute die rechtlichen Voraussetzungen, damit kein Bergmann ins Bergfreie fallen wird.

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Basierend auf der nun vorliegenden Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes wird der subventionierte deutsche Steinkohlenbergbau ab dem Jahr 2018 beendet werden. Damit verschwindet die Kohle aber nicht aus Deutschland. Mittelfristig ist die Abkehr vom Rohstoff Kohle falsch und nicht machbar. Auch wenn das Ziel, die Energieversorgung unseres Landes bis zum Jahr 2050 vollkommen auf erneuerbare Energien umzustellen, nicht aus den Augen verloren werden darf, ist unbestritten, dass Steinkohle bis dahin eine wichtige Rolle spielen wird. Besonders vor dem Zu Protokoll gegebene Reden Hintergrund der aktuellen Preisentwicklung und der Verfügbarkeit auf dem Weltmarkt wird der Rohstoff Kohle ein wesentlicher Faktor des Energie- und Chemiestandortes Deutschland bleiben. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass insbesondere die für die Stahlproduktion so wichtige Kokskohle nicht mehr gebraucht wird. Jede Tonne heimische Kohle wird durch Exportkohle ersetzt. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass das heutige Preisniveau bei steigender Weltmarktnachfrage so bleibt. Die Preise werden in die Höhe schnellen. Dazu reicht ein Blick auf die Ölpreisentwicklung. Deshalb ist es aus meiner Sicht unverantwortlich, den Zugang zu heimischen Lagerstätten aufzugeben. Hinzu kommt, dass große Teile der Exportkohle unter fragwürdigen Bedingungen gefördert werden. Im Übrigen steckt im Rohstoff Kohle mehr als die Energie zur Stromerzeugung. Kohle ist ein wichtiger Rohstoff für die chemische Industrie. Sie wird unter anderem bei der Herstellung von Kunststoffen oder Medikamenten gebraucht. Darauf können wir nicht verzichten. Deshalb macht auch die sogenannte Revisionsklausel weiterhin Sinn. Sie ermöglicht eine sachliche Prüfung der dann bestehenden Weltmarktbedingungen. In den Bergwerken steckt Zukunft: So suchen die RAG und auch der Evonik-Konzern derzeit nach Lösungen zur Nutzung erneuerbarer Energien. Tiefengeothermie, Schachtturbinen oder Methangasnutzung sind nur einige wenige Beispiele. In der Stadt Bottrop bietet sich die Zusammenarbeit mit der dortigen Fachhochschule geradezu an. Forschung, Wissenschaft und Technologie sind eng mit dem Bergbau verbunden. Der deutsche Bergbau bietet eine praxisnahe Ausbildung und gute Forschungsbedingungen. Noch sind rund 29 000 Arbeitsplätze im deutschen Steinkohlenbergbau vorhanden. Diese sollten nicht ohne Not aufgegeben werden. Neben diesen Arbeitsplätzen sind auch weitere in der Zulieferbranche und im Umfeld der Bergwerksstandorte gefährdet. Bergbautechnologie „Made in Germany“ - hinter diesem Titel verbirgt sich immer noch eine weltweit führende Spitzentechnologie. Diese Chancen dürfen nicht ungenutzt bleiben. Der Zugang zu deutschen Lagerstätten und eine ({0}) Unabhängigkeit hinsichtlich der Verfügbarkeit von Rohstoffen müssen erhalten bleiben. Deshalb bedarf es der weiteren Unterstützung des deutschen Steinkohlenbergbaus. Die Möglichkeit eines nicht subventionierten Steinkohlenbergbaus in Deutschland muss erhalten bleiben. Dafür müssen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der 2007 mühsam errungene Steinkohlenkompromiss war ein ausgewogenes Gesamtpaket für sozialverträgliche Lösungen und die Sicherstellung der Finanzierung der anfallenden Ewigkeitskosten durch die RAG-Stiftung. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, dass ein Gesetz, auf das sich eine ganze Region verlassen hat, durch verschleppte Verhandlungsführung und Uneinigkeit zwischen den Regierungsparteien von CDU/CSU und FDP gefährdet wurde. Die Revisionsklausel wurde geopfert und damit eine objektive Bewertung über die Zukunft des Bergbaus in Deutschland aufgegeben. Es steht fest, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene schlecht verhandelt hat. Zwar konnte damit der Kernbestandteil des Steinkohlefinanzierungsgesetzes ({0}) gehalten werden. Jedoch wird uns dies in Zukunft schwer zu schaffen machen. Für den deutschen Steinkohlenbergbau bedeutet es, dass Beihilfen an die verbliebenen Bergwerke ab 1. Januar 2011 nur dann weitergewährt werden, wenn für jedes Bergwerk ein definitiver, irreversibler Stilllegungszeitpunkt in einem Stilllegungsplan festgelegt ist. Das von der EU und Brüderle noch ins Spiel gebrachte Auslaufen des Bergbaus 2014 widersprach selbst kommissionseigenen Abschätzungen hinsichtlich der sozialen und regionalen Folgen. Laut einer Prognos-Studie ergäbe ein früherer Ausstieg keinerlei Einsparung für öffentliche Haushalte, sondern eine Mehrbelastung durch Folgekosten der Arbeitslosigkeit von 2,5 Milliarden Euro für den deutschen Steuerzahler. Ebenso wäre kein ökologischer Vorteil feststellbar, da heimische Steinkohle durch Importkohle ersetzt würde. Noch bietet die Zeche in Marl 4 000 Menschen Arbeit und 400 jungen Leuten qualifizierte Ausbildung. Dazu kommen zahlreiche Beschäftigte in abhängigen Unternehmen und Dienstleistungsbetrieben. Kohleförderung brachte bisher Umsätze und sicherte Aufträge an Dritte. Heute sind weitere Arbeitsplatzverluste durch fehlende Kaufkraft und Investitionen absehbar. Bisher war deutsche Bergbautechnologie weltweit führend, gefragt und ein Exportschlager. Nun werden wir mit Technologie- und Innovationsabwanderung zu kämpfen haben. Hightechunternehmen lassen sich nicht an jedem beliebigen Ort ansiedeln. Materielle Standortfaktoren, qualifizierte Arbeitskräfte, anwendungsorientierte Forschung und günstige sozioökonomische und kulturelle Faktoren sind entscheidend. Der erforderliche Strukturwandel in der Kohleregion hängt von materiellen Faktoren wie Strukturhilfen und insbesondere auch von den jeweils prägenden gesellschaftlichen Strukturen, der Partizipation der Betroffenen und den Mitbestimmungsmöglichkeiten ab. Ich erwarte jetzt konkrete Aussagen zu Strukturhilfen für die Bergbauregionen von der Bundesregierung. Nicht zuletzt hat die Bundesregierung die Tür für einen beihilfefreien Steinkohlenbergbau zugeschlagen. Sollten Zechen nach 2018 subventionsfrei weiterbetrieben werden können, was bei der derzeitigen Preisentwicklung nicht unwahrscheinlich erscheint, müssen die Subventionen zurückgezahlt werden. In einer marktwirtschaftlich orientierten Europäischen Union wäre zu erwarten gewesen, unternehmerische Entscheidungen zu fördern, einen subventionsfreien und gewinnorientierten Bergbau weiterzuführen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Preisentwicklung für Kohle und Koks auf dem Weltmarkt und dem enorm ansteigenden Energiebedarf wäre das eine Chance, die man sich für die Zukunft nicht verbauen dürfte. Zu Protokoll gegebene Reden

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Seit mehr als zwei Jahrzehnten tritt die FDP im Deutschen Bundestag für ein Auslaufen der Subventionierung des deutschen Steinkohlenbergbaus ein. Nach erfolgreichen Verhandlungen zwischen dem Bund, den Ländern Nordrhein-Westfalen und Saarland sowie der RAG AG und der IG BCE wurde im Jahr 2007 eine tragfähige und ausgewogene Einigung erzielt, die diesem Ziel Rechnung trägt. Mit Ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Gewährung staatlicher Beihilfen zur Erleichterung der Stilllegung nicht wettbewerbsfähiger Steinkohlenbergwerke vom 20. Juli 2010 hat die Europäische Kommission diesen vereinbarten Kompromiss weitgehend bestätigt. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Verhandlungsführung der Bunderegierung auf europäischer Ebene loben. Durch ihren konsequenten Einsatz für den bereits gefundenen Konsens haben die geschlossenen Verträge auch weiterhin Bestand, und es bleibt bei einem sozialverträglichen Übergang in die Zeit nach Ende der Steinkohlenförderung. Unverkennbar stellt dies die politische Verlässlichkeit dieser Bundesregierung unter Beweis. Auch in meinem Wahlkreis, nämlich in der Stadt Ibbenbüren, wird Steinkohle abgebaut. Die Bürgerinnen und Bürger in dieser Region bereiten sich seit 2007 auf den Strukturwandel vor. Der notwendige Veränderungsprozess wird dort aktiv gestaltet, zielgerichtet gefördert. Der Übergang in neue Beschäftigungsfelder gelingt so schrittweise und für den Einzelnen verträglich. Eine Abkehr von den bisherigen Planungen hätte diesen Prozess empfindlich gestört, erhebliche Verunsicherung hervorgerufen und zu einem finanziellen Desaster der RAG Stiftung geführt. Deshalb war es richtig und wichtig, am Zukunftsfahrplan 2018 festzuhalten. Mit dem uns nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes endet auch ein langjähriges Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte. Der subventionierte Abbau von Steinkohle wird, wie im Kohlekompromiss 2007 vereinbart, im Jahr 2018 verbindlich auslaufen. Seit dem Beginn der Subventionierung werden bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 140 Milliarden Euro unwiederbringlich in dunklen Zechen vergraben worden sein, zulasten unserer Bürgerinnen und Bürger, die sprichwörtlich die Zeche dafür zahlen mussten. Die klare Absage an diese Politik eröffnet in den nachfolgenden Jahren neue Spielräume für die Bewältigung essenzieller und drängender Zukunftsfragen, beispielsweise für Investitionen in Bildung und Forschung oder die notwendige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Eines möchte ich an dieser Stelle kritisch ansprechen. Auch wenn uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein großer Schritt in Richtung Subventionsabbau gelungen ist, das süße Gift der Subvention ist deshalb noch lange nicht sicher verwahrt. Allein die Beihilfen im Bereich der erneuerbaren Energien nähern sich bereits heute dem Zweifachen derer, die in der Spitze für die Förderung der Steinkohle aufgebracht werden mussten.

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Heute beraten wir wieder einmal über ein Versagen der Großen Koalition. Nach zähem Hin und Her kam es 2006 zum sogenannten Kohlekompromiss zwischen allen Beteiligten mit folgenden Eckpunkten: Auslaufen der Steinkohlensubventionierung bis 2018, Gründung der RAG-Stiftung und Überprüfung der Vereinbarungen im Jahr 2012. Doch während sich insbesondere die SPD im Inland von den Kohlekumpel als Retterin ihrer Arbeitsplätze feiern ließ, hat sie es in der Regierung versäumt, das Steinkohlefinanzierungsgesetz auch auf europäischer Ebene bestandsfest zu machen. Zehntausende Bergleute in NRW und im Saarland hatten sich auf das Gesetz verlassen. Im Herbst letzten Jahres mussten sie miterleben, wie wenig Vertragstreue und Verlässlichkeit in der Demokratie wert sind. Nicht nur, dass die EU-Kommission versuchte, die Regelungen zu kippen; auch der deutsche EU-Kommissar Oettinger und Wirtschaftsminister Brüderle taten alles, das Gesetz über die EU-Ebene zu Fall zu bringen. Minister Brüderle hat dabei zum wiederholten Male seine Ignoranz gegenüber dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der Bedeutung von Industriearbeitsplätzen bewiesen. Nur den Protesten der Bergleute im letzten Herbst ist es zu verdanken, dass die Steinkohlensubventionierung nun doch bis 2018 sozialverträglich beendet werden kann, allerdings mit dem Wermutstropfen, dass im Gegenzug mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Revisionsklausel aus dem Steinkohlefinanzierungsgesetz gestrichen werden soll. Wir halten diese Streichung für falsch. Es darf auf keinen Fall passieren, dass man damit gleichzeitig den Erhalt des technologischen Know-hows in Deutschland zu den Akten legt. Ob man das nun „Sockelbergbau“ oder „Referenzbergwerk“ nennt, ist einerlei. Wichtig ist doch nur eines: Die Technologiesparte der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr als 15 000 Menschen in NRW. Nur mit dem Erhalt eines Sockel- oder Referenzbergwerks können ein moderner Maschinen- und Anlagenbau und hochqualifizierte Stellen erhalten werden. An die Adresse der Grünen sei gesagt: Eine Beendigung der heimischen Steinkohlenförderung hat nichts mit einem Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleverstromung zu tun. Natürlich ist die Verstromung von Kohle eine der Hauptursachen für Treibhausgasemissionen bei der Energieerzeugung. Wir teilen auch das Nein zum Bau neuer Kohlekraftwerke in NRW. Kohle- und Atomkraftwerke blockieren den auch in NRW dringend benötigten Umstieg auf erneuerbare Energien. Aber mit der Beendigung der heimischen Steinkohlenförderung wird nicht ein Kohlekraftwerk abgeschaltet, sondern nur die heimische Kohle durch Importkohle ersetzt. Die Entscheidung an diesem Punkt heißt nicht „Kohle, ja oder nein?“, sondern „Aktive Industriepolitik oder Wirtschaftsliberalismus?“. Wir treten ein für eine aktive Industriepolitik, für den Erhalt von Industriearbeitsplätzen durch einen sozial-ökologischen Umbau und nicht für eine Verbesserung der CO2-Bilanz durch die Vernichtung von qualifizierten Arbeitsplätzen in der Industrie. Zu Protokoll gegebene Reden

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir beraten heute über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Streichen der Revisionsklausel im Steinkohlefinanzierungsgesetz. Im Jahr 2007 hatten sich die damalige Große Koalition im Bund, die Länder, RAG und IG BCE auf eine Beendigung des subventionierten Steinkohlenbergbaus bis zum Jahr 2018 geeinigt, mit der Vorgabe, durch eine Revisionsklausel im Jahr 2012 dies noch einmal zu überprüfen. Doch die damalige Große Koalition im Bund und auch die damalige schwarzgelbe Landesregierung in NRW hatten es dabei versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 auch europarechtlich abzusichern - obwohl es vonseiten der EU-Kommission eine Zustimmung für ein Fortführen der Subventionen nur bis 2011 gab. Die Haltung - die EU wird schon tun, was Deutschland sagt - hatte sich spätestens im Juli 2010 gerächt. Denn die EU-Kommission machte einen Vorschlag für eine Verordnung des Rates, die Steinkohlenbeihilfen bereits im Oktober 2014 einzustellen. Dieses Enddatum 2014 sorgte auch in der Bundesregierung - wie es bei Schwarz-Gelb nicht ungewöhnlich ist - für Streit. War Bundeswirtschaftsminister Brüderle anfangs vehement für ein Auslaufen der Steinkohlenbeihilfen bis 2014, betonte Bundeskanzlerin Merkel in ihrer letzten Pressekonferenz vor der Sommerpause, dass sie sich persönlich für die Beibehaltung des Ausstiegsdatums 2018 in Brüssel einsetzen werde. Erst später wurde Wirtschaftsminister Brüderle einkassiert und sprach sich auf einmal ebenfalls für das Auslaufen 2018 aus. Dies passt in das Bild der FDP. Zuerst populistische Forderungen erheben, wenn es aber konkret wird, knickt sie ein. Das Zugeständnis der Bundesrepublik, das die Bundesregierung in Brüssel dann letztlich machen musste, war, die Revisionsklausel zu streichen. Im deutschen Steinkohlefinanzierungsgesetz heißt es dazu in § 1 Abs. 2, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 einen Bericht zuleitet, auf dessen Grundlage der Deutsche Bundestag unter Beachtung der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, der Sicherung der Energieversorgung und der übrigen energiepolitischen Ziele prüft, ob der Steinkohlenbergbau weiter gefördert wird. Die EU-Kommission und die Regierungen verschiedener Mitgliedstaaten werten den aktuellen Absatz im Gesetz zu Recht als Versuch Deutschlands, ein endgültiges Ende des subventionierten Steinkohlenbergbaus erneut hinausschieben zu wollen. Wir begrüßen die Entscheidung der Bundesregierung, nun endlich einen Gesetzentwurf zur Streichung der Revisionsklausel einzubringen. Nur hätte sie dies viel früher tun können und hätte damit die Verunsicherung Zehntausender Bergbaukumpel verhindert. Die schwarz-gelbe Koalition kommt mit ihrem Gesetzentwurf unseren Anträgen „Steinkohlesubventionen jetzt überprüfen“ und „Subventionierten Steinkohlenbergbau sozialverträglich beenden“ endlich nach. Diese Anträge hatten wir bereits im Juni und Oktober 2010 in den Deutschen Bundestag eingebracht. Leider hatte die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt noch immer die herablassende Haltung, dass die EU das zu akzeptieren habe, was Deutschland beschließt. Dass dies nicht funktioniert hat, merken Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, anscheinend erst jetzt. Ansonsten hätten Sie einen solchen Gesetzentwurf zur Streichung der Revisionsklausel hier nicht jetzt vorgelegt, sondern bereits im vergangenen Jahr unseren Anträgen zugestimmt. Denn mit dem Streichen der Revisionsklausel kann Deutschland den berechtigten Sorgen seiner europäischen Partner durch konkrete politische Initiativen verdeutlichen, dass Deutschland 2018 endgültig seine Beihilfen für den Steinkohlenbergbau beenden wird. Damit wird zudem dokumentiert, dass absurde Forderungen von SPD und Linken nach einem steuerfinanzierten, dauerhaften nationalen Steinkohlensockel oder Ähnlichem über keine politische Mehrheit verfügen. Aber die Streichung der Revisionsklausel hätte bereits viel früher geschehen müssen. Mehr noch: Die Klausel war von Anfang überflüssig. Diese Regelung war und ist bis heute die Ursache dafür, dass alle Beteiligten sich nicht langfristig auf ein definitives Ende des Bergbaus einstellen können oder wollen. Denn es war bereits 2007 bei der Verabschiedung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes und ist auch heute in keiner Weise absehbar, dass die Steinkohlenförderung in Deutschland auch nur in die Nähe der Wirtschaftlichkeit kommen wird. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Situation des Bundeshaushaltes ist es geboten, die im Steinkohlenfinanzierungsgesetz verankerte Revisionsklausel schnellstmöglich zu streichen und so Planungssicherheit für alle zu schaffen. Es muss Schluss sein, Milliarden in schwarzen Löchern zu versenken, die dann bei der Bewältigung des Strukturwandels fehlen. Dabei steht die Sozialverträglichkeit der Beendigung des Steinkohlenbergbaus nicht infrage. Bis allerspätestens 2018 ist nun Zeit, alles sauber zu beenden und, wo immer möglich, in der Zeit das Entstehen neuer Ewigkeitslasten zu vermeiden. Eine lange Bergbaugeschichte an Saar und Ruhr hat beträchtliche Altlasten und Ewigkeitskosten hinterlassen. So müssen zum Beispiel Tausende einsturzgefährdete Schächte saniert und durch den Bergbau abgesenkte und dichtbesiedelte Flächen auf Hunderten Quadratkilometern dauerhaft entwässert und vor Überflutungen geschützt werden. Ob die Einnahmen der RAG-Stiftung aus dem Verkauf der Evonik für solche Ewigkeitskosten ausreichen, ist zumindest fraglich. Da werden wir noch sehr genau hinschauen müssen, damit nicht am Ende die öffentliche Hand für die Bergbauschäden geradesteht. Von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen erwarten wir daher, dass sie die deutsche Rechtslage schnell in Übereinstimmung mit den Rechtsgrundlagen der Europäischen Union bringt. Das heißt: Streichung der Revisionsklausel und ein endgültiger Schluss bis spätestens 2018. Vielleicht geht es am Ende ja sogar noch schneller und günstiger für den Bundeshaushalt. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion des vorliegenden Gesetzentwurfes in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages mit Ihnen. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4805 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Volker Beck ({0}), Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wach- und Sicherheitspersonal beim Bundestag beschäftigen - Drucksache 17/4741 Überweisungsvorschlag: Ältestenrat ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass es spät ist. Aber dennoch möchte ich diese Rede nicht zu Protokoll geben, weil mir das Thema sehr wichtig ist. Ich bedanke mich bei der SPD dafür, dass sie als einzige andere Fraktion nachher noch das Wort ergreifen wird. Die Redner aller übrigen Fraktionen haben ihre Reden schon zu Protokoll gegeben. Es ist allseits bekannt, dass die Bundestagsverwaltung etliche Dienstleistungen an Dritte vergeben hat und dies nicht nur Vorteile hat, sondern auch Probleme mit sich bringt. Ausdrücklich hervorheben möchte ich, dass die Bundestagsverwaltung vieles versucht hat, damit die externen Anbieter soziale und tarifliche Standards einhalten. So wird beispielsweise verlangt, dass bestehende Tarifverträge eingehalten werden. Das ist gut so, und ich möchte dies noch einmal ausdrücklich anerkennen. Wenn aber Sicherheitskräfte hier im Bundestag, die nicht aufstockendes Arbeitslosengeld II beantragen wollen, 220 Stunden im Monat arbeiten müssen, um gerade einmal 1 000 Euro netto zu verdienen, dann ist das meiner Meinung nach ein unhaltbarer Zustand. ({0}) Die Abgeordneten werden hier im Bundestag auf Händen getragen. Es wird alles für unsere Sicherheit getan, und wir werden immer freundlich und respektvoll behandelt. Der Alltag im Deutschen Bundestag entspricht der Würde des Hauses, und das schätze ich sehr. Umso mehr geht es mir unter die Haut, dass manche, die all das ermöglichen, so wenig verdienen, dass sie an der Armutsgrenze leben müssen. Das entspricht nicht der Würde des Hauses. ({1}) Schlimm finde ich es auch, wenn solche Fakten an die Öffentlichkeit kommen und das Ansehen des Deutschen Bundestags darunter leidet. Der Bundestag hat auch eine Vorbildfunktion als Arbeitgeber, und die sollten wir alle ernst nehmen. Aus diesem Grunde bringe ich heute unseren Antrag ein. Wir wollen, dass in einem ersten Schritt die Wach- und Sicherheitskräfte wieder direkt angestellt und nach TVöD bezahlt werden. Die Sicherheitskräfte sollen Löhne erhalten, von denen sie und ihre Familien auch leben können. Aber es geht auch darum, dass wir ihnen soziale Sicherheit geben, indem sie unbefristete Beschäftigungsverhältnisse erhalten. Jetzt müssen sich die Sicherheitskräfte schon wieder Sorgen machen, ob sie im Juni, nach der neuen Ausschreibung, noch einen Job haben oder ob sie arbeitslos werden. Gerade Ältere wissen ganz genau: Gewinnt eine andere Firma die Ausschreibung, droht Arbeitslosigkeit bis zur Rente. Ich hoffe sehr, dass der Antrag nicht nur von der Opposition, sondern auch von den Regierungsfraktionen unterstützt wird. Bei solch einem Thema könnten meiner Meinung nach alle Abgeordneten durchaus an einem Strang ziehen, und wir könnten den Sicherheitskräften gemeinsam unsere Wertschätzung deutlich machen. ({2}) Das Problem ist nur, dass die Ausschreibung zur Vergabe der Wach- und Sicherheitsdienstleistungen bereits läuft. Deswegen bitte ich alle Gremien, die sich mit diesem Antrag befassen müssen, zügig zu handeln, bevor es zu spät ist. Natürlich gibt es auch noch andere Beschäftigtengruppen, die auch nicht direkt beim Bundestag beschäftigt sind. Diese Beschäftigten haben wir auch im Blick. Deshalb soll die Bundestagsverwaltung noch einmal intensiv prüfen, welche ausgegliederten Dienstleistungserbringer wieder direkt beim Bundestag angestellt werden können. Dabei müssen natürlich die Belange der Beschäftigten in Bezug auf Arbeitsentgelt und Arbeitsbedingungen sorgfältig mit betrieblichen Überlegungen wie zum Beispiel im Hinblick auf Qualität und Sicherheit abgewogen werden. Ich weiß, dass die Struktur des Bundestages mit Sitzungswochen und sitzungsfreien Zeiten nicht einfach ist. Dennoch muss es doch Wege geben, möglichst viele Beschäftigte fair und sicher beim Bundestag anzustellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitglieder des Ältestenrates, der Inneren Kommission und des Ausschusses für Arbeit und Soziales, ich bitte Sie, sich möglichst zeitnah mit dem Antrag zu beschäftigen und ihn dem Plenum so schnell wie möglich zur Abstimmung vorzulegen. Bitte geben Sie sich einen Ruck und entscheiden Sie sich für bessere Arbeitsbedingungen und bessere Löhne für das Sicherheitspersonal. Die Beschäftigten haben diese Wertschätzung verdient. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger. Die Kollegen der anderen Fraktionen werden ihre Reden zu Protokoll1) geben.

Petra Ernstberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002648, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich schon ein bisschen spät. Heute bin ich einmal die letzte Rednerin. Da mir der Antrag relativ wichtig ist, ({0}) finde ich es aber bedeutsam, heute Abend noch hierzu zu sprechen. Schließlich geht es - diesbezüglich stimme ich dem Antrag der Fraktion der Grünen voll zu - um die Glaubwürdigkeit unseres Parlaments und die Vorbildfunktion des Gesetzgebers, was die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der Beschäftigten in diesem Hohen Hause betrifft. Zweitens - lassen Sie mich das an dieser Stelle auch sagen - geht es darum, einfach einmal all denjenigen ein herzliches Dankeschön zu sagen, die täglich dafür sorgen, dass unser Umgang hier miteinander geregelt ist. Dabei geht es nicht nur um das Wach- und Sicherheitspersonal, sondern auch um die Personen, die an den Garderoben, den Fahrstühlen und den Pforten arbeiten, sowie um das Reinigungspersonal und die im Bereich der Haustechnik Beschäftigten. ({1}) Ihnen allen gehört der Applaus und das Lob dafür, dass sie den parlamentarischen Betrieb aufrechterhalten und wir unsere Arbeit hier verrichten können. Nun aber zum Antrag, der zunächst grundsätzlich besagt, dass möglichst alle Vollzeitbeschäftigten von ihrem Einkommen leben können sollen, ohne dass sie zusätzliche Sozialleistungen erhalten. Das ist sozialdemokratische Politik. Wir sind der Meinung, dass generell in allen Bereichen der Arbeitswelt faire Löhne gezahlt werden müssen. Es geht um faire Löhne, die sicherstellen, dass Frau oder Mann nicht auf dem Amt zu einem Bittsteller gegenüber dem Staat wird, um faire Löhne, die ausreichen, um monatlich wirklich über die Runden kommen zu können. Gerade weil wir das wollen, haben wir vor zwei Wochen hier im Deutschen Bundestag einen neuen Anlauf für einen flächendeckenden existenzsichernden Mindestlohn unternommen. ({2}) 1) Anlage 26 Ein entsprechender Gesetzentwurf der SPD sieht eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro vor. Wer Leistungsgerechtigkeit will, wer also will, dass es gute und anständige Löhne für gute Arbeit gibt, der weiß, dass wir diesen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland brauchen; ({3}) denn ein gesetzlicher Mindestlohn verhindert Lohndumping, sorgt für einen fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen, entlastet den Bundeshaushalt und stärkt nicht zuletzt die Binnennachfrage in diesem Land. Der Antrag besagt ganz konkret, dass die Wach- und Sicherheitskräfte wenig Planungssicherheit haben, da die Dienstleistungen durch den Bundestag alle sechs Jahre neu ausgeschrieben werden. Auch diesem Aspekt in Ihrem Antrag können wir zustimmen. Nur ein gesichertes und möglichst unbefristetes Arbeitsverhältnis bietet ein geeignetes Fundament, um gute Arbeitsbedingungen einfordern zu können. Nur ein gesichertes Arbeitsverhältnis bietet die Grundlage für ein Leben ohne Existenzangst. Gerade ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen diese Planungssicherheit. Wir alle wissen aus unzähligen Debatten hier im Hohen Haus, wie schwierig es vor allem für Ältere ist, nach Eintritt der Arbeitslosigkeit wieder Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen. Weil wir für faire Löhne und für sichere Arbeitsverhältnisse sind, stimmen wir überein mit den Forderungen, dass der Bundestag seiner Verantwortung gerecht wird und die Arbeitsbedingungen und die Entgelte der Wach- und Sicherheitskräfte verbessert. Dennoch gibt es einige weitere Punkte, die ich erwähnen möchte. Wir müssen uns, wenn wir faire Bedingungen für die Wach- und Sicherheitskräfte fordern, auch mit den Bedingungen der anderen Beschäftigten befassen, die bei externen Dienstleistern angestellt sind und ihren Dienst hier im Bundestag verrichten. ({4}) Ich meine die Garderobenfrauen und -männer, den Pfortendienst und die Fahrstuhlführerleistungen. Die Situation dieser Beschäftigten sollte in die gesamte Diskussion einbezogen werden. Weiterhin müssen wir uns selbstverständlich damit auseinandersetzen, was das für die Ausgabenseite des Bundestages bedeutet. Wenn die Dienstleistungen nicht mehr extern ausgeschrieben, sondern vom Bundestag intern wahrgenommen würden, müssten wir damit rechnen, dass sich die Kosten mehr als verdoppeln. Dieser Aspekt kommt in dem Antrag etwas zu kurz. ({5}) Noch etwas ist zu beachten: Können alle der derzeitigen externen Dienstleister problemlos wieder in ein Dienstverhältnis intern im Bundestag übernommen werden, oder sind die Anforderungen, die der TVöD an die Qualifikationen der Beschäftigten stellt, nicht in manchen Teilen so hoch, dass es gegebenenfalls Beschäftigte geben wird, die der Bundestag nicht intern beschäftigen kann? Das würde bedeuten, dass sie wegen dieser hohen Anforderungen eventuell in die Arbeitslosigkeit geschickt werden. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Bundestagsverwaltung bereits heute sehr genau darauf achtet, dass die Dienstleistungen nicht immer an den Billigsten vergeben werden. Es wird sehr wohl darauf geachtet und bestanden, dass das Vergaberecht in seinen Möglichkeiten ausgeschöpft wird, zum Beispiel hinsichtlich der Vergütung, der Überstunden, der Ausbildung, der Fortbildung und auch der Frauenquote. Zudem wurde die Verwaltung vom Ältestenrat verpflichtet, bei Ausschreibungen eine Tariftreueklausel aufzunehmen. Abschließend möchte ich anmerken, dass die Entscheidung darüber, ob eine Dienstleistung extern eingekauft wird oder nicht, vom Präsidium des Deutschen Bundestages getroffen wird. Die aktuelle Ausschreibung und der entsprechende Vertragsentwurf sehen vor, dass sich die Vergütung der Sicherheitsmitarbeiter an dem Entgelttarif für das Wach- und Sicherheitsgewerbe Berlin und Brandenburg in der Fassung vom 22. November 2010 orientiert. In diesem ist vorgesehen, dass der Stundenlohn in der Zukunft auf 7,50 Euro erhöht wird. ({6}) - Das war netto, 7,50 Euro netto. - Zusätzlich sind seitens der externen Unternehmer umfangreiche Schulungsmaßnahmen sowie Investitionen für Ausrüstung und Ausstattung in eigener Verantwortung zu übernehmen. Wie so oft steckt der Teufel im Detail. Deshalb appelliere ich, über das Thema in der Inneren Kommission, der Unterkommission des Ältestenrates, ausführlich zu diskutieren, damit wir diese Punkte klären. Der Bundestag hat diese Vorbildfunktion. Wenn es um Arbeitsbedingungen und Löhne geht, muss er dieser Vorbildfunktion auf diese Art und Weise gerecht werden. Der Kernpunkt ist doch: Wir müssen politisch entscheiden, was uns wichtiger ist, die Kostenersparnis für den Bundeshaushalt oder die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, die uns hier das Leben erleichtern. Ich bedanke mich und wünsche allen noch einen schönen Abend. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4741 an den Ältestenrat und an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zu den nächsten Tagesordnungspunkten wurden alle Reden zu Protokoll gegeben. Trotzdem bitte ich Sie, noch mit mir gemeinsam die formalen Dinge abzuwickeln, damit das ordentlich ins Protokoll kommt. Die Namen der Redner sind schriftlich aufgeführt und werden im Protokoll festgehalten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Die Demokratische Republik Kongo stabilisieren - Drucksache 17/4691 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Demokratische Republik Kongo ist ein Schwerpunkt des Engagements der Vereinten Nationen. Mit 20 000 VN-Blauhelmsoldaten im Kongo ist dies die größte Blauhelmmission weltweit. Die VN haben hier ein umfassendes und robustes Mandat zum Schutz der Bevölkerung und der Stabilisierung und dem Wiederaufbau der Region geschaffen. Doch trotz eines breiten und tiefgehenden multilateralen Einsatzes der VN, der EU und anderer internationaler Institutionen sowie vielfältigen bilateralen Engagements durch die USA, Deutschland und weitere Länder, hat sich die Menschenrechtslage, die politische und die wirtschaftliche Situation im Kongo seit den Wahlen 2006 nur wenig verbessert. Die Menschen im Kongo und die Bundesrepublik mit ihrer Unterstützung haben großes Vertrauen in die Zeit nach den Wahlen gesetzt. Die Lage heute ist sehr ernüchternd. Zwar ist die Bedeutung des vielfältigen Einsatzes im Kongo für die Sicherheit der Menschen und die Verbesserung ihrer Lebenslage klar erkennbar. Doch passiert leider immer noch zu wenig, um einen nachhaltigen Fortschritt anzustoßen. Dies wird einem umso deutlicher bei Betrachtung des Human Development Index, in dem die Demokratische Republik Kongo den Platz 177 von 179 betrachteten Ländern belegt. Das BIP pro Kopf liegt bei 178 US-Dollar, was einmal mehr die prekäre Lage der Menschen verdeutlicht. Wenn ich hier fordere, dass Deutschland sich stärker engagieren muss, dann ist dies aber kein einseitiges Anliegen. Es ist für alle offensichtlich, dass die Regierung der Demokratischen Republik Kongo sich aus der Verantwortung stiehlt und es fast so wirkt, als bestünde kein Interesse der Eliten des Landes, die Lage der über 60 Millionen anderen Einwohner ihres Staates zu verbessern. Die verbreitete Korruption, die Vettern- und Misswirtschaft treten als Symptome offen zutage. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International belegt die Republik Kongo einen besorgniserregenden 162. von 180 Plätzen. Hier müssen wir als Bundesrepublik die Demokratische Republik Kongo zur Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien drängen. Auch unsere Zusammenarbeit muss von der Erfüllung verbindlicher Ziele abhängig gemacht werden. Dies sollte sogar bis zur Verhängung von Sanktionen führen. Es kann nicht sein, dass die Bundesrepublik mit ihren Trägern der Entwicklungszusammenarbeit geradezu verhöhnt wird, wie es kürzlich bei dem Vorgehen, bar jeder Grundlage, der kongolesischen Justiz gegen Hartwig Fischer ({0}) die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit der Fall war. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist wertegebunden. Daher muss es in Zukunft möglich sein, die Zusammenarbeit mit korrupten Regionen vollständig einzustellen. Zum Kampf gegen die Korruption gehört die Einrichtung einer unabhängigen Behörde, die über Antikorruptionsmaßnahmen wacht. Ebenso muss eine vernünftige Bezahlung der Beamten und Richter angestrebt werden, damit der Anreiz zu bestechlichem Verhalten minimiert wird. Die im Januar beschlossene Verfassungsänderung, die die Machtposition des Präsidenten Kabila ausbaut, ist ein Auswuchs der Korruption und Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien. Die in der Verfassung festgeschriebene Dezentralisierung wird eingeschränkt. Dabei ist gerade die Stärkung der Provinzen für ein Land, das über sechsmal so groß wie Deutschland ist, unabdingbar. Nur so kann sich an der Lage der Menschen fernab der Hauptstadt Kinshasa etwas ändern. Die gewollte Machtakkumulation in der Hauptstadt verstärkt vielmehr den Kontrollverlust, der sich nicht nur in der Desertion und dem Überlaufen der eigenen Soldaten zu verschiedensten Rebellenmilizen im Osten des Landes äußert. Die Reform des Sicherheitssektors muss dringend angegangen werden. Dazu werden die EUSEC und die EUPOL einen wichtigen Beitrag leisten können und müssen. Dennoch gibt es auch hier noch große Probleme. Beispielsweise fehlende Soldzahlungen, die die Loyalität der kongolesischen Armee beeinträchtigen. Es sind gerade auch die eigenen Soldaten der kongolesischen Armee Forces Armées de la République Démocratique du Congo, FARDC, die für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. In diesem Sinne ist es nicht nachvollziehbar, warum die DRC nicht längst die in der Verfassung vorgeschriebene nationale Menschenrechtskommission einberufen hat. Zwar hat die kürzliche Verurteilung von ranghohen kongolesischen Soldaten für Massenvergewaltigungen ein wichtiges Signal gesetzt, doch befindet sich der Kongo auch hier noch am Beginn eines langen und steinigen Weges. Hier müssen wir als Bundesrepublik mehr Mittel und Projekte bereitstellen, um die Opfer von Massenvergewaltigungen zu betreuen. Beunruhigend ist auch, dass die MONUSCO mit 20 000 Soldaten den Ostkongo noch nicht wirklich befrieden konnte. Es darf nicht sein, dass die UN-Blauhelmsoldaten auch in Vorwürfe der Massenvergewaltigung verstrickt werden. So verlieren die Vereinten Nationen ihre Glaubwürdigkeit. Die Bestrebungen, den Anführer der Lord’s Resistance Army, Joseph Kony, dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu überstellen, müssen vorangetrieben werden. Die FARDC kann hier ihrem Auftrag gerecht werden und die vielen zerstreuten Milizen wirksam bekämpfen. Unter diesem Zeichen steht auch das DDRRR-Programm, Disarmament, Demobilization, Repatriation, Resettlement and Reintegration, der MONUSCO, das versucht, ausländischen Kombattanten ihre Anreize zum Kampf zu nehmen. Zusätzlich brauchen wir ein Zertifizierungssystem für die Rohstoffe aus dem Ostkongo. Hier liegen zum Beispiel über 80 Prozent der weltweiten Coltan-Vorkommen. Nur die Zertifizierung der Rohstoffe sichert, dass alle Staaten zu Weltmarktpreisen die für die Hightechindustrie wichtigen Rohstoffe kaufen können. Gleichzeitig wird damit erreicht, dass die Wertschöpfung aus der Rohstoffförderung in den kongolesischen Haushalt fließen kann und damit für die wesentlichen Staatsaufgaben nutzbar ist. Doch durch die Kontrolle von illegalen Minen durch die Milizen sprudelt weiter eine Geldquelle, die den Konflikt am Laufen hält. Diese Quelle gilt es zum Versiegen zu bringen. Nur so kann ein wichtiger Schritt hin in Richtung einer Verbesserung des Lebens der Menschen im Ostkongo gemacht werden.

