Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, habe ich
einige Mitteilungen zu machen.
Der Kollege Ottmar Schreiner hat am vergangenen
Montag seinen 65. Geburtstag gefeiert und der Kollege
Dr. Karl Lamers einige Tage vorher seinen 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich auf
diesem Wege noch einmal ganz herzlich und wünsche
alles Gute.
({0})
Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der
Kollege Bernd Siebert dem Kollegen Holger Haibach
als stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates und in der Versammlung der Westeuropäischen Union nachfolgen soll.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann ist der Kollege Siebert hiermit gewählt.
Die Fraktion Die Linke schlägt den Kollegen Jörn
Wunderlich für eine weitere Amtszeit im Beirat bei
der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes vor. Findet auch dieser Vorschlag Ihre Zustimmung? - Ich bin beeindruckt: Auch
darüber gibt es keinen Streit. Dann ist der Kollege Wunderlich hiermit ebenfalls gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Die Stellungnahme des Bundesministers der
Verteidigung Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg und mögliche Textübernahmen
aus Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen
Dienstes des Deutschen Bundestages sowie angebliche Textübernahmefunde nach „GuttenPlag Wiki“ auf 270 Seiten der Dissertation des
Bundesministers der Verteidigung
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 33
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Renate Künast, Claudia Roth ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Berichte zur NS-Vergangenheit des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz veröffentlichen
- Drucksache 17/4696 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunternehmen neu ausrichten
- Drucksache 17/4698 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner
Simmling, Ernst Burgbacher, Sibylle Laurischk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn
- Drucksache 17/4861 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Kumpf, Christian Lange ({7}), Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Ausbau der Rheintalbahn als Modell für Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz
- Drucksache 17/4856 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen
schaffen
- Drucksache 17/4851 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierschutzgesetz ändern - Kennzeichnung von
Pferden tierschutzgerecht ausgestalten
- Drucksache 17/4850 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Reformprozesse in Nordafrika und Nahost
umfassend fördern
- Drucksache 17/4849 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
- Ratsdok. 17629/10 ({11}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Herstellung des Einvernehmens bezüglich der
Ergänzung von Art. 136 AEUV zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({12}) verantwortlich gestalten
- Drucksache 17/4881 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
- Ratsdok. 17629/10 ({14}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des
Grundgesetzes
- Drucksache 17/4882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard Schick,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herstellung des Einvernehmens zwischen
Bundestag und Bundesregierung zur Änderung des Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({16})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich fixieren
- Drucksache 17/4855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Eskalation der Gewalt in Libyen
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({18}) zu dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des
Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 17/3404, 17/3958, 17/3982,
17/4032, 17/4058, 17/4095, 17/4303, 4304,
17/4719, 17/4770, 17/4830 ZP 5 Vereinbarte Debatte
zur Lage von SGB-Leistungsempfängern und
ihrer Kinder
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried
Hermann, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konsequenzen aus dem Zugunglück von
Hordorf ziehen
- Drucksache 17/4854 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 28 - dabei handelt es sich
um das Schwarzgeldbekämpfungsgesetz - wird heute
abgesetzt.
({20})
- Schwarzgeldbekämpfungsgesetz, Herr Kollege Trittin.
({21})
Ich finde es beruhigend, dass sich offenkundig niemand
ernsthaft durch die Ankündigung einer solchen Gesetzgebungsabsicht irritiert fühlt.
({22})
Außerdem ist vorgesehen, den Jahresbericht des
Wehrbeauftragten - das ist der Tagesordnungspunkt 30 bereits heute nach dem Tagesordnungspunkt 9 zu beraten und den Tagesordnungspunkt 10 mit Vorlagen zum
Beschäftigtendatenschutz erst morgen im Anschluss an
die vereinbarte Debatte aufzurufen.
Schließlich mache ich auf einige nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der am 11. November 2010 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss ({23}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts
- Drucksache 17/3617 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({24})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der am 8. Juli 2010 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Innenausschuss ({25})
zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sonja
Steffen, Christine Lambrecht, Dr. Peter Danckert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Änderung des Vormundschaftsrechts und weitere familienrechtliche Maßnahmen
- Drucksache 17/2411 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({26})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Der am 10. Februar 2011 überwiesene nachfolgende
Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss
({27}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Tempel, Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu
der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat
Auf dem Weg zu einer verstärkten europäischen Katastrophenabwehr: die Rolle von Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe
({28})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 2 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4672 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({29})
Auswärtiger Ausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Der am 27. Januar 2011 überwiesene nachfolgende
Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({30}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Die Mitberatung des Ausschusses für Gesundheit
({31}) soll entfallen.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({32}), Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungsberichte nutzen - Bildungssystem gerechter und besser machen
- Drucksache 17/4436 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({33})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Darf ich auch zu diesen Veränderungen Einvernehmen feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011
({34})
- Drucksache 17/4821 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({35})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister der Verteidigung.
({36})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Gesetzentwurf über die Aussetzung der
Verpflichtung zum Grundwehrdienst steht nunmehr einer der Kernpunkte der Neuausrichtung der Bundeswehr
auf der Tagesordnung der heutigen Debatte.
Wir nehmen mit der Einführung eines Freiwilligenwehrdienstes Abschied von der Verpflichtung zum
Grundwehrdienst. Wir nutzen diese Gelegenheit auch,
um den vielen Grundwehrdienstleistenden der letzten
Jahrzehnte Dank zu sagen. Es waren Millionen, die in
diesem Sinne auch eine besondere Verpflichtung für unser Land zum Ausdruck gebracht haben.
({0})
Die allgemeine Wehrpflicht war in der über 50-jährigen Geschichte der Bundeswehr zu ihrer Zeit die richtige
Wehrform. Darauf darf man auch immer wieder hinweisen. Die Zusammensetzung unserer Streitkräfte aus Berufs- und Zeitsoldaten, Grundwehrdienstleistenden und
zusätzlich freiwillig Wehrdienstleistenden sowie Reservisten hat entscheidend zur erfolgreichen Erfüllung des
Auftrages der Bundeswehr und zu ihrem hohen Ansehen
beigetragen.
Ich persönlich bin immer ein grundsätzlicher Befürworter der allgemeinen Wehrpflicht gewesen. Das ist
bekannt. Die Änderung der Wehrform war für mich niemals Selbstzweck, und sie ist mir - wie vielen von uns in
diesem Hause - außerordentlich schwergefallen. Aber
die Untersuchungen des letzten Jahres, die Analysen, die
wir angestellt haben, der Bericht des Generalinspekteurs
und der Bericht der Strukturkommission unter Leitung
von Herrn Weise haben in Verbindung mit längeren, sehr
ernsthaften, intensiven Diskussionen und Debatten ein
eindeutiges Ergebnis gebracht: Die Verpflichtung zum
Grundwehrdienst ist heute sicherheitspolitisch nicht
mehr begründbar. Auch für mich hat das letztendlich ein
Umdenken bedeutet - aber ein Umdenken, aus dem auch
eine Perspektive erwachsen sollte.
Der letztlich entscheidende Maßstab für die Bundeswehr muss die Fähigkeit zum Einsatz im Rahmen des
gegebenen Auftragsspektrums sein. In diesem Gesamtkontext steht auch der heute vorliegende Gesetzentwurf.
Die Bundeswehr hat, wie wir wissen, mit den aktuellen
Einsatzverpflichtungen in vielen Bereichen bereits ihre
Leistungsgrenze erreicht. Darüber hinaus entsprechen
ihre Strukturen nicht mehr den Anforderungen, die an
den heutigen Einsatz und die künftigen Einsätze anzulegen sind.
Eine Neuausrichtung mit Blick auf eine stärkere Einsatzorientierung war und ist daher unabdingbar. Wir
brauchen deswegen heute keine unverhältnismäßig hohe
Zahl von Soldaten mehr, sondern hochprofessionelle
Streitkräfte, die über weite Distanzen für schwierige
Einsätze schnell verlegt und für Risikoszenarien nachhaltig eingesetzt werden können.
Die Bundeswehr ist heute eine Armee im Einsatz.
Erst vor wenigen Tagen haben wir einmal mehr auf erschütternde Weise feststellen müssen, was es bedeutet
oder bedeuten kann, Armee im Einsatz zu sein. Ich
glaube, unser aller Gedanken und auch Gebete sind
heute bei den gefallenen Soldaten von letzter Woche.
Wir denken an die zehn Verwundeten und hoffen auf ihre
baldige Genesung.
({1})
Sicher ist: Es wird niemals risikofreie Einsätze geben
und geben können. Aber es bleibt unsere dauerhafte Verpflichtung, alles, wirklich alles zu tun, um die Gefahren
und Risiken für unsere Soldatinnen und Soldaten auf ein
Mindestmaß zurückzuführen, und alles zu tun, um bei
Ausbildung, Ausrüstung und Schutzmaßnahmen, die zu
ergreifen sind, unserer Verantwortung gerecht zu werden: Wir müssen unsere Soldaten bestens gesichert und
für ihre Aufgaben auch ausgebildet in den Einsatz schicken. Die Bedingungen, die wir gerade für das Letztgenannte zu schaffen haben, müssen wir noch intensiver
betrachten. Dazu gehören Laufbahn- und Personalstrukturen sowie bestmögliche soziale, aber eben auch materielle Bedingungen. Gerade Letztere haben eine bedeutende Auswirkung auf die Sicherstellung der Motivation
unserer Soldatinnen und Soldaten - und damit indirekt
auch auf die Fähigkeit, im Einsatz bestehen zu können.
Unter den gegebenen finanziellen Bedingungen liegt
hierin eine erhebliche Herausforderung. Auch wir müssen sparen und einen Beitrag zum Sparen erbringen; wir
müssen unsere Bundeswehr gleichzeitig aber auch zukunftsfest aufstellen, damit sie eine Perspektive entwickeln kann. Wir müssen hier noch weiter freundschaftlich und intensiv auch innerhalb der Bundesregierung
verhandeln, damit wir die Bundeswehr entsprechend
aufstellen können.
Bei einem geringeren Gesamtumfang der Streitkräfte
würde die Ausbildung und Betreuung von Grundwehrdienstleistenden zu viele Berufs- und Zeitsoldaten binden. Das war einer der Gründe, weshalb wir gesagt haben: Wir können künftig den Grundwehrdienst nicht
mehr so wie ursprünglich aufrechthalten. Die weiteren
Gründe haben wir ausgiebig und intensiv diskutiert. Es
würde heute zu weit führen, darauf noch einmal hinzuweisen.
Es war nach alledem folgerichtig, dass die Bundesregierung zeitgleich mit ihrem Eckpunktebeschluss zur
Neuausrichtung der Bundeswehr am 15. Dezember des
vergangenen Jahres die Gesetzesnovelle zum Wehrpflichtgesetz auf den Weg gebracht hat. Die Pflicht zum
Grundwehrdienst soll zum 1. Juli 2011 ausgesetzt werden; das ist der derzeitige Plan. Die letzten verpflichtend
grundwehrdienstleistenden Soldaten wurden am 3. Januar dieses Jahres eingezogen.
An die Stelle des Grundwehrdienstes tritt ein neuer,
ein freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten für
junge Frauen und Männer. Weder die verfassungsrechtliche noch die einfachgesetzliche Grundlage der Wehrpflicht wird aber gänzlich abgeschafft. Ich halte es
weiterhin für geboten und richtig, dass wir die verfassungsrechtliche Grundlage der Wehrpflicht erhalten haben und weiter erhalten; das ist mit Blick auf Szenarien,
die wir heute sicher noch nicht ganz absehen können,
eine richtige und kluge Entscheidung.
({2})
Wir wollen Bewährtes erhalten, auch als Rückversicherung. Im Kern wird also lediglich die Verpflichtung zum
Grundwehrdienst ausgesetzt.
Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass die Gewinnung von Freiwilligen angesichts der Konkurrenz mit
anderen Arbeitgebern um qualifiziertes Personal wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft darstellt. Gerade bei den Laufbahnen der Mannschaften muss hier ein Schwerpunkt
liegen; hierauf hat der Inspekteur des Heeres zu Recht
hingewiesen. Wir nehmen diese Herausforderung mit aller Kraft an.
Es geht jetzt darum, auch mit diesem Gesetz die geeigneten Instrumente zu schaffen und sich darüber hinaus mit viel Kreativität dem Wettbewerb zu stellen.
Bereits mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz ist vorgesehen, dass junge Menschen mit Informationsmaterial über
einen Freiwilligendienst in der Bundeswehr versorgt
werden und eine ausführliche Beratung über Dienstmöglichkeiten in der Bundeswehr erhalten können. Wir müssen uns auch hier öffnen, neue Wege beschreiten und
insbesondere die neuen Medien im Blick haben, also die
heutigen Formen, junge Menschen anzusprechen, tatsächlich nutzen.
Der deutlich verbesserte Wehrsold für diejenigen, die
den freiwilligen Wehrdienst leisten, sowie die Verpflichtungsprämien sind zusätzliche starke Signale an potenzielle Interessenten. Hinzu kommen bessere Unterbringungsstandards für Mannschaften, eine nach Möglichkeit
heimatnahe Verwendung, die Fortgeltung der Steuerfreiheit
der Geld- und Sachbezüge, der kostenlosen Familienheimfahrten sowie der Regelungen des Arbeitsplatzschutzgesetzes. Aus dem Parlament, vom BundeswehrVerband und
vom Wehrbeauftragten kamen viele Hinweise. Das sind
Punkte, auf die wir viel Wert legen und die die künftige
Gestaltung der Bundeswehr bestimmen müssen. Sie bilden natürlich auch den Rahmen dafür, wie wir uns künftig finanziell aufstellen können.
Darüber hinaus sind Attraktivitätsmaßnahmen geplant, insbesondere die Erweiterung der Möglichkeit, im
Rahmen der Berufsförderung an Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Die Attraktivität ist
- über die Sicherung des Nachwuchses bei den Mannschaftsdienstgraden hinaus - insgesamt der Schlüssel
zur künftigen personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Zu Beginn dieses Jahres wurde deshalb ein
Maßnahmenpaket zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr erlassen, das alle Soldatinnen und Soldaten - ich betone: alle - betrifft. Hierüber
wurde der Verteidigungsausschuss informiert. Dieses
Maßnahmenpaket enthält über 80 grundsätzlich mögliche Maßnahmen, die jetzt alle auf ihre Realisierbarkeit
hin geprüft werden. Nicht alles wird und soll kommen;
das darf ich an dieser Stelle sagen. Entscheidend sind im
Einzelfall kurzfristig greifende Maßnahmen, um den
Dienst in der Bundeswehr attraktiver zu machen. Die
eine oder andere Idee ist nach einer Überprüfung bereits
verworfen worden, aber es bleiben viele, die wir umzusetzen haben.
Neben der Einrichtung von Eltern-Kind-Arbeitszimmern an 200 Standorten planen wir die Flexibilisierung
und Verlängerung von Regelverpflichtungszeiten, die
verstärkte Besetzung ziviler Dienstposten mit ausscheidenden Soldaten auf Zeit, mehr Möglichkeiten des Wohnens in Gemeinschaftsunterkünften, die Erhöhung von
Zulagen und Ausgleichssätzen für mehrgeleisteten
Dienst und eine angemessenere Ausgestaltung der Rah10426
menbedingungen für dienstlich veranlasste Umzüge. Für
einige dieser Maßnahmen brauchen wir gesetzliche Regelungen, um deren Unterstützung ich gerne bitten und
werben will.
Heute bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorliegenden Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes. Je schneller wir in der Lage sind, die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen umzusetzen, umso schneller können wir dringend
benötigte Freiwillige in die Streitkräfte einstellen und die
im Entwurf enthaltenen Attraktivitätsmaßnahmen wie den
erhöhten Wehrsold und die Verpflichtungsprämien endgültig umsetzen. Mit Ihrer Zustimmung leisten Sie alle
einen entscheidenden Beitrag zur erfolgreichen Neuausrichtung unserer Bundeswehr, zur Gewährleistung ihrer
Einsatzfähigkeit und damit zu unserer Sicherheit. Wir
können bei der Neuausrichtung der Bundeswehr einen
wichtigen, großen Schritt vorangehen, gerade mit Blick
auf die Attraktivität des Dienstes, die unsere Soldaten
mehr als verdient haben.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unzweifelhaft: Die Bundeswehr gehört zu den großen Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik. Es ist eine demokratische Erfolgsgeschichte, weil die Bundeswehr nie Staat
im Staate war, sondern immer in der Mitte der Gesellschaft und fest verankert war in der Demokratie. Sie ist
eine europäische Erfolgsgeschichte, weil keiner unserer
Nachbarn jemals vor Aggressionen Angst haben musste
und davor, dass die Bundeswehr eine Gefahr für sie darstellen würde. Ganz im Gegenteil: Die Bundeswehr ist
immer eine Armee gewesen, die sich sehr dem Frieden,
der Völkerverständigung und auch dem Völkerrecht verbunden gefühlt hat. Nie zuvor gab es eine deutsche Armee, die das von sich sagen konnte.
Die große und wirklich bedeutende Geschichte der
Bundeswehr ist eine der großen Erfolgsgeschichten der
Bundesrepublik Deutschland, und sie ist untrennbar mit
der Wehrpflicht verbunden gewesen. Die Wehrpflicht sicherte, dass die Bundeswehr den Querschnitt der Bevölkerung repräsentierte, dass der Nachwuchs aus allen Bevölkerungsschichten gewonnen wurde, und vor allen
Dingen sorgte sie dafür, dass wir alle uns mit der Bundeswehr beschäftigt haben, weil es immer unsere eigenen Söhne und Töchter sein konnten, die dort ihren
Dienst taten.
Wir alle wissen: Die Beendigung der Wehrpflicht, wie
sie heute vorgeschlagen wird - ob von Dauer oder auf
Zeit, wird sich erst noch herausstellen -, ist deshalb von
großer und weitreichender Bedeutung. Die SPD hat wegen der Schwierigkeiten der Wehrgerechtigkeit diesen
Weg bereits 2007 vorgeschlagen. Unsere früheren Koalitionspartner CDU und CSU wollten ihn damals nicht gehen. Jetzt wollen sie ihn gehen. Wir begrüßen das.
({0})
Aber wir wissen auch: Die Beendigung der Wehrpflicht, ob auf Dauer oder zeitweilig, wird die Rahmenbedingungen für die Bundeswehr, auf die sie sich fünf
Jahrzehnte verlassen konnte, völlig verändern. Es
kommt deshalb darauf an, dass wir mit der Änderung
dieser zentralen Rahmenbedingungen nicht auch die Erfolgsgeschichte der Bundeswehr in der deutschen Geschichte beenden. Auch ohne Wehrpflicht muss es uns
gelingen, den Nachwuchs der Bundeswehr aus allen
Schichten der Bevölkerung zu gewinnen und den Dienst
so attraktiv zu machen, dass die Bundeswehr nicht in
Gefahr gerät, nur noch Negativauslese derjenigen zu
werden, die es woanders nicht geschafft haben. Die Bundeswehr muss deshalb auch eine Qualifizierungsarmee
werden. Vor allem darf die Abschaffung der Wehrpflicht
nicht dazu führen, dass wir uns weniger für die Soldatinnen und Soldaten interessieren, sie schlechter ausstatten
oder ausbilden oder sie gar leichtfertiger in gefährliche
Auslandseinsätze schicken.
Wenn ich mir allerdings ansehe, wie diese Bundeswehrreform beginnt, dann stelle ich fest, dass sich die
Bundesregierung und der Bundesverteidigungsminister
schon in den ersten Schritten von der Bundeswehr abwenden. Die ganze Reform beginnt als Sparaktion. Mehr
als 8 Milliarden Euro sollen durch diese Bundeswehrreform eingespart werden. Der Verteidigungsminister ist
vollmundig mit einer gigantischen Sparbüchse auf die
Bundeswehr losgegangen. Inzwischen muss er kleinlaut
zugeben, dass er nicht etwa einsparen, sondern möglicherweise sogar mehr Geld ausgeben muss. Statt die
Aufgaben der Bundeswehr zur zentralen Messlatte für
die Reform, die Organisation, die Ausstattung und die
Bezahlung der Bundeswehr zu machen, erklärt der Bundesverteidigungsminister am 25. Oktober des letzten
Jahres bei der Vorstellung seiner Reform bei der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg - ich zitiere -,
der höchste - ich betone - der „höchste strategische Parameter“ der Bundeswehrreform sei die Haushaltskonsolidierung. Die Bundeskanzlerin attestiert ihm am Anfang
des Jahres, der Sparbeitrag - Frau Kanzlerin, so haben
Sie gesagt - des Verteidigungsministers sei das Wichtigste. Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen, was unser
höchster strategischer Parameter ist und was für uns das
Wichtigste ist: die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten. Das ist der wichtigste strategische Parameter.
({1})
Sie machen die Bundeswehr zum Sparschwein Ihrer
Haushaltspolitik. Das ist nicht nur ein politischer Fehler;
im Zweifel ist das für die Soldatinnen und Soldaten
ziemlich gefährlich. Die Bundesregierung und vorneweg
der Verteidigungsminister verwechseln die Reihenfolge:
Sie entscheiden zuerst über drastische Einsparungen und
wundern sich dann, dass die Bundeswehr ihre Aufgaben
nicht erledigen kann. Sie müssen diese Reform vom
Kopf auf die Füße stellen: Zuerst müssen Sie die AufgaSigmar Gabriel
ben festlegen, die die Bundeswehr erfüllen soll. Danach
müssen Sie sagen, welche Ausbildung und Ausstattung
die Soldaten dafür brauchen. Danach müssen Sie sagen,
wie Sie ohne die Wehrpflicht das Personal für diese Aufgaben bekommen. Und dann müssen Sie den Finanzbedarf für diese Aufgaben und für diese Nachwuchsgewinnung festlegen. Das ist die richtige Reihenfolge der
Bundeswehrreform.
({2})
Sie versuchen es genau umgekehrt, und deswegen
geht das schief; denn ohne deutlich bessere Bezahlung,
ohne Angebote für Ausbildung, Studium und Weiterverwendung nach der Bundeswehr werden Sie den benötigten Nachwuchs nicht gewinnen können. Sie haben kein
Konzept dafür, wie wir die Freiwilligendienste ausbauen
können.
Übrigens werden wir natürlich Standorte schließen
müssen. Wir können die Standortdebatte auch nicht zum
Maßstab der Ausrichtung der Bundeswehr machen. Aber
dann müssen Sie doch ein Konversionsprogramm auflegen, mit dem die Bürgermeister und Landräte leben können. Auch das kostet Geld. Aber nichts davon findet sich
in Ihrem Konzept wieder.
({3})
Gerade haben Sie selbst, Herr Verteidigungsminister,
Ihr Maßnahmenpaket zitiert. Ich lese einmal ein bisschen daraus vor, weil das deutlich macht, dass das alles
Floskeln sind. Ich zitiere eine schöne Formulierung zu
einem Punkt, den Sie selber gerade angesprochen haben:
„Die bisherigen Mannschaftslaufbahnen sind mit dem
Ziel der Erhöhung der Attraktivität neu zu gestalten.“ Aber dann ist Schluss. Dazu, wie das geschehen soll,
steht nichts in Ihrem Maßnahmenpaket. Es finden sich
nur wolkige Formulierungen, aber nichts Konkretes. Im
Hinblick auf tatsächlich vorhandene gute Vorschläge wie
die von Ihnen eben angesprochene Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss Ihr Staatssekretär sofort zugeben,
dass dies alles unter dem Finanzierungsvorbehalt des Finanzministers steht. Das ist Camouflage. Sie haben Ihren
Job nicht gemacht. Sie haben nicht gesagt, was man
schaffen muss, wenn man die Bundeswehrreform zu einem Erfolg machen will. Das ist unser Vorwurf.
({4})
Wir bekommen ein hohles Gesetz ohne jeden Realitätsbezug. Der Verteidigungsminister kann keine Antwort auf die Frage nach der künftigen Struktur der Bundeswehr oder nach den Standorten geben. Er kann keine
Antwort auf die Fragen zur Nachwuchsgewinnung der
Armee und schon gar keine zum Finanzierungskonzept
geben. Auf jede Frage bleibt der Verteidigungsminister
die Antwort schuldig - und das, obwohl die Reform am
1. April 2011 starten soll.
Im Weise-Bericht heißt es: „Gefordert sind schnelle
Entscheidungen …“ Wir fragen uns, Herr Minister, was
Sie in den letzten knapp fünf Monaten seit Vorlage des
Gutachtens eigentlich getan haben. Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, dann am 22. November 2010 als Regierungschefin nach Dresden zur Kommandeurstagung
fahren und den Kommandeuren zum Thema der Bundeswehrreform den Spruch „no risk, no fun“ entgegenhalten, dann frage ich mich, auf welcher geistigen Höhe in
Deutschland inzwischen Sicherheitspolitik gemacht
wird.
({5})
Frau Kanzlerin, für uns hört der Spaß an dieser Stelle
auf. Bei der Bundeswehr geht es nicht um „fun“, wie Sie
offenbar meinen, sondern um die Sicherheit unseres
Landes, um die Sicherheit der Einsätze sowie um Leib
und Leben der Soldatinnen und Soldaten.
Inzwischen wissen wir, dass der Heeresinspekteur
alarmiert ist, weil ihm zum 1. April 2011 nur ein Fünftel
der benötigten Rekrutinnen und Rekruten zur Verfügung
steht. Der Generalinspekteur räumt ein, dass die Bundeswehr Gefahr läuft, 2012 nicht mehr genügend Soldatinnen und Soldaten für den Auslandseinsatz zu haben. Die
Bundeswehr ist - wir kennen den Begriff - bedingt abwehrbereit und bedingt einsatzbereit. Das, Herr Verteidigungsminister, sind die tatsächlichen Resultate Ihrer
fachlich angeblich so guten Arbeit. Das ist das Produkt
Ihrer Amtszeit.
({6})
Ihre sogenannte Bundeswehrreform entfaltet bei den
jungen Männern und Frauen in Deutschland gerade eine
enorme Signalwirkung. Das kann man wohl sagen. Wir
lesen, dass von 166 000 Briefen der Kreiswehrersatzämter an junge Frauen und Männer nur ganze 7 000 mit Interessenbekundungen zurückkamen, also nur knapp
4 Prozent. Das ist die Signalwirkung, die von Ihnen ausgeht, und zwar nicht deshalb, weil die Bundeswehr ein
schlechter Arbeitgeber wäre, sondern weil die jungen
Männer und Frauen auf jede konkrete Frage, wie ihr freiwilliger Dienst in der Bundeswehr denn aussehen soll,
keine konkrete Antwort bekommen. Sie haben ein Chaos
organisiert, wenn Sie so weitermachen.
({7})
Noch einmal: In fünf Wochen soll der Nachwuchs der
Bundeswehr allein aus Freiwilligen gewonnen werden.
Diese Eile haben Sie sich übrigens selbst auferlegt. Das
Kabinett hat beschlossen, dass erst zum 1. Juli 2011 umgestellt werden soll. Sie aber sagen: Nein, es muss schon
zum 1. April 2011 geschehen.
({8})
Es geht immer nach dem alten Motto: Schnell, schneidig, schick!
({9})
Aber es geht nicht um ein Wettrennen, Herr Verteidigungsminister. Es geht um unsere Soldatinnen und Soldaten und um die Leistungsstärke und Funktionsfähigkeit der Armee. Wir können Sie nur auffordern:
Verschieben Sie die Reform so lange, bis Sie wirklich
wissen, wohin Sie wollen und wie Sie das machen wollen.
({10})
Sie müssen erst die Voraussetzungen für die Reform
schaffen und dann handeln und nicht umgekehrt. Wenn
Sie weiter im Blindflug unterwegs sind, ist die Reform
schon gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat.
Das größte Kapital bei dieser wirklich großen Reform
ist doch das Vertrauen der Menschen, auch der Soldatinnen und Soldaten, in die politische Führung. Genau dieses für die Reform wichtige Vertrauen verspielen Sie gerade. Hinter der glitzernden Fassade aus großen Worten
und schillernden Begriffen von der größten Reform aller
Zeiten befindet sich bei Ihnen nur der unbedingte Wille
zur Ankündigung, Herr Minister, mehr nicht. Es ist nicht
das erste Mal, dass wir merken, dass Schein und Sein bei
Ihnen ziemlich unterschiedlich sind.
Weil es um das Vertrauen geht, Frau Bundeskanzlerin,
möchte ich Sie ganz persönlich ansprechen. Ich achte
Sie nicht nur wegen Ihres Amtes, Frau Kanzlerin. Ich
achte Sie auch, weil wir uns in der Großen Koalition
kennengelernt haben.
({11})
- Sie müssen nicht lachen. Ich meine das ganz ernsthaft.
({12})
- Wenn Sie lächeln, wenn ich Sie lobe, verzeihe ich Ihnen das. Ich habe die Absicht, das zu tun.
({13})
Ich habe Sie als jemanden kennengelernt, der, na klar,
machtbewusst ist. Das ist keine Frage. Aber ich habe Sie
nie als machtvergessen und auch nie als machtversessen
erlebt. Ich habe mir das immer damit erklärt, dass Ihre
Biografie Sie für demokratische Herausforderungen sensibel gemacht hat. Gerade weil ich Sie so kennengelernt
habe, bitte ich Sie um eines: Muten Sie uns und der Bundeswehr, sich und unserem Land dieses unwürdige
Schauspiel, das wir seit Wochen mit Ihrem Verteidigungsminister erleben, nicht länger zu.
Ich weiß nicht, ob Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Debatte im Bundestag gestern verfolgt haben. Wenn Sie das
gemacht haben, dann ist Ihnen vielleicht eines aufgefallen.
({14})
- Ich habe sie mir angeschaut und war erstaunt über das,
was hier passiert ist. - Es gab keinen Ordnungsruf des
Präsidenten, nicht einmal Tumulte oder allzu laute Proteste auf Ihrer Seite, als hier zum ersten Mal in der Geschichte des Parlaments ein amtierender Minister mehrfach von Abgeordneten Lügner, Hochstapler und
Betrüger genannt wurde.
({15})
- Nein, Frau Göring-Eckardt war gestern die Präsidentin.
({16})
Es gab keine große Aufregung bei Ihnen und keinen
Ordnungsruf. Frau Bundeskanzlerin, was glauben Sie
wohl, warum das so war? Weil jeder hier im Haus
wusste, dass das Tatsachenbehauptungen sind.
({17})
Das ist doch das Problem. Jeder weiß, dass wir es mit einem politischen Hochstapler zu tun haben.
({18})
- Ich habe kein Problem damit, wenn wir das einmal
problematisieren würden. Vielleicht stellt auch jemand
Strafantrag. Das wäre interessant.
Frau Bundeskanzlerin, stellen Sie sich doch nur für
eine Sekunde vor, die Zeitungsberichte über das Verhalten des Verteidigungsministers, die Sie gelesen haben,
enthielten nicht den Namen zu Guttenberg, sondern die
Namen Trittin, Lafontaine oder Gabriel. Stellen Sie sich
doch nur einmal vor, was Sie gesagt und gedacht hätten,
wenn das nicht Herr zu Guttenberg gewesen wäre. Dann
wissen Sie, wie weit wir hier inzwischen weg sind von
Recht und Gesetz, was für alle gelten soll. Dann wissen
Sie das.
({19})
Ehre, Pflichtgefühl, Recht und Anstand, das sind Begriffe, die gerade für den Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr von großer Bedeutung sein müssen. Nichts davon findet sich im Handeln
Ihres Ministers. Frau Bundeskanzlerin, was soll Ihre
seltsame Bemerkung, Sie hätten einen Minister und keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter berufen? Spielt eigentlich - das frage ich Sie - der Charakter eines Menschen bei der Berufung in Ihr Kabinett für Sie keine
Rolle mehr?
({20})
Ich sage Ihnen: Es ist eine Zumutung für jeden Abgeordneten im Saal, dass wir hier von einem Regierungsmitglied für dumm verkauft werden sollen.
({21})
- Für dumm verkauft? Sagen Sie einmal: Glauben Sie
wirklich daran, dass jemand aus Versehen 270 von
400 Seiten abschreiben kann? Was ist das denn für eine
seltsame Ausrede? So etwas habe ich überhaupt noch
nicht gehört. Aus Versehen?
({22})
Ich sage Ihnen: Für jeden von uns, der fair arbeitet,
der etwas von Leistung, von Anstand hält, für jeden Abgeordneten ist es eine Zumutung, dass wir uns auf dieses
intellektuelle und moralische Niveau herabbegeben müssen. Das ist die Zumutung, die hier im Parlament gerade
stattfindet.
({23})
Frau Bundeskanzlerin, es geht nicht mehr um Herrn
zu Guttenberg, es geht inzwischen um ganz prinzipielle
Fragen von Rechtsstaat und Demokratie. Rücktritte in
unserer parlamentarischen Demokratie waren ein Zeichen der Stärke. Sie haben gezeigt, dass das Parlament
und die demokratischen Institutionen zur Korrektur fähig sind, dass sie Fehlverhalten am Ende nicht durchgehen lassen und ohne Ansehen der Person und des Amtes
handeln. Das hat die Demokratie gestärkt.
Sie machen das Gegenteil. Sie und Ihr Minister sind
in der letzten Woche eine politische Schicksalsgemeinschaft eingegangen. Sie haben die demokratische Achse
unserer parlamentarischen Demokratie verschoben, und
Sie haben einen Berufungsfall für künftige Parlamente
und Regierungen geschaffen. Denn eines ist klar: Ein
Verteidigungsminister, der eigene Regeln für sich beansprucht, die sich außerhalb des Werte- und Rechtssystems der Bundesrepublik Deutschland bewegen, der
höhlt dieses Rechts- und Wertesystem scheibchenweise
aus, weil er sich über Recht, Gesetz und Regeln setzt. Er
offenbart eine Haltung, die ihre Wurzeln in der Ständegesellschaft, aber keinen Platz in einem demokratischen
Land hat.