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In den letzten Tagen und Wochen gab es viele ermutigende Nachrichten aus Nordafrika. Die Menschen demonstrieren dort für ihre Freiheitsrechte und versuchen, sich ihrer korrupten Herrschaftscliquen zu entledigen. Diese guten Nachrichten hören wir aus der Demokratischen Republik Kongo, der rohstoffreichsten Region Afrikas, nicht. Wir hören oder lesen in den Medien in der letzten Zeit kaum einmal etwas über das, was in diesem Land zurzeit passiert, und das vielleicht deshalb, weil sich die Öffentlichkeit an die Berichte über die grauenhaften Zustände, die dort seit vielen Jahren herrschen, gewöhnt hat. Ob Mord, Vertreibung, Vergewaltigung, Missbrauch von Kindern, Korruption, fehlende oder mangelhafte Grundversorgung mit sauberem Trinkwasser oder Gesundheitsversorgung - all das kennzeichnet die Situation in weiten Teilen dieses Landes seit vielen Jahren. Wie schlimm die Situation vor Ort ist, vermag sich ein Außenstehender kaum vorzustellen. Gerade ich als Frau fühle mich betroffen, wenn ich von Massenvergewaltigungen und Gewaltexzessen gegen Frauen und Mädchen höre. Die offiziellen Zahlen, die der Antrag zu diesen Gräueltaten zitiert, sind für sich genommen schon schrecklich - doch die Dunkelziffer wird noch unvorstellbar höher sein. Nicht jede Frau ist so mutig wie Anna Mburano aus dem Dorf Luvungi im östlichen Kongo und berichtet darüber, wie sie am 30. Juni letzten Jahres als 80-Jährige nacheinander von vier Milizionären vergewaltigt wurde - quasi vor den Augen untätiger Blauhelmsoldaten. Solche Schicksale machen einem das unendliche Leid hinter den Statistiken deutlich, das unzählige Menschen in der Demokratischen Republik Kongo tagtäglich aushalten müssen. Menschen wie Anna Mburano schulden wir es, trotz aller Misserfolge nach Mitteln und Wegen zu suchen, dieses Land zu stabilisieren und den Menschen eine Zukunft ohne Gewalt und Angst zu ermöglichen. Der Antrag, über den wir heute beraten, listet viele der Missstände in der Demokratischen Republik Kongo klar und ehrlich auf. Allein das Wort „katastrophal“ wird sechsmal benutzt, um die Situation in einzelnen Bereichen zu beschreiben! Diese Form der ehrlichen Bestandsaufnahme brauchen wir, wenn wir darüber diskutieren, was wir anders machen können, um die Lage dort zu verbessern, und wer für das Elend zuständig ist. Zu allererst ist dafür der korrupte und selbstsüchtige Machtapparat um Präsident Kabila verantwortlich. Zu Protokoll gegebene Reden Durch die von uns unterstützten Präsidentschaftswahlen 2006 ist er an die Macht gelangt, und er lässt bis heute fast jedes Bemühen um gute Regierungsführung vermissen. Aber es werden auch offen die Versäumnisse der UN-Mission MONUSCO angesprochen. Sie ist mit 20 000 Blauhelmen und einem robusten Mandat ausgestattet und die größte UN-Mission derzeit. Doch es fehlt ihr an Disziplin, Ausbildung, geeigneter Ausrüstung wie Hubschraubern und offensichtlich auch an Truppenstärke, um ihrem Auftrag, dem Schutz der Zivilbevölkerung, gerecht zu werden. Schlimmer noch: Es gibt glaubwürdige Berichte darüber, dass selbst Blauhelmsoldaten an schlimmen Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Das ist ein Desaster für die nach Sicherheit suchenden Menschen, aber auch für die Glaubwürdigkeit der Blauhelmsoldaten insgesamt. Leider sind auch die nationale Armee und Polizei nicht in der Lage, im Land für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen. Weder scheinen die Sicherheitskräfte militärisch in der Lage zu sein, effektiv gegen Rebellengruppen und Milizen vorgehen zu können, noch schaffen es Polizei und Justiz, dem Rechtsstaat Geltung zu verschaffen. Sie sind zu einem Teil der Probleme in diesem Land geworden. Dabei ist gerade die Reform des Sicherheitssektors und dessen Unterstützung ein großes Anliegen der internationalen Gemeinschaft und der Bundesregierung gewesen. Trotz einiger kleiner Teilerfolge muss man heute ernüchtert feststellen, dass uns die Unterstützung und Begleitung dieser Reformbemühungen insgesamt nicht gelungen ist. Hauptsächlich liegt das an der zu schwachen, korrupten und offensichtlich unwilligen Exekutive, den Versprechungen und Verpflichtungen gegenüber der internationalen Gemeinschaft nachzukommen. Daher müssen wir den politischen Druck erhöhen und im Zweifelsfall auch bereit sein, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Lange Zeit war der Begriff „Konditionalisierung“ in der Entwicklungspolitik verpönt. Doch wir müssen einsehen, dass eine Kooperation ohne diese Form der Sanktionsandrohung mit der Regierung Kabila kaum mehr möglich scheint. Daher unterstützt die Unionsfraktion auch ausdrücklich die Bundesregierung darin, Programme der bilateralen Entwicklungspolitik bei ausbleibendem Erfolg entsprechend zu sanktionieren. Das ist nicht nur für die Glaubwürdigkeit unseres Engagements, sondern auch für die langfristige Ausrichtung der Zusammenarbeit mit der Demokratischen Republik Kongo dringend nötig. Wir müssen die Regierung dieses Landes in die Pflicht und Verantwortung nehmen und dürfen nicht zulassen, dass Korruption und Misswirtschaft folgenlos bleiben. Und wenn nicht nur die Bundesregierung, sondern auch andere nationale und internationale Geber diesem Beispiel folgen und wir der illegalen Rohstoffökonomie Herr werden würden, dann dürfte das für Präsident Kabila und seine Regierung mittel- und langfristig spürbare Folgen haben. Nur so können wir es schaffen, dass die Menschen der Demokratischen Republik Kongo eine Regierung bekommen, die bereit ist, die katastrophalen Lebensbedingungen zu verbessern und der Bevölkerung ein menschenwürdiges und gewaltfreies Dasein ermöglicht.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Positionen im Antrag der CDU/CSU und FDP stimmen in weiten Punkten mit unseren Überzeugungen überein, sodass die Möglichkeit besteht, einen gemeinsamen Berichtsbeschluss des Auswärtigen Ausschusses für den Bundestag zu erreichen. Für die Debatte möchte ich folgende Bereiche herausgreifen: Die Sicherheitslage im Kongo verschlechtert sich zusehends. Besonders betroffen sind Frauen und Mädchen, die neben alltäglicher Diskriminierung in ihren Menschenrechten massiv verletzt werden. Sexuelle Übergriffe in Form von Massenvergewaltigungen werden von Gewaltgruppen im Osten des Kongos gezielt eingesetzt, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Seit Mitte der 90er-Jahre wurden mehr als 200 000 Vergewaltigungen registriert. Damit gehört die Demokratische Republik Kongo zu den Ländern mit der größten sexuellen Gewalt weltweit. Der UN-Sicherheitsrat hat in einer Resolution festgestellt, dass Massenvergewaltigungen, die in Konflikten als Kriegswaffe eingesetzt werden, Kriegsverbrechen sind. Demnach ist die kongolesische Regierung aufgefordert, derartige Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im eigenen Land zu verurteilen. Hilfe beim Aufbau von Justiz und rechtsstaatlichen Strukturen soll von der internationalen Gemeinschaft schwerpunktmäßig vorangebracht werden. Wenn die kongolesische Regierung ihre Verpflichtungen nicht einlöst, ist die internationale Gemeinschaft verpflichtet, die Verbrecher und ihre Namen zu ermitteln und vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. 80 Prozent der weltweiten Vorkommen von Coltan, das für die Handyproduktion benötigt wird, befinden sich im Kongo. Zudem läuft ein Kupfergürtel durch das Land, der ein Zehntel der weltweiten Kupferreserven darstellt. Es gibt ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem Ressourcenreichtum des Landes und der krassen Armut der Bevölkerung. Von den Rohstoffen des Landes profitieren meist ausländische Unternehmen, die sich durch entsprechende Vertragsregelungen beträchtliche Erträge sichern - zum Nachteil der kongolesischen Wirtschaft und der dort lebenden Menschen. Bei einer Änderung der Verträge stünde ein Vielfaches dieser Mittel für die Armutsbekämpfung zur Verfügung. Die Offenlegung von Gewinnung, Ex- und Import von Rohstoffen sowie der damit zusammenhängenden Verträge und Finanzflüsse wäre ein wichtiger Schritt in Richtung mehr Transparenz. Es muss eine bessere Zertifizierung von Handelsketten im Bereich mineralischer Rohstoffe geben. Die Verpflichtung zur Transparenz darf dabei nicht nur im Herkunftsland der Rohstoffe bestehen, sondern muss auch bei den beziehenden Unternehmen und Staaten liegen. Ein Meilenstein für mehr Transparenz im Ressourcenbereich ist ein Gesetz der USA. Demnach sind amerikanische Unternehmen ab 2012 nach der sogenannten Cardin-Lugar-Klausel verpflichtet, ihre Zahlungen an ausländische Regierungen auf Zu Protokoll gegebene Reden Länder- und Projektbasis detailliert offenzulegen. Rund 90 Prozent aller international operierenden Ölfirmen sind von dieser Regelung betroffen. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, auf europäischer Ebene eine ähnliche gesetzlich verpflichtende Regelung zu entwickeln, damit Unternehmen ihre Zahlungsströme an Regierungen offenlegen müssen.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in der Demokratischen Republik Kongo bleibt auch fünf Jahre nach den ersten freien Wahlen im Land katastrophal. Im Osten des Landes sind - man muss es leider so drastisch formulieren - Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat allein in diesem Jahr bereits mehr als 200 Vergewaltigungsopfer behandelt. Zuletzt wurden am Montag dieser Woche 56 Frauen und Männer nach einer Massenvergewaltigung medizinisch versorgt. An den Vergehen sind keineswegs nur marodierende Banden beteiligt: An Neujahr vergewaltigten Mitglieder der kongolesischen Armee mehr als 50 Frauen in der Ortschaft Fizi in der Provinz Südkivu. Der einzige kleine Lichtblick in dieser Angelegenheit: Erstmals wurde anschließend ein hochrangiger Angehöriger der Streitkräfte nach einer solchen Tat vor Gericht gestellt und zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt. Die geschilderten Beispiele sind keine Einzelfälle. Die Vereinten Nationen haben allein im vergangenen Jahr rund 11 000 Vergewaltigungen registriert. Die Dunkelziffer dürfte noch weit darüber liegen. Seit Mitte der 90er-Jahre sind über 200 000 Vergewaltigungen im Land registriert worden, auch hier liegt die Dunkelziffer wohl deutlich höher. Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt, die mit der VN-Sicherheitsratsresolution 1820 als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit besonders geächtet sind, werden von bewaffneten Gruppen in der Demokratischen Republik Kongo systematisch als Einschüchterungs- und Herrschaftsstrategie eingesetzt. Die internationale Gemeinschaft hat sich in unterschiedlicher Form im kongolesischen Friedensprozess stark engagiert, auch bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2006. Schon damals hatte meine Fraktion zu Recht angemahnt, dass zwar Wahlen ein wichtiger Schritt sind, dass es aber ein Follow-up-Konzept geben muss. Schon damals haben wir eine bessere und koordinierte Unterstützung von EUSEC und EUPOL gefordert, gerade im Nachgang der Wahlen. In diesem Jahr stehen wieder Wahlen an im Kongo. Man sollte dann auch einen Blick darauf werfen, wie die Situation vor Ort aussieht. Leider muss man feststellen: Es hat sich nicht viel verändert in fünf Jahren. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage im Land ist nach wie vor katastrophal. Teile des Ostkongo sind nach wie vor nicht befriedet, Rebellengruppen treiben ihr Unwesen, und Vergewaltigungen sind dort alltägliches Geschehen. Auch bezüglich der versprochenen Reformen der maroden Strukturen von Polizei und Armee fällt das Fazit nicht gut aus. Presseberichte beschreiben die Armee als undisziplinierte und schlecht ausgerüstete Truppe. In ihren Reihen finden sich international gesuchte Kriegsverbrecher, und ihre Mitglieder beteiligen sich in zahlreichen Fällen an Vergewaltigungen und anderer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Die Sicherheitssektorreform hatte trotz europäischer und internationaler Programme von Anfang an Probleme: den mangelnden Reformwillen der kongolesischen Regierung, die grassierende Korruption, aber auch fehlende Abstimmung der Programme untereinander. Nicht nur im sicherheitspolitischen Bereich ist die Bilanz schlecht, auch bei eher zivilen, innenpolitischen Themen gibt es kaum Fortschritte zu berichten. Die Menschenrechtssituation im Land bleibt katastrophal. Dies betrifft nicht nur die schon geschilderten Fälle von Vergewaltigungen, sondern auch die Lage von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Die Ermordung des über die Landesgrenzen hinaus bekannten Aktivisten Floribert Chebeya Bahizire im Juni 2010 macht deutlich, welchen Gefahren Regimekritiker in der Demokratischen Republik Kongo ausgesetzt sind. Eine Kommission zur Aufklärung des Falls wurde erst auf massiven internationalen Druck hin ins Leben gerufen. Ob der mittlerweile vor einem Militärgericht eröffnete Prozess rechtsstaatlichen Kriterien genügt, muss bezweifelt werden. Nach wie vor sehen wir ein Klima der Straflosigkeit. Eine unabhängige Justiz, die solche Fälle unabhängig aufklären und zur Anklage bringen würde, fehlt. Das betrifft nicht nur aktuelle Fälle, sondern auch die systematische Aufarbeitung der Verbrechen, die in den Konflikten seit Mitte der 90er-Jahre und zuvor unter der Herrschaft Mobutus begangen wurden. Korruption ist ein zentrales Merkmal des öffentlichen Lebens. Dies beweist auch der Korruptionsindex von Transparency. Die Demokratische Republik Kongo landet hier regelmäßig in der Gruppe der korruptesten Staaten dieser Erde. Auch hier hat die kongolesische Regierung viel versprochen, passiert ist wenig. Trotz mehrerer groß angekündigter Kampagnen hat sich nämlich nichts geändert: Die Aktionsprogramme der Regierung Kabila 2008 und 2009 dienten der Entfernung unbequemer und der Installation regimetreuer Beamter. Denn der Vorwurf der Korruption kann dabei gezielt als Waffe eingesetzt werden, um missliebige Provinzgouverneure zu entfernen. Was aber besonders schwer wiegt, ist die Tatsache, dass die kongolesische Regierung ihre eigenen zentralen Reformaufträge der neuen Verfassung nicht umgesetzt hat. So hat sie weder die von der Verfassung geforderte Nationale Menschenrechtskommission eingesetzt, noch die geforderte föderale Neugliederung des Staatsgebietes vorgenommen. Die Politik der Regierung lässt den Schluss zu, dass es ihr eher daran gelegen ist, weitere Macht zu akkumulieren, als dem in der Verfassung durch eine Ewigkeitsklausel geschützten Auftrag zur dezentralen Neustrukturierung des Landes nachzukommen. Hinweise hierfür liefert die von der Regierung eingesetzte Verfassungskommission, die unter anderem für eine Ausdehnung der Amtszeit und mehrmalige Wiederwahl des Präsidenten sowie für eine Kürzung des Anteils der Provinzen an den Steuereinnahmen plädiert. Zu Protokoll gegebene Reden Mit unserem Antrag wollen wir da ansetzen, wo nach den letzten Wahlen 2006 leider nicht energisch genug nachgesetzt wurde. Unser Antrag hat daher zum Ziel, eine wirksamere Politik gegenüber der Demokratischen Republik Kongo zu formulieren, die mehr von der kongolesischen Regierung einfordert und der dortigen Bevölkerung zugutekommt. Bereits viel zu lange hat die kongolesische Regierung die Umsetzung der von ihr verlangten Reformschritte lustlos schleifen lassen und stiefmütterlich als technische Lästigkeiten behandelt. Es ist an der Zeit, dass die Regierung das klare, eindeutige politische Signal der internationalen Gemeinschaft erhält, dass Kinshasa den politischen Willen entfaltet und die dringend notwendigen Schritte entschlossen, zügig und nachhaltig umsetzen muss. Daher werden wir insbesondere für eine stärkere Konditionalisierung bei der Vergabe von Mitteln und Programmen der bilateralen Entwicklungshilfe sorgen. Diese müssen vor allem auf Fortschritte bei der Durchsetzung und dem Schutz der Menschenrechte abzielen. Außerdem müssen die bereits laufenden Sicherheitssektorreformen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und stärker mit den internationalen Partnern abgestimmt werden. Bei all dem muss klar sein, dass die kongolesische Regierung die Verantwortung für die Politik in ihrem Land trägt. Während die Weltöffentlichkeit derzeit ihren Blick in Afrika besonders auf Sudan und die anhaltende Krise in der Elfenbeinküste richtet, darf nicht vergessen werden, dass der Friedens- und Konsolidierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo von zentraler Bedeutung für die Stabilität und die Entwicklung der gesamten Region ist. Dabei bleibt viel zu tun. Hierzu leistet unser Antrag einen wichtigen Beitrag.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vor genau einer Woche, am 17. Februar 2011, haben 50 kongolesische Menschenrechtsorganisationen einen dramatischen Appell unterzeichnet. Sie berichten darin von systematischen Einschüchterungen und Morddrohungen durch die kongolesische Polizei und das Militär. Diese Drohungen müssen ernst genommen werden. Der bekannteste kongolesische Menschenrechtsaktivist, Floribert Chebeya, wurde im vergangenen Juni getötet aufgefunden, nachdem er einer Aufforderung des Polizeipräsidenten Folge leistend das Hauptquartier der Polizei in Kinshasa aufgesucht hatte. Ende September letzten Jahres wurden die Menschenrechtsanwältin Nicole Bondo Mwaka, der Leiter eines belgischen Hilfsprojektes, Armand Tungulu, und eine weitere Juristin von der Präsidentengarde festgenommen und verprügelt. Armand Tungulu wurde dann am 2. Oktober 2010 tot in seiner Zelle aufgefunden. Dies sind nur einige wenige Beispiele, die ich hier nennen möchte, weil es diese mutigen Menschen verdient haben, dass man sie würdigt. Das Europäische Parlament hat aber festgestellt, dass es sich hier um einen eindeutigen Trend handelt, dass „viele nichtstaatliche Organisationen im vergangenen Jahr eine zunehmende Unterdrückung von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Oppositionsführern, Opfern und Zeugen in der Demokratischen Republik Kongo einschließlich Tötungen, rechtswidriger Verhaftungen, Verfolgungen, Drohanrufen und wiederholten Vorladens bei den Geheimdienststellen beobachtet haben“. Sowohl dem Rat der Europäischen Union als auch der Bundesregierung ist bekannt, dass die allermeisten Menschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Republik Kongo auf die Polizei und das Militär zurückgehen, die seit Jahren von Deutschland und der EU ausgerüstet und ausgebildet werden. Und da kommen Sie mit diesem Antrag und fordern „eine spürbare finanzielle und personelle Verbesserung der EUSEC- und EUPOLMissionen“. Im Rahmen der Mission EUPOL Kinshasa wurden für 10 Millionen Euro sogenannte Integrierte Polizeieinheiten in der Hauptstadt aufgebaut. Das sind Einheiten, die dazu da sind, Demonstrationen aufzulösen. Das sind letztendlich Einheiten, die dazu da sind, Menschenrechte zu verletzen. Diese Einheiten wurden im Rahmen der EUPOL-Mission mit „Schutzschilden, Helmen, Schlagstöcken und Tränengas sowie Maschinenpistolen der Marke UZI“ ausgestattet. Und die Hälfte dieses Geldes stammte zudem noch aus dem Europäischen Entwicklungsfonds. Das ist ein Skandal! Das ist ein Skandal, der sich hervorragend einpasst in die aktuellen Ereignisse in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel, wo sich vom Westen unterstützte Diktatoren mit Waffen aus Europa gegen ihre eigene Bevölkerung zur Wehr setzen, wo von Deutschland und der EU ausgebildete Soldaten und Polizisten auf Demonstranten losgehen. Der heutige Staatspräsident der Demokratischen Republik Kongo, Kabila, wurde unter dem Schutz einer EU-Militärmission „gewählt“. Anschließend ließ er den unterlegenen Kandidaten und Oppositionsführer Bemba von seiner Armee aus dem Land jagen. Belgien ließ den Oppositionsführer dann festnehmen, und heute sitzt Bemba in Den Haag in Haft. Mag sein, dass er dorthin gehört. Dass Deutschland und die EU aber tolerieren, dass andere Kriegsverbrecher in der kongolesischen Armee ungestört ihren Dienst tun und sogar - wie Bosco Ntaganda - in führende Posten der Armee befördert werden, ist unerhört. Diese Armee, die auch Kindersoldaten umfasst, wird im Rahmen der EUSEC-Mission beraten und unterstützt und erhält Waffen und Ausrüstung - teilweise kostenlos - aus Europa. Dass der vorliegende Antrag den EU-Militäreinsatz zur Absicherung der Wahl Kabilas als Beitrag zu den „bisher erzielten Erfolgen“ lobt, ist grotesk. Dieser Einsatz war ein militärischer Einsatz zur Absicherung einer der schlimmsten Diktaturen in ganz Afrika. Vieles wird ja richtig benannt in Ihrem Antrag, dass die Menschenrechtslage unter Kabila „katastrophal“ ist, dass sich der Krieg in einigen Regionen intensiviert hat und auf andere Regionen übergegriffen hat. Vor diesem Hintergrund fordern Sie mehr Geld für die kongolesische Polizei und das kongolesische Militär, mehr Geld, das eigentlich für Entwicklungshilfe und humanitäre Nothilfe gedacht ist, das bei der Versorgung der über 2 Millionen Binnenvertriebenen fehlt. Entlarvend ist auch der einzige tatsächliche „Erfolg“ des deutschen und des europäischen Engagements am Kongo, den Sie in Ihrem Antrag nennen: die Annahme und Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahre Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen 2005. An dieser Stelle ist der Antrag nämlich schon wieder veraltet, denn die Verfassung wurde kürzlich durch Kabila und seine geschmierten Anhänger im Parlament wieder geändert, um dessen Wiederwahl zu sichern. Künftig soll der Präsident nur noch in einem Wahlgang gewählt werden. In einem Land, in dem jegliche Opposition mit Militär und Polizei unterdrückt wird, ermöglicht dies eine Wiederwahl schon mit 20 Prozent der Stimmen, die sich auch kaufen lassen. Wie die Repression gegen die Opposition aussieht, konnte man etwa am 15. Dezember 2010 in Goma beobachten. Damals wollte einer der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten außer Kabila, Vital Kamerhe, in der wichtigen Provinzhauptstadt Goma eine Rede halten. Die Regierung untersagte diese Veranstaltung, und die Polizei trieb seine Anhänger mit Tränengas und Warnschüssen auseinander. Auch in Goma unterhält die EUPOL einen Stützpunkt, und sie ist an der Ausbildung der Polizei beteiligt. Angehörige der EUPOL-Mission seien aber bei den Vorfällen nicht anwesend gewesen. Das behauptet die Bundesregierung zu wissen. Zugleich aber behauptet sie, dass sie nicht wüsste, welche Polizeieinheiten an der Verhinderung der Wahlkampfveranstaltung beteiligt waren. Offensichtlich ist es ihr auch egal, oder sie will es gar nicht wissen, was die von ihr ausgebildeten und ausgestatteten Polizisten im Dienste Kabilas anrichten. Was uns an Libyen dieser Tage schockiert, dass Soldaten aus Hubschraubern auf Zivilisten feuern, ist am Kongo fast schon Alltag. Es muss endlich Schluss sein mit der polizeilichen und militärischen Unterstützung von Despoten. Die Einsätze EUPOL und EUSEC stehen symbolisch für diese Politik und müssen deshalb sofort beendet werden - und nicht etwa ausgeweitet, wie es der vorliegende Antrag fordert.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist Deutschland in vielfältiger Weise im Kongo aktiv und unterstützte das Land im Jahr 2009 in einer Höhe von 82,2 Millionen Euro. Das Riesenland Kongo hat viele Schätze. Es geht im Kongo nicht nur um Menschenrechte, mehr Demokratie, Kampf gegen Korruption und mehr Rechtsstaatlichkeit, sondern auch um den Erhalt der Artenvielfalt. Ich bin alarmiert, weil die kongolesische Regierung plant, die Erlaubnis zu geben, Öl im Virunga-Nationalpark zu fördern. Das wäre ein grotesker Rückschritt für all die Bemühungen, diesen Park zu erhalten. Dieser einzigartige Park gehört zum Weltkulturerbe der UNESCO. Hervorzuheben ist, dass dort die seltenen Berggorillas leben, die letzten ihrer Art. Wir müssen unseren ganzen Einfluss geltend machen, um zu verhindern, dass dieses wertvolle Stück Erde von kurzfristig denkenden Ölkonzernen zerstört wird. Vor allem im Hinblick auf die Wahlen im November 2011 muss die Chance genutzt werden, die Öffnung des Parks für eine Ölförderung zu verhindern. Mit der MONUC, die ab Juli als MONUSCO weiter präsent sein wird, steht in der Demokratischen Republik Kongo die größte FriedensSevim Dağdelen mission der Vereinten Nationen weltweit. Leider konnte auch die MONUC in der Vergangenheit nicht verhindern, dass es immer wieder zu unvorstellbaren Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung kam. Zu den schlimmsten zählen die Massenvergewaltigungen, Täter gibt es dabei auf allen Seiten. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat im November die Massenvergewaltigungen aufs Schärfste verurteilt. Die Bundesregierung muss sich gegenüber der kongolesischen Regierung dafür einsetzen, dass diese Form der sexualisierten Gewalt verhindert wird. Das Mandat der MONUSCO muss angepasst und vor allem präzisiert werden. Bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kinder darf die internationale Gemeinschaft nicht wegschauen. Die Befriedung des Kongo ist eine Herkulesaufgabe. 40 Jahre Krieg, 30 000 Kindersoldaten, Millionen Tote, Vertriebene und Traumatisierte. Langfristig braucht der Kongo einen funktionierenden Sicherheitssektor, um selbstständig für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger Sorge tragen zu können. Allein am Willen der Beteiligten hat es in der Vergangenheit allzu oft gemangelt. Vor allem die kongolesische Regierung muss sich da noch sehr weit bewegen. Ich begrüße es, dass die deutsche Regierung die Reform des Sicherheitssektors unterstützt, indem sie den Aufbau der kongolesischen Polizei durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, also die neue GIZ, unterstützt und darüber hinaus zur Demobilisierung und Reintegration von ehemaligen Soldaten und Kindersoldaten beiträgt. Allerdings kann die internationale Gemeinschaft hier noch viel mehr tun - und sie muss es tun. Denn die international gewünschten Rohstoffe wirken für die Konflikte im Kongo als Brandverstärker. Die Demokratische Republik Kongo ist ein Paradebeispiel für das „paradox of plenty“. Das Land ist extrem reich an Rohstoffen - gleichzeitig lebt die Bevölkerung in extremer Armut. Wie geht es zusammen, dass 80 Prozent der weltweiten Reserven an Coltan und 10 Prozent der Kupferreserven im Kongo liegen und dennoch über 80 Prozent der Bevölkerung von weniger als 0,20 US-Dollar am Tag leben? Die Herausforderungen sind doch: Wie können die Einnahmen aus der Rohstoffgewinnung erhöht werden und in eine breite Entwicklung für die Menschen fließen? Wie können Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden? In welchen Bereichen bedarf es verpflichtender Mechanismen? Wie kann die Bevölkerung mitentscheiden, was passiert? Welche Gesetze müssen implementiert werden, damit sich nicht wenige auf Kosten vieler bereichern? Die Aktivitäten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Kooperation mit der Internationalen Region der Großen Seen, ICGLR, zum Aufbau von Zertifizierungsmechanismen halte ich für wegweisend: Denn nur durch den Aufbau eines legalen Handelsnetzes können illegal operierende Militärs aus dem Mineralienhandel gedrängt werden. Und nur so erhalten die Minenbetriebe und vielen Kleinschürfer die Möglichkeit, ihre Waren direkt auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Sie auf diesem Weg zu begleiten, das ist eine zentrale Aufgabe. Zu Protokoll gegebene Reden Dennoch ist es mit dem Aufbau von Zertifizierungssystemen und der Unterstützung der Transparenzinitiative EITI - die Aktivitäten, auf die sich das BMZ im Rohstoffsektor so gerne bezieht - nicht getan. Zum Antrag der Koalition: Der Antrag der Koalition ist in der Sache sehr begrüßenswert. Er benennt die wichtigsten Probleme und Herausforderungen und geht in die richtige Richtung. Ich finde, er hat Lücken. Entwicklungszusammenarbeit wird von der Koalition scheinbar vor allem als Sanktionsinstrument verstanden. Da ist immer wieder die Rede von Kürzungen der Entwicklungsgelder; ein umfassendes Konzept, was die Entwicklungszusammenarbeit im Kongo leisten soll, sucht man vergebens. Und wir müssen auf die aktuellen Entwicklungen im kongolesischen Rohstoffsektor reagieren - diese ignoriert Ihr Antrag leider völlig: Obwohl Sie den Punkt Biodiversität behandeln, findet sich nichts zur geplanten Ölförderung im UNESCO-Weltnaturerbe Virunga-Nationalpark. Sie gehen auch nicht auf die aktuelle Lizenzvergabe und geplante massive Steigerung der Ölproduktion durch die kongolesische Regierung ein. Außerdem greifen Sie nicht das aktuelle Problem Uran auf - weder den illegalen Abbau, für den es trotz offiziellem Verbot Hinweise gibt, noch die anvisierte Uranförderung in der DRC durch AREVA. Wenn Sie wissen wollen, welche Konsequenzen eine solche Förderung für die DRC hätte, dann schauen Sie sich die Situation im Niger an - dort werden laut Menschenrechtsgruppen und Umweltverbänden Sicherheits-, Arbeitsschutz- und Umweltauflagen durch den französischen Konzern ignoriert. Daher muss ein solcher Antrag diesen kommenden Problemen Rechnung tragen und darf im Interesse des Landes nicht dazu schweigen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4691 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder - Drucksache 17/3305 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/4776 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Stephan Thomae

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten heute abschließend das Gesetz zur weiteren Gleichstellung nichtehelicher Kinder im Bereich des Erbrechts. Bis 1970 waren nichteheliche Kinder im rechtlichen Sinne nicht mit ihrem Vater verwandt und hatten im Verhältnis zu diesem auch kein Erbrecht. Erst mit dem Gesetz über die rechtliche Gleichstellung der nichtehelichen Kinder wurde ihnen für Erbfälle, die sich nach Inkrafttreten besagten Gesetzes 1970 ereigneten bzw. ereignen, ein Erb- und Pflichtteilsrecht zuerkannt. Explizit ausgenommen waren aber jene Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren und deshalb bei der Gesetzesreform älter als 21 Jahre waren. Diese Stichtagsregelung stellt unzweifelhaft einen Anachronismus dar, den wir mit dem vorliegenden Gesetz beenden wollen. Eine Abschaffung der Stichtagsregelung wurde bereits in der Vergangenheit mehrfach diskutiert. Unter Verweis auf das vermeintliche Vertrauen der ehelichen Verwandten des Vaters in den Fortbestand der geltenden Rechtslage wurde bisher aber von einer weiteren Gleichstellung abgesehen. Das ist bedauerlich und stellt uns deshalb heute vor besondere Herausforderungen. Offensichtlich gab und gibt es vereinzelt immer noch eine gesellschaftliche Vorstellung, wonach eine Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern gerechtfertigt sei. Das ist nicht akzeptabel. Der Ausschluss nichtehelicher Kinder vom gesetzlichen Erbrecht nach ihrem Vater und dessen Verwandten wird heute zu Recht einhellig als Unrecht angesehen. Das ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs. Die jetzt vorgeschlagene Änderung sieht vor, dass auch vor dem 1. Juli 1949 geborene nichteheliche Kinder, die bisher nicht gesetzliche Erben ihres Vaters und seiner Verwandten waren, künftig den ehelichen Kindern gleichgestellt werden. Dazu soll der bisherige Stichtag 1. Juli 1949 rückwirkend für Erbfälle aufgehoben werden, die nach dem 28. Mai 2009 eingetreten sind, also dem Tag, an dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden hatte, dass die bisherige Ungleichbehandlung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. In allen Erbfällen ab dem 29. Mai 2009 sind somit eheliche und nichteheliche Kinder erbrechtlich gleichgestellt. Für die Union ist es ein wichtiges Anliegen, jegliche Diskriminierung nichtehelicher Kinder ein für alle Mal zu beseitigen. In diesem Sinne haben wir, um nur ein Beispiel zu nennen, in der letzten Legislaturperiode die nichtehelichen Kinder auch im Bereich des Unterhaltsrechts gleichgestellt. Von diesem Gedanken lassen wir uns auch jetzt leiten. Unser Ziel ist daher, die Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder nicht nur für die Zukunft, sondern so weit wie möglich auch im Hinblick auf schon eingetretene Erbfälle zu beseitigen. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Auch aus Sicht der Union wäre eine uneingeschränkte Rückwirkung auf die Zeit vor dem 29. Mai 2009 wünschenswert gewesen. Die nichteheliche Geburt rechtfertigt keinerlei Ungleichbehandlung. In den Ausschussberatungen haben wir vor diesem Hintergrund intensiv die Frage einer weitergehenden Rückwirkung ge10604 prüft. Dieser Punkt war auch ein Schwerpunkt der Gespräche, die wir mit externen Experten im Rahmen eines erweiterten Berichterstattergesprächs geführt haben. Wir haben in diesem Zusammenhang auch intensiv alternative Lösungen geprüft und diskutiert. Ein vermittelnder Vorschlag bestand beispielsweise darin, dem nichtehelichen Kind nachträglich einen Anspruch gegen die Erben in Höhe des gesetzlichen Pflichtteils einzuräumen. Ein alternativer Vorschlag sah vor, den neuen Stichtag einige Jahre vorzuziehen. Im Ergebnis wurden diese Überlegungen jedoch dann insbesondere aus praktischen Erwägungen verworfen. Denn die nachträgliche Einbeziehung von Erbfällen, die teilweise schon viele Jahre zurückliegen, wäre mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden. Die betroffenen Erbfälle sind oftmals bereits rechtskräftig entschieden und auch abgewickelt. Diese Fälle nach einer langen Zeit nachträglich wieder aufzurollen, wäre rechtlich höchst kompliziert und, wenn überhaupt, nur äußerst schwer zu realisieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Ansprüche in den meisten Fällen nicht mehr durchsetzen ließen, da die Vermögenswerte nicht mehr vorhanden sein dürften und daher die Erben den Einwand der Entreicherung erheben könnten. Auf dieses Problem haben auch die Sachverständigen hingewiesen. Im Übrigen stehen einer weitergehenden Regelung verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot und den Vertrauensschutz der Erben entgegen. Darauf wurde auch von der Bundesregierung in der Gesetzesbegründung ausführlich hingewiesen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns im Ergebnis gegen eine weitergehende Rückwirkung auf die Zeit vor dem 29. Mai 2009 entschieden. Umso wichtiger ist es daher für uns gewesen, dass zumindest bei Erbfällen nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die nichtehelichen Kinder vollständig gleichgestellt werden. In diesem Sinne sieht die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vor, dass die im Regierungsentwurf vorgesehene Ausnahmeregelung, wonach erbrechtliche Ansprüche zwischen den weiteren Verwandten ausgeschlossen sein sollen, wenn am 29. Mai 2009 das nichteheliche Kind, der Vater und die Mutter schon verstorben waren, ersatzlos gestrichen wird. Aus unserer Sicht gibt es für eine solche Ausnahme keinen sachlichen Grund. Es wäre nicht nachzuvollziehen, wieso die Abkömmlinge des nichtehelichen Kindes in den beschriebenen Fallkonstellationen vom Erbrecht abgeschnitten und insofern gegenüber den Abkömmlingen der ehelichen Kinder benachteiligt sein sollten. Das würde die bisherige Diskriminierung der nichtehelichen Kinder lediglich perpetuieren. Ich denke, hier hat der Rechtsausschuss eine richtige und wichtige Änderung beschlossen. Wir haben uns im Rechtsausschuss auch mit der Frage befasst, ob das Gesetz zusätzlich um eine flankierende Regelung erweitert werden soll, die eine nachträgliche Anrechnung von Zuwendungen des nichtehelichen Vaters auf das Erbe des nichtehelichen Kindes ermöglicht. Dies wurde von einigen Sachverständigen angeregt. Im Ergebnis bestand hierfür jedoch aus unserer Sicht kein Bedarf. Sofern der Erblasser noch lebt, kann er durch Verfügungen unter Lebenden für Gerechtigkeit sorgen. In den Fällen, in denen der Erblasser bereits tot ist, erscheint eine solche Regelung ebenfalls nicht erforderlich, da eine Regelungslücke in den wenigen zu erwartenden Problemfällen durch richterliche Rechtsfortbildung geschlossen werden kann. In den Ausschussberatungen haben wir noch ein anderes Gesetz mit behandelt, und zwar konkret einen Vorschlag der Bundesregierung zur Änderung der ZPO. Die Ergänzung, die wir in das Gesetz eingefügt haben, betrifft die sogenannte Monatsanfangsproblematik beim Pfändungsschutzkonto. In der Praxis gibt es in diesem Zusammenhang ganz offenbar Anwendungsschwierigkeiten. Es geht dabei um die Auszahlung von nicht pfändbaren Beträgen, die dem Konto des Schuldners zum Monatsende gutgeschrieben werden, aber eigentlich erst für den Folgemonat bestimmt sind. Unklar ist in der Praxis, ob diese Beträge im Monat der Gutschrift oder erst im darauffolgenden Monat angerechnet werden. Um weitere Unsicherheiten zulasten der betroffenen Schuldner zu vermeiden, ist nunmehr eine gesetzliche Präzisierung vorgesehen. Demzufolge soll die Bank den überwiesenen Betrag zunächst bis zum Ende des auf den Zahlungseingang folgenden Kalendermonats zurückhalten und gegebenenfalls erst dann an den Gläubiger auskehren. Damit soll sichergestellt werden, dass Beträge, die der Existenzsicherung in einem bestimmten Monat dienen, den Empfängern auch in diesem Monat zur Verfügung stehen und nicht durch eine Weiterleitung an den Gläubiger entzogen werden. Insofern handelt es sich um eine technische Modifizierung, die im Interesse der Betroffenen Klarheit schafft. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungsvorschlägen des Rechtsausschusses einen guten Weg gefunden haben, um nichteheliche Kinder im Bereich des Erbrechts endlich gleichzustellen. Aus praktischen und verfassungsrechtlichen Gründen war eine weitergehende Rückwirkung leider nicht möglich. Insgesamt haben wir in guter und konstruktiver Zusammenarbeit eine überzeugende Lösung gefunden. Ich hoffe daher heute auf breite Zustimmung.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Recht und Gesetz müssen laufend an die gesellschaftliche Weiterentwicklung und an die aktuelle Lebenswirklichkeit angepasst werden. Leider mangelt es dem Gesetzgeber dabei immer einmal wieder an der notwendigen Konsequenz. Ein Beispiel hierfür ist die erbrechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder. Im Verlauf der Einführung des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder, NEhelG, vom 19. August 1969 wurde eine Ausnahmeregelung geschaffen, die dazu führte, dass vor dem 1. Juli 1949 geborene nichteheliche Kinder bis heute mit ihren Vätern als nicht verwandt gelten und daher auch kein gesetzliches Erbrecht haben. Bis heute wurde es versäumt, diese Zu Protokoll gegebene Reden Gruppe umfassend gleichzustellen. Die damit verbundene erbrechtliche Problematik ist seit langem bekannt, wie die hierzu eingereichten Petitionen belegen. Allerdings war erst eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nötig, um ein Gesetzgebungsverfahren in Gang zu setzen. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen es ausdrücklich, dass mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf die vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen den ehelichen Kindern für die Zukunft auch erbrechtlich gleichgestellt werden. Wir werden dem Gesetz daher zustimmen. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen wurde eine wichtige Korrektur vorgenommen: Das ab dem 29. Mai 2009 geltende Erbrecht wurde auch auf Verwandte des nichtehelichen Kindes und des Vaters ausgedehnt. Die Diskriminierung wegen nichtehelicher Geburt wird damit zumindest ab dem Stichtag der Urteilsverkündung durch den EGMR umfassend beseitigt. Der Stichtag ist allerdings der Knackpunkt des Gesetzes. Hier hätte ich mir ein mutigeres Datum als den 29. Mai 2009 gewünscht. Natürlich darf bei bereits eingetretenen und abgewickelten Erbfällen der Vertrauensschutz, den die gesetzlichen Erben genießen, nicht außer Acht gelassen werden. Eine weiterreichende Rückwirkung hätte zu erneuten Auseinandersetzungen bei schon abgewickelten Erbengemeinschaften führen können. Besonders schwierig wäre es zum Beispiel bei Fällen geworden, bei denen der Nachlass bereits verbraucht wurde. Dem Gesetzgeber sind hier aufgrund des Vertrauensschutzes auch verfassungsrechtlich sehr enge Grenzen gesetzt. In den unterschiedlichen Berichterstattergesprächen wurde aber aus meiner Sicht deutlich, dass zumindest eine Rückwirkung auf den 1. April 1998, dem Tag des Inkrafttretens des Erbrechtsgleichstellungsgesetzes, möglich und umsetzbar gewesen wäre. Erst seit 1998 wird ein nichteheliches Kind grundsätzlich Mitglied der Erbengemeinschaft. Bei vorhergehenden Erbfällen galt nur ein Erbersatzanspruch. Ein Weg wäre gewesen, bei Erbfällen zwischen April 1998 und Mai 2009 einen Anspruch in Anlehnung an den Pflichtteilsanspruch einzuräumen. Leider haben sich die Koalitionsfraktionen und das Bundesjustizministerium mit einer solchen, meiner Meinung nach gerechteren Lösung nicht anfreunden können. Auch zukünftig werden alle nichtehelich geborenen Menschen, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind und deren Väter bis zum 29. Mai 2009 verstorben sind, eben nicht erbrechtlich den ehelichen Kindern gleichgestellt. Noch ist nicht absehbar, wie der EGMR in dieser Frage zukünftig entscheiden wird. Zumindest in Fällen, in denen wie bei dem verhandelten Erbfall aus dem Jahr 1998 keine näherstehenden gesetzlichen Erben vorhanden sind, könnte der EGMR auch nach Verabschiedung dieses Gesetzes eine Konventionswidrigkeit feststellen. Alles in allem werden wir einige Menschen, die mit Petitionen oder sogar vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ihr Recht auf Gleichstellung eingefordert haben, mit der jetzigen Regelung leider nicht erreichen. Sie werden zu Recht enttäuscht sein. Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, darauf hinzuweisen, dass mit diesem Gesetzgebungsverfahren ein Weg gefunden wurde, um auch eine wichtige Weiterentwicklung im Bereich des Pfändungsschutzkontos schnell vorzunehmen. Die ersten Erfahrungen mit dem sogenannten P-Konto haben Anwendungsschwierigkeiten bei der Auszahlung von Beträgen gezeigt, die am Monatsende gutgeschrieben, aber für den Folgemonat bestimmt waren. Durch die gesetzliche Klarstellung werden nun im Interesse der Betroffenen bestehende Unsicherheiten ausgeräumt.

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt auf dem von Art. 6 Abs. 5 GG vorgegebenen Weg. Darin wird dem Gesetzgeber aufgetragen, für nichteheliche Kinder die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie für ehelich geborene Kinder. Diesem Ziel kommen wir im Erbrecht mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfes bedeutend näher. Rückwirkend ab dem 29. Mai 2009 werden nun nichtehelich geborene Kinder und auch deren Abkömmlinge im Erbrecht mit ehelich geborenen Kindern gleichgestellt. Dies ist nicht nur eine deutliche Verbesserung der Position unehelich geborener Kinder. Wir beheben damit auch den Verstoß gegen Art. 8 und Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 28. Mai 2009 festgestellt hatte. Ich habe bewusst gesagt, dass wir uns dem Ziel des Art. 6 Abs. 5 GG nähern. Eine Gleichstellung unehelicher Kinder auch für die Zeit vor dem 29. Mai 2009 ist aus Praktikabilitätsgründen und aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht möglich. Dies hätte nämlich zur Folge, dass zahlreiche bereits auseinandergesetzte Erbengemeinschaften wieder zusammentreten müssten, um sich erneut auseinanderzusetzen. Dabei würde sich dann die Frage stellen, was geschieht, wenn die Erbmasse im Falle einer Neuauseinandersetzung bereits verbraucht ist. Hier wurde teilweise vorgeschlagen, es könne eine Art Entreicherungseinrede eingeführt werden. Dies würde jedoch zu einem weiteren Gerechtigkeitsproblem führen: Derjenige, der den Nachlass bereits verschwendet hat, wäre dann besser gestellt als der Erbe, der eigentlich für seine eigene Familie vorsorgen wollte. Würde man den Ansatz einer vollständigen Gleichstellung konsequent zu Ende denken, müsste man dann auch die Frage klären, ob Erbansprüche vererbbar sind. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die bisherigen Erben auf den Schutz ihrer gewonnen Rechtsposition vertrauen durften. Zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht dies in seiner Entscheidung vom 20. November 2003 bestätigt. Eine Gleichstellung nichtehelicher Kinder auch für die Zeit vor dem 29. Mai 2009 würde diesen Vertrauensschutz zunichte machen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns nach intensiven Diskussionen daZu Protokoll gegebene Reden für entschieden, den 29. Mai 2009 als Stichtag für die Gleichstellung zu wählen. Der vorliegende Gesetzentwurf behandelt neben der Gleichstellung unehelich geborener Kinder im Erbrecht noch ein weiteres Thema. Die sogenannte Monatsanfangsproblematik war eine Folge des am 1. Juli 2010 in Kraft getretenen Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes. Sie tritt insbesondere dann auf, wenn einem Pfändungsschutzkonto eines Schuldners unpfändbare Beträge zum Monatsende gutgeschrieben werden und für den Folgemonat bestimmt sind. Ein Pfändungsschutzkonto sichert einem Schuldner gegenüber seinen Gläubigern einen monatlichen Mindestbetrag, den er zum Bestreiten seiner Existenz benötigt. Nach dem 1. Juli 2010 waren vermehrt Fälle aufgetreten, in denen Beträge, die zum Monatsende auf einem Pfändungsschutzkonto eingegangen und für den Folgemonat bestimmt waren, dem Schuldner letztlich nicht zur Verfügung standen. Das neue Gesetz regelt nun explizit, dass unpfändbare Beträge, die dem Pfändungsschutzkonto eines Schuldners zum Monatsende zufließen und für den Folgemonat bestimmt sind, von der Bank erst nach Ablauf des auf den Zahlungseingang folgenden Monats an den Gläubiger des Schuldners weitergeleitet werden dürfen. Diese Regelung schafft für alle Beteiligten Klarheit und ist ein wirksames Mittel gegen die Monatsanfangsproblematik. Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Gesetzentwurf vor diesem Hintergrund befürworten.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ungleichbehandlung beenden! Das war die Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor nunmehr knapp zwei Jahren. Dies bezog sich auf die bis dahin im deutschen Erbrecht vorgesehene Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden. Nach dem überarbeiteten Gesetzentwurf soll dies korrigiert werden und sollen alle vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kinder künftig auch gesetzliche Erben ihrer Väter werden. An der kuriosen Erbrechtsgeschichte hat sich nichts geändert; ich möchte sie nochmals anführen: Nichteheliche Kinder, die vor dem 01. Juli 1949 geboren sind, hatten nach der bislang gültigen Rechtslage grundsätzlich kein Erbrecht nach ihrem Vater und dessen Verwandten. Umgekehrt genauso: Auch der Vater des verstorbenen nichtehelichen Kindes konnte nicht dessen Erbe sein. Beide galten als nicht verwandt, Art. 12 § 10 Nichtehelichengesetz. Dies ist jetzt leider nicht umfassend, wie von der Linken gefordert, sondern nur teilweise geändert worden. Zunächst bestand die Hoffnung - da in den Berichterstattergesprächen sich fast alle Beteiligten fraktionsübergreifend einig waren -, nichteheliche Kinder und eheliche Kinder erbrechtlich umfassend gleichzustellen. Diese Hoffnung schwand, als die FDP dann wieder umfiel und sich gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner darauf einigte, die Fälle derart zu beschränken, dass das nur ab dem Stichtag der Verkündung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gelten soll. Wieder mal umgefallen! Deshalb bleiben, dank des Stichtages 29. Mai 2009, doch noch Ungerechtigkeiten, weshalb die deutlichen Verbesserungen im Gesetz nicht ausreichen, um dem Gesetz zustimmen zu können. Nach wie vor wird bei Kindern, welche in der DDR geboren sind, unterschiedlich gehandelt, soweit es das Erbrecht angeht. Denn nur, wenn der nichteheliche Vater seinen Aufenthalt auf dem Hoheitsgebiet der DDR hatte, war das Kind von ihm auch erbberechtigt. Dazu möchte ich zitieren: Der Vater des nichtehelichen Kindes hatte am 2. Oktober 1990 ({0}) seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der ehemaligen DDR. Dann ist auch auf einen späteren Erbfall das Erbrecht der DDR anzuwenden, wonach das nichteheliche Kind und der Vater gegenseitig erb- und pflichtteilsberechtigt sind, Art. 235 § 1 EGBGB; §§ 365, 367, 396 DDR-ZG. Der Aufenthalt des Kindes ist dabei nicht maßgeblich. Ich finde es schade, dass die ursprüngliche Mehrheit der Berichterstatter sich nicht durchsetzen konnte, die Stichtagsregelung entfallen zu lassen, um wirklich alle Kinder zu erfassen. Dass hier der Vertrauensschutz seitens des Ministeriums in den Vordergrund gespielt wurde, lässt Fragen offen, die auch nicht dadurch ausgehebelt werden, dass es bei Aufhebung des Stichtages zu neuen Ungerechtigkeiten kommen könnte. Insgesamt kann die Argumentation der Koalition meine Fraktion und mich nicht restlos überzeugen. Mit dem eingebrachten Änderungsantrag wurde zwar die erbrechtliche Gleichstellung auch auf die Nachkommen nichtehelicher Kinder erstreckt, wenn der nichteheliche Erblasser zum Zeitpunkt des Stichtages bereits verstorben war, und auch die sogenannte Monatsanfangsproblematik wurde durch die weiteren Ergänzungen beseitigt. Ob allerdings auch weiterhin gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen wird und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es zu weiteren Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR kommen kann, müssen gegebenenfalls die Gerichte prüfen. Bei all den positiven Änderungen, welche durch das Gesetz eingeführt werden, können wir dem Gesetz aber aus den vorgenannten Gründen nicht zustimmen.

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Heute beraten wir abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem zweiten Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder. Die Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf vorgelegt, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 28. Mai 2009 festgestellt hat, dass das geltende deutsche Erbrecht gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Denn nichteheliche Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind, sind im Erbrecht ehelichen Kindern nicht vollständig gleichgestellt. Deutschland wurde deshalb vom Europäischen Zu Protokoll gegebene Reden Gerichtshof für Menschenrechte zu einer Entschädigungszahlung an das betroffene nichteheliche Kind verpflichtet. Der Entscheidung lag ein Erbfall aus dem Jahre 1998 zugrunde. Für uns Grüne ist die Gleichstellung von nichtehelichen Kindern seit Jahren ein zentrales Anliegen. Wir begrüßen die - nach den Gesprächen im Rechtsausschuss durchaus vorgenommenen kleinen Änderungen an dem Gesetzentwurf. Sie stellen zumindest eine Verbesserung des ursprünglichen Entwurfs dar. Die Bundesregierung sieht in ihrem Entwurf aber lediglich eine erbrechtliche Gleichstellung von nichtehelichen Kindern vor, wenn der Erbfall nach dem 28. Mai 2009 eintritt. Somit werden nichteheliche Kinder, deren Väter vor dem 28. Mai 2009 verstorben sind, erbrechtlich nicht berücksichtigt. Uns Grünen erschließt sich die Argumentation der Bundesregierung nicht. Aus grüner Sicht gibt es keinen sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung. Wir fragen uns: Wieso soll eine Gleichbehandlung nur eintreten, wenn der Erbfall nach dem 28. Mai 2009 eingetreten ist? Die FDP begründet die Ungleichbehandlung mit angeblich bestehenden praktischen Problemen. Zahlreiche bereits abgewickelte Erbfälle müssten neu aufgerollt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der FDP, es geht um die Gleichstellung der nichtehelich geborenen Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind, also um Personen, die heute 62 Jahre und älter sind. Es geht somit nicht um eine unüberschaubare Anzahl von Fällen, die neu aufgerollt werden müssten. Alle jüngeren nichtehelichen Kinder sind bereits erbrechtlich gleichgestellt. In der Praxis des Erbrechts ist das Aufrollen von bereits abgewickelten Erbfällen auch nichts Neues. Das gibt es immer wieder. Anwaltschaft und Gerichte sind gewohnt, damit umzugehen. Ganz abgesehen davon darf der Arbeitsaufwand an Gerichten auch kein Argument sein, die grundrechtlich geschützte Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder einzuschränken. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der FDP, Sie führen weiter an, dass Gerechtigkeitsungleichgewichte aufträten, wenn derjenige, der den Nachlass verschwendet hat, bessergestellt wird als ein sparsamer Nachkomme. Der verschwenderische Erbe könne sich nämlich auf die Einrede der Entreicherung berufen. Der sparsame Erbe müsste sein Erbe teilen. Über dieses Argument kann man nachdenken. Allerdings sollte immer der Gesamtkontext im Blick behalten werden. Die Möglichkeit eines Erben, sich darauf zu berufen, dass er erbrechtliche Ansprüche nur aus einer noch vorhandenen Erbmasse erfüllen muss und nicht aus seinem sonstigen Privatvermögen, ist Ausdruck des Vertrauensschutzes des Erben. Der Vertrauensschutz ist ein Umstand, den wir bei der Abwägung berücksichtigen müssen. Hinzu kommt, dass die Einrede der Entreicherung bereits für das gesamte Zivilrecht und damit auch für das Erbrecht gilt. Somit sind nicht nur Fälle der Gleichstellung nichtehelicher Kinder betroffen. Vielmehr ist es ein allgemeiner zivilrechtlicher Ausdruck, dass derjenige, der das Vermögen gutgläubig verbraucht hat, nicht mehr zur Auszahlung oder Rückzahlung verpflichtet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der CDU/CSU, Sie begründen die kurze Rückwirkung bis zum 28. Mai 2009 damit, dass der Vertrauensschutz berücksichtigt werden müsse, der mit der Festlegung des Stichtags für die Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder auf den 1. Juli 1949 geschaffen wurde. Das ist sicher richtig. Allerdings muss auch dies im Rahmen einer Abwägung erfolgen. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil ausgeführt hat - ich zitiere -: Der Gerichtshof ist insbesondere der Auffassung, dass … der Gesichtspunkt des Schutzes des „Vertrauens“ des Erblassers und seiner Familie dem Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder unterzuordnen ist. Das bedeutet: Der Europäische Gerichtshof stellt die Gleichbehandlung der Kinder über den Vertrauensschutz des Erblassers und seiner Erben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung eine umfassende Abwägung zwischen den Interessen des nichtehelichen Kindes und den Interessen des Erblassers bzw. seiner Familie vorgenommen. Damit hat er dem deutschen Gesetzgeber viele Anhaltspunkte für eine mögliche Abwägung vorgegeben. Diese Anhaltspunkte müssen wir im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen. Wir können uns nicht zurücklehnen und zuschauen, wie der nächste Einzelfall von den höchsten Gerichten entschieden wird, um eine endgültige Gleichstellung von nichtehelichen und ehelichen Kindern zu erreichen. Hier ist auch entscheidend, dass der Erbfall, den der Europäische Gerichtshof zu beurteilen hatte, lange vor dem Stichtag lag, den die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf zugrunde legen will, nämlich bereits im Jahr 1998. Abschließend ist festzuhalten: Das Erbrecht ist sicherlich keine einfache Materie. Gleichwohl darf die Bundesregierung sich nicht ihrer Verantwortung entziehen, eine wirklich gerechte und ausgleichende Regelung für nichteheliche Kinder zu schaffen, zumal diese Kinder ihre personenstandsrechtliche Situation in keiner Weise mit verursacht haben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht in die richtige Richtung, er geht jedoch nicht weit genug. Wir werden uns bei der Abstimmung daher enthalten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4776, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3305 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Ent10608 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms haltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia Schmidt ({0}), Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste stoppen - Sicherstellung von Qualität, Transparenz und Effizienz - Drucksache 17/4847 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die SPD fordert in ihrem Antrag die Aufhebung der Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste. Im Folgenden möchte ich Ihnen, liebe Kollegen, darlegen, dass Sie mit Ihren Ausführungen zu dieser Forderung falsch liegen. Aufgrund der prognostizierten demografischen Entwicklung in unserem Land und dem daraus hervorgehenden Fachkräftemangel ist es unser Ziel, das Arbeitskräftepotenzial von schwerbehinderten Menschen zu aktivieren. Bisher ungenutzte Potenziale müssen intensiver für den Arbeitsmarkt genutzt werden, und nicht nur deshalb, sondern auch aufgrund unserer moralischen Verpflichtung, alle Menschen in unsere Gesellschaft zu integrieren und dafür zu sorgen, dass jeder die Möglichkeit hat, sich an unserem Gemeinwohl zu beteiligen und einen möglichen Beitrag dazu zu leisten und für diesen auch Wertschätzung zu erfahren. Die Bundesregierung prüft gerade in Abstimmung mit den Ländern, wie vorhandene Bundesmittel aus der Ausgleichsabgabe zur Verbesserung der Ausbildungs- und Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen genutzt werden können. Ein zentrales Element zur Eingliederung schwerbehinderter Menschen sind die Integrationsfachdienste, deren Leistung die Kolleginnen und Kollegen der SPD in ihrem Antrag zu Recht als eine „kontinuierliche hervorragende Arbeit in einer verlässlichen bundeseinheitlichen Struktur“ bewerten. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt auch weiterhin die Arbeit der Integrationsfachdienste und erkennt deren zentrale Bedeutung an. Grundsätzlich muss gesagt werden, dass die Bundesagentur für Arbeit Arbeitsmarktdienstleistungen im Rahmen des Vergaberechts beschafft, und dies gilt selbstverständlich auch für die Leistungen der Integrationsfachdienste zur Vermittlung schwerbehinderter Menschen - mit Ausnahme von Rehabilitationsleistungen, welche nach den §§ 111 und 113 SGB IX ausgenommen sind. Nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ist ein gleicher Zugang aller privaten Dienstleister zu öffentlichen Aufträgen im Rahmen wettbewerblicher Vergabeverfahren zu gewährleisten. Das Vergaberecht ist ein geeignetes Instrumentarium, um den erforderlichen Anforderungen an die zu erbringenden Dienste flexibel gerecht zu werden. Wir brauchen Dienstleister für diese bedeutungsvolle Aufgabe, die zuverlässig sind und die fachkundige und leistungsfähige Dienste anbieten. Und entscheidend hier ist nicht primär der Preis der Dienstleister. Entscheidend ist die im Interesse der schwerbehinderten Menschen erforderliche Qualität der Dienstleistung. Doch natürlich gibt es auch Sonderfälle. Kommt etwa für die Leistung aus besonderen Gründen nur ein Unternehmen in Betracht, wäre eine freihändige Vergabe auch ohne die Ermöglichung von Wettbewerb selbstverständlich zulässig. Daraus wird auch ersichtlich, dass beim Vergaberecht lediglich der Prozess der Vergabe festgelegt ist, nicht jedoch die Qualität der Leistung. Zudem erfolgt dadurch eine präzise Struktur der zu erbringenden Leistung. Eine Dynamik, Flexibilität und ein gewisser Druck an den ausführenden Dienstleister, eine zeitgemäße und dem aktuellen Forschungsstand gemäße Leistung anzubieten, ist zentral für eine erfolgreiche Integration schwerbehinderter Menschen. Demnach ist der Träger verpflichtet, mit Angebotsabgabe ein detailliertes inhaltliches Konzept vorzulegen, in welchem eventuelle behinderungsspezifische Besonderheiten der Teilnehmer zu berücksichtigen sind. Dazu gehört es, erstens eine Analyse und Aufarbeitung der Bewerberprofile durchzuführen, zweitens ein Bewerbercoaching-Konzept und Strategien zur Aktivierung von Eigenbemühen darzulegen, drittens Methoden aufzuzeigen, wie Teilnehmern ermöglicht werden kann, Teile der Maßnahmen bei einem Arbeitgeber zu absolvieren, und viertens ein Konzept zur Nachbetreuung vorzulegen. Zudem erfolgt eine weitere Systematisierung durch die Festlegung einer Präsenzzeit der Teilnehmer auf 15 Stunden; diese sind notwendig, um einen angemessenen Raum zu bieten, die komplexen inhaltlichen Anforderungen vermitteln zu können. Aber nicht nur inhaltlich werden wichtige Maßstäbe festgesetzt, sachgerechte Anforderungen werden auch an die technische Ausstattung gestellt. So muss der Stand der Technik den gesetzlichen Vorgaben, beispielsweise nach der Arbeitsstättenverordnung oder Bildschirmarbeitsverordnung, entsprechen. Der Antragsteller bemängelt eine fehlende Kontinuität durch das Vergaberecht. Eine Laufzeit der Verträge über einen Zeitraum von 33 Monaten gewährt durchaus eine verlässliche Planungssicherheit für die beauftragten Träger. Nach § 46 SGB III hat der Gesetzgeber in Abs. 4 Satz 1 vorgegeben: „Das Vergaberecht findet Anwendung.“ Im Antrag wird eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes zitiert, in welcher behauptet wird, dass der Absatz nur mit der Formulierung „Das Vergaberecht ist anzuwenden“ zwingendes Recht sein würde. Das vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“ geht im Gegenteil davon aus, dass die beiden Formulierungen eine identische Bedeutung haben. Ein Ermessen wird in der Regel durch das Wort „kann“ ausgedrückt, was hier nicht der Fall ist. Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass § 46 Abs. 4 Satz 1 SGB III einen deklaratorischen Verweis auf das Vergaberecht beinhaltet, welcher besagt, dass das Vergaberecht dann anwendbar ist, wenn die Voraussetzungen des Vergaberechts vorliegen. Diese liegen dann vor, wenn Verträge der Integrationsämter mit privaten Dritten abgeschlossen werden, sofern es sich nicht um Rehabilitationsleistungen handelt. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer Integrationsmaßnahme ist fachlich qualifiziertes und geschultes Personal. Durch die existierenden hohen Anforderungen an die Qualifikation des in der Maßnahme eingesetzten Personals in den Ausschreibungsunterlagen wird ein ausreichend hoher Qualitätsstandard für die Durchführung festgelegt. Den besonderen Bedürfnissen schwerbehinderter Menschen wird damit Rechnung getragen - nicht jedoch mit dem vorliegenden Antrag.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In ihrem Antrag plädiert die SPD für die Abschaffung der Ausschreibungspflicht für Integrationsfachdienste. Dem Antrag liegen dabei zwei Grundannahmen zugrunde, deren Beweis die Sozialdemokraten aber schuldig bleiben, erstens dass die Art der Vergabe über die Qualität der Integration von behinderten Menschen entscheidet und zweitens dass Integration von behinderten Menschen ausschließlich über die Integrationsfachdienste geleistet werden könne. Sozialrecht und Vergaberecht stehen meines Erachtens nicht im Widerspruch zueinander. Mit dem Vergaberecht steht uns ein Instrumentarium zur Verfügung, um auch den Anforderungen beim Einkauf von Diensten zur Erbringung von Sozialleistungen gerecht zu werden. Dies trifft sowohl auf die notwendigen Anforderungen an die Eignung bei der Auswahl fachkundiger, leistungsfähiger und zuverlässiger Dienstleister als auch auf die Ermittlung des im Hinblick auf die Qualität der Leistungserbringung wirtschaftlichsten Angebots zu. Der Preis allein ist dabei nicht entscheidend. Das Vergaberecht regelt lediglich den Prozess der Vertragsanbahnung. Um die Qualität auch bei der Ausführung der Leistung sicherzustellen, sind entsprechende vertragsrechtliche Regelungen, zum Beispiel Zielesteuerung, Kontrolle, Rückkopplung und Nachjustierung vorzusehen. Entscheidend sollte für uns alle sein, dass Integration gelingt, und nicht, durch wen. Nicht zuletzt haben wir nach Art. 3 Grundgesetz allen privaten Dienstleistern den gleichen Zugang zu öffentlichen Aufträgen im Rahmen wettbewerblicher Vergabeverfahren zu gewährleisten. Die vergaberechtliche Rechtsprechung stellte klar, dass Freihandvergaben nur an Einrichtungen möglich sind, die unmittelbarer Teil der staatlichen Verwaltung und daher vom Wettbewerb mit gewerblichen Unternehmen ausgeschlossen sind. Da Integrationsfachdienste keine staatlichen Regiebetriebe, sondern Dienste Dritter sind, stand die freihändige Vergabe für Auftragsvergaben der Bundesagentur für Arbeit an Integrationsfachdienste nicht mehr länger zur Verfügung. Schließlich wurden die entsprechenden Regelungen bei der Novellierung der VOL/A im Jahre 2009 gestrichen, weil sie mit großen rechtlichen Unsicherheiten behaftet waren und ihren Zweck, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, nicht mehr erfüllten. Von der geänderten Rechtslage ist aber nur ein Teil der Integrationsfachdienste betroffen. Nur in BadenWürttemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen haben bisher Integrationsfachdienste nahezu flächendeckend Leistungen zur Vermittlung schwerbehinderter Menschen erbracht. In Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz waren bzw. sind sie nur teilweise beauftragt. In anderen Ländern, in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, werden diese Leistungen durch andere Dienstleister am Markt erbracht. Das Vergaberecht ist nur ein Instrument zur Beschaffung der erforderlichen Ressourcen für die Erbringung der Sozialleistungen. Im Vordergrund steht daher die Frage, welche Leistungen benötigt werden und angeboten werden müssen. Die Qualitätskriterien spielen unter den Ausschreibungsbedingungen eine herausragende Rolle. Im Rahmen der Wertung der Angebote erhält die Qualität eine hohe Gewichtung im Verhältnis zum Preis, sodass die Position bewährter und kompetenter Maßnahmeträger im Ausschreibungsverfahren gestärkt wird. Vergleichbare Ausschreibungen zur Unterstützten Beschäftigung, bei denen bereits umfangreiche Qualitätsanforderungen an die Bieter gestellt worden sind, wurden auch von Verbänden, die Ausschreibungen tendenziell kritisch gegenüberstehen, inhaltlich grundsätzlich positiv gewürdigt. Es kann auch nicht gesagt werden, dass Integrationsfachdienste in ihrer Existenz bedroht sind, wenn sie bei einer Ausschreibung einmal nicht den Zuschlag bekommen. Im Übrigen bieten die komplexen Maßnahmepakete nach § 46 SGB III den Diensten die Chance, ein weit größeres Geschäftsfeld zu erschließen, als dies bei den reinen Vermittlungsleistungen der Fall war. Eine Evaluation sowohl der Ausschreibungen als auch der Umsetzung der Maßnahmen ist vorgesehen. Die Maßnahmen der beruflichen Eingliederung schwerbehinderter Menschen wurden erstmalig und unabhängig voneinander mit regional unterschiedlichen Zeitschienen im Herbst 2010 ausgeschrieben. Als Beginn der Maßnahmen war der 3. Januar 2011 vorgesehen. Eine erste inhaltliche Auswertung der Durchführungsqualität, insbesondere Analyse der Eingliederungsquoten, wird dann frühestens Ende 2012 erfolgen können. Zu Protokoll gegebene Reden Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Integrationsmaßnahmen ist fachlich qualifiziertes und geeignetes Personal. Zwar ist es vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs derzeit vergaberechtlich nicht möglich, Vorgaben an die Dienstleister zur Entlohnung ihrer Fachkräfte zu stellen, doch kann auch durch die Anforderungen an die Qualifikation des in der Maßnahme eingesetzten Personals im Rahmen der Ausschreibungsunterlagen ein ausreichend hoher Qualitätsstandard für die Durchführung bestimmt und damit den besonderen behinderungsbedingten Bedürfnissen der Teilnehmer Rechnung getragen werden. Darüber hinaus unterstützen sachgerechte Anforderungen an die technische Ausstattung, die dem Stand der Technik und den gesetzlichen Vorgaben entsprechen muss, die erfolgreiche Durchführung der Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung schwerbehinderter Menschen. Lassen sie uns nun gemeinsam die Evaluation der Ausschreibungspflicht abwarten! Uns eint das Ziel einer qualitativ hochwertigen und nachhaltigen Integration behinderter Menschen. Lassen sie uns dabei offen sein für neue Lösungen und Wege! Es geht um Integration und nicht um Ideologie. Entscheidend für uns ist, dass Integration gelingt, und nicht, durch wen.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Integrationsfachdienste wurden geschaffen, damit in dem Bereich der Vermittlung und Begleitung schwerbehinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine qualitativ hochwertige Dienstleistung und eine einheitliche und regional vernetzte Struktur gewährleistet werden können. Verantwortung dafür tragen die Rehabilitationsträger und die Integrationsämter gemeinsam. Menschen mit Behinderung sind auch selbst in diesen Diensten mitbeschäftigt und sorgen dafür, dass die Chancen auf Teilhabe am Arbeitsleben insgesamt steigen. Dabei arbeiten die IFD sehr erfolgreich: Sie bieten kompetente und individuell passgenaue Unterstützung für die Betroffenen und auch für die Arbeitgeber. Die IFD haben hervorragende Kontakte zu Arbeitgebern und können diesen erklären, wie man am besten einen schwerbehinderten Arbeitnehmer einstellt, können ihnen die Berührungsängste nehmen und sie bei der Einrichtung von barrierefreien Arbeitsplätzen unterstützen - das Erfolgsgeheimnis der IFD! So unterstützten die Integrationsfachdienste im Jahr 2007 rund 89 800 besonders betroffene schwerbehinderte Menschen. Im Jahr 2005 waren es noch 77 600. Bei 30 400 in 2007 schwerbehinderten Menschen genügte eine qualifizierte Beratung bzw. eine kurzzeitige Intervention, um den Integrationserfolg zu erzielen. 2005 waren es noch 26 500. Bei knapp 69 300 Personen war hingegen eine umfangreichere und auch längerfristige Begleitung erforderlich, um ein bestehendes Arbeitsverhältnis zu stabilisieren oder sie in ein neues zu vermitteln. 2005 waren das noch 51 000 Personen. Im Jahr 2009 haben die Integrationsfachdienste auf diesem Wege 7 324 schwerbehinderte Menschen in Arbeit vermittelt. Insgesamt stieg die Zahl der unterstützten Menschen mit Behinderungen von 2005 bis 2009 sogar um 29 Prozent - von 77 600 auf rund 100 000 Personen. Dabei ist besonders zu beachten, dass es sich bei den Klienten der IFD um eine sehr schwer vermittelbare Zielgruppe handelt: Es sind überwiegend Menschen mit einer schweren seelischen, geistigen oder körperlichen Behinderung, seh- oder hörgeschädigte schwerbehinderte Menschen sowie Menschen mit mehrfachen Behinderungen. Die Integrationsfachdienste leisten somit seit Jahren kontinuierlich hervorragende Arbeit in einer verlässlichen bundeseinheitlichen Struktur, auch wenn die Leistungen regional sehr unterschiedlich und durchaus ausbaufähig sind. Eine Weiterentwicklung des Systems ist jedoch einer Öffnung und Zerschlagung vorzuziehen. Eine Zerschlagung ist zu befürchten, da die Integrationsfachdienste seit vergangenem Jahr Aufträge für Vermittlungsleistungen durch die Bundesagentur für Arbeit nicht mehr freihändig erhalten, sondern sich dafür mit anderen Anbietern an Ausschreibungen beteiligen müssen. Die Anwendung der Ausschreibung für die Vergabe von IFD-Leistungen wird vom zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales fälschlicherweise für verbindlich und alternativlos gehalten. Ausschreibungen sind nicht grundsätzlich abzulehnen - das sage ich ganz bewusst -; sie sind uns ja zum Teil auch durch europäische und nationale Wettbewerbspolitik verordnet. Das gilt hier aber nicht, denn der Sozialbereich ist ausnahmsweise von Ausschreibungen auszunehmen; es herrscht hier kein freier Wettbewerb in einem freien Markt. Ökonomen sprechen von einem sogenannten Marktversagen. Der Sozialmarkt erfordert eigene Steuerungsformen. Nach unserer Auffassung lässt das Vergaberecht unter Beachtung des EU-Rechts grundsätzlich eine Ausnahme zu, denn die Staaten haben im Rahmen des EURechts nach wie vor die Verantwortung zur Steuerung und Gestaltung des Angebots und können begründete Ausnahmeregelungen setzen, wie dies in einzelnen Bereichen innerhalb der VOL/A auch vorgenommen wurde. Eine einfache Übertragung aus anderen Wirtschaftsbereichen ist nicht sachgerecht, und das wird hier konkret auch keinen Erfolg bringen. Ausschreibungen, wie wir sie aus der Praxis der Bundesagentur für Arbeit im Bereich der beruflichen Rehabilitation kennen, treiben seit Jahren Anbieter in einen Preiskampf und zerstören die Qualität, anstatt das vorhandene, nachgewiesenermaßen erfolgreiche System beruflicher Teilhabe weiterzuentwickeln. Die Ausschreibung von Leistungen in dem Bereich der individuellen Dienstleistungen für schwerbehinderte Menschen ist völlig ungeeignet, erfolgreich die Vermittlung und Begleitung am Arbeitsmarkt zu organisieren. Häufige Trägerwechsel, die den Vermittlungserfolg durch Übergangszeiten und neu zu knüpfende Kontakte zu Unternehmen und Verwaltung behindern, sind für die Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kontraproduktiv. Erforderlich ist vielmehr eine kontinuierliche und verlässliche Leistung Zu Protokoll gegebene Reden Silvia Schmidt ({0}) beginnend von der ersten Kontaktaufnahme über die Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bis hin zu den begleitenden Hilfen. Es gibt keinen Nachweis - und auch das zuständige Ministerium konnte ihn bisher nicht erbringen -, dass Ausschreibungen generell und so, wie von der BA im Speziellen durchgeführt, tatsächlich zu einer gesteigerten Ergebnisqualität führen. Solange dieser Nachweis nicht da ist und immer nur beschworen wird, lehnt die SPD-Bundestagsfraktion Ausschreibungen im Bereich der Rehabilitation ab. Lassen Sie uns gemeinsam darüber diskutieren, wie das Rehasystem weiterzuentwickeln ist, anstatt weiter der Ausschreibungsideologie anzuhängen! Die Ausschreibung ist somit nicht nur ein Systembruch, sondern, was mindestens genauso schwer wiegt: Die Ministerialbürokratie versucht mindestens seit 2009, das Parlament in dieser Frage auszuklammern. Wie unser Antrag aufzeigt, wurde der Gesetzgeber weder durch die Berichte zur Rehabilitation oder zur Lage der Menschen mit Behinderung noch durch Informationen für den Ausschuss oder Berichterstattungen informiert. Erst im März 2010, als die Änderung der Vergabeordnung durch das BMAS längst beschlossen war und das Inkrafttreten zum 1. Mai nicht mehr aufgehalten werden konnte, hat man eine nachträgliche Rechtfertigung ausgearbeitet. Dieses Verhalten kann für den Gesetzgeber nicht akzeptabel sein - das sage ich auch in Richtung meiner Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen -; denn es hebelt eine gesetzlich verankerte Struktur auf dem Verordnungswege aus - ohne jede Chance der politischen Steuerung durch das Parlament. Was wird die Folge sein? Fachlich wird die Qualität in der Vermittlung sinken, weil sich künftig viele andere, nicht qualifizierte Anbieter mitbewerben dürfen. Die IFD sind aber nur der Anfang - es kommen nach und nach alle ambulanten Leistungen unter Beschuss, und es besteht die Gefahr, dass bisher stationäre Leistungen zu ambulanten umgewidmet und für die Ausschreibung geöffnet werden. Das nehmen wir nicht hin und werben mit unserem Antrag dafür, hier einen anderen Weg zu gehen und die Einheitlichkeit des SGB IX zu stärken. Das Beste kommt wie immer zum Schluss: Es gibt einen einstimmigen Beschluss der Arbeits- und Sozialminister, der das Anliegen unseres Antrages unterstützt. Ich rate daher, sich in dieser Sache nicht Äpfel für Birnen verkaufen zu lassen. In dem Beschluss und in unserem Antrag steht es richtig: Freihändige Vergabe muss wieder ermöglicht werden, die Ausschreibungspflicht muss gestoppt werden. Jeder Abgeordnete sollte die IFD im Wahlkreis auch einfach mal besuchen und sich anschauen, wie da gearbeitet wird und was da an Kompetenz zur Arbeitsmarktintegration vorhanden ist. Die Diskussion im Ausschuss wird zeigen, ob wir gemeinsam das bestehende System weiterentwickeln können oder ob die Marktideologie sich hier Bahn bricht und uns ein bewährtes System kaputtmacht.

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Frage, wie Menschen mit Behinderung einen für sie passenden Arbeitsplatz finden, ist zentral. Selber Geld zu verdienen, davon leben zu können und selber bestimmen zu können, wie das Leben gestaltet sein soll, macht unabhängig. Jeder Mensch soll unabhängig von seinem Handicap entscheiden können, wie er sein Leben gestalten möchte. Für mich als Liberale ist das ein zentraler Ansatz unserer Politik für Menschen mit Behinderung. Gerade Menschen mit Behinderung müssen besondere Anstrengungen unternehmen, um ihr Leben so gestalten zu können, wie sie es sich selber wünschen. Einen Arbeitsplatz zu haben, auch außerhalb des geschützten Raumes einer Werkstatt, ist ein wesentlicher Teil eines selbstbestimmten Lebens. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass Menschen mit Behinderung arbeiten wollen und hochmotiviert sind. Sie dabei zu unterstützen, einen für sie passenden Arbeitsplatz zu finden, muss bereits in der Schule beginnen. Beratung und Betreuung ist dann effizient, wenn sie die individuelle Behinderung berücksichtigt und Möglichkeiten aufzeigt, ein Arbeitsverhältnis aufzunehmen oder fortzuführen, zum Beispiel durch technische Hilfsmittel oder durch die Anpassung des Arbeitsplatzes. Theoriereduzierte Ausbildungsgänge sowie modulare Ausbildungsgänge bieten zum Beispiel lernbehinderten Menschen die Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren und einen Abschluss zu erlangen. Auch Unternehmen könnten durch gezieltes Jobcoaching ermutigt werden, Menschen mit Behinderung einzustellen. Integrationsfachdienste haben die Aufgabe übernommen, Menschen mit Behinderung bei Eingliederung und Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu unterstützen. Sie sitzen an der Schnittstelle von Unternehmen und zukünftigen Arbeitnehmern und haben somit eine wichtige Mittlerrolle. Im Jahr 2009 erfolgte die Anpassung des deutschen Vergaberechts an europarechtliche Vorgaben. Die Änderungen in der Vergabeordnung für Leistungen haben dazu geführt, dass die freihändige Vergabe von Integrationsfachdiensten nicht mehr möglich ist. Bisher wurde dieser Ausnahmetatbestand durch die Vergabeordnung für Leistungen gestützt. Das bedeutet, dass künftige Maßnahmen zur Eingliederung von Menschen mit Behinderung grundsätzlich nach § 46 SGB III von der Bundesagentur für Arbeit öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Eine große Diskussion wurde mit dieser gesetzlichen Neuregelung ausgelöst. Die Kritiker befürchten, dass durch die Ausschreibung der qualitativ hohe Standard der Arbeit der Integrationsfachdienste leidet und viele sich nicht behaupten können. Diese Befürchtung ist nicht haltbar. Eine Ausschreibung muss durchaus kein Nachteil sein, wie es aber auch der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion suggeriert. Ich möchte kurz daran erinnern, was der Sinn und das Ziel öffentlicher Ausschreibungen ist. Eine AusZu Protokoll gegebene Reden schreibung ist ein Teil des Verfahrens zur Vergabe von Aufträgen im Wettbewerb. Ihr Ziel ist es, eine möglichst passgenaue, qualitativ gute oder hochwertige Leistung zu bekommen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales steht zu dem Grundsatz der Ausschreibung. Im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik gibt es drei Zielsetzungen, die eine Ausschreibung erfüllen muss: Effektivität, Qualität und Wirtschaftlichkeit. Damit wird gewährleistet, dass der Kunde, in diesem Fall ein Mensch mit Behinderung, der arbeiten möchte und hierbei Unterstützung braucht, bestmöglich beraten wird. Wenn Anbieter an einem Ort gute Beratung leisten, dann werden sie dies auch zukünftig tun können. Entscheidend ist dabei auch der Aspekt der Nachhaltigkeit. Nicht der kurzfristige Vermittlungserfolg zählt, sondern das langfristige Arbeitsverhältnis eines Unternehmens mit einem Arbeitnehmer mit Behinderung. Und Integrationsfachdienste leisten in der Tat gute Arbeit. Das belegen die Vermittlungszahlen. Insofern sind die Befürchtungen der Integrationsfachdienste, bei öffentlichen Ausschreibungen nicht mehr berücksichtigt zu werden, nicht zutreffend. Gute Leistung wird sich auch weiterhin durchsetzen. Die Kritik an der Ausschreibung berücksichtigt überdies nicht, dass das Vergabeverfahren nicht willkürlich erfolgt, sondern anhand festgelegter Prüfkriterien. Die Anbieter müssen nachweisen, dass sie über umfassende aktuelle fachliche Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten für die zu erbringende Leistung verfügen. Dies heißt beispielsweise: Um einen Zuschlag zu erhalten, müssen entweder innerhalb der letzten drei Jahre vergleichbare Leistungen durchgeführt worden sein oder muss das Personal bereits solche Beratungen durchgeführt haben. Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt eingehen: die regionale Ausprägung. Damit Menschen mit Behinderung eine kompetente Beratung erhalten, bewertet die örtliche Agentur bzw. der Träger der Grundsicherung die vorliegenden Angebote. Es ist sehr sinnvoll, diese Bewertung nicht zentral vorzunehmen, da ein Vertreter vor Ort die lokalen Besonderheiten kennt und beurteilen kann, ob das unterbreitete Angebot passend ist. Schließlich ist auch jedes Bundesland mit seinen Integrationsfachdiensten unterschiedlich aufgestellt. In Nordrhein-Westfalen sind sie sehr häufig bei der Vermittlung von Menschen mit Behinderung einbezogen, genauso auch in Baden-Württemberg oder Bayern. Generell lässt sich aber festhalten, dass die Unterschiede in der Vermittlung nicht davon abhängen, ob ein Integrationsfachdienst eingeschaltet ist oder nicht. Damit ist die Aussage, die gerne in diesem Zusammenhang ins Feld geführt wird, widerlegt: dass allein und ausschließlich ein Integrationsfachdienst, der langjährig in der Region tätig ist und über entsprechende Strukturen verfügt, der richtige Arbeitsvermittler für Menschen mit Behinderung ist. Mir ist wichtig, festzuhalten, dass die Qualität der Vermittlung unter den geänderten Vergabebedingungen nicht geringer sein wird als zuvor. Das ist schließlich der entscheidende Punkt. Ganz grundsätzlich begrüßt die FDP das Mehr an Wettbewerb. Gute und kompetente Leistung wird sich durchsetzen. Dies ist in jedem Fall im Sinne der Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der vorliegende Antrag versucht, zu verhindern, dass ein seit langem bestehendes Problem größer wird: die Vermittlung von schwerbehinderten Menschen auf den regulären Arbeitsmarkt. Die Linke spricht sich seit langem gegen den Wettbewerb im Bereich Arbeitsvermittlung, Weiterbildung und Arbeitsplatzsicherung aus. Vor diesem Hintergrund befürwortete die Linke die freihändige Vergabe von Mitteln durch die Arbeitsagentur an die Integrationsfachdienste. Dafür gibt es gute Gründe: Die erfolgreiche und dauerhafte Vermittlung von Menschen mit schweren Behinderungen auf den regulären Arbeitsmarkt bleibt schwierig. Die Krise hat bestehende Hindernisse noch verschärft und vermehrt. Die UN-Konvention jedoch schreibt ausdrücklich soziale Teilhabe als individuelles Recht von Menschen mit Behinderung fest. In Art. 27 „Arbeit und Beschäftigung“ schreibt sie vor, staatlich zu sichern und zu fördern, dass behinderte Menschen in einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei wählen können. Diese Gleichstellung gilt auch hinsichtlich des Entgelts. Das für dieses Ziel in den letzten Jahren entwickelte Instrument sind die Integrationsfachdienste. Sie sichern Kontinuität in der Vermittlung. Hier ist Sachverstand versammelt. Hier wuchsen in den letzten Jahren vertrauensvolle Kontakte. Integrationsfachdienste begleiten behinderte Menschen von der Schule bis in die Unternehmen. Durch öffentliche Ausschreibung entsteht die Gefahr, dass Leistungsangebote mit nur befristet angestellten Fachkräften gewinnen, weil kein Anbieter weiß, wie lange er sich am Markt behaupten wird. Es wird der billigste Anbieter dominieren, der wahrscheinlich Dumpinglöhne zahlt, und es besteht die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen in nur arbeitnehmerähnlichen Verhältnissen an den regulären Arbeitsmarkt ausgeliehen werden. Dr. Richard Auernheimer, ehemaliger Staatssekretär in Rheinland-Pfalz, schätzt in einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 3. Mai 2010 zur Drucksache 16/13829 gegenüber der Bundesregierung ein: Die Ausschreibung führt zu einer neuen Struktur von Anbietern, die wirtschaftlich in der Lage sind, überall in der Bundesrepublik anzubieten und aufzutreten. Das Sozialraum-Prinzip wird damit aufgehoben, bevor es überhaupt umgesetzt werden kann. Was vermieden werden sollte, entsteht neu. Nämlich ein von den Anbietern vorbestimmtes Geschehen. Wir sollten alles vermeiden, was die Integrationsfachdienste schwächt oder über marktwirtschaftliche Mechanismen abschafft. Die Gefahr, dass über öffentliZu Protokoll gegebene Reden che Ausschreibungen mehr zerstört als produktiv gemacht wird, ist groß. Wenn Sachverstand, Fachkenntnis und vertrauensvolle Beziehungen erst einmal zerstört sind, wird es sehr schwer, sie wieder zusammenzubringen. Das beweisen die Änderungen in den rechtlichen Regelungen zur Arbeitsvermittlung der letzten Jahre. Der vorliegende Antrag versucht, eine solche Auflösung gewachsener Strukturen zu verhindern. Deshalb wird die Fraktion Die Linke den vorliegenden Antrag in den Ausschüssen konstruktiv diskutieren.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Heute sprechen wir über ein sehr erfolgreiches Instrument zur Vermittlung und Begleitung von behinderten Menschen mit besonderen Problemlagen in den ersten Arbeitsmarkt: die Integrationsfachdienste, IFD. Integrationsfachdienste arbeiten träger- und schnittstellenübergreifend und bieten eine Komplexleistung an, die ein ganzes Bündel am Unterstützungsmaßnahmen beinhaltet. Der Gesetzgeber hat mit der Verankerung der IFDs in das SGB IX im Jahr 2000 einen umfassenden Auftrag beschrieben, den es sich lohnt, nochmals genau vor Augen zu führen. So heißt es gemäß § 110 SGB IX wie folgt: ({0}) Die Integrationsfachdienste können zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben ({1}) beteiligt werden, indem sie 1. die schwerbehinderten Menschen beraten, unterstützen und auf geeignete Arbeitsplätze vermitteln, 2. die Arbeitgeber informieren, beraten und ihnen Hilfe leisten. ({2}) Zu den Aufgaben des Integrationsfachdienstes gehört es, 1. die Fähigkeiten der zugewiesenen schwerbehinderten Menschen zu bewerten und einzuschätzen und dabei ein individuelles Fähigkeits-, Leistungsund Interessenprofil zur Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt in enger Kooperation mit den schwerbehinderten Menschen, dem Auftraggeber und der abgebenden Einrichtung der schulischen oder beruflichen Bildung oder Rehabilitation zu erarbeiten, 1a. die Bundesagentur für Arbeit auf deren Anforderung bei der Berufsorientierung und Berufsberatung in den Schulen einschließlich der auf jeden einzelnen Jugendlichen bezogenen Dokumentation der Ergebnisse zu unterstützen, 1b. die betriebliche Ausbildung schwerbehinderter, insbesondere seelisch und lernbehinderter Jugendlicher zu begleiten, 2. geeignete Arbeitsplätze ({3}) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erschließen, 3. die schwerbehinderten Menschen auf die vorgesehenen Arbeitsplätze vorzubereiten, 4. die schwerbehinderten Menschen, solange erforderlich, am Arbeitsplatz oder beim Training der berufspraktischen Fähigkeiten am konkreten Arbeitsplatz zu begleiten, 5. mit Zustimmung des schwerbehinderten Menschen die Mitarbeiter im Betrieb oder in der Dienststelle über Art und Auswirkungen der Behinderung und über entsprechende Verhaltensregeln zu informieren und zu beraten, 6. eine Nachbetreuung, Krisenintervention oder psychosoziale Betreuung durchzuführen sowie 7. als Ansprechpartner für die Arbeitgeber zur Verfügung zu stehen, über die Leistungen für die Arbeitgeber zu informieren und für die Arbeitgeber diese Leistungen abzuklären, 8. in Zusammenarbeit mit den Rehabilitationsträgern und den Integrationsämtern die für den schwerbehinderten Menschen benötigten Leistungen zu klären und bei der Beantragung zu unterstützen. Für die Beauftragung der Integrationsfachdienste sind gemäß § 111 SGB IX die Integrationsämter oder die zuständigen Rehabilitationsträger verantwortlich. Der Jahresbericht 2009/2010 der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, BIH, zeigt, dass die Nachfrage bei den Integrationsämtern kontinuierlich steigt. So stieg die Zahl der unterstützten Menschen mit Behinderungen von 2005 bis 2009 um 29 Prozent, von etwa 77 600 auf rund 100 000 Personen. Weiter heißt es in dem Bericht, dass die Vermittlungsquote in eine Beschäftigung bei durchschnittlich 31,7 Prozent liegt, somit konnten im Jahr 2009 7 324 schwerbehinderte Menschen vermittelt werden. 450 waren hierbei Schulabgänger oder Mitarbeiter einer Werkstatt für behinderte Menschen. Die Zahl der zu sichernden Arbeitslätze ist in den letzten vier Jahren angestiegen. Im Jahr 2009 wurden 11 027 Menschen in Arbeit betreut, rund 75 Prozent konnten erfolgreich gesichert werden. Dass auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber den Integrationsfachdienst in den letzten Jahren immer mehr zu schätzen wissen, zeigt die Zahl der unmittelbaren Nachfragen aus den Betrieben und Dienststellen. So besagt der BIH-Jahresbericht, dass diese Zahl von 5 557 Fällen im Jahr 2005 auf 7 332 Fälle im Jahr 2009 gestiegen ist. Die Bundesagentur für Arbeit, BA, ist im Gegensatz zu den Integrationsämtern nur noch für den Bereich der Vermittlung zuständig. Im Rückblick war es allerdings ein Fehler, dass der Gesetzgeber die Leistung aufgeteilt und die BA nicht mehr als Auftraggeber eines umfassenden Integrationsfachdienstes vorgesehen hat. Problematisch blieb in all den Jahren zudem die Beauftragung und Finanzierung durch die Bundesagentur für Arbeit, BA, sowie durch die SGB-II-Träger. Der in der Produktinformation zu § 37 SGB III bzw. § 16 SGB II vereinbarte monatliche Grundbetrag reichte in der Vergangenheit kontinuierlich nicht aus, um kostendeckend zu wirtschaften. Nichtsdestotrotz hob nicht zuletzt der Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Zu Protokoll gegebene Reden Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe vom 17. Juli 2009 ({4}) die guten Arbeitsergebnisse der Integrationsfachdienste hervor. Dies sei insbesondere „angesichts der Tatsache, dass zum 1. Januar 2005 die Strukturverantwortung für die Integrationsfachdienste von der Bundesagentur für Arbeit auf die Integrationsämter übergegangen ist und organisatorische Änderungen die Folge waren“, bemerkenswert. Anstatt nun jedoch kontinuierlich an einer weiteren Verbesserung der Rahmenbedingungen zu arbeiten, kündigte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor einigen Monaten an, die Integrationsfachdienste fortan nicht mehr über die sogenannte freihändige Vergabe, sondern über den Weg der öffentlichen Ausschreibung zu beschaffen. Als Folge dieser Ankündigung brach im vergangenen Jahr ein regelrechter Sturm der Entrüstung und Empörung aufseiten der Träger der Integrationsfachdienste, Integrationsämtern und der Verbände der Menschen mit Behinderungen los. Dies war nicht verwunderlich, zeigten doch Erfahrungen mit öffentlichen Ausschreibungen durch die Bundesagentur für Arbeit, dass diese in den vergangenen Jahren viel zu häufig negativ waren. Nicht nur in Einzelfällen ist es etwa zu erheblichen Einbußen insbesondere bei der Vergütung des Personals, aber auch bei der Qualität und Verlässlichkeit gekommen. Aus diesem Grunde bewerten auch Bündnis 90/Die Grünen seit Jahren die Ausschreibungspraxis durch die Bundesagentur kritisch. Das Instrument der öffentlichen Ausschreibung kann zwar - vernünftig angewendet - durchaus sinnvoll sein, um Wirtschaftlichkeit und Vergleichbarkeit der Leistungserbringer sicherzustellen. Es bestehen aber begründete Zweifel, ob gerade die Ausschreibungen im Bereich der Weiterbildung, Rehabilitation und Beschäftigungsförderung vorrangig der Qualitätssicherung und nicht nur der Kostenreduzierung dienen. Mit der Ankündigung der Bundesregierung, künftig öffentlich auszuschreiben, gingen sodann viele Auseinandersetzungen und Unterrichtungen im federführenden Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales einher, die Bündnis 90/Die Grünen initiierten. Ich habe in diesem Zusammenhang mehrere Aufträge an den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages vergeben, um herauszufinden, ob die öffentliche Ausschreibung aus vergabeund europarechtlichen Gründen alternativlos sei, wie die Bundesregierung stets behauptete. Eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zur Anwendung des Vergaberechts nach § 46 SGB III bestätigte hierbei unsere Rechtsauffassung, wonach eine öffentliche Ausschreibung von Leistungen Dritter - hier die Integrationsfachdienste - keineswegs „alternativlos“ sei. Zwar ist die öffentliche Ausschreibung von Rehabilitationsdienstleistungen nicht verboten. Sie ist aber auch in keinem Fall zwingend geboten und bedarf der sorgfältigen Abwägung und Prüfung im Einzelfall. Unabhängig von dieser rechtlichen Frage scheint die öffentliche Ausschreibung schlichtweg politisch gewollt. Das geht unzweideutig aus der von uns Grünen angeforderten Unterrichtung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, aus dem Mai 2010 hervor. Nach Auffassung des Ministeriums seien die Integrationsfachdienste bei der Vermittlung schwerbehinderter Menschen in Arbeit schon heute regional unterschiedlich erfolgreich. Daher sei der Einwand nichtig, eine offene Ausschreibung „bedeute den Abschied vom Gedanken des einheitlichen IFD“ und gefährde somit letztlich die Qualität. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht sogar davon aus, dass offene Ausschreibungen, sofern die Ausschreibungsunterlagen eine gute Qualität der Maßnahmen sicherstellten, mittelfristig „eher zu einem besseren Dienstleistungsniveau führen“. Nicht nur aufgrund der aktuellen Ereignisse rund um die Vergabe der Leistungen der Integrationsfachdienste ist es erforderlich, noch einmal grundlegend über die Ausschreibungspraxis der Bundesagentur für Arbeit zu sprechen und unter sachlichen Gesichtspunkten zu entscheiden: Während in den 90er-Jahren arbeitsmarktbezogene Maßnahmen grundsätzlich freihändig vergeben wurden, werden seit dem Sommer 2003 Arbeitsmarktdienstleistungen vermehrt über den Weg der öffentlichen Auftragsvergabe beschafft. Der Anteil der im Bereich Arbeitsmarktdienstleistungen durchgeführten öffentlichen Ausschreibungen lag im Jahr 2009 bei rund 80 Prozent. Neben Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 46 SGB III werden derzeit etwa Maßnahmen im Bereich der beruflichen Rehabilitation - Diagnose Arbeitsmarktfähigkeit, DIA-AM, nach § 33 SGB IX und Unterstützte Beschäftigung nach § 38 a SGB IX - oder Fördermaßnahmen für Jugendliche - BvB, abH, BaE, AQJ - öffentlich ausgeschrieben. Die fünf Regionalen Einkaufszentren, REZ, in Deutschland schreiben hierfür die Leistungen anhand sogenannter Verdingungsunterlagen aus. Letztere umfassen alle vergaberelevanten Aspekte des Leistungsumfangs, der Bieterauswahl, der laufenden Berichterstattung während der Beauftragungen usw. Die Arbeitsagenturen vor Ort bestellen bei den REZ ihre Maßnahmen. Ziel der öffentlichen Auftragsvergabe war und ist eine höhere Wirtschaftlichkeit und Qualität in der Leistungserbringung sowie Transparenz bei der Auftragsverteilung. Bündnis 90/Die Grünen haben wie bereits beschrieben den Prozess der Beschaffung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen über die öffentliche Auftragsvergabe stets kritisch begleitet. Auch wenn wir die Ziele einer öffentlichen Ausschreibung nach mehr Wirtschaftlichkeit, Qualität und Transparenz - verbunden mit der Hoffnung nach Einbindung kleiner, regionaler Anbieter, zielgruppenspezifischer Angebote und hoher Planungssicherheit für die Träger - stets unterstützten und für richtig erachten, haben wir mögliche Alternativen der Auftragsbeschaffung nie aus den Augen verloren. Ein Grünes Fachgespräch „Optimierung der Vergabepraxis arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen - Das aktuelle Vergabeverfahren der Bundesagentur für Arbeit auf dem Prüfstand“ vom 10. Mai 2006 offenbarte immer wieder die Schwachstellen der öffentlichen Ausschreibung. Diese scheinen nunmehr auch fünf Jahre nach diesem Zu Protokoll gegebene Reden Fachgespräch nicht ausgeräumt, sodass wir über Alternativen sprechen sollten. Ich bin der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit e. V., bag arbeit, dem Zusammenschluss von fast 400 Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen in Deutschland, dankbar für ihre Reforminitiative zum Vergaberecht. Die bag arbeit schlägt vor, die öffentliche Ausschreibung durch ein Mix aus Präqualifizierungsverfahren, beschränkter Ausschreibung und freihändiger Vergabe zu ersetzen. Voraussetzung für alle Vergabeverfahren sollte nach Ansicht der bag arbeit die Durchführung eines vorgeschalteten Zulassungsverfahrens zur Zertifizierung der Träger - sogenanntes Präqualifizierungsverfahren - sein. Hierdurch könnten die Verwaltungsaufwendungen reduziert und Qualitätsstandards verbessert werden. Außerdem möchte die bag arbeit, dass die Trennung zwischen Besteller - Arbeitsagentur - und Einkäufer - Einkaufszentren - wieder aufgehoben wird und die Federführung an den lokalen Bedarfsträger übergeht, da dieser am besten die Förderbedarfe der Teilnehmer berücksichtigt und die Leistungsfähigkeit der Anbieter kennt. Für die Vergabe der Maßnahmen selbst schlägt die bag arbeit eine Zweiteilung vor: Für Maßnahmen, die abschließend beschreibbar sind, sollte ein beschränktes Ausschreibungsverfahren zur Anwendung kommen. Maßnahmen jedoch, die nicht abschließend beschreibbar sind - dies betrifft insbesondere Maßnahmen mit innovativen Elementen werden über die freihändige Vergabe beschafft. Hierbei sollen in der Regel drei geeignete Träger aufgefordert werden, ein Angebot abzugeben. Zwar sieht die bag arbeit ihren Vorschlag im Einklang mit der VOL/A 2009, damit gemäß Vergaberecht aber nicht in jedem Einzelfall eine Begründung für die Wahl einer beschränkten Ausschreibung erfolgen muss, empfehlen sie jedoch eine Klarstellung des Verordnungsgebers in einer Neufassung der VOL/A 2011. Ich denke, dass wir auf der Grundlage der Reforminitiative der bag arbeit in den kommenden Monaten mit allen relevanten Akteuren ins Gespräch kommen sollten, um gemeinsam über mögliche Alternativen zu diskutieren. Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderungen ist weiterhin prekär. Es ist besorgniserregend, dass vor diesem Hintergrund die Integrationsämter mit der Veränderung des Vergabeverfahrens keine Grundlage mehr sehen, Vermittlungskräfte wie bisher bei den Integrationsfachdiensten vorzuhalten. Ich habe die große Sorge, dass wir hier ein Instrument kaputtmachen, das doch vorweisbar erfolgreich und ermutigend war und ist. In unruhigen schwarz-gelben Zeiten, in der der Bundesagentur Milliarden gekürzt werden und eine Kürzung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen unter dem Stichwort „Evaluation“ droht, heißt es, ganz besonders wachsam zu sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4847 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 16. April 2009 über die Änderungen des Übereinkommens vom 5. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Republik Polen über das Multinationale Korps Nordost - Drucksache 17/4809 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten heute die Vereinbarung vom 16. April 2009 zwischen Deutschland, Dänemark und Polen, die Veränderungen der Aufgaben dieses Stabes „Multinationales Korps Nordost“ in Stettin und Veränderungen des Status dieses Hauptquartiers im Rahmen der NATOKommandostruktur festschreibt. Erlauben Sie einen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Korpsstabes: Er entstand 1999 aus dem deutsch-dänischen Korpsstab Jütland, COMLANDJUT, der bis dahin in Rendsburg, Schleswig-Holstein, stationiert gewesen war. Dieser Stab hatte im Rahmen der Bündnisverteidigung die Aufgabe, im Verteidigungsfall die Halbinsel Jütland als gemeinsame deutsch-dänische Aufgabe zu verteidigen. Nach den weltgeschichtlichen Umwälzungen der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und nach der Auflösung des Warschauer Pakts war klar, dass die NATOPlanungen für den Verteidigungsfall nicht unverändert fortgeführt werden konnten. Zwar war Deutschland nun - wie sich der damalige Verteidigungsminister Rühe ausdrückte - nur noch von Freunden umgeben, aber trotzdem blieb die Bündnisverteidigung als Hauptaufgabe der NATO bestehen. Gerade dieser Stabilitätsraum der NATO übte ja sehr große Anziehungskraft auf die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und einen Teil der Nachfolgestaaten der Sowjetunion aus, und es gab ein sehr großes Bedürfnis dieser Länder, Teil dieses Stabilitätsraumes zu werden. Daher war es nicht verwunderlich, dass die Regierungen Deutschlands, Dänemarks und Polens am 5. September 1998 eine Übereinkunft schlossen über die Transformation des bisherigen Hauptquartiers LANDJUT in ein trinationales Hauptquartier der drei Ostsee-Anrainerstaaten. Wohlgemerkt: Polen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht NATO-Mitglied, und so ist diese Vereinbarung zu einem Meilenstein der Integration dieses ehemaligen Mitgliedstaates des Warschauer Pakts in den Sicherheitsraum der NATO geworden. Gewiss bedeutete dies nicht, dass von dieser Vereinbarung schon eine volle Schutzwirkung des Bündnisses für Polen entstand. Aber die Gründung dieses Korpsstabes in der pommerschen Metropole Stettin, Polen, war so etwas wie ein Si10616 Dr. Karl A. Lamers ({0}) gnal für die im Jahr darauf vollzogene Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in die NATO. Der neue Korpsstab war zunächst nicht Teil der Kommandostruktur der NATO. Aber er entwickelte sich weiter. 2004 kamen neue Aufgaben auf den Stab zu, als im Rahmen der zweiten Erweiterungsrunde der NATO die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen dem Bündnis beitraten. Nun suchte das Bündnis nach Möglichkeiten, diese und andere der neuen Mitglieder in das Bündnis zu integrieren. In dieser Lage schlugen Deutschland, Dänemark und Polen der NATO vor, den Multinationalen Korpsstab Nordost, MNCNE, als Hauptquartier für Kräfte niederer Verfügbarkeit in die Kommandostruktur des Bündnisses zu integrieren. Der NATO-Rat fasste daraufhin am 26. August 2004 den Beschluss, das MNCNE in die NATO-Streitkräftestruktur einzubinden. Der Korpsstab in Stettin erhielt damit den Status eines internationalen militärischen Hauptquartiers. Die Aufgaben, die der Stab MNCNE nun im Rahmen der NATO zu erfüllen hatte, waren und sind die Befähigung zur Führung von multinationalen Großverbänden im Rahmen von Operationen der NATO, die Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen und zur Hilfeleistung bei Katastrophen größeren Ausmaßes. Vielleicht die wichtigste Funktion war und ist jedoch die Integration neuer Mitglieder in die Bündnisstrukturen und die Stabilisierung der Nord- bzw. Nordostflanke der NATO. Die drei Gründerstaaten waren nun nicht mehr allein: Estland, Lettland und Litauen traten 2004 bei, die Slowakische und die Tschechische Republik 2005, die Vereinigten Staaten von Amerika 2006, Rumänien 2008 und Slowenien 2009. Die am 16. April 2009 zwischen Deutschland, Dänemark und Polen in Stettin gezeichnete Vereinbarung nahm all diese Veränderungen der letzten Jahre in den Blick und schaffte einen Rechtsrahmen für die künftige Arbeit des Korpsstabes Nordost in Stettin. Deutschland, Dänemark und Polen fungieren weiterhin als Rahmenstaaten, die wesentliche Beiträge zur Führung, Organisation und Finanzierung des Hauptquartiers Nordost leisten. Die übrigen bereits genannten Staaten sind Teilnehmerstaaten und leisten ihre Beiträge, sind jedoch nicht für die Führung und Organisation des Hauptquartiers zuständig. Das NATO-Hauptquartier MNCNE hat in all den Jahren seit der Gründung 1999 wichtige Beiträge zum Funktionieren und Zusammenwachsen des Bündnisses geleistet. Der multinationale Stab, in dem heute elf Nationen vertreten sind, hat bereits in zwei Einsätzen jeweils ein halbes Jahr lang im Rahmen der ISAF in Afghanistan seine Einsatz- und Führungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Dabei hat er sich auch unter kriegsmäßigen Einsatzbedingungen als Kommandobehörde der NATO voll und ganz bewährt. Deutschland als größter Partner in diesem Stab leistete von Anfang an wichtige Beiträge. Deutschland stellt 58 Offiziere und Unteroffiziere in diesem Stab; weitere 20 Soldaten und Beamte der Wehrverwaltung sind zu deren Unterstützung in Stettin tätig. Das Kommando des Stabes rotiert zwischen Deutschland, Dänemark und Polen. Deutschland hat im Gegensatz zu Dänemark und Polen die Vereinbarung von 2009 noch nicht ratifiziert. Es ist nun höchste Zeit, dass wir dem Beispiel der beiden anderen Partnerländer folgen und diesen mit der Unterzeichnung das Gefühl vermitteln, dass uns die Angelegenheit des MNCNE nach wie vor sehr wichtig ist. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz der Bundesregierung zu.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frieden ist nach Karl Jaspers nur in Kooperation und nicht in abgegrenzter Koexistenz. Außen- und sicherheitspolitisch beispielhaft belegt dies die multinationale Einbindung der Bundeswehr in die EU und die NATO. Das Zusammenwirken unterschiedlich leistungsfähiger Verbände in multinationalen Strukturen, die sich in Ausbildung, Ausrüstung, Tradition, Sprache und vor allem auch in den Führungsphilosophien unterscheiden, ist ein wertvoller und richtiger Schritt zu mehr Synergie und auch haushalterisch gebotener europäischer sicherheitspolitischer Zusammenarbeit. Nach dem Wegfall der Bedrohung durch den Warschauer Pakt wurden erhebliche Streitkräftereduzierungen erreicht, sodass allein dadurch mehr Zusammenarbeit geboten war, um alle militärischen Aufgabenfelder wahrzunehmen. Darüber hinaus dürfen aber auch die friedenspolitischen Aspekte nicht übersehen werden; so ist die Aufstellung multinationaler Streitkräfte auch ein Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit zur Vertrauensbildung zwischen Völkern und Staaten. Das Multinationale Korps Nordost, MNK NO, ist eines der Hauptquartiere der NATO zur Führung von Operationen und ist heute ein wichtiger Bestandteil der NATO-Kommandostruktur in Europa. Der Korpsstab, der im Frieden keine Truppen führt, ist befähigt zur Führung multinationaler Großverbände im Rahmen der Bündnisverteidigung der NATO, zur Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen und zur Hilfeleistung bei Naturkatastrophen. Das MNK NO hat sich eine Schlüsselrolle bei der Integration neuer Mitglieder im Rahmen der NATO-Osterweiterung erarbeitet. Nachdem beim NATO-Gipfel in Madrid 1997 den vormaligen Ostblockstaaten Polen, Ungarn und Tschechien ein NATO-Beitritt angeboten worden war, einigten sich die Verteidigungsminister Dänemarks, Deutschlands und Polens am 16. April 1998 auf die Aufstellung eines gemeinsamen Korps. Ausgehend vom deutsch-dänischen Korps LANDJUT wurden Truppen aus Polen nach dessen NATO-Beitritt in das Korps integriert. Bereits am 5. September 1998, noch vor dem auf den 12. März 1999 terminierten Beitritt, unterzeichneten sie in Stettin das Übereinkommen zur Bildung des Korps, in dem dessen Grundlagen festgelegt wurden. Neben dieser militärpolitischen Integrationsfunktion des Korps steht es grundsätzlich für NATO-Einsätze zur Verfügung. Der Korpsstab wurde bereits zweimal erfolgreich im Rahmen der Internationalen Sicherheits- und Unterstützungstruppe für jeweils sechs Monate in AfZu Protokoll gegebene Reden ghanistan eingesetzt und konnte so seine besondere Eignung für Einsätze unter Beweis stellen. In dem Übereinkommen vom 5. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Republik Polen über das Multinationale Korps Nordost sind die Aufgaben und Aufträge des Multinationalen Korps Nordost in Stettin geregelt. Gemeinsames Verständnis und Ziel der Vertragsstaaten seinerzeit im Jahr 1998 war es, das Hauptquartier des Korps als multinationales Hauptquartier außerhalb der NATOKommandostruktur zu errichten. Nach über 20 Jahren muss das Übereinkommen aber jetzt an neue Gegebenheiten angepasst werden. Die neue Streitkräftestruktur der NATO, die im Juli 2002 vom Nordatlantikrat gebilligt worden ist, besteht aus aktiven und mobilmachungsfähigen Land-, Luft- und Seestreitkräften, die sich in unterschiedlichen Bereitschaftsstufen befinden, um auf das gesamte Spektrum möglicher Bedrohungen und Risiken reagieren zu können. Vor dem Hintergrund dieser strategischen Neuausrichtung der NATO wurde im April 2004 durch die Vertragsstaaten entschieden, das Hauptquartier des Korps in Stettin weiterzuentwickeln. Durch Beschluss des Nordatlantikrats vom 26. August 2004 wurde das Hauptquartier des Multinationalen Korps Nordost in die NATO-Streitkräftestruktur eingebunden. Zudem wurde ihm durch diesen Beschluss mit Wirkung zum 31. August 2004 der Status eines internationalen militärischen NATO-Hauptquartiers unter Anwendung des Protokolls vom 28. August 1952 über die Rechtsstellung der aufgrund des Nordatlantikvertrags errichteten internationalen militärischen Hauptquartiere verliehen. Maßgeblich prägend für die Neuausrichtung des Korps ist das Kriterium der Multinationalität. Es fordert die Öffnung des Korps für Beteiligungen anderer NATOStaaten, ohne dass diese zwingend als Rahmenstaaten, sogenannte Framework Nations, dem Übereinkommen vom 5. September 1998 beitreten. Diese Staaten als Teilnehmerstaaten, sogenannte Participating Nations, leisten ihre Beiträge durch die Bereitstellung von Personal und Finanzmitteln und sind im Gegensatz zu den Rahmenstaaten nicht für Struktur, Funktionsfähigkeit und Finanzierung des Hauptquartiers und nicht für die Führung des Korps verantwortlich. Als Teilnehmerstaaten beteiligen sich bereits acht weitere Staaten am Multinationalen Korps Nordost: Estland, Lettland und Litauen seit 2004, die Slowakei und die Tschechische Republik seit 2005, die Vereinigten Staaten seit 2006, Rumänien seit 2008 und Slowenien seit 2009. Durch die Erfüllung verschiedenster Kriterien konnte mit dem Beschluss des Nordatlantikrats im Februar 2006 das Hauptquartier des Multinationalen Korps Nordost als Hauptquartier für Kräfte niedriger Verfügbarkeit im Rahmen der NATO-Streitkräftestruktur anerkannt werden. Das sind erfreuliche Entwicklungen, die die Erfolgsgeschichte des MNK NO aufzeigen und wiederum verdeutlichen, dass auch der gesetzliche Rahmen von 1998 angepasst werden muss. Deshalb wurde am 16. April 2009 in Stettin die uns vorliegende Vereinbarung zwischen der Regierung der Republik Polen, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Änderungen des Übereinkommens zwischen der Regierung der Republik Polen, der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über das Multinationale Korps Nordost in englischer Sprache unterzeichnet. In dieser Änderungsvereinbarung werden die Regelungen zum Rechtsstatus des Hauptquartiers angepasst, die Aufgaben und Aufträge des Multinationalen Korps Nordost neu gefasst sowie die Bestimmungen zum Haushalt des Multinationalen Korps Nordost geändert. Ferner werden Begriffe deutlicher gefasst, damit durch die Multinationalität des Korps jetzt klarer zwischen den Rahmenstaaten und den Teilnehmerstaaten unterschieden werden kann. Im Verlauf seiner zehnjährigen Geschichte hat sich die Anzahl der am MNK NO beteiligten NATO-Staaten kontinuierlich erhöht. Heute leisten Soldaten aus elf Nationen ihren Dienst im Stab des MNK NO: Die Gründungsnationen des Korps - Deutschland, Dänemark und Polen - nahmen im Verlauf der letzten Jahre zunächst die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, später Tschechien, die Slowakei und die USA sowie in der jüngsten Vergangenheit Rumänien und Slowenien auf. Am Stab des Korps sind neun NATO-Bündnispartner beteiligt, federführende Truppensteller sind aber die drei Gründungsnationen Deutschland, Dänemark und Polen. Damit hat sich das Korps in den vergangenen 13 Jahren seit seiner Gründung als Integrationsinstrument in außergewöhnlichem Maße bewährt und Deutschlands außen- und sicherheitspolitische Rolle im unmittelbaren europäischen Umfeld gefestigt, für Vertrauen gesorgt und auch die Zusammenarbeit unter unseren Nachbarstaaten spürbar verbessert. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung freut es mich, feststellen zu können, dass die europäische Integration nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspolitisch, auch dank des Multinationalen Korps Nordost, erhebliche Fortschritte gemacht hat. Mit Blick auf die künftig notwendige weitergehende sicherheitspolitische Integration Europas ist Deutschland durch seine Beteiligung an multinationalen Korps, zum Beispiel auch mit dem Eurokorps und dem Deutsch/Niederländischen Korps gut vorbereitet für eine weitere, noch tiefere sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf europäischem Boden. Und darum geht es uns. Nicht zuletzt aufgrund seiner geografischen Lage als derzeit einziges Hauptquartier ostwärts des ehemaligen Eisernen Vorhanges kommt dem Stettiner Korps eine Schlüsselfunktion bei der Integration neuer NATO-Mitglieder zu. Neben den Einsätzen, die das MNK NO zum Beispiel zweimal im Rahmen von ISAF leistete, ist der wichtigere Auftrag die Integration der neuen östlichen NATOPartner und deren Heranführung an die NATO-Kommandostruktur und -verfahren, sowie die glaubhafte Stabilisierung der NATO-Nordostflanke. Darum ist es notwendig und richtig, den Gründungsvertrag zwischen Dänemark, Deutschland und Polen von 1998 entsprechend zu ändern. Deutschland hat als einziger Vertragspartner den Vertrag noch nicht ratifiziert. Die CDU/ Zu Protokoll gegebene Reden CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, weil es notwendig ist. Das MNK NO braucht eine verlässliche und aktualisierte Rechtsgrundlage für die gewachsenen Herausforderungen. Schaffen wir diesen Rahmen!