({24})
Frau Kanzlerin, es geht nicht mehr darum, ob Ihr Verteidigungsminister die Kraft und das Format hat, Konsequenzen zu ziehen, sondern es geht darum, ob Sie als
Regierungschefin noch bereit sind, Schaden von unserem Land und seinen Institutionen abzuwenden.
({25})
Ich bedaure es, aber ich bin mir sicher, dass Sie sich selber in Zukunft hier im Deutschen Bundestag noch an
diese Tat erinnern werden. Ich bedaure, dass Sie - genauso wie wir - noch erleben werden, welche Konsequenzen das hat.
Ich lese Ihnen zum Schluss vor, was jemand geschrieben hat, der mit Sicherheit zu Ihrer Wählerschaft gehört
und nicht zu der der Sozialdemokraten. Dr. Christoph
Berglar hat an Sie geschrieben:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
meine Frau und ich haben sechs Kinder im Alter
zwischen 14 und 29 Jahren. Wir haben als Eltern
versucht, unseren Kindern sog. christliche Werte
und solche der bürgerlichen Aufklärung zu vermitteln. Hierzu gehören u. a. das Bemühen um Wahrhaftigkeit und der Respekt vor dem Eigentum anderer - ohne Ansehung der Person!
Er schreibt weiter:
Einer Ihrer Minister hat nachweislich in höchst gravierendem Umfang gelogen, betrogen und gestohlen. Sie wissen das. Alle wissen das.
Trotzdem ziehen Sie aus machttaktischen Erwägungen nicht die einzig zulässige Schlussfolgerung: die
Entlassung dieses Herrn aus Ihrem Kabinett.
Die weltweite Finanzkrise, deren Folgen allseits zu
besichtigen sind, wurde von Schrott-Immobilien
und einem Übermaß an Gier nach Geld ausgelöst.
Die Legitimationskrise des bürgerlichen Lagers
schwelt schon lange und wurde jetzt in dem von Ihnen regierten Land durch eine Schrott-Dissertation
und ein Übermaß an Macht- und Geltungsgier akut.
Bitte verraten Sie mir und meiner Frau, wie wir bei
einer solchen Sachlage unseren Kindern noch Vertrauen in die Verfassungswirklichkeit des von Ihnen
regierten Landes vermitteln sollen. Bitte verraten
Sie uns, wie wir unsere Kinder dazu motivieren sollen, auf ehrliche Weise einen Beruf zu erlernen und
auszuüben.
Bitte überdenken Sie noch einmal Ihre Entscheidung. Es kann, es darf nicht das letzte Wort in dieser Sache gesprochen sein!
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({26})
Elke Hoff ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gabriel, Sie haben eben dem Bundesminister der Verteidigung bzw. der Bundesregierung
vorgeworfen, sie verspiele das Vertrauen der Soldaten.
({0})
Glauben Sie wirklich, dass Sie mit dem Beitrag, den Sie
hier gerade geleistet haben, Wesentliches dazu beigesteuert haben, dass unsere Bürgerinnen und Bürger das
Vertrauen zurückgewinnen? Ich glaube, nicht.
({1})
Ich möchte mich an dieser Stelle, auch im Namen
meiner Fraktion, von den Beschuldigungen, die gestern
in diesem Hause erhoben und von der Bundestagsvizepräsidentin nicht gerügt wurden - es hieß, der Bundesminister der Verteidigung sei ein Hochstapler -, ausdrücklich distanzieren. Das ist nicht der Stil der
Auseinandersetzung, der in diesem Hause gepflegt werden sollte.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir beraten
heute in erster Lesung das Wehrrechtsänderungsgesetz.
Ich bedaure sehr, dass dieses wichtige Thema, eine historische Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr, heute
wieder benutzt wird, um zu versuchen, Menschen, die
sich gestern auch hier im Parlament sehr klar und deutlich zu ihren Fehlern bekannt haben, zu diskreditieren.
({3})
- Wissen Sie: Lautstärke alleine ersetzt die Argumente
nicht.
({4})
Ich darf darauf zurückkommen: Wir reden heute über
das Wehrrechtsänderungsgesetz. Wir müssen für die Zukunft der Bundeswehr junge Männer und Frauen davon
überzeugen, dass der Bundestag hinter ihnen steht, dass
wir im Hinblick auf die Streitkräfte eine Freiwilligenkultur befürworten.
({5})
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas Positives sagen. Der Kollege Dr. Bartels hat gestern im Verteidigungsausschuss einen sehr bedenkenswerten und diskussionswürdigen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt: Wir als
Parlament sollten uns über die Parteigrenzen hinweg zur
Freiwilligenkultur in diesem Lande bekennen.
({6})
Wir sollten eine Debatte darüber führen, wie wir die
Freiwilligenkultur stärken können. Da die SPD-Fraktion
immer Befürworter einer Aussetzung der Wehrpflicht
gewesen ist,
({7})
sage ich Ihnen: Das tun wir heute. Wir schaffen heute die
Voraussetzungen dafür, dass die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen in der Welt bewältigt werden
können.
({8})
- Hören Sie doch einfach einmal zu!
Ich bin ganz bei der Bundeskanzlerin, wenn sie sagt,
dass solide Haushalte eine wesentliche Grundlage für die
Sicherheit von Staaten sind.
({9})
Das kann man auch in anderen Staaten feststellen. Nicht
umsonst haben unsere amerikanischen Verbündeten in
ihrer nationalen Sicherheitsstrategie festgestellt, dass die
Solidität von Haushalten ein entscheidender Parameter
für die Sicherheit ist.
({10})
Wir müssen jetzt gemeinsam versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Es ist kein Fehler, wenn wir auch vom Bundesminister der Verteidigung Einsparungen verlangen.
({11})
Die Fragen lauten: Auf welchem Wege und auf welcher
Zeitachse? Wir als FDP-Fraktion haben uns immer sehr
deutlich dazu positioniert und gesagt: Ja, wir möchten
die Einsparungsziele erreichen, aber in einem anderen
Zeitrahmen als dem, den sich Teile der Bundesregierung
vorstellen. Das ist legitim, darüber müssen wir diskutieren, und wir werden auch zu einem Ergebnis kommen.
Meine Damen und Herren, es ist eben sehr deutlich
dargestellt worden, dass uns letztendlich bestimmte äußere Rahmenbedingungen zu der Entscheidung, die wir
heute im Plenum treffen, geführt haben. Die demografische Entwicklung macht es schwerer, die Wehrpflicht so
zu organisieren, wie es sich der Verfassungsgeber damals vorgestellt hat. Wir haben eine neue sicherheitspolitische Lage, die Streitkräfte erfordert, die kleiner sind,
die schmaler sind, die flexibler sind.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen: Das ist
keine Herausforderung, der sich die Bundesrepublik alleine stellen muss. Das ist eine Herausforderung, die alle
Staaten betrifft. Wenn Sie sich die Situation in Deutschlands Nachbarstaaten und jenseits des Atlantiks anschauen, stellen Sie fest: Die Streitkräfte unterliegen
zurzeit überall einer Neubewertung, einer Neubeurteilung. Wir müssen einen Spagat schaffen: zwischen einer
finanziellen Konsolidierung und einer vernünftigen und
auch belastbaren Sicherheitspolitik und Landesverteidigung. Dem versuchen wir Rechnung zu tragen.
Ich denke, es ist hier im Hause auch Konsens, dass
wir junge Männer und Frauen zukünftig nur dann für den
Dienst in den Streitkräften gewinnen können, wenn er
attraktiv ist. Meines Erachtens kommen zu den Punkten,
die der Minister eben sehr richtig dargestellt hat, weitere
Aspekte hinzu. Die freie Wirtschaft und die Bundeswehr
dürfen auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft nicht in Form
eines Gegeneinanders um junge Männer und Frauen
konkurrieren, sondern man sollte versuchen - ich darf es
einmal so sagen -, Arbeitsbiografien aufzubauen. Die
Bundeswehr sollte einen Teil der Ausbildung junger
Männer und Frauen übernehmen, sodass sie später die
Möglichkeit haben, auch in der Wirtschaft ein Auskommen zu finden. Dafür tragen wir auch Verantwortung.
Ich glaube, Herr Minister, dass Sie in diese Richtung
recht bald Initiativen ergreifen werden.
Meine Damen und Herren, wir dürfen mit Blick auf
die Attraktivität unserer Streitkräfte auch folgende Fragen nicht außer Acht lassen: Was passiert mit den Soldatinnen und Soldaten, wenn sie aus einem Einsatz zurückkommen, wenn sie verwundet oder traumatisiert sind?
Was passiert mit den Hinterbliebenen, wenn gefallene
Soldaten zu beklagen sind? Auch hier müssen wir als
Gesellschaft und als Deutscher Bundestag die richtigen
Eckpunkte und Rahmenbedingungen setzen, damit Eltern und Familien die Bundeswehr als attraktiven Arbeitgeber ansehen und ihre Kinder ermuntern, den Dienst an
der Waffe für das Vaterland aufzunehmen.
Die Diskussionen, die wir in den letzten Wochen führen, führen bestimmt nicht dazu, dass die Streitkräfte attraktiver werden. Diese Diskussionen führen bestimmt
nicht dazu, dass junge Männer und Frauen sich aufgerufen fühlen, diesem Land zu dienen. Ich persönlich - und
ich denke, ich spreche auch im Namen meiner Fraktion
und unseres Koalitionspartners - bin stolz auf unsere
Streitkräfte, auf das, was sie jeden Tag dort, wo wir sie
hinschicken, leisten. Deshalb ist es notwendig, dass wir
die Tür öffnen und entsprechende Möglichkeiten schaffen, damit die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber
wird. Auch wir als Parlament müssen unseren Beitrag
dazu leisten. Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung und nicht alleine die Herausforderung an einen Minister. Du lieber Gott! Wer als einzelne Person kann eine
solche Reform stemmen?
({12})
Das ist unser aller Aufgabe. Es ist eine gesellschaftliche
Aufgabe.
({13})
Wenn wir wollen, dass die Bundeswehr zur Freiwilligenarmee wird, dann müssen wir alle auch dazu beitragen, dass das Ansehen der Bundeswehr gesteigert und
ihre Zukunft gesichert wird, damit junge Männer und
Frauen mit Freude Dienst an der Waffe tun. Wir als
FDP-Fraktion werden Sie, Herr Minister zu Guttenberg,
nach Kräften dabei unterstützen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({14})
Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Buchholz
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung plant, das Wehrpflichtgesetz zu ändern,
und will damit die rechtliche Umwandlung der alten
Wehrpflichtigenarmee in eine Armee aus Zeit- und Berufssoldaten vollenden. Deswegen wird die Wehrpflicht
ausgesetzt. Die Linke ist gegen jede Form von Zwangsdiensten - das betrifft auch die Wehrpflicht.
({0})
Schon die Aussetzung der Wehrpflicht befreit jährlich
Tausende junger Männer von einem erzwungenen Militärdienst. Das begrüßen wir, auch wenn wir eigentlich
die Abschaffung der Wehrpflicht wollen.
({1})
Aber wir können dieses Gesetz nicht ohne den eigentlichen Zweck bewerten, zu dem die Bundesregierung
das Gesetz ändern möchte. Herr zu Guttenberg hat keinen Zweifel daran gelassen: Es geht darum, die Bundeswehr schlagkräftiger und einsatzfähiger zu machen.
Aber mich wundert doch, dass in dieser Debatte noch
keiner davon gesprochen hat, dass drei Soldaten, die sich
in einem dieser Einsätze befunden haben, am letzten
Freitag getötet wurden.
({2})
Herr zu Guttenberg bringt zu Ende, was in den 90erJahren unter der Kohl-Regierung begann: Damals wurde
die Absicherung des Zugangs zu Rohstoffen und Absatzmärkten offiziell zur Aufgabe der Verteidigungspolitik
erklärt. Seitdem haben Minister von CDU/CSU und SPD
die Bundeswehr in zahllosen Umstrukturierungen Schritt
für Schritt zu einer Einsatzarmee umfunktioniert. Heute
gilt der Krieg nicht mehr als letztes Mittel zur Landesverteidigung - Krieg ist Dauerzustand. Die Linke ist gegen diese Kriege.
({3})
Wehrpflicht ist Zwang. Aber Zwang wird nicht nur
durch eine gesetzliche Wehrpflicht ausgeübt. Wo Armut
herrscht, herrscht Zwang, Zwang, seine soziale Not zu
überwinden. Das wollen Sie ausnutzen. Schon heute dienen in Auslandseinsätzen überproportional viele Soldaten aus strukturschwachen Regionen. 2009 stammte
etwa die Hälfte der Soldaten aus Ostdeutschland. Dieses
Ungleichgewicht verstärkt sich im Einsatz, wie man an
den Dienstgraden erkennen kann: Während 62 Prozent
der Mannschaftsdienstgrade aus Ostdeutschland kommen, sind nur 16 Prozent der Stabsoffiziere und 0 Prozent der Generäle aus dem Osten.
({4})
Alle drei Bundeswehrsoldaten, die am 23. Juni 2010
bei einem Feuergefecht getötet wurden, kamen aus Ostdeutschland. Einer von ihnen hatte einen Migrationshintergrund; über einen weiteren sagen seine Freunde, dass
er nur zur Bundeswehr gegangen ist, weil er keine andere Arbeit gefunden hat.
({5})
Das ist aber kein spezifisch ostdeutsches Problem.
Von 328 Hamburgern, die Anfang 2007 ihren freiwilligen Dienst antraten, waren 107 zuvor arbeitslos. Sie
meldeten sich freiwillig und sahen die Bundeswehr als
Sprungbrett, das sie aus der eigenen Misere herauskatapultiert. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr stellt fest - ich zitiere -:
Je höher die Arbeitslosigkeit, desto größer ist das
Interesse an einer beruflichen Tätigkeit bei der
Bundeswehr.
Das Verteidigungsministerium will nun - ich zitiere „künftig verstärkt auch junge Menschen mit unterdurchschnittlicher schulischer Bildung beziehungsweise ohne
Schulabschluss personalwerblich“ ansprechen. Sie zielen besonders auf Soldaten für Auslandseinsätze und besonders auf untere Dienstgrade im Heer. In zunehmendem Maße bekommen wir amerikanische Verhältnisse.
Im Klartext heißt das: Die Armen werden zum Kanonenfutter. Diese Entwicklung machen wir nicht mit.
({6})
Glücklicherweise lehnen rund 80 Prozent der Menschen in Deutschland die deutsche Beteiligung am Krieg
in Afghanistan ab. Um trotzdem genügend Rekruten für
den Krieg zu finden, unternimmt die Bundesregierung
große Anstrengungen. Die Bundeswehr schließt Abkommen mit Arbeitsagenturen und richtet dauerhafte Vertretungen in Jobcentern ein. Gestern wurde im Verteidigungsausschuss eine großangelegte Werbekampagne in
sogenannten jugendaffinen Medien angekündigt. Genannt wurden unter anderem Jugendsender, die Bild und
www.bild.de.
Die Bundeswehr setzt außerdem fast 100 hauptamtliche und 300 nebenamtliche sogenannte Jugendoffiziere
ein. Diese haben im Jahr 2009 in über 4 000 Vorträgen
weit mehr als 100 000 Schüler angesprochen. Mittlerweile haben die Wehrbereichskommandos in sieben
Bundesländern Abkommen mit den Kultusministerien
abgeschlossen, die den Zugang der Jugendoffiziere zu
den Schulen ermöglichen.
({7})
Die Bundeswehr druckt Unterrichtsmaterialien und bietet Seminare für Lehrpersonal an. Die Zahl der teilnehmenden Referendarinnen und Referendare wuchs von 50
im Jahr 2003 auf über 1 000 im Jahr 2009.
Der hier von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf
des Wehrrechtsänderungsgesetzes sieht vor, dass die
Kreiswehrersatzämter zu Rekrutierungsbüros umfunktioniert werden sollen. Sie sollen alle Personen anschreiben, die in einem Jahr 18 Jahre alt werden, um ihnen die
Vorzüge der Bundeswehr als Arbeitgeber deutlich zu
machen. Diese Werbung für den Kriegsdienst lehnen wir
ab.
({8})
Die richtigen Maßnahmen im Interesse sowohl der
Soldaten als auch der vielen jungen perspektivlosen
Menschen lauten: nicht Kriegseinsätze, sondern Abzug
der Bundeswehr aus Afghanistan, ein Ende der Auslandseinsätze und ein Programm, das ausreichend zivile Ausbildung und Arbeitsplätze schafft. Das ist die Perspektive, für die die Linke steht.
({9})
Ich erteile das Wort der Kollegin Agnes Malczak für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Eine
Frage der Ehre“: So wirbt das Wachbataillon der Bundeswehr in Berlin in der U-Bahn um Nachwuchs. In der
Tat, mit der Aussetzung der Wehrpflicht ist eine entscheidende Frage verbunden: Wer kommt zukünftig zur
Bundeswehr - sind es die Menschen mit dem Charakter
und den Fähigkeiten, die wir uns dort wünschen? Mit der
Antwort auf diese Frage wird die Bundeswehrreform,
deren zentraler Baustein die Aussetzung der Wehrpflicht
ist, scheitern oder gelingen.
Um diese Herausforderung zu bewältigen, müssen die
Menschen in der Bundeswehr ihrem Dienstherrn aber
vertrauen können. Sie müssen glauben können, dass er
weiß, was er tut, und dass er zu dem steht, was er sagt.
Herr Minister zu Guttenberg, wie die Menschen Ihnen
jetzt noch vertrauen sollen, weiß ich wirklich nicht.
({0})
Was Sie gestern hier abgeliefert haben, war alles andere
als eine Sache der Ehre.
Im System Guttenberg hat eine Aussage wenig Wert.
Sie sagen selbst: Ihre Maßstäbe sind Klarheit und Wahrheit. Allerdings hat Ihre Klarheit ein sehr begrenztes
Haltbarkeitsdatum, und Ihre Wahrheit von heute ist Ihre
Unwahrheit von morgen.
({1})
Im System Guttenberg war ein Tanklasterbombardement an dem einen Tag unvermeidlich und am anderen
Tag ein Fehler.
({2})
Der Kapitän der „Gorch Fock“ wird an dem einen Tag
nicht vorverurteilt, am nächsten entpflichtet und am
übernächsten aus Fürsorge beschützt.
An dem einen Tag sparen Sie durch die Bundeswehrreform Milliarden; am anderen Tag brauchen Sie zusätzliche Milliarden, um die Reform durchführen zu können.
Im System Guttenberg halten Sie an dem einen Tag an
der Wehrpflicht fest und schaffen sie am nächsten Tag
ab.
({3})
Das Wort gilt im System Guttenberg nichts. Stattdessen gilt das Vorrecht des Verteidigungsministers, einen
Betrug zu begehen, ohne die Konsequenzen zu tragen.
Schneiderhan, Wichert, Schatz: Bei anderen sind Sie
sehr schnell dabei, Konsequenzen zu ziehen, nur bei sich
selbst nicht.
({4})
Sie kleben bis zur maßlosen Selbsterniedrigung an Ihrem Amt. Ihr Schauspiel seit dem letzten Mittwoch war
ziellos und würdelos. Für mich war der vorläufige Gipfel
der Unverschämtheiten gestern erreicht, als Sie Ihren
Umgang mit Fehlern noch als Vorbild verkaufen wollten.
({5})
Frau Kollegin, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass wir heute einen anderen Tagesordnungspunkt
behandeln.
({0})
Ich komme noch darauf zu sprechen, warum das miteinander zusammenhängt. Der Minister hat beschlossen,
es auszusitzen; dann muss das jetzt auch ausgehalten
werden.
Wie sollen Ihnen die Menschen in der Bundeswehr
noch vertrauen? Wie sollen sie Ihnen noch folgen? Dass
die Wehrpflichtarmee sicherheitspolitisch die falsche
Wehrform ist, war nämlich schon lange klar. Seit Jahren
fordern wir Grünen die Abschaffung der Wehrpflicht
und die Einführung eines freiwilligen Wehrdienstes.
Auch hier haben Sie abgekupfert. Aber anders als bei Ihrer Doktorarbeit kritisieren wir Sie hier nicht für die
Aussetzung der Wehrpflicht, wohl aber für die Umsetzung.
({0})
Ihre Einsicht in die Notwendigkeit, die Wehrpflicht
abzuschaffen, beruht eben nicht auf sicherheitspolitischen Überlegungen. Ihre Entscheidung für die Freiwilligenarmee ist keine aus Überzeugung, sondern eine aus
Geldnot. Statt von Anfang an das Richtige zu tun, haben
Sie mit der Wehrdienstverkürzung auf sechs Monate ein
Jahr verplempert. Diese Zeit fehlt Ihnen heute.
Lieber Herr Gabriel, die Reform zu verschieben, kann
auch keine Lösung sein; denn sie kommt eher zu spät als
zu früh.
Bei dem gesamten Umbauprozess haben Sie, Herr
Minister, das Pferd von hinten aufgezäumt. Wenn man
einen grundlegenden Wandel vornimmt, sagt einem doch
der gesunde Menschenverstand, dass man zuallererst
überlegen muss, welches Ziel man erreichen will. Der
gesamte bisherige Prozess der Bundeswehrreform folgt
keiner Logik. Wenn Sie logisch und überlegt vorgegangen wären, hätten Sie zuallererst die Frage beantwortet,
welche Aufgaben und Grenzen das Militärische in der
Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands zukünftig
haben soll. Doch diese Frage haben Sie sich nicht einmal
gestellt. Damit machen Sie den zweiten Schritt vor dem
ersten.
({1})
Ein weiterer Schritt eines solchen Reformprozesses
ist die Frage der Kosten und der verfügbaren Finanzmittel. Ganz Musterknabe haben Sie bei den Verhandlungen
über das Sparpotenzial bei der Bundeswehr vollmundig
Einsparungen in Höhe von rund 8 Milliarden Euro in
den nächsten Jahren versprochen. Nun fordern Sie sogar
mehr Geld für die Bundeswehrreform, können aber auch
auf wiederholte Nachfragen nicht sagen, wie viel genau.
Der letzte Schritt einer solchen Reform ist die Umsetzung. Mit dieser haben Sie jetzt allerdings schon begonnen, noch ehe das Gesetz das Parlament überhaupt erreicht hat. Um Ihre volltönenden Ankündigungen wahr
zu machen, musste die Aussetzung der Wehrpflicht nun
im Hauruckverfahren erfolgen. Im Dezember haben Sie,
Herr Verteidigungsminister, bereits die Anweisung erteilt, wonach in dieser Woche die letzten Wehrpflichtigen ihren Dienst angetreten haben.
An dieser Stelle möchte ich allen jungen Menschen
danken, sowohl denen, die in den letzten Jahrzehnten
Wehrdienst und Zivildienst geleistet haben, als auch den
vielen, die sich für ein Freiwilliges Soziales, Ökologisches oder Kulturelles Jahr entschieden haben.
({2})
Doch selbst mit dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, sind noch lange nicht alle Herausforderungen
rund um die Aussetzung der Wehrpflicht geregelt. Von
der Nachwuchsgewinnung über die Ausbildung bis zur
Verwendung der freiwilligen Wehrdienstleistenden sind
noch unzählige Fragen offen, die beantwortet werden
müssen.
Unzählige Beispiele zeigen, dass nicht nur das Wort
des Herrn Doktor zu Guttenberg, sondern auch das Wort
des Verteidigungsministers zu Guttenberg nichts wert
ist, zum Schaden für die Bundeswehr, die bis heute nicht
weiß, ob all Ihre großartigen Vorschläge überhaupt nur
im Ansatz finanzierbar sind und ob Sie diese auch morgen noch vertreten.
In den vergangenen Tagen wurde aus den Reihen der
Union immer wieder gesagt, Sie würden Ihr Amt als Verteidigungsminister so gut führen, dass man Ihnen persönliche Verfehlungen nachsehen müsse. Die derzeit größte
Herausforderung für die Bundeswehr - die Reform ebendieser - ist nur ein Beispiel dafür, dass diese Verteidigungslinie - verzeihen Sie mir das Zitat - „abstrus“ ist.
Herr Verteidigungsminister zu Guttenberg, Sie sind
ein Pfuscher. Sie haben nicht nur bei Ihrer Doktorarbeit
gepfuscht. Sie sind gerade dabei, die Aussetzung der
Wehrpflicht und die ganze Bundeswehrreform zu verpfuschen.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Grübel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Grunde über eine Vielzahl von Themen zu diskutieren, die alle miteinander verbunden sind: die Diskussion über die Sicherheitspolitik
Deutschlands in Fortsetzung des Weißbuches 2006, die
Priorisierung der Rüstungsvorhaben, die Konsolidierung
des Bundeshaushalts, die Strukturreform der Bundeswehr
und die Standortentscheidungen. Heute stehen auf unserer Tagesordnung zwei Gesetzentwürfe, die vor allem für
junge Menschen in unserem Land und ihr Verhältnis zur
Gesellschaft eine ganz neue Chance darstellen: das Wehrrechtsänderungsgesetz und das Gesetz zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes. Zu all dem haben Sie
wenig gesagt, Herr Gabriel und Frau Malczak.
({0})
Sie sind stillos und haben heute einfach das Thema verfehlt.
({1})
Zurück zum eigentlichen Thema. Soldatin oder Soldat
soll künftig nur werden, wer sich freiwillig dafür entscheidet. Ergänzend dazu wollen wir mit dem Bundesfreiwilligendienst eine weitere Möglichkeit schaffen,
sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Es gab noch nie
so viel Freiwilligkeit in Deutschland. Die Aussetzung
der Wehrpflicht ist für viele von uns, insbesondere in der
CDU/CSU, eine schwierige, wenn nicht gar schmerzhafte Entscheidung gewesen. Ich selbst habe wie viele
andere hier im Haus Wehrdienst geleistet, und zwar aus
Gewissensgründen. Die Wehrpflicht hat sich bewährt.
Das Bild des Staatsbürgers in Uniform wird mit einer
Wehrpflicht gut deutlich. Arme und reiche, gebildete
und bildungsferne Menschen mit und ohne Migrationserfahrung leisten gemeinsam Wehrdienst. Viele junge
Menschen haben durch den Wehrdienst einen unmittelbaren Eindruck von der Bundeswehr gewinnen können
und sind nicht auf die oft verzerrten Darstellungen in den
Medien angewiesen, die von extremen Einzelfällen berichten. Aber auch viele Mütter, die Olivzeug und Flecktarn gewaschen haben, und viele Freundinnen, die am
Wochenende gewartet haben, haben sich eng mit der
Bundeswehr verbunden. Ich möchte allen, die Wehrdienst geleistet haben, und auch allen Familienangehörigen ganz herzlich dafür danken.
({2})
Wenn wir uns nun von dieser langjährigen und bewährten Institution trennen, macht sich Wehmut breit bei
vielen in Deutschland, aber zu meiner Überraschung
auch bei der taz; von ihr hätte ich es am wenigsten erwartet. Die taz hat in einem Bericht geschrieben, die
Wehrpflicht sei ein Mittel gegen schlechten Korpsgeist
und Abschottung; von daher sei die Aussetzung zu bedauern. Das ist sicherlich berechtigt, weil sich der Wehrdienst, den ich übrigens nicht als Zwangsdienst, Frau
Buchholz, sondern als Pflichtdienst bezeichnen würde,
in der Vergangenheit zweifellos bewährt hat. Aber gerade das Bewährte des Wehrdienstes bzw. der Wehrpflicht wollen wir behalten: den Staatsbürger in Uniform, das Prinzip der Inneren Führung, die Offenheit der
Bundeswehr für alle gesellschaftlichen Schichten und
die verantwortungsvollen Entscheidungen über Einsätze
im Ausland.
Art. 12 a des Grundgesetzes schränkt die Grundrechte
ein. Das bedarf einer starken Begründung. Wir können
feststellen, dass die Gründe, die vor rund 200 Jahren
die preußischen Heeresreformer um Scharnhorst und
Gneisenau dazu bewogen haben, eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen, und die Gründe, die vor rund 50 Jahren zur Wiedereinführung der Wehrpflicht geführt haben, heute so nicht mehr vorliegen. Die Bedrohungslage
hat sich geändert. Mittlerweile haben wir es verstärkt mit
Einsätzen zur internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung und einem neuen Typus militärischer Aufgaben zu tun. Europa ist enger zusammengewachsen. Erbfeinde gibt es nicht mehr. Zum ersten Mal in unserer
Geschichte sind wir nur von Freunden und Verbündeten
als Nachbarn umgeben.
({3})
Für uns bleibt der Grundsatz der wehrhaften Demokratie, unabhängig von der Wehrform. Es bleibt auch die
Verantwortung der ganzen Gesellschaft für die Sicherheit unseres Landes und den Frieden in der Welt. Dies
kann nicht auf einige wenige delegiert werden. Die Wahl
zwischen den verschiedenen Wehrformen, also die Wahl
zwischen Wehrpflichtarmee und Freiwilligenarmee, ist
eine staatspolitische Ermessensentscheidung, bei der der
Gesetzgeber neben sicherheits- und verteidigungspolitischen Aspekten haushalts-, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gesichtspunkte einbeziehen muss.
Außerdem geht es heute - viele Vorredner haben darauf hingewiesen - nicht um die Abschaffung, sondern
um die Aussetzung der Wehrpflicht. Der Blick in die Geschichte, auch in die unseres Landes, zeigt, wie schnell
sich die sicherheitspolitische Lage ändern kann; das gilt
auch für gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Darum
kommt es zu einer Aussetzung und nicht zu einer Abschaffung der Wehrpflicht. Ebenso wie Art. 12 a Grundgesetz bleibt das Wehrpflichtgesetz als solches bestehen
und garantiert damit die Rekonstitutionsfähigkeit der
Wehrpflicht.
Zwei Wege ermöglichen, den Wehrdienst als Pflichtdienst wieder einzuführen: automatisch bei Feststellung
des Spannungs- oder Verteidigungsfalls und einfachgesetzlich, wenn das heutige Gesetz wieder abgeändert
wird, zum Beispiel, wenn die Bundeswehr ihren Bedarf
nicht anders decken kann. Eine wichtige Herausforderung wird sein, dass wir viele junge Menschen für eine
Laufbahn bei der Bundeswehr gewinnen. Dabei müssen
wir die geeignetsten Bewerber auswählen können. Diese
Aufgabe ist und wird nicht einfach. Wichtig sind die
richtigen ideellen und materiellen Anreize.
Das Maßnahmenpaket - 82 Maßnahmen! - zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr
wurde bereits ausgearbeitet. Herr Gabriel, ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie diese Details vielleicht nicht kennen.
({4})
Ich unterstreiche: Es gibt bereits 82 Maßnahmen, durch
die die Attraktivität der Bundeswehr gesteigert werden
kann.
({5})
Dieses Maßnahmenpaket muss nun priorisiert und in der
Tat finanziell unterlegt werden.
Damit die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiv ist,
braucht es interessante Arbeitsplätze mit vielfältigen
Fortbildungsmöglichkeiten und Qualifizierungen, die
auch zivil genutzt werden können. Auch soziale Rahmenbedingungen sind für die Attraktivität eines Berufs
entscheidend. Dazu zählen die Vereinbarkeit von Dienst
und Familie, die Kinderbetreuung, anständige Rahmenbedingungen für Fernpendler, auch richtige Standortentscheidungen. Aus strukturpolitischen Gesichtspunkten
wird oft auf die Standorte im ländlichen Raum verwiesen. Wir brauchen aber auch Standorte in Ballungsräumen. Für viele Soldatinnen und Soldaten und ihre Angehörigen ist es wichtig, in einem Ballungsraum stationiert
zu sein, weil dort zum Beispiel der Ehemann oder die
Ehefrau die Möglichkeit hat, berufstätig zu sein, weil
Kinder dort zur Schule gehen können etc.
Neben einer erfolgreichen Personalgewinnung ist die
Bundeswehr auch in Zukunft auf die Reservisten angewiesen. Wichtig ist daher, dass wir zukünftig stärker das
Potenzial der Reservisten ausschöpfen. Die Aufforderung des Reservistenverbandes „Tu was für dein Land!“
möchte ich ergänzen: Tu etwas für dein Land, tu etwas
für dich - als Freiwilliger!
({6})
- Herr Gabriel, es ist richtig: Ich komme aus einem Ballungsraum in der Nähe von Stuttgart.
({7})
Aber die drei Standorte in meinem Wahlkreis und auch
sämtliche Standorte in allen umliegenden Wahlkreisen
sind im Grunde längst aufgelöst.
({8})
Daher habe ich hier keine eigenen Interessen.
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 ist Teil einer
umfassenden Reform der Bundeswehr, deren Ziel es ist,
dafür zu sorgen, dass unsere Bundeswehr ihre Aufgaben
künftig gut erfüllen kann.
Herzlichen Dank.
({9})
Ulrich Meßmer ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hoff, ich will deutlich sagen: Vertrauen herstellen ist
ja wohl etwas, was man - nicht nur in dieser Situation nicht in erster Linie von der Opposition fordern kann;
vielmehr ist das Herstellen von Vertrauen in die Handlungsfähigkeit einer Regierung zuallererst Aufgabe der
Regierung und der beteiligten Personen. Wir äußern hier
die Sorge darüber, ob dies in Zukunft gegenüber den
Soldatinnen und Soldaten noch gewährleistet werden
kann, vor allen Dingen aber gegenüber einer jungen Generation, für die der Dienst in der Bundeswehr auch
dank der in Angriff genommenen Gesetzesvorhaben attraktiv werden soll.