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Multinationale Korps Nordost ist seit elf Jahren ein vorbildliches Beispiel für gelungene militärische Zusammenarbeit. Die ursprüngliche Idee, das Hauptquartier des Korps als multinationales Hauptquartier außerhalb der NATO-Kommandostruktur zu etablieren, ist durch die strategische Neuausrichtung der NATO hinfällig geworden. Seither wurde das Hauptquartier des Korps zu einem sogenannten Hauptquartier für Kräfte niedriger Verfügbarkeit weiterentwickelt und in die NATO-Streitkräftestruktur eingegliedert. Hierfür wurden technische Veränderungen im Übereinkommen vom 5. September 1998, welches die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit dem Königreich Dänemark und der Republik Polen unterzeichnet hatte, nötig. Diesen Änderungen können wir so zustimmen. Durch die Änderungen wurde auch die Multinationalität des Korps möglich gemacht. Somit können sich nun andere NATO-Staaten am Korps beteiligen, ohne dass sie zwingend als Rahmenstaaten dem Übereinkommen beitreten müssen. Diese Teilnehmerstaaten leisten ihre Beiträge durch Personal und Finanzmittel. In jeder Hinsicht also ein gelungenes Beispiel für multinationale Zusammenarbeit! So beteiligten sich seit 2004 Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei, die Tschechische Republik, die Vereinigten Staaten von Amerika, Rumänien und Slowenien am Korps. Darüber hinaus war der Korpsstab bereits zweimal im Rahmen von ISAF über jeweils sechs Monate in Afghanistan im Einsatz. Unser Dank und Respekt gilt allen Soldatinnen und Soldaten, die sich daran beteiligt haben. Es muss unser Ziel sein, die erfolgreiche multinationale Zusammenarbeit über das operative Level hinaus zu intensivieren. Die verschiedenen Streitkräfte der NATO-Staaten stehen allen ähnlichen Herausforderungen gegenüber. Wir müssen uns also in anderen Bereichen besser koordinieren und so Synergieeffekte möglich machen. Ich denke hierbei zum Beispiel an die Beschaffung oder an eine bessere und langfristige Aufgabenteilung. Lassen Sie uns das erfolgreiche Konzept des Multinationalen Korps Nordost als Anlass nehmen, um die multinationale Zusammenarbeit zu intensivieren!

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges war es Westeuropa vergönnt, in Frieden und Stabilität zu leben. Die Ursache für diese Entwicklung liegt im Willen zur europäischen Integration und in dem klaren Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft. Eine der wichtigsten Säulen deutscher Sicherheitsarchitektur ist die Mitgliedschaft in der NATO. Seit 1955 ist Deutschland in dieses Verteidigungsbündnis eingebunden, das darüber hinaus auch einen gemeinsamen Wertekanon besitzt. Dies sind die Förderung demokratischer Prozesse sowie die Sicherung des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten. Seit der Wiedervereinigung unseres Landes haben wir auf dem internationalen Parkett verstärkt Verantwortung übernommen und sind damit auch den Erwartungen unserer europäischen und transatlantischen Partner nachgekommen. Grundlegendes Merkmal einer gemeinsamen Verteidigungsarchitektur sind multinationale Hauptquartiere, denen im Ernstfall die Truppen aus verschiedenen Mitgliedstaaten unterstehen. Das Multinationale Korps Nordost in Stettin wurde 1998 durch das Königreich Dänemark, die Republik Polen und die Bundesrepublik Deutschland aus der Taufe gehoben. Es sollte den drei Ländern die Möglichkeit einer engeren militärischen Kooperation auch als vertrauensbildende Maßnahme bieten. Im Jahr 2004 wurde vor dem Hintergrund der strategischen Neuausrichtung der Allianz beschlossen, das Korps der NATO als einen weiteren Bestandteil der gemeinsamen Streitkräftearchitektur anzubieten. Gleichzeitig wurde es im Zuge der NATO-Osterweiterung auch für neue Mitgliedsländer geöffnet. Die baltischen Staaten sind genauso vertreten wie die Tschechische Republik und die Slowakei, Rumänien, Slowenien. Damit liegt der Fokus des Multinationalen Korps Nordost auf Ostund Südosteuropa. Deutschland als zentraleuropäische Nation kommt dabei seiner Mittlerfunktion nach und schafft so die Voraussetzung für eine Einbindung der noch jungen NATO-Mitgliedstaaten in das bestehende Verteidigungsbündnis. Das Hauptquartier ist dabei im Rahmen von Einsätzen innerhalb der NATO, der Vereinten Nationen oder regionaler Kooperationen flexibel einsetzbar. Angehörige des Stettiner Hauptquartiers waren im Rahmen der International Security Assistance Force sowohl 2007 als auch 2010 im ISAF-Hauptquartier in Kabul eingesetzt. Damit sammelte das Personal die notwendigen Erfahrungen, um auch in Zukunft schnell und flexibel auf komplexe und sich verändernde sicherheits- und verteidigungspolitische Herausforderungen reagieren zu können. Im Falle Deutschlands ist dabei die Befassung des Parlamentes die notwendige Voraussetzung, deutsche Soldaten in einen Auslandseinsatz entsenden zu können. Aufgrund der geschilderten Entwicklungen der letzten Jahre wurde es erforderlich, das Übereinkommen aus dem Jahr 1998 gemäß dem vorliegenden Gesetzentwurf anzupassen. Dabei lässt sich konstatieren, dass dies ohne eine Mehrbelastung des Haushaltes gelingen wird. Die Nordatlantische Allianz bleibt auch in Zukunft die wichtigste Säule deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Internationale Kooperationen wie das Multinationale Korps Nordost schaffen dabei Vertrauen, und sie sparen langfristig Ressourcen. Daher ist dem vorliegenden Gesetzentwurf aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion zuzustimmen. Zu Protokoll gegebene Reden

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das neue Strategische Konzept der NATO, das im letzten Herbst in Lissabon verabschiedet wurde, lässt keinen Zweifel: Die NATO soll als eine Art selbsternannter Weltpolizist überall auf der Welt vor allem die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der NATO-Staaten durchsetzen. Dafür sollen jetzt die Strukturen des Militärbündnisses optimiert werden. Die heute vorliegende Regierungsvereinbarung zwischen Dänemark, Deutschland und Polen zur Änderung der 1998 vereinbarten Arbeitsgrundlage des Multinationalen Korps Nordost dient genau diesem Zweck. Im Rahmen des NATO-internen Zulassungsprozesses für ein solches Hauptquartier ist es unter anderem erforderlich, die bisherigen Kooperationsbeziehungen zu den anderen elf NATO-Streitkräften, die derzeit das Personal für die Stäbe stellen, auf eine andere Arbeits- und Rechtsgrundlage zu stellen. Das Korps soll geöffnet werden für andere NATO-Staaten, um damit auch eine verbesserte Einsatzfähigkeit als verlegbares Hauptquartier für Interventionseinsätze zu erreichen. Im Klartext gesprochen: Es könnte sein, dass bei der nächsten Militärintervention à la Afghanistan das Multinationale Korps Nordost die Koordination im Einsatz übernimmt. Quasi als Probelauf wurden 2007 und 2010 jeweils für sechs Monate bereits Teile des Korpsstabes in die Führungsstrukturen im ISAF-Hauptquartier Kabul integriert. 2014 ist wohl eine erneute Beteiligung geplant. Die Linke lehnt dies ab. Deutschland bzw. die Bundeswehr wäre gut beraten, sich aus dieser militärischen Integration zurückzuziehen. Hier werden Sachzwänge und Automatismen geschaffen, hinter denen sich die Regierung im Zweifelsfall bequem verstecken kann - denn ohne das Bundeswehrpersonal, das etwa 80 Personen umfasst, wäre der Korpsstab kaum einsetzbar. Was der Einsatz eines solchen Korpsstabes bedeuten kann, wurde und wird in Afghanistan vorexerziert. Obwohl bis 2009 gegenüber der deutschen Öffentlichkeit noch die Illusion eines Stabilisierungseinsatzes in Afghanistan gepflegt wurde und sich die Bundeswehr offiziell auf den Norden als Einsatzgebiet beschränkte, war man im Hauptquartier in Kabul auch mit deutschen Offizieren vertreten. Und es war und ist das ISAF-Hauptquartier, das die Listen für die gezielten Tötungen erarbeitet, das das Vorgehen bei Einsätzen der Kampfflugzeuge und bei Hausdurchsuchungen koordiniert. Vor allem aber symbolisiert der vorliegende Gesetzentwurf das ungebrochene Festhalten der Bundesregierung an der allgemeinen strategischen Ausrichtung der NATO. Die negativen Erfahrungen der letzten zehn Jahre, nicht nur mit dem ISAF-Einsatz, sondern auch mit dem USgeführten globalen Krieg gegen den Terrorismus oder mit der gewaltsamen Kontrolle internationaler Seewege, werden ausgeblendet. Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, soll das Multinationale Korps Nordost auch in Zukunft für solche Aufgaben Gewehr bei Fuß stehen - ungeachtet der ernsten Konsequenzen für die internationale Sicherheit. Dies ist der falsche Weg. Mehr Frieden und mehr Sicherheit wird es nur mit weniger NATO geben.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir diskutieren heute über das sogenannte Multinationale Korps Nordost, einen multinationalen Streitkräfteverband der NATO mit einem Stabshauptquartier im polnischen Szcezcin bzw. Stettin. Lassen Sie mich zunächst sagen, dass das Multinationale Korps Nordost aus meiner Sicht ein hervorragendes Beispiel für den positiven Wandel der Sicherheitspolitik in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges ist. 1962 wurde das erste und einzige multinationale Korps der NATO, das deutsch-dänische Korps LANDJUT ins Leben gerufen. 1998 wurde beschlossen, diesen Verband zu einem trinationalen Korps unter Beteiligung Polens weiterzuentwickeln und das Hauptquartier des Stabes nach Szcezcin, Stettin, zu verlegen. Wenngleich Polen, Dänemark und Deutschland die Truppensteller dieses integrierten Verbandes sind, so beteiligen sich mittlerweile elf Staaten, darunter Slowenien und die baltischen Staaten, an der laufenden Stabsarbeit in Stettin. Das ist aus meiner Sicht ein wichtiges Signal und Symbol für den europäischen Integrationsprozess auch im Bereich der Sicherheitspolitik. Auf der anderen Seite diskutieren wir ja heute über die Anpassung des Korps, die aus Sicht der Bundesregierung nötig ist, weil sich die Vertragsstaaten im April 2004 entschieden haben, das Hauptquartier des Korps in ein sogenanntes Hauptquartier für Kräfte niedriger Verfügbarkeit weiterzuentwickeln. Hier gibt es aus meiner Sicht erheblichen Klärungsbedarf. Diese Entscheidung ist nicht nur sieben Jahre her. Sie wurde auch auf der Grundlage des damaligen Strategischen Konzepts aus dem Jahr 1999 sowie der 2002 gebilligten neuen Streitkräftestruktur getroffen. Seitdem ist in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa und darüber hinaus viel geschehen: Der Krieg in Afghanistan - militärisch durch die NATO geführt - ist in seinem zehnten Jahr. Gleichzeitig hat sich die NATO auf dem Gipfel in Lissabon im vergangenen Jahr ein neues Strategisches Konzept gegeben. NATOGeneralsekretär Anders Fogh Rasmussen hat wiederholt betont, dass die NATO effizienter und strukturell schlanker werden soll. Stäbe, Ausschüsse und Hauptquartiere sollen reduziert werden. Vor diesem Hintergrund frage ich mich dann aber schon, inwiefern das Multinationale Korps Nordost in der jetzigen Form und Ausgestaltung in der künftigen Struktur der NATO seinen Platz hat. Wir reden hier heute quasi über die Nachwehen einer Entscheidung aus dem Jahr 2004! Deshalb fordere ich die Bundesregierung dringend auf, hier Klarheit zu schaffen. Dem Deutschen Bundestag wurde bisher nicht schlüssig auseinandergesetzt, welche Teile der 2002 gebilligten Streitkräftestruktur der NATO weiter Bestand haben sollen. Welche militärischen, multinationalen Verbände sollen künftig bestehen, und wie sollen sie organisiert werden? Und vor allem: Welche Aufgaben sollen ihnen zukommen? Das Strategische Konzept der NATO schweigt sich hier mit Blick auf die wirklich wichtigen Details aus. Ich hoffe, dass wir in den weiteren Beratungen in den Ausschüssen Zu Protokoll gegebene Reden bis zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes noch informiert werden und diesen Klärungsbedarfen Rechnung getragen wird. Ansonsten hielte ich eine Zustimmung zum Vorschlag der Bundesregierung hierzu für schwierig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/4809 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 22: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mitgliedschaft in der International Organisation of Social Tourism - Drucksache 17/4844 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem vorliegenden Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, dass Deutschland umgehend einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus, OITS, stellt und dort auch aktiv mitarbeitet. Begründet wird das mit der damit verbundenen Möglichkeit der direkten Einflussnahme auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus auf europäischer Ebene, dem Kennenlernen guter Praxisbeispiele in anderen Staaten sowie der möglichen Nutzung dieser Beispiele auf nationaler Ebene. Der Antrag weist zu Recht darauf hin, dass die Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismus erklärtes Ziel der Bundesregierung ist. In den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung vom Dezember 2008 heißt es: Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen Einschränkungen sollen reisen können. - Dazu stehen wir. Deshalb fördert die Bundesregierung bereits in erheblichem Umfang den Bau und die Einrichtung von Familienferienstätten, Jugendbildungs- und Begegnungsstätten, Jugendherbergen, die internationale Jugendarbeit im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes sowie den gezielten bilateralen Jugendaustausch über das Deutsch-Französische Jugendwerk und das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Darüber hinaus fördert die Bundesregierung Projekte der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, und der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien, abm. Mit dieser Projektförderung soll ein Beitrag zur aktiven Freizeitgestaltung einschließlich des Reisens für Menschen mit chronischer Erkrankung und Behinderung geleistet werden. Denn: Barrierefreies Reisen ist ein wichtiges Element für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Wie Sie sehen, engagiert sich die Bundesregierung bereits in vielfältiger Weise für die Förderung des sogenannten Sozialtourismus, der in einzelnen Ländern im Übrigen durchaus unterschiedlich interpretiert wird und nicht einheitlich definiert ist. Zudem unterstützen auch die Bundesländer Familien mit relativ geringem Einkommen bei der Finanzierung gemeinsamer Ferien in einer gemeinnützigen Familienferienstätte mit Individualzuschüssen. Auf lokaler Ebene gibt es weitere Programme zur Kinder- und Jugenderholung, etwa in Ferienlagern, die über Jugendämter, von freien Trägern und aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Ein möglicher Nutzen einer Mitgliedschaft Deutschlands in der bisher relativ unbekannten Internationalen Organisation für Sozialtourismus ist nur schwer erkennbar. So sind etwa Praxisbeispiele anderer Staaten oder Perspektiven des Sozialtourismus auf europäischer Ebene schon Gegenstand des Projektes „Calypso“ der Europäischen Kommission, auf das auch ausdrücklich auf der Internetseite der OITS hingewiesen wird. Ziel von „Calypso“ ist die Förderung des grenzüberschreitenden Austausches für Touristen benachteiligter Zielgruppen in Europa außerhalb der Saison. Dabei sollen mit staatlichen Mitteln finanzierte Urlaubsreisen bestimmter Bevölkerungsgruppen in andere Mitgliedstaaten organsiert werden. Mit diesem Projekt haben wir uns im vergangenen Monat intensiv im Tourismusausschuss beschäftigt. Eine Bestandsaufnahme der sogenannten bewährten Praktiken in den zunächst 21 teilnehmenden Mitgliedstaaten kam aber zu dem Schluss, dass sich die Praktiken weder vergleichen noch bewerten lassen, weil sie sehr unterschiedlich ausgestaltet sind und auch sehr unterschiedlichen touristischen Traditionen unterliegen, insbesondere in den südeuropäischen Mitgliedstaaten. In dieser Studie konnte nicht belegt werden, wie die dargestellten Praktiken oder daraus abgeleiteten möglichen europäischen Programme sich wirtschaftlich auswirken. Die geplante Ausgestaltung von „Calypso“ lässt die Entstehung eines Subventionswettlaufs zwischen den Mitgliedstaaten befürchten mit der Gefahr, dass sich finanziell selbsttragende Angebotsstrukturen zugunsten subventionsabhängiger Strukturen verdrängt würden. Eine solche mögliche Entwicklung lehnen wir strikt ab. Die Bundesregierung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich haushaltspolitisch nicht rechtfertigen ließe, mit staatlichen Mitteln den Urlaub bestimmter Bevölkerungsgruppen in anderen Mitgliedstaaten zu finanzieren. Mit anderen Worten: Wollen wir wirklich, dass deutsche Steuerzahler den Urlaub beispielsweise dänischer Rentner in Spanien finanzieren, um dort im Winter die dortigen Hotels besser auszulasten? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wir sind der Bundesregierung daher sehr dankbar, dass sie in einem Bericht für den Tourismusausschuss diese Initiative abgelehnt hat, da sie weder unter soziaMarlene Mortler len noch unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten zu rechtfertigen sei. Wir stimmen der Bewertung zu, dass ein solches Austauschprogramm weder wünschenswert noch praktikabel, umsetzbar oder finanzierbar wäre, ganz zu schweigen von der Ausgrenzung der betroffenen Menschen, die sich als Reisende zweiter Klasse fühlen müssten. Deutschland wird sich deshalb auch in Zukunft nicht an diesem EU-Projekt beteiligen. Es gibt auch formale Gründe, die gegen das Ziel des vorliegenden Antrags sprechen. So sind Mitglieder der OITS bisher fast ausschließlich private und öffentliche Organisationen, die meist gemeinnützige Ziele verfolgen. Dazu gehören nach Aussage der OITS nationale Tourismusorganisationen, Urlaubszentren, Jugendherbergsnetzwerke, Gewerkschaftsorganisationen, Kooperativen, Nichtregierungsorganisationen und Bildungseinrichtungen. Dies ist also eigentlich eine klassische internationale Nichtregierungsorganisation. Nur wenige Länder sind offensichtlich über einzelne Ministerien oder staatliche Organisationen Mitglied, zum Beispiel Frankreich oder Spanien, wo der sogenannte Sozialtourismus eine lange historische Tradition hat. Damit erscheint es formal und inhaltlich sehr fraglich, ob Deutschland als Land Mitglied werden soll oder kann. Neben den aus öffentlichen Mitteln und von gemeinnützigen Organisationen unterstützen Urlaubsangeboten sollten wir aber auf gar keinen Fall die vielfältigen Möglichkeiten aus den Augen verlieren, die der Tourismusstandort Deutschland schon heute für die genannten Zielgruppen bietet. So gibt es in vielen ländlichen Regionen durchaus preiswerte und attraktive Urlaubsformen wie Urlaub auf dem Bauernhof. Zuweilen sind diese so günstig, dass selbst ich als Agrar- und Tourismusexpertin stutze und mich frage, wie sich das für den Anbieter rechnen kann. Viele familiengeführte Bauernhöfe bieten nicht nur Familien in der Hauptsaison, sondern auch älteren Reisenden oder Personen mit geringem Einkommen eine persönliche, individuelle Betreuung in familiärer Atmosphäre. Diese und andere Urlaubsangebote im ländlichen Raum wollen wir mit der im Koalitionsvertrag festgelegten Tourismuskonzeption für den ländlichen Raum fördern. Mit solchen Schritten können wir den sogenannten Sozialtourismus sicherlich besser fördern als mit einer Mitgliedschaft in dieser internationalen Organisation, die wir ausdrücklich ablehnen.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir diskutieren heute über den Antrag der Fraktion Die Linke, die die Bundesregierung zur Mitgliedschaft in der International Organisation of Social Tourism, OITS, auffordert. Was bedeutet eigentlich „Sozialtourismus“? Die Organisation OITS und die Fraktion Die Linke haben selbst keinen eindeutigen Begriff dafür. „Sozialtourismus“ wird umschrieben als Tourismus von Personen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse, einer körperlichen oder geistigen Behinderung, persönlicher oder familiärer Isolation, eingeschränkter Mobilität oder geografischer Schwierigkeiten ganz oder teilweise unfähig sind, ihr Recht auf Tourismus wahrzunehmen. Die Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismus ist erklärtes Ziel der Bundesregierung, wie sie auch in ihren Tourismuspolitischen Leitlinien festgestellt hat. Diesem Ziel fühlt sich auch die CDU/CSU-Fraktion verpflichtet. Der von den Linken geforderte Weg ist aber nicht zielführend. Er vernachlässigt, dass wir bereits eine Fülle von Familien-, Jugend-, Studenten- und Seniorentourismus und Tourismus für Behinderte haben. Vor allem im öffentlichen Bereich wird derzeit ein breiter Zugang zu Erholung, Urlaub und Freizeiten angeboten. Gern möchte ich an dieser Stelle zur Erinnerung einmal die wichtigsten Anbieter nennen und dabei auch die Arbeit meiner Fraktionskollegen ausdrücklich loben, die sich hier im Rahmen ihrer Arbeit für die Förderung solcher Angebote einsetzen. Aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden allein für das Jahr 2011 insgesamt 42,343 Millionen Euro für die Förderung des Jugendtourismus eingesetzt: 20,317 Millionen Euro für die Förderung der internationalen Jugendarbeit im Rahmen des Kinder- und Jugendplan des Bundes, KJP, 10,226 Millionen Euro für das DeutschFranzösische Jugendwerk, 5 Millionen Euro für das Deutsch-Polnische Jugendwerk und 5 Millionen Euro für Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten sowie Jugendherbergen. Die Bundesregierung fördert bereits Familienferienstätten, Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten, Jugendherbergen sowie die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V., NatKo. Zu nennen wäre auch der Katholische Arbeitskreis für Familienerholung, deren Vorsitzende meine Kollegin Frau Winkelmeier-Becker ist. Zusammen mit dem evangelischen Arbeitskreis Familienerholung und mit dem paritätischen Arbeitskreis für Familienerholung bildet er die Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung. Zentrales Anliegen dieser Organisationen ist es, Familien mit vielen Kindern einen preiswerten Urlaub in familienfreundlichen Unterkünften anzubieten und den Zusammenhalt in den Familien zu stärken. Dafür gibt es in Deutschland 120 gemeinnützige Familienferienstätten, die seit den 50er-Jahren entstanden sind. Diese Einrichtungen stellen 3 000 Arbeitsplätze und erwirtschaften bei circa 3 Millionen Übernachtungen pro Jahr 100 Millionen Euro Umsatz. Sie befinden sich meist in strukturschwachen Gebieten und geben wirtschaftliche Impulse für ländliche Räume. Familienerholung wendet sich an alle Familien, doch werden finanziell benachteiligte und kinderreiche Familien, Alleinerziehende sowie Familien mit behinderten Kindern oder behinderten Angehörigen besonders berücksichtigt. Aus dem Bundeshaushalt werden Bau und Renovierung von Familienferienstätten gegenwärtig mit 1,8 Millionen Euro pro Jahr gefördert, BMFSFJ-Titel, in Kofinanzierung mit den Bundesländern und den Trägern ({0}). Zu Protokoll gegebene Reden Angebote für Familienberatung, zur Stärkung der Familienkompetenz und zur gesundheitlichen Prävention spielen dabei heute eine große Rolle. Solche Angebote in Verbindung mit einem Urlaub gibt es bei der kommerziellen Konkurrenz nicht. Familienerholung befindet sich damit an einer Schnittstelle von Familienpolitik, Sozialpolitik und Tourismuspolitik. Dies alles zeigt: Es gibt vielfältige, auch niederpreisige Angebote, um allen Bevölkerungskreisen Urlaub vom Alltag zu ermöglichen. Dafür brauchen wir keine Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation; davon hätte keine einzige Familie, die wir im Blick haben, etwas. Statt also Neues zu fordern, sollten wir lieber die bewährten Strukturen fördern! Wichtig ist hierbei eine bessere Vermarktung beispielsweise der Familienferienstätten, die zurzeit lediglich über einen eigenen Katalog erfolgt, der auf Anfrage verschickt wird. Gegenwärtig erstellt die Bundesarbeitsgemeinschaft unter Federführung des Evangelischen Arbeitskreises einen Antrag auf Förderung eines dreijährigen Projektes, in dem aufgearbeitet werden soll, was Familienerholung leistet und wie das Marketing verbessert werden kann. Die Kosten würden insbesondere aus Personalkosten in Höhe von 200 000 Euro pro Jahr bestehen, wobei der größte Anteil vom BMFSFJ finanziert werden soll. Auch diese konkreten Projekte helfen mehr als die Forderungen der Linken. Lassen Sie mich abschließend auf einen Aspekt hinweisen, der mir besonders am Herzen liegt. Die Linken schreiben in ihrem Antrag vom „Recht auf Tourismus“. Welche Dreistigkeit steckt hinter dieser Haltung der Linken! Sie sind die direkten Nachfolger der SED. Ihre Parteivorsitzende träumt schon wieder offen vom Kommunismus. Sie stehen in direkter Tradition derer, die ihr Volk in der damaligen DDR mit Mauer und Stacheldraht eingesperrt haben, in einem Land, in dem es kein „Recht auf Tourismus“ gab, kein freies Reisen, sondern Reisebeschränkungen und Ausreiseverbote. Tourismus war staatlich organisiert und reglementiert. Und gerade sie reden jetzt vom „Recht auf Tourismus“? Sie sind die Allerletzten in diesem Hause, die diese Forderung in den Mund nehmen dürfen!

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wahrscheinlich ist es den Regierungsfraktionen ganz recht, dass die Reden zum heutigen Tagesordnungspunkt zum Sozialtourismus zu Protokoll gegeben werden. Ich finde das schade, denn der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute beraten und den wir im Ausschuss für Tourismus noch genauer zu bewerten haben, bietet eine gute Möglichkeit, über die politische Unterstützung von Menschen zu sprechen, die sich alleine keinen Urlaub leisten können. Die SPD setzt sich seit langem dafür ein, dass alle Menschen am Tourismus teilhaben können. Dieses Ziel haben wir in unserer Regierungszeit 2009 auch in den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung beschlossen. Wir haben festgelegt: Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Einschränkungen sollen reisen können. Klar ist: Dazu bedarf es vielfältiger Anstrengungen. Der Vorstoß der Fraktion Die Linke, dass Deutschland sich stärker in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus, OITS, engagiert, kann dabei ein Baustein sein. Das BundesForum Kinder- und Jugendreisen ist in der OITS bereits als deutsches Mitglied vertreten. Die Fraktion Die Linke schreibt in ihrem Antrag etwas lapidar, dass Staaten Mitglied sind und die Bundesregierung beitreten soll. Das müsste konkreter gefasst werden. Das Referat für Tourismuspolitik im Bundeswirtschaftsministerium wäre aus meiner Sicht der richtige Adressat. Bislang ist die OITS den deutschen Tourismusakteuren kaum bekannt. Das sollte die Regierung aber nicht davon abhalten, zu prüfen, inwiefern die Mitgliedschaft des Tourismusreferats einen Mehrwert verspricht, zum Beispiel durch das Sammeln guter Praxisbeispiele zur Förderung von Sozialtourismus, genauso aber auch, inwieweit sich andere Akteure im Deutschlandtourismus zur Förderung des sozialen Aspekts einbringen könnten. Gerade das Thema Barrierefreiheit, das die OITS in ihrer Arbeit aufgreift, könnte Deutschland durch eine Beteiligung der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, international voranbringen. Vonseiten der Regierung wäre es ein gutes Signal, wenn sie für diesen Fall die - überschaubare - finanzielle Unterstützung gewährleisten würde. Festzustellen ist jedenfalls, dass einige unserer EUNachbarn in der OITS gut vertreten sind, allen voran Frankreich mit der Tourismusdirektion des Wirtschaftsministeriums und über 20 Organisationen. Insgesamt sind in dem internationalen Forum 35 Länder mit rund 165 öffentlichen und privaten Organisationen beteiligt. Die Förderung des Sozialtourismus hat die EU mit der 2009 gestarteten Initiative „Calypso“ aufgegriffen. Mit dem Projekt wurde ausgelotet, wie benachteiligten Zielgruppen grenzüberschreitende Reisen ermöglicht werden können. Dazu zählen Menschen mit Behinderungen, einkommensschwache Familien, Ältere ab 65 Jahren sowie junge Erwachsene. Die Idee: Der Tourismus in der Nebensaison soll dabei befördert werden. Nicht nur in Deutschland wissen wir, wie schwierig es für die Tourismusbranche ist, durch die Zeiten fernab der Ferien zu kommen. Viele Saisonarbeitskräfte stehen dann immer wieder aufs Neue ohne Arbeit da. Leider hat sich die Bundesregierung - im Gegensatz zu 21 Mitgliedstaaten - nicht an „Calypso“ beteiligt. Die Debatte dazu im Tourismusausschuss hat deutlich gemacht, wie sehr Schwarz-Gelb allein marktordnungspolitische Bedenken herausstellt nach dem Motto: zuerst der freie Markt, dann die bedürftigen Menschen. Natürlich muss die Idee des EU-Pilotprojekts weitergedacht werden. So ist es gerade für Familien mit Schulkindern kaum möglich, außerhalb der Hauptferienzeiten zu verreisen. Geklärt werden müsste zudem, wer genau von - zumindest teilweise - bezuschussten Austauschangeboten profitieren soll, auch wie alle Länder möglichst gerecht beteiligt werden. Zu Protokoll gegebene Reden Die Regierung sollte hier aber nicht vergessen, dass es bei dem EU-Projekt auch um die Förderung des europäischen Gedankens geht. Es könnte ein weiterer wichtiger Schritt hin zu mehr europäischer Verständigung, Toleranz und Miteinander sein, wenn gerade Menschen, die kein Geld zum Reisen übrig haben, Möglichkeiten erhalten, unsere Nachbarländer einmal kennenzulernen. Wenn man über den Tellerrand schaut, sollte die Bundesregierung beim Thema Sozialtourismus auch direkt in der Welttourismusorganisation ihren Einfluss wahrnehmen. Leider besteht daran wohl wenig Interesse, wenn man die Bewertung zu „Calypso“ zugrunde legt. Interessant an der OITS ist der breite thematische Ansatz. Aktuell gibt es drei Arbeitsgruppen für Jugendtourismus, Tourismus für Menschen mit Behinderungen sowie fairen Tourismus. Ich finde es hierbei gut, die Belange von Menschen mit Handicap, die vor den größten Problemen beim Reisen stehen, mit einzubeziehen. Letztlich zeigt die Debatte um eine Mitgliedschaft in der OITS, die im Übrigen auch UNWTO-Mitglied ist, dann auch: Internationaler Austausch ist das eine, die nationalen Hausaufgaben zu erledigen, das andere. Sowohl der Bund als auch die Länder stehen in vielen Punkten in der Pflicht. Thema Familienerholung: Wir alle wissen: Das ist wichtiger denn je. Warum geben dann immer weniger Bundesländer Zuschüsse für die Erholungseinrichtungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung? Ob Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Hessen oder Sachsen - hier sparen CDU und FDP die Unterstützung für bedürftige Familien einfach ein. Auch in NRW und Hamburg ist das bislang der Fall. Wie gut, dass dort nun endlich wieder die SPD regiert! Zum Thema „Kinder- und Jugendreisen“: Warum weigert sich die Bundesregierung, den Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus weiterzuführen? 2002 hatte Rot-Grün diese wichtige Initiative gestartet. Nach neun Jahren ist eine Evaluierung und Fortschreibung dringend nötig. Die Studie des BundesForums zu Kinderund Jugendreisen 2008 zeigt, dass Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten deutlich weniger am Tourismus teilhaben. Sie stellt auch fest, dass bei öffentlich geförderten Kinder- und Jugendreisen deutliche Kürzungen geplant sind. Bund und Länder sind in der Pflicht, ausreichend Angebote zu finanzieren. Erfreulich ist, dass es Regierung und SPD gelungen ist, mit dem Bildungs- und Teilhabepaket im Rahmen der Regelsatzneubemessung jetzt auch einkommensschwachen Familien Zuschüsse zu ein- und mehrtägigen Klassenfahrten zu gewähren. Kinder- und Jugendreisen machen rund 30 Prozent des Deutschlandtourismus aus. Dieses Standbein muss gezielt gestärkt werden. Problematisch ist allerdings die Situation der Unterkünfte: Die Regierung spricht selbst von einem Renovierungsstau. Auch hier muss Bewegung reinkommen. An der Förderung der deutschen Jugendherbergen als gemeinnützig anerkannter Träger der Jugendhilfe darf hingegen nicht gerüttelt werden. Die rund 550 Häuser, die preiswerte Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien vorhalten, sind für viele Regionen unverzichtbar. Nun kommen die Jugendherbergen durch die schwarz-gelbe Hotelsteuer in Bedrängnis, weil Kommunen wie meine Heimatstadt Lübeck Bettensteuern erheben müssen, um die Steuerausfälle zu kompensieren. Thema „Barrierefreies Reisen“: Für Menschen mit Behinderungen ist das vordringliche Ziel die Herstellung von Barrierefreiheit in der gesamten touristischen Servicekette. Die Potenziale eines barrierefreien Tourismus in Deutschland sind groß und mit einem Umsatz von fast fünf Milliarden Euro und rund 90 000 zusätzlichen Vollzeitarbeitsplätzen laut der 2003 vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Barrierefreiheitsstudie längst bekannt. Trotzdem hakt es an allen Ecken und Enden der touristischen Servicekette: bei Zügen, Bahnhöfen, Flugzeugen, dem Zugang zu öffentlich genutzten Gebäuden oder Leitsystemen durch die Stadt. Selbst in Hotels, die angeblich barrierefrei sind, ist für Reisende mit Handicap nicht selten spätestens bei der Inneneinrichtung der Zimmer Schluss, weil Rollstühle nicht durch Türen passen, oder sich die Menschen nicht zurechtfinden. Wer sich ernsthaft um Barrierefreiheit kümmern will, dem muss klar sein: Jede Lücke in der barrierefreien Reisekette kann schon das Aus der Reise bedeuten. Zugleich muss sich die Erkenntnis durchsetzen: Barrierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich und für 100 Prozent komfortabel. Es besteht allerdings wenig Hoffnung, dass die Regierung im März einen Aktionsplan vorlegen wird, der die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ernsthaft in Angriff nimmt. Ich befürchte, dass der Aktionsplan für mehr Barrierefreiheit nicht über die bisherigen Maßnahmen hinausgeht. Die SPD wird in enger Abstimmung mit den Behindertenverbänden ebenfalls ihre Positionen veröffentlichen und die Regierung auch auf diesem Feld antreiben.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke fordert die Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag auf, die Mitgliedschaft in der Internationalen Organisation für sozialen Tourismus zu beantragen und dort aktiv mitzuarbeiten. Warum? In der aktuellen 27. Deutschen Tourismusanalyse der Stiftung für Zukunftsfragen heißt es: Die Reiselust kennt keine Grenzen, das Urlaubsbudget schon. ... So verreisten in der abgelaufenen Urlaubssaison vier von fünf Besserverdienenden ({0}). Dagegen stagnierte die Zahl der reisenden Geringverdiener in Deutschland auf niedrigem Niveau - nicht einmal jeder Dritte dieser Einkommensgruppe ({1}) konnte sich 2010 eine Urlaubsreise von fünf Tagen Dauer leisten. Hier wird deutlich, dass das vorhandene - und leider nicht wachsende - Instrumentarium an Förderungen von bezahlbaren Reisen für alle, zum Beispiel über gemeinnützige Familienferienstätten, die Angebote der JuZu Protokoll gegebene Reden gendherbergen, die von Vereinen organisierten Ferienlager usw., nicht ausreicht. Ein zweites Zitat möchte ich anführen. In den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung heißt es: Ziel der Bundesregierung ist die Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismus. Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen Einschränkungen sollen reisen können. Deshalb fragte ich am 6. Oktober 2010 in der Fragestunde des Bundestages, wie die Bundesregierung dieses Ziel für auf Hartz IV angewiesene Familien mit Kindern realisieren will, da in den Regelsätzen Gelder für Reisen und Erholung nicht vorgesehen sind. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Hintze, CDU: Vorrangiges Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist nicht in erster Linie die Umsetzung der tourismuspolitischen Leitlinien, sondern die schnellstmögliche Eingliederung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in den Arbeitsmarkt … Bei der Entscheidung, welche einzelnen Verbrauchspositionen als regelsatzrelevant einzustufen sind, wurde in der Abteilung 11 „Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen“ die Position „Übernachtungen“ nicht als regelbedarfsrelevant berücksichtigt. Diese Ausgaben sind dem Bereich Urlaub zuzuordnen, der als nicht existenzsichernd anzusehen ist und folglich für den Regelbedarf nicht zu berücksichtigen ist. Es muss davon ausgegangen werden, das auch Familien mit niedrigem Einkommen, die keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten, nicht durchgängig Urlaube finanzieren können. Diese aus meiner Sicht skandalöse Antwort zeigt, wie ernst die Bundesregierung eigene Zielstellungen nimmt. Gerade auch geringverdienende Familien mit Kindern, Seniorinnen und Senioren, Menschen mit Behinderungen oder Angehörige von zu pflegenden Menschen brauchen den Urlaub für ihre Erholung, Gesundheit und Bildung. Und wer glaubt, dass es hier um Almosen geht und nicht um Menschenrechte, sollte sich Art. 24 „Recht auf Erholung und Freizeit“ der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 oder die UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 30 „Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“, ansehen. In seiner Stellungnahme zum „Sozialtourismus in Europa“ ({2}) stellt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss im Amtsblatt der Europäischen Union vom 23. Dezember 2006 ({3}) unter anderem fest: Alle Menschen, selbst die am stärksten benachteiligten, benötigen in täglichen, wöchentlichen und jährlichen Abständen Erholung, Freizeit und Zeit zur Regeneration von der Arbeit, und sie haben einen Anspruch darauf. Wir müssen also mehr tun, um Reisen für alle zu ermöglichen. Wir sollten dabei auch von anderen lernen, sollten über den Tellerrand schauen. Dafür gibt es eine hervorragende Möglichkeit: Die Bundesrepublik Deutschland wird Mitglied der 1963 gegründeten International Organisation of Social Tourism, OITS. Der Organisation gehören weltweit 140 staatliche und nichtstaatliche Mitglieder aus dem Bereich des Tourismus an, darunter die Staaten Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Mexiko, Polen, Portugal, Schweiz, Spanien, Türkei. Diese Staaten machen gute Erfahrungen mit ihrem Engagement im Sozialtourismus. Deutschland, der „Reiseweltmeister“, fehlt. Lediglich das BundesForum Kinder- und Jugendreisen e. V., BuFo, ist von deutscher Seite Mitglied in der OITS. Das ist angesichts der Bedeutung des Themas nicht ausreichend. Eine Mitgliedschaft in der International Organisation of Social Tourism eröffnet der Bundesrepublik die Möglichkeit der direkten Einflussnahme auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus auf internationaler und europäischer Ebene, das Kennenlernen guter Praxisbeispiele sowie deren Nutzung auf nationaler Ebene. Mein Kollege Jörn Wunderlich hatte im September 2010 die Möglichkeit, an der OITS-Konferenz in Rimini teilzunehmen und dort auch zu sprechen. Von dieser Konferenz gibt es die Botschaft, dass man sich auf eine Mitgliedschaft der Bundesrepublik freut. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass der OITS-Vorstand seine nächste Tagung während der ITB im März dieses Jahres in Berlin durchführt. Bleibt die Frage, ob die Bundesrepublik Mitglied in einer internationalen Organisation werden muss, um dort aktiv mitzuarbeiten, oder ob dies eher unüblich ist. Ende 2010 bat ich den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages um eine Übersicht, in welchen internationalen Organisationen die Bundesrepublik Deutschland Mitglied ist. Die Antwort wäre sicher eine gute Grundlage für eine wissenschaftliche Arbeit eines Doktoranden, denn die Bundesregierung gestand, keine Übersicht über diesbezügliche Mitgliedschaften zu haben. Es sind aber - dies verdeutlichten die Zuarbeiten aus den einzelnen Ministerien - nicht wenige. Das für Tourismus zuständige Wirtschaftsministerium ist laut Haushaltsplan in 22 internationalen Organisationen vertreten, darunter in der Welttourismusorganisation UNWTO. Der jährliche Mitgliedsbeitrag an diese 22 Organisationen beträgt rund 23 Millionen Euro. Der Mitgliedsbeitrag in der Internationalen Organisation für Sozialen Tourismus beträgt 4 090 Euro. Das sollten wir uns wohl leisten können.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der alltäglichen Debatte der Tourismuspolitik gibt es einen Bereich, der in Deutschland nur selten explizit Beachtung findet. Das ist der Sozialtourismus, über den wir heute beraten, wenn auch leider nur am Rande inhaltlich. Ich finde es aber außerordentlich wichtig, dass wir das Thema heute überhaupt auf der Agenda des Hohen Hauses haben. Ich möchte das Thema Sozialtourismus mal etwas von der abstrakten, institutionellen Ebene runterbrechen. Denn der Beitritt zur OITS kann Zu Protokoll gegebene Reden nur ein erster Schritt sein. Vielmehr muss es darum gehen, politische Ansätze und sogar eine neue Kultur für das Thema Sozialtourismus zu finden. Die OITS wird mit seinen zahlreichen Experten sicher viele Impulse geben können. Genau diese sind vonnöten. Was jedoch muss das Ziel sein? Ich möchte auf die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Sozialtourismus in Europa“, die am 13./14. September 2006 beschlossen worden ist, verweisen. Hier finden sich einige äußerst interessante Ansätze. Zwei davon möchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben: Erstens. Unter Punkt 4.2.1 wird die Agence nationale pour les chèques-vacances, ANCV, mit einem Geschäftsvolumen von circa einer Milliarde Euro beschrieben. Dieses Beispiel sollte uns ein Vorbild sein. Weiter heißt es - daraus möchte ich direkt zitieren -: Sozial und wirtschaftlich ist das Programm eindeutig rentabel, denn einerseits konnten dadurch viele ältere Menschen erstmals in Urlaub fahren, andere Städte und Gegebenheiten kennen lernen, gleichberechtigte soziale Kontakte knüpfen und ihren körperlichen Zustand verbessern, wobei eine vernünftige Qualität und die Akzeptanz durch die Nutzer gewährleistet ist; und andererseits werden für jeden in das Programm investierten Euro 1,70 EUR wieder eingenommen. Zweitens. Es heißt in den Empfehlungen unter Punkt 9.3: Den Touristikunternehmen sei empfohlen, sich entschlossen an den Sozialtourismusaktivitäten zu beteiligen, Der Sozialtourismus vertritt Werte, die mit einer korrekten Unternehmensführung, Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität vereinbar sind … Etwas anderes, was mich in diesem Zusammenhang besonders bewegt: Am heutigen Tag findet der Kinderund Jugendreisegipfel statt. Gerade für diese Zielgruppe ist es von außerordentlichem Interesse, Ansätze zu finden, wissen wir doch alle um die außerordentlich positiven Effekte des Reisens in jungem Alter. Nicht umsonst heißt es: Reisen bildet. Was ist jedoch das Problem? Einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge besteht für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland die Gefahr, nicht an Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen zu können. Betroffen von Armut sind oft junge Menschen, die in Familien leben, in denen die Eltern arbeitslos sind oder sehr wenig verdienen, welche einen Migrationshintergrund haben, welche kinderreich sind oder die Alleinerziehende sind. Die Teilhabe am Reisen unterstützt eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Während die Urlaubsintensität der Deutschen ab 14 Jahren zunimmt, ergaben Urlaubsreisen mit Kindern bis zu 13 Jahren im Jahr 2008 mit lediglich 17 Prozent den niedrigsten Wert seit seiner Erfassung im Jahr 1996, als der Wert noch bei 22 Prozent lag. Diese Zahlen stammen übrigens aus einem Papier des Wirtschaftsministeriums mit dem Titel „Kinder- und Jugendreisen 2009“. Wie uns die Studie „Deutsche Kinder- und Jugendreisen 2008“ verrät, gibt es in Deutschland zwar mit 82,2 Prozent eine auch im internationalen Vergleich hohe Urlaubsreiseintensität bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren. Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien ({0}) nehmen allerdings deutlich weniger am Tourismus teil. Öffentlich geförderte Kinder- und Jugendreisen sind dabei sowohl im Kontext von Kinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf die internationale Jugendarbeit seit den 90er-Jahren rückläufig. Laut Experten sind staatliche Förderungen im Kinder- und Jugendreisebereich um 30 Prozent und somit auch Zuschüsse an die Träger gesunken. So besteht nicht nur die Gefahr, dass Kinder- und Jugendreisen teurer werden. Auch wird dieses Arbeitsfeld nach einer dynamischen Entwicklung in den 80er- und 90er-Jahren weiterhin von erheblichem Ressourcenabbau und Einsparungen betroffen sein. Während die Zahl der außerschulischen Bildungsmaßnahmen in den Jahren 2000 und 2004 weitestgehend konstant geblieben ist, hat sich die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen um 23 Prozent reduziert. Kinder von Hartz-IV-Empfängern bekommen zwar die Kosten für mehrtägige Klassenfahrten von den Jobcentern erstattet - siehe § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II -. Familien, die über geringes Einkommen verfügen, jedoch keine Leistungen nach dem SGB II beziehen, werden nicht unterstützt. Wir sehen in allen Punkten: Der politische Weg kann nur ein integrativer sein. Wir brauchen auch die Reiseveranstalter. Die OITS bietet da mit seinen 140 Mitgliedern, von denen einige Unternehmen sind, ein geeignetes Forum. Mein Fazit: Ich denke, nach all dem ist es sinnvoll, dass wir uns an der International Organisation of Social Tourism beteiligen. Allerdings reicht eine Beteiligung an einer internationalen Organisation nicht aus, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Dazu muss auch ein politischer Wille in einer wenig sozialpolitisch orientierten Regierung, wie wir sie momentan haben, erkennbar sein. Wir müssen in Deutschland eine Kultur des Sozialtourismus entwickeln, die es in dieser Form bisher noch nicht gegeben hat.

Ernst Burgbacher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003063

Die Bundesregierung hat den Antrag der Fraktion Die Linke zur Kenntnis genommen. Dem Antrag liegt die Idee zugrunde, den Tourismus allen Bürgern Deutschlands zugänglich zu machen, unabhängig von deren Alter, sozialem und wirtschaftlichem Status oder einer möglichen Behinderung. Das entspricht auch dem Anliegen der Bundesregierung. Die Bundesregierung setzt sich für die Teilhabe aller am Tourismus ein. Barrierefreiheit ist ein wichtiger Teil unserer Politik. Einige Beispiele, die die Unterstützung der Teilhabe aller am Tourismus dokumentieren: Die Bundesregierung engagiert sich seit Jahren - und mit Erfolg - für das barrierefreie Reisen in Deutschland. Im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes unterstützt die Bundesregierung internationale BegegZu Protokoll gegebene Reden nungen und andere Reiseformen für Kinder und Jugendliche. Die Bundesregierung fördert Maßnahmen der internationalen Jugendarbeit aus dem Kinder- und Jugendplan des Bundes mit jährlich rund 35 Millionen Euro. Seit über fünfzig Jahren fördert die Bundesregierung, BMFSFJ, den Bau und die Einrichtung gemeinnütziger Familienferienstätten in Deutschland. Deren Dienstleistungen richten sich ganz besonders an kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Familien mit behinderten Angehörigen sowie Familien mit niedrigem Einkommen, die auf dem touristischen Markt häufig keine geeigneten Angebote finden. Die gemeinnützigen Familienferienstätten sind verpflichtet, während der bundesweiten Schulferien keine Saisonaufschläge zu erheben. Wirtschaftlich unterstützungsbedürftige Familien, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen können in den meisten dieser Einrichtungen von Preisnachlässen profitieren. In 13 Bundesländern werden Familien mit relativ geringem Einkommen bei der Finanzierung gemeinsamer Ferien in einer gemeinnützigen Familienferienstätte - zum Teil auch in familiengeeigneten Jugendherbergen oder auf familiengeeigneten Bauern- und Winzerhöfen mit einem Zuschuss des Landes unterstützt. Auf lokaler Ebene gibt es zum Beispiel Programme zur Kinder- und Jugenderholung. Damit sind Aufenthalte von Kindern und Jugendlichen in Ferienlagern usw. ebenso gemeint wie Naherholungsaufenthalte in der regionalen Umgebung. Der überwiegende Teil dieser Maßnahmen wird von freien Trägern organisiert und aus öffentlichen Mitteln finanziert. Die Maßnahmen kommen in erster Linie solchen Kindern zugute, deren Eltern keinen Urlaub finanzieren können. Sowohl Bund als auch Länder und Regionen widmen der Teilhabe aller am Tourismus große Aufmerksamkeit. Dafür bedarf es keiner Mitgliedschaft der Bundesregierung in einer internationalen Organisation, die im Übrigen den Steuerzahler Geld kosten würde. Das würde auch deshalb wenig Sinn machen, weil die Kompetenz für die Entwicklung des Tourismus - auch unter dem Aspekt der Teilhabe aller - in unserem föderalen System eindeutig bei den Ländern liegt. Die Organisation lnternationale du Tourism Social - abgekürzt: OITS -, um die es in dem Antrag geht, ist affiliertes Mitglied der Welttourismusorganisation, UNWTO, und arbeitet eng mit dem Sekretariat und den Mitgliedstaaten der UNWTO - also auch mit Deutschland - zusammen. Insofern hat die Bundesregierung als Mitglied der UNWTO natürlich Kenntnis von den Aktivitäten der OITS. Auch unter diesem Aspekt ist eine Mitgliedschaft der Bundesregierung in dieser Organisation nicht erforderlich. Im Übrigen ist das BundesForum Kinder- und Jugendreisen seit 2001 Mitglied in der OITS und arbeitet im Vorstand der Organisation aktiv mit. Auch anderen Verbänden und Organisationen, die sich mit der Teilhabe aller am Tourismus befassen, steht es jederzeit frei, Mitglied zu werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4844 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({0}), Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu einer menschenrechtskonformen Reform der Sicherungsverwahrung - Drucksache 17/4593 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bündnis 90/Die Grünen treten hier heute mit dem Anspruch an, einen Gesetzentwurf zu einer menschenrechtskonformen Reform der Sicherungsverwahrung - so die selbst gewählte Überschrift für die Drucksache 17/4593 - vorzulegen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit dem Gesetzentwurf, der dann dieser Überschrift folgt, sind Sie allerdings krachend am selbst gesetzten Anspruch gescheitert. Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist weder eine Reform, noch ist er ein Gesetzentwurf für eine menschenrechtskonforme Reform. Es ist schlicht und ergreifend der Entwurf eines Aufhebungsgesetzes. Meinen Sie das wirklich ernst? Sind Sie wirklich der Ansicht, dass man bloß die Vorschriften für die nachträgliche Sicherungsverwahrung zu streichen brauche, und schon seien alle Probleme gelöst? Leben Sie im Wolkenkuckucksheim? Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist nun wirklich zu kurz gesprungen. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Einlassungen des Kollegen Montag während der Debatte um das von der christlich-liberalen Koalition eingebrachte Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung. Sie haben sinngemäß gesagt, Ihre Fraktion werde sich nicht konstruktiv an der Debatte beteiligen. Offen gestanden: Dass Sie Ihr Wort durch einen so destruktiven Gesetzentwurf wahr machen würden, damit hätte ich nicht gerechnet. Es ist doch nun wirklich jedem klar, dass wir uns bei der derzeitigen Diskussion um die Sicherungsverwahrung in einem ausgesprochen schwierigen Spannungsfeld bewegen: hier unsere Konzeption der Maßregeln der Besserung und Sicherung, die nach der Tradition der Zweispurigkeit des deutschen Strafrechts systematisch nicht als Strafen angesehen wurden, was im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht stets so gesehen hat - und im Ergebnis die entsprechenden nachträglichen gesetzlichen Regelungen immer hat passieren lassen -, und dort die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der auf der Grundlage der EMRK zum Ergebnis kommt, dass das bisher angewandte System der Sicherungsverwahrung den Anforderungen von Art. 7 und Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht genügt. Dieses Spannungsverhältnis müssen wir auflösen. Das ist ohne Zweifel eine knifflige Herausforderung, vor der wir stehen, vor der wir im Übrigen nicht alleine stehen. Erkennbar steht auch das Bundesverfassungsgericht vor der Frage, wie dieses Spannungsverhältnis aufzulösen ist. Davon konnte man sich bei der mündlichen Verhandlung in Sachen Sicherungsverwahrung vor gut zwei Wochen in Karlsruhe überzeugen. Oder: Man hätte sich davon überzeugen können; aus den Reihen der Opposition hat dem Verfahren jedenfalls niemand gelauscht. Wenn man sich die vermeintlich einfache Lösung, die Bündnis 90/Die Grünen hier vorlegen, anschaut, kann man das auch verstehen. Zu viel Auseinandersetzung mit der Sache hätte sich für dieses Ansinnen als schädlich erwiesen. Denn vielleicht hätte man ja ins Nachdenken kommen können. Faktum ist doch, dass es auch Schutzpflichten des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern gibt. Der Staat muss die Menschen vor gefährlichen Straftätern wirksam schützen können. Diese Schutzpflicht blenden Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vollkommen aus. Das hat noch nicht einmal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte getan. Er hat die Schutzpflichten, die ihrerseits ihren Ausdruck in der EMRK finden, immerhin gesehen. Aus unserer Sicht hat er sie dann allerdings nicht oder nicht ausreichend in die Abwägung gegenüber Art. 5 und Art. 7 einbezogen. Das ist aus unserer Sicht ein Versäumnis des EGMR. Ihr Versäumnis ist, dass die Schutzpflichten im Gesetzentwurf auf Drucksache 17/4593 überhaupt keinen Niederschlag finden. Das ist zu wenig für einen diskutablen Gesetzentwurf. Will man das Spannungsfeld wirklich auflösen, so steht man natürlich scheinbar vor der Quadratur des Kreises. Eine echte Reform muss das aber für sich in Anspruch nehmen. Wir haben mit dem Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und dem Therapieunterbringungsgesetz einen ersten Schritt dazu unternommen. Dem haben Sie sich von Bündnis 90/ Die Grünen seinerzeit bereits verweigert. Hätten Sie ein echtes Alternativkonzept dazu vorgelegt, so hätte man die Verweigerung ja noch verstehen können. Heute stellen Sie mit dem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/4593 allerdings unter Beweis, dass Sie keine Alternative vorlegen können. Ihr Gesetzentwurf ist damit nur eins: ein Dokument des Scheiterns. Uns wird das nicht beirren. Wir haben mit dem Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung unter Beweis gestellt, dass wir uns daranmachen, das Spannungsfeld aufzulösen, nicht bloß - wie Sie - aufzuheben. Damit werden wir fortfahren. Denn für uns ist die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ebenso wichtig wie die Folgerungen aus Art. 5 und Art. 7 der EMRK. Ihren Gesetzentwurf, der nicht einmal im Ansatz ein Reformentwurf ist, lehnen wir ab.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich war bei der Neuregelung der Sicherungsverwahrung, die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist, davon auszugehen, dass die Sicherungsverwahrung ein aktuelles Thema bleibt. Denn es war klar, dass es weitere Entscheidungen deutscher Gerichte wie auch des Europäischen Gerichtshofs dazu geben würde. Wenig überraschend ist deshalb, dass zu dem Streitthema Sicherungsverwahrung nun auch eine parlamentarische Initiative von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorliegt. Wenig überraschend ist allerdings auch der Inhalt der Initiative, denn die Vorschläge sind bereits bei den Beratungen im Gesetzgebungsverfahren zu dem Neuregelungsgesetz diskutiert worden. Das gilt zunächst für das Problem der nach wie vor unverändert existierenden nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht. Freilich war es die SPD-Bundestagsfraktion, die bereits in der ersten Lesung des Gesetzes zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung explizit angemahnt hatte, dass die in der Entwurfsbegründung geäußerten Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Erwachsenen konsequenterweise zu einer Neuregelung der Sicherungsverwahrung auch im Jugendgerichtsgesetz führen müssen. Deshalb haben wir sowohl in den Ausschussberatungen als auch bei der abschließenden Plenarberatung einen Änderungsvorschlag unterbreitet, der den Wegfall der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit entsprechenden Anpassungen im Jugendgerichtsgesetz nachzeichnen sollte. Bedauerlicherweise ist unser Vorschlag nicht aufgegriffen worden. Von den Koalitionären wurde aber eine Regelung zugesagt. Deshalb erwarten wir jetzt von der Koalition, dass sie zu ihren Ankündigungen steht und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegt, und zwar zügig vorlegt. Im Gesetzgebungsverfahren intensiv diskutiert worden sind auch die beiden weiteren Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen, nämlich die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht nur für Neufälle, sondern für alle Fälle. Diskutiert wurde auch das Problem, dass im Jahre 1998 unter der damaligen schwarz-gelben Regierung die Zehnjahreshöchstfrist für die Sicherungsverwahrung abgeschafft wurde. Selbstverständlich gelten auch für Täter, die schwere Straftaten verübt haben, rechtsstaatliche Grundsätze. Zugleich galt und gilt es, einen gangbaren Weg zu finden, um das Problem zu lösen. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von Dezember 2009 zur Sicherungsverwahrung galt es, dafür zu sorgen, die Sicherungsverwahrung zu einem rechtlich haltbaren Instrument zu gestalten, um gefährliche Täter sicher unterbringen und die Bevölkerung vor ihnen schützen zu können. Der nationale Gesetzgeber durfte und darf die Antwort auf die Frage nicht schuldig bleiben, auf welche Weise der berechtigte Anspruch der Gesellschaft auf adäquaten Schutz vor gefährlichen Straftätern und Rückfalltätern zu realisieren ist. Vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Entlassungen von als gefährlich angesehenen Sicherungsverwahrten ist die Beunruhigung in der Bevölkerung gewachsen. Es geht aber nicht nur um ein subjektives Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung. Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass es eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe von Tätern Zu Protokoll gegebene Reden gibt, die tatsächlich eine permanente Gefahr für die Gesellschaft darstellen. In diesen begründeten Einzelfällen muss es die Möglichkeit geben, die Gesellschaft vor diesen Menschen und diese Menschen vor sich selbst zu schützen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich deshalb der gesetzgeberischen Verantwortung gestellt, dafür zu sorgen, dass einerseits die Rechte der Verurteilten gewahrt werden und andererseits die Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern geschützt wird. Diesem Abwägungsprozess Rechnung tragend haben wir uns entschieden, in einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Bundesjustizministerin und den Vertretern der Koalition um eine Lösung in diesem Sinne zu ringen. Wir haben uns das nicht leicht gemacht und es ist uns gelungen, wichtige Änderungen an den ursprünglichen Plänen zu erreichen. Ergebnis ist das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung. Wie schon Ende Dezember 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - allerdings nach wie vor mit Blick auf das alte Recht - in seinen Entscheidungen am 13. Januar 2011 noch einmal im Wesentlichen einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gerügt. In drei Fällen ging es um die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die seinerzeit zulässige Höchstdauer von zehn Jahren hinaus. Für dieses Problemfeld ist jedoch letztendlich entscheidend, ob es sich bei der Sicherungsverwahrung, so wie sie ausgestaltet ist, um eine Strafe handelt. In seiner Entscheidung von Dezember 2009 hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Sicherungsverwahrung in der deutschen Praxis für kaum vom Strafvollzug unterscheidbar und bewertete sie deshalb als Strafe, die rückwirkend eben nicht verhängt werden dürfe. Auch in seinen Entscheidungen vom 13. Januar 2011 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Ergebnis, dass durch Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer über die Zehnjahresfrist hinaus eine Verletzung sowohl des Art. 5 Abs. 1 EMRK wie auch des Art. 7 Abs. 1 EMRK vorliegt bzw. in einem Fall vorlag. Ihrer Konzeption nach ist die Sicherungsverwahrung eigentlich eine Maßregel der Besserung und Sicherung. An diesem Konzept hat der Gesetzgeber festgehalten und nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Zusammenhang mit der Neuregelung der Sicherungsverwahrung ein neues Gesetz erlassen, das Therapieunterbringungsgesetz, ThUG. Es hat zum Ziel, die Allgemeinheit vor psychisch gestörten Sexual- und Gewaltstraftätern zu schützen, indem solche Täter eine zielgerichtete intensive Behandlung in geeigneten Einrichtungen erfahren. Dabei steht die Therapie im Vordergrund, und die Unterbringung in Spezialeinrichtungen soll gerade keine zweite Haft darstellen. Jetzt muss sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage beschäftigen, wie mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzugehen ist, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund der zum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Neuregelung der Sicherungsverwahrung, die die Straßburger Richter nicht zum Maßstab gemacht hatten. Am 8. Februar fand in Karlsruhe die mündliche Verhandlung statt, die endgültige Entscheidung steht allerdings noch aus. Ob sie im Sinne der Vorschläge ausfallen wird, die jetzt von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wurden, darf immerhin bezweifelt werden, denn anders als die Straßburger Richter, die bei ihrer Rechtsprechung den Aspekt der staatlichen Schutzpflichten des Staates nicht im Fokus hatten, müssen die Karlsruher Richter dem Recht des Einzelnen auf Freiheit und dem Verbot rückwirkender Bestrafung sowie dem Bedürfnis der Allgemeinheit auf Schutz vor weiterhin gefährlichen Tätern Rechnung tragen.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, weitere Änderungen im Anordnungsrecht der Sicherungsverwahrung vorzunehmen, lehnt die FDP ab. Der Gesetzentwurf enthält drei Forderungen: erstens Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für alle Fälle, zweitens Beseitigung der rückwirkenden Streichung der Zehnjahreshöchstfrist, drittens Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht. Lassen Sie mich zu Beginn ein paar Worte zu dem am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Reform der Sicherungsverwahrung sagen: Mit der Neuordnung wurde erreicht, dass die Sicherungsverwahrung als schärfste Sanktion, die das deutsche Strafrecht kennt, nur noch dort verhängt wird, wo sie zum Schutz der Bevölkerung auch wirklich nötig ist. Dabei wurden die Regelungen der Sicherungsverwahrung besser aufeinander abgestimmt und damit auch für die Rechtsanwender, also Richter und Staatsanwälte, wieder übersichtlicher und nachvollziehbarer. Darauf kann die christlich-liberale Koalition wahrlich stolz sein. Nun zu den einzelnen Forderungen des hier vorliegenden Gesetzentwurfs: Im Rahmen der Reform wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Neufälle abgeschafft. In der Praxis hatte sich gezeigt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung bei der verfassungsrechtlich gebotenen restriktiven Auslegung dieser Regelungen nur in wenigen Ausnahmefällen in Betracht kam, insbesondere weil es fast immer daran fehlte, dass sich die Gefährlichkeit des Täters erst im Strafvollzug aufgrund erheblicher neuer Tatsachen ergab. Der BGH hat seit Sommer 2004 lediglich in gut einem Dutzend Verfahren entsprechende Anordnungen bestätigt, während bereits bis Mitte 2008 in knapp 100 Fällen die Anordnung abgelehnt wurde. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung war als Instrument schlichtweg untauglich, um die wirklich gefährlichen Straftäter zu identifizieren. Für die sogenannten Altfälle, das heißt die Anlasstat geschah vor Inkrafttreten der Neuregelung, müssen die Möglichkeiten zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung jedoch unverändert bestehen bleiben. Das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf Altfälle auszudehnen, wäre nicht nur unbedacht, sondern auch leichtfertig. Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liefert dafür entspreZu Protokoll gegebene Reden chend eine ungenügende Begründung. Mit der Regelung solle verhindert werden, dass es in Zukunft auch auf viele Jahre zu einem Nebeneinander der alten und der neuen Regelungen der Sicherungsverwahrung komme. Dabei wird der entscheidende Grund, weshalb der Gesetzgeber genau dies nicht wollte, offenbar übersehen. Eine solche Regelung würde im Recht der Sicherungsverwahrung eine erneute Lücke reißen, da das neue System wegen des Rückwirkungsverbotes auf die Altfälle nicht erstreckbar ist. Das mögen die Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen endlich zur Kenntnis nehmen. Die Behauptung, die neue Rechtslage führe dazu, dass auf unabsehbare Zeit die nachträgliche Sicherungsverwahrung bei Vorliegen der Voraussetzungen verhängt werden müsse, trifft nicht zu. Die Altfälle werden die Praxis noch in den nächsten fünf bis zehn Jahren beschäftigen, weil so lange noch Entlassungen aus dem Strafvollzug anstehen werden. Diese Dauer ist wegen der genannten Gründe hinzunehmen. Im Vergleich zu dem Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung insgesamt, das Rot-Grün zu verantworten hat, bedeuten die neuen Regelungen endlich Rechtssicherheit. Laut des hier zu beratenden Gesetzentwurfs werde die Beseitigung der rückwirkenden Streichung der Zehnjahreshöchstfrist für erforderlich erachtet. Es wird gefordert, dass das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 auf alle Taten Anwendung finden solle, über deren Taten bis zum Stichtag des 31. Januar 1998 noch nicht rechtskräftig entschieden worden sei. Dieser Forderung darf keineswegs gefolgt werden. Um es einmal deutlich zu machen: Diese Forderung, würde man sie tatsächlich gesetzlich umsetzen, käme einem Freilassungsgesetz gleich. Vor dem Hintergrund des Schutzes der Bevölkerung wäre dies ebenfalls unverantwortlich. Einen Freilassungsautomatismus darf es nicht geben. Jeder einzelne Fall muss gesondert gewürdigt und unter Berücksichtigung aller Interessen gerichtlich entschieden werden. In der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts am 8. Februar 2011, die vier Verfassungsbeschwerden zum Gegenstand hatte, hat Präsident Voßkuhle als Berichterstatter für zwei der Verfahren in seiner Einführung angemerkt, dass der EGMR bei seiner Entscheidung zur Unvereinbarkeit rückwirkender Sicherungsverwahrung mit der EMRK die Sicherungsinteressen der Allgemeinheit „nur ganz am Rande“ in den Blick genommen habe. Die Rechtsprechung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs geht sogar soweit, dass die vom EGMR als unzulässig beurteilte rückwirkende Sicherungsverwahrung gleichwohl dort fortzusetzen sei, wo ein ganz besonders hohes Maß an Gefahr für die Allgemeinheit bestehe. Die FDP fühlt sich darin bestätigt, die Betroffenen der rückwirkenden Streichung der Zehnjahresfrist auf den Rechtsweg zu verweisen, weil nur so die gegeneinander abzuwägenden Belange angemessen berücksichtigt werden können. Das Recht der Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht konnte nicht zusammen mit der nun abgeschlossenen Reform der Sicherungsverwahrung behandelt werden, weil es zwei verschiedene Rechtsmaterien sind. Im Jugendstrafrecht gelten Eigenheiten, die einer besonderen Berücksichtigung bedürfen. Hier ist aber auf die bereits benannten Verfassungsbeschwerden hinzuweisen, von denen ein Verfahren einen solchen Fall betrifft. Mit der Entscheidung ist erst im Sommer zu rechnen, weshalb voreiliges Handeln nicht angebracht erscheint. Stellt sich also heraus, dass gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich sein. Mit der Reform der Sicherungsverwahrung wurden die bestehenden Rechtsunsicherheiten beseitigt und zugleich der Schutz der Bevölkerung vor schweren Gewaltstraftätern verbessert. Dabei wurden zugleich Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vermieden. Weitere Änderungen hält die FDP daher für nicht angebracht.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist bedauerlich, dass wir erneut über das Thema Sicherungsverwahrung sprechen müssen. Der von den Grünen vorgelegte Gesetzentwurf ist zu begrüßen. Wir hätten uns diese Debatte und den Gesetzentwurf der Grünen sparen können, hätte die Koalition aus der im letzten Jahr stattgefundenen Anhörung zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung gleich die richtigen Konsequenzen gezogen. Aber dazu fehlte ihr der nötige Wille. Statt tatsächlich europarechtskonform die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur für Neufälle abzuschaffen, hat die Koalition aus Rücksicht auf die Stammtische die Sicherungsverwahrung für Altfälle einfach beibehalten. Dass dies bedenklich ist, ist mehrfach ausgeführt worden. In der Anhörung und auch hier im Plenum ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass bei Beibehaltung der Sicherungsverwahrung für Altfälle die nicht unerhebliche Gefahr besteht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Regelung für nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar hält. Und tatsächlich haben diejenigen, die eine solche Vermutung aufgestellt haben, recht behalten. Das Urteil des EGMR vom 13. Januar 2011 hat nun ausdrücklich die Unvereinbarkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a EMRK festgestellt. Der Art. 5 b Abs. 1 verlangt für eine rechtmäßige Freiheitsentziehung einen Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung - Schuldfeststellungen durch das Strafgericht - und der späteren Anordnung der Sicherungsverwahrung - Gefährlichkeitsfeststellungen durch die Strafvollstreckungskammer. Und genau der fehlt bei der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung. Nach einem alten Sprichwort könnte ich mich jetzt hier hinstellen und sagen: Wer nicht hören kann, muss fühlen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, müssen nun fühlen. Sie müssen sich ganz schnell auf ihren Hosenboden setzen und eine europarechtskonforme Neuregelung schaffen. Das „fühlen“ ist allerdings nicht so schwierig. Sie können nämlich an diesem Punkt einfach den Gesetzentwurf der Grünen übernehmen und vermutlich in dieser Frage Einstimmigkeit im Hohen Zu Protokoll gegebene Reden Haus erzielen. Sie müssen dazu nur einmal über Ihren Schatten springen und den Stammtischen Widerspruch entgegensetzen. Beweisen Sie einmal Mut und zeigen Sie, dass nicht die Stammtische, sondern das Recht Ihr Handlungsmaßstab ist. Wenn Sie das an sich fragwürdige Instrument der Sicherungsverwahrung wenigstens rechtskonform machen wollen, dann sollten Sie auch einen weiteren Aspekt berücksichtigen. Ein Verstoß gegen die EMRK ist nämlich auch die rückwirkende Aufhebung der Zehn-JahresHöchstfrist. Und damit Sie Argumentationsmaterial haben, nenne ich Ihnen auch noch den genauen Paragrafen, gegen den die rückwirkende Aufhebung der ZehnJahres-Höchstfrist verstößt. Es handelt sich hierbei um Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a und Art. 7 Abs. 1 EMRK. Auch für Sie gilt, was jeder Jurastudentin und jedem Jurastudenten von Anfang an beigebracht wird: Ein Blick ins Gesetz erhöht die Kompetenz. Es ist jedenfalls für die Linke ein unhaltbarer Zustand und eine Beschädigung des Rechtsstaates, dass Menschen trotz festgestellten Verstoßes gegen die EMRK weiterhin in Sicherungsverwahrung bleiben. Deshalb ist es richtig, dass mit dem vorgelegten Gesetzentwurf gefordert wird, dass auf all diejenigen Gefangenen, die wegen Taten, über die bis zum 31. Januar 1998 noch nicht rechtskräftig entschieden worden war, die Rechtslage Anwendung findet, die bei Begehung ihrer Tat aktuell war. Deshalb fordern wir die Einhaltung des Rechts und damit, dass all jene, die bereits länger als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung sitzen, obwohl zur Tatzeit die Höchstdauer auf zehn Jahre begrenzt war, unverzüglich aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen sind. Besonders wichtig erscheint uns die Aufhebung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende. Allerdings, liebe Freunde von den Grünen, sind Sie hier ein wenig inkonsequent. Die Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende an sich gehört abgeschafft, sie ist mit dem System des JGG einfach unvereinbar. Der Gesetzentwurf der Grünen insgesamt kann aber nicht unsere Zustimmung finden, wir werden ihn allerdings auch nicht ablehnen. So löblich es ist, das Urteil des EGMR zum Anlass zu nehmen, das Thema Sicherungsverwahrung erneut aufzugreifen, so sträflich ist es, die grundlegenden Kritikpunkte am Recht der Sicherungsverwahrung nicht zu thematisieren. Ich will hier nur kurz die Themen benennen: Therapieunterbringungsgesetz, die durch § 66 b StGB beibehaltene Möglichkeit, die nachträgliche Sicherungsverwahrung für alldiejenigen anzuordnen, bei denen aufgrund eines nicht mehr vorliegenden pathologischen Zustandes im Sinne der §§ 20 und 21 StGB die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik für erledigt erklärt worden ist, Beibehaltung der Raub- und Erpressungsdelikte - auch der gewaltanwendungsfreien -, Betäubungsmittel- sowie Brandstiftungsdelikte als Anlasstaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung. All dies wird - und darauf haben wir als Linke bereits mehrfach hingewiesen - dem Institut der Sicherungsverwahrung, wenn man sich überhaupt auf dieses Institut als „schärfstes Mittel der Kriminalpolitik“ einlässt, nicht gerecht. Mithin enthält der Gesetzentwurf der Grünen bloß eine wegen des jüngsten EGMR-Urteils zwingend erforderliche Minimalkorrektur. Wesentliche Ungerechtigkeiten im Rahmen der Sicherungsverwahrung bleiben aufrechterhalten und eine grundsätzliche Kritik am Institut der Sicherungsverwahrung - wie potenzielles Weggesperrtsein auf Lebenszeit aufgrund unsicherer Gefahrenprognose, Abkoppelung des Strafrechts vom Schuldprinzip und Hinwendung zum Präventivstrafrecht, Doppelbestrafungsverbot, Abkehr von Resozialisierungsgedanken und kontraproduktive Wirkungen auf die Therapie während der Strafhaft - wird vom Gesetzentwurf nicht aufgenommen. Wir glauben, dass es an der Zeit wäre, die Debatte um das Thema Sicherungsverwahrung noch einmal grundsätzlich aufzumachen. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Expertenkommission einzurichten und externen Sachverstand einzuholen. Lassen Sie die Fakten sprechen und nicht die Stammtische. Dann - und da bin ich mir sicher - können wir das Thema seriös behandeln und lassen uns nicht von Emotionen treiben. Die Chance wäre mit dem Urteil des EGMR gegeben. Lassen Sie uns diese Chance nutzen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die schuldangemessene Bestrafung von Straftätern, aber auch der Freiheitsentzug für nach der Verbüßung weiterhin hochgefährliche Menschen können notwendige Maßnahmen sein, zu denen der Staat als äußerstes Mittel greifen darf und muss. Diese Einsicht folgt der unabweisbaren Erfahrung, dass es wenige Menschen gibt, die wegen einer Krankheit, aus Veranlagung oder fehlender innerer Hemmung eine so große und gegenwärtige Gefahr für Dritte sind, dass kein anderes Mittel als die Freiheitsentziehung zur Abwendung dieser Gefahren möglich ist. Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt und Willkür ist eine staatliche Kernaufgabe, der wir uns zu stellen haben. Die Sicherungsverwahrung ist aber auch der schwerwiegendste Eingriff in das Freiheitsgrundrecht, der in einem demokratischen Rechtsstaat möglich ist. In der Sicherungsverwahrung wird Menschen die Freiheit genommen, weil von ihnen in der Zukunft eine Gefahr für ihre Mitmenschen ausgeht, der nicht anders als eben nur durch Freiheitsentziehung begegnet werden kann. Der Rechtsstaat darf daher nur als absolute Ausnahme und nur bei Gefahr schwerster zukünftiger Straftaten zum Mittel der Sicherungsverwahrung greifen. Seit dem 1. Januar 2011 haben wir neue Regelungen zur Sicherungsverwahrung. Warum legen wir heute, nach nur acht Wochen, einen neuen Gesetzentwurf zur Reform der Sicherungsverwahrung vor? Weil es unabweisbar notwendig ist! Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland am 13. Januar 2011 - zum wiederholten Male - wegen eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt. Der Gerichtshof hat die Regelungen, wonach die Sicherungsverwahrung nicht nur zugleich mit dem Strafurteil, Zu Protokoll gegebene Reden sondern noch viele Jahre später zum Ende der Strafhaft verhängt werden kann, als einen Verstoß gegen Menschenrechte beanstandet. Die sogenannte nachträgliche Sicherungsverwahrung ist zwar - für die Zukunft - in Teilbereichen und halbherzig abgeschafft worden. Aber nach dem Urteil des EGMR muss dringend nachgebessert werden. Denn das Straßburger Gericht hat recht. Auch nach der neuen Reform verstößt Deutschland gegen die Menschenrechte. Und ich prophezeie Ihnen weitere Verurteilungen durch den Gerichtshof, wenn Sie das Gesetz nicht so ändern, dass es zu einer menschenrechtskonformen Reform der Sicherungsverwahrung kommt. In der Presse sind Stellungnahmen des Bundesjustizministeriums zu lesen, wonach das Urteil nur die frühere Rechtslage betreffe, die ja inzwischen durch die Koalition geändert wurde. Das ist falsch. Die Koalition hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung mit der letzten Reform nicht abgeschafft, sondern nur für die Zukunft eingeschränkt. Es wurde verbreitet, dass das Urteil letztlich nicht mehr als 20 Personen betreffe. Auch das ist falsch. Bei Straftaten vor dem 1. Januar 2011 bleibt es auf Jahrzehnte und für Tausende von Menschen dabei, dass sie - bei Vorliegen der sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen - in die nachträgliche Sicherungsverwahrung gelangen können. Darin liegt ein tausendfacher und auf Jahrzehnte fortdauernder Menschenrechtsverstoß. Der vielleicht noch größere Skandal liegt aber darin, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Täter, die nach Jugendrecht verurteilt wurden und auch in Zukunft werden, uneingeschränkt fortbesteht. Damit werden junge Straftäter schlechtergestellt als schon Erwachsene. Um ein für alle Mal mit Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention Schluss zu machen, fordern wir mit unserem Gesetzentwurf - wie bereits mit unserem Änderungsantrag zur Reform - die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur für Neufälle, sondern für alle Fälle abzuschaffen. Zwischen 1974 und 1998 galt eine Zehnjahreshöchstfrist für die Sicherungsverwahrung. Sicherungsverwahrte wurden spätestens nach zehn Jahren Vollzug der Maßnahme aus dieser entlassen. Eingeführt wurde diese Befristung übrigens aus dem nach wie vor geltenden Gedanken, dass unter Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes keine Freiheitsentziehung endlos vollstreckt werden darf, und zwar unter dem SPD-Justizminister Gerhard Jahn. Die letzte schwarz-gelbe Koalition hat diese Befristung im Januar 1998 aus dem Gesetz gestrichen, ohne Übergangsbestimmungen und somit rückwirkend auch für Menschen, die zur Sicherungsverwahrung verurteilt wurden, als für sie noch die Zehnjahresfrist galt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits im Dezember 2009 festgestellt, dass diese Rückwirkung dem menschenrechtlichen Verschlechterungsverbot unterfällt, und Deutschland deswegen verurteilt. In neuen Entscheidungen vom 13. Januar 2011 hat der Menschenrechtsgerichtshof seine Auffassung bekräftigt und seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass Deutschland, ein Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Rechtsprechung des Gerichts offensichtlich ignoriert und missachtet. Die jetzige schwarz-gelbe Koalition hat diesen fortwährenden Menschenrechtsverstoß durch deutsche gesetzliche Regelungen nicht beseitigt. Das neue Therapieunterbringungsgesetz schafft neue verfassungsrechtliche Probleme und für die Länder enorme Umsetzungsprobleme, statt den Menschenrechtsverstoß zu beseitigen. Das wollen wir ebenfalls grundlegend ändern und sicherstellen, dass es im Recht der Sicherungsverwahrung keinerlei rückwirkende Verschlechterungen mehr gibt. Einige hoffen ja, dass sich das Bundesverfassungsgericht, dem gegenwärtig ebenfalls einige Beschwerden in Sachen Sicherungsverwahrung vorliegen, von der unbequemen menschenrechtlichen Rechtsprechung aus Straßburg absetzt. Ich sehe das nicht so. Für die Sicherungsverwahrung gilt das, was das Bundesverfassungsgericht bereits zur lebenslangen Freiheitsstrafe gesagt hat. Der frühere Verfassungsrichter Professor Dr. Hassemer hat es einmal so formuliert: Der Mensch muss eine Perspektive haben. Eine Perspektive von Freiheit. Das ist eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit, aber die schwarz-gelbe Koalition weigert sich weiterhin beharrlich, sie auszusprechen. Genauso weigern Sie sich, auf Frau Dr. Renate Jaeger, die frühere deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu hören, die letzte Woche zur Sicherungsverwahrungsdebatte klar und deutlich gesagt hat: „Auch Mörder haben Rechte“. Diese richtige Grundhaltung hat nichts mit angeblichem Täterschutz zu tun, der ernster als der Opferschutz genommen werde. Wir wollen Opfer und gefährdete Menschen schützen und haben dazu viele konkrete und umfassende Vorschläge gemacht. Aber Prävention und Strafverfolgung können nur gelingen und Bestand haben, wenn sie sich im Rahmen der Grundrechte und Menschenrechte bewegen, die allen Menschen zustehen, auch solchen, die gefehlt haben und von denen möglicherweise Gefahren für andere ausgehen. Wir appellieren an Sie, unseren Gesetzentwurf ernsthaft zu beraten und unsere Vorschläge zur menschenrechtlichen Ausrichtung der Regelungen zur Sicherungsverwahrung aufzugreifen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/4593 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 24: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms zu der legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Januar 2011 zu dem Standpunkt des Rates in erster Lesung im Hinblick auf die Annahme einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung ({0}) Ratsdok. 11038/10 und KOM({1}) 0414 endg. hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Abs. 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union EU-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung fördert gesundheitliche Ungleichheit - Drucksache 17/4717 Stephan Stracke ({2}): Nach fast dreijährigen Verhandlungen hat das Europäische Parlament am 19. Januar 2011 die „Richtlinie zur Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ angenommen. Hierbei handelt es sich um einen Kompromiss, den das Europäische Parlament, die EU-Kommission und der Rat der EU-Gesundheitsminister ausgehandelt haben. Dieser Kompromiss stellt auch aus deutscher Sicht eine ausgewogene Lösung dar. Die Richtlinie gewährleistet den Rahmen für eine sichere, hochwertige und effiziente grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in der Europäischen Union. Sie sorgt für ein höheres Maß an Rechtssicherheit für die Patienten, die eine grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen wollen. Die Krankenkassen werden grundsätzlich verpflichtet, die Kosten für Behandlungen im EU-Ausland in der Höhe zu erstatten, wie sie auch im Inland angefallen wären. Bereits jetzt gibt es Regelungen für Notfallbehandlungen im EU-Ausland. Auch gibt es bereits Regelungen für Personen, die zwar in einem EU-Mitgliedstaat versichert sind, jedoch in einem anderen Mitgliedstaat leben und dessen Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen. Dies stellt die Mehrzahl der Fälle der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung dar. Die vorliegende Richtlinie betrifft daher nur die Fälle, in denen sich Patienten zielgerichtet für eine Behandlung im Ausland entscheiden. Damit ergänzt sie sinnvoll den bestehenden EU-Rechtsrahmen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Ihre Grundlage hat die Richtlinie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die dieser seit 1998 zur Dienstleistungsfreiheit der Patienten entwickelt hat. Er hat seitdem in ständiger Rechtsprechung das Recht der Patienten anerkannt, für eine Behandlung im Ausland bei seiner heimischen Krankenversicherung Kostenerstattung bis zu der Höhe verlangen zu können, wie für eine vergleichbare Behandlung im Inland angefallen wäre. Allerdings ergeben sich aus der Richtlinie für Deutschland in dieser Hinsicht keine grundlegenden Veränderungen. Denn wir halten uns schon lange an die Vorgaben der EU-Rechtsprechung und haben diese bereits im Jahr 2004 mit dem GKV-Modernisierungsgesetz in § 13 Abs. 4 und 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch in nationales Recht umgesetzt. Die deutschen Versicherten können daher seit Jahren ambulante Leistungen und - bei vorheriger Genehmigung - auch Krankenhausbehandlungen im EU-Ausland auf Basis von Kostenerstattung in Anspruch nehmen. Leider haben viele andere Mitgliedstaaten die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzureichend oder gar nicht berücksichtigt. Deshalb bestand dringender Handlungsbedarf im Interesse der Patientinnen und Patienten der Europäischen Union. Denn es ist unzumutbar, den einzelnen Patienten notfalls auf den Klageweg zu verweisen. Gerade für schwer kranke Patienten stellt dies keine echte Alternative dar. Im Extremfall könnte der Patient verstorben sein, bevor das Urteil gesprochen wurde. Deshalb war unstreitig, die Ausgestaltung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung nicht länger der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu überlassen. Die Richtlinie stärkt die Rechte der Patientinnen und Patienten bei der grenzüberschreitenden Versorgung. Das ist aus deutscher Sicht ausdrücklich zu begrüßen. Hervorzuheben ist, dass die Richtlinie nicht zu einer Aushöhlung der nationalstaatlichen Kompetenzen im Gesundheitsbereich geführt hat. In den ersten Entwürfen wollte die EU-Kommission nämlich hier ihre Kompetenzen ausweiten. Deutschland wollte dies nicht. Die deutsche Gesundheitsversorgung ist eine der besten in der Welt. Deshalb war es von Anfang an breiter Konsens in diesem Hohen Haus, dass es hier keiner Vergemeinschaftung bedarf. Der Deutsche Bundestag hat deshalb seine Kritik in einem Entschließungsantrag vom November 2008 deutlich gemacht und die Bundesregierung gebeten, die autonome Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre Gesundheitssysteme in den Verhandlungen zu erhalten. Nicht zuletzt hat die christlich-liberale Koalition diesen Standpunkt auch in einem Gespräch des Gesundheitsausschusses mit dem EU-Kommissar für Gesundheit, John Dalli, am 4. Oktober 2010 nochmals betont. Dabei haben wir herausgestellt, dass die nationale Kompetenz von der Kommission unangetastet bleiben muss. Dies ist uns letztlich auch gelungen. Daher bedanke ich mich auch an dieser Stelle ausdrücklich bei unserem Gesundheitsminister Dr. Rösler und seinem Ministerium für das beachtliche Engagement in dieser Hinsicht. Weitere Forderungen aus dem Entschließungsantrag wurden ebenfalls durchgesetzt. So werden Leistungen der Pflegeversicherung rechtsklar aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen und die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung von QualitätsStephan Stracke und Sicherheitsstandards ausdrücklich festgeschrieben. Außerdem werden die Vorschriften zur Kostenerstattung strikt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgerichtet. Bürokratische Regelungen sind zudem auf das sachlich Notwendige beschränkt. Vorteile und Rechtssicherheit für die Patienten ergeben sich aus den folgenden Regelungen der Richtlinie: Die Leistungen der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung werden gemäß den Rechtsvorschriften und den Qualitätsstandards des Staates erbracht, in dem die Behandlung stattfindet. Der Staat, in dem der Patient versichert ist, hat diesem auf Anfrage Informationen über seine Rechte, sich im Ausland behandeln zu lassen, zur Verfügung zu stellen. Besondere Bedeutung haben hierfür die nationalen Kontaktstellen, die jeder Mitgliedstaat einrichten muss. Sie sind Anlaufstelle für Patienten und stellen diesen alle wichtigen Informationen über die Behandlung im Ausland zur Verfügung. Die Kosten für die Behandlung im ausländischen Staat werden bis zu der Höhe erstattet, die die Behandlung in dem Staat gekostet hätte, in dem der Patient versichert ist. Es werden jedoch nur Behandlungen bezahlt, die auch im Heimatstaat im Leistungskatalog der Krankenkassen enthalten sind. Darüber hinausgehende Behandlungen und Kosten muss der Patient selbst bezahlen. Für bestimmte Behandlungen können die Mitgliedstaaten ein System der Vorabgenehmigungen einführen. Dies ist ein Schutzinstrument insbesondere zugunsten der solidarisch finanzierten Krankenversicherungssysteme, da dieses vor allem bei hochspezialisierten und kostenintensiven medizinischen Behandlungen gilt. Umgekehrt wird auch der Patient geschützt, da eine Genehmigung verweigert werden kann, wenn der Patient einem zu großen Risiko ausgesetzt sein würde. Ebenso nimmt die Richtlinie auch Rücksicht auf ethische Fragen. So entscheiden die Mitgliedstaaten selbst, welche Behandlungen sie aus ethischen Gründen nicht erlauben wollen. Behandlungen, die in dem Heimatstaat des Versicherten aus ethischen Gründen nicht erlaubt und damit auch nicht erstattungsfähig sind, müssen von diesem auch dann nicht erstattet werden, wenn sie im Ausland vorgenommen werden. Als ein Beispiel ist hier die Präimplantationsdiagnostik zu nennen. Ganz praktisch bedeutet dies alles aus Sicht der Patienten: Für Personen, die auf einer Warteliste stehen, kann sich die Zeit bis zur Behandlung wesentlich verkürzen. In Großbritannien gibt es zum Beispiel lange Listen für Hüftoperationen. Diese können nun durch Behandlungen in Deutschland schneller abgearbeitet werden. Ebenso können vornehmlich Patienten profitieren, die in Grenzgebieten wohnen oder die sich aus privaten Gründen, zum Beispiel weil Familienangehörige dort wohnen, in einem anderen Mitgliedstaat behandeln lassen wollen. Besondere Vorteile ergeben sich auch für Patienten, die beispielsweise wegen einer seltenen Erkrankung einer hochspezialisierten Behandlung bedürfen, die aber nicht in jedem Land angeboten wird. Nicht zuletzt bietet die Richtlinie große Chancen für die deutschen Leistungserbringer. Nach Schätzungen betrifft das europaweite Volumen an grenzüberschreitender medizinischer Versorgung jährlich rund 10 Milliarden Euro. Da unser Gesundheitssystem international einen hervorragenden Ruf hat, ist mit einer erhöhten Nachfrage durch ausländische Patienten zu rechnen. Diese Entwicklung sollten wir aktiv begleiten. Die Argumente, mit der die Linke ihren vorliegenden Antrag zu begründen versucht, verfangen allesamt nicht. Die befürchtete europaweite Zwei-Klassen-Medizin ist abwegig. Im Gegenteil: Die Richtlinie führt zur Stärkung der Rechte aller Patienten in der grenzüberschreitenden Versorgung, und zwar unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Das sieht auch das Europäische Parlament so. Denn die Richtlinie soll den Patienten zugutekommen, die die Versorgung benötigen, und nicht bloß den Patienten, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Genau dieser Zielsetzung wird die Richtlinie gerecht. Auch die beschworene Gefahr, dass in ärmeren EUMitgliedstaaten Wohlhabende aus reicheren EU-Mitgliedstaaten bevorzugt behandelt werden, ist absurd. Hier würde alleine ein Blick in die Richtlinie zur Erkenntnis beitragen. Denn Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie schreibt ausdrücklich vor, dass alle Patienten mit den gleichen inländischen Gebührensätzen abzurechnen sind. Der von der Linken wieder einmal an die Wand gemalte Klassenkampf wird in der Realität nicht stattfinden. Wenn die Linken davon sprechen, dass es ein „Prinzip des gleichen Zugangs für alle grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistungen“ gebe, dann wird klar, was mit dem Antrag eigentlich bezweckt wird, nämlich ein EUweit vereinheitlichtes Gesundheitssystem. Wer wie die Linke sozialisieren will, der wird die medizinische Versorgung der Menschen in Deutschland nicht verbessern, sondern deutlich verschlechtern. Denn eine Vereinheitlichung wäre nur deutlich unterhalb des deutschen Standards möglich. Das wird die christlich-liberale Koalition niemals tun. Wir stehen dazu, dass jeder Mitgliedstaat für die Gesundheitsversorgung seiner Bürgerinnen und Bürger selbst verantwortlich bleiben soll. Unser Gesundheitssystem ist spitze und soll auch spitze bleiben. Und natürlich polemisiert die Linke wieder einmal gegen jede Art von Wettbewerb. Wer Wettbewerb nicht will, will offenbar Staatsmedizin. Die geschichtliche Erfahrung gerade in Deutschland hat jedoch gezeigt, dass dies nicht der richtige Weg ist. Wettbewerb stellt auch Qualität im Gesundheitsbereich sicher. Wer Wettbewerb nicht will, ist ein Qualitätsrisiko für die Patientinnen und Patienten in Deutschland. Und genau das ist die linke Opposition. Zum Schluss bekräftige ich noch einmal: Die Richtlinie gibt den Patientinnen und Patienten ebenso wie den Leistungserbringern in der Europäischen Union Rechtsklarheit und Rechtssicherheit über die Voraussetzungen der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Den Patientinnen und Patienten wird ein individuelles Entscheidungsrecht an die Hand gegeben, ob sie sich im EUAusland behandeln lassen möchten oder nicht. Dieses Zu Protokoll gegebene Reden Stephan Stracke Recht wollen wir und werden wir nicht verweigern. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt daher den Antrag der Linken ab. Wir werden ihm nicht zustimmen.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zu später Stunde kommen wir heute aufgrund eines Antrags der Linken zu einer EU-Vorlage zusammen und beschäftigen uns mit der europäischen Gesundheitspolitik. Die infrage stehende Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung hat eine längere Geschichte, und ich begrüße ausdrücklich, dass wir nun endlich auf dem Weg sind, Verbesserungen für die Menschen in Europa zu erreichen. Versicherte müssen den Zugang zu der gesundheitlichen Versorgung erhalten, egal wo in Europa sie sich gerade befinden. Dies ist ja auch eine Forderung des Europäischen Gerichtshofes, die nun endlich umgesetzt werden muss. Wir sind uns hier alle einig, dass wir die grenzüberschreitende Patientenmobilität brauchen. Differenzen gibt es allerdings um die Frage, wie wir diese regeln wollen. Die unterschiedlichen Vorstellungen über die Umsetzung waren ja bereits der Grund dafür, dass sich der Umsetzungsprozess so lange verzögert hat. Die Richtlinie ist für uns politisch von einiger Bedeutung, zum einen weil einige von uns Nutznießer dieser Regelung sein werden und andererseits weil unsere europäischen Nachbarn leichter als bisher unsere Kliniken und Behandlungsmöglichkeiten aufsuchen können. Die Linksfraktion versucht mit ihrem Antrag den Eindruck zu erwecken, diese Richtlinie öffne Tür und Tor für eine Verschärfung der Zweiklassenmedizin. Ich verkenne die Gefahr nicht, dass unterschiedliche Preisgefüge innerhalb der EU auch im medizinischen Bereich dazu führen können, dass Menschen aus reichen Ländern sich Gesundheitsdienstleistungen in Niedrigpreisländern kaufen können und andere Menschen aus ärmeren Ländern sich nicht so frei in Europa bewegen werden. Das ist bereits jetzt so. Trotzdem kann ich der pessimistischen Sichtweise der Linken nur bedingt folgen. Wenn man die Richtlinie liest, wird sehr schnell deutlich, dass das Europäische Parlament und der Europäische Rat auf die jeweiligen Situationen in den jeweiligen Ländern eingehen mussten und den Ländern keine Vorschriften machen, die den Patienten konkret schlechter stellen. Denn machen wir uns doch nichts vor: Bereits jetzt ist es doch so, dass de facto nur Menschen, die über ein entsprechendes Einkommen verfügen und nicht durch Sprachbarrieren davon abgehalten werden, ins Ausland gehen, um sich dort gesundheitliche Dienstleistungen zu kaufen. Die Richtlinie versucht lediglich, diesen Sachstand aufzugreifen und für gewisse Mindeststandards bei der Kostenübernahme und bei den Vorabgenehmigungen zu erreichen, und lässt den Ländern hier weiterhin freie Hand. Sie haben ja recht, dass mit der unsozialen schwarzgelben Gesundheitspolitik das Sachleistungsprinzip in Gefahr ist, aber für die europäische Politik sind die von Ihnen aufgestellten Prinzipienforderungen und Schlussfolgerungen vollkommen untauglich oder realitätsfern. Was Sie mit „Bestimmungslandprinzip“ meinen, bleibt in Bezug auf die Finanzierung nebulös und würde unter anderem zur Folge haben, dass die gesundheitlichen Einrichtungen in Deutschland auf Kosten sitzen bleiben oder die Versichertengemeinschaft die Kosten übernehmen müsste. Wenn Sie wollen, dass die Versicherten des jeweiligen Landes, dessen Infrastruktur genutzt wird, die Differenz bezahlen, müssen Sie das auch so offen sagen! Wenn die gute Versorgungsstruktur in Deutschland für alle EUBürger gelten soll, aber die deutschen Versicherten die Differenz zahlen müssen, dann würden die jüngst von der schwarz-gelben Bundesregierung erhöhten Krankenversicherungsbeiträge in Deutschland weiter steigen. Dann sagen Sie das bitte auch direkt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit kleinem Einkommen sowie den Rentnerinnen und Rentner, die ja, wenn es nach Schwarz-Gelb geht, die zukünftig steigenden Kosten übernehmen sollen. Oder alternativ wird eben im Gesundheitssystem an Leistungen oder auch Löhnen von zum Beispiel Krankenhauspersonal gespart, um die zusätzlichen Kosten zu stemmen. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie sich mit den finanziellen Folgen Ihrer Forderungen nicht beschäftigen. Auch die Frage, inwiefern mit Ihren Forderungen ein Gesundheitstourismus und damit vielleicht auch eine Überforderung der Gesundheitssysteme der EU-Länder mit hoher medizinischer Versorgungsqualität verbunden ist oder der Kurtourismus ins Ausland zulasten der GKV und hiesiger Einrichtungen geht, blenden Sie aus. Zu all dem sagen sie nichts. Es ist notwendig, die Patientenmobilität in Europa auszubauen. Es ist aber auch notwendig, hierbei sicherzustellen, dass keine finanzielle Überforderung der jeweiligen Gesundheitssysteme erfolgt und keine ungelenkten Versichertenströme entstehen, die zu Engpässen in manchen Ländern führen werden. Sie denken nicht zu Ende, aber wir kennen es nicht anders bei der Linksfraktion.