({0})
Wir haben daran einige Zweifel.
Eines möchte ich gleich klarstellen: Die Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz werden sich auch in Zukunft
darauf verlassen können, dass wir das, was für den Einsatz erforderlich ist, mittragen. Das war in der Vergangenheit so. Das war nicht nur das Verdienst des jetzigen
Ministers, bei dem man nicht weiß, wie lange er noch
Minister ist, sondern das war auch das Verdienst dieses
Parlaments. Wir werden dafür sorgen, dass dies auch in
Zukunft der Fall sein wird.
({1})
Zweite Bemerkung: Mit Blick auf den notwendigen
Konsens hinsichtlich des Systems der Freiwilligkeit und
auf die Frage, wie man das Modell bekannt machen
kann, reicht es nicht, allein auf die Initiative „Tu was für
dein Land!“ und auch darauf hinzuweisen, dass man das
als Parlament gemeinsam machen will. Wir vermissen
Aussagen dazu, wie die Opposition dort konkret eingebunden werden soll.
Wir haben mehrfach angeregt und gefordert - auch
ich habe das von dieser Stelle aus schon getan -, einen
Unterausschuss „Attraktivität der Bundeswehr“ und einen Unterausschuss „Strukturreform der Bundeswehr“
einzurichten. Das ist ignoriert worden. Ich weiß nicht,
warum, aber es ist ignoriert worden.
Es reicht nicht aus, sich hinsichtlich der Freiwilligkeit
darauf zu berufen, dass man einen Teil der Vorschläge
der SPD dankenswerterweise in die 82 Punkte aufgenommen hat, die angesprochen worden sind. Ich meine
vielmehr, wir hätten ein Recht darauf, darüber zu diskutieren und dies insgesamt zu gewichten.
Letzter Punkt: Das System der Freiwilligkeit wird
ohne finanzielle Unterfütterung langfristig nicht funktionieren. Wir bleiben dabei - mein Kollege Gabriel hat gerade schon darauf hingewiesen -: Wenn eine Armee im
Wettstreit mit anderen Einrichtungen und Betrieben attraktiv für junge Menschen bleiben will, dann ist es notwendig, glaubwürdig deutlich zu machen, was der
Dienst in der Bundeswehr für junge Menschen und deren
Familien bedeutet, und die Maßnahmen entsprechend finanziell zu unterlegen.
Ich prophezeie schon an dieser Stelle, dass es sich mit
den Ankündigungen zum Sparhaushalt wahrscheinlich
genauso wie mit dem Doktortitel verhält: Das Sparziel in
Höhe von 8,3 Milliarden Euro wird zwar groß angekündigt, aber dann verabschiedet man sich Schritt für Schritt
davon.
Ich sage schon jetzt: Wer nicht daran denkt, dass auch
ein Freiwilligendienst eine Anschubfinanzierung braucht
- wir rechnen mit einer Größenordnung von 1 Milliarde
Euro -, und das im Haushalt nicht abbildet, der wird
auch in dieser Frage ein Desaster erleben. Wir möchten
das vermeiden.
Wir bieten abschließend an, darüber zu reden, was
sinnvoll und notwendig ist. Das bedeutet aber auch - Herr
Minister Schäuble ist gerade hier -, dass sich das im
Haushalt wiederfinden muss. Wir können den Soldaten
und den jungen Menschen nicht sagen: „Wir tun etwas
für euch“, und gleichzeitig darauf hinweisen, dass wir
kein Geld haben. Das wird nicht funktionieren, und
schon gar nicht mit Sozialdemokraten.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Spatz für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal sind wir froh darüber, dass eine
über zehn Jahre alte Forderung der FDP, nämlich die
Aussetzung der Wehrpflicht, jetzt endlich realisiert werden kann.
({0})
Wir haben sehr viel Verständnis dafür, dass sich der eine
oder andere damit schwergetan hat; denn die Wehrpflicht hat in der Zeit, in der sie gegolten hat, in
Deutschland und auch in weiten Teilen Europas ihren
Dienst für die Sicherheit, aber auch für die gesellschaftliche Kohärenz in den Ländern geleistet.
Es besteht die Gefahr, dass mit dem Wegfall dieses
Pflichtdienstes der Pflichtgedanke überhaupt infrage
steht. Deshalb ist es wichtig, dass wir eine Kultur der
Freiwilligkeit befördern, wie es unter anderem vom
Bundeswehrverband, aber auch von weiten Teilen der
sozialen und ökologischen Verbände und Einrichtungen
zum Ausdruck gebracht worden ist.
Es hat Zeit gebraucht, Frau Malczak, jeden mitzunehmen; das ist richtig. Aber ich halte das für keine vergeudete Zeit. Im Gegenteil: Wenn wir es schaffen - wir
haben es bereits geschafft -, dass sehr viele gesellschaftliche und parlamentarische Kräfte diesen Umbau jetzt
gestalten, dann ist das ein Fortschritt und kein Rückschritt. Es wird denjenigen helfen, die in der Bundeswehr davon betroffen sein werden.
({1})
Genauso wird es - das möchte ich gerade in Ihre Richtung, Frau Malczak und Herr Gabriel, sagen - in einer
Debatte um den Bundesminister helfen, in der die Opposition natürlich das Recht hat, Fragen zu stellen. Wenn
wir in der Auseinandersetzung einen Stil pflegen, der
dem, was wir wollen, nämlich die Attraktivität zu steigern, nicht Hohn spricht, dann können Sie Ihre Fragen
stellen
({2})
und Ihre Diskussionsbeiträge machen, wie Sie das
möchten, allerdings in einer Art und Weise, die der Bedeutung des Themas gerecht wird, das heute Morgen auf
der Tagesordnung steht, nämlich der größte Umbau in
der Geschichte der Bundeswehr.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ja, gerne.
Wenn ich mich in den Reihen der Koalition umschaue, könnte man glatt meinen, dass das nicht die
größte Reform ist, die im Bereich des Bundesministers
der Verteidigung stattfindet.
({0})
Wie interpretieren Sie das als Koalitionsabgeordnete? Ist
das ein Signal, dass sich die Koalition eigentlich bereits
vom Verteidigungsminister verabschiedet hat? Im Plenum hat sie es bereits getan. Wir würden im Moment
jede Abstimmung gewinnen.
({1})
Herr Kollege Beck, ich verstehe, dass Sie sofort versuchen, Ihre Schlüsse zu ziehen. Ich bedauere wirklich,
dass bei der Fachdebatte heute in allen Parteien - auch
bei Ihnen - weniger Kollegen anwesend sind, als das
gestern der Fall war.
({0})
Wenn wir in Bezug auf die Bundeswehr vom Einsatz her
denken, müssen wir auch von den Soldaten her denken.
Deshalb ist das Thema „Attraktivitätssteigerung“ mit
den 82 vorgelegten Punkten ein richtiger Ansatz.
Zwei Themen will ich allerdings noch ansprechen, die
in der Debatte eine Rolle spielen und die der Klarstellung bedürfen: Erstens. Das Argument „Leichter einsetzbar, weil keine Wehrpflichtarmee“ trägt überhaupt nicht.
Der Bundestag wird auch in Zukunft bei jeder Entscheidung sehr genau darauf achten, wo, in welchem Umfang
und mit welchen Einsatzregeln die Bundeswehr eingesetzt wird. Alles andere ist nicht möglich; wir werden
keine Freiwilligen bekommen, die sich für irgendwelche
politischen Abenteuer zur Verfügung stellen.
({1})
Zweitens. Das Thema „Sparen“: Es ist wohlfeil von
der Opposition, mehr Geld zu fordern. Lassen Sie sich
aber gesagt sein: Wenn Sie das Thema „Ganzheitliche
Sicherheit“ ernst nehmen, dann wird Ihnen nicht entgangen sein, dass wir auch Geld brauchen, um zivile Kapazitäten aufzubauen. Dann wird Ihnen auch nicht entgangen sein, dass wir gerade in Nordafrika wirtschaftlich
gefragt sein werden, um auf zivile Art und Weise Stabilität zu erzeugen.
({2})
Wenn Sie die Situation ganzheitlich sehen, dann können
Sie nicht einfach die Einsparungsziele gegen das aufrechnen, was wir vermeintlich an militärischer Sicherheit gewinnen. Deshalb gibt es in ganzheitlichem Sinne
keine Sicherheit nach Kassenlage.
Was die Bundeswehr im Einsatz benötigt und was wir
für die Attraktivitätssteigerung brauchen, wird sicher
auch von der Regierung und den Parteien der Koalition
zur Verfügung gestellt werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Paul Schäfer für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Minister der Verteidigung hat im März vergangenen Jahres gesagt: „Mit mir ist eine Abschaffung der
Wehrpflicht nicht zu machen.“ Im Mai letzten Jahres hat
er noch einmal begründet, warum die Wehrpflicht sicherheitspolitisch notwendig ist. Im November hat er
dann dargelegt, warum sie sicherheitspolitisch nicht
mehr begründbar ist.
Die Frage lautet also: Was hat sich sicherheitspolitisch zwischen Mai und November letzten Jahres verändert? Die Antwort lautet: Nichts. Es hat allerdings etwas
anderes gegeben, und zwar die Euro-Krise und den
zweiten Teil des Bankenrettungspakets. Dies ging massiv zulasten der öffentlichen Kassen. Es war der stumme
Zwang des allzu knappen Geldes, das Sie zu Eingeständnissen geführt hat, die man aus ideologischen Gründen
lange abgeblockt hat. Das geschah leider zulasten Zehntausender junger Männer, die den Dienst an der Waffe
nicht enthusiastisch geleistet haben.
({0})
„Sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen“ bedeutet, dass es keine direkte militärische Bedrohung
Deutschlands gibt, und das auf absehbare Zeit. Das sagen Sie selber. Es handelt sich um Zeiträume von deutlich mehr als fünf Jahren. Man hätte die Sache aber
gleich konsequent anpacken müssen. Das heißt: Die
Wehrpflicht abschaffen statt sie nur auszusetzen.
({1})
Die Frage ist jetzt: Was kommt danach? Das fragen
sich auch Tausende junger Männer und Frauen, die jetzt
zum Glück anfangen können, zu studieren. Sie fragen
sich: Sind entsprechende Vorkehrungen an den Hochschulen getroffen worden? Aber da passiert nichts. Hier
müsste viel mehr investiert werden, um entsprechende
Bedingungen zu schaffen. Das tun Sie aber nicht. Das
Paul Schäfer ({2})
nenne ich chaotische Politik. Das hat mit Stringenz
nichts zu tun.
({3})
Sie wollen jetzt den Zwangsdienst Wehrpflicht durch
einen sogenannten freiwilligen Militärdienst ersetzen.
Wenn man sich das näher anschaut, stellt man fest, dass
sich dieser nicht so sehr von dem derzeit schon bestehenden Institut der freiwillig länger dienenden Rekruten unterscheidet. Die neuen Freiwilligen sollen nur ein bisschen mehr Geld bekommen und müssen noch nicht an
den Militäreinsätzen im Ausland teilnehmen.
Was an dieser neuen Konstruktion stört, ist, da es sich
ja doch um eine Vorentscheidung für den Soldatenberuf
handelt, dass Sie dieses jetzt mit dem ehrenamtlichen
freiwilligen Engagement junger Menschen assoziieren
bzw. verknüpfen. Hinzu kommt wohl noch, dass das
noch ein bisschen patriotisch verklärt wird. Aber dass es
sich eigentlich um etwas anderes handelt, wird daran
deutlich, dass es keine Gleichstellung mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr oder dem Freiwilligen Ökologischen
Jahr gibt. Diejenigen, die ein FSJ oder ein FÖJ machen,
bekommen roundabout 400 Euro als Kostenerstattung
und Taschengeld. Der anderen Gruppe wollen Sie
1 100 Euro zahlen. Und wieso darf der Bundesminister
der Verteidigung alle, die bald die Volljährigkeit erreichen, anschreiben und zur Musterung einladen, die Familien- und Jugendministerin das aber nicht für die Freiwilligendienste tun? Das ist doch der Unterschied. Wenn
man das schon so ins Gesetz schreibt, dann muss gelten:
Gleiches Recht für alle.
({4})
Dann brauchen wir gleiche Bezahlung und gleiche Vergünstigungen. Daran werden wir Sie messen, ob Sie das
machen.
Ein Weiteres möchte ich noch klarstellen: Wir wollen
- Sie werben ja jetzt viel -, dass Sie die Jugendlichen offen und ehrlich darüber informieren, was sie erwartet,
damit sie sich mit Krieg und dessen Folgen auseinandersetzen können und nicht nur mit dem Argument geködert
werden, es handle sich um einen spannenden Beruf in einem Hightech-Dienstleistungsunternehmen. Das wollen
wir nicht.
Sie bauen dieses Gesetz ja ein in die Neuausrichtung
der Bundeswehr. Das ist gewissermaßen der erste Schritt
dazu. Dazu können wir nur sagen: Die Gesamtrichtung
stimmt nicht. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Sie
hätten mit einer seriösen Bilanz der bisherigen Auslandseinsätze der Bundeswehr beginnen müssen, um daraus
Schlüsse zu ziehen, ob wir uns künftig an solchen Militärinterventionen beteiligen oder nicht. Dann wäre man
möglicherweise darauf gekommen, dass Afghanistan,
und nicht nur Afghanistan, für künftige Bundeswehreinsätze keine Blaupause sein kann und sein darf.
({5})
Sie aber wollen den Auftrag an die Truppe in der Hinsicht nicht nur fortschreiben, sondern auch noch verschärfen. So habe ich Sie verstanden, Herr Bundesminister. Denn wer sagt, die Sicherung der Rohstoffquellen sei
auch unter militärischen Gesichtspunkten zu sehen, und
wer der Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen notfalls
mit militärischer Gewalt das Wort redet, der verwechselt
offensichtlich das Jahr 2011 mit 1911. Aber dahin wollen wir nicht zurück.
({6})
Wenn schon, dann wollen wir höchstens zurück zu einer
Kultur strikter Zurückhaltung und zu einer Bundeswehr,
die sich strikt am Zweck der Verteidigung orientiert. Ein
solcher Kurswechsel ist angesagt, nicht Ihre Bundeswehrreform!
Danke.
({7})
Der Kollege Jürgen Trittin ist der nächste Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehöre
zu denen, die in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts
das zweifelhafte Vergnügen hatten, auch wenn das lebensgeschichtlich durchaus eine Bereicherung war, sowohl ein halbes Jahr in der Bundeswehr gedient wie
auch nach erfolgter Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer meinen Zivildienst gemacht zu haben.
({0})
Wenn heute die Entscheidung getroffen wird, die Wehrpflicht auszusetzen, kann ich dazu nur sagen: Eine solche Entscheidung kommt in meinen Augen zehn Jahre
zu spät.
({1})
- Sie kommt wenigstens, aber sie kommt übrigens auch
nicht mutig. Mutig, Herr Minister zu Guttenberg, wäre
es gewesen, die Wehrpflicht tatsächlich abzuschaffen.
({2})
Die Feststellung, die Sie getroffen haben, nämlich
dass wir seit Jahren von Freunden umgeben sind, gilt im
Grunde genommen seit 1989. Sie haben 20 Jahre gebraucht, aus dieser Erkenntnis Schlussfolgerungen zu
ziehen.
Angesichts der Tatsache, dass jetzt die Bundeswehr
umgebaut werden soll, hätte diese Gesellschaft neben
den notwendigen Debatten darüber, was das an Geld
kostet und was das mit Blick auf Standorte an schmerzhaften Entscheidungen zur Folge hat, doch eigentlich
eine große Debatte darüber verdient, zu welchem Zweck
wir uns als Gesellschaft bewaffnete Streitkräfte in diesem Lande halten. Neben der guten Nachricht, dass wir
aus dem Zeitalter der Blockkonfrontation heraus sind,
gibt es auch eine unpopuläre Botschaft. Denn es ist so,
dass auf diesem Globus weiterhin globale Risiken zu
Staatszerfall und zum Zerfall von Gesellschaften führen.
Es ist daher eine der zwingendsten und dringendsten
Aufgaben der Weltgemeinschaft, dieser Entwicklung
entgegenzutreten. Bestandteil der Maßnahmen, dem entgegenzuwirken, ist zwar im Wesentlichen ein zunehmender Einsatz von zivilen Kräften, aber dazu gehört auch
die Beteiligung von Militär.
Die Botschaft, die Sie eigentlich aussenden müssen,
wäre: Daran wird sich Deutschland leider auch künftig
beteiligen müssen. Dafür brauchen wir hochqualifizierte,
gut ausgebildete und gut ausgerüstete Soldatinnen und
Soldaten. - Das ist eine unpopuläre Botschaft. Da kann
man, Herr Minister, auch einmal Mut beweisen.
({3})
Die Frage ist aber, ob Sie dazu überhaupt noch in der
Lage sind. Nimmt Ihnen angesichts des beispiellosen
Schlingerkurses, den Sie in der Sache bei diversen Zwischenfällen in der Bundeswehr, aber auch in der Frage
der Wehrpflicht an den Tag gelegt haben, überhaupt
noch irgendjemand diese unpopuläre und schwierige
Botschaft ab?
({4})
Es gibt allerdings - damit will ich schließen ({5})
eine Konstante in Ihrem politischen Wirken. Sie haben
immer darauf geachtet, die Unterstützung der Bild-Zeitung, der Bild am Sonntag und von Bild.de zu haben
({6})
- Nein, ich rede insbesondere von diesen dreien. - Sie haben heute Morgen unterschlagen, dass im Onlineforum
von Bild.de von den 640 000 Leuten, die abgestimmt haben, 55 000 Ihren Rücktritt gefordert haben, Herr Minister.
({7})
Der Unterstützung dieser Zeitung konnten Sie sich immer sicher sein.
Jetzt finde ich es hochinteressant, an wen die Aufträge gehen sollen, mit denen um Freiwillige geworben
werden soll, nämlich ausschließlich an Bild, BamS und
Bild.de.
({8})
Eine Bundeswehrreform, die auf einem schmutzigen
Deal mit der Springerpresse beruht, wird und kann nicht
gelingen.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte an dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen, wenigstens einen Satz zu dem Thema zu sagen, von dem
die Opposition meint, sie müsse es weiter strapazieren:
Getretener Quark wird breit, nicht stark.
({0})
Es ist wirklich schade, dass das wichtige Thema der
Bundeswehrreform - das vorliegende Gesetz ist vielleicht das wichtigste Gesetz im Zusammenhang mit der
Bundeswehr, das wir in dieser Legislaturperiode verabschieden - von Ihnen missbraucht wird, um eine Debatte
zu führen, die eigentlich gestern, wie ich finde, ihren
Abschluss gefunden hat.
({1})
Sie erweisen der Bundeswehr keinen guten Dienst, wenn
Sie auf diese Weise fortfahren.
Herr Gabriel, Sie haben dem Minister unterstellt, er
würde hier die Bundeswehrreform unstrukturiert darstellen. Ich kann nur feststellen, dass der Minister bei seinem Amtsantritt vor 15 Monaten gesagt hat:
({2})
Ich werde innerhalb des Ministeriums eine Studie über
die vorhandenen Reformbedürfnisse anfertigen lassen. Diese Studie hat er fristgerecht vorgelegt. Das war das
Wieker-Papier. Er hat dann gesagt: Wir bilden eine externe Kommission - das war die Weise-Kommission -,
sie wird ihre Ergebnisse bis zum Herbst vorlegen. - Sie
hat ihre sehr guten Ergebnisse im letzten Herbst vorgelegt. Dann hat er angekündigt, dass er bis Ende Januar
einen Vorschlag für die Struktur des Ministeriums und
der nachgeordneten Behörden vorlegen wird. Er hat uns
das Papier auf den Tag genau Ende Januar präsentiert.
Weiter hat er angekündigt, einen entsprechenden Attraktivitätskatalog für die Bundeswehr vorzulegen. Er liegt
dem Verteidigungsausschuss seit 14 Tagen vor.
({3})
Jetzt hat er angekündigt, zum 1. Juli ein Gesetz vorzulegen, die Wehrpflicht auszusetzen. Sie sehen am Zeitplan,
dass das entsprechend möglich ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Malczak?
Bitte, Frau Malczak.
Herr Kollege Hardt, können Sie mir, wenn das alles
so strukturiert abgelaufen ist, vielleicht noch mal erklären, was denn jetzt eigentlich der Sinn der Verkürzung
des Wehrdienstes auf sechs Monate war und warum das
dann vor dem Papier der Weise-Kommission als Maßnahme ergriffen wurde?
({0})
Das hat unheimlich viel gekostet. Es hat auch die Bundeswehr sehr strapaziert, das jetzt so schnell umzusetzen. Vielleicht können Sie mir einfach noch mal den
Sinn erklären, warum man „W 6“ gemacht hat, um dann
ein paar Monate später die Wehrpflicht auszusetzen.
({1})
Das kann ich Ihnen genau sagen: Durch die Entscheidung, auf „W 6“ zu gehen, gibt es für die Wehrdienstleistenden zu den Einberufungsterminen, die jetzt zwischen dieser Umstellung und der entsprechenden
Aussetzung der Wehrpflicht liegen, mehr Wehrgerechtigkeit.
({0})
Das war eines der gravierendsten Probleme. Ich glaube,
dass es ein vernünftiger Schritt war, das so zu machen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das, was zum
1. Juli vorliegen wird - jetzt möchte ich zum Thema
kommen, nämlich zur Aussetzung der Wehrpflicht -, einer der entscheidendsten Schritte der Bundeswehrreform
sein wird, weil es natürlich in Bezug auf die Gewinnung
von Zeit- und Berufssoldaten sowie von freiwillig Wehrdienstleistenden besondere neue Anforderungen an die
Bundeswehr stellt.
Zur Aussetzung der Wehrpflicht gibt es, wie ich finde,
verfassungsrechtlich keine Alternative. Die einzig zulässige Begründung, um die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten, wäre, dass die Wehrpflichtigen einen unverzichtbaren Beitrag zur Verteidigung unseres Landes leisten. Das
können wir heute in dieser Form nicht mehr nachweisen.
Sich auf den Aspekt zu stützen, dass es gesellschaftspolitisch durchaus erwünscht ist, dass junge Menschen etwas für unsere Gemeinschaft tun, ist eben verfassungsrechtlich nicht haltbar. Dies schmerzt insbesondere viele
von uns Christdemokraten. Diese Möglichkeit wollen
wir durch die Einführung des Bundesfreiwilligendienstes bzw. durch den Freiwilligendienst bei der Bundeswehr erhalten.
In der Bundeswehr haben 8 427 288 Wehrpflichtige
gedient. Wenn man denen persönlich die Hand schütteln
wollte, wäre man sechs Monate lang Tag und Nacht damit beschäftigt. Deswegen möchte ich auch im Namen
des Bundestages all denen herzlichen Dank sagen, die
Wehrdienst geleistet haben. Ich möchte auch ausdrücklich denen Dank sagen, die im Zivildienst oder im zivilen Katastrophenschutz ihren Dienst geleistet haben. Das
war auch ein Pflichtdienst, aber es war keinesfalls ein
Dienst, der nicht auch mit dem Herzen gemacht wurde.
Ich finde, es ist bei dieser Gelegenheit auch angemessen,
das gleichermaßen zu würdigen.
({1})
Was ist jetzt zu tun, damit der Übergang von der
Wehrpflicht zur Freiwilligenarmee gelingt? Erstens müssen die Rahmenbedingungen für den Dienst in der Bundeswehr attraktiv gestaltet sein. Das gilt für Sold und
Prämien, es gilt aber auch für andere Faktoren wie die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst, die Frage der
Laufbahnstrukturen und natürlich das weite Feld der
Aus- und Weiterbildung in der Bundeswehr.
Jeder Soldat, der länger in der Bundeswehr dient,
sollte eine seiner Eignung und Neigung entsprechende,
auch zivil nutzbare Ausbildung erhalten. Das fängt mit
dem Schulabschluss an und geht weiter bis zum Diplom
oder Master für diejenigen, die sich als Offizier länger
verpflichten. Ich glaube, die Bundeswehr hat hier bereits
den richtigen Weg eingeschlagen. Ich finde all das, was
in dem Attraktivitätssteigerungspapier zu diesen Punkten steht, richtig.
Zweitens geht es natürlich jetzt um die Gewinnung
von Personal für die Bundeswehr durch Herstellung von
Transparenz und Klarheit über die Rahmenbedingungen.
Im Augenblick haben wir zwar bei den Zeit- und Berufssoldaten eine zufriedenstellende Bewerberquote, aber
wir haben im Bereich der freiwillig Wehrdienstleistenden deutlich weniger Neueinstellungen, als eingeplant
war. Das ist im Augenblick noch kein akutes Problem,
aber es geht darum, dass wir jetzt auch durch zügige Beratung des Gesetzentwurfes die Rahmenbedingungen so
klarmachen, dass jeder, der bei der Bundeswehr anfängt,
auch weiß, was er davon hat.
Ich füge hinzu: Es ist wichtig, zu betonen, dass alle
Leistungen, die wir mit diesem Gesetz beschließen werden, auch auf diejenigen Anwendung finden, die sich bereits heute zu einer Unterschrift entscheiden. Es wäre
wirklich schade, wenn junge Männer und Frauen allein
deshalb eine Verpflichtung bei der Bundeswehr nicht
eingehen, weil sie die Befürchtung haben, dass dann bestimmte Vergünstigungen möglicherweise bei ihnen
nicht Anwendung finden.
Drittens. Es ist mindestens genauso wichtig, dass die
Änderung der Wehrform zumindest in der Übergangsphase nicht zum Nulltarif zu haben sein wird. Die Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr kostet Geld,
selbst wenn die Zahl der Soldaten deutlich abnehmen
wird. Hier gilt das Wort von Minister und Bundeskanzlerin, dass die Zukunft leistungsfähiger Streitkräfte nicht
allein von finanziellen Erwägungen abhängig gemacht
werden kann. Die Parteitage von CDU und CSU haben
sich dazu entsprechend geäußert. Wer in der BundesJürgen Hardt
wehr dient oder dort zukünftig dienen möchte, soll wissen, dass er in der Truppe eine individuelle, gute Zukunftsperspektive erhält; das hat eben auch mit Geld zu
tun.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des
Wehrrechts ist ein zentraler Baustein der Bundeswehrreform. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden
zügig über ihn beraten und damit eine rasche Beschlussfassung vor Ostern ermöglichen. Wir wollen einen erfolgreichen Start für unsere neue Bundeswehr.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSUFraktion ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen ersten Lesung des Wehrrechtsänderungsgesetzes vollziehen wir den ersten parlamentarischen Schritt der größten Reform der Bundeswehr seit
dem Ende des Kalten Krieges. Damals, vor gut
20 Jahren, standen noch die Panzer des Warschauer Paktes an unserer Ostgrenze; wir mussten ständig in der
Lage sein, einen direkten Angriff auf unser Territorium
abzuwehren. Diese Gefahr besteht Gott sei Dank nicht
mehr.
Die Welt ist aber seit dieser Zeit nicht nur friedlicher
geworden: Es gibt neue, sich ständig wandelnde, zum
großen Teil asymmetrisch gelagerte Bedrohungen unserer Freiheit und Sicherheit. Wir begegnen der veränderten Sicherheitslage mit einer breiten Palette an zivilen
und diplomatischen Mitteln. Es treten aber immer wieder Situationen ein, in denen wir gezwungen sind, die
Bundeswehr als letztes verfügbares Mittel und als Teil
der internationalen Gemeinschaft in einen Einsatz zu
entsenden. Wir haben letzten Freitag wieder auf traurige
Weise erfahren müssen, wie gefährlich solch ein Einsatz
sein kann.
Wir stehen bei der Mandatierung der Einsätze in der
Verantwortung, die Bundeswehr dafür optimal aufzustellen und auszurüsten. Gemessen an dem, was unsere Soldaten heute im Einsatz leisten müssen, haben wir dieses
Ziel trotz zahlreicher Anstrengungen in den vergangenen
Jahren noch nicht vollständig erreicht. Von dieser Verantwortung getragen haben wir uns im letzten Jahr entschieden, die Bundeswehr neu zu strukturieren, sie insgesamt zu verkleinern und dafür die Soldaten besser
auszurüsten sowie ihren Dienst attraktiver zu gestalten.
Ein Baustein der Reform ist die Aussetzung der
Wehrpflicht, über die wir heute hier im Parlament diskutieren. Wir haben uns diesen Schritt nicht leicht gemacht; er ist nicht nur von dieser Reform getrieben. Die
Wehrpflicht hat sich in den letzten 55 Jahren in vielerlei
Hinsicht bewährt. Wir stehen aber gegenüber den jungen
Männern, die wir zu diesem Pflichtdienst heranziehen, in
der Verantwortung, immer wieder neu zu hinterfragen,
ob ihr Dienst tatsächlich noch sicherheitspolitisch begründet werden kann oder nicht. Eine solche Begründung können wir heute nicht mehr zweifelsfrei geben.
Wir vollziehen jetzt den für uns schweren, aber konsequenten Schritt der Aussetzung der Wehrpflicht.
Ein solcher Grundrechtseingriff kann eindeutig nur
mit einer sicherheitspolitischen Begründung legitimiert
werden. Ich betone das deshalb, weil die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für mich persönlich die
näherliegende Antwort gewesen wäre. Ich musste aber
nach zahlreichen Diskussionen einsehen, dass dies weder unsere Verfassung noch das Völkerrecht zulassen.
Dass diese Debatte heute keine allzu großen Wellen
schlägt, haben wir in erster Linie unserem Minister KarlTheodor zu Guttenberg zu verdanken. Er hat es mit seiner Persönlichkeit und seiner Überzeugungskraft im vergangenen Jahr geschafft, die Menschen innerhalb und
außerhalb der Bundeswehr für diese Reform zu gewinnen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, bei der
Reform liegen wir inhaltlich nicht weit auseinander. Gerade deswegen müssten Sie die Leistung des Ministers
anerkennen.
({0})
Stattdessen sind Ihre heutigen Debattenbeiträge geprägt
von einer überhöhten Selbstgerechtigkeit und der offenen Genugtuung, endlich etwas gefunden zu haben, mit
dem Sie hoffen, ihm persönlich schaden zu können.
({1})
Überlegen Sie selbstkritisch, ob Sie jemanden in Ihren
Reihen haben, dem die Vermittlung dieser Reform auch
nur annähernd in dieser Form gelungen wäre.
({2})
Es mag Sie politisch bzw. wahltaktisch stören, dass
Karl-Theodor zu Guttenberg ein hohes Maß an Vertrauen in der Bevölkerung genießt, aber Tatsache ist: In
einem solchen schwierigen Reformprozess einen solchen Minister an der Spitze des Bundesverteidigungsministeriums zu haben, ist ein Glücksfall für unser Land
und unsere Bundeswehr.
({3})
Täuschen Sie sich nicht: Die Menschen in unserem Land
unterscheiden sehr genau, welcher Beitrag der Sache
dient und bei welchem Beitrag es nur darum geht, jemandem persönlich zu schaden.
({4})
Das hätte ich Herrn Trittin - leider hat er die Debatte
nicht bis zum Ende verfolgt - gerne persönlich gesagt.
({5})
Er hat es in seinem Beitrag fast geschafft, nur zur Sache
zu sprechen. Aber am Ende ist er wieder abgerutscht auf
ein Niveau der Unterstellungen und der Verleumdung.
({6})
Das war schade;
({7})
denn die Sache ist viel wichtiger als ein Hinweis auf die
Zustimmungswerte einer bestimmten Person.
Die Reform, die wir in den nächsten Wochen im Bundestag besprechen, wird unsere Parlamentsarmee über
Jahrzehnte hinweg prägen. Wir haben dabei als die heute
in der Verantwortung stehenden Parlamentarier den Auftrag, die Bundeswehr der Zukunft mitzugestalten und
dafür zu sorgen, dass sie die Gesellschaft auch in Zukunft angemessen repräsentiert und sich nicht von ihr
abkoppelt. Die Menschen werden uns als Koalition, aber
auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
daran messen, ob wir dieser Verantwortung gerecht werden. Heute sind Sie es zumindest nicht geworden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 17/4821 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere
Vorschläge dazu liegen mir nicht vor. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Korrektur der Überleitung von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gerechte Alterseinkünfte für Beschäftigte
im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gerechte Lösung für rentenrechtliche Situation von in der DDR Geschiedenen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gerechte Versorgungslösung für Ballettmitglieder in der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Regelung der Ansprüche der Bergleute der
Braunkohleveredlung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Beseitigung von Rentennachteilen für Zeiten
der Pflege von Angehörigen in der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenrechtliche Lösung für Land- und
Forstwirte, Handwerkerinnen und Handwerker, andere Selbständige sowie deren
mithelfende Familienangehörige aus der
DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenrechtliche Anerkennung von zweiten
und vereinbart verlängerten Bildungswegen
sowie Forschungsstudien und Aspiranturen
in der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenrechtliche Anerkennung von DDRRegelungen für ins Ausland mitgereiste Ehepartnerinnen und Ehepartner sowie von im
Ausland erworbenen Ansprüchen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rentenrechtliche Anerkennung aller freiwilligen Beiträge aus DDR-Zeiten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Präsident Dr. Norbert Lammert
Befristetes System „sui generis“ für die Beseitigung des Versorgungsunrechts bei den
Zusatz- und Sonderversorgungen der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Vertrauensschutz für Versorgungsberechtigte der DDR mit einem Ruhestandsbeginn
bis zum 30. Juni 1995 schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Regelung der Ansprüche und Anwartschaften auf Alterssicherung für Angehörige der
Deutschen Reichsbahn der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Regelung der Ansprüche und Anwartschaften auf Alterssicherung für Angehörige der
Deutschen Post der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Angemessene Altersversorgung für Professorinnen und Professoren neuen Rechts,
Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Dienst
und weitere Beschäftigte universitärer und
anderer wissenschaftlicher Einrichtungen in
Ostdeutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Angemessene Altersversorgung für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes der DDR, die
nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Angemessene Altersversorgung für Angehörige von Bundeswehr, Zoll und Polizei, die
mit DDR-Beschäftigungszeiten nach 1990
ihre Tätigkeit fortgesetzt haben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Einheitliche Regelung der Altersversorgung
für Angehörige der technischen Intelligenz
der DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Wertneutralität im Rentenrecht auch für
Personen mit bestimmten Funktionen in der
DDR
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 Geschiedenen
- Drucksachen 17/1631, 17/3871, 17/3872, 17/3873,
17/3874, 17/3875, 17/3876, 17/3877, 17/3878,
17/3879, 17/3880, 17/3881, 17/3882, 17/3883,
17/3884, 17/3885, 17/3886, 17/3887, 17/3888,
17/4195, 17/4769 Berichterstattung:
Abgeordnete Silvia Schmidt ({1})
Beide Fraktionen haben namentliche Abstimmung
verlangt. Deshalb werden wir nach der Aussprache zunächst über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke namentlich auf einem Stimmzettel abstimmen. Anschließend erfolgt die namentliche Abstimmung mit der
üblichen Stimmkarte über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wir
werden also zwei getrennte Abstimmungsgänge durchführen.