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Transparenz, Bürgernähe und Rechtsicherheit: Keiner wird an diesen Begriffen und den sie füllenden Eigenschaften etwas kritisieren können. Es sind die Ziele der EU-Kommission, welche sie mit ihrer Richtlinie zur Patientenmobilität verfolgt. Künftig können Gesundheitsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommen werden, ohne dass die eigene Krankenkasse vorher um Erlaubnis gefragt werden muss. Der EU-Bürger ist frei, zu reisen, und er solle es auch dann sein, wenn es darum geht, sich im europäischen Ausland ambulant behandeln zu lassen. Die Menschen in der EU können das zentrale Recht auf Freizügigkeit nun auch in der Gesundheitsversorgung einfacher in Anspruch nehmen. Klare Regeln schenken den Bürgerinnen und Bürgern mehr Freiheit und stärken den wichtigen Wert der Freizügigkeit. Transparenz, Bürgernähe, Rechtsicherheit und eben Freiheit. Zu Protokoll gegebene Reden Doch wenn ich eingangs - natürlich rhetorisch - die Vermutung geäußert habe, dass diesen Zielen niemand etwas entgegenzusetzen haben kann, dann habe ich die Rechnung ohne die Linke gemacht. Denn wir beraten heute den Antrag dieser Fraktion, dass die Bundesregierung der genannten Richtlinie im Rat nicht zustimmen solle. Leider zeigt sich mit diesem Antrag wieder einmal, dass die Linke Freiheit als Ungleichheit begreift. Es wird leider wieder einmal deutlich, dass die Linke Freizügigkeit als Gefahr verkennt. Das mag auf den ersten Eindruck vielleicht nicht verwunderlich sein. Ist doch die Linke in weiten Teilen die Nachfolgerin jener Staatspartei, die alle gleichmachen wollte und der Masse Freiheit vorenthielt. Freizügigkeit war schließlich eine Gefahr, und in der Doktrin der SED mussten die eigenen Bürger ja auch durch die Mauer geschützt werden. Zum Glück ist die Zeit des Stacheldrahts auf deutschem Boden vorbei. Zum Glück sterben keine Menschen mehr aus politischen Gründen, nur weil sie von einem Ort an einen anderen möchten. Die Wende hat den Menschen schließlich diese neuen Freiheiten geschenkt, sie hat sie dabei doch nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern ganz Europa mit eingeschlossen. Und so ist das größte Glück für die Europäer heute Freiheit. Davon machen die Bürgerinnen und Bürger Gebrauch, sie bewegen sich zu Recht frei innerhalb der EU. Doch die Menschen werden eben auch leicht zu Patienten - in der Heimat, wie im Ausland. Dann ist es wichtig, dass sie unbürokratisch und direkt die nötige medizinische Hilfe bekommen und einen Arzt ihrer Wahl aufsuchen können - hier, wie in anderen Staaten der EU. Im Notfall ist dies ja schon heute möglich; Reisende sind hier schon länger über ihre Europäische Krankenversicherungskarte geschützt. Mit der Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung wird nun eine Lücke geschlossen, um medizinische Versorgung nicht ausschließlich in Notfällen zu ermöglichen, ohne dass die Krankenkasse dies genehmigen müsste. Die Linke wittert nun aber bei mehr Freiheitsrechten Gefahr. Wenn man sich aber die Begründung ansieht, wird hier wahrscheinlich eher ein historischer Reflex bedient: Da taucht im Antrag wieder das Mantra einer Zwei-Klassen-Medizin auf, die dadurch drohe. Ja, Sie haben richtig gehört: Mehr Freiheitsrechte führen zu einer Zwei-Klassen-Medizin, sagen die Linken. Das Argument lautet, dass nur Menschen, die über ein ausreichendes Einkommen verfügten, von der Richtlinie profitieren würden. Gut, es ist natürlich klar, dass all jene, die sich irgendwo innerhalb der EU behandeln lassen wollen, auch zunächst dorthin reisen müssen. Klar, das kostet auch Geld. Doch wer wird denn extra Geld für eine Reise als Patient drauflegen, um beispielsweise in Rumänien eine Wurzelbehandlung durchführen zu lassen, welche die Leistungen nicht übersteigen darf, die auch die heimische Krankenkasse übernimmt? Es wird auch mit dieser Richtlinie nur das von den Kassen erstattet, was im Heimatland erstattungsfähig ist. Nicht mehr und nicht weniger. Hier geht es um die ambulante Versorgung im EU-Ausland und nicht um besondere Herzoperationsangebote für Reiche in Luxuskliniken von Bahrein und Co. Nochmals: Wer gesetzlich versichert ist, bekommt die Kosten für die gleichen Arzttermine nun auch in anderen EU-Ländern erstattet. Insofern wird kein Bürger, der nach Paris zum Arzt geht, besser dastehen, als einer, der nach Magdeburg geht mit der Ausnahme, dass er sich natürlich nach Genesung noch den Eiffelturm ansehen kann. Umgekehrt haben wir in Deutschland ein Gesundheitssystem, um das uns andere Länder beneiden. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst eine sehr gute medizinische Versorgung, die höher liegt als in den meisten EU-Mitgliedstaaten. Wir verfügen hier über hochqualifizierte Ärzte, wir müssen nicht zwingend unser Land für einen Arzttermin verlassen. Aber wir können es künftig tun. Davon werden die Menschen profitieren - im Urlaub, wie aber auch all jene, die im Grenzgebiet zu anderen Staaten wohnen. Deren Auswahl wird steigen, deren Aussichten, einen Termin zu erhalten, vielleicht sogar wachsen. Diese Richtlinie eröffnet zunächst mehr Chancen, aber sie verringert doch keine. Eine Zwei-Klassen-Medizin ist ausgeschlossen, da der Umfang der ambulanten Leistungen durch diese Richtlinie nicht über jene im Heimatland hinausgeht. Würde man die Linken-Argumentation übernehmen, dann sind generell Reisen ungerecht, da sich einige mehr leisten können als andere. Dann ist der Geburtsort eine soziale Frechheit, da in einem Dorf vielleicht ein Bäcker ist und im anderen nicht. Im Übrigen hat die Mauer, die ja auch einige von den Linken direkt oder indirekt verteidigt haben, nicht zu einer klassenlosen Gesellschaft geführt. Aber aus vergangenen Diskussionen wissen wir ja leidvoll, dass die Linken zur Vereinfachung neigen. Doch die Tage der Spruchbänder sind zum Glück gezählt. Denn, meine Damen und Herren von der Linksfraktion: Unsere Welt ist komplexer, als Sie denken. Gute Politik erfordert Differenzierung. Sachverhalte müssen erkannt und richtig eingeordnet werden. Das gelingt Ihnen mit diesem Argument nicht. Weiter: Menschen werden auf hohen Kosten sitzen bleiben, schreiben Sie. Dies ergebe sich dadurch, dass sich Patienten nicht vorab ambulante Leistungen genehmigen lassen müssen. Auch hier verweise ich gern wieder auf den Anfang meines Beitrags. Da war von Rechtssicherheit die Rede, da die Bürgerinnen und Bürger das erstattet bekommen, was auch im Heimatland Kassenleistung ist. Da bleibt man nicht auf den Kosten sitzen. Natürlich ist es sinnvoll, sich vorher zu informieren, was Kassenleistung ist. Gut, aber wir müssen ja hier nicht über wesentliche Grundzüge gesellschaftlichen Zusammenlebens diskutieren. Oder ist es etwa so, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dass Sie in einem Restaurant erst einmal fröhlich die gesamte Speisekarte rauf und runter essen und dann nach den Preisen fragen? Ist es etwa so, dass Sie einen Mietvertrag unterzeichnen und dann nach den monatlichen Kosten fragen? Sich informieren ist ein wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens. Ich kann jedem nur empfehlen, immer Zu Protokoll gegebene Reden Dinge zu hinterfragen - erst recht bei diesen Argumenten der Linken zu dem Thema. Die Richtlinie, welche die Patientenrechte stärkt, ihre Mobilität leichter ermöglicht, lässt Europa mehr und stärker zusammenwachsen. Was Adenauer und Monet begonnen haben, was Genscher und Horn weitergeführt haben, ist die europäische Einheit. Wir sind froh, nicht mehr durch Kriege und Mauern getrennt zu sein. Wir wollen dieses Europa der Menschen und Freiheiten. Wir wollen Rechtsicherheit für die Menschen - auch und gerade, wenn sie als Patienten Gast in unserer Heimat sind. Diese Richtlinie leistet so einen wichtigen Beitrag und ist ein Geschenk für die Freiheit aller Europäer. Das ist wahrer Internationalismus, den die Linke verkennt, den die Linke schlechtredet. Wir wollen keine neuen Mauern aufbauen. Wir wollen den Menschen Chancen geben und unterstützen ganz klar die Richtline über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Die Kolleginnen und Kollegen der Linken sollten wenigstens heute die Chance wahrnehmen und helfen, endlich einmal Mauern einzureißen. Dieser Antrag ist leider ein Beispiel großer ideologischer Scheuklappen, der an der Wirklichkeit weit vorbeigeht. Diesen Antrag lehnen wir ab, da wir die Freiheit wollen!

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eine übergroße Mehrheit von etwa 80 Prozent der Bevölkerung will, dass bei der Gesundheitsversorgung Reiche solidarisch mit Armen sind. Die Qualität der Gesundheitsversorgung soll nicht vom Geldbeutel abhängen. Das will die Bevölkerung, das will die Linke und das wollen, zumindest verbal, auch alle anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Doch genau das Gegenteil möchte die Bundesregierung nun im Europäischen Rat beschließen. Diese Einschätzung will ich Ihnen gerne begründen: „EU-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ - um diese Richtlinie geht es im Rat; klingt bürokratisch bis nett. Schließlich hat niemand etwas gegen Patientenrechte, und auch die Linke will, dass eine Gesundheitsversorgung in anderen EU-Staaten stattfindet - zum Nutzen der Patientinnen und Patienten. Das ist aber auch jetzt schon möglich. Nach der geplanten Richtlinie sollen in der EU Versicherte das Recht haben, sich in anderen Staaten gegen Vorkasse versorgen zu lassen, und die Krankenversicherung zu Hause zahlt dem Versicherten das zurück, was sie auch im Herkunftsland erstattet hätte. Das ist eine höchst problematische Regelung. Denn wer profitiert davon? Es profitieren fast ausschließlich Versicherte in wohlhabenden EU-Ländern; die Menschen in den armen Ländern Europas gehen leer aus. Beispiel Rumänien: Bei den niedrigen Erstattungssätzen, die dort existieren, wird kaum ein Rumäne zukünftig eine Behandlung in Deutschland attraktiv finden. Umgekehrt aber könnten viele Deutsche sich in Osteuropa behandeln lassen, weil die Kostenerstattung der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung dort eine Luxusbehandlung ermöglicht. Die osteuropäischen Patienten haben das Nachsehen, weil die dort ansässigen Ärzte und Zahnärzte zunehmend Versicherte aus den westeuropäischen Ländern behandeln und für die einheimische Bevölkerung nicht mehr oder nur gegen Aufpreis zur Verfügung stehen. So wird in den ärmeren Ländern die Versorgung gestört. Umgekehrt können die Menschen aus den ärmeren Ländern jedoch auch nicht die Ärzte in Westeuropa in Anspruch nehmen, weil dafür das Geld fehlt. Wie war das? Die Starken stehen für die Schwachen ein? Genau das Gegenteil passiert mit dieser Richtlinie. Auch innerhalb eines Mitgliedstaates das gleiche Bild: Nur die Wohlhabenden profitieren von dieser Regelung. Nur Menschen mit ausreichendem Vermögen oder Einkommen können es sich leisten, die Fahrt, Übernachtung und die Behandlung im Ausland samt Beratung vorzufinanzieren. Nur diejenigen mit dem nötigen Know-how wissen überhaupt von diesen Möglichkeiten. Nur wer über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt und obendrein noch gesund genug ist, um zu seiner Behandlung zu fahren, wird diese neuen Möglichkeiten nutzen können. Und wer aus einem armen Mitgliedsstaat kommt, der kaum etwas erstattet, muss dafür umso reicher sein. Ein kranker Geringverdiener aus Deutschland oder ein Hartz-IV-Betroffener wird nicht die billige Zahnbehandlung am Balaton mitsamt Urlaub vorfinanzieren können. Das Nachsehen haben die akut Kranken und die Armen. Solidarität der Starken mit den Schwachen? Die steht hier noch nicht einmal auf dem Papier. Weshalb aber wird dieses Projekt der Gesundheitsrichtlinie, die aus der Bolkestein-Richtlinie erwachsen ist, dann so von der Mehrheit des Europäischen Parlaments der Kommission und auch der europäischen Regierungen gefördert? „It’s the economy, stupid!“ könnte man darauf antworten. Nach dem festen Willen der vorherrschenden marktliberalen Kräfte in der EU und ihrer Mitgliedstaaten soll die Gesundheitsversorgung vermarktlicht werden. Die „Gesundheitswirtschaft“, das liebste Kind nicht zuletzt auch unseres Gesundheitsministers, soll gefördert werden. Herr Rösler hält zum Beispiel die deutschen Krankenhäuser für sehr gut aufgestellt in dem sich abzeichnenden Wettbewerb und begrüßt daher die neue Freiheit des Gesundheitsmarktes. Diese Richtlinie will den liberalisierten Gesundheitsmarkt. Falls sich diese Ideologie durchsetzt, dann haben diejenigen Krankenhäuser und Ärzte gute Chancen auf dem Gesundheitsmarkt, die sich möglichst nicht an den Kranken, sondern am Geld orientieren. Die Linke will keine gewinnsüchtigen Gesundheitsdienstleister im Wettbewerb um die europaweit lukrativsten Patientinnen und Patienten, sondern eine gute medizinische Versorgung von allen Menschen in Europa unabhängig von Einkommen und Vermögen. Die Richtlinie, wie sie vorliegt, schafft also eine Menge Probleme und ist unsozial. Sie ist aber auch unnötig: Alle Fragen der Übernahme von Behandlungskosten in der EU-weiten Patientenmobilität können und sollten im Rahmen der bestehenden EU-Verordnung zur Koordinierung der Sozialschutzsysteme gelöst werden. Hier gelten das Bestimmungslandund das Sachleistungsprinzip. Patientinnen und Patienten aus dem EU-Ausland werden nach den gleichen Zu Protokoll gegebene Reden Leistungs- und Qualitätsstandards behandelt wie inländische, ohne in Vorkasse gehen zu müssen. Die Abrechnung erfolgt zwischen den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten. Die Linke begrüßt die europäische Integration. Wir wollen sie in Richtung einer europäischen Sozialunion befördern und setzen uns für ein demokratisches, soziales, ökologisches und friedliches Europa mit guten Lebenschancen für alle ein. Wir wollen, dass alle in Europa lebenden Menschen eine Gesundheitsversorgung auf dem Stand der Wissenschaft erhalten. Wir wollen nicht, dass der Füllstand des Portemonnaies den Ausschlag dafür gibt, welche Versorgung man bekommt. Deshalb fordern wir die Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag auf, die Gesundheitsrichtlinie im Europäischen Rat abzulehnen. Das wäre ein Signal gegen den Markt und für die Patientinnen und Patienten.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Antrag der Linken spricht eine wichtige Frage an, schießt dabei aber über das Ziel hinaus. In der Tat kann man das Verhalten der schwarz-gelben Bundesregierung in den abschließenden Verhandlungen zur EUPatientenrichtlinie kritisieren. Wie so oft hat sie nicht nach der Lösung gesucht, die für die Patienten am besten ist, sondern nach der, die die Interessen bestimmter Berufsgruppen oder Branchen bedient. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ein FDP-geführtes Gesundheitsministerium ernsthaft gegen das Prinzip der Kostenerstattung gewehrt hat. Im Gegenteil: Der Vorschlag kam Ihnen wahrscheinlich ganz gelegen. Und die Union hat dies leider auch nicht getan. Wir hätten es begrüßt, wenn sie zumindest die Idee ihres Unionskollegen Dr. Peter Liese aus dem Europäischen Parlament aufgegriffen hätten. Er hatte vorgeschlagen, dass Krankenkassen planbare Behandlungen im Ausland, für die sie eine Vorabgenehmigung erteilen müssen, über ein Gutscheinsystem direkt mit den Leistungserbringern abrechnen. Damit hätte man zumindest bei sehr aufwendigen und entsprechend teuren Behandlungen verhindern können, dass Patienten in Vorleistung gehen müssen. Die Bundesregierung hat bislang noch nicht klar gesagt, warum sie diesen Vorschlag abgelehnt hat. Natürlich kann man immer argumentieren: Wir wollen ja gar nicht, dass Patienten abwandern. Wir wollen auch im Interesse der grenznahen strukturschwachen Regionen die Patientinnen und Patienten möglichst im Land halten, damit dort die Versorgungsstrukturen nicht noch mehr ausgedünnt werden. Das ist auch grundsätzlich nachvollziehbar. Nur gehe ich angesichts Ihrer zögerlichen Herangehensweise bei der Verbesserung der Versorgungsstrukturen im Inland kaum davon aus, dass dieser Aspekt für Sie handlungsleitend war. Eine Befragung von Patienten durch die Techniker Krankenkasse hat ergeben, dass es in erster Linie Rentner und Personen mit kleinen Einkommen sind, die eine Behandlung im EU-Ausland in Anspruch nehmen - und dies oft, um auf diese Weise Zuzahlungen und andere privat zu tragende Kosten zu vermeiden. Diese Menschen können oft keine hohen Vorauszahlungen leisten. Gerade diese Menschen könnten zukünftig von ihren Krankenkassen unter Druck gesetzt werden, sich bei aufwendigen Therapien in Nachbarländern behandeln zu lassen. Denn auch Krankenkassen haben mitunter ein Interesse daran, auf diesem Wege Geld zu sparen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung diese Gefahr in der Debatte angesprochen und entsprechende Schutzmechanismen eingezogen hätte, damit eine Auslandsbehandlung wirklich immer einer autonomen Entscheidung des Patienten entspringt. Das geringe Interesse der Bundesregierung an den Bedürfnissen der Patienten sieht man auch bei einem anderen Punkt: Wer sich im EU-Ausland behandeln lassen will, wird hierzulande weiterhin kaum Möglichkeiten haben, sich über diese Behandlung genauer zu informieren. Die nach der Richtlinie einzurichtende nationale Kontaktstelle soll auch nach Ihrem Willen nur Informationen über Versorgungsangebote im Inland bereitstellen. Wer eine Beratung über Behandlungsmöglichkeiten, Qualitätsstandards oder rechtliche Fragen wie etwa Schadensersatzansprüche in einem anderen Mitgliedstaat sucht, bleibt weiterhin auf die dortigen Kontaktstellen verwiesen. Diese Kontaktstellen sind allerdings nur verpflichtet, Informationen in ihrer jeweiligen Landessprache zur Verfügung zu stellen. Ein zusätzliches Informationsangebot, beispielsweise in Englisch, wurde durch den Rat abgelehnt. Daher wird absehbar sein, dass eine umfassende Aufklärung von Patienten vor Antritt oder im Nachgang einer Behandlung kaum gewährleistet ist. Genauso wenig Unterstützung erhalten gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten, wenn sie wissen wollen, bis zu welchem Betrag ihnen die Behandlungskosten von ihrer Krankenversicherung erstattet werden und ob sie gegebenenfalls einen Anteil privat zu tragen haben. Auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion konnte die Bundesregierung nicht sagen, wie diese Information zukünftig sichergestellt werden soll. Es gibt also weitere drängende Fragen, die wir im Zusammenhang mit der Richtlinie diskutieren sollten. Der Antrag der Linken scheint mir da eher wie ein Schuss ins Blaue zu sein. Wir wissen nicht, wie sich die Gesundheitsversorgung in den kommenden Jahren in Europa entwickeln wird. Ich gehe nicht davon aus, dass, wie die Linke behauptet, die Richtlinie dazu führt, dass sich die Gesundheitsversorgung in einigen EU-Staaten dadurch verschlechtern wird, dass vorrangig ausländische Patienten behandelt werden. Aber die Gefahr eines Türöffners für ökonomische Erwägungen, hinter denen die Interessen der Patienten zurückstehen müssen, besteht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4717. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke, Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und Ablehnung durch die anderen Fraktionen abgelehnt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothea Steiner, Stephan Kühn, Undine Kurth ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Elberaum entwickeln - Nachhaltig, zukunftsfähig und naturverträglich - Drucksache 17/4554 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Flüsse sind Lebensadern für Kultur, Wirtschaft und Natur. Sie müssen deshalb viele Funktionen gleichzeitig erfüllen. Als Wasserstraßen ermöglichen sie den effizienten und umweltfreundlichen Transport von Massengütern. Naturbelassene Flusslandschaften wie das Elbsandsteingebirge, Kulturlandschaften wie das Weltkulturerbe Wörlitzer Gartenreich oder Kunst- und Kulturmetropolen wie Dresden locken Tausende von Touristen an und schaffen gerade in wirtschaftsschwachen Regionen Arbeitsplätze im Gastgewerbe und Tourismus. Zugleich gehören Flüsse und naturnahe Auen zu den artenreichsten Naturräumen in unserer Heimat. Als Koalition bekennen wir uns ausdrücklich zur Natürlichkeit der Flüsse und Flusslandschaften, nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den Bundesländern, in denen wir Verantwortung tragen. Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen belegen: erstens am Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP im Bund. Hier heißt es: „Frei fließende Flüsse haben einen hohen ökologischen Wert. Die Durchgängigkeit der Flüsse für wandernde Fische muss wiederhergestellt werden. Für den Natur- und Hochwasserschutz sollen natürliche Auen reaktiviert und Flusstäler, wo immer möglich, renaturiert werden.“ Zweitens. Im Koalitionsvertrag zwischen der sächsischen CDU und der FDP ist folgende eindeutige Formulierung enthalten: „Wir bekennen uns zur Bewahrung der Natürlichkeit der Elbe. Wir wollen keinen Ausbau der Elbe beispielsweise mit Staustufen“. Eine zukunftsfähige nachhaltige Entwicklung der großen deutschen Flusslandschaften - nicht nur an der Elbe, sondern auch an Donau und Rhein - setzt voraus, dass eine tragfähige Balance zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Werten und Interessen geschaffen wird. An der Elbe stehen wir vor einer besonderen Herausforderung. Unser Nachbarland Tschechien plant in Decin kurz hinter der deutschen Grenze den Ausbau der Elbe mit einer Staustufe, die uns große Sorge bereitet. Am 28. Februar läuft die Einspruchsfrist beim tschechischen Umweltministerium ab. Der sächsische Staatsminister Frank Kupfer, CDU, wird fristgerecht eine Stellungnahme übergeben. Der Inhalt der Stellungnahme wird Gegenstand einer Pressekonferenz von Staatsminister Kupfer am 1. März 2011 sein. Dieser Stellungnahme möchte ich an dieser Stelle nicht vorgreifen. Unabhängig davon setzt der Freistaat Sachsen gemeinsam mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf die Aufnahme von bilateralen Konsultationen mit Tschechien. Nach meinem aktuellen Kenntnisstand kann anhand der vorgelegten Umweltverträglichkeitsprüfungsunterlagen für die tschechische Staustufe nicht zweifelsfrei belegt werden, dass im Falle der Realisierung des Projektes die Ziele der europäischen Wasserrahmenrichtlinie für die Elbe auf deutschem Gebiet erreicht werden können. Dies betrifft insbesondere den „guten Zustand“ nach der Wasserrahmenrichtlinie. Obwohl die einzelnen Elemente des ökologischen und chemischen Gewässerzustands in den vorliegenden Unterlagen betrachtet wurden, wurde von tschechischer Seite zu den Zielsetzungen der Wasserrahmenrichtlinie nicht explizit Stellung genommen. Die Vereinbarkeit der geplanten Maßnahmen mit den Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie ist eine wesentliche Zulassungsvoraussetzung. Ohne die Einbeziehung deutscher Natura-2000-Gebiete entsprechend dem europarechtlichen Verfahren gemäß Art. 6 FFH-Richtlinie ist von der Möglichkeit von Beeinträchtigungen dieser Gebiete und somit dem mangelnden Nachweis der europarechtlichen Zulässigkeit dieses Vorhabens auszugehen. Neben den wasserwirtschaftlichen bestehen erhebliche naturschutzfachliche Bedenken gegen die Staustufe bei Decin: Es ist zum Beispiel von der Gefährdung der geschützten Fischotterpopulationen auf sächsischer Seite auszugehen. Neben der fehlenden Durchgängigkeit für Wanderfische und dem Verlust natürlicher Laichund Aufwuchshabitate schafft eine Staustufe in Tschechien ein zweites ganz wesentliches Problem für die Elbe auf der deutschen Seite: Die Notwendigkeit der Geschiebebewirtschaftung. Durch die Staustufe wird der natürliche Transport von Schutt und Geröll auf der Flusssohle unterbrochen. Dieses fehlende Geschiebe führt zur weiteren Eintiefung der Elbe mit allen bekannten negativen Folgen für die Grundwasserhaltung und die Landwirtschaft. Hintergrund für den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist die Ablehnung der Staustufe in Decin. Als Mitglied der Parlamentarischen Gruppe Frei fließende Flüsse befürworte ich eine ganze Reihe von Positionen aus dem Antrag. Es ist sinnvoll, der Elbe durch die Förderung von Ufer- und Auenrenaturierung, Flutrinnen- und Altarmanbindung mehr Raum zu geben. Solche Maßnahmen schaffen einen wertvollen Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt, denn Auen gehören zu den gefährdetsten Naturräumen. Deichrückverlegungen schaffen mehr Raum für die dynamische Entwicklung des Flusslaufes und sind der beste natürliche Hochwasserschutz. Ich unterstütze ausdrücklich die Förderung einer flussangepassten Binnenschifffahrt. Die Entwicklung hin zur Containerschifffahrt benötigt weit geringere Ausbautiefen als bisher. Auf Staustufen kann verzichtet werden. Einige der Forderungen aus dem Antrag halte ich im Sinne einer Balance zwischen Wirtschaft, Ökologie und sozialen Aspekten nicht für konsensfähig. Auch eine flussangepasste Binnenschifffahrt braucht Unterhaltsmaßnahmen am Fluss. Sollte die Staustufe in Tschechien realisiert werden, wird man an zusätzlichen flussbaulichen Unterhaltsmaßnahmen und einer Geschiebebewirtschaftung kaum vorbeikommen. Ich sehe keine akute Gefahr für den Lebensraum Elbe und halte es nicht für erforderlich, die grundsätzliche Einstellung des Bundes zu verändern. Insgesamt sind wir an der Elbe im Vergleich zu den anderen großen Flussgebieten in Deutschland wie Rhein und Donau im Bezug auf nachhaltige Entwicklung auf einem sehr guten Weg.