Auch für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! In diesem Tagesordnungspunkt geht es um gerechte Alterseinkünfte für Beschäftigte in der DDR. Die
Antragsteller führen auf Drucksache 17/1631 zum
Schluss aus:
20 Jahre nach Herstellung der Einheit ist es an der
Zeit, Regelungen zu treffen, die den sozialen Frieden zwischen Ost und West befördern. Dazu gehört
unabdingbar auch die Angleichung des Rentenwerts Ost an West …
Wenn man über die Rente in Ost und West redet, dann
lohnt es sich, gelegentlich noch einmal darüber nachzudenken, woher wir bei diesem Thema kommen. Die
Mindestrente betrug 1983 in der DDR 270 Mark. Das
sind Almosen.
({0})
1984 gab es 300 Mark Mindestrente,
({1})
nach 45 Arbeitsjahren gab es 370 Mark. Bei einem Bruttodurchschnittslohn 1984 von 1 080 DDR-Mark erhielt
ein Rentner also ein Almosen von einem Drittel seines
letzten Bruttodurchschnittslohnes.
({2})
Wenn ich heute über Durchschnittsrenten von über
1 000 Euro rede, dann wird deutlich, dass dies die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit, der Erfolg der
letzten zwei Jahrzehnte ist.
({3})
Neben der Rente für die Masse der Beschäftigten in
der DDR gab es 63 Zusatzversorgungssysteme und vier
Sonderversorgungssysteme. In diesen 63 Zusatz- bzw.
vier Sonderversorgungssystemen wurde das Rentenniveau dann auf 90 Prozent bis 100 Prozent des letzten
Nettolohnes angehoben. Es ist aber ganz bemerkenswert,
für wen das galt: Es gab vier Sonderversorgungssysteme
für die Nationale Volksarmee, für die Volkspolizei, für
die Zollverwaltung und für das MfS. Zusatzversorgungssysteme gab es für die technische Intelligenz, für hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparates usw.
Meine Damen und Herren von den Linken, besonders
pervers war die Einführung der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung 1971. Man merkte, dass die normale
Rente so niedrig war, dass sie im Alter nicht mehr zum
Leben reichte. Wer dann mehr Rente haben wollte im
real existierenden Sozialismus, der musste sich privat
zusätzlich versichern. Das muss man sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen.
Viele haben außerdem vergessen, wie es chronisch
Kranken ergangen ist. Sie hatten einen gesetzlichen
Krankengeldanspruch von 300 DDR-Mark ab der siebten Krankheitswoche, wenn sie nicht freiwillig zusatzversichert waren. Lassen Sie sich bitte einmal auf der
Zunge zergehen, was das zu DDR-Zeiten für chronisch
Kranke bedeutet hat.
Bereits an diesen wenigen Beispielen wird der Unterschied zwischen dem werteorientierten System der sozialen Marktwirtschaft und dem ideologiebehafteten System des Sozialismus deutlich. Das ist ein Kernpunkt.
({4})
Die Rentengeschichte der letzten zwei Jahrzehnte ist
mehr als eine Erfolgsstory. Aus meiner Sicht haben wir
viel zu wenig kommuniziert, dass wir die ostdeutschen
Löhne auf den Durchschnittslohn West angehoben haben.
Wir haben 1990 mit dem Faktor 3 begonnen und sind
heute bei einer Aufwertung um knapp 19 Prozent. Beispielsweise bekommt heute ein Arbeitnehmer in Rostock,
der 10 Euro brutto verdient, eine Aufwertung von
1,90 Euro und erhält das Rentenwertäquivalent eines
Bruttolohns von 11,90 Euro, obwohl er nur einen Rentenbeitrag für 10 Euro bezahlt. Dieses haben viele aus dem
Blick verloren, wenn sie leichtfertig darüber reden, dass
wir den Rentenwert Ost an West angleichen müssen.
({5})
Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften solche Vereinbarungen schließen, wie in den letzten Wochen zum
Beispiel für den Bereich der Zeitarbeit - branchenbezogener Mindestlohn Ost: 6,89 Euro, branchenbezogener
Mindestlohn West: 7,79 Euro, Differenz: 90 Cent -,
kann man aus Sicht der Arbeitgeber vielleicht sagen: Dafür habe ich Verständnis. Aus Sicht der Gewerkschaften
muss man aber sagen: Dafür habe ich überhaupt kein
Verständnis. Ich habe gar kein Verständnis dafür, dass
diese Schere in 2013 nicht deutlich, sondern lediglich
geringfügig zusammengeht. Dann sinkt die Differenz
von 90 Cent auf 79 Cent. Das heißt, solange zwischen
Arbeitgebern und Gewerkschaften keine in Ost und West
gleichen branchenspezifischen Mindestlöhne vereinbart
werden, brauchen wir uns des ganzen Komplexes Rentenwert Ost/West bzw. Aufwertung der Löhne erst gar
nicht anzunehmen.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, weil immer
wieder beklagt wird, dass keine Rentengerechtigkeit hergestellt wurde. Die Punkte, die Sie in Ihren 19 Anträgen
anführen, haben aus meiner Sicht nichts im Rentenrecht
zu suchen. Allein zwischen 2001 und 2010 haben Bund
und Länder rund 34 Milliarden Euro in die Abgeltung
der Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorungssystemen stecken müssen. Pro Jahr sind das etwa 4 Milliarden Euro; das müssen Sie sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen. Angesichts dieser Tatsache können
Sie von den Linken nicht sagen, dass für die Beschäftigten in der DDR keine Rentengerechtigkeit hergestellt wurde.
({6})
Lassen Sie mich auch noch anmerken, dass die Zahlen
frappierend sind. Rentenentgeltpunkte ≥ 1 - Durchschnittslohn oder mehr - haben im Jahr 2009 55 Prozent der Männer im Westen, 50 Prozent der Männer im Osten, 16 Prozent der Frauen im Westen und 14,4 Prozent der Frauen
im Osten erworben. Das Beeindruckende ist für mich
- das ist für mich ein Maßstab für Gerechtigkeit -, dass im
Osten 38 Prozent der Männer und Frauen zusammen eine
Monatsrente ≥ 1 050 Euro erreicht haben. Im Westen sind
das nur 32 Prozent. Wenn jemand sagt, dass die Rentnerinnen und Rentner im Osten, gleich ob Bestands- oder
Zugangsrentner, benachteiligt werden, muss ich sagen:
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Den Rentnern
aus dem Osten ist mehr als Gerechtigkeit und Solidarität
widerfahren. Die Überleitung in das Rentensystem ist eine
Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit. Meine Damen
und Herren von der Linken, das lassen wir uns von Ihnen
nicht kaputt- und auch nicht kleinreden.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort der Kollegin Silvia Schmidt für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Rehberg, ich
habe eine Korrekturanmerkung: Die männlichen Zugangsrentner im Osten haben seit 2008 5 Euro weniger
als die Zugangsrentner West. Die Schere geht auch in
diesem Bereich immer weiter auseinander.
Als Willy Brandt gesagt hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, waren wir alle, glaube ich,
voller Freude. Wir wussten aber auch, dass das ein langer und schwieriger Weg wird, dass das eine Herausforderung für unser Land ist. Gerade das Rentenüberleitungsgesetz ist - ich glaube, darin sind wir uns alle einig eine einmalige historische Leistung. Das war ein großer
Erfolg. Das können wir alle hier feststellen.
({0})
Dieser Prozess des Zusammenwachsens ist aber noch
nicht beendet, weder gesellschaftlich noch konkret im
Rentenrecht. Deshalb ist eine Angleichung der Rentensysteme, die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und
FDP versprochen wurde, eine wichtige, aber bestimmt
keine einfache Herausforderung. In der letzten Legislaturperiode haben auch wir das versucht. Das haben wir
gesagt, und natürlich sind wir das auch angegangen. Da
dieses große, schwierige und komplexe Thema aber
nicht so leicht zu stemmen ist, sind wir keinen großen
Schritt weitergekommen.
Es gibt Fragen, die wir sehr schnell klären können.
Ich könnte mir vorstellen, dass Kindererziehungszeiten
im Osten wie im Westen gleich bewertet werden. Im
Westen führen sie zu einem monatlichen Zahlbetrag in
Höhe von 27,30 Euro, in den neuen Bundesländern zu
einem monatlichen Zahlbetrag von 24,13 Euro. Die
Wehrpflichtzeiten führen zu einem monatlichen Zahlbetrag von im Osten ungefähr 12 Euro, im Westen 15 Euro.
Dieser Unterschied ist gesellschaftspolitisch nicht mehr
zu halten; denn diese Lebensphasen sind in Ost wie West
eigentlich identisch. Hier könnten wir sehr schnell einschreiten.
Die Väter des deutschen Einigungsvertrages sind von
einer weitaus schnelleren Angleichung der Lebensverhältnisse ausgegangen. Aber wir alle wissen: Die Angleichung vor allen Dingen der Löhne und damit auch
des Rentenwertes Ost/West ist seit einem Jahrzehnt zum
Stillstand gekommen. Es gibt regionale Unterschiede.
Einige Regionen in den neuen Bundesländern, zum Beispiel das Umfeld von Berlin, die Potsdamer Region, stehen sehr gut da. Es gibt natürlich auch Regionen in den
alten Bundesländern, die schlecht dastehen, zum Beispiel das Saarland. Das alles ist uns bekannt.
Trotzdem liegen die Löhne in den neuen Bundesländern durchschnittlich 20 Prozent unterhalb der Löhne in
den alten Bundesländern. Das muss man einfach zur
Kenntnis nehmen. 40 Prozent der Ostdeutschen arbeiten
im Niedriglohnbereich. Niedriglohnbereich bedeutet:
Trotz Arbeit leben sie an der Armutsgrenze. Auch das ist
ein Tatbestand. Im Land Sachsen-Anhalt existieren
34 Tarifverträge, die einen Bruttolohn von weniger als
7,50 Euro vorsehen. Das heißt, die Erwerbstätigen in
Sachsen-Anhalt und auch in Mecklenburg-Vorpommern
arbeiten teilweise zu einem Hungerlohn. Da ist die Altersarmut im Grunde vorprogrammiert. Das heißt, wir
brauchen hier einen gesetzlichen Mindestlohn, was übrigens unter anderem auch Jens Bullerjahn, der stellvertretende Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, eindeutig
fordert.
({1})
Die Anträge der Fraktion Die Linke werden regelmäßig zu den Wahlkämpfen eingereicht,
({2})
und Sie lassen namentlich über diese Anträge abstimmen; das ist natürlich legitim. Diese Anträge zeigen aber
auch deutlich Ihren Populismus und eine gewisse Häme.
({3})
Ich habe deutlich gemacht: Es ist kein leicht zu lösendes
Problem, es ist ein komplexer Tatbestand. Wir alle wissen, dass das für die Bürger teilweise nicht nachvollziehbar ist. Wir dürfen auch den Anspruch der Solidarität für
die Rentnerinnen und Rentner in den alten Bundesländern nicht vergessen.
({4})
Niemand wird Anträgen zustimmen, durch die die damals Staatsnahen begünstigt werden sollen. Das wäre
eine Missachtung der DDR-Flüchtlinge.
({5})
Das kann man mit aller Sachlichkeit feststellen. Manche
Flüchtlinge haben ihr Leben geopfert, andere sind unter
schweren Repressalien in die alten Bundesländer geflüchtet. Das war kein Spaziergang, und das war auch
keine freiwillige Übersiedlung. Auch das sollten Sie zur
Kenntnis nehmen.
({6})
Noch zu einer Tatsache - es ist vorhin schon angesprochen worden -, die man vielleicht am persönlichen
Bereich darstellen kann. Die Mindestrente lag bis 1983
bei ungefähr 165 Mark Ost. Man sagt: Etwa 30 Mark
Miete mussten gezahlt werden, mehr Kosten habe es
Silvia Schmidt ({7})
nicht gegeben. Nein, das war nicht so. Wenn Sie auf dem
Land gewohnt haben, mussten Sie Kohlen dazukaufen.
Energie, Wasser usw., das alles musste bezahlt werden.
Jeder Rentner, der noch krauchen konnte - das sage ich
so bitterböse -, hatte noch einen kleinen Garten, damit er
zusätzliche Lebensmittel hatte; denn der Konsum war
auch nicht gerade voll.
({8})
Das muss man sagen; ich kenne das zum Beispiel von
meinen Großeltern. Wir haben dort gelebt. Damit will
ich nichts verklären.
Durch die Beitragsbemessungsgrenze von 600 Mark
sollten höhere Renten vermieden werden. Glauben Sie
tatsächlich, dass viele Ostrentner dieses Problem nicht
sehen? Sie haben hart gearbeitet, 35 bis 45 Jahre eingezahlt, aber sie konnten nicht mehr erreichen.
Festzuhalten ist, dass die DDR besonders in der Industrie die Menschen rigoros ausgebeutet hat. Viele in
meinem eigenen Wahlkreis, im Mansfelder Land
- Stichworte: Kupfer- und Silberhütte -, leiden noch
heute unter den schrecklichen Umwelt- und Gesundheitsbedingungen der DDR-Wirtschaft. Ich komme aus
dem Gesundheitswesen. Ich weiß, wovon ich spreche.
Wir werden uns heute aus Sympathie für einige Personengruppen mit bestimmten Härtefällen enthalten.
({9})
Dabei geht es um die Personengruppe im Gesundheitswesen, die helfenden Familienmitglieder, zum Beispiel
in der Landwirtschaft, die Balletttänzer, die Bergleute
- in der Carbochemie wird es hoffentlich demnächst
eine Einigung geben -, die pflegenden Familienangehörigen usw. Diese Probleme sind aber nicht rentensystematisch bedingt. Diese Probleme sind einheitsbedingt.
Das muss jeder zur Kenntnis nehmen.
Mit Zusatzversorgungen und Sondersystemen erkaufte man sich die politische Gefolgschaft bestimmter
Gruppen; das wurde vorhin schon angesprochen. Sie
wurden ungefähr 1970 eingeführt. Sie bilden ein komplexes Geflecht. Kaum jemand durchblickt es noch, aber
jeder hat einen eigenen Anspruch.
Dem mittleren medizinischen Personal wurden mit
der 1,5-Regelung, dem Steigerungsbetrag von 1,5 bei
der Altersversorgung, Versprechungen gemacht.
({10})
Ich selber komme aus dem Gesundheitsbereich. Ich
weiß, was man mir gesagt hat. Ich weiß auch, wie hoch
mein Lohn war. Das alles waren Versprechungen. Niemand wird doch behaupten, dass die DDR diesen Versprechungen nachgekommen wäre. Man hatte nämlich
gar kein Geld dafür, diese sogenannten Sondersysteme
zu bedienen.
({11})
Wir wissen: Rentnerinnen und Rentner haben Anspruch auf die Anerkennung ihrer Arbeitsleistung, unabhängig von staatlichen Systemen und unabhängig davon,
wo sie gelebt und gearbeitet haben. Wir wissen auch
ganz genau: Es dürfen keine neuen Ungerechtigkeiten
entstehen, zum Beispiel bei den pflegenden Angehörigen. Auch wenn es seit 1996 die Pflegeversicherung
gibt, existieren auch hier Härtefälle. Was die Geschiedenen betrifft, würden wir sehr gern dem Antrag der Grünen folgen. Eine Bundesratsinitiative und eine gemeinsame Lösung sind wichtig.
Es liegen viele Vorschläge, die geprüft werden müssen, auf dem Tisch. Wir reichen diese Vorschläge an die
Alterssicherungskommission im Willy-Brandt-Haus
weiter. Wir werden mit den betroffenen Personengruppen reden.
({12})
Wir werden alle Probleme noch einmal aufgreifen. Wir
fordern ein Mindesteinkommen, das heißt einen Mindestlohn, der gesetzlich festgeschrieben wird. Wir fordern auch eine Rente nach Mindesteinkommen, damit
die Lebensarbeitszeit gewürdigt wird.
({13})
Im Rahmen eines Rentenüberleitungsabschlussgesetzes,
das wir schon in der letzten Legislaturperiode in Angriff
genommen haben, wollen wir diese ungelösten Fragen
aufgreifen.
Wir fordern eine Härtefallregelung und einen Fonds,
für den jährlich ungefähr 500 Millionen Euro zur Verfügung stehen; wir werden hierfür ein Konzept erarbeiten.
({14})
Wir fordern die Vollendung der sozialen Einheit
Deutschlands durch rentensystematische Angleichungen. Wir fordern Maßnahmen, die Altersarmut verhindern, und, wie bereits erwähnt, einen gesetzlichen
Mindestlohn. Wir fordern eine Höherbewertung beschäftigungsloser Zeiten und geringer Verdienste ab sofort
und rückwirkend, und das für das gesamte Bundesgebiet.
Ich glaube, wenn wir gemeinsam über diese Fragen
diskutieren, können wir im Hinblick auf Härtefälle vernünftige Lösungen finden. Das ist nicht ganz einfach,
sondern relativ kompliziert. Das können wir aber nur gemeinsam schaffen. Populismus ist hier fehl am Platz.
({15})
Ich sage noch einmal: Es ist schwierig, dieses komplexe
System zu durchschauen. Aber all die Rentner und Rentnerinnen, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt, haben unsere Solidarität verdient.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren dieses Thema heute nicht zum ersten Mal
und, wie ich vermute, auch nicht zum letzten Mal.
({0})
Ich halte es für notwendig, in meinem Debattenbeitrag
zu diesem Thema immer zunächst darauf hinzuweisen,
dass die Überführung des Rentenrechts der DDR in das
SGB VI eine große und herausragende Leistung der Politik und der Mitarbeiter der Deutschen Rentenversicherung war. Das war einmalig und ist - das kann man so
festhalten - im Großen und Ganzen gelungen.
Es ist nicht überraschend, dass bei einem so großen
Projekt nicht jedes Anliegen zu jedermanns Zufriedenheit erfüllt werden konnte. Insofern steht das Rentenrecht vielleicht auch stellvertretend für das gesamte Projekt deutsche Einheit.
Die Linke legt zu diesem Thema regelmäßig - und
auch regelmäßig unveränderte - Anträge vor.
({1})
- Das müssen dann aber marginale Unterschiede sein.
Aber Herr Gysi wird bestimmt gleich erläutern, wo die
großen Fortschritte in Ihren Anträgen sind.
({2})
Ich glaube, insgesamt gesehen kann man sagen: Das ist
das alte Muster, das da durchscheint, auch bei den jetzt
vorgelegten Anträgen.
({3})
Sie bleiben hartnäckig bei Ihren Lösungsvorschlägen,
obwohl in den letzten Jahren in Anhörungen und Ausschussdiskussionen mehrfach nachgewiesen worden ist,
dass sie falsch sind. Wir hatten dem schon in 2008 einen
kreativen Vorschlag entgegengestellt, und zwar wollten
wir ein Nachversicherungsangebot unterbreiten, was
systemgerecht gewesen wäre und immer noch ist, neue
Ungerechtigkeiten vermeidet und allen Betroffenen die
Chance gibt, ihre Situation zu verbessern.
({4})
Ähnliches hat sich bewährt, als 1992 die Rentenberechnung nach Angestelltenversicherungsgesetz in das
SGB VI überführt worden ist. Wo unsere Vorschläge
systemgerecht und überzeugend sind, liegen die Schwächen Ihrer Anträge: Sie schaffen neue Ausnahmetatbestände, neue Ungerechtigkeiten und Systemwidrigkeiten.
Ich weise noch einmal darauf hin: Im Mai 2009 gab
es in der Anhörung ein klares Ergebnis. Die Sachverständigen empfahlen keine Korrektur der geltenden Gesetze. Sie machten deutlich, dass jede Nachjustierung zu
neuen Ungleichbehandlungen - also zu Ungerechtigkeiten - führt. Betroffene dürfen nicht bessergestellt werden
als vergleichbare Rentner in den alten Bundesländern.
({5})
Betroffene dürfen auch nicht bessergestellt werden als
andere Versicherte in den neuen Bundesländern. Diese
beiden Maximen spielen für uns eine wichtige Rolle.
({6})
Wir haben nun einmal die paradoxe Situation, dass
ein Teil der Betroffenen fordert, das frühere DDR-Recht
nicht mehr wirken zu lassen, und ein anderer Teil fordert, dass die Ansprüche nach dem früheren Recht komplett anerkannt werden. Diesen Gegensatz kann man einfach nicht auflösen; das leisten auch Ihre Anträge nicht.
Was mich stört an Ihrem Antragskonvolut, an diesem
Paket, ist, dass Sie versuchen, uns neben 18 anderen
Gruppen mal eben auch Angehörige des Ministeriums
für Staatssicherheit und des Amtes für Nationale Sicherheit der DDR unterzuschieben. Wir bleiben dabei: Für
MfS-Angehörige darf nicht mehr als das frühere Durchschnittsentgelt für die Rentenberechnung angesetzt werden. Diese Entscheidung haben wir getroffen, und sie ist
ausdrücklich und mehrfach vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Das will ich hier sehr deutlich sagen.
({7})
Sie machen es sich zu einfach. Sie listen alle denkbaren Gruppen Betroffener auf und vermischen dabei Privilegierte, auch Verantwortliche aus DDR-Zeiten mit
Menschen, die ganz einfach - ich sage es einfach einmal
so - Pech mit ihrem DDR-Schicksal hatten.
({8})
Sie versuchen, sich als Fürsprecher aller möglichen
Gruppen aufzuspielen, die sich benachteiligt fühlen
könnten. Aber dabei übersehen Sie Folgendes: Teil der
Gerechtigkeit, in die auch alle anderen einbezogen werden müssen, ist, auch die Situation und Befindlichkeit
derjenigen zu berücksichtigen, die für Ihre großzügigen
Lösungsvorschläge am Ende mitbezahlen sollen und
müssen.
Ich will hier festhalten: Ohne deutsche Einheit und
Anpassung des Rentenrechts hätte kein DDR-Rentner
auch nur annähernd den Lebensstandard erreichen können, den er heute hat.
({9})
Dazu fehlen angemessene Worte Ihrerseits. Vielleicht,
Herr Gysi, ringen Sie sich in Ihrer jetzt folgenden Rede
dazu durch.
({10})
Stattdessen erinnert Frau Bunge im Dezember bei der
letzten Debatte und auch heute wieder per Zwischenruf
an die 30 Mark Miete für eine DDR-Zweiraumwohnung.
Frau Bunge, man muss doch sehen, wie das damals in
Leipzig war!
({11})
Da sind Wohnungen „freigewohnt“ worden - das Wort
kennt man in den alten Bundesländern gar nicht. Das
heißt, man ist aus der nassen Dachgeschosswohnung
eine Etage tiefer gezogen, weil es da gerade noch trocken war. So war das doch damals!
({12})
Wie war denn die Versorgung mit Obst und Gemüse für
Rentner? Wie war es denn, wenn man freitags um
18 Uhr im HO-Laden noch ein viertel Pfund Bauchfleisch haben wollte? Das war damals einfach nicht verfügbar.
({13})
Das sind die Unterschiede im Vergleich zu heute. Heute
können sich Rentner auch in den neuen Bundesländern
all das leisten.
({14})
Und wo Sie sich schon so viel Mühe gemacht haben,
Herr Gysi, für alle Gruppen, die Ihnen eingefallen sind,
Anträge zu schreiben: Wo ist Ihr Antrag, das DDR-Unrecht an den Flüchtlingen, sofern sie ihre Flucht überlebt
haben, wiedergutzumachen? Da ist Fehlanzeige bei Ihnen, und das ist nicht in Ordnung!
({15})
Stattdessen brandmarken Sie das Rentenrecht als „Rentenstrafrecht“, weil es Privilegien für SED- und Stasibonzen beschränkt. Was ist denn das für ein Weltbild,
das hinter Ihren Anträgen steht, meine Damen und Herren?
({16})
Wir bleiben bei unserem Vorschlag zum Nachversicherungsangebot. Wir glauben, dass eine Nachversicherung auf freiwilligem Weg die richtige Lösung ist. Sie
bietet die Chance, nicht in das SGB VI übertragene oder
aus anderen Gründen ausgeschlossene Rentenansprüche
geltend zu machen. Ich wiederhole: Die Höhe der Beitragsentrichtung ist an dem auszurichten, was zu DDRZeiten zur Erlangung eines vergleichbaren Anspruchs
hätte aufgewendet werden müssen. Diese Lösung vermeidet Willkür und erreicht größtmögliche Gerechtigkeit.
({17})
Weil das auch in anderen Redebeiträgen betont
wurde, will ich zum Schluss sagen: Neben den heute hier
vorliegenden Fragen sehe ich auch die Angleichung des
Rentenrechts Ost an das Rentenrecht West als eine große
Herausforderung an. In dem Koalitionsvertrag ist dies
für diese Wahlperiode zugesichert. Deswegen machen
wir uns in diesem Jahr ernsthaft an die Arbeit.
({18})
- Herr Strengmann-Kuhn, Sie wissen: Im letzten Jahr
waren wir sehr damit beschäftigt, Baustellen aus der rotgrünen Ära abzubauen: durch die Jobcenterreform,
durch die Reform in Bezug auf die Hartz-IV-Regelsätze.
Das haben wir in dieser Woche abgeschlossen. Jetzt gehen wir an neue Baustellen heran. Das werden wir tun,
und zwar gerne, und wir hoffen auf Ihre Mitarbeit.
Einstweilen bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir müssen uns erst einmal darüber verständigen, worüber wir
hier reden und um welche Anträge es geht.
({0})
Sie haben hinsichtlich der Flüchtlinge ja völlig recht.
Wir haben auch mit ihnen gesprochen. Sie wollen gerne,
dass alle drei Oppositionsfraktionen gemeinsam einen
Antrag für sie stellen, um nicht in irgendeiner Form vereinnahmt zu werden.
In Bezug auf die Verfolgten in der DDR haben Sie
auch recht. Wir haben aber immer weiter gehende Anträge gestellt, als Sie je beschlossen haben - gerade für
die Verfolgten in der DDR. Das ist die Wahrheit, die Sie
nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
({1})
Ferner versuchen Sie auf eine polemische Art und
Weise, gegen die Rentnerinnen und Rentner aus dem OsDr. Gregor Gysi
ten zu polemisieren. Das können wir nicht im Geringsten
akzeptieren.
({2})
Ich sage Ihnen: Es ist und bleibt ein Verhängnis, dass es
20 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit noch
immer keine gleichen Renten für gleiche Lebensleistungen in Ost und West gibt.
Natürlich brauchen wir eine Angleichung der Rentenwerte, werter Herr Rehberg, und zusätzlich eine Höherbewertung der Einkommen im Osten, solange für dieselbe Arbeit in längerer Arbeitszeit weniger verdient
wird als im Westen. Das akzeptieren auch alle Menschen
in den alten Bundesländern.
({3})
Im Übrigen hat die Bild-Zeitung immer völlig unrecht, wenn sie sagt, die gesetzliche Durchschnittsrente
im Osten liege höher als im Westen.
Erstens wird ein Ehepaar betrachtet und vergessen, zu
erwähnen, dass die meisten Frauen in der DDR berufstätig waren, während viele Frauen in der alten Bundesrepublik - gerade ältere - nicht berufstätig waren. Es
macht eben einen Unterschied, ob man zwei Renten oder
nur eine Rente hat.
({4})
Zweitens. Sie erwähnen nicht, dass es im Osten keine
Pensionen gibt. Ein Professor für Gerichtsmedizin bezieht im Westen immer eine Pension, im Osten aber eine
gesetzliche Rente. Natürlich ist sie höher als andere Renten. Deshalb ist der Vergleich des Durchschnitts völlig
absurd. Das passt überhaupt nicht.
({5})
Es wird auch vergessen, zu erwähnen, dass alle Betriebsrenten im Osten gestrichen worden sind, während
es sie im Westen noch gibt. Außerdem gab es im Westen
Lebensversicherungen, mit denen man für das Alter ein
gewisses Vermögen ansparen kann. Solche Regelungen
gab es in der DDR gar nicht.
({6})
- Ja, natürlich. Bestreite ich, dass das ein Nachteil ist? Deshalb leben die Rentnerinnen und Rentner im Osten
alleine von gesetzlichen Renten. Das nehmen Sie bis
heute nicht zur Kenntnis.
({7})
Herr Kolb, Sie haben ja gerade geredet, und ich muss Ihnen sagen: Ich muss Sie irgendwann einmal zum Essen
einladen, um Ihnen den Osten zu erklären. Sie haben
wirklich überhaupt keine Ahnung. Ich lade Sie großzügig ein.
({8})
Jetzt komme ich zu den einzelnen Anträgen.
Die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen
in der DDR haben für ihre besonders schwere körperliche und psychische Belastung einen höheren Satz für
ihre Renten zuerkannt bekommen, weil ihr Verdienst
viel zu niedrig war. Warum erkennen Sie diesen Zusatzanspruch der Betroffenen bis heute nicht an? Es gibt
keine Erklärung dafür. Sie hatten einen höheren Rentenspruch. Der ist aberkannt worden.
Die geschiedenen Frauen bekamen in der DDR keinen Versorgungsausgleich. Die Bundesregierung erklärt
uns, man habe nach Lösungen gesucht und keine gefunden.
({9})
Wir haben einen Antrag vorgelegt, der zwei Varianten
enthält, wie man diesen geschiedenen Frauen rechtlich
sauber entgegenkommen kann. Sie sagen dazu nur Nein.
Warum? Erklären Sie das den geschiedenen Frauen im
Osten!
({10})
Wir haben einen Antrag zu den Balletttänzerinnen
und Balletttänzern vorgelegt. Sie bekamen eine berufsbezogene Zuwendung bei der Rente. Diese ist zum
1. Januar 1992 von Ihnen ersatzlos gestrichen worden.
Warum? Erklären Sie das den relativ wenigen Balletttänzerinnen und Balletttänzern!
Herr Kollege Gysi, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schaaf?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Gysi, ich will Ihren Redefluss ungern
unterbrechen. Aber wenn Sie Personengruppen in der
DDR nennen und sagen: „Da brauchen wir eine Lösung“, dann kann es durchaus sein, dass das auch Wechselwirkungen für den Westen hat. Was die Geschiedenen
angeht, gab es vor 1977 auch in der BRD keinen Versorgungsausgleich.
({0})
Wenn Sie jetzt einen fiktiven Versorgungsausgleich für
Geschiedene in der DDR fordern, meinen Sie dann auch,
dass es einen fiktiven Versorgungsausgleich für Geschiedene in der BRD vor 1977 geben muss? Nur dann wäre
es gerecht. Alles andere wäre völlig ungerecht und einseitig.
Dazu müssten Sie sich bekennen und auch sagen, wer
den fiktiven Versorgungsausgleich bezahlen soll, den Sie
fordern. Vielleicht die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, die damit nun wirklich nichts zu tun haben? Wer
soll das, was Sie fordern, bezahlen?
({1})
Hier kriegt man schon für die Frage Beifall. Ich
dachte, den gibt es für die Antwort.
({0})
Warten Sie doch ab! Ich wollte dazu noch Folgendes
sagen:
Erstens können wir uns darauf verständigen, dass es
auch für die entsprechenden Personengruppen aus den
alten Bundesländern einen Ausgleich geben muss. Heute
geht es um einen Antrag, der den Osten betrifft.
Zweitens soll das Vorhaben nicht aus Beiträgen, sondern aus Steuern finanziert werden.
({1})
- Ja, warten Sie ab. Wenn wir in Deutschland nur den
Steuerdurchschnitt der 15 alten EU-Mitgliedsländer erreichen würden, dann hätten wir jährlich Mehreinnahmen von 120 Milliarden Euro. Davon wäre das alles
finanzierbar.
({2})
Jetzt komme ich zu einer weiteren Gruppe, nämlich
zu den 500 Bergleuten der Braunkohleveredlung in
Borna/Espenhain, die derartig schwere gesundheitliche
Belastungen hatten, dass sie einen Rentenanspruch wie
Bergleute unter Tage erwarben. Das ist von Ihnen aberkannt worden. Warum? Erklären Sie das diesen
500 Menschen!
({3})
Wer in der DDR Angehörige pflegte und dafür Pflegegeld erhielt, erwarb dafür Rentenanwartschaften.
Diese haben Sie bis zum 31. Dezember 1996 anerkannt.
Diejenigen, die danach in Rente gegangen sind, bekommen dafür nichts mehr. Erklären Sie jemandem, der im
Dezember 1996 in Rente gegangen ist, dass er anders als
derjenige, der im Januar 1997 in Rente gegangen ist, dafür eine Rente bekommt! Das ist indiskutabel.
({4})
Davon sind, um zu einer weiteren Kritik zu kommen,
auch die Eltern von impfgeschädigten Kindern betroffen,
die ihre Kinder jahrelang gepflegt haben und Rentenanwartschaften erwarben, die Sie nicht mehr anerkennen,
und zwar im Unterschied zu Westdeutschen, bei denen
diese Zeiten anerkannt werden.
In der DDR gab es bis 1961 private Land- und Forstwirte. Es gab immer private Handwerker und andere
Selbstständige sowie deren mithelfende Familienangehörige. Sie unterlagen in der DDR nicht immer einer
Versicherungspflicht, erwarben aber auch in diesen Zeiten einen Rentenanspruch. Nach 1990 wurden die Zeiten
ihrer Selbstständigkeit weiterhin rentenwirksam anerkannt, und zwar wiederum bis zum 31. Dezember 1996.
Wer aber etwas jünger war und danach in Rente ging,
bekam für die Zeit als Selbstständiger oder als mithelfende Ehefrau keine Rente mehr zuerkannt.
Wozu gibt es eigentlich die FDP, wenn Sie sich nicht
einmal mehr um die privaten Handwerker und deren
Ehefrauen kümmern? Das alles muss die Linke machen,
weil Sie nicht einmal diese Art der Interessenvertretung
organisieren.
({5})
Es gab Personen, die auf dem zweiten Bildungsweg
oder mit längeren Studiengängen verlängerte Ausbildungszeiten hatten. Das galt auch für die Spitzensportler.
Diese verlängerten Ausbildungszeiten wurden rentenwirksam anerkannt. Sie haben auch das anerkannt, wiederum bis zum 31. Dezember 1996. Wer danach in Rente
ging, bekam die verlängerten Ausbildungszeiten nicht
mehr anerkannt. Warum bestrafen Sie immer die Jüngeren? Ich kann das nicht nachvollziehen.
Ins Ausland mitgereiste Ehepartnerinnen und Ehepartner von dort Berufstätigen, die selbst nicht beruflich
tätig waren, erwarben dennoch Rentenansprüche. Auch
diese Ansprüche haben Sie für Personen anerkannt, die
bis zum 31. Dezember 1996 in Rente gingen. Denjenigen, die danach in Rente gingen, haben Sie die Anerkennung versagt. Wieder eine Bestrafung der Jüngeren ohne
jede Erklärung.
({6})
Dann gab es Versicherte in der DDR, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrachen, zum Beispiel wegen Kindererziehung. Es handelt sich dabei überwiegend um
Hausfrauen und nur um ganz wenige Hausmänner. Diese
konnten in dieser Zeit „Marken kleben“. Deshalb erwarben sie weiterhin Anwartschaften auf Rente. Das haben
Sie einfach gestrichen. Warum? Erklären Sie doch einmal den Hausfrauen, die jahrelang „Marken geklebt“ haben, warum Sie ihnen diese Jahre nicht anerkennen und
das einfach gestrichen haben! Das ist nicht nachvollziehbar. Das ist grob ungerecht. Die meisten Betroffenen erhalten heute Grundsicherung.
({7})
- Auch Sie haben wirklich keine Ahnung. Aber Sie lade
ich nicht zusätzlich zum Essen ein. Einer reicht mir.
({8})
Kommen wir zum Versorgungsunrecht. In der DDR
gab es - damit haben Sie recht - Zusatzversorgungen für
wissenschaftliche, pädagogische, medizinische, technische und künstlerische Intelligenz sowie im öffentlichen
Dienst. Außerdem gab es Sonderversorgungssysteme für
sämtliche Sicherheitsorgane, Armee, Polizei, Staatssicherheit etc. Die hier erworbenen Ansprüche wurden
zu großen Teilen nicht mehr anerkannt. Warum richten
Sie nicht wenigstens ein befristetes Versorgungssystem
sui generis ein, das die Ansprüche aus der Zusatzversorgung der DDR wenigstens einigermaßen wahrt?
Für solche Personen, die einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem der DDR angehörten, werden die
Ansprüche bis zum 30. Juni 1995 nur unvollständig,
aber immerhin teilweise anerkannt. Wer allerdings danach in Rente ging, bekommt aus diesem System gar
nichts mehr. Erklären Sie den Jüngeren, warum die einen
schlimmere Verbrecher sind als die anderen! Das können
Sie doch auch nicht erklären. Bloß weil jemand ein Jahr
jünger ist, bekommt er gar nichts mehr aus dem Sonderversorgungssystem, ganz abgesehen davon, dass es sowieso falsch ist, Biografien bei der Rente zu bewerten.
({9})
Aber weshalb versagen Sie diesem Personenkreis bis
heute den Vertrauensschutz?
Dann gab es Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn,
die eine spezielle Altersversorgung hatten. Diese galt
- das ist interessant - von 1856 bis 1945. Sie wurde
dann von den Sowjets ausgesetzt und 1956 wieder eingeführt. Sie haben das bis 1996 anerkannt. Wer aber ab
1997 in Rente ging, dem wird das nicht mehr anerkannt.
Erklären Sie das den Reichsbahnerinnen und Reichsbahnern!
({10})
Eine ähnliche Regelung gilt für die Angehörigen der
Deutschen Post. Dort haben Sie dieselbe Entscheidung
getroffen.
Dann gibt es Professorinnen und Professoren neuen
Rechts, Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Dienst sowie Beschäftigte in universitären und wissenschaftlichen
Einrichtungen. Sie erhalten wesentlich geringere Altersbezüge als ihre Kolleginnen und Kollegen in den alten
Bundesländern. Besonders benachteiligt sind diejenigen,
die zwischen 1995 und 2005 in Rente gingen. Die Ursache sind verspätete Verbeamtung und Aufnahme in die
Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder. Warum
behandeln Sie diese Personen nicht nach dem seit 1990
geltenden Recht? Sie hätten sie von Anfang an in die Altersvorsorge einbeziehen müssen.
Auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in
der DDR, die nach 1990 ihre Tätigkeiten im öffentlichen
Dienst fortsetzen konnten, die Sie also übernommen haben, sind in ihrer Altersversorgung schlechter gestellt,
weil auch bei ihnen die Verbeamtung und die Aufnahme
in die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder
erst 1997 erfolgten. Weshalb verschließen Sie sich bis
heute einer Regelung, die die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes schon ab 1990 vollständig in die schon damals geltende Altersversorgung einbezieht?
Dann gibt es Angehörige der Bundeswehr, des Zolls
und der Polizei, die ihre Tätigkeit nach 1990 fortsetzten,
die Sie also übernommen haben. Diese sind gegenüber
ihren westdeutschen Kolleginnen und Kollegen ebenfalls schlechter gestellt, weil ihre in der DDR erworbenen Anwartschaften nicht vollständig anerkannt und berücksichtigt werden. Warum verweigern Sie hier die
Übernahme?
Des Weiteren gibt es keine einheitlichen Regelungen
für Angehörige der technischen Intelligenz. Lassen Sie
mich als Beispiel die Ingenieurinnen und Ingenieure
nennen, die zu DDR-Zeiten eine spezielle Zusatzversorgung hatten. Bis heute sind bestimmte Berufsabschlüsse
nicht anerkannt. Wenn der Betreffende Chemiker, die
Betreffende Physikerin oder der Betreffende Mathematiker war, werden die Ansprüche nicht anerkannt. Wenn
die Betreffenden in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften des Handwerks, beim Konsum oder bei der Interflug tätig waren,
bekommen sie keine Zusatzversorgung. Dann gibt es
eine Stichtagsregelung, die absurd ist. Danach muss die
Ingenieurin oder der Ingenieur bis zum 30. Juni 1990 in
einem volkseigenen Betrieb gearbeitet haben. Wenn der
Betrieb zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Volkseigentum
war, sondern schon umgewandelt war, bekommen die
Betreffenden keine Rente. Erklären Sie einer Ingenieurin
oder einem Ingenieur, weshalb sie oder er die Rente verliert, bloß weil der Betrieb nicht mehr Volkseigentum
war, sondern sich in Privatbesitz befand. Das ist geradezu absurd, selbst aus kapitalistischer Sicht, finde ich.
({11})
Herr Gysi, bedenken Sie: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Außerdem gibt es Personen mit herausgehobenen Positionen im Partei- und Staatsapparat. Sie wurden früher
nach der Einkommenshöhe beschnitten; jetzt werden sie
wegen ihrer Tätigkeit beschnitten. Ich sage noch einmal:
Strafrecht hat im Rentenrecht nichts zu suchen. Deshalb
muss das weg.
In Ihrem Koalitionsvertrag steht - damit schließe ich -:
Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein.
Wenn Sie das wirklich wollen, dann müssen Sie heute
allen Anträgen zustimmen. Eines sage ich Ihnen auch:
Es stimmt, in jeder Legislaturperiode kommen wir wieder mit diesen Anträgen. Es ist ein Glück, dass es die
Linke gibt, die diese Ungerechtigkeit immer wieder anspricht. Sie würden das nie auf die Tagesordnung setzen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Gysi, was Sie vernachlässigen, ist: Die DDR
gibt es nicht mehr.
({0})
Das System, in das eingezahlt worden ist, war nicht die
gesetzliche Rentenversicherung, sondern das DDR-Rentensystem.
({1})
Dadurch wurden keine Ansprüche in der gesetzlichen
Rentenversicherung aufgebaut. Es ist in der Tat eine
große Leistung gewesen, trotzdem die DDR-Rente in
das Gesamtrentensystem zu überführen.
({2})
Dass dies gelungen ist, liegt an der Umlagefinanzierung.
({3})
Nur durch sie war dies möglich.
({4})
Insofern kann man nicht sagen, dass jegliche Zusatzversorgung übernommen werden musste. Es war ein komplett anderes System.
Es ist klar: Wenn man zwei Systeme zusammenführt,
dann gibt es immer einzelne Fälle, in denen sich Menschen benachteiligt fühlen oder tatsächlich benachteiligt
sind. Für die Betroffenen haben wir großes Verständnis.
Es ist aber falsch, den ganzen Prozess 20 Jahre später
von vorne zu beginnen und alles neu zu überlegen. Deswegen halten wir die Generalüberholung, wie Sie sie mit
Ihren 19 Anträgen vorschlagen, für falsch.
Wir meinen aber nicht, dass man alles beiseiteschieben und dagegen stimmen sollte, wie das die Koalitionsfraktionen machen. Wir wollen vielmehr genau hinschauen. Dabei müssen nach unserem Dafürhalten vor
allen Dingen zwei Kriterien erfüllt sein:
Erstens. Die Gruppen, bei denen etwas getan werden
muss, sind besonders benachteiligt worden.
Zweitens. Es muss gewährleistet werden - darauf hat
der Kollege Schaaf in seiner Zwischenfrage schon hingewiesen -, dass keine weiteren Ungerechtigkeiten entstehen, etwa in der Form, dass Ostrentner anders als
Westrentner behandelt werden. Das heißt, es muss sich
um eine Benachteiligung gegenüber Westrentnern handeln, die gegebenenfalls ausgeglichen werden muss.
Wenn man diese beiden Kriterien zugrunde legt, kommen wir zu dem Ergebnis, dass nur bei einer sehr kleinen
Anzahl von Gruppen Bedarf besteht, nachzujustieren.
Darüber hinaus mag es einzelne Härtefälle geben. Daher
finde ich den Vorschlag der SPD, einen Härtefallfonds
einzurichten, durchaus sympathisch. Ich bin auf den entsprechenden Antrag gespannt. Gegebenenfalls kann man
ihm zustimmen. Man müsste sich die Kriterien, den Umfang und die Finanzierung genau anschauen. Dass ganze
Gruppen benachteiligt sind, ist häufig gar nicht unbedingt der Fall. Diese Behauptung ist zu grob, und es wird
alles über einen Kamm geschoren.
Es gibt tatsächlich einige wenige Gruppen, bei denen
es Nachjustierbedarf gibt. Deswegen haben wir einen
Antrag zur Verbesserung der Versorgung Geschiedener
gestellt. Wir hoffen, dass dieser Antrag eine Chance hat,
angenommen zu werden. Grundlage dieses Antrags ist
nämlich ein Beschluss des Bundesrates, in dem die Grünen bekanntlich nicht die Mehrheit haben. Der Bundesrat hat am 24. September letzten Jahres beschlossen
- ich zitiere -: Der Bundesrat bittet die Bundesregierung
nachdrücklich, eine befriedigende Lösung für die im
Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 geschiedenen
Ehegatten herbeizuführen. - Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von CDU/CSU und FDP, insbesondere die Abgeordneten aus Ostdeutschland, haben gleich die Möglichkeit, mit dafür zu sorgen, dass auch der Bundestag
die Bundesregierung auffordert, eine Lösung herbeizuführen. Wir haben den Beschluss des Bundesrates einfach kopiert und dabei lediglich das Wort „bitten“ durch
das Wort „auffordern“ ersetzt. Aber wir sagen wenigstens, woher die Kopie kommt.
({5})
- Insofern ist das kein Plagiat, sondern wir haben das
korrekt zitiert.
({6})
Um es Ihnen besonders leicht zu machen, haben wir sogar eine identische Begründung verwendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, tun Sie es Ihren Landesregierungen nach und
stimmen Sie unserem Antrag zu!
Die Partei Die Linke beschäftigt sich wieder einmal
mit der Vergangenheit, nämlich mit der Situation von
vor 20 Jahren und mit dem, was damals bei der Rentenüberleitung vielleicht schiefgelaufen ist oder nicht. Deswegen möchte ich die restlichen anderthalb Minuten
meiner Redezeit nutzen, um nach vorne zu gucken.
Im Koalitionsvertrag steht, es solle ein einheitliches
Rentenrecht geben. Ich habe gerade durch einen Zwischenruf nachgefragt, wann da endlich etwas passiert.
Sicherlich gibt es beim zuständigen Bundesministerium
eine Rentenabteilung; sie hat sich sicherlich nicht nur
mit Hartz IV befassen müssen.
({7})
Aber bisher gibt es da noch keine Initiative. Wenn in dieser Legislaturperiode tatsächlich noch etwas passieren
soll, dann wird die Zeit dafür langsam knapp; denn die
Rentenversicherung braucht für eine solch umfangreiche
Reform Zeit, um das zu implementieren.
Wir finden, dass es über 20 Jahre nach der deutschen
Einheit endlich Zeit ist, dass der Rentenwert in beiden
Landesteilen identisch ist und die Rente identisch berechnet wird. Das heißt, wir wollen ein einheitliches
Rentenrecht für Ost und West.
Wir wollen auch, dass in beiden Landesteilen der
gleiche Lohn zu einem gleichen Rentenanspruch führt.
Wir werden den Menschen in Ostdeutschland gerecht,
wenn wir sagen, ihr Lohn ist genauso viel wert wie im
Westen und nicht 20 Prozent weniger.
({8})
- Herr Birkwald, zu Ihrem Zwischenruf. Ich finde nicht,
dass man alle Ungerechtigkeiten dieser Welt im Rentenrecht lösen muss. Wir müssen in Ost und West in der Tat
zu einer gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit kommen.
Natürlich brauchen wir einen flächendeckenden Mindestlohn, der in Ost und West gleich hoch ist, um da eine
Untergrenze zu finden. So muss man an die Lösung gehen.
Sie fordern ja auch nicht, dass Frauen für ihren Lohn
höhere Rentenansprüche bekommen sollen, weil Frauen
25 Prozent weniger verdienen als Männer. Dazu sagen
wir: Wir brauchen die gleiche Bezahlung von Männern
und Frauen und keine höheren Renten für Frauen wegen
geringerer Löhne.
({9})
So muss man darangehen. Man darf nicht alles im Rentenrecht regeln.
({10})
Stattdessen wollen wir eine Untergrenze, eine Garantierente für Ost und West einführen. Jetzt sind die Renten im Osten höher. Wenn man jedoch alles zusammenzählt, sieht man: Die Einkommenssituation im Osten ist
jetzt schlechter als im Westen - anders als vor 20 Jahren,
als die Rentner im Osten die Gewinner der deutschen
Einheit waren. Mit einer solchen Garantierente schaffen
wir tatsächlich einen Schutzwall gegen künftige Altersarmut, von der der Osten besonders betroffen sein wird.
Aber Altersarmut gibt es, wie gesagt, nicht nur im Osten.
Wir sollten viel mehr gesamtdeutsch denken, als das die
Linke in ihren Anträgen tut.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Man könnte geradezu das Lied „Alle Jahre wieder“ anstimmen - wenn es nicht noch zehn Monate bis Weihnachten wären -; denn alle Jahre wieder bekommen wir
ungefähr die gleichen Anträge vorgelegt, Anträge, über
die wir schon zigmal beraten haben,
({0})
zu denen wir mehrmals Fachexperten angehört haben
und die zu einem Großteil im Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages behandelt worden sind. Es ist
schon verwunderlich, dass das Urteil der Rentenexperten
zu den vorgelegten Anträgen offensichtlich von einer
Fraktion permanent nicht zur Kenntnis genommen wird.
({1})
Ich möchte Herrn Professor Ruland, immerhin Vorsitzender des Sozialbeirats, aus dem Jahr 2009 - damals
haben wir unsere letzte Anhörung zu diesem Thema
durchgeführt - zitieren. Er hat damals festgestellt: Es hat
zu der grundsätzlichen Regelung im Rentenüberleitungsgesetz keine Alternative gegeben.
({2})
Er führt dazu weiter aus: Bei der Rentenüberleitung
mussten ja in sehr kurzer Zeit sehr verschiedene Systeme
zusammengeführt werden. Das Problem lag darin, dass
es in der damaligen Situation außerordentlich schwer
war, einen Überblick darüber zu bekommen, welche Regelungen galten und welche Sondersysteme existierten.
Man hat in dieser Zeit fast täglich neue Sondersysteme
entdeckt. Viele davon waren nicht einmal rechtlich kodifiziert, dafür gab es kein Gesetz. Im Einigungsvertrag ist
die Schließung der Sonderversorgungssysteme bis zum
Dezember 1991 festgelegt worden. Eine Regelung, die
das rückgängig machte, stünde nicht in Übereinstimmung mit dem Einigungsvertrag.
({3})
Das ist das Problem.
({4})
Mit den Anträgen, die heute wieder zur Abstimmung
gestellt werden, wird folgender Fakt vernebelt: Die Rentenüberleitung im Zuge der deutschen Einheit war, ist
und bleibt die größte sozialpolitische Solidarleistung der
Deutschen, die es je gegeben hat.
({5})
Peter Weiß ({6})
Hätten wir diese Rentenüberleitung nicht vorgenommen,
dann würde heute der größte Teil der Rentnerinnen und
Rentner im Osten Deutschlands in Armut leben. Das ist
die Wahrheit. Vor diesem Schicksal haben wir sie mit der
Rentenüberleitung bewahrt.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen kurzen
Blick in die Vergangenheit werfen:
({7})
Gerade einmal 30 bis 40 Prozent des durchschnittlichen
Arbeitseinkommens wurden in der ehemaligen DDR als
Rente ausgezahlt. Wenn wir dieses System beibehalten
hätten, könnte die Mehrheit dieser Rentnerinnen und
Rentner nicht von dem Geld existieren. Sie würden in
Altersarmut leben.
({8})
Mit der Rentenüberleitung haben wir dafür gesorgt, dass
die Rentnerinnen und Rentner in der ehemaligen DDR
im ersten Jahr der Wiedervereinigung rund 35 Prozent
einer Westrente erhielten; das war schon wesentlich
mehr als das, was ihnen in der DDR ausgezahlt worden
wäre. Mittlerweile haben wir für die Rentnerinnen und
Rentner in den neuen Bundesländern ein Rentenniveau
in Höhe von 89 Prozent einer Westrente erreicht.
Die Rentenüberleitung hat für eine Sicherheit im Alter gesorgt, die sich viele Rentnerinnen und Rentner sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu DDR-Zeiten überhaupt nicht hätten vorstellen können. Es ist
deshalb gegenüber der großartigen Solidarleistung, die
im Wesentlichen von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern erbracht wird, ungerecht, dass die Linke
jetzt verschiedene Sondersysteme aus alten DDR-Zeiten
wieder öffnen will.
Ich persönlich verstehe, dass sich diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen in der ehemaligen DDR in Form eines Sondersystems eine Leistungszusage gemacht worden ist, ungerecht behandelt fühlen,
weil sie aus diesem Sondersystem jetzt keine Leistung
erhalten. Aus Sicht dieser Menschen ist damit eine
Rechtsposition aufgegeben worden, die sie vermeintlich
hatten. Unser gesamtdeutsches Rentensystem kennt aber
aus guten Gründen keine Sonderregelungen. Unsere
Rente ist lohn- und beitragsbezogen, und das gilt für alle
Personengruppen.
({9})
Damit ist unser Rentensystem ein Rentensystem, das
Gleiches gleich behandelt. Es ist insofern gerecht, weil
nicht danach unterschieden wird, in welchem Beruf ein
Arbeitnehmer beschäftigt war. Die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rentenversicherung ist die Grundlage
der Solidarität und der Gerechtigkeit in unserem gesamtdeutschen Rentensystem.
({10})
In der Anhörung hat der Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes ausdrücklich auf einen Punkt hingewiesen, der auch schon angesprochen worden ist. Die
Frage, ob ein Bürger der ehemaligen DDR die aus einem
Sonderversorgungssystem zugesagte Leistung je eingelöst bekommen hätte, wird von den Linken klugerweise
gar nicht beantwortet. Es ist offenkundig, dass eine
bankrotte DDR den betreffenden Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern die zugesagten Leistungen nie und
nimmer als Rente hätte auszahlen können.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, die Koalition aus CDU/CSU und FDP, wollen ein gesamtdeutsches einheitliches Rentensystem. Im Gegensatz zu
dem, was der Kollege Gysi vorgetragen hat, ist zu sagen: Wer ein einheitliches, gesamtdeutsches Rentensystem will - dieses wird ja von allen Beitragszahlerinnen
und -zahlern akzeptiert, weil es gerecht ist -, der darf
Sonderversorgungssysteme und Sonderregelungen nicht
neu auflegen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ottmar Schreiner von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will zunächst als Vorbemerkung sagen, dass die Rentenüberleitung in den frühen 90er-Jahren, aus meiner Sicht
jedenfalls - ich war damals von sozialdemokratischer
Seite gemeinsam mit Regine Hildebrandt und Rudolf
Dreßler beteiligt -, einen herausragenden Beitrag zum
sozialen Frieden im vereinigten Deutschland geleistet
hat.
({0})
Das kann man sagen, wohl wissend, dass es in der Folge
zu einer Reihe von Härtefällen und einer Reihe von Widersprüchen gekommen ist, die zum allergrößten Teil angesichts der enormen Komplexität des Themas und angesichts der Eile, in der das Thema damals
parlamentarisch abgearbeitet werden musste, nicht vermeidbar waren.
({1})
- Bitte? Ich habe nicht ganz verstanden, was Sie gesagt
haben.
({2})
Wollen Sie eine Frage stellen? Das geht ja schon früh
los.
Die Zwischenfrage ist bereits genehmigt.
Herr Schreiner, ich habe eine sehr hohe Achtung vor
Ihnen, weil ich weiß, dass Sie damals, als im Deutschen
Bundestag in Bonn über die Rentenüberleitung beraten
wurde - ich habe dabei in der hinteren Reihe gesessen -,
als Experte bei dem damaligen Staatssekretär Seehofer
häufig nachgefragt haben: Herr Seehofer, wie war das in
der DDR? Muss man heute diese Regelung so fällen? Da hat Herr Seehofer häufig gesagt: Nein, man muss das
nicht so machen; das ist Ihre politische Entscheidung. Es
waren dann nicht Sie, sondern andere, die gesagt haben:
Nein, das muss man so machen, weil das Privilegien des
Ostens waren. Dieses Argument kam vor allen Dingen
von der CDU- und FDP-Seite. Können Sie bestätigen,
dass es damals so war,
({0})
dass Sie dies hinterfragt haben und auch nicht mit allem
einverstanden waren?
Nein. Ich habe eben ganz bewusst gesagt, dass das
Thema damals eine ganze Menge Konfliktstoff in sich
barg. Dieser besteht zum Teil, wie man an der heutigen
Debatte sieht, bis in die Gegenwart. Das ist angesichts
der enormen Komplexität und des hohen Schwierigkeitsgrads, zwei in Teilen sehr unterschiedliche Rentensysteme zusammenzubringen, auch nicht verwunderlich.
Das geschah übrigens in der Regel auf der Basis der
westdeutschen gesetzlichen Rentenversicherung, obwohl auch einige von uns der Meinung waren, man
müsse einige damals im DDR-Rentensystem vorhandene
Ansätze, die durchaus mit dem westdeutschen System
zusammenführbar gewesen wären, stärker berücksichtigen. Das gilt insbesondere für die Verankerung von Mindestrenten im System; das ist nicht in dem Maße erfolgt,
wie wir uns das vorgestellt hatten. Das ist ein Beispiel;
ich könnte Ihnen eine Fülle von weiteren Beispielen nennen.
All das hält mich nicht davon ab, in der Gesamtbewertung zu sagen: Die Zusammenführung der Systeme
auf der Grundlage der gesetzlichen Rentenversicherung
stellt einen großartigen Beitrag zur Wahrung des sozialen Friedens im gemeinsamen Deutschland dar, zumal
wir Anfang der 90er-Jahre große Probleme auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt mit denkbar unkalkulierbaren
Folgen hatten. Insofern war die Rentenversicherung ein
Stabilisierungsfaktor. Das sollte sie auch zukünftig bleiben.
({0})
Wenn man sich die Anträge der Linkspartei anschaut,
so stellt man fest: Diese sind seit geraumer Zeit, auch
wenn es kleine Korrekturen gibt, im Wesentlichen unverändert. Ich habe mir das Protokoll der Anhörung vom
30. April 2009 durchgelesen. Diese ist jetzt knapp zwei
Jahre her. Auf diese umfängliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales komme ich gleich zurück.
Zunächst einmal möchte ich aber sagen, worum es
geht, weil diese Debatte für viele außerhalb des Parlaments völlig unverständlich ist. Es geht im Kern um die
Probleme, die bei der Überführung der sogenannten Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der ehemaligen
DDR in die gesetzliche Rentenversicherung entstanden
sind. Nach meinen Zahlen gab es in der ehemaligen
DDR etwa 61 dieser Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, die teilweise außerordentlich unterschiedlich ausgestaltet waren. Es gab Systeme mit einer Beitragspflicht, und es gab Systeme ohne Beitragspflicht. Es
bestand also eine extrem unübersichtliche Situation, was
die Gesamtheit dieser Zusatz- und Sonderversorgungssysteme anbelangte.
Daraus mussten sich Probleme ergeben, weil natürlich Kernelemente der gesetzlichen Rentenversicherung, in die diese Sondersysteme überführt worden sind,
zu beachten waren. Darunter fielen die starke Beitragsabhängigkeit der Leistungen und die Begrenzung der
Anwartschaften entsprechend der Beitragsbemessungsgrenze. Es war völlig klar, dass Besonderheiten der sozialrechtlichen Absicherung in der DDR nicht in dem
Maße berücksichtigt werden konnten, wie das für einige
Beteiligte wünschenswert gewesen wäre. Ebenso war
klar, dass es sozialpolitisch nicht in jedem Fall unbedenklich war, so zu handeln, weil damals die DDR-Bürger wesentliche Entscheidungen in ihrem privaten und
beruflichen Leben mit Blick auf rentenrechtliche Rahmenbedingungen getroffen hatten. Eine Reihe von sogenannten Härten wurde in der Folge durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeglichen. Ich
sage hier in aller Klarheit für die SPD: Falls dennoch in
einzelnen Bereichen Unterversorgung aufgrund der damaligen Maßnahmen besteht, sind wir gerne bereit, den
Handlungsbedarf zu prüfen und die Probleme sehr
schnell abzuarbeiten.
({1})
Was bei der Anhörung aufgefallen ist, ist Folgendes:
Es ist von den Vertretern der Linkspartei gesagt worden,
die Sachverständigen, die sich damals gegen die Vorschläge der Linkspartei ausgesprochen haben, seien die
Sachverständigen der anderen Fraktionen. Da machen
Sie es sich viel zu einfach. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Sozialverbände und die Deutsche Rentenversi10456
cherung sind keine Organisationen von irgendwelchen
Fraktionen in diesem Haus. Das sind unabhängige Organisationen, die sich eine Einflussnahme strikt verbitten
würden.
Ich habe mir die Mühe gemacht, mir die schriftlichen
Erklärungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes und
der Sozialverbände, in Sonderheit die des Sozialverbands Deutschland e. V., entlang dieser Anhörung etwas
genauer anzuschauen. Sie werden so gut wie keinen einzigen Vorschlag der Linkspartei finden, der von diesen
Verbänden nicht deutlich kritisiert worden ist.
({2})
Es ist bedauerlich, dass die Linkspartei letztlich keinen
der Kritikpunkte, die von den Gewerkschaften und den
Sozialverbänden angesprochen worden sind, aufgenommen hat und in veränderte Vorschläge einfließen ließ.
Ich will einmal versuchen, das am Beispiel von zwei
Bereichen deutlich zu machen. Der erste Bereich - er
wurde bereits vom Kollegen Gysi angesprochen - betrifft die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen der ehemaligen DDR, die besonders schlecht bezahlt
worden sind. Offenkundig war es als eine Entschädigung
für die sehr schlechten Löhne gedacht, für diese Beschäftigten im DDR-Rentenrecht einen Steigerungsfaktor von 1,5 einzuführen. Jedweder Steigerungsfaktor war
dem westdeutschen Rentenrecht völlig fremd.
({3})
- Bei der Knappschaft gibt es andere Regelungen; aber
es gibt keine Steigerungsfaktoren, die generell in der gesetzlichen Rentenversicherung wirken. Das bundesdeutsche Recht kennt diese Steigerungsbeträge nicht.
Ein anderes Problem betrifft die Frage, ob die niedrigen Löhne im Gesundheitsbereich der ehemaligen DDR
heute rentenrechtlich noch korrigierbar sind und korrigiert werden sollten. Wenn man das macht, Kollege
Gysi, dann muss man konsequenterweise hinzufügen,
dass es damals auch in Westdeutschland Niedriglohnsektoren gab, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie heute.
Man müsste also auch für diese Bereiche im Nachhinein
eine spürbare Verbesserung bewerkstelligen, weil man
sich ansonsten dem berechtigten Vorwurf aussetzte: Für
die einen tut ihr was, und die anderen lasst ihr links,
rechts oder sonst wo liegen. - Das ist politisch nicht
durchzuhalten.
({4})
Das zweite Beispiel, das ich im Zusammenhang mit
Ihren Anträgen nennen will, bezieht sich auf die Beseitigung von Rentennachteilen für Zeiten der Pflege von Familienangehörigen in der ehemaligen DDR. Das ist für
mich ein besonders beeindruckendes Beispiel, weil ich
immer zu denen gehört habe, die der Meinung waren,
dass wir notwendige Pflegezeiten entsprechend honorieren müssen. Es gibt auch aktuell eine Debatte darüber,
das verstärkt zu tun; das ist nichts Neues. Nur muss man
dann natürlich konsequenterweise dazusagen, dass wir
im bundesdeutschen Recht 1992 zum ersten Mal eine
Anrechnung von Pflegezeiten hatten und dass die von
Ihnen begehrte Anerkennung auf Zeiten fällt, in denen
westdeutsche Versicherte, die notwendige Pflegedienste
leisteten, keinerlei rentenrechtliche Ansprüche erwerben konnten. Wenn man diese Zeiten anerkennen würde,
müsste man es für alle machen. Es macht keinen Sinn,
eine isolierte Ostregelung zu forcieren, weil das in weiten Teilen des Westens auf großes Unverständnis stoßen
würde.
Herr Kollege Schreiner, der Herr Kollege Gysi würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Das abzulehnen, wäre jetzt wirklich merkwürdig. Bitte.
Herr Schreiner, es geht doch um folgendes Problem:
Den Krankenschwestern etc. in der DDR war das doch
versprochen worden,
({0})
weil sie zu geringe Löhne bekamen. - Moment! Das
habe ich doch gesagt. - Deshalb war ihnen bei der Rente
ein Erhöhungsfaktor versprochen worden. Das war etwas, worauf sie sich bei der Arbeit verlassen hatten.
Aber dann streichen Sie den Erhöhungsfaktor und sagen,
dass das westdeutsche Recht dies nicht kenne. So bekommt man doch keine Vereinigung hin. Auch bei der
Pflege hatten sie sich darauf verlassen, dass diese Zeiten
als Rentenanwartschaftsjahre gelten. Aber dann sind sie
einfach gestrichen worden. Verstehen Sie? Da ist doch
Vertrauen verloren gegangen. Diese Menschen sagen:
Ich habe immer gearbeitet, und das war mir zugesichert.
Dann kommt die deutsche Einheit, und dann wird dieser
Faktor gestrichen.