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn der vorliegende Antrag einen Zweck haben soll, dann kann es nur Wahlpropaganda im Vorfeld der Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt sein. Er konstruiert einen künstlichen Gegensatz zwischen Schifffahrt und Naturschutz, der so in der Praxis nicht existiert. Dazu bedient er sich leider falscher Unterstellungen und unrichtiger Behauptungen, und gerade das hat die Elbe nicht verdient. Schon der erste Satz des Antrages ist nachweislich falsch. Es wird behauptet: Die Ober- und Mittelelbe bis Geesthacht ist für einen verlässlichen Gütertransport nach Fahrplan nicht geeignet. Nur ein Blick ins Internet hätte zum Beweis des Gegenteils gereicht. Am 1. März 1995 startete die erste regelmäßige Elbe-Container-Linie als Kooperationsprojekt der Elbehäfen Magdeburg, Aken, Riesa, Dresden, Decin und Usti. Wir feierten deren 15-jähriges Bestehen und konnten in der vorigen Woche erfreut feststellen, dass die Linie zwischen Hamburg und Riesa nicht mehr nur zweimal, sondern dreimal in der Woche, also mit drei Berg- und drei Talfahrten, verkehrt. Wenn Sie dann eine flexible Transportkette im Elberaum fordern, haben sie verpennt, dass es die mit „Albatros“ längst gibt. Dann behaupten Sie: Alle bisherigen Versuche, eine ganzjährige Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter … zu garantieren, sind gescheitert. Wenn Ihr glorreicher Umweltminister Trittin nach dem Hochwasser 2002 an der Elbe nicht die Weiterführung der Unterhaltungsarbeiten gestoppt hätte und sogar die Beseitigung der Hochwasserschäden an den Flussbauwerken verboten hätte, wäre es wohl möglich, den Unterhaltungsstand so zu verbessern, dass solche Schadstrecken wie bei Coswig, Anhalt, ohne Behinderung passiert werden könnten. Doch auch ohne Abschluss dieser Unterhaltungsmaßnahmen war im Jahr 2010 nur an 21 Tagen die Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter unterschritten. Wenn Sie sich der Mühe unterziehen würden, einmal nachzurechnen: Das Unterhaltungsziel von 1,60 Meter Fahrrinnentiefe an 345 Tagen war damit so gut wie erreicht. Im Gegenteil, auf der Strecke Hamburg-Dresden war in der Hälfte des Jahres eine Fahrrinnentiefe von mehr als 2,50 Meter vorhanden. Wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem kanalartigem Ausbau mit einer Kette von Staustufen sprechen, so ist das die bewusste Unwahrheit, die Sie seit 1990 wie eine Monstranz vor sich hertragen. Im Sommer 1991 war ich gemeinsam mit dem letzten Verkehrsminister der DDR und späteren Bundestagskollegen Horst Gibtner in der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost. Bereits zu diesem Zeitpunkt war klar, dass auf dem deutschen Elbabschnitt keine einzige Staustufe gebaut würde und die schon damals angepeilte Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter sich mit der Rekonstruktion der vorhandenen, aber teilweise stark schadhaften Flussbauwerke erreichen lassen würde. Ausbau, Kanalisierung, Staustufen, das sind alles Gespenster, mit denen Sie friedliche Bürger schrecken und für sich mobilisieren wollen. Diesen Unsinn lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie behaupten, dass mit fortschreitendem Klimawandel die Pegelstände keinen wirtschaftlichen Güterverkehr zulassen. Die Niederschläge des Jahres 2010 haben das Grundwasser gerade auch in der Elbregion so ansteigen lassen, dass das Landesamt für Hochwasserschutz des Landes Sachsen-Anhalt damit rechnet, dass wir noch bis zum Jahr 2013 mit dem Abfluss dieses Grundwassers zu tun haben werden. Wir werden allein durch die Niederschläge des Jahres 2010 noch in den nächsten Jahren höhere Wasserstände als normal und dadurch bessere Schifffahrtsbedingungen haben. Außerdem ist für die Wirtschaftlichkeit der Schifffahrt längst nicht mehr die Tonnage und damit die Abladetiefe das Entscheidende. Sehen Sie sich die Transporte im Hafen Aken an! Der Maschinenbaustandort Erfurt ist von Aken abhängig, weil er dort große sperrige Anlagenteile verladen und sicher nach Hamburg zum Überseehafen transportieren kann. ENERCON in Magdeburg verlädt die Rotorblätter großer Windkraftanlagen für den Export längst auf das Binnenschiff. Die Containerumschlagszahlen haben sich vom Jahr 2009 auf das Jahr 2010 in Torgau/Riesa/Dresden um 35 Prozent und in Roßlau/Aken um 54 Prozent gesteigert. Vielleicht registrieren Sie auch: Im Winter 2010/2011 war die Elbschifffahrt eindeutig zuverlässiger als die Bahn, und die Elbe war schiffbar, als auf den Kanälen schon längst nichts mehr lief. Die eingesetzten flachgehenden Schubeinheiten haben auch andere Tauchtiefen. Sie fordern flachgehende Schiffstypen für den Gütertransport. Die ehemalige grüne sachsen-anhaltische Umweltministerin Heidecke hatte als Korrespondenz zur Weltausstellung in Hannover viel Geld ausgegeben für die Entwicklung eines flach gehenden Elbschiffes. Doch kaum war der Medienrummel um die EXPO 2000 verflogen, krähte kein Hahn mehr nach diesem Schiff und dem dafür ausgegebenen Geld. Weder Frau Heidecke noch Herr Trittin hat jemals wieder danach gefragt. Sie können sich die verstaubten Konstruktionsunterlagen und das Modell noch gern in der Werft ansehen. Wenn Sie sich heute scheinheilig Sorgen machen um das Geld, was für den umweltverträglichen Ausbau der Elbe ausgegeben wird, sollten Sie sich wenigstens selbstkritisch auch mit der Zeit beschäftigen, wo sie Verantwortung trugen für das Geld, was Sie in Ihrer Regierungszeit in der Elbe versenkt haben. Immer wieder kommen Sie dann auch auf die Frage der Kosten für die Unterhaltung der Schifffahrt auf der Elbe. Die Elbe ist ein Strom in einer Kulturlandschaft. Zu Protokoll gegebene Reden Ihre Unterhaltung ist allein zur Landschaftspflege und für den Hochwasserschutz unumgänglich. Was würde denn passieren, wenn wir die Elbe aus ihrem definierten Flussbett ausbrechen ließen, wie es in den Jahrhunderten vor uns immer wieder geschehen ist? Wenn Sie jetzt in Ihrem Antrag die Behauptung aufstellen, dass die seit 20 Jahren laufenden Unterhaltungsmaßnahmen zur Verschlechterung des ökologischen Erhaltungszustandes und zur Sohleneintiefung geführt hätten, ist das die vorsätzliche Unwahrheit. Die Sohleneintiefung auf der Erosionsstrecke zwischen Torgau und Roßlau hat sich nach den Begradigungsmaßnahmen um 1900 verschärft und hält seitdem an. Die Bundesrepublik ist mit den Unterhaltungsmaßnahmen erstmalig fundiert gegen diese Erosion vorgegangen und führt seit der Wiedervereinigung Geschiebeversuche auf dieser Strecke durch, um damit eine wissenschaftliche Grundlage für die Sohlenstabilisierung zu haben. Die von Ihnen geforderten Forschungsprojekte laufen also längst. Ihr damaliger Minister Trittin war es, der die Forschung und Sohlenstabilisierungsarbeiten 2002 einstellen ließ und damit dem weiteren Eingraben der Elbe Tür und Tor geöffnet hat. Die Behauptung der Verschlechterung des ökologischen Erhaltungszustandes der Elbe ist bösartig und spricht den Menschen entlang der Elbe das Ergebnis ihrer 20-jährigen Bemühungen um die Elbe ab. Mit dieser Behauptung bestreiten Sie, dass das Wasser der Elbe wieder sauberer geworden ist und Fauna und Flora sich erholt haben. Viele Menschen haben sich darum bemüht. Denen sagen sie jetzt: Eure Mühe hat nichts gebracht. Das ist unanständig. Seit einigen Jahren kann man in der Elbe wieder ohne Angst um die eigene Gesundheit schwimmen. Fischarten sind zurückgekehrt, sodass jetzt an einigen Stellen der Kormoran der größte Feind der Fische ist. Für uns ist es eine Sache der Ehre, den Menschen für ihre Bemühungen zu danken und sie nicht zu beleidigen. Wenn Sie den Wasserabfluss durch die Elbe verringern wollen, müssen Sie den Menschen in der Elbniederung dann auch ehrlicherweise sagen, dass bei Verminderung der Abflussverhältnisse an der Elbe sich die derzeitige Grundwassersituation entlang der Elbe auf Dauer verfestigen wird. Sie müssen dann den dort lebenden Menschen sagen, dass sie ihre Keller nicht mehr wasserfrei und die Fundamente ihrer Häuser nicht mehr trocken kriegen und dass das Ihre politische Absicht ist. Sie fordern auch, die Bahnstrecken parallel zu Elbe stärker zu nutzen. Ich weiß nicht, wann das letzte Mal jemand von den Grünen sich nach Bad Schandau in das Elbtal getraut hat. Wir haben dort allmählich Verhältnisse, die an St. Goar am Mittelrhein erinnern. Mit steigender Wirtschaftsleistung der Tschechischen Republik nimmt der Bahnverkehr dort stetig zu. Sie sagen jetzt diesen Menschen: Wir wollen, dass ihr noch mehr Verkehr auf der Schiene durch eure Ortschaften kriegt. Ich glaube nicht, dass Sie sich mit einer solchen Aussage zu den Menschen nach Bad Schandau trauen. Eine Ersatzstrecke durch das Erzgebirge - da bin ich mir sicher - würden Sie genauso bekämpfen wie die Eisenbahnstrecke parallel zur A 71 durch den Thüringer Wald. Ist den Antragstellern aber auch bewusst, welche Probleme sie mit ihrem Antrag im Verhältnis zu unserem Nachbarland Tschechien aufwerfen? Bereits die Überlegungen des Bundesministeriums für Verkehr, die Unterhaltung der Elbe an das Verkehrsaufkommen anzupassen, hat in der tschechischen Regierung für erheblichen Unmut gesorgt und auf tschechischer Seite die Befürchtung aufkommen lassen, dass Deutschland Tschechien absichtlich schädigen will. Die Grünen haben in ihrer Verantwortung im Außen- und Umweltministerium genau das grenzüberschreitende Güterverkehrskonzept nicht zustande gebracht, was sie jetzt mit großer Pose einfordern. Nicht Anträge mit Paukenschlag, sondern ruhige, sachliche internationale Zusammenarbeit ist unsere Sache und wird sicherlich in einem europäischen Verkehrskonzept zu besseren Ergebnissen führen, als es mit einem plakativen Antrag möglich ist. Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, gewässerökologische Belange bei Unterhaltungsmaßnahmen durch die Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost in deutlich stärkerem Maß zu berücksichtigen, kann ich Ihnen nur zurufen: Auch schon ausgeschlafen?! Seit vielen Jahren ist mir bekannt, dass die Baudirektoren Finke und Kautz des Wasser- und Schifffahrtsamtes Dresden regelmäßige Beratungen mit dem Biosphärenreservat „Flusslandschaft Elbe“ pflegen, dass der NABU in diese Gespräche mit einbezogen wird und dass diese Gespräche durchaus fruchtbar zu signifikanten Ergebnissen führen. Ihrem Antrag merkt man an, dass er leider, wie so vieles von Ihnen, am sprichwörtlichen grünen Tisch fernab der Realität entworfen wurde. Naturschutz und Elbunterhaltung sind heute längst keine Gegensätze mehr. Ein sinnvolles Miteinander ist schon lange dem Gegeneinander oder dem Nebeneinander gewichen. Ich kann nur allen die Einbindung in diese Beratungen empfehlen. Sie sind beispielhaft. Und ich kann hier nur dem Biosphärenreservat unter Leitung von Herrn Puhlmann danken, dass hier zukunftsweisend gearbeitet wird. Nur so können sinnvolle Maßnahmen wie Deichrückverlegungen in Bereichen mit wenig Hochwasserstauraum, Neukonstruktion der Buhnenfüße zur besseren Durchströmung der Buhnenzwischenräume, Schaffung von ökologisch wertvollen Stillwässern hinter Leitschüttungen oder die Öffnung der Elb-Altarme erreicht werden. Dieses ist erreicht worden ohne Demonstrationen, ohne Krawall und ohne Ihr Zutun. Deshalb muss ich Ihren Antrag in aller Deutlichkeit zurückweisen. Wer solche Klischees bedient und so schäbig mit der Wahrheit umgeht, schädigt gerade das, wofür er sich einzusetzen vorgibt. Durch den Antrag wird nicht der Naturschutz gestärkt, sondern die wunderbare Elbelandschaft ins Zwielicht einer Naturzerstörung gerückt, die niemand beabsichtigt. Für Ihre Wahlpropaganda ist mir meine Heimat, mein Fluss Elbe zu schade. Wir werden uns damit sicher noch in den Ausschüssen beschäftigen. Zu Protokoll gegebene Reden

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Elbe, sie gilt als einer der letzten frei fließenden Flüsse Deutschlands. Sie durchfließt verschiedenartige Naturräume, die allein aufgrund der geringen Besiedlungsdichte zum Teil einmalige Pflanzen- und Tierwelten hervorgebracht haben. Tourismus zu Wasser und zu Lande ist daher ein wichtiger Standortfaktor entlang der Elbe. Ich selbst lebe nördlich von Magdeburg an der Elbe und habe seit meiner Kindheit das ökologische Ab und Auf erlebt, und nicht nur wir Sachsen-Anhaltiner setzen uns für eine zukunftsfähige Elbe, deren Bedeutung für Ökologie und Tourismus zunehmend steigt, ein. Dies ist auch der Aspekt, auf den in diesem Antrag abgestellt wird. Gleichzeitig ist die Elbe eine überregional bedeutende Wasserstraße. Sie ist eine Wasserstraße, in die viele auch die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung stecken. Politik darf sich aber nicht an Utopien ausrichten. Die Elbe soll ein natürlicher Fluss bleiben; niemand wünscht sich einen zweiten Rhein. In SachsenAnhalt hat sich die SPD daher explizit gegen den Bau des Saale-Seitenkanals ausgesprochen. Bündnis 90/Die Grünen gehen in ihrem Antrag davon aus, dass der Versuch, einen wirtschaftlichen Güterverkehr auf der Elbe zu ermöglichen, gescheitert ist. Es stimmt, die reine Menge der transportierten Güter auf der Elbe nimmt ab. Gleichzeitig ändert sich aber auch die Art der Güter, die transportiert werden. Neben Massengüter- und Containerumschlägen nehmen zunehmend hochwertige Transporte von Sperrgütern einen hohen Stellenwert ein. Turbinen, Transformatoren, Generatoren, Kompressoren, Schiffskörper von Küstenmotorschiffen und Teile für Windkraftanlagen sind als Sondertransporte kaum anders zu bewegen als über den Verkehrsträger Wasserstraße. Welche Bedeutung die Elbe hat, erkennt man beispielsweise an den Häfen in Magdeburg, in Roßlau und Bernburg. Ich sehe es vor allem daran, dass dort Arbeitsplätze entstanden sind. Die Binnenschifffahrt und die Häfen sind für die Elbe-Region ein Wirtschaftsfaktor, ohne Zweifel. Das heißt: Auch wenn wir - und da gebe ich Ihnen recht - über die Ziele der Schiffbarkeit diskutieren müssen: Die gewerbliche Schifffahrt auf der Elbe brauchen wir weiterhin, dies umso mehr, als wir im Sinne einer nachhaltigen und umweltschonenden Verkehrspolitik Transporte so weit wie möglich von der Straße auf Schiene und Wasserstraßen verlagern müssen. Dazu müssen die Bundeswasserstraßen eben auch für die gewerbsmäßige Binnenschifffahrt nutzbar bleiben. Es ist aber auch klar: Der Ausbau der Elbe zur Anpassung an größere Schiffseinheiten ist nicht notwendig. Das lehnen wir ab. Wir müssen klar definieren, welche Ziele wir mit der Binnenschifffahrt auf der Elbe verfolgen und was möglich ist, wenn wir die Naturlandschaften an der Elbe erhalten wollen. Wir müssen uns klarmachen, welche Alternativen es gibt, welche Folgen diese Alternativen hätten und wo die Vorteile des Schiffes liegen. Ich will nur ein Problem anführen: Wir diskutieren oft und heftig über den Lärmschutz an Bahnstrecken. Die Bahntrassen, die Alternativen zur Binnenschifffahrt auf der Elbe sein können, verlaufen direkt durch Städte und Dörfer. Wie gehen wir damit um? Lärm ist gesundheitsschädigend, noch zu wenig im Fokus, aber zunehmend ernsthaft problematisiert. Es geht aus meiner Sicht darum, die Elbe in einem Zustand zu sichern, der nicht über ein klar definiertes Maß an Schiffbarkeit hinausgeht. Dieses müssen wir klar definieren. Es geht genauso darum, die Naturlandschaften zu erhalten. Es geht darum, die Lebensräume für die Kraniche, Störche und andere Populationen, die in Größenordnungen wieder zurückgekehrt sind, zu erhalten. Auch das muss in einer Zieldefinition klar enthalten sein. Ich weiß um den Spagat, der notwendig ist, die Binnenschifffahrt zu erhalten und gleichermaßen die Naturlandschaften zu schützen. Seit 1998 versuche ich mich in dieser Disziplin. Ich weiß, dass es ganz sicher zu einer Grenze bei der Binnenschifffahrt führen wird. Es bedeutet auch, dass die erforderlichen wasserbaulichen Wiederherstellungs- und Unterhaltungsarbeiten zum Erhalt der Schiffbarkeit und für den Hochwasserschutz nach neuesten ökologisch verträglichen Methoden erfolgen müssen. Dieser Spagat ist nicht einfach. Er ist aber notwendig und muss von der Mehrheit getragen werden. Lassen Sie uns im Ausschuss darüber ausführlich diskutieren.

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In meiner Funktion als Vorsitzender der parlamentarischen Gruppe „Frei fließende Flüsse“ habe ich große Sympathie für den Schutz von Flüssen und Auen. Aus diesem Grund begrüße ich grundsätzlich auch die Initiative der Grünen. Die Elbe ist in Deutschland einer der ökologisch wertvollsten Flüsse - und das, obwohl vor 1990 die Elbe mit der Saale im Wettbewerb um den Titel „dreckigster Fluss Mitteleuropas“ stand. Mittlerweile bestehen gerade entlang der Mittelelbe wieder zahlreiche Biosphärenreservate, Naturparks oder Naturschutzgebiete. Und trotzdem: Die Klassifizierung der mittleren Elbe in mäßig und stark veränderte Flussabschnitte zeigt auf, dass noch viel zu tun ist. Die Probleme aus Sicht des Umweltschutzes sind da. Zwischen Saale und Mulde sind viele Altwässer nur unzureichend an das Elbwasser angebunden. In der Folge droht vielen Feuchtgebieten die Verlandung. Gerade in den Sommermonaten droht der Sauerstoffgehalt der Elbe oftmals zu kippen, mit verheerenden Folgen. Ein weiteres Problem stellte auch die 1960 errichtete Staustufe Geesthacht dar. Die Durchlässigkeit der Staustufe für Fische war und ist umstritten. Mit der neuen zweite Fischtreppe, die im September des letzten Jahres fertiggestellt wurde, könnte kann nun theoretisch sogar der Stör wieder heimisch werden. Erfolgsmeldungen sind allerdings noch verfrüht, wir müssen die weitere Entwicklung sehr genau beobachten. Wir wollen wie Sie ebenfalls keine weiteren Staustufen in der Elbe. Die FDP hat sich bereits in ihrem Wahlprogramm von 2009 dazu klar geäußert. Auch die geplante Staustufe in Tschechien ist nicht im Interesse Deutschlands und der Elbe insgesamt. Zu Protokoll gegebene Reden Auch hinsichtlich des Auenschutzes sind wir ähnlicher Meinung. Dies ist nicht nur im Interesse des Naturschutzes, auch der Schutz der Menschen vor Hochwassern erfordert gezielte Renaturierungsmaßnahmen. Dazu gehören Deichrückverlegungsmaßnahmen - wohl wissend, dass dies nur gemeinsam mit den Anwohnern möglich ist. Sie sehen, in vielen Punkten sind wir uns nahe. An einigen Stellen erscheint mir der Forderungskatalog allerdings nicht ganz stimmig. Ihrem Antrag ist zu entnehmen, dass Sie eine Verbesserung der Schiffbarkeit generell mit Argwohn verfolgen. Meines Erachtens kann eine Verbesserung der Schiffbarkeit in engem Rahmen durchaus ermöglicht werden, allerdings nur durch Unterhaltungsmaßnahmen. Wenn die Schifffahrt sich dem Fluss anpasst, ist dies begrüßenswert. Der Fluss sollte sich nur nicht immer der Schifffahrt anpassen müssen. Die kategorische Kritik an der Schifffahrt ist aus unserer Sicht übertrieben. Auch an anderer Stelle möchte ich auf eine Ungenauigkeit hinweisen. Sie sprechen einerseits davon, dass das Problem Wasserknappheit angegangen werden sollte, Ihres Erachtens durch den Stopp von Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen. Wasserknappheit ist für die mittlere Elbe ein massives Problem. So weit gestehe ich Ihnen diese Position zu. Nur, was dann? Sie fordern gleichzeitig, eine durchgehende Mindesttiefe von 1,60 Metern zwischen Geesthacht und Dresden zu erreichen, ohne dafür zur Verfügung stehende Mittel zu benennen. Hinzu kommen die Deichrückverlegungen und die Ausweitung der bestehenden Auen. Was Sie fordern, entspricht in etwa der Quadratur des Kreises: mehr Wasser in der Elbe, mehr Wasser in den Auen, den Wasserentzug der umgebenden Flusslandschaft minimieren. Ich halte das alles für wünschenswert, nur an heißen Sommern können wir leider nichts ändern. Wir müssen uns voraussichtlich darauf einstellen, dass die Elbe nicht dauerhaft einen Mindestwasserstand erreichen wird. Mir fehlt an dieser Stelle die Ehrlichkeit im Antrag, sich einzugestehen, dass nicht alle gut gemeinten Ziele miteinander vereinbar sind. Das Bundesverkehrsministerium hat vor wenigen Wochen einen Bericht erstellt, wonach Bundeswasserstraßen nach Kategorien eingeteilt werden und diese nach ihrem Verkehrsaufkommen bewertet werden. Eine Kanalisierung der Elbe steht demnach ganz sicher nicht an; und das ist eine gute Nachricht. Die Maßnahmen der Bundesregierung deuten in die richtige Richtung. Viele Ihrer Punkte sind oder werden bereits aufgegriffen. Deshalb und angesichts der genannten Unstimmigkeiten kann ich Ihrem Antrag in dieser Form nicht zustimmen.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Anliegen der Antragsteller, die Elbe als letzten großen, noch relativ wenig verbauten und naturnahen frei fließenden Fluss in Mitteleuropa zu erhalten, findet die volle Zustimmung der Linken. In der Tat wäre es eine sowohl umwelt- als auch wirtschaftspolitische Torheit, an der Elbe all jene Sünden zu wiederholen, mit denen im Westen der Republik aus Flüssen tatsächlich Wasserstraßen gemacht worden sind: Straßen für immer größere Schiffe zum Preis immer geraderer Ufer, zum Preis der unwiederbringlichen Hergabe komplexer großer Landschaften mit ihrer flusstypischen Flora und Fauna, unter Preisgabe auch eines sinnvollen naturnahen Hochwasserausgleiches zur Katastrophenvermeidung und schließlich unter Preisgabe von Landschaftsschönheit, die nichts anderes ist als die Preisgabe qualitätsvoller Lebenswelten für die Menschen. Wer meint, die Umwelt müsse nun mal zurückstehen, wenn es um Wirtschaftlichkeit geht, dem muss entgegengehalten werden, dass erstens längst erwiesen ist, dass das, was aus betriebswirtschaftlichem Einzelinteresse heraus als wirtschaftlich gelten mag, sich unter dem Gesichtspunkt der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oft genug als höchst ineffizient herausstellt, und dass zweitens alle Prognosen, die im Zusammenhang mit den verschiedenen auf die Binnenschifffahrt bezogenen Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ über die Entwicklung dieser Schifffahrt erstellt worden sind, sich als höchst unrealistisch herausgestellt haben. Also: Alles spricht dagegen, immer und immer wieder den Versuch zu unternehmen, die Ideen von vorgestern in den Beton von gestern zu gießen. Das sage ich als Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt mit Blick nicht nur auf die Elbe selbst, sondern auch auf ihren Nebenfluss Saale. Die Pläne zum Ausbau der Saale gehören ebenso in den Papierkorb wie die zum Ausbau der Elbe. Niemand braucht einen Saale-Seitenkanal bei Tornitz, niemand braucht weitere überflüssige Hafenbauten. Wenn wir von der Linken dennoch dem vorliegenden Antrag der Grünen nicht vorbehaltlos zustimmen, dann deshalb, weil wir der Auffassung sind, dass einige Fragen einer weiteren Präzisierung bedürfen. So sehen wir Diskussionsbedarf in der Frage, wie mit dem Elbe-Abschnitt zwischen Geesthacht und dem 20 Kilometer weiter flussauf liegenden Lauenburg umgegangen werden soll. Dem Antrag folgend soll dieser Abschnitt nicht für dauerhafte Schiffbarkeit eingerichtet sein. Er schließt aber die Abzweigungen zum Elbe-Lübeck- und zum Elbeseitenkanal ein und besitzt daher für die Aufnahme von Warenströmen aus dem Hamburger Hafen herausragende Bedeutung. Diskussionsbedarf sehen wir auch hinsichtlich der konkreten künftigen Ausgestaltung jener Schiffsverkehre, die heute auf der Elbe bis nach Dresden und Usti nad Labem hinauf stattfinden. Hier ist Fantasie gefragt: Fantasie in grenzüberschreitender Zusammenarbeit, Fantasie der Anrainerkommunen, Fantasie der Schifffahrtsbetriebe. Die Elbe ohne Schiffsverkehr ist für mich ebenso unvorstellbar wie eine verbetonierte Elbe. Der Antrag bietet mit seiner Forderung nach Ermöglichung einer an die natürlichen Wasserstände angepassten Binnenschifffahrt gute Ansätze für die diesbezügliche weitere Debatte, an der wir uns gern mit dem Ziel der Stärkung des Anliegens des Antrages beteiligen wollen. Im Fazit gilt: Die Entscheidung darüber, wie mit Flüssen und Flusslandschaften umgegangen wird, wird Zu Protokoll gegebene Reden immer ein Prozess der Abwägung zwischen verkehrsund anderen wirtschaftlichen Interessen und Vorhaben auf der einen sowie ökologischen Interessen und Vorhaben auf der anderen Seite sein. In diesem Abwägungsprozess hat für uns der sozial-ökologische Umbau oberste Priorität.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Elbe ist der letzte große Fluss Europas, der auf circa 600 Kilometern natürlich fließt. Hier gilt es, verstärkt Maßnahmen zu ergreifen, die die einzigartige Auenlandschaft bewahren. Rückbau- und Renaturierungsmaßnahmen müssen stattfinden, um Lebensräume für Tiere und Pflanzen zu schaffen und zu bewahren. Die Elbe stellt ein wunderschönes Naturerlebnis für den Menschen dar; darauf muss der Tourismus in der Region aufbauen. Seit 20 Jahren laufen Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen, die zu keiner wesentlichen Güterverkehrssteigerung auf der Elbe geführt haben. Aber der ökologische Zustand der Elbe würde sich bei einem weiteren Ausbau zur Schiffbarmachung erheblich verschlechtern - und das, obwohl die Ober- und Mittelelbe ein wahres Naturparadies ist. Der Ausbau der Elbe würde schützenswerte Elbauen, die wichtige Hotspots der Biodiversität darstellen, gefährden. Eine konstante Mindesttiefe der Elbe könnte nur mit massiven Eingriffen in das Ökosystem Elbe ermöglicht werden. Die sich seit einigen Jahren ansiedelnde Fischerei würde wieder eingehen, weil die Fischbestände durch Betonierung und Begradigung ihre Laichplätze verlieren und durch Staustufen an der Wanderung gehindert würden. Der Fischbestand, der seit der Wende von 12 Arten in der DDR auf 42 Arten heute angewachsen ist, würde wieder verringert. Um die Binnenschifffahrt auf der Elbe zu gewährleisten, soll die Elbe eine Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter zwischen Geesthacht und Dresden und von 1,50 Meter oberhalb von Dresden an mindestens 345 Tagen aufweisen. Die dazu seit 20 Jahren laufenden Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen - 2010 allein 31 Millionen Euro - haben das Ziel, mehr Verkehr auf die Elbe zu verlagern, nicht erreicht. Sie führten zur Sohleneintiefung und damit zur Absenkung der Grundwasserstände. Wir fordern, durch die Förderung von Ufer- und Auenrenaturierungen mehr Raum für die Elbe zu schaffen und Maßnahmen zur Deichrückverlegung mit den Ländern zu ergreifen. Eine nationale Biodiversitätsstrategie entlang der Elbe muss endlich umgesetzt werden. An der Elbe zeichnen sich gerade zwei gegensätzliche Entwicklungen ab: Auf der tschechischen Seite soll mit EU-Mitteln eine Staustufe bei Decin gebaut werden, auf deutscher Seite hingegen sollen zukünftig keine Investitionen mehr in Ausbaumaßnahmen fließen. Die vom Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung angekündigte Strukturreform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sieht vor, dass zukünftig die Investitionsmittel bei den Bundeswasserstraßen nur noch dort eingesetzt werden, wo auch ein hohes Güterverkehrsaufkommen stattfindet. Die Elbe kann diese Vorgaben glücklicherweise nicht erfüllen. Mit unter 1 Million Tonnen Gütern, die hier jährlich transportiert werden, ist die Elbe in der Kategorie „Nebennetz“ eingestuft. Das ist auch gut, denn die Elbe ist nicht für die Güterschifffahrt geeignet. Eine ganzjährige Schiffbarkeit ist nicht sicherzustellen, denn nicht berechenbare Wasserstände sind typisch für die Elbe. Die benötigten 1,60 Meter Tiefe für die Schifffahrt sind nicht auf der ganzen Flusslänge herzustellen. Der Bau der Staustufe bei Decin wäre ökonomische Verschwendung und auf deutscher Seite nur durch einen kanalartigen Ausbau mit einer Kette von Staustufen sinnvoll. Die Stärke der Binnenschifffahrt liegt zweifelsohne beim kostengünstigen Transport von Massengütern wie etwa Baustoffe, Erze, Kohle und Stahl; sie dominieren mit einem Anteil von rund 70 Prozent an der Gesamtmenge nach wie vor das Geschäft der Binnenschifffahrt. Genau diese Verkehre sind aber grundsätzlich auch verlagerungsfähig auf den Verkehrsträger Bahn. Unternehmen der Grundstoff- und Montanindustrie besitzen auch Gleisanschlüsse. Die Elbtalstrecke hat nach Angaben der DB Netz AG eine Kapazität von 144 Zügen pro Tag und Richtung. An einem Werktag sind derzeit neun Fernverkehrszüge, 36 Nahverkehrszüge und 37 Güterzüge pro Tag und Richtung unterwegs. Es gibt also noch ausreichend Kapazität für zusätzlichen Güterverkehr. Bei einem Verkehrsaufkommen von 900 000 Tonnen, 2009, auf der Elbe würde bei unterstellter vollständiger Verkehrsverlagerung auf die Schiene eine zusätzliche Belastung von rechnerischen 2,5 Güterzügen pro Tag auf die Elbtalstrecke zukommen; bei 1,5 Millionen Tonnen wären es 4,1 Güterzüge bei einer angenommenen Auslastung von 1 000 Nettotonnen je Güterzug. Angesichts der derzeitigen Auslastung der Elbtalstrecke, die noch erhebliche freie Kapazitäten aufweist, ist eine Verlagerung kapazitiv kein Problem. Einer derartigen Verkehrsverlagerung sind explizit auch keine Infrastrukturinvestitionen zuzurechnen. Die hochsubventionierten Binnenhäfen sind auch ohne Ausbau der Elbe gesichert. Häfen sind heute Logistik- oder Güterverkehrszentren und Gewerbestandorte, bei denen nur ein geringer Umschlag über Kai erfolgt. Der Güterverkehr auf der Mittel- und Oberelbe ist angesichts der Transportmengen ökonomisch bedeutungslos. Hingegen würde der Tourismus durch den Ausbau des Flusses erheblichen wirtschaftlichen Schaden nehmen. Der Elberadweg ist seit Jahren Deutschlands beliebtester Fernradweg. Radtourismus ist eine Chance für kleine Orte. Jeder Radler gibt im Schnitt 60 Euro pro Tag aus; 155 000 Fernradler pro Jahr, die im Schnitt neun Tage auf dem Elberadweg unterwegs sind. Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich mit jährlich 1,1 Millionen Besuchern, 700 festen Arbeitsplätzen und bis zu 900 Saisonkräften braucht Elbewasser. Nach Schätzungen einer Studie der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Professor Dr. Hans-Ulrich Zabel, würden durch einen kompletten Ausbau der Elbe 20 000 Arbeitsplätze verloren gehen, vor allem im Tourismus, aber auch in der Land- und Forstwirtschaft. Zu Protokoll gegebene Reden Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Landesregierungen und den Kommunen ein Konzept zum Ausbau der wirtschaftlichen Potenziale der Elberegion zu entwickeln. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit der Tschechischen Republik ist notwendig, um die Elbe auf deutscher Seite nicht zu gefährden. Es ist notwendig, dass mit der Tschechischen Republik ein gemeinsames Güterverkehrskonzept und auch ein gemeinsames Tourismuskonzept entwickelt wird. Hier müssen klare Abstimmungsverfahren geschaffen werden. Die Planungen für den Bau einer Elbestufe bei Decin müssen dringend verhindert werden. Ich fordere die Bundesregierung ausdrücklich auf, hier tätig zu werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4554 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 26: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für ein wirksames Rückkehrrecht und eine Stärkung der Rechte der Opfer von Zwangsverheiratungen - Drucksache 17/4681 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag der Fraktion Die Linke zum Rückkehrrecht für Opfer von Zwangsverheiratung ist ein neuerlicher Beleg für Ihre Absicht in der Ausländerpolitik, jeden Hebel zu nutzen, um für eine völlig unkontrollierte Zuwanderung in unser Land zu sorgen. Sie gefährden damit die Integration der bei uns lebenden Ausländer und öffnen im Übrigen auch jede Menge Missbrauchsmöglichkeiten für Schleuser und Schlepper, die sich Ihre überaus weitgehenden Gesetzesformulierungen zunutze machen könnten. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben mit dem hier bereits in erster Lesung debattierten Gesetzespaket zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zu anderen Änderungen des Aufenthaltsrechts überzeugende Lösungen vorgelegt, wie zwangsverheirateten und verschleppten Frauen wirksam geholfen und wie gleichzeitig durch eine Verlängerung der Mindestehebestandszeit Scheinehen wirksam begegnet werden kann. Eine Behauptung muss gleich zurückgewiesen werden, die auch durch Wiederholung nicht richtiger wird. Sie kritisieren, dass mit der Verlängerung der Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre sich die Opfer von Zwangsheirat länger in ihrer Zwangslange befinden müssten, um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu erhalten. Woher wissen Sie überhaupt, dass es die Absicht der Frauen ist, in Deutschland zu bleiben, dem Land, in das sie in aller Regel gegen ihren Willen verbracht worden sind? Es ist ja wohl lebensnäher, dass die Frauen zunächst überhaupt erst einmal aus ihrer Zwangslage befreit werden wollen. Dazu haben wir mit den verpflichtenden Deutschkenntnissen vor dem Ehegattennachzug eine Grundlage geschaffen, indem jetzt alle Frauen zumindest sprachlich in der Lage sind, sich Hilfe zu holen, und auch auf das Leben in Deutschland und die Rechte, die Frauen in unserem Land haben, besser vorbereitet sind. Es ist gerade Die Linke gewesen, die gegen diese verpflichtenden Deutschkenntnisse Sturm gelaufen ist. Insofern ist es die reine Heuchelei, wenn Sie sich jetzt als Wahrer der Interessen der zwangsverheirateten Frauen profilieren wollen. Das Gegenteil ist richtig: Sie verweigern den Frauen das menschenrechtliche Rüstzeug, um sich selbst gegen die Zwangslage wehren zu können. Außerdem erwähnen Sie selbst in Ihrem Antrag die Härtefallregelung nach § 31 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes. Das ist der Widerspruch schlechthin. Auch bei einer dreijährigen Mindestehebestandszeit kann einer Frau zur Vermeidung einer besonderen Härte schon weit vor dem Ablauf von drei Jahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt werden. Der Schutz des Gesetzgebers verringert sich also in keiner Weise. Dies sei auch den Wohlfahrtsverbänden ins Stammbuch geschrieben, die sich mit Briefen in diesen Tagen an uns wenden und die Frage der Härtefallregelung bei ihrer Kritik völlig außen vor lassen. Ich will an dieser Stelle schon deutlich machen, dass es mich wundert, wie falsch die bestehende und künftige Rechtslage von Verbandsvertretern dargestellt wird, die schließlich auch in der Beratung von Ausländern tätig sind. Zu einer integrationspolitisch notwendigen Steuerung der Zuwanderung gehört auch, dass wir effektive Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen ergreifen. Wir haben das Thema schon bei der ersten Lesung des Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsrechts eingehend erörtert. Insofern sage ich es noch einmal: Gerade die Fraktion Die Linke erwähnt in ihrem Antrag die Zahl der festgestellten Scheinehen und verweist darauf, dass die Zahl heute - bei einer zweijährigen Mindestehebestandszeit - niedriger ist als im Jahre 2000, als wir noch eine vierjährige Mindestehebestandszeit hatten. Es ist doch wohl einsichtig, dass die Ausländerbehörden mehr Scheinehen nachweisen können, je länger Zeit sie haben, entsprechenden Verdachtsmomenten nachzugehen. Insoweit sind die Hinweise der Linken eher ein Plädoyer, zur alten Rechtslage zurückzukehren. Richtig wäre Ihre Argumentation dann, wenn uns aus den Visastellen unserer Auslandsvertretungen, in denen hochprofessionelle Mitarbeiter tätig sind, die sich seit Jahren mit dieser Problematik befassen, berichtet würde, dass es heute signifikant weniger Anzeichen für eine Scheinehe geben würde als im Jahre 2000. Das Gegenteil ist aber richtig. Mir haben erst im letzten Jahr Mitarbeiterinnen des Generalkonsulats in Istanbul gesagt, dass sie davon ausgehen, dass es sich bei rund 30 Prozent der Antragsteller um Fälle von Scheinehen handelt. In Ankara und Izmir dürften wegen der besonReinhard Grindel deren Gebiete, für die diese Visastellen zuständig sind, die Zahlen nicht geringer sein, nur um einmal das Land mit den meisten Fällen von Ehegattennachzug zu erwähnen. Aus den Visastellen ist gerade die Klage zu hören, dass die Ausländerbehörden in Deutschland wegen angeblichen Personalmangels nur sehr zögerlich bereit sind, parallele Anhörungen der Ehegatten vorzunehmen. Insofern bleibt nur die Möglichkeit, nach der Einreise des jeweiligen Ehegatten dem Scheineheverdacht nachzugehen. Dafür wollen wir eine längere Zeit einräumen. Außerdem können Sie nicht bestreiten, dass es natürlich die Fälle gibt, bei denen nach Deutschland gezogene Ehegatten unmittelbar nach dem Ablauf von zwei Jahren sich scheiden lassen und Partner heiraten, mit denen sie in ihrem Heimatland bereits in erster Ehe verheiratet waren. Natürlich erhoffen wir uns von der Verlängerung der Mindestehebestandszeit auch einen gewissen Abschreckungseffekt, damit es gar nicht erst zu einer Scheinehe kommt. Integrationspolitisch abwegig sind auch Ihre Anträge zum Thema Rückkehrrecht. Wir haben in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung als Koalition dazu eine sehr sachgerechte Lösung angeboten. Wir lösen vor allem zwei große Probleme, die der tatsächlichen Inanspruchnahme des Rückkehrrechts bisher im Wege standen. Wir verlängern die Frist, innerhalb derer zurückgekehrt werden kann, von bisher sechs Monaten auf bis zu zehn Jahre, und wir verzichten auf den Nachweis der Unterhaltssicherung. Wie zum Beispiel der Anwaltsverein angesichts dieser weitreichenden Regelung davon sprechen kann, dass das alles ohne praktische Bedeutung bleibt, ist mir schleierhaft. Da soll starke Polemik die Schwäche der Argumentation überdecken. Tatsächlich geht es beim Rückkehrrecht doch darum, dass unser Rechtsstaat seiner sozialen Verantwortung einem ausländischen Mitbürger gegenüber gerecht wird, dessen ursprünglicher Aufenthalt zu einer gewissen Verwurzelung in unserem Land geführt hat, sodass es dem Ausländer nicht zumutbar ist, in dem ihm fremd gewordenen ursprünglichen Heimatland zu verbleiben. Insofern muss es doch aber einen Unterschied machen, ob eine junge Frau in Deutschland aufgewachsen ist, hier zur Schule ging und eine Ausbildung gemacht hat und dann in den Ferien in der Türkei zwangsverheiratet wurde oder ob sie sich nur wenige Monate bei uns aufgehalten hat und dann in ihr Heimatland verschleppt wurde. Insofern ist es integrationspolitisch zwingend, dass man die Frage, wie lange und unter welchen Bedingungen ein Rückkehrrecht in Anspruch genommen werden kann, von dem Tatbestand abhängig macht, wie lange sich die betroffene Frau vorher in Deutschland aufgehalten hat und ob sie in unserem Land verwurzelt war oder nicht. Nach dem Antrag der Linken wäre es denkbar, dass eine Frau mit 18 in die Türkei verschleppt wurde und mit 65 ein Rückkehrrecht geltend macht. Das ist absurd, und deshalb ist Ihr Antrag absurd. Es liegt auf der Hand, dass damit dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet ist. Ich wiederhole es: Sie spielen damit Schleppern und Schleusern in die Hände. Ebenso absurd ist es, dass Sie auch geduldete Personen in den Schutzbereich des Rückkehrrechts einbeziehen wollen. Wer nie einen legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland gehabt hat, kann nicht in unserem Land verwurzelt sein und kann deshalb nicht ein Rückkehrrecht beanspruchen. Mit diesem Vorschlag verwirken Sie den Anspruch, in der ausländerrechtlichen Debatte noch ernst genommen zu werden. Nur ein letztes Wort zur Frage des EUGH-Urteils, auf das Sie in Ihrem Antrag eingehen. Wenn überhaupt, kann dieses nur auf solche Ehegatten Anwendung finden, die zum Zeitpunkt der Aufhebung der Ehe erwerbstätig waren. Nur weil möglicherweise eine sehr kleine Gruppe in den Wirkungsbereich der längeren Mindestehebestandszeit nicht einbezogen werden kann, gibt es keinen Grund, von dieser richtigen Regelung Abstand zu nehmen.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor gut einem Monat haben wir an dieser Stelle anlässlich des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Bekämpfung von Zwangsverheiratungen schon einmal über das Thema eines erweiterten Rückkehrrechtes für Opfer von Zwangsehen gesprochen. Positiv ist sowohl bei diesem Antrag als auch bei dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke auf jeden Fall das Grundanliegen, Menschen, die Opfer von Zwangsverheiratung geworden sind, die Möglichkeit zu geben, nach einer Befreiung aus dieser Zwangssituation wieder nach Deutschland zurückzukehren. Wir als SPD-Fraktion haben schon unter der Großen Koalition für ein erweitertes Rückkehrrecht gestritten, und schon damals wollte die Union einem solchen Recht, das allein die Opfer schützt und stärkt, nur unter der Bedingung zustimmen, dass wir im Gegenzug einer Anhebung der Mindestehebestandszeit von zwei auf vier Jahre zustimmen. Das wollten und konnten wir nicht und haben wir auch nicht getan. Heute sind sich im Grunde alle im Parlament vertretenen Parteien einig: Wir brauchen ein erweitertes Rückkehrrecht für die Opfer von Zwangsverheiratungen. Auch die Union hat erfreulicherweise eingesehen, dass sie nur so glaubwürdig erscheint in ihrer Kampfansage zur Bekämpfung von Zwangsehen. Leider hält sie bislang allerdings an ihrer schon vor Jahren praktizierten unsittlichen Verknüpfung der Einführung eines erweiterten Rückkehrrechts mit der Anhebung der Mindestehebestandszeit von bisher zwei auf zukünftig drei Jahre fest. In der Beschreibung der Probleme und des Ziels, dem mit der Anhebung der Mindestehebestandszeit begegnet werden soll, heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung, dass durch die im Jahre 2000 erfolgte Verkürzung der Ehebestandszeit auf zwei Jahre der Anreiz für ausschließlich zum Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte Eheschließungen erhöht worden sei. Einfach so. Ich kenne keine einzige Erhebung oder Untersuchung, die das belegen könnte. Die Union sagt, sie verfolge mit der AnheZu Protokoll gegebene Reden bung der Mindestehebestandszeit das Ziel, Scheinehen zu verhindern. Tatsächlich verdammt sie aber Frauen, die sich in einer schrecklichen Lage befinden und dies vielleicht nicht beweisen können, weil sie Beweise wie Fotos, Zeugen und Ähnliches nicht beibringen können, dazu, noch ein weiteres Jahr in dieser unerträglichen Situation zu verharren aus Angst, ansonsten auch noch durch den Verlust des Aufenthaltsrechts gestraft zu werden. Wie wir lehnt auch die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag eine Anhebung der Mindestehebestandszeit ab. Das ist richtig! Ebenso wie wir in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf für ein erweitertes Rückkehrrecht ist auch die Fraktion Die Linke der Meinung, dass ein solches Recht auch dann gewährleistet sein muss, wenn das Opfer seinen Lebensunterhalt in Deutschland nicht alleine sichern kann. Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten darf die Befreiung aus einer Zwangsehe nicht an der Lebensunterhaltssicherungspflicht scheitern. Sehr weitgehend ist allerdings der Vorschlag des vorliegenden Antrags, ein erweitertes Rückkehrrecht auch für Geduldete und Illegale zu fordern. Ich kann zwar das Anliegen, ins Ausland verschleppten Geduldeten die Rückkehr zu ermöglichen, gut nachvollziehen, halte es aber kaum für systematisch durchsetzbar. Eine Duldung beruht ja in den meisten Fällen darauf, dass die Einreise in das Herkunftsland nicht möglich ist. Nach dem Gesetzentwurf sollen Geduldete jedoch gerade vom Ausland her, in das ihre Ausreise eigentlich ja nicht möglich war/ist, einen Titel für die Wiedereinreise nach Deutschland erhalten. Und: Die Einführung eines Rückkehrrechts für Illegale würde einer Legalisierung gleichkommen. Auch das kann ich vom Ansinnen her verstehen, geht es doch vor allem um den Schutz der Opfer, halte es aber dennoch für zu weitgehend. Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen, wie gut es vor allem für die Betroffenen ist, dass es nun so aussieht, als würde es demnächst ein erweitertes Rückkehrrecht für Opfer von Zwangsehen geben. Sie gestatten mir, unseren eigenen Gesetzentwurf diesbezüglich allerdings am besten zu finden!