({1})
Kollege Gysi, wir sind im Kern in dieser Frage nicht
so furchtbar weit auseinander. Wir sind in der Frage auseinander, ob dieser Stabilisierungsfaktor, der nur im
DDR-Recht galt und vermutlich auch nur für ganz wenige Bereiche - mir ist nicht klar, ob dies außerhalb des
Gesundheitswesens noch für irgendeinen anderen Sektor
galt -, der Logik nach in die Konstruktion der gesetzlichen Rentenversicherung mit Beitrags- und Lohnbezogenheit, mit Beitragsbemessungsgrenze usw. hineinpasst.
Es bleibt aber das Kernproblem einer rentenrechtlichen
Besserstellung von Leuten im Osten wie im Westen,
({0})
die in schlecht bezahlten Niedriglohnsektoren gearbeitet
haben, und Lösungsversuche stoßen bei der SPD auf
ausgesprochen große Sympathien.
({1})
Ich will dazu einen Kollegen der CDU zitieren, und
zwar den Kollegen Karl-Josef Laumann. Er ist inzwischen Fraktionsvorsitzender der CDU im nordrheinwestfälischen Landtag und gleichzeitig Chef der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Ich schätze
den Kollegen Laumann sehr. Er hat vor kurzer Zeit die
Einführung der Rente nach Mindesteinkommen gefordert.
Er sagte, ein Durchschnittsverdiener müsse 27 Jahre in
die Rentenkasse einzahlen, um die Grundsicherung zu
bekommen.
({2})
Das sei nicht leistungsgerecht. Wer Jahrzehnte eingezahlt habe, müsse mehr bekommen als jemand, der nie
Beiträge überwiesen habe. Dazu kann ich nur sagen:
Bravo! Das ist völlig richtig. - Der Grundsatz „Leistung
muss sich lohnen“ ist doch das Mantra, das die FDP pausenlos vor sich herträgt. Der Grundsatz „Arbeit muss
sich lohnen“ muss für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch später bei der Rente gelten. Das ist
doch völlig unbestritten.
({3})
Die Bekämpfung drohender Altersarmut, und zwar
nicht erst die im Jahr 2030 drohende Altersarmut, ist
- über die 19 Anträge der Linkspartei hinaus - die eigentliche Herausforderung. Ich zitiere aus Welt Online
von gestern Morgen:
Altersarmut wächst in Berlin rapide.
In Berlin leben immer mehr ältere Menschen, und
die Älteren werden immer ärmer. Im Jahr 2009 waren in der gesamten Stadt mehr als 57 500 Menschen darauf angewiesen, zusätzlich zu ihrer Rente
eine Leistung der Sozialhilfe vom Staat zu bekommen.
Die Rentenarmut wächst rapide. Das ist mit Ergebnis einer Politik, die den Niedriglohnsektor - prekäre Beschäftigungsverhältnisse - systematisch ausgeweitet hat.
({4})
- Es mag sein, dass auch wir da beteiligt waren.
({5})
Ich sage Ihnen nur: Wer erkannt hat, dass das ein Fehler
war, und ihn korrigieren will, ist mir tausendmal lieber
als Leute, die mit dem Kopf durch die Wand wollen, wie
Sie, Herr Kolb.
({6})
Ich sage Ihnen nochmals: Der beste Beitrag zur Bekämpfung drohender Altersarmut ist es, Menschen für
anständige Arbeit anständig zu entlohnen. Das gilt für
Ostdeutschland, aber auch für Westdeutschland. Wir
wissen aus den Zahlen, die wir haben, dass in absehbarer
Zeit 30 bis 40 Prozent der Männer in Ostdeutschland
eine Rente unterhalb der Grundsicherung erwartet. Bei
den Frauen sind die Zahlen noch deutlich höher. Wir
kennen Zahlen aus Westdeutschland, nach denen sich die
Situation dort nicht ganz so dramatisch darstellt, wir es
aber auch dort mit wachsender Altersarmut zu tun bekommen.
Es ist kein Leben in Würde, wenn Menschen, die
jahre- und jahrzehntelang in die Rentenversicherung eingezahlt haben, im Alter von der Sozialhilfe leben müssen. Deshalb besteht hier dringender Reformbedarf, weit
über die 19 Einzelpositionen aus den Anträgen der Linken hinaus.
({7})
Wir von der SPD haben uns vor einiger Zeit dazu entschieden, eine Kommission mit dem vorrangigen Ziel
einzusetzen, Vorschläge für die Bekämpfung der drohenden Altersarmut zu entwickeln.
({8})
Bei der einen oder anderen Frage werden die Probleme,
die von der Linken dargestellt worden sind, mit aufgegriffen; das liegt auf der Hand.
Lassen Sie mich zum Abschluss eine Bemerkung zu
einem Thema machen, das in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu dem steht, worüber wir heute beraten.
Gleichwohl bin ich der Meinung, dass dieses Thema für
alle Mitglieder des Hohen Hauses beschämend ist. Es
geht um die Art und Weise, wie wir in den letzten Jahren
und Jahrzehnten rentenpolitisch mit ehemaligen DDRFlüchtlingen umgegangen sind. Das ist wahrlich kein
Ruhmesblatt der deutschen Rentenpolitik.
({9})
Hier geht es zu erheblichen Teilen um Menschen, die bei
Gefahr für Leib und Leben die damalige DDR verlassen
haben. Es waren Menschen, die teilweise mit erheblichen Repressalien fertigwerden mussten und sich entschieden hatten, das Land zu verlassen. Die ehemaligen
DDR-Flüchtlinge sind durch die Überleitungsgesetzgebung Anfang der 90er-Jahre deutlich schlechter gestellt
worden. Vorher sind sie nach dem sogenannten Fremdrentengesetz behandelt worden und hatten sich - ähnlich
wie andere aus der ehemaligen DDR - auf den Fortbestand dieser Regelung zu ihren Renten verlassen. Da
sind sie bitter enttäuscht worden. Teilweise mussten sie
mit Einkommensminderungen von mehreren Hundert
Euro rechnen. Ich glaube, es stünde dem ganzen Haus
gut an, bei dieser Frage alsbald zu einer vernünftigen
Lösung zu kommen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Gysi, Sie haben Ihre Redezeit bedauerlicherweise nicht dafür genutzt, uns deutlich zu machen,
worin sich die Anträge in diesem Jahr von den Anträgen
vor zwei Jahren unterscheiden.
({0})
Insofern können Sie in der Tat nicht damit rechnen, dass
Ihre Anträge, die die gleichen wie vor zwei Jahren sind
({1})
und damals von der großen Mehrheit des Hauses abgelehnt wurden, jetzt von der Mehrheit dieses Hauses angenommen werden.
({2})
Für uns gilt in der Tat: Leistung muss sich lohnen. Das,
was Sie vorgelegt haben, ist aber keine parlamentarische
Leistung. Deshalb wird die große Mehrheit dieses Hauses Ihre Anträge auch in diesem Jahr ablehnen.
({3})
Zweiter Punkt. Herr Gysi, Sie wollten in Ihrer Rede,
soweit ich ihr folgen konnte,
({4})
an vielen Einzelbeispielen deutlich machen, warum die
Überleitung der Renten, so wie sie geschehen ist, ungerecht sein soll. Die meisten Beispiele bezogen sich auf
die Frage von Fristen und Stichtagen. Nun ist es aber
Wesen des Gesetzgebungsprozesses, dass wir mit Stichtagen und Fristen arbeiten müssen. Es gäbe keine Weiterentwicklung des Rechts, wenn wir nicht Stichtage und
Fristen setzen und diese dann auch anerkennen würden.
Wenn wir dies nicht täten, würde nämlich immer altes
Recht gelten und neues Recht nicht möglich sein.
Sie haben in Ihrer Rede versucht, die grundsätzlich
richtige Entscheidung zur Rentenüberleitung anhand einer Fülle von Einzelbeispielen zu kritisieren.
({5})
Sie versuchen nach wie vor, das Vertrauen in diese
grundsätzliche Entscheidung zu erschüttern. Ich möchte
dazu etwas Grundsätzliches sagen. Die Redner haben in
dieser Debatte, aber auch schon in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen: Man muss feststellen, dass es eine Herkulesaufgabe und eine Meisterleistung gesetzgeberischer, aber auch finanzieller Art
war, zwei ganz unterschiedliche Rentensysteme zusammenzuführen.
({6})
Dass die Grundsatzentscheidung, das DDR-Rentensystem in das bundesdeutsche Rentenversicherungssystem
zu überführen, richtig war, bestreitet niemand. Auch nationale und internationale Gerichte bestätigen seit Jahren, dass die Grundsatzentscheidung, im wiedervereinigten Deutschland ein einheitliches und gemeinsames
beitrags- und lohnbezogenes Rentenrecht einzuführen,
richtig war.
({7})
Die Alternative wäre gewesen, dass bestimmte Einzelregelungen des DDR-Rechts in das Sozialgesetzbuch VI hätten übertragen werden müssen, obwohl dies
in vielen Fällen nicht passt und den Grundsätzen des
Sozialgesetzbuchs VI widerspricht. Durch eine solche
Übertragung von Einzelregelungen des DDR-Rentensystems in das bundesdeutsche Rentenrecht wäre es im
Übrigen zu neuen Ungerechtigkeiten gekommen. Bei einem so komplexen Projekt wie der Überführung zweier
so komplexer Systeme zu einem gemeinsamen System
Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, ist unmöglich.
({8})
Wir müssen selbstverständlich auch beachten, dass die
Umsetzung dessen, was in manchen Anträgen gefordert
wird, bedeuten würde, dass wir Privilegien einzelner Berufsgruppen in der DDR gegenüber anderen Berufsgruppen in der DDR in unser heutiges gesamtdeutsches Rentenrecht übernähmen.
Wir sollten festhalten: Die Integration des Rentensystems der DDR in das Rentensystem der Bundesrepublik
ist wahrlich eine große Leistung. Dadurch ist dafür gesorgt, dass Millionen von Menschen im Alter einen Lebensstandard haben, der ihnen durch das DDR-Rentensystem nicht gewährt worden wäre.
({9})
Unbestritten gehören die Rentnerinnen und Rentner der
ehemaligen DDR in ihrer Gesamtheit zu der Gruppe, die
finanziell gesehen am meisten von der Einheit profitiert
hat.
({10})
Schon zweieinhalb Jahre nach der deutschen Einheit
hatte sich der Wert der Rentenzahlungen für das Gebiet
der ehemaligen DDR mehr als verdreifacht. Das verdeutlicht die große Leistung, die damals insgesamt erbracht worden ist. Ohne die Überleitung der Renten würden die Rentnerinnen und Rentner im Osten der
Republik heute fast alle in Armut leben.
Trotzdem sehen wir als FDP durchaus Handlungsbedarf. Die FDP tritt dafür ein - Herr Kolb hat es schon
ausgeführt -, dass wir den Menschen über eine günstige
Nachversicherungslösung auf freiwilliger Basis eine
Perspektive geben, um manche individuellen Härten abzumildern.
({11})
Vorredner heute und in vergangenen Debatten zu diesem
Thema haben stets betont, wie schwierig eine gerechte
Lösung ist.
({12})
Im Koalitionsvertrag haben FDP und CDU/CSU festgehalten, dass wir das Rentensystem von Ost und West
vereinheitlichen werden. Persönlich habe ich die Hoffnung, dass wir im Zuge dieses Verfahrens zahlreiche
Einzelfragen der Rentenüberleitung erneut behandeln
und abschließend beantworten können.
({13})
Wir können bei diesem Thema keine Einzelfallgerechtigkeit schaffen, auch wenn das wünschenswert
wäre. Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Linken,
machen es sich bei diesem Thema wieder einmal viel zu
einfach. Die Lösung des Problems liegt für Sie darin,
einfach allen Forderungen einzelner Berufsgruppen pauschal und vollkommen nachzugeben. Dies kann aber
wieder zu neuen Ungerechtigkeiten zwischen den verschiedenen DDR-Erwerbsbiografien und den daraus resultierenden Rentenansprüchen führen. Wir dürfen nicht
versuchen, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen; denn
das würde zu neuen Ungerechtigkeiten führen.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, man
sollte bei diesem Thema vielleicht auch darüber nachdenken, dass heutzutage viele Menschen aus der ehemaligen DDR eine geringere Rente erhalten, weil ihnen aus
politischen Gründen durch das System der DDR eine
bessere Ausbildung oder bessere Berufschancen untersagt oder vorenthalten wurden.
({15})
Das muss man in diesem Zusammenhang ansprechen,
auch wenn wir die Ungerechtigkeit des DDR-Systems
nicht durch unser Rentenrecht im Nachhinein rückgängig machen können. Ich persönlich finde das schmerzlich, kann an dieser Stelle aber nur in Erinnerung rufen,
wo die Zuständigkeiten für dieses Unrecht liegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion gerieren
sich heute wieder einmal als Rächer der Enterbten und
tun so, als ob sie die Einzigen wären, die sich um die
Rentnerinnen und Rentner im Osten kümmern.
({0})
Vergessen wird, wie die Lage der Rentnerinnen und Rentner in der DDR war. Zu Beginn der Debatte wurden schon
einige Zahlen genannt; ich möchte noch einige nennen.
Anfang der 60er-Jahre lag das Rentenniveau bei etwa
27 Prozent des Bruttoarbeitseinkommens. Von 1972 bis
zum Ende des Jahrzehnts stieg die Mindestrente von
160 Mark auf 270 Mark. 1989 beschloss die SED, den
Mindestsatz von 300 Mark auf 330 Mark anzuheben. Im
Juni 1990 betrug die durchschnittliche Ostrente 475 DDRMark. Vier Jahre später lag sie bei 1 200 D-Mark.
({1})
- Durchschnittlich.
Es ist beschämend, wie die Menschen in der DDR behandelt wurden. Zahlreiche Rentnerinnen und Rentner
waren aufgrund des geringen Rentenniveaus gezwungen, nach Eintritt in das Rentenalter weiter zu arbeiten.
Man sollte sich genauso vor Augen halten, unter welchen Bedingungen die Menschen gelebt und gearbeitet
haben.
Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, haben
zum Beispiel auch einen Antrag für die Bergleute aus
der Braunkohleveredelung eingebracht. Ich komme aus
dem Süden von Leipzig, einer Landschaft, die früher
- auch jetzt noch - stark von der Braunkohleindustrie
geprägt war. Ich weiß, wie die Lebensbedingungen und
Arbeitsbedingungen der Menschen dort waren. Es wurde
in den Betrieben keinerlei Rücksicht auf die Menschen
genommen.
({2})
Deshalb können Sie sich doch jetzt hier nicht als Retter
darstellen.
({3})
Die SED war doch damals dafür zuständig.
({4})
Die Betriebe wurden bankrottgefahren, und jetzt stellen
Sie sich so hin, als seien Sie überhaupt nicht schuldig.
({5})
- Die DDR existiert zum Glück nicht mehr.
({6})
Nach der Ablehnung Ihrer Anträge im Jahr 2009 haben Sie im Bundestagswahlkampf ein Flugblatt gemacht.
({7})
Die Kolleginnen und Kollegen der ostdeutschen Länder
können sich sicherlich gut daran erinnern. Ich habe die
sächsische Version davon mitgebracht.
({8})
- Bitte nicht vorher lachen. - Wissen Sie, Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, wer genauso gestimmt hat
wie Sie? Henry Nitzsche, ehemaliger Rechtsausleger der
CDU, später fraktionsloser Abgeordneter im Deutschen
Bundestag und jetzt im nationalkonservativen Lager in
Sachsen unterwegs. Sind das wirklich Ihre Mitstreiter?
({9})
- Wir sehen das Problem durchaus differenziert. Mein
Kollege hat schon gesagt, dass wir bei einigen in den
Anträgen angesprochenen Punkten durchaus Veränderungsbedarf sehen.
Die DDR-Geschiedenen sind bereits angesprochen
worden. Ihr Verein ist sehr aktiv, und ich persönlich habe
auch sehr gute Kontakte und unterstütze ihn. Die DDRGeschiedenen haben - das richtet sich an die Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen - übrigens auch Beistand von europäischer Ebene bekommen.
Sie klagen jetzt beim Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte, und auch der CEDAW-Ausschuss, also
der UN-Überprüfungsausschuss zur Bewertung der Diskriminierung der Frauen, will sich der Sache annehmen.
Wir hatten schon in der letzten Wahlperiode einen Antrag dazu eingebracht. Heute steht ein Antrag zur Abstimmung, der - mein Kollege hat das schon angedeutet vom Bundesrat übernommen wurde. Wir würden uns
wirklich sehr freuen, wenn insbesondere für diese
Gruppe Abhilfe geschaffen wird. Es gibt eine Regelungslücke, und wir müssen einer größeren Gruppe Betroffener gerecht werden und sollten nicht erst auf die
europäische Rechtsprechung warten.
Eine langfristige Lösung ist, wie viele Rednerinnen
und Redner zu Recht schon gesagt haben, mit den Anträgen der Linksfraktion natürlich nicht zu erreichen. Wir
müssen uns gemeinsam mit allen Fraktionen bemühen,
endlich ein einheitliches Rentensystem zu schaffen.
Viele Bundesregierungen in der Vergangenheit haben
sich das schon vorgenommen. Bisher ist es leider nicht
geglückt. Wir sind sehr gespannt, was die aktuelle Bundesregierung vorlegen wird. Vielleicht schaffen wir es ja
in dieser Wahlperiode, zu einem einheitlichen System zu
kommen, das diesen Namen auch verdient.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Das ist zu spät. Ich habe Herrn Straubinger schon aufgerufen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte eine Vorbemerkung machen: Das Rentenüberleitungsgesetz war und ist für die Menschen in der
ehemaligen DDR ein großer Erfolg. Es gibt ihnen eine
materielle Sicherheit im Alter, die in der DDR nie möglich war und nie möglich gewesen wäre. Trotz aller Sonderversicherungssysteme und Zusatzsysteme wäre diese
materielle Sicherheit für die Menschen in der ehemaligen DDR nie erreicht worden.
({0})
Auch unter sozialpolitischen Gesichtspunkten hat das
Rentenüberleitungsgesetz einen großen Beitrag geleistet.
Es hat nämlich - das ist die soziale Komponente - zum
Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands, von
Ost und West, beigetragen. Hinter diesem Erfolg stehen
die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die Steuerzahler in unserem Land, die die Grundlage dafür
schaffen, dass die Leistungen, die den Menschen über
das Rentensystem zuteilwerden, erbracht werden können.
Natürlich ist es immer möglich, für Verbesserungen
für vermeintlich Benachteiligte einzutreten, wie die
Fraktion Die Linke dies heute wieder darzustellen versucht. Damit will sie sich in der Öffentlichkeit bei Personenkreisen, die sie begünstigen will, anbiedern. Diese
Menschen sollen glauben, dass die Linke die aus ihrer
Sicht berechtigten Ansprüche hier einbringt. Ich möchte
schon herausstellen, dass es in der DDR aufgrund eines
Unrechtssystems zu diversen Sonderzulagen und Sonderzusagen gekommen ist. Ich habe mir berichten lassen,
dass die Menschen in der ehemaligen DDR es ebenfalls
als große Ungerechtigkeit empfunden haben, dass die Intelligenzrente wesentlich höher war, die Beitragszahlungen dafür niedriger. Das können wir in einem bundesdeutschen Rentensystem nicht fortführen.
({1})
Das Rentenüberleitungssystem ist gelungen, und deshalb
lehnen wir Ihre Anträge zu den einzelnen Bereichen ab.
Es ist entscheidend, dass wir der Öffentlichkeit unser
Rentensystem erklären. Wir müssen immer wieder sagen, dass Beitragszahlungen die Grundlage dieses Systems sind und Ansprüche auf diese Art und Weise erworben werden. In der ehemaligen DDR gab es den von der
Linken heute so sehr bekämpften Niedriglohnsektor. Er
wurde so begründet: Ihr bekommt zwar jetzt niedrige
Löhne, aber dafür später eine höhere Rente. Die Leistung der Arbeit sollte sozusagen erst in der Zukunft belohnt werden. Auch das ist ein eigenartiges System geMax Straubinger
wesen. Wir kämpfen dafür, dass der entsprechende Lohn
sofort ausgezahlt wird. Wir verweisen nicht auf die Zukunft.
({2})
Auch daran wird die Ungerechtigkeit des DDR-Systems
deutlich. Diese Ungerechtigkeit wollen Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, im deutschen
Rentensystem fortführen. Auch deshalb lehnen wir diese
Anträge ab.
({3})
Heute wurde wieder vorgetragen, dass es zukünftig
mehr Altersarmut geben würde. Natürlich gilt es, das zu
beachten, und natürlich lohnt es sich auch, sich damit
auseinandersetzen. Ich möchte aber daran erinnern: Ich
komme aus einem Landstrich, in dem die Löhne nach
dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich niedrig waren. Er
ist ausschließlich landwirtschaftlich geprägt, ohne industrielle Arbeitsplätze. In Niederbayern fand der Aufschwung erst in den 70er-/80er-Jahren statt. Letztendlich
würde das bedeuten, dass in diesem Landstrich alle
Menschen der Altersarmut anheimgefallen sind, weil in
den Jahrzehnten nach dem Krieg nur geringe Löhne erwirtschaftet werden konnten. Es gab Perioden, in denen
in einzelnen Landkreisen eine Arbeitslosigkeit von
40 Prozent und mehr geherrscht hat, insbesondere im
Winter, weil mit der Landwirtschaft viele Saisonberufe
verbunden sind. Trotzdem hat unser Rentensystem es zustande gebracht, dass wir keine höhere Altersarmut zu
verzeichnen haben als vielleicht das Ruhrgebiet. Das
zeigt sehr deutlich, dass die beste Grundlage gegen Altersarmut in unserem Land Arbeitsplätze sind. Es lohnt
sich, hier dafür einzutreten.
({4})
Geringere Rentenansprüche sind oft verbunden mit
hoher Arbeitslosigkeit, wie sie zum Beispiel in der Vergangenheit bei Rot-Grün geherrscht hat. Damals gab es
5 Millionen Arbeitslose, heute sind es nur noch 3 Millionen Arbeitslose; aber auch das sind 3 Millionen Arbeitslose zu viel. Deshalb ist es hier mitentscheidend, nicht
bessere Versprechungen gegenüber den Menschen zu
machen, sondern daran zu arbeiten, dass wir Arbeitsplätze, dass wir sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, durch die die Menschen hohe
Rentenansprüche erwerben.
Ein Letztes, verehrte Damen und Herren. Kollege
Schreiner hat auf ein Problem hingewiesen, das mit dem
Fremdrentengesetz und den Flüchtlingen aus der ehemaligen DDR und der damit verbundenen Bewertung dieser
Zeiten zu tun hat. Wir haben entsprechende Petitionen
im Bundestag. Es gilt, diese Petitionsverfahren abzuwarten. Ich glaube nicht, dass wir dies so einfach lösen können. Wir müssen aufpassen, dass wir keine neuen Tatbestände der möglichen Ungerechtigkeit schaffen. Deshalb
gilt für uns, dies alles sehr sachgerecht zu beurteilen,
aufzunehmen und natürlich auch in einem parlamentarischen Verfahren darüber zu diskutieren. Hier sind alle
eingeladen, weiterhin, wenn es notwendig und möglich
ist, an gerechten Lösungen in unserem Rentensystem
mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Heinrich von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin sehr dankbar, dass ganz am Anfang
der Debatte ein Kollege von mir, Herr Rehberg, mit folgender Frage begonnen hat: Woher kommen wir? In der
ganzen Debatte sind wir immer wieder zu dieser Frage
zurückgekehrt. Wo beginnt denn die Überleitung, die im
Titel dieser Debatte steht? Ich möchte den Bogen spannen. Bei einer Überleitung denkt man an eine Brücke.
Wenn es ein Woher gibt, dann muss es auch ein Wohin
geben. Ich bin dankbar, dass Sie, Frau Lazar, gesagt haben: Wir wollen eine Perspektive, wohin das führen soll.
Zu den Anträgen von Ihnen, von den Linken, ist viel
gesagt worden, nicht erst heute und, wie Kollege Kolb
gesagt hat, wahrscheinlich nicht zum letzten Mal. Die
19 Anträge sind unseres Erachtens nicht im ureigensten
Interesse der Gruppen, für die Sie hier sprechen. Das
Vorgehen wird kaum einer der Gruppen - manche sagen
uns das sogar - gerecht. Da wird instrumentalisiert, und
es riecht nach seltsamen Motiven. Herr Gysi, wenn Sie
hier sagen, dass der Grund, keinen Antrag bezüglich der
Flüchtlinge zu stellen, der ist, dass diese gern gemeinsam etwas machen wollen, dann muss ich darauf hinweisen, dass ich das auch schon von anderen Gruppen gehört habe. Diese dürften Sie dann auch nicht vertreten.
Am Ende kann die Linke letztlich allen diesen Gruppen sagen, dass sie sich für sie eingesetzt hat. Frau
Schmidt, Sie haben vollkommen recht: Das ist ein Stück
weit Populismus. Wir hören - wir haben miteinander
darüber gesprochen - aus den Gruppen andere Einstellungen dazu. Es ist inzwischen zur Genüge gesagt worden, dass es eine große gesellschaftliche Leistung ist, die
ihresgleichen sucht. Die Komplexität der Lösung, die
dann noch nötig sein kann, kommunizieren Sie nicht,
weil es viel zu schwierig ist, das in drei Sätzen zu sagen.
Herr Schreiner, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Da
sind die 63 Zusatz- und Sonderversorgungssysteme. Da
ist die juristische Realität, die vielem davon im Weg
steht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit bestätigt. Die UN-Menschenrechtskommission ist damit befasst worden und hat dem Ganzen
stattgegeben. Der Europäische Gerichtshof hat gesagt:
Das ist so nicht widersprüchlich. Es gibt die Grundsätze
des Bundessozialgerichts und rentenrechtliche Regelungen im SGB. So viele Dinge muss man dazusagen, wenn
man solche einfachen Forderungen - polemisch, wie ich
meine - nutzen möchte.
Auch die Fachleute, die auch Sie in den Anhörungen
gehört haben, waren eindeutig. Dazu gab es Bedingungen und Prinzipien, über die wir nicht einfach springen
dürfen: Der Gleichheitsgrundsatz - wir haben hier von
Ost und West gesprochen - muss auf beiden Seiten gewährleistet sein - Herr Schaaf, das haben Sie in Ihrer
Zwischenfrage erwähnt -, der Grundsatz der Lohn- und
Beitragsbezogenheit ist ein hohes Gut in unserem Land,
die Systematik der auch schon vorher bestehenden
Rechtsverordnungen und die Vorgaben im Einigungsvertrag, darüber können wir uns nicht einfach hinwegsetzen. Ich halte es für polemisch, dass Sie das einfach tun
und so einfach kommunizieren wollen.
Die Frage, die sich mir stellt, lautet: Wie ernst nehmen Sie dieses Anliegen tatsächlich? Wenn einzelne
kleine Nachbesserungen nötig sind, dann sind wir bereit,
daran mitzuarbeiten. Die meisten der Forderungen sind
allerdings realitätsfern, insbesondere wenn Sie - da bin
ich mir mit den Kollegen von der SPD einig - Anträge
für Personengruppen mit großer Nähe zum Staat, wie
man das allgemein sagen kann, formulieren.
Eines noch ganz persönlich zur Debattenkultur, zur
politischen Auseinandersetzung. Sie stellen sich hier hin
und fordern, dass wir alle gemeinsam so entscheiden sollen - als ob Sie diese Anliegen vertreten! Ich verstehe
nicht, dass sich, seit ich der Sprecher bzw. der Berichterstatter meiner Fraktion im Bundestag zu diesem konkreten Thema bin, nicht einer von Ihnen mit mir zusammengesetzt und gesagt hat: Das Anliegen ist uns so wichtig,
dass wir hier gemeinsam etwas bewegen sollten. - Kein
Versuch Ihrerseits, Gespräche dieser bilateralen Art zu
führen. Das ist bei den anderen Fraktionen anders gewesen. Ob das wirklich ein Anliegen um der Sache willen
ist, möchte ich zumindest bezweifeln.
Ein zweiter Gedanke. Nachdem ich die Frage gestellt
habe, inwiefern es Ihnen hier um Quantität - 19 Anträge anstatt um Qualität geht, stellt sich auch die Frage nach
dem Wort „gerecht“. In all Ihren Anträgen kommt das
Wort „gerecht“ vor.
({0})
Durch die Wende - das haben Sie an keiner Stelle verschwiegen; das habe auch ich in meinen Reden hier explizit gesagt - sind Ungerechtigkeiten passiert - Sie haben das von uns an verschiedenen Stellen gehört -:
durch Stichtage - Herr Kober hat das gesagt -, durch
Fristenregelungen. Und doch sind wir in unserem
Rechtssystem an diese Regeln gebunden. Welche Gerechtigkeit spielen wir gegen welche aus? Generationengerechtigkeit? Einzelfallgerechtigkeit? Wir brauchen
Rechtssicherheit für die kommenden Generationen.
Gestern telefonierte ich mit einer Frau in ungefähr
meinem Alter. Sie sagte mir in etwa Folgendes: Egal wie
wir in dieser zugegebenermaßen verfahrenen und teilweise ungerechten Situation entscheiden, wir werden
wegen der Komplexität immer wieder neue Ungerechtigkeiten schaffen. - Gestern fiel in einem weiteren Gespräch auch der Begriff der Minimalstungerechtigkeit,
die wir anstreben. Ich glaube, wir sind mit den momentanen Möglichkeiten nah an sie herangekommen. Wir wollen schauen - das ist unsere Haltung als Koalition; das
ist deshalb auch im Koalitionsvertrag verankert -, dass
wir so nah wie möglich an die Grundsätze der Gerechtigkeit herankommen. Aber da gibt es die Grenze des Einzelfalls. Diese Grenze kann das Gesetz nicht überwinden, schon gar nicht bei einem so starken Bruch in der
deutschen Geschichte, einschließlich der Fehler, die
auch noch danach - wohlgemerkt: danach - gemacht
wurden. Ich denke, an der Minimalstungerechtigkeit
sind wir nahe dran.
Jetzt gibt es noch Möglichkeiten des Weiterdiskutierens. Sie von der Opposition redeten vorhin von einer
Fondslösung, die die größten Schwierigkeiten und die
größten Schärfen, die durch die Gesetze passiert sind,
auszugleichen versucht. Wir setzen uns da zusammen;
das haben wir schon vereinbart. Wie diese Fondslösung
aussehen könnte und ob es eine Fondslösung geben
wird, kann ich noch nicht sagen.
Insgesamt betrachtet unterstreiche ich noch einmal:
Es war eine gewaltige gesellschaftliche Leistung, das hat
sich immer wieder gezeigt; das haben auch Sie an einer
Stelle in Ihrem Antrag - fairerweise muss ich das sagen geschrieben. Aber die wirtschaftlichen Fehler von vor
der Wende, die sich in unzähligen Lebensläufen, in die
widerrechtlich eingegriffen wurde, niedergeschlagen haben, kann man heute trotz aller rechtmäßigen Bestrebungen nicht einfach ausgleichen. Ungerechtigkeit kann
man nicht gegen Gerechtigkeit aufwiegen, auch ein demokratischer Rechtsstaat kann das nicht.
Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum Ende.
Unser Anliegen: Woher, wohin? Wohin wollen wir?
Wir wollen zu einem einheitlichen Rentenrecht kommen. Dazu haben wir uns bekannt, deshalb werden
wir uns auch mit Ihnen auseinandersetzen; Herr Strengmann-Kuhn, Herr Schaaf, Sie haben darauf hingewiesen.
Wir unterstützen dieses Bestreben. Allerdings dürfen bestimmte Gruppen nicht erneut benachteiligt werden. Wir
gehen das an; wir werden in diesem Jahr damit beginnen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Maria Michalk von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Normalerweise bin ich eine begeisterte Anhängerin der
Volksweisheit: Wiederholung ist die Mutter des Erfolgs. - Aber die Rentenantragsserie der Linken zeigt
ganz deutlich, dass dieser Ansatz dann nicht stimmt,
wenn bei der Lösung des Grundproblems einfach an der
falschen Stelle angesetzt wird.
Sie fordern mit Ihren Anträgen - dabei hangeln Sie
sich an den einzelnen Sachverhalten entlang, und das
zum wiederholten Male - eine gründliche Überprüfung
und Korrektur der Rentenüberleitung. Das - das ist in
der Debatte sehr deutlich geworden - ist nach fast
20 Jahren der Überleitung in eine beitrags- und lohnbezogene Rentensystematik einfach der falsche Ansatz. Sie
können noch so viele Anträge stellen, Sie werden niemals unsere Zustimmung dazu bekommen.
({0})
Denn Politik ist nicht, das Wünschenswerte zu formulieren und die anderen für die Umsetzung bezahlen zu
lassen. Das war gelegentlich - nach Gutsherrenart - die
Methode der alten SED-Regierung. Unser Prinzip heißt,
das Wünschenswerte mit dem Machbaren zu vergleichen, sich am Realistischen zu orientieren und das dann
durchzusetzen.
({1})
Die politische Grundsatzentscheidung war damals auf
dem Weg zur deutschen Einheit richtig. Wir müssen uns
noch einmal in Erinnerung rufen: Das Rentenniveau lag
damals bei 40 Prozent; und jetzt liegt es bei 88, 89 Prozent. Wer meint, das sei keine besondere Leistung, der
verkennt die gesamtdeutsche Solidarität, für die ich mich
hier noch einmal ausdrücklich bedanken möchte.
({2})
Ich verkenne natürlich auch nicht, dass es bei Stichtagsregelungen, die im politischen Geschäft normal und
manchmal nicht abwendbar sind, auch Einzelschicksale
gibt, die einem in der Seele leidtun. Aber im Osten - das
war dort die Realität - gab es ein System ohne rote Linie. Herr Gysi, es wird Ihnen nicht gelingen, die Grundsätze des Einigungsvertrages durch die Hintertür aufzuheben.
({3})
Ich nenne einmal das heute schon mehrfach angeführte Beispiel der Krankenschwester. Ich frage mich:
Wieso mussten in den meisten Fällen die Frauen zu einem so niedrigen Lohn diese ganz schwere Arbeit verrichten? Es gab damals noch keine Pflegebetten oder
Badewannen mit Lift. Erinnern Sie sich an die damaligen Zustände: Das war eine äußerst schwere Arbeit in
Schichten. Die meisten Frauen haben nebenbei Kinder
erzogen, und wenn es ganz dicke kam, dann hatten Sie
auch noch einen Mann, der sie betrogen hat. Dann haben
sie oft, wissend, dass es keinen Versorgungsausgleich
gibt, der Scheidung zugestimmt, weil das für sie der bessere Weg für die Zukunft war.
Wer meint, man könne jedes Einzelschicksal mit einem Grundsatzsystem korrigieren, der verkennt, was Politik leisten kann. Wir bemühen uns in unseren Diskussionen durchaus, Brüche zu erkennen und Lösungen zu
finden. Ich halte in diesem Zusammenhang nichts davon,
immer nur Durchschnittszahlen zu zitieren. Sie sind interpretationswürdig; in manchen Statistiken werden Berufsgruppen involviert - zum Beispiel Ingenieure oder
Ärzte -, die nach heutigem Recht eigene Versorgungswerke haben. Insofern kann man nicht jede Statistik korrekt miteinander vergleichen. Das führt zu einem falschen Ansatz.
Uns ist wichtig, dass man jetzt nicht so tut, als ob wir
mit unseren vielfältigen Bemühungen in diesem komplexen Prozess der Überführung dieses Wirrwarrs von Rentensondersystemen Probleme verursacht hätten. Dazu ist
es aufgrund des Systems gekommen, das diejenigen zu
vertreten haben, die die Anträge stellen. Es geht nicht,
dass Sie erst die Sozialsysteme an die Wand fahren,
quasi das Haus anbrennen und sich jetzt wiederholt zum
Feuerwehrmann aufspielen. Das funktioniert nicht.
({4})
Deshalb sage ich es noch einmal ganz konkret: Dass
wir uns bemühen, merken Sie doch; das war auch in der
rot-grünen Regierungszeit so. Als es zum Beispiel um
das Problem ging, eine Regelung für die geschiedenen
Ehefrauen zu finden, hat es eine interministerielle Arbeitsgruppe gegeben. Von den Anhörungen der Experten
wurde schon gesprochen. Auch die Länder waren an dieser Abstimmung und an der interministeriellen Arbeitsgruppe beteiligt. Sie haben eben kein Ergebnis vorlegen
können, das politisch diskutiert und beschlossen werden
konnte, weil es neue Ungerechtigkeiten bedeutet hätte.
Deshalb ist die Lösung nicht so einfach.
Ich sage Ihnen - ich habe von diesem Pult aus ja wiederholt zu diesem Thema gesprochen -:
({5})
Wir erkennen, dass sich das Prinzip „Wer arbeitet, soll
mehr Lohn haben als jemand, der nicht gearbeitet hat“
im Grunde genommen in der Rente widerspiegeln muss.
Klar haben wir die Grundsicherung im Alter. Das ist ein
Rechtsanspruch. Aber wir sind uns einig: Es ist nicht gerade sehr bequem, das zu beantragen. Ich kenne vor allen
Dingen viele Frauen, die sich schwertun, diesen Antrag
zu stellen. Ich sage aber immer wieder: Das ist ein
Rechtsanspruch.
Die Kommission, deren Einsetzung wir in unserem
Koalitionsvertrag beschlossen haben, wird dieses Gesamtbild betrachten, weil das dann nicht mehr alleine
nur ein ostdeutsches Problem ist. Ich bitte Sie herzlich,
dafür Verständnis zu haben, dass wir bei unserer Grundsatzhaltung bleiben, weil sie von Fachexperten, in vielen
Anhörungen und von Gerichten bestätigt worden ist. Arbeitsminister aller Couleur in diesem Haus haben keine
Patentlösung vorlegen können. Das ist der Beweis dafür,
dass das ein sehr schwieriger Prozess ist, dem wir uns
stellen werden. Darüber freue ich mich.
Wir werden hier wiederholt darüber diskutieren, aber
nicht auf der Grundlage Ihrer Anträge, sondern wir gehen das Gesamtpaket an.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, möchte ich Ih-
nen noch einige Hinweise zum Abstimmungsverfahren
geben.
Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass eine grö-
ßere Zahl von Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-
nung von Mitgliedern der SPD-Fraktion vorliegt, die wir
zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zunächst zur namentlichen Abstimmung
über die 19 Anträge der Fraktion Die Linke zu Korrektu-
ren bei der Überleitung der Alterssicherungen der DDR
in das bundesdeutsche Recht. Bitte beachten Sie: Abge-
stimmt wird über die Anträge selbst und nicht über das
Votum der Beschlussempfehlung. Es ist vereinbart, die
insgesamt 19 namentlichen Abstimmungen auf einem
Stimmzettel durchzuführen. Die Stimmzettel erhalten
Sie, falls noch nicht geschehen, von den Plenarassisten-
ten hier im Saal. Schreiben Sie bitte zunächst Ihren Na-
men und die Bezeichnung Ihrer Fraktion deutlich in
Druckbuchstaben auf den Stimmzettel. Stimmzettel ohne
Namensangabe sind ungültig. Der Ausschuss für Arbeit
und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/4769 unter den Buchstaben a bis s
die Ablehnung der Vorlagen. Auf dem Stimmzettel fin-
den Sie unter Ihrem Namen eine Auflistung der 19 abzu-
stimmenden Anträge. Sie können über jeden einzelnen
Antrag mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ abstimmen.
Einzelne Abstimmungen mit mehr als einem oder kei-
nem Kreuz sind ungültig. Sie können die Stimmzettel
auf Ihrem Platz ankreuzen. Nachdem Sie den Stimmzet-
tel ausgefüllt haben, werfen Sie ihn in eine der aufge-
stellten Urnen.
Bevor wir nun zur Abstimmung kommen, möchte ich
Sie an die unmittelbar folgenden zwei namentlichen Ab-
stimmungen mit der üblichen Stimmkarte erinnern.
Zunächst folgt die Abstimmung über die 19 Anträge
der Fraktion Die Linke. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die Plätze einzunehmen. - Sind an al-
len Wahlurnen die notwendigen Schriftführer? - Das ist
der Fall. Ich eröffne die Abstimmung über die
19 Anträge der Fraktion Die Linke. Ich bitte, die Stimm-
zettel einzuwerfen.
Ich will daran erinnern, dass die Namen auf den
Stimmzetteln eingetragen sein müssen; sonst ist der
Stimmzettel ungültig.
1) Anlagen 2 bis 4
Gibt es noch Mitglieder des Hauses, die ihren Stimm-
zettel nicht eingeworfen haben? - Das scheint nicht der
Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, sich
wieder auf ihre Plätze zu begeben, damit man den Über-
blick behalten kann.
Da die vollständige Auswertung der Stimmzettel ei-
nen erheblichen Zeitbedarf erfordert, werden die Schrift-
führerinnen und Schriftführer zunächst noch kein zah-
lenmäßiges Ergebnis ermitteln können, sondern nach
Sichtung der Stimmzettel feststellen, ob die Anträge an-
genommen oder abgelehnt wurden. Das vorläufige Er-
gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-
ben.2)
Bevor wir zu der namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen kommen, weise ich vorsorglich
darauf hin, dass wir unmittelbar nach dieser namentli-
chen Abstimmung bei den Beratungen ohne Aussprache
eine weitere namentliche Abstimmung zu Tagesord-
nungspunkt 34 b vorzunehmen haben. Ich bitte Sie also,
den Saal nach dieser namentlichen Abstimmung nicht zu
verlassen.
Jetzt setzen wir die Abstimmungen fort. Der Aus-
schuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe t seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4195 mit dem Titel „Verbesserung der
Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar
1992 Geschiedenen“. Wir stimmen nun über den
Buchstaben t der Beschlussempfehlung zu der Vorlage
von Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.
Hier wird wie üblich über die Beschlussempfehlung
und nicht über den Antrag abgestimmt, damit es hier
kein Missverständnis gibt.
Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die
vorgesehenen Plätze eingenommen? - Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimmkarte noch
nicht eingeworfen? - Wenn das nicht der Fall ist, dann
schließe ich den Wahlgang und bitte, auszuzählen. Das
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä-
ter bekannt gegeben.3) Wir setzen die Beratungen fort.
Ich darf zunächst einmal darum bitten, dass sich die
Kolleginnen und Kollegen wieder zu ihren Plätzen bege-
ben, damit wir die Beratungen vernünftig fortsetzen kön-
nen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 f
sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 k auf:
33 a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
2) Ergebnis Seite 10471 C
3) Ergebnis Seite 10471 C
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Immissionsschutzgesetzes - Privilegierung des
von Kindertageseinrichtungen und Kinderspielplätzen ausgehenden Kinderlärms
- Drucksache 17/4836 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 1. Juli 2010 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und den Vereinigten
Arabischen Emiraten zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/4806 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung der Zahlung von Entschädigungsleistungen bei der Anrechnung des
Lastenausgleichs und zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes ({1})
- Drucksache 17/4807 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 20. August 2009 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Schwei-
zerischen Eidgenossenschaft über die Wehr-
pflicht der Doppelstaater/Doppelbürger
- Drucksache 17/4810 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
e) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU
und FDP
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zur Ergänzung von Art. 136
des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ({3}) hinsichtlich der Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({4})
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäische Union
- Drucksache 17/4880 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Bockhahn, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine weiteren Einlagerungen ins Zwischenlager Nord ({6})
- Drucksache 17/4848 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Renate Künast, Claudia Roth ({7}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Berichte zur NS-Vergangenheit des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz veröffentlichen
- Drucksache 17/4696 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Altschuldenhilfe für ostdeutsche Wohnungsunternehmen neu ausrichten
- Drucksache 17/4698 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Bilger, Peter Götz, Armin Schuster ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Werner Simmling, Ernst
Burgbacher, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Anwohnerfreundlicher Ausbau der Rheintalbahn
- Drucksache 17/4861 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Kumpf, Christian Lange ({12}), Rainer Ar10466
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
nold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Ausbau der Rheintalbahn als Modell für Bürgernähe, Lärm- und Landschaftsschutz
- Drucksache 17/4856 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierheime entlasten - Einheitliche Regelungen
schaffen
- Drucksache 17/4851 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({14})
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierschutzgesetz ändern - Kennzeichnung von
Pferden tierschutzgerecht ausgestalten
- Drucksache 17/4850 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Reformprozesse in Nordafrika und Nahost
umfassend fördern
- Drucksache 17/4849 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
- Ratsdok. 17629/10 ({16}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
Herstellung des Einvernehmens bezüglich der
Ergänzung von Art. 136 AEUV zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus ({17}) verantwortlich gestalten
- Drucksache 17/4881 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Änderung des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
- Ratsdok. 17629/10 ({19}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des
Grundgesetzes
- Drucksache 17/4882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({20})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard Schick,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Herstellung des Einvernehmens zwischen
Bundestag und Bundesregierung zur Änderung des Art. 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die
Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({21})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Verkehrsträgerübergreifende Schlichtung gesetzlich fixieren
- Drucksache 17/4855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({22})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 h auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich weise darauf hin, dass wir zu Tagesordnungspunkt 34 b namentlich abstimmen werden. Bitte begeben Sie sich erst an die Urnen, wenn zur namentlichen
Abstimmung aufgerufen wird.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung eines Gremiums gemäß § 16 des Restrukturierungsfondsgesetzes
- Drucksache 17/4859 Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 17/4859? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Damit ist das Gremium gemäß
§ 16 des Restrukturierungsfondsgesetzes eingesetzt.
Tagesordnungspunkt 34 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({23}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Privatisierung von Äckern, Seen und
Wäldern
- Drucksachen 17/239, 17/587 Buchstabe b Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Brackmann
Carsten Schneider ({24})
Otto Fricke
Alexander Bonde
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/587, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/239 ab-
zulehnen.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, wieder ihre Plätze
an den Urnen einzunehmen. Wir stimmen auch diesmal
über die Beschlussempfehlung ab. Die Beschlussemp-
fehlung lautet, den Antrag der Fraktion Die Linke abzu-
lehnen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist
der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Gibt es noch Mitglieder, die ihre Stimmkarte nicht
eingeworfen haben? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der
Auszählung zu beginnen.1)
Ich bitte darum, jetzt wieder die Plätze einzunehmen,
damit wir mit den Abstimmungen fortfahren können.
Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 218 zu Petitionen
- Drucksache 17/4711 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 218 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 219 zu Petitionen
- Drucksache 17/4712 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 219 ist angenommen
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 220 zu Petitionen
- Drucksache 17/4713 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 220 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 221 zu Petitionen
- Drucksache 17/4714 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Sammelübersicht 221 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion,
1) Ergebnis Seite 10473 D
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 222 zu Petitionen
- Drucksache 17/4715 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 222 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 223 zu Petitionen
- Drucksache 17/4716 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 223 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der SPD-Fraktion und des Bündnisses 90/Die Grünen
und Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Eskalation der Gewalt in Libyen
Es gibt eine Änderung in der Rednerreihenfolge. Die
Aussprache soll eröffnet werden von Staatsminister
Dr. Werner Hoyer.
({31})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir in diesen Tagen auf Libyen
schauen, dann sehen wir dort genau das Gegenteil dessen, was wir als human, ethisch und verantwortbar bezeichnen und anstreben. Wir sehen Verwüstung, Verzweiflung, Verletzte und unzählige Tote.
Das Bild ist natürlich nicht komplett. Der Informationszugang ist begrenzt. Es ist wieder einmal eine Situation, in der wir uns bewusst machen können, welche Bedeutung eine freie, überall tätig sein dürfende Presse für
uns hat. Wir sehen Menschen, die gezielt ermordet werden, weil sie ihre Freiheit und ihre Würde zurückerlangen wollen.
Wir sehen einen Diktator, der nach 40 Jahren Herrschaft nicht davor zurückschreckt, mit offen kommuniziertem Vernichtungswillen gegen das eigene Volk vorzugehen. Wir sehen einen Diktator - hier liegen die
Unterschiede zu den anderen Ereignissen der letzten
Wochen -, der sich zu einer Zeit, wo sich andere konstruktiv in den Nahost-Friedensprozess eingebracht haben, für einen anderen Weg entschieden hat. Wir sehen
einen Diktator, der unverhohlen auf das Instrument der
Erpressung setzt - nicht erst jetzt. Ich wiederhole dies
deshalb, weil wir Europäer uns bewusst sein müssen, um
was für ein Regime es sich hier handelt. Wir alle haben
die letzte Rede Gaddafis im Fernsehen gesehen. Sie war
nicht nur bizarr und schockierend, sie weckte auch deutliche Zweifel an seinem Realitätssinn.
({0})
Aber das macht es gerade so gefährlich. Die Lage vor
Ort bleibt unübersichtlich. Wir schauen daher äußerst
besorgt und angesichts des Vorgehens des Regimes sehr
empört auf die Lage in Libyen.
Anders als in Ägypten sind in Libyen die Voraussetzungen für den Sieg der Freiheit ungleich schwerer. Das
liegt am Regime. Das liegt natürlich aber auch an den
schwierigen tribalen Strukturen des Landes. Es ist gewissermaßen eine Parallele zu dem, was wir in den 90erJahren im früheren Jugoslawien gesehen haben, wo alle
ethnischen Konflikte plötzlich wieder hochkamen und
virulent wurden, nachdem die Eisdecke des Kommunismus weggezogen worden war. In Libyen ist unter dem
Wüstensand vieles verborgen geblieben, was es an tribalen Konflikten gegeben hatte, bis Gaddafi vor mehr als
40 Jahren die Macht übernahm.
Meine Damen und Herren, unsere erste Sorge gilt natürlich den deutschen sowie den europäischen und nichteuropäischen Staatsangehörigen. Viele der ursprünglich
über 600 deutschen Staatsangehörigen konnten das Land
inzwischen verlassen. Die Evakuierungsmaßnahmen
laufen weiterhin auf Hochtouren. Zusätzliche Kapazitäten wurden sowohl kommerziell als auch seitens der
Bundeswehr bereitgestellt. Ich bedanke mich bei der
Bundeswehr ebenso wie bei der Lufthansa für die hervorragende Zusammenarbeit. Wir konnten Deutsche
auch auf anderem Wege, per Schiff und auf dem Landweg, aus dem Land herausholen. Wir danken unseren
Partnern, die in ihre Evakuierungsbemühungen auch
deutsche Staatsbürger einbezogen haben, so wie wir es
umgekehrt selbstverständlich auch getan haben.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister
haben von Anfang an die Gewaltanwendung des libyschen Regimes mit deutlichen Worten verurteilt und ein
sofortiges Ende der Gewalt gefordert. Europa hat sich
inzwischen deutlich positioniert. Als derjenige, der am
Sonntag und am Montag die Verhandlungen für
Deutschland im Rat geführt hat, sage ich: Ich hätte mir
gewünscht, Europa wäre schneller, deutlicher und geschlossener gewesen.
({1})
Ich bin mir der Probleme der Südländer der Europäischen Union selbstverständlich bewusst, und wir haben
auch keinen Nachholbedarf an Solidarität. Aber das darf
nicht dazu führen, unsere eigenen Werte zu verraten. Wir
müssen hier in dieser Angelegenheit klar Position bezieStaatsminister Dr. Werner Hoyer
hen. Wir haben das im Außenministerrat am Montag,
wie ich finde, noch nicht endgültig befriedigend getan.
Mittlerweile hat das Politische und Sicherheitspolitische
Komitee der Europäischen Union nachgelegt, sodass wir
damit jetzt ganz zufrieden sein können. Aber es ist schon
bemerkenswert, dass der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen, der nicht zuletzt auf deutsches Betreiben
hin zusammengetreten ist, in dieser Frage eine klarere
Positionierung vorgenommen hat. Wir werden den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen auch noch an manchen Stellen brauchen.
Außenminister Westerwelle hat früh auf die Notwendigkeit von Sanktionen hingewiesen, sollte das System
seinen Kurs der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung
weiterverfolgen. Das ist leider der Fall.
({2})
- Nein. Es gibt hier gar keinen Zweifel, dass dann, wenn
diese Gewaltexzesse weitergehen - und sie gehen weiter -,
an Sanktionen kein Weg vorbeiführt. Diese kann man allerdings nicht einmal eben aus dem Ärmel ziehen. Wenn
Sie zum Beispiel Asset Freeze machen wollen, müssen
Sie schon sehr präzise die Konten, deren Inhaber und
den strafrechtlich relevanten Vorwurf definieren. Man
kann sich also nicht überschlagen; aber an Sanktionen
geht kein Weg vorbei.
Morgen wird sich auch der Menschenrechtsrat der
Vereinten Nationen mit dem Thema Libyen befassen,
das ja pikanterweise Mitglied des Menschenrechtsrates
der Vereinten Nationen ist.
Meine Damen und Herren, wir dürfen über die eskalierende Lage in Libyen die Situation und die Entwicklung in den anderen Ländern der Region nicht vernachlässigen. Diese ist - das müssen wir uns immer wieder
klarmachen - in jedem der betroffenen Länder anders.
Wir haben kein geschlossenes, homogenes Bild für die
Problemlagen in den nordafrikanischen und arabischen
Ländern. Aber eines ist völlig klar: Die Europäische
Union muss ihre Nachbarschaftspolitik neu kalibrieren,
({3})
und zwar gilt das für die Mittelmeerpolitik ebenso wie
für die Politik gegenüber dem Osten; denn die Diskussion, die wir jetzt über Gaddafi und andere „nette“ Menschen führen, haben wir vor wenigen Wochen auch über
Lukaschenko geführt. Das Grundproblem bleibt.
({4})
Daraus müssen wir die entsprechenden Konsequenzen
ziehen.
Wir haben seitens der Bundesregierung in der letzten
Woche konkrete Vorschläge für eine Neuausrichtung der
Politik der Europäischen Union vorgelegt. Dadurch, aber
auch bereits durch frühere deutsche Beiträge zu den Diskussionen um Tunesien und Ägypten ist es uns gelungen, den Entscheidungsfindungsprozess in der Europäischen Union nachhaltig zu prägen. Auch da muss ein
Bewusstseinswandel stattfinden. Wir können es uns
nicht mehr leisten, dass es in der Europäischen Union
Länder gibt, die aufgrund ihrer geografischen Positionierung in Europa entweder nur nach Süden oder nur nach
Osten blicken. Als Mitglied der großen Europäischen
Union und auch des Binnenmarktes der Europäischen
Union ist eben auch Finnland ein Mittelmeerland. Wir
müssen auch diejenigen, die weit vom Mittelmeerbereich entfernt sind, mit in die Verantwortung nehmen;
genauso geht auch das, was in Weißrussland passiert,
einen Portugiesen etwas an. Wir als Deutsche sind diejenigen, die es sich aufgrund ihrer zentralen Lage - geografisch, politisch und auch wirtschaftlich - am allerwenigsten leisten können, den Blick nur auf den Süden oder
nur auf den Osten zu verengen. Deswegen werden wir
auch hier eine engagierte Führungsrolle wahrnehmen.
({5})
Es geht jetzt im Kern darum, Ländern wie Ägypten
und Tunesien eine Transformationspartnerschaft anzubieten. Wir müssen bei der Gratwanderung zwischen
Ownership, die wir immer in den Vordergrund rücken
müssen, und Verteidigung der eigenen Werte insbesondere demokratische und rechtsstaatliche Transformationsprozesse gezielter unterstützen. Es kann nicht im
Sinne des Erfinders sein, dass am Ende eines rein formalen Wahlprozesses entweder diejenigen, die jetzt schon
recht gut organisiert sind, wieder die alten Strukturen befestigen oder diejenigen, die aufgrund ihrer bisherigen
Organisation in der Opposition einen riesigen Vorteil gegenüber anderen haben, am Ende des Tages sagen: Jetzt
haben wir die Wahlen gewonnen; das waren auch die
letzten Wahlen, die in diesem Land stattgefunden haben.
Das ist die Lehre, die wir aus den Erfahrungen mit Algerien in den 90er-Jahren gezogen haben. Deswegen müssen wir uns so stark einbringen und Angebote bei der
Entwicklung des rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Rahmens für die beteiligten Länder machen.
Meine Damen und Herren, seien wir aber auch ehrlich:
({6})
Die Menschen in Tunesien, in Ägypten und in anderen
Ländern haben nach Freiheit gerufen, nach Partizipation,
nach Würde; aber sie haben auch nach Brot gerufen.
Wenn keine Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage erreicht wird, kann der ganze Prozess, der
uns mit so viel Mut und so viel Freude ausgestattet hat,
auch schnell in sich zusammenbrechen. Deswegen müssen wir auch ökonomisch handeln. Das heißt, wir müssen sehen, wann und wie - möglichst schnell, sofern verantwortbar - der Tourismus wieder in Gang gesetzt
werden kann. Dass das gegenwärtig nicht möglich ist, ist
ein riesiger Verlust für ein Land wie Tunesien.
Aber wir müssen auch - das müssen wir in der Europäischen Union klar durchdeklinieren - unsere Märkte
öffnen.
({7})
Ich erinnere mich an entsprechende Vorgänge aus den
90er-Jahren. Damals wurde gesagt: Wenn wir den Menschen in Nordafrika keine Perspektive bieten können,
weil wir beispielsweise noch nicht einmal ein paar Tonnen Dosentomaten aus Marokko in die Europäische
Union importieren wollen, dann werden wir unglaubwürdig. - Auch bei diesem Thema muss sich daher etwas ändern.
Die Migrationsfrage wird uns sehr beschäftigen. Sie
hat bisher, seien wir ehrlich, eine überschaubare Dimension. Die Bilder sind furchtbar. Sie sind deshalb so
furchtbar, weil man relativ schlecht vorbereitet war und
weil man die Lager zwischenzeitlich geschlossen hatte.
Wenn ich die Gesamtzahl der Flüchtlinge mit der Zahl
von Asylbewerbern, die es in Deutschland im Jahr 2010
gab, vergleiche, dann muss ich sagen, dass die Situation
nicht so dramatisch ist. Aber dies kann sich ändern,
wenn wir es nicht schaffen, den Menschen vor Ort wieder eine Perspektive zu bieten. Das kann sich ändern,
wenn die Gewaltexzesse weitergehen. Am Ende des Tages werden wir es an Solidarität sicherlich nicht fehlen
lassen. Aber gegenwärtig ist all das, was angesichts dieser Situation gefordert wird, ein bisschen übertrieben.
Wir haben eine klare Aufgabe. Das Fenster der Freiheit ist geöffnet. Ob es möglicherweise vorzeitig wieder
geschlossen wird, wird von den Menschen in den betroffenen Ländern abhängen. Ich möchte aber nicht, dass wir
uns eines Tages den Vorwurf machen müssen, dass wir
den Menschen nicht genügend geholfen haben, die Möglichkeit der Freiheit zu nutzen.
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das friedliche Aufbegehren der Bürgerinnen und Bürger
in vielen arabischen Staaten ist das, was man historisch
wohl als Meilenstein bezeichnen wird. Es wurden Diktatoren gestürzt, die 30 oder 40 Jahre lang an der Macht
waren und ihr Volk geknechtet haben.
Als Ben Ali stürzte und Mubarak aufgab, waren die
anderen arabischen Autokraten in den Nachbarländern
relativ ruhig. Nur der libysche Revolutionsführer alGaddafi hat sich geäußert. Er hat öffentlich den Sturz
dieser Diktatoren bedauert und riet zur Übernahme seiner „Herrschaft der Massen“-Doktrin, die er in seinem
Grünen Buch beschrieben hat. Auch in anderen Ländern
gibt es grüne Bücher. Ich nenne beispielsweise Turkmenistan. Dort jedenfalls hat derjenige, der ein grünes
Buch herausgegeben hat, sicherlich Schwierigkeiten,
was seine geistigen Kapazitäten anbelangt.
Menschenrechtsverletzungen zeichnen alle diese Regime aus bzw. haben sie ausgezeichnet: Tunesien, Ägypten und auch Libyen. Wir sehen die Bilder aus Libyen.
Der besagte Diktator lässt die protestierenden Massen
beschießen. Er lässt den Aufstand blutig niederschlagen
oder versucht es zumindest. Er hat angeblich die eigene
Luftwaffe in Alarmbereitschaft versetzt und lässt die
Aufständischen bombardieren oder von eigens angeheuerten afrikanischen Söldnern jagen. Die Zahlen widersprechen sich zwar etwas, aber wir können davon
ausgehen, dass in den letzten Tagen zwischen 600 und
2 000 Menschen bei diesem Aufstand ums Leben gekommen sind. Ich denke, das wird leider noch nicht das
Ende sein.
Wie war die Situation in Libyen? Wichtige Grundrechte wurden missachtet. Es gab kein Recht auf freie
Meinungsäußerung. Opposition war ein Fremdwort. All
das rächt sich jetzt. Die Aufständischen und all diejenigen, die für ihre Rechte kämpfen, werden wohl in den
nächsten Wochen und Monaten die Schwierigkeit haben
- das könnte in den anderen Ländern besser funktionieren -, sich eine Plattform für einen eigenen Staat zu
schaffen.
Wir müssen uns aber auch mit der Frage beschäftigen,
warum es so viele Flüchtlinge aus diesen Ländern gibt.
Die Flüchtlingssituation hat gravierende Ausmaße angenommen. Die Menschen fliehen auf der einen Seite in
die Nachbarländer. Die Nachbarländer haben aber die
bereits von mir beschriebenen Probleme. Sie werden
wohl nicht in der Lage sein, diese Flüchtlinge vernünftig
aufzunehmen.
Auf der anderen Seite gibt es die Flucht nach Europa.
Da frage ich mich, ob es sich jetzt nicht rächt, dass die
EU mithilfe von Gaddafi bisher versucht hat, sich diese
Flüchtlinge vom Hals zu halten.
({0})
Sie werden die Möglichkeit, die sich ihnen nun bietet,
ergreifen und über das Mittelmeer fliehen. Sie werden,
wie gesagt, auch versuchen, in die anderen Länder zu
fliehen. Sie versuchen, auch vor der wirtschaftlich desaströsen Situation in ihrem Land zu fliehen.
Ich kann Ihnen, Herr de Maizière, nicht recht geben,
wenn Sie sagen: „Wir können nicht alle armen Afrikaner
nach Europa lassen.“ - Ich denke, wir müssen unserer
Verantwortung gerecht werden, die wir deshalb haben,
weil sich die EU eben bisher die Menschen mithilfe von
Gaddafi vom Hals gehalten hat. Dieser Verantwortung
müssen wir gerecht werden, und wir müssen dafür sorgen,
dass auf der einen Seite in den Nachbarländern Strukturen
entstehen, die es den Flüchtlingen, soweit es in dieser Situation irgend möglich ist, ermöglichen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Auf der anderen Seite müssen
Angelika Graf ({1})
wir auch innerhalb Europas Solidarität - zum Beispiel mit
Italien - üben. Martin Schulz von der Sozialistischen
Fraktion im Europäischen Parlament hat die europäischen Länder massiv dazu aufgefordert, Solidarität innerhalb Europas zu üben; denn es kann nicht sein, dass
allein Italien die Last der Vorgänge trägt, die wir im Augenblick erleben.
Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger solcher Staaten jetzt unserer Unterstützung versichern. Ich denke,
der Marshallplan, den Günter Gloser und Frank-Walter
Steinmeier angeregt haben, ist die richtige Lösung. Dieser Marshallplan ist etwas, was auf Dauer wirken kann.
Wir müssen aber akut etwas gegen die schlimme Lage
der Flüchtlinge tun. Wir müssen daran arbeiten, dass wir
bei der Demokratisierung dieser Region weiterkommen.
Die Demokratisierung dieser Region ist der Schlüssel
zum Erfolg und zu mehr Ruhe im Mittelmeerraum sowie
zu einer vernünftigen regionalen Entwicklung. Dazu gehört auch, dass wir die Wirtschaften, die in diesen Regionen existieren, anerkennen; denn Menschen ohne Arbeit werden weiterhin aus Libyen und aus dem gesamten
Raum fliehen. Das ist etwas, was Sie auch bei der Menschenrechtsratssitzung gemeinsam mit Libyen besprechen sollten. Ich denke, es ist auch eine Chance, dass Libyen dabei ist.
({2})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, will
ich Ihnen kurz die von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentli-
chen Abstimmungen mitteilen. Ich komme zunächst
zum Ergebnis der Abstimmungen über die 19 Anträge
der Fraktion Die Linke zu Korrekturen der Überleitung
von DDR-Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht
auf den Drucksachen 17/1631 und 17/3871 bis 17/3888.
Die Auszählung der namentlichen Abstimmungen hat
eine Mehrheit von Nein-Stimmen ergeben. Damit sind
die Anträge abgelehnt. Das detaillierte Ergebnis der na-
mentlichen Abstimmungen wird später im Stenografi-
schen Bericht veröffentlicht.1)
({0})
Wir kommen nun zum Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen. Es ging dabei um die Ver-
besserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem
1. Januar 1992 Geschiedenen. Abgegebene Stimmen:
578. Mit Ja haben 313 gestimmt, mit Nein 264. Es gab
eine Enthaltung. Die Beschlussempfehlung ist damit an-
genommen.
1) Anlagen 5 bis 23
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 577;
davon
ja: 312
nein: 264
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({3})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({4})
Dirk Fischer ({5})
Axel E. Fischer ({6})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({7})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({8})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({9})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({10})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({11})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({12})
Nadine Schön ({13})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Ludwig
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({15})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({16})
Anita Schäfer ({17})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({18})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({19})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({20})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({21})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({22})
Peter Weiß ({23})
Sabine Weiss ({24})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({25})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({26})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({27})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({28})
Michael Link ({29})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Jan Mücke
Petra Müller ({30})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({31})
Hans-Joachim Otto
({32})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({33})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({34})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({35})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({36})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({37})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({38})
Hubertus Heil ({39})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({40})
Frank Hofmann ({41})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({42})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({43})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({44})
Michael Roth ({45})
Marlene Rupprecht
({46})
Axel Schäfer ({47})
Bernd Scheelen
Ulla Schmidt ({48})
Silvia Schmidt ({49})
Carsten Schneider ({50})
Swen Schulz ({51})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
({52})
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({53})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({54})
Volker Beck ({55})
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({56})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({57})
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({58})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({59})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Kolbe
Nun zum Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Keine Privatisierung von Äckern, Seen und Wäldern“. Abgegebene
Stimmen: 578. Mit Ja haben 313 gestimmt, mit Nein 69.
Es gab 196 Enthaltungen. Auch diese Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 578;
davon
ja: 313
nein: 69
enthalten: 196
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({60})
Manfred Behrens ({61})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({62})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({63})
Dirk Fischer ({64})
Axel E. Fischer ({65})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({66})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({67})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({68})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({69})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({70})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({71})
Nadine Schön ({72})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({73})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Ludwig
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({74})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({75})
Anita Schäfer ({76})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({77})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({78})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({79})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({80})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({81})
Peter Weiß ({82})
Sabine Weiss ({83})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({84})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({85})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({86})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({87})
Michael Link ({88})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Jan Mücke
Petra Müller ({89})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({90})
Hans-Joachim Otto
({91})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({92})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({93})
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Nein
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({94})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
Enthalten
CDU/CSU
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({95})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({96})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({97})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({98})
Hubertus Heil ({99})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({100})
Frank Hofmann ({101})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({102})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({103})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({104})
Michael Roth ({105})
Marlene Rupprecht
({106})
Axel Schäfer ({107})
Bernd Scheelen
Ulla Schmidt ({108})
Silvia Schmidt ({109})
Carsten Schneider ({110})
Swen Schulz ({111})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
({112})
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({113})
Volker Beck ({114})
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({115})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({116})
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({117})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({118})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nun hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff für
die CDU/CSU das Wort.
({119})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Libyen steht in Flammen, und das libysche Regime trägt hierfür die volle Verantwortung. Mit
brutaler Gewalt unterdrückt es die Proteste der eigenen
Bevölkerung. Diktator Gaddafi hat zur Ermordung der
Demonstranten aufgerufen. Ein Regime, das sein eigenes Volk derart behandelt, begeht systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Verbrechen gegen
die Bürgerinnen und Bürger müssen sofort aufhören.
Dieses Vorgehen ist vollkommen inakzeptabel. Wir verurteilen es auf das Schärfste. Die Demonstranten nehmen ihre Menschen- und Bürgerrechte wahr. Meinungsfreiheit und das Recht, sich friedlich zu versammeln,
sind fundamentale Rechte eines jeden Menschen, die respektiert und geschützt werden müssen. Sie haben dabei
unsere uneingeschränkte Unterstützung.
({0})
Die Lage in Libyen hat sich in den letzten Tagen sehr
unübersichtlich dargestellt. Herr Staatsminister, Sie
konnten auch heute ein nur sehr unvollständiges Lagebild geben. Vorrangiges Ziel musste zunächst der Schutz
der deutschen und europäischen Bürger in Libyen sein.
Die CDU/CSU-Fraktion dankt deshalb der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt, dass sie in dieser
schwierigen Lage innerhalb kürzester Zeit deutsche
Staatsbürger sicher nach Hause haben ausfliegen lassen.
Die libysche Führung hat den Tod mehrerer Hundert
Menschen zu verantworten; es klebt Blut an den Händen
der libyschen Führung. Dies darf nicht ohne Folgen bleiben. Es muss deshalb Sanktionen gegen die Regierung
Gaddafi geben. Die EU muss hier mit einer Stimme
sprechen.
({1})
Es ist völlig inakzeptabel, dass vor allem ein EU-Land
aus falsch verstandener Partnerschaft zu Libyen die EU
am dringend erforderlichen Handeln hindert und damit
zugleich eine Ignoranz der brutalen Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck bringt.
({2})
Am kommenden Montag beginnt die nächste Sitzungsperiode des UN-Menschenrechtsrates. Es ist für
mich ein völlig unerträglicher Gedanke, dass Libyen
dann wieder in diesem Gremium sitzt, und dies im Beisein von Lady Ashton, die ihre Teilnahme angekündigt
hat. Herr Staatsminister, ich erwarte, dass Lady Ashton
für die EU die geeigneten Worte findet. Ich bin dankbar,
dass sich die Bundesregierung im Vorfeld der Sitzung
des UN-Menschenrechtsrates dafür starkmacht.
({3})
Der UNO-Sicherheitsrat muss darüber beraten, wie
die libysche Zivilbevölkerung vor Söldnern des GaddafiRegimes geschützt werden kann. Wir erwarten, dass
Deutschland und andere EU-Staaten die Initiative ergreifen und eine Dringlichkeitssitzung beantragen. Nötig ist
ein Mandat der Vereinten Nationen, um die Flüge nach
Libyen zu unterbinden, mit denen Söldner in das Land
gebracht werden sollen. Die Sperrung der Konten - es ist
gesagt worden, was dafür technisch erforderlich ist sollte ohnehin selbstverständlich erfolgen.
Es gibt unterschiedliche Zahlen hinsichtlich der Flüchtlingssituation. Der Rote Halbmond meldet 5 700 Menschen, die ins benachbarte Tunesien geflohen seien. Es
hilft uns nicht weiter, wenn wir Flüchtlingsströme herbeireden. Um diese zu verhindern, müssen wir die Ursachen
der Migration in Afrika - das ist zu Recht von Herrn HoDr. Andreas Schockenhoff
yer und von meiner Vorrednerin gesagt worden - kurzfristig wie auch langfristig bekämpfen. Wir müssen dafür sorgen, dass den Menschen in ihrer Heimat stabile
Verhältnisse und wirtschaftliche Perspektiven geboten
werden. Wir brauchen natürlich auch eine Stärkung der
europäischen Grenzschutzorganisation FRONTEX, aber
nicht, um die Menschen draußen zu halten
({4})
- nein -, sondern um den Menschen dort, wo sie sind,
eine echte Lebensperspektive zu geben.
({5})
Die CDU/CSU-Fraktion kann Innenminister de Maizière
nur zustimmen: Wir sollten keine Flüchtlingsströme organisieren, sondern Aufbauhilfe leisten und Lebensperspektiven in den Heimatländern bieten.
({6})
Bei aller Tragik müssen wir die Ereignisse auch als
eine Chance begreifen und beherzt agieren. Ich unterstütze ausdrücklich die Initiative der Bundesregierung,
den betroffenen Ländern eine Transformationspartnerschaft anzubieten.
({7})
- Wir brauchen uns nicht gegenseitig Vorwürfe zu machen. - Natürlich müssen wir die Nachbarschaftspolitik
der Europäischen Union im Süden wie im Osten völlig
neu überdenken und uns fragen, was wir falsch gemacht
haben und warum wir erst dann reagieren, wenn es
brennt.
Die Europäische Union darf universelle Menschenrechte nicht nur predigen; sie muss vielmehr für diejenigen einstehen, die die Geltung dieser Rechte für sich einfordern. Es wird uns in der Europäischen Union auf
Dauer nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarn
schlecht geht.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Schönen Dank, Frau Präsidentin! - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, im ganzen Hause muss
Klarheit darüber bestehen, dass wir fordern und nicht
bitten, dass die Gewalt gegen Demonstranten in Libyen
sofort und endgültig eingestellt wird.
({0})
Das ist die erste Forderung. Da kann es überhaupt kein
Vertun geben. Wir müssen dem libyschen Staat, der Familie Gaddafi und ihm selbst deutlich machen, dass
nichts, aber auch gar nichts diese Orgie der Gewalt
rechtfertigen kann und dass wir uns als deutsches Parlament schützend an die Seite der Demonstranten stellen.
Das ist zwar eine symbolische Geste, aber solche symbolischen Gesten sind in bestimmten Situationen politisch außerordentlich wichtig.
({1})
Ich sage genauso klar: Wer in der jetzigen Situation
anfängt, mit dem Gedanken an militärische Maßnahmen
zu spielen und in der Öffentlichkeit über den Einsatz von
Militär zu spekulieren, der hilft der Familie Gaddafi bei
der Durchsetzung ihrer Gewaltpolitik.
({2})
Das schafft ein Klima, das nicht mehr zu steuern ist. Ich
halte auch nichts von der Debatte, Flugverbotszonen einzurichten. Wenn man sie einrichtet, hat man immer das
Problem, sie gewaltsam durchsetzen zu müssen. Damit
befindet man sich mitten in einer militärischen Auseinandersetzung. Das Militär ist in der jetzigen Situation
das schlechteste Mittel, das man anbieten oder mit dem
man drohen kann. Das muss völlig klar sein.
({3})
Ich mache Ihnen zwei andere Vorschläge. Ich würde
mich freuen, wenn wir uns demnächst mit Anträgen zu
diesem Thema befassen könnten. Ich möchte unbedingt,
dass sich die Europäische Union und auch Deutschland
selbst für Flüchtlinge aus dem gesamten arabischen
Raum öffnen
({4})
und in der jetzigen Situation FRONTEX nicht verstärken. Vielmehr muss man sich jetzt zurücknehmen. Das
wäre ein erster Vorschlag. Vielleicht können wir uns darauf einigen. Das wäre eine konkrete Hilfe für die Menschen, nicht ausreichend, aber immerhin eine Hilfe.
Mein zweiter Vorschlag: Lassen Sie uns gegenüber allen
Staaten der Europäischen Union, aber auch in unserem
eigenen Land dafür eintreten, dass die Waffenlieferungen sofort eingestellt werden, und zwar endgültig.
({5})
Vor diesem Problem kann man sich nicht drücken. Über
alles andere reden Sie, aber über solche Probleme reden
Sie nicht. Das hat Ursachen.
Ich möchte über einen weiteren Punkt diskutieren. Ich
frage mich: Machen Sie sich eigentlich Gedanken darüber, wie gering die Europäische Union und auch unser
Land in den arabischen Ländern angesehen sind? Machen Sie sich keine Gedanken darüber, dass man dort bemerkt, dass unsere Politik mit doppelten Standards arbeitet?
({6})
Ich habe mich gefragt, warum gerade jetzt, nachdem vieles passiert ist, eine kritische Abrechnung mit
Mubarak beginnt. Zuvor haben alle geschwiegen. Ich
frage mich, warum Gaddafi gerade jetzt - zu Recht, das
möchte ich betonen - angegriffen wird, obwohl man
vorher mit ihm zur Abwehr der Flüchtlingsströme paktiert hat. Das ist doch die Realität. Glauben Sie nicht,
dass das die Menschen nicht spüren?
({7})
Ich war dieser Tage in Ägypten und anderen arabischen
Ländern. Auf der Straße spürt man, dass die Europäische
Union, unser Land und auch unsere Bundesregierung
keine Glaubwürdigkeit mehr besitzen. Ich bin der Auffassung, wir müssen unsere Nahostpolitik, unsere Politik
gegenüber den arabischen Ländern grundsätzlich korrigieren.
Herr Hoyer hat recht: Es gibt unterschiedliche Ursachen für die Proteste, aber es gibt auch vergleichbare.
Ich möchte Ihnen einige nennen. Erstens. In allen Bewegungen erleben wir sehr stark, dass speziell junge Menschen soziale Rechte einfordern. Die soziale Entwurzelung ist eine der Ursachen der Proteste. Wenn man die
nicht bekämpft, wird man keine demokratische Entwicklung befördern können. Ein zweiter Punkt, der eine Rolle
spielt, ist der Wunsch nach wirklicher Demokratie, das
heißt, die klare Ablehnung kleptokratischer Regime in
diesen Ländern. Ein dritter Punkt hat etwas mit Würde
zu tun. Wenn Menschen über lange Zeit entwürdigt worden sind, hat das politische Auswirkungen und Nachwirkungen. Das ist in vielen Ländern identisch.
({8})
Entwürdigung muss gestoppt werden.
({9})
Wir haben allen Anlass, uns selbstkritisch mit diesem
Thema auseinanderzusetzen. Warum gehen wir den
selbstkritischen Auseinandersetzungen aus dem Weg,
wenn wir uns wirklich ändern wollen? Das ist nicht
glaubwürdig, das hat keinen Effekt, und das stärkt Demokratien nicht, sondern schwächt Demokratien.
Es ist falsch, den Ägypterinnen und Ägyptern, die
sich selbst befreit haben, jetzt zu sagen: Wenn es um
eine Verfassung und den Aufbau von Demokratie geht,
dann stehen wir euch zur Verfügung. Ihr könnt von uns
lernen. - Umgekehrt ist es richtig: Wir können von vielen Ägypterinnen und Ägyptern sowie Libyerinnen und
Libyern lernen, die ihren Kopf für die Demokratie
- nicht für weise Ratschläge - hingehalten haben.
Schönen Dank.
({10})
Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen der Kollege Hans-Christian Ströbele.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das „liebe“ sage ich heute aus voller Überzeugung, weil
ich den Eindruck habe, dass wir uns im Grunde weitgehend einig sind bei der Beurteilung der Situation Nordafrikas, insbesondere derjenigen Libyens.
({0})
In Nordafrika gibt es - ich habe einmal nachgezählt ein Dutzend Länder, in denen die Bevölkerung tage-,
manchmal wochenlang für Demokratie, für Freiheit, für
Menschenrechte, für Würde, aber auch für Brot und Arbeit auf der Straße ist. Das zeigt uns, dass auch Völker,
die islamisch geprägt sind, sehr wohl etwas von friedlicher Revolution verstehen und eine friedliche Revolution machen können, und zwar ohne unsere Anleitung.
Und das ist gut so.
({1})
Nun stellen wir bezüglich Libyens leider fest, dass
das Volk auf der Straße ist und sich bemüht, diesen Diktator loszuwerden, dieser aber zurückschlägt und das
Volk unterdrückt. Die Krone der Unterdrückung und Repression ist der kaum für möglich gehaltene Umstand,
dass er sein eigenes Volk aus Flugzeugen der Luftwaffe
bombardieren und beschießen lässt und dass er Söldner
aus anderen afrikanischen Staaten einfliegen und sein
Volk zusammenschießen lässt.
Auch ich sitze, wie wahrscheinlich viele von uns,
abends vor dem Fernseher oder vor dem Radio und höre
wie vor gut 20 Jahren die Nachrichten und frage mich:
Klappt es? Ist er bald weg? So war es in Bezug auf
Ägypten, wo es die ganze Nacht darum ging: Geht
Mubarak jetzt, oder geht er nicht? So ist es jetzt wieder
bezüglich Libyens, nur dass die Situation für die Bevölkerung dort noch viel dramatischer und schlimmer ist,
weil Menschen getötet werden, und zwar nicht Hunderte, sondern - wenn die Meldungen stimmen - bereits
über 2 000.
Das ist unerträglich. Die internationale Gemeinschaft,
die UNO und Europa müssen klar sagen, dass das Mordtaten sind. Sie müssen die Fakten benennen und dürfen
es nicht dabei bewenden lassen, vielmehr müssen sie
auch Konsequenzen ziehen und Sanktionen verhängen.
({2})
Zunächst fragen wir uns natürlich: Was hat Europa damit zu tun, was haben wir damit zu tun, dass das GaddafiRegime so reagieren kann? Wir müssen uns daran erinnern, dass der Diktator Gaddafi mit seinem Hofstaat
noch vor wenigen Wochen und Monaten in Europa hofiert worden ist. Er durfte seine Zelte auf großen Plätzen
in europäischen Hauptstädten aufschlagen. Alle waren
stolz, wenn sie mit ihm eingeladen wurden.
({3})
Damit haben wir nicht etwa lediglich auf das falsche
Pferd gesetzt; wir haben vielmehr wieder einmal den
Fehler gemacht, den wir in vielen Ländern der Welt
- nicht nur in Nordafrika - machen: Wir haben auf Potentaten gesetzt, weil wir dachten, Stabilität sei wichtiger
als Menschenrechte. Das darf nicht wahr sein. So kann
das nicht weitergehen.
Wir haben an Libyen sogar Technologien geliefert,
mit denen die Machthaber jetzt die Handys abschalten
und den Zugang zum Internet sperren können. Wir haben
Polizeihilfe geleistet. Europa hat über 100 000 Kalaschnikows geliefert. Wir müssen es uns eine Lehre sein lassen, dass solche Unterstützungsleistungen, dass solche
Hilfen für Militär und Polizei, die als Unterdrückungsinstrumente fungieren, gegen die Bevölkerung eingesetzt werden, wie es jetzt in Libyen der Fall ist.
Es reicht nicht aus, dass wir sagen: Wir verurteilen
das, wir stehen an der Seite der Bevölkerung, die auf die
Straße geht und der Ermordung droht. Wir müssen etwas
tun.
({4})
Sanktionen sind erforderlich, und zwar zunächst gegen
den Clan von Gaddafi. Sie dürfen nicht ausreisen. Wenn
sie ausreisen wollen, müssen sie festgehalten und festgesetzt werden. Sie müssen vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Das müssen wir ganz offensiv fordern. Diese Verfahren müssen wir einleiten.
({5})
Wir müssen die Konten sperren. Wir müssen ihre Vermögen einfrieren. All das kann jetzt auf den Weg gebracht werden, damit es irgendwann in den nächsten Tagen oder Wochen umgesetzt werden kann.
Wir müssen aber auch den Soldaten Zuflucht gewähren, die ihre Flugzeuge nach Europa bringen wollen, um
ihre Bevölkerung nicht bombardieren zu müssen. Diesen
Piloten und den Kapitänen und Matrosen, die mit Schiffen unterwegs sind, müssen wir Asyl anbieten. Darüber
hinaus müssen wir den Menschen helfen, die jetzt in Libyen verfolgt werden. Ich meine die Tunesier und Ägypter, die ermordet werden, deren Frauen vergewaltigt werden, die verfolgt werden, die in Nachbarländer fliehen.
Diesen Menschen müssen wir helfen. Gerade Länder
wie Tunesien und Ägypten müssen wir unterstützen, damit sie diesem Flüchtlingsstrom einigermaßen Herr werden können. Sie müssen in die Lage versetzt werden, die
Flüchtlinge zu humanitären Bedingungen unterzubringen.
({6})
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Letzter Satz. - Damit nicht genug: Das Volk in Libyen erwartet von uns ganz konkrete Unterstützung. Wir
sollten medizinische, humanitäre Hilfe anbieten, und wir
sollten in den Gebieten, die bereits befreit sind, eine solche Hilfe bereits jetzt anbieten. Das ist möglich. Das
kann auf den Weg gebracht werden.
Ich habe heute in der Zeitung gelesen,
Herr Kollege, keinen neuen Anlauf, bitte.
- dass deutsche Kriegsschiffe unterwegs sind. Sie
sollten der Bevölkerung in den befreiten Gebieten so
helfen. Das ist jetzt unsere Aufgabe. Daran müssen wir
arbeiten.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die gesamte arabische Welt befindet sich derzeit in
Aufruhr. Der Funke, der sich in Tunesien entzündete, ist
auf Ägypten, Algerien, die Golfregion und andere arabische Länder und nun auch auf Libyen übergesprungen.
Ich glaube allerdings nicht, dass man angesichts der
Entwicklung in der arabischen Welt von einem Dominoeffekt sprechen kann. Zu unterschiedlich sind Ausgangslage, aktuelle Situation und Perspektiven in den einzelnen Ländern. Libyen ist kein historisch gewachsener
Staat. Die Revolten in Tunis und Kairo stellten nie die
Einheit des jeweiligen Landes infrage. In Libyen verhält
sich das anders. Außerdem gibt es kein homogenes
Staatsvolk. Deshalb drohen alte Stammeskonflikte jetzt
wieder aufzubrechen. Anders als in Ägypten und Tunesien sind keinerlei Ansätze für eine Zivilgesellschaft und
nicht einmal rudimentäre demokratische Strukturen zu
erkennen. Es gibt keine politische Landschaft und vor allem niemanden, der das Land auf Anhieb repräsentieren
oder in einer Übergangsphase regieren könnte. Auch ist
das libysche Militär, anders als beispielsweise in Ägypten, kein stabilisierender Faktor. Die Armee ist vielmehr
gespalten. Deshalb ist die Zukunft Libyens ungewiss.
Aber nicht nur in den genannten Punkten unterscheiden sich die aktuellen Vorgänge in Libyen von den Vor10480
gängen in der übrigen arabischen Welt. Vor allem die
brutale Gewalt, mit der Gaddafi sein eigenes Volk niedermetzeln lässt, ist ohne Beispiel. Hunderte von Menschen - wahrscheinlich muss man inzwischen von Tausenden sprechen, darunter auch Ausländer - sind in den
letzten Tagen gewaltsam ums Leben gekommen, nur
weil sie für Freiheit, Menschenrechte und ein Leben in
Würde auf die Straße gegangen sind. Viele Tausende
sind auf der Flucht. Während eines bizarren Sekundenauftritts droht der Diktator seinem eigenen Volk sogar
mit Bürgerkrieg und spricht in einer theatralisch-grotesken Ankündigung von seiner Bereitschaft zum Märtyrertod.
Bei dem Vorgehen des Regimes gegen die Demonstranten handelt es sich mittlerweile längst nicht mehr nur
um die leider allzu bekannten Menschenrechtsverletzungen, die in Libyen seit nunmehr 42 Jahren zum Alltag gehören. Die wenigen Bilder, die wir aus dem isolierten
Land bekommen, zeigen eine Reaktion des Regimes, die
nur noch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet werden kann. Dieses barbarische Vorgehen gegen das eigene Volk ist weltweit schärfstens verurteilt
worden. Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang die Reaktion der Arabischen Liga, die Gaddafi unmissverständlich aufgefordert hat, die Gewalt einzustellen, so wie es bereits zu einem frühen Zeitpunkt die
Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister getan
haben. Die Bundesregierung gehört damit zu den Ersten,
die in der internationalen Staatengemeinschaft klar Position gegen den libyschen Despoten und sein Regime bezogen haben.
Oberste Priorität muss nun für uns haben, alle sich
noch in Libyen befindenden Deutschen sicher außer
Landes zu bringen. Des Weiteren darf es keinen Zweifel
an der gemeinsamen Haltung der EU gegenüber der libyschen Regierung geben.
({0})
- Ja, ja. - Auch wenn die Interessenlage in der EU vielschichtig ist, muss Europa, wenn es um die elementarsten Menschenrechte geht, mit einer Stimme sprechen.
Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Staatsminister Hoyer,
dass man da schon früher hätte mehr erwarten können.
Es ist Zeit, dass es jetzt zu einer gemeinsamen Haltung
der EU kommt.
Sollte Gaddafi weiterhin mit brutaler Gewalt sein Regime aufrechterhalten wollen - leider sind keine Anzeichen dafür erkennbar, dass er umdenkt -, müssen Sanktionen folgen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Libyen im
Chaos versinkt. Für Deutschland, die EU und die gesamte westliche Welt ist es von elementarer Bedeutung,
Libyen bei der Ingangsetzung eines Demokratisierungsprozesses zu unterstützen und zu verhindern, dass es
zum Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen wird.
Auch die nachhaltige Eindämmung der Flüchtlingsströme - nicht nur aus Libyen - liegt im klaren Interesse
aller EU-Länder. Das wird aber nicht funktionieren,
wenn sich Europa abschottet, sondern nur, wenn wir dabei behilflich sind, dass die Probleme in Nordafrika
selbst gelöst werden.
({1})
- Hilfe zur Selbsthilfe.
({2})
- Das heißt, es sollte keinen unbegrenzten Zufluss von
Flüchtlingen geben, Herr Kollege - das hat Kollege
Schockenhoff vorhin bereits angesprochen -,
({3})
sondern wir müssen vor Ort für bessere Lebensbedingungen, für bessere politische und wirtschaftliche Bedingungen sorgen.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Vorgänge
in der arabischen Welt haben inzwischen - da stimme
ich dem Bundesaußenminister zu - die Dimension einer
Zeitenwende, einer historischen Zäsur angenommen.
Auch wenn der Westen wenig Einfluss auf die weitere
Entwicklung der Ereignisse hat, kommt es jetzt darauf
an, klar Position zu beziehen und ebenso besonnen wie
entschlossen zu agieren.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Mützenich
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, wir sind Zeugen einer dramatischen,
furchtbaren und mörderischen Entwicklung in Libyen,
und wir fordern, ich glaube, als gesamter Deutscher
Bundestag: Das muss sofort beendet werden. Wir brauchen einen Gewaltverzicht.
({0})
Wir müssen eine friedliche Entwicklung in Libyen einfordern und diese nach unseren Möglichkeiten unterstützen.
Ich warne ein bisschen davor, auf die Posen von
Gaddafi hereinzufallen. Er ist voll zurechnungsfähig. Er
ist verantwortlich für die Taten, und er muss dafür auch
einstehen. Wenn ihn das eigene Volk oder die eigenen
Institutionen nicht zur Rechenschaft ziehen, dann muss
der Internationale Strafgerichtshof handeln, dann müssen die Möglichkeiten, die wir in der internationalen Gemeinschaft in den letzten Jahren gegen die Verletzung
der Menschenrechte entwickelt haben, sofort genutzt
werden. Ich hoffe, dass die Bundesregierung dies im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützt.
({1})
Ich bin der festen Überzeugung, dass das, was innerhalb der Europäischen Union in den letzten Tagen unternommen worden ist, in die richtige Richtung geht. Ich
will das auch an die Adresse der Bundesregierung sagen.
Ich glaube, Sie haben diesmal schneller, umfassender
und deutlicher reagiert. Im Gegensatz zu den Erfahrungen im Zusammenhang mit Tunesien und Ägypten ist
die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union zurzeit vorbildhaft. Aber das heißt auch, Herr Kollege
Schockenhoff: Sie müssen mit Ihrem Parteifreund
Berlusconi
({2})
über die Sonderrolle Italiens sprechen.
({3})
Zumindest müssen Sie versuchen, ihn mithilfe der Kontakte, über die Sie aus der Vergangenheit vielleicht noch
verfügen, zu überzeugen; ich glaube, alles andere ginge
in genau die falsche Richtung. Wenn man das nicht auf
Parteiebene machen will, dann muss es letztlich die Bundeskanzlerin in ihren Konsultationen mit dem Regierungschef tun.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine bestimmte Debatte, vor der ich ein bisschen warnen möchte, sollten
wir in Deutschland nicht befördern.
({5})
Ich habe wirklich Verständnis für die herrschende Skepsis, auch für die der Menschen in Deutschland, die vor
dieser Entwicklung natürlich Angst haben; das ist gar
keine Frage. Wir wissen noch nicht, was in allen Einzelheiten auf uns zukommt. Aber ich finde, wir Politikerinnen und Politiker dürfen die Situation nicht dramatisieren. Wir dürfen auch nicht die falschen Maßstäbe
anlegen.
Ein Beispiel ist die Diskussion über die Flüchtlinge.
Ich bin der festen Überzeugung, Libyen und seine Nachbarländer werden an den Grenzen viel größere Probleme
mit Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen haben, als es in
Europa jemals der Fall sein wird. Auch das gehört zum
Bild der Lage. Wir müssen bei diesem Thema alle Möglichkeiten, die wir in unserer Geschichte entwickelt haben, nutzen, auch in Sachen Toleranz.
Insbesondere finde ich, dass wir ein vollkommen falsches Bild von den Menschen zeichnen, die zurzeit versuchen, in ihrer Region, in ihren Ländern neue Gesellschaften aufzubauen. Sie demonstrieren doch nicht, um
fliehen zu können. Sie wollen in ihren Ländern bleiben.
Sie wollen sich selbst ermöglichen, in ihrem Land zu leben. Darin müssen wir sie auch von hier aus unterstützen, und wir dürfen nicht dramatisieren.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass die
Chancen überwiegen, sowohl für die Region als auch für
Europa. Junge Frauen und Männer, Arbeiterinnen und
Arbeiter, gut ausgebildete Menschen haben ihr Schicksal
in die Hand genommen. Sie stehen für Modernisierung
und Mobilität und auch für ein anderes Bild einer islamischen Gesellschaft. Die Demonstranten haben nicht gesagt, der Islam sei die Lösung für ihre Probleme, sondern
sie wollen eine moderne, mobile, demokratische, freie
Gesellschaft.
Ich finde, Europa muss signalisieren, dass wir diese
Bestrebungen unterstützen und sie als Chance begreifen.
So hat es auch Europa geschafft, nach dem Zweiten
Weltkrieg eine friedliche Entwicklung in unserer Region
einzuleiten. Setzen wir doch ein positives Signal! Das
heißt natürlich auch, dass man ehrlich sein muss. Wir
werden in der Europäischen Union eine neue Flüchtlingspolitik brauchen. Ich begrüße das, was Herr Staatsminister Hoyer hierzu für die Bundesregierung erklärt
hat.
Wir müssen uns klar darüber sein, dass wir den Menschen bestimmte Möglichkeiten eröffnen und ihnen einen temporären Aufenthalt anbieten müssen. Auch die
Frage des politischen Asyls wird in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Wir werden im Ausbildungssektor Hilfe leisten müssen. Insbesondere die Abschottung
der Europäischen Union im Agrarsektor muss beendet
werden. Hier geht es um genau das, was Sie eben gesagt
haben. Wir unterstützen das.
({7})
Wir haben die Chance, in dieser Region eine stabilisierende Rolle zu spielen. Insbesondere wird es aber auf
die Länder selbst ankommen. Ich hoffe, dass die Türkei
eine Menge wird bewegen können. Wenn es dann noch
gelingt, dazu beizutragen, dass Ägypten als stabiles, freiheitliches Land in dieser Region einen Stabilitätsanker
bildet, werden davon auch Europa und die Menschen,
die hier leben, profitieren können.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der vorletzten Sitzungswoche haben wir uns mit Tunesien beschäftigt, in der letzten Sitzungswoche mit
Ägypten, und heute befassen wir uns mit Libyen. Man
könnte die Frage stellen: Womit beschäftigen wir uns in
der nächsten Plenarwoche?
({0})
- Es kann so sein; aber wir wissen es noch nicht. Wir
alle wissen nicht, wie sich die Situation entwickelt. Wir
alle wissen auch nicht, was am Ende des Tages bei den
Reformprozessen herauskommt.
({1})
In den Ländern, mit denen wir uns bisher beschäftigt
haben, herrscht eine vergleichbare Situation: Die Leute,
die normalen Menschen, haben es gewagt, auf die Straße
zu gehen. Ich finde es unglaublich mutig, dass es Menschen in Libyen heutzutage immer noch wagen, auf die
Straße zu gehen, obwohl sie dort abgeschossen werden so muss man das sagen. Wir können uns vor diesem Mut
der Bevölkerung in Libyen nur verneigen und sie mit
den allerbesten Wünschen begleiten.
({2})
Auf der einen Seite gibt es also etwas Vergleichbares,
auf der anderen Seite gibt es aber auch große Unterschiede. Das müssen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Kenntnis nehmen und auch sehr deutlich sagen.
Wir können die Situation in Libyen nicht mit der in Tunesien oder Ägypten vergleichen. Während wir in Ägypten und Tunesien wenigstens eine Chance haben und
Strukturen erkennen können, in die sich etwas hineinentwickeln kann, gibt es dafür in Libyen nach meinem Dafürhalten bisher nicht den geringsten Ansatzpunkt. Das
ist ein großer Unterschied. Von daher sage ich auch: Was
da passiert, ist hochriskant. Wir wissen nicht, wie das
Ende aussieht. Wir können nur unterstützen, wo wir können.
Libyen ist also anders. Deshalb finde ich es auch richtig, dass die Reaktion der Bundesregierung auf die Situation in Libyen anders ist als im Fall von Ägypten und
Tunesien. Wir müssen uns den Situationen, die wir vorfinden, anpassen. Ich finde es sehr richtig, dass die Bundesregierung bzw. der Außenminister als erster europäischer Führer deutliche Worte gefunden hat. Das war
völlig richtig. In Libyen wird auf der Straße geschossen,
und Libyens Führer hat zum Bürgerkrieg aufgerufen; das
ist in Ägypten und Tunesien nicht passiert. Das ist eine
völlig andere Situation, und es bedarf auch anderer Gegenmaßnahmen. Es gibt eventuell die Möglichkeit, gegen Libyen Sanktionen zu verhängen, wobei das vielleicht zum Teil nur von symbolischer Bedeutung ist.
Ich möchte aber sehr deutlich sagen, dass ich große
Probleme damit habe, wenn Politiker in Deutschland,
vor allem aber auch im Ausland in diesem Zusammenhang von Völkermord sprechen und daran entsprechende
Konsequenzen knüpfen. Das Wort „Völkermord“ beinhaltet erstens, dass eine bestimmte Situation vorherrschen muss, die nach meinem Dafürhalten - aber ich bin
kein Völkerrechtler - heute in Libyen trotz der furchtbaren Ereignisse immer noch nicht besteht. Wenn der Terminus „Völkermord“ verwendet wird, bedeutet das
zweitens, dass unmittelbar und notwendigerweise Konsequenzen gezogen werden müssen. Herr Asselborn hat
das gestern Morgen in Deutschland gefordert. Ich hätte
mir gewünscht, dass er auch gesagt hätte: Wir Luxemburger sind bereit, heute Nachmittag ein Bataillon der
luxemburgischen Armee in Marsch zu setzen. - Denn
das wäre die Konsequenz. Wer A sagt, von Völkermord
spricht und sagt, man müsse etwas dagegen tun, der
muss auch B sagen und erklären, woher er die Soldaten
nehmen will. Ich sage hier und heute deutlich: Ich bin
nicht bereit, darüber nachzudenken, Bundeswehrsoldaten nach Libyen zu schicken. Das wäre aber die Konsequenz, wenn man von Völkermord spricht; das müssen
wir sehr deutlich sagen.
Aber wir müssen aus dieser Situation auch etwas lernen. Wir müssen bereit sein, zu erkennen, dass wir erstens von der Region nicht genug gewusst haben und uns
zweitens nicht genügend - wir haben ja auch andere
Baustellen - darum gekümmert haben. Wir müssen daraus lernen, wie wir in Europa vorgehen. Dazu möchte
ich sagen - als Abgeordneter kann man ja deutlicher
sprechen als die Regierung -: Für mich ist es völlig inakzeptabel, wie die italienische Regierung bisher mit dem
Thema umgegangen ist.
({3})
Das müssen wir als Abgeordnete deutlich zum Ausdruck
bringen. Ich kann die Bundesregierung nur ermutigen
und ermuntern - diese Unterstützung soll sie mitnehmen, und dazu hat sie, jedenfalls von mir und meiner
Fraktion, auch das Mandat -, in der Europäischen Union
in Freundschaft, aber auch in Klarheit dafür zu sorgen,
dass die Mittelmeerpolitik nicht von einem Klub von
Ländern dominiert wird