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zu diesem Thema habe ich bereits im Januar ausgeführt, was ich, da sich die Sachlage und unsere Haltung zu ebendiesem Thema nicht geändert hat, gerne noch einmal bekräftige: Zwangsheirat ist kein Kavaliersdelikt. Oft hat sie schreckliche Folgen für die Betroffenen. Die Gleichberechtigung der Frau ist einer der wesentlichen Bestandteile unserer Rechts- und Werteordnung, deren Vermittlung auch eine der entscheidenden Integrationsaufgaben ist. Integration funktioniert nur bei Respekt vor dieser Werteordnung. In großfamiliären Strukturen mit altertümlichen Bräuchen bestehen zusätzliche Zwangslagen für junge Menschen. Falsche Traditionen oder intolerante kulturelle Konventionen verhindern eine unabhängige Lebensgestaltung - vielfach lebenslänglich. Zwangsheiraten sind dabei kein Einzelphänomen auch nicht in Deutschland. Erfahrungen zum Beispiel aus Berlin, aber auch aus Flächenländern wie BadenWürttemberg zeigen, dass es leider viel zu viele junge Frauen gibt, die in einer Zwangsehe leben müssen. Der besondere psychische Druck, der auf Mädchen und jungen Frauen in der Zwickmühle zwischen familiärer Solidarität und eigener Selbstbestimmung lastet, ist hier sehr groß. Auch wenn die Zwangsheirat bereits jetzt im Rahmen der Nötigung strafbar ist, ist den betroffenen Familien meist nicht bewusst, daß die elterliche oder geschwisterliche Vorschrift des Ehepartners in der deutschen Rechtsordnung nicht toleriert wird. Den Eltern und Familienangehörigen muss ausdrücklich die kriminelle Dimension solchen Tuns klar sein. Die selbstbestimmte Lebensgestaltung, die Freiheit, einen Ehepartner selbst aussuchen zu können, braucht den besonderen Schutz eines eigenen Straftatbestandes. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist allerdings auch die Verbesserung des Opferschutzes besonders wichtig. Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen, sondern auch den Opfern wieder eine Perspektivchance geben. Es muss ein eigenständiges Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geben. Gerade die Verschleppung in ein fremdes Land verschärft diese Zwangslage noch. Die bisherige Regelung, wonach der Aufenthaltstitel auch für verschleppte junge Frauen nach sechs Monaten automatisch erlischt, ermöglichte es, diese Zwangslage noch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtperspektive zu nehmen. Nachdem das Rückkehrrecht nun schon sehr lange diskutiert wird und es weder Rot-Grün noch Rot-Schwarz gelungen ist, dieses Problem anzupacken, ist es der christlich-liberalen Koalition nun zu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die Betroffenen geschaffen zu haben. Jetzt erhalten Opfer von Zwangsheirat und Verschleppung wieder eine Chance, sich zu befreien. Dem dient auch die Verlängerung der Antragsfrist für die Aufhebung der Ehe. Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr von ideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik. Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht ohne Scheuklappen die bestehenden Defizite der Integrationspolitik an, um die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser zu nutzen. Dazu gehört auch, die Grundwerte unserer Rechtsordnung gegenüber Praktiken aus Herkunftsländern durchzusetzen, die mit deutschem Recht nicht vereinbar sind. Im Zuge dieser Verbesserungen haben wir der Verlängerung der Mindestehebestandszeit auf drei Jahre zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels zugestimmt. Das ist auf Kritik bei Opferverbänden, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen gestoßen. Wir nehmen diese Besorgnis sehr ernst und werden auch in Zukunft auf die Wirkung dieser Regelung genau achten. Leider hat die im Jahre 2000 von Rot-Grün durchgesetzte Absenkung der Ehemindestbestandszeit von vier auf zwei Jahre die Möglichkeit für Scheinehen erweitert. Dem will die Koalition entgegensteuern. Zu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) Opfern von Gewalt, insbesondere auch häuslicher Gewalt, die es leider in viel zu großer Anzahl gibt und die als Argument gegen die Anhebung der Ehemindestbestandszeit angeführt werden, kann durch die Härtefallregelung geholfen werden. Dies wird auch nochmals klargestellt. Wir mahnen die Ausländerbehörden zu einer großzügigen Handhabung im Sinne der Opfer. Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbesuch zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancen von jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Die Koalition wird durch Fördern und Fordern die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser erschließen. Ziel bleibt, den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft zu stärken. Dieses Ziel verliert der Linken-Antrag völlig aus den Augen. Wir lehnen ihn daher ab.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften gerierte sich die Regierungskoalition als Vertreter der Frauenrechte. So würden sie Zwangsverheiratungen, Scheinehen und generell Gewalt gegen Frauen - seien sie nun physischer oder psychischer Natur - energisch bekämpfen. Doch wie Frauen aus leidvoller Erfahrung aus den letzten Jahrzehnten wissen, stehen CDU/CSU und FDP nicht als frauenpolitische Avantgarde für die Rechte der Frauen ein, schon gar nicht, wenn es um Migrantinnen geht. Deshalb überrascht es auch nicht, dass gerade Frauenorganisationen und Beratungsstellen kein gutes Haar am Gesetzentwurf der Bundesregierung hinsichtlich der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen lassen. Denn es ist unglaubwürdig, wenn die Bundesregierung vorgibt, vor allem im Interesse der Opfer von Zwangsverheiratungen zu handeln. Ginge es der Bundesregierung tatsächlich um die Opfer von Zwangsverheiratungen, hätte sie bereits vor Jahren Verbesserungen für die betroffenen Frauen und im geringeren Umfang auch für betroffene Männer geschaffen. Zur Stärkung der Opfer von Zwangsheiraten hätte man in Bezug auf flächendeckende, niedrigschwellige Beratungsangebote und Notfallunterbringungen oder in Bezug auf verfahrensrechtliche Änderungen zur Gewährleistung der Sicherheit und Anonymität der Opfer im Gerichtsverfahren aktiv werden können und müssen. Die umfassenden Forderungen der Fraktion Die Linke lassen sich in unserem damaligen Antrag mit der Bundestagsdrucksachennummer 16/1564 nachlesen. Entsprechende Vorschläge der Fraktion Die Linke aus dem Jahr 2006 wurden in der 16. Wahlperiode des Bundestages jedoch von der Großen Koalition abgelehnt. Genauso wurde die Forderung, ein effektives Rückkehrrecht im Aufenthaltsgesetz zu schaffen, abgelehnt; abgelehnt, obwohl sich im Rahmen einer Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend alle Sachverständigen mit einer Ausnahme hierfür ausgesprochen hatten. Auch dies lässt sich nachlesen. Und zwar im Ausschussprotokoll 16/13 und in der Ausschussdrucksache 16({0})91g. Die Linke stand damals an der Seite der Frauenrechtsorganisationen und tut dies auch heute. Im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung will sie nun die Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre unter dem Vorwand verlängern, Scheinehen zu bekämpfen. Diese Behauptung ist abwegig, und dieser Behauptung widersprechen eklatant die vorliegenden Daten zur Zahl polizeilich erfasster Scheinehe-Verdachtsfälle, die im Jahr 2009 mit 1 698 nicht einmal ein Drittel des Werts aus dem Jahr 2000 erreichte, und 2000 gab es noch eine Mindestehebestandszeit von vier Jahren. Die Erhöhung der Ehebestandszeit ist ein Skandal, und das weiß auch die Bundesregierung. Sie ist nicht zuletzt deshalb ein Skandal, weil sie auch gegen Europarecht verstößt. Wie die Bundesregierung einräumen musste, ist die geplante Verlängerung der Mindestbestandszeit einer Ehe für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts von nachgezogenen Ehegatten bei türkischen Staatsangehörigen aus europarechtlichen Gründen nur bedingt anwendbar. So hat der Europäische Gerichtshof mit dem „Toprak“-Urteil vom 9. Dezember 2010 entschieden, dass die geplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre auf die größte Gruppe der Migrantinnen und Migranten aus europarechtlichen Gründen nur sehr bedingt anwendbar ist. Denn das Assoziationsrecht sieht ein Verschlechterungsverbot für türkische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen vor: Einmal gewährte Erleichterungen im Aufenthalts- und Arbeitsrecht dürfen nicht wieder zurückgenommen werden. Wider besseres Wissen versucht die Bundesregierung die Verschlechterungen beim Schutz der Opfer von Zwangsverheiratungen dadurch zu verschleiern, dass ein eigenständiger Straftatbestand geschaffen und das Rückkehrrecht erweitert wird. Ersteres ist lediglich Symbolpolitik und hat mit einer realen Verbesserung nichts zu tun. Diejenigen, die sich bisher nicht mit dem Strafgesetzbuch beschäftigt bzw. es ignoriert haben, werden es auch weiterhin tun. Da spielt es keine Rolle, ob Zwangsverheiratung nun in § 240 des Strafgesetzbuches als besonders schwerer Fall der Nötigung oder in einem eigenen § 237 Abs. 4 des Strafgesetzbuches geregelt wird. Und die einzige wirkliche Verbesserung - nämlich die Einführung eines Rückkehrrechts - ist entsprechend nur halbherzig angegangen worden. Das vorgeschlagene Wiederkehrrecht für Opfer von Zwangsverheiratungen, die von einer Rückkehr nach Deutschland abgehalten werden, ist unzureichend. § 37 Abs. 2 a des Aufenthaltsgesetzes ist im Entwurf zunächst nur als eine bloße Ermessensregelung ausgestaltet. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses Ermessen eine mit dem Gedanken eines effektiven Opferschutzes unvereinbare Nützlichkeitsprüfung enthält. So ist Bedingung für eine Rückkehr, dass sich die Betroffenen aufgrund „der bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen“ können. Ein Regelanspruch auf Rückkehr Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen ohne eine solche Prüfung der „Integrationsfähigkeit“ ist nur nach achtjährigem rechtmäßigem Aufenthalt und sechsjährigem Schulbesuch in Deutschland vorgesehen. Die geplante Regelung wird wegen dieser Restriktionen nach Einschätzung des Deutschen Anwaltvereins nur „ein plakatives Signal gegen Zwangsehe“ setzen und wegen seiner unzureichenden Ausgestaltung „wenig Praxisrelevanz haben“, wie ihrer Stellungnahme zu entnehmen ist. Auch die nur dreimonatige Bedenkzeit „nach Wegfall der Zwangslage“ zur Stellung eines Rückkehrantrags wird sich sicher angesichts der besonderen Ausnahmesituation und Belastungen der Betroffenen als viel zu kurz erweisen. Regelungen für verschleppte Personen ohne gefestigten Aufenthaltsstatus in Deutschland wie zum Beispiel Geduldete fehlen in dem Gesetzentwurf völlig. Die Linke fordert deshalb ein wirksames Rückkehrrecht für zwangsverheiratete und verschleppte Personen. Zwangsverheirateten oder von Zwangsverheiratungen bedrohten oder gegen ihren Willen ins Ausland verschleppte Personen, die rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatten und an einer Rückkehr nach Deutschland gehindert werden, muss ein unbeschränktes Recht auf Wiederkehr eingeräumt werden. Grundsätzlich darf der Aufenthaltstitel nicht durch einen längeren Auslandsaufenthalt erlöschen. Die Frist des Erlöschens muss vorsorglich auf drei Jahre verlängert werden. Und Die Linke fordert auch, dass für zwangsverheiratete und ins Ausland verschleppte Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt, aber ohne rechtmäßigen Aufenthaltstitel in Deutschland ein Rückkehrrecht und Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen geschaffen wird. Eine weitere zentrale Forderung der Linken bleibt, dass auf die geplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit verzichtet wird. Wir brauchen vielmehr eine Härtefallregelung für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ehegatten. Das muss durch entsprechende Klarstellungen so ausgestaltet werden, dass sie insbesondere von Opfern von Gewalt und Zwangsheirat ohne Angst vor einer Abschiebung jederzeit effektiv in Anspruch genommen werden kann. Das wäre dann auch frauenfreundlich.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bündnis 90/Die Grünen haben mit ihrer Anhörung „Zwangsverheiratung ist keine Ehrensache“ im Juli 2003 als erste Fraktion im Deutschen Bundestag auf diese Menschenrechtsverletzung hingewiesen. Im Jahr 2005 hat die rot-grüne Koalition Zwangsverheiratungen als einen Fall „besonders schwerer Nötigung“ im Strafgesetzbuch ausdrücklich verankert. Seit dem Ende der rot-grünen Koalition hat die Bundesregierung keine adäquaten Versuche unternommen, um Migrantinnen, die von Zwangsverheiratungen bedroht oder betroffen sind, zu helfen. Was die Bundesregierung nun in ihrem Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat vorlegt, ist schäbig. Sie ist offenbar nicht gewillt, für adäquaten Schutz der Betroffenen zu sorgen. Wir haben daher als Alternative einen eigenen Antrag „Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative“ in den Bundestag eingebracht. Unser Antrag sieht einen umfassenden Aktionsplan vor, der von den Betroffenenverbänden ausdrücklich unterstützt wird. Kernforderungen unseres Antrags sind die Gewährung eigenständiger Aufenthaltsrechte und wirksamer Rückkehrrechte für Migrantinnen und Migranten, die von Zwangsverheiratungen betroffen sind. So soll jungen Ausländerinnen und Ausländern, die seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind, von Amts wegen und unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhalts eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden. Die Niederlassungserlaubnis erlischt auch dann nicht, wenn sich die betreffende Person - zum Beispiel aufgrund einer Zwangsverheiratung - länger als sechs Monate im Ausland aufhält. Des Weiteren wollen wir ins Ausland verschleppten Opfern von Zwangsverheiratungen ein umfassendes Rückkehrrecht gewähren, und zwar unabhängig von einer bestimmten Voraufenthaltsdauer oder der Sicherung des Lebensunterhalts. Daneben schlagen wir die Gründung einer dauerhaften Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zwangsverheiratungen“ vor, um mit den Ländern verbindliche Regelungen für das regelmäßig notwendige länderübergreifende Handeln zu vereinbaren, damit den Opfern von Zwangsverheiratungen schnell, unbürokratisch und langfristig geholfen werden kann. Frauen, die vor einer Zwangsverheiratung flüchten, befinden sich in einer physischen und psychischen Extremlage. Für langwierige, bürokratische Zuständigkeitsstreitigkeiten, insbesondere bei jungen Volljährigen, haben sie keine Zeit. Die Bund-Länder-AG soll im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung für einen flächendeckenden Ausbau von niedrigschwelligen Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen sorgen. Daneben soll sie Aufklärungskampagnen entwickeln und finanzieren und hierbei insbesondere darauf hinwirken, dass an Schulen die Themen Zwangsverheiratung und häusliche Gewalt in die Lehrpläne aufgenommen werden, dass Lehrerinnen und Lehrer entsprechend fortgebildet und sensibilisiert werden und dass Anlaufstellen geschaffen werden, an die sich Schülerinnen und Schüler wenden können, wenn sie direkt oder indirekt von Zwangsverheiratungen betroffen sind. Schließlich fordern wir Änderungen im Ehe-, Unterhalts- und Erbrecht, um die Aufhebung der Ehe zu erleichtern und die betroffenen Frauen finanziell abzusichern. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist skandalös und ein falsches Signal. Hier möchte ich nur zwei Regelungen hervorheben, die dringend einer Änderung bedürfen, um die Situation der Opfer von Zwangsehen zu verbessern. Es ist zwar positiv, dass die Bundesregierung endlich erkannt hat, dass den betroffenen Frauen ein RückkehrZu Protokoll gegebene Reden recht gewährt werden muss. Diese Rückkehrmöglichkeit macht die Bundesregierung allerdings von einer positiven Integrationsprognose abhängig. Sie lässt also Frauen mit einem niedrigen Bildungsgrad oder solche ohne finanzielle Absicherung in ihrer prekären Lage im Stich. Ein unterschiedliches Schutzniveau lässt sich nicht begründen, insbesondere wenn man immer wieder, wie die Bundesregierung, zu Recht betont, welch schwerwiegende Straftat die Zwangsheirat ist. Wir sind dafür, allen Opfern von Zwangsheirat ein umfassendes Rückkehrrecht einzuräumen ohne Prüfung der Voraufenthaltsdauer, der Sicherung des Lebensunterhalts oder anderweitiger Integrationsprognosen. Die zweite Regelung, von der die Bundesregierung Abstand nehmen sollte, ist die Verlängerung der Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Anstatt wie vom Gesetzentwurf angeblich vorgesehen, die Opfer von Zwangsehen besser zu schützen, führt die Verlängerung der Mindestehebestandszeit zu einer gravierenden Verschlechterung der Situation der Opfer. Schon heute bleiben viele misshandelte Migrantinnen aus Angst vor einer Abschiebung in einer ungewollten und gewalttätigen Ehe. In Zukunft sollen sie noch ein Jahr länger in dieser Lebenssituation ausharren. Auch die Härtefallregelung kann hier nicht ausreichend weiterhelfen, sie entfaltet aus verschiedenen Gründen in der Praxis leider nicht die erhoffte Wirkung. Um Mädchen und junge Frauen stark genug zu machen, um sich aus ihrer Zwangslage befreien zu können und ihnen die notwendige Unterstützung und den notwendigen Schutz zu bieten, bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4681 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 27: Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tarifverhandlungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst der Länder - Höhere Löhne absichern - Drucksache 17/4841 Armin Schuster ({0}) ({1}): Dies ist eine merkwürdige und in jedem Fall überflüssige Debatte. Ich möchte kurz etwas zur Art und Weise sagen, wie dieser Antrag eingebracht wurde. Wir kennen den Tagesordnungspunkt schon seit etwa einer Woche, allerdings nur seine Überschrift. Den Antragstext selbst haben wir erst vor zwei Tagen erhalten. Leider stimmen Überschrift und Inhalt nicht im Mindesten überein. Es gehört wohl zu den parlamentarischen Gepflogenheiten der Linken, Texte von Anträgen erst sehr kurzfristig bekannt zu geben, sodass man die innere Widersprüchlichkeit des Antrags erst im letzten Moment erfährt. Gemäß der Überschrift geht es der Fraktion der Linken um höhere Löhne für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Länder. Der Hintergrund ist klar: Es gibt dort derzeit wieder Tarifverhandlungen, in denen wie immer hart gerungen wird. Erst im Antragstext offenbart sich dann das eigentliche Thema: nämlich die Finanzsituation der Länder. Ich zitiere: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf: gesetzliche Vorschläge für die dauerhafte Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Länder vorzulegen, zum Beispiel durch Veränderung der Aufteilung der Gemeinschaftssteuern. Die Länder müssen so in die Lage versetzt werden, einen erfolgreichen Tarifabschluss für die Angestellten im öffentlichen Dienst der Länder zu gewährleisten.“ Ja, die Finanzsituation der Länder ist angespannt. Allerdings war sie dies auch schon in früheren Tarifrunden. Und es geht auch nicht nur den Ländern so: Der Bund und die Kommunen müssen ebenso seit Jahren mit einer angespannten Kassenlage leben, müssen sich der Aufgabe der Haushaltskonsolidierung stellen. Tatsächlich sind wir mit einer Rekordverschuldung der Länder konfrontiert, aber auch hier muss man die Lage differenziert betrachten: Erstens. Es gibt Länder, die durchaus sparsam haushalten und sich mit einer ernsthaften Haushaltskonsolidierung finanzielle Spielräume erarbeiten. Und es gibt eben Länder, die dies nicht tun, und für die schreien Sie hier um Hilfe. Zweitens. Die aktuell angespannte Finanzlage ergibt sich bekannterweise größtenteils aus der zurückliegenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Auch diese wird von den Ländern unterschiedlich gut und kompetent bewältigt. Drittens. Der erkennbare Wirtschaftsaufschwung wird allen öffentlichen Kassen nutzen: den kommunalen genauso wie denen in Bund und Ländern. Deutschland kommt gut aus der Krise, viel besser übrigens als die meisten anderen EU-Staaten. Aber auch hier gilt: Die Länder sind ihres eigenen Glückes Schmied. Die einen nutzen den Aufwind zur strikten Konsolidierung, andere Länder wie NRW haben nicht nur nicht verstanden, was jetzt beim Thema Schuldenabbau zu tun ist. Nein, dort wird noch kräftig draufgepackt. Diese Suppe muss die Regierung NRW schon alleine auslöffeln. Es kann doch niemand von uns verlangen, dass wir groben haushalterischen Unfug von hier aus noch unterstützen. Viertens. Das zurückliegende Finanz- und Wirtschaftskrisenmanagement des Bundes, zum Beispiel in Form der Kurzarbeiterregelungen und der Qualifizierungsprogramme, war eine Milliardeninvestition und somit die größte Unterstützungsleistung, die wir den Kommunen und Ländern angedeihen lassen konnten. Wir haben Massenarbeitslosigkeit verhindert, wir haben Jugendarbeitslosigkeit in der Krise reduziert, wir haben Firmenpleiten abgewendet. Aber auch diese Startvo10650 Armin Schuster ({2}) raussetzungen wurden in den Ländern leider sehr unterschiedlich genutzt. Nehmen wir zu dieser Krisenbewältigungsleistung jetzt auch noch die Segnungen des Länderfinanzausgleichs für die Nehmerländer, dann ist Ihre Forderung, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Linken, grotesk. Selbst beim Verhandlungsergebnis um Hartz IV haben wir auf die finanziellen Belange von Ländern und Kommunen in besonderem Maße geachtet. Gerne führe ich mit Ihnen als baden-württembergischer Abgeordneter auch eine Debatte über Haushaltsdisziplin und den Willen einzelner Landesregierungen zu großen Sparanstrengungen. Vielleicht können Sie dabei etwas lernen. Wenn die Linke sich ernsthaft für die Beschäftigten der Länder einsetzen will, dann kann sie es in den Ländern tun, wo sie politische Verantwortung trägt. Wie alle im Bundestag vertretenen Parteien ist auch die Linke zumindest in einigen Landesparlamenten vertreten und in mehreren Ländern Teil einer Landesregierung. Das wären die richtigen Orte, um die hier formulierten politischen Ziele umzusetzen. So stellt die Linke beispielsweise in Brandenburg den Finanzminister. Über diesen Weg könnten Sie Einfluss nehmen und gleichzeitig den Landesparlamenten und der Öffentlichkeit erklären, wie Sie Ihr Ansinnen - oder soll ich sagen: Ihre sozialen Wunschkonzerte - zu finanzieren gedenken. Auch ich wünsche mir ausreichend Geld für dringende Investitionen, für die finanzielle Anerkennung an die Beschäftigten, für Bildung und Forschung. Dies funktioniert aber nur, wenn alle Beteiligten ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um Einnahmen und Ausgaben ins Gleichgewicht zu bringen. Ansonsten gilt: Die Tarifpartner werden angemessene Ergebnisse herbeiführen. So haben sie es auch in der Vergangenheit gehalten. Und so wie wir es in der Vergangenheit gehalten haben, so wird sich der Bundestag nicht in die Verhandlungen einmischen. Wir halten an der Tarifautonomie fest. Dieser Antrag ist also juristisch wie politisch verfehlt und indiskutabel. Man fragt sich abschließend, ob es ein eklatanter Mangel an Kenntnissen in Haushalts-, Finanzpolitik und Tarifrecht ist oder lediglich politische Schaustellerei. Der Antrag ist natürlich abzulehnen.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der vorliegende reichlich dürre, unvollständige und dem Problem wirklich nicht angemessene Antrag der Fraktion Die Linke führt uns wieder einmal eindrucksvoll vor Augen, was der Unterschied zwischen „gut“ und „gut gemeint“ ist: Denn der Bund und damit auch der Deutsche Bundestag sind weder für die Tarifverhandlungen der Länder noch für die knapp 600 000 tarifbeschäftigten Landesbeschäftigten zuständig. Die finanzielle Lage vieler Länder erfordert mehr, als nur mit den Personalkosten zu argumentieren. Im Übrigen ist es schon mehr als enttäuschend, dass der Antrag die Kommunen mit keinem Wort erwähnt. Die Gemeinden und Kreise sind aber von der schädlichen Politik von Schwarz-Gelb genauso betroffen. Neben dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat allein die Absenkung der Unternehmensbesteuerung bei Funktionsverlagerungen und Finanzierungsdienstleistungen zu Mindereinnahmen von mindestens 650 Millionen Euro geführt. Das kann man in diesem Zusammenhang nicht oft genug erwähnen. Gemeindefinanzreformkommission, Finanzkrise und Staatsverschuldung, Schuldenbremse und Länderfinanzausgleich - nur diese wenigen Stichwörter genügen, damit klar wird: Das Thema Finanzverfassung ist und bleibt ein echtes Bohren dicker Bretter. Der Antrag aber schafft nicht mehr, als auf diesem Brett oberflächtlich herumzukratzen.

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Fraktion Die Linke hat dem Bundestag einen Antrag vorgelegt, der den Bund auffordert, sich über eine Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Länder in die Tarifverhandlungen einzumischen. Mit der Föderalismusreform wurde das öffentliche Dienstrecht in den Kompetenzbereich der Bundesländer verlagert. Auch für die Angestellten des öffentlichen Dienstes kam es zu einer Trennung der Tarifverhandlungen zwischen Bund und Kommunen auf der einen und den Bundesländern auf der anderen Seite. Der Vorschlag der Fraktion Die Linke ist daher aus meiner Sicht ein systemwidriger Eingriff. Der Bund hat Anfang letzten Jahres die Tarifverhandlungen für die Angestellten des Bundes und der Kommunen geführt. Der Weg zu einer Einigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war steinig und konnte letztendlich nur über die Einschaltung von Schlichtern erreicht werden. Am 4. Februar 2011 hat nun die Einkommensrunde für die Bundesländer begonnen. Auch hier zeichnet sich kein schnelles Übereinkommen ab. Zu weit liegen die Forderungen der Gewerkschaften und der Vertreter der Länder auseinander. Verdi oder der Deutsche Beamtenbund dbb fordern insgesamt rund 5 Prozent mehr Lohn, aufgeteilt auf 50 Euro Sockelbetrag plus 3 Prozent lineare Erhöhung. Die Forderung nach einer Beteiligung der Arbeitnehmer am Aufschwung ist verständlich. Die angespannte finanzielle Situation der Länder muss jedoch in den Tarifverhandlungen ebenfalls berücksichtigt werden. An dieser Stelle sei jedoch auf das Prinzip der Tarifautonomie verwiesen. In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist das Recht vereinbart, Tarifverträge frei von staatlichen Eingriffen zu schließen. Der Bund hat nicht das Recht, sich in irgendeiner Form in die laufenden Verhandlungen zwischen den Ländern und den Arbeitnehmerorganisationen einzuschalten. Beide Parteien müssen über den Weg der Verhandlungen miteinander zu einem fairen Tarifabschluss kommen. Die Fraktion Die Linke erkennt die Unmöglichkeit der Lohnforderungen aufgrund der finanziellen Situation der Länder an. Sie fordert daher ihre finanzielle Unterstützung durch den Bund. Ein Blick auf die Situation des Bundes jedoch zeigt, dass auch dieser nicht die finanziellen Kapazitäten hat. Die Neuverschuldung konnte dank der günstigen Konjunkturlage Anfang dieses Jahres weiter reduziert werden. Der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble strebt eine Aufnahme Zu Protokoll gegebene Reden von Neuschulden in Höhe von rund 40 Milliarden Euro an. So positiv diese Entwicklung ist, so wichtig ist es jedoch, weiterhin am Abbau von Schulden festzuhalten. Die im Grundgesetz vorgeschriebene Schuldenbremse, die eine Begrenzung der Nettokreditaufnahme auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab 2016 vorsieht, kann nur durch intensive Sparbemühungen eingehalten werden. Eine konjunkturelle Komponente ist übrigens bei der Schuldenbremse bereits integriert. In konjunkturell schlechteren Zeiten ist zwar eine höhere Neuverschuldung erlaubt, in konjunkturell besseren und guten Zeiten wird aber eine stärkere Rückführung der Neuverschuldung durch verschärfte Sparanstrengungen oder Mehreinnahmen verlangt. Als möglichen Weg zu einer finanziellen Besserstellung der Länder fordern die Antragsteller eine veränderte Aufteilung der Gemeinschaftssteuern. Lassen Sie mich zunächst unterstreichen, dass der Bund mit der Hartz-IV-Regelung die Kommunen deutlich entlastet hat. Der Bund nimmt ihnen ab 2012 in drei Schritten die Kosten für die Grundsicherung im Alter ab, bis sie ab 2014 vollständig beim Bund liegen soll. Damit hat die schwarz-gelbe Bundesregierung bereits ein deutliches Zeichen zur finanziellen Entlastung der Kommunen gesetzt. Eine veränderte Verteilung der Gemeinschaftssteuern hingegen ist nur möglich, wenn eine strukturelle Veränderung des Verhältnisses zwischen Ein- und Ausgaben von Bund und Ländern stattfindet. Eine regelmäßig sowohl auf Länder- als auch auf Bundesebene stattfindende Tarifrunde im öffentlichen Dienst erfüllt dieses Kriterium nicht. Die Tarifverhandlungen sind nicht auf die Beseitigung struktureller Lohndefizite, sondern im Wesentlichen auf die Teilhabe am konjunkturellen Aufschwung gerichtet. Außerdem würde eine Veränderung des Anteils an den Gemeinschaftssteuern das Ergebnis der Verhandlungsrunde gewissermaßen vorwegnehmen: Würden aufgrund der zu erwartenden Personalmehrausgaben Veränderungen im Verteilungsschlüssel beschlossen, so entstünde daraus der politische Druck, die „bereits finanzierten“ Forderungen der Gewerkschaft entsprechend zu erfüllen. Dies widerspräche aber sowohl der Unabhängigkeit der Tarifpartner in den Verhandlungen als auch der Finanzhoheit der Länder und ihrer föderalen Unabhängigkeit vom Bund. Den vorliegenden Antrag lehnen wir aus den genannten Gründen ab.

Michael Schlecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004144, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der zarte Aufschwung nach der schwersten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren kommt bei der Mehrheit der Menschen nicht an. Die Bevölkerungsmehrheit hat für die Krise gezahlt, aber die Beschäftigten haben nichts vom Aufschwung. Auch die Bundesregierung weiß, dass dies nicht lange gut gehen kann. Der Export wird die deutsche Wirtschaft nicht auf Dauer tragen, weil in ganz Europa Kürzungspakte gegen die Bevölkerungsmehrheit anstehen. Wenn unsere Handelspartner aber sparen, werden unsere Unternehmen nicht dauerhaft vom Auslandsgeschäft leben können. Selbst die Bundesregierung streitet dies nicht länger ab. Der Wirtschaftsminister hat daher für deutliche Lohnerhöhungen plädiert. Zugleich betonte er, Lohnerhöhungen lägen in der Verantwortung der Tarifpartner. Die Bundesregierung weiß natürlich, dass dies angesichts der Agenda 2010 und der Hartz-IVGesetzgebung ein schlechter Witz ist. Denn diese Gesetze wurden ja zu dem Zweck gemacht, die Löhne zu drücken. Denn wer Angst vor dem sozialen Abstieg hat, der streikt nicht. Aber nehmen wir den Wirtschaftsminister dennoch beim Wort: Wenn höhere Löhne in der Verantwortung der Tarifparteien liegen, dann ist bei der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst der Länder die Politik gefragt. Denn die Politik sitzt nun am Verhandlungstisch als Arbeitgeber. Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder sind ein wichtiges Signal für die Lohnforderungen der Beschäftigten in der privaten Wirtschaft. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert für die Tarifbeschäftigten der Länder 50 Euro Sockelbetrag plus 3 Prozent lineare Erhöhung. Die Laufzeit des neuen Tarifvertrages soll 14 Monate betragen, und das entspricht einer Anhebung der Bezüge um 5 Prozent. Dies entspricht laut Niedersachsens Finanzminister Hartmut Möllring, CDU, einem Mehrbedarf der Bundesländer von 4,5 Milliarden Euro jährlich. Die Bundesregierung ist daher gefordert, gesetzliche Vorschläge für die dauerhafte Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Länder vorzulegen, zum Beispiel durch Veränderung der Aufteilung der Gemeinschaftssteuern. Die Länder müssen so in die Lage versetzt werden, einen erfolgreichen Tarifabschluss für die Angestellten im öffentlichen Dienst der Länder zu gewährleisten. Das ist gerecht: Feuerwehrleute, Polizisten, Lehrer und Richter leisten unverzichtbare und harte Arbeit für unsere Gesellschaft. Sie arbeiten am Anschlag und pfeifen auf dem letzten Loch. Und es ist finanzierbar: Höhere Löhne sind machbar, wenn die Bundesregierung ihre unsinnige Steuerpolitik korrigiert. Durch die Änderungen der Steuergesetze seit 1998 sind für die Länder jährlich Steuereinnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe weggebrochen. Für das letzte Jahr beziffern Steuer- und Finanzexperten die so entstandenen Mindereinnahmen auf 25 Milliarden Euro. Durch die Auswirkungen des sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vom Dezember 2009 sind die Haushalte der Länder mit weiteren 2 Milliarden Euro belastet worden. Deutschland ist in Europa Schlusslicht beim Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Selbst in den USA liegt er höher. Nur im kleinen Luxemburg sind es noch weniger öffentliche Beschäftigte im Vergleich zu allen Beschäftigten. Aber: In Luxemburg ist die Entlohnung besser. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden, und hier liegt die Verantwortung der Bundesregierung. Wer den Aufschwung durch höhere Löhne sichern und gute öffentliche Dienste für die Bevölkerung will, muss die Lohnforderungen von Verdi unterstützen. Dazu müssen den Ländern die erforderlichen finanziellen Mittel bereitgestellt werden. Wer es ernst meint mit der Forderung von Herrn Brüderle nach höheren Löhnen, der sollte den Antrag meiner Fraktion unterstützen. Zu Protokoll gegebene Reden

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Heute morgen meldete das Statistische Bundesamt das staatliche Finanzierungsdefizit Deutschlands im Jahr 2010: 82 Milliarden Euro. Aufgeteilt auf die staatlichen Ebenen betrugen die Defizite des Bundes 57,9 Milliarden Euro, der Länder 17,2 Milliarden Euro und der Gemeinden 10 Milliarden Euro. Wenn man solche Zahlen betrachtet, dann ist es ausgesprochen unverständlich, wenn aus den Reihen der Koalition schon wieder Steuersenkungspläne für 2013 geäußert werden. Da wird so lange mit dem Feuer gespielt, bis unser Gemeinwesen vollständig abgebrannt ist. Schon jetzt beträgt die staatliche Verschuldung fast 2 Billionen Euro. Daher ist das Anliegen richtig, die finanzielle Ausstattung der Länder zu verbessern. Eine Veränderung der Aufteilung der Gemeinschaftsteuern halte ich aber nicht für den richtigen Weg. Wir haben für eine bessere finanzielle Ausstattung aller staatlichen Ebenen in unserem Haushaltskonzept einen Weg vorgelegt: Durch den Abbau von Subventionen und durch selektive Steuererhöhungen für diejenigen mit starken Schultern könnten wir auch Länder und Kommunen entscheidend entlasten. Mit dem im Vermittlungsausschuss zu den HartzReformen ausgehandelten Kompromiss zur Übernahme der Kosten für die Grundsicherung im Alter wird auf den ersten Blick zumindest die Finanzsituation der Kommunen verbessert. Ab 2015 sollen diese Kosten nach dem vorliegenden Vorschlag ausschließlich vom Bund getragen werden. Grundsätzlich ist es auch nicht verkehrt, wenn der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter von den Kommunen übernimmt. Aber der jetzt vereinbarte Kompromiss ist ein Geschäft zulasten Dritter, nämlich zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch zulasten der Unternehmen, die ja paritätische Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlen. Derzeit wenden die Kommunen für die Grundsicherung im Alter rund 3,5 Milliarden Euro auf - mit stark steigender Tendenz. Der Bund beziffert die Entlastung der Kommunen bis 2015 auf 12,24 Milliarden Euro netto. Dieser Nettoentlastung steht eine Belastung des BA-Haushalts in gleicher Höhe gegenüber. Damit wird die Handlungsfähigkeit dieser zentralen Sozialversicherung infrage gestellt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise haben wir auf dem Arbeitsmarkt so gut überstanden, weil die BA eine Rücklage in Höhe von deutlich über 10 Milliarden Euro hatte und so die Kurzarbeit erfolgreich finanziert werden konnte. Jetzt steckt in der BA schon ein Milliardendefizit, das sich durch diese Entscheidung im Vermittlungsausschuss heftig verschärft. Die BA selbst rechnet bis 2015 mit einem Defizit von knapp 10 Milliarden Euro - bei einem unterstellten, konstant guten Konjunkturverlauf. Wir müssen in der Haushalts- und Finanzpolitik dringend umsteuern. Dies muss sich konkret in der Ausgaben- und Einnahmenstruktur auf allen Ebenen widerspiegeln. Wichtige Zukunftsaufgaben müssen finanziert werden, gleichzeitig aber müssen die Gesamtausgaben maßvoll bleiben. Das ist der Anspruch, den die Bürgerinnen und Bürger zu Recht an die Politik stellen. Steuersenkungen sind darauf keine Antwort; sie würden die bereits dramatische Lage der Staatsfinanzen weiter verschärfen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4841. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt. ({0}) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Februar 2011, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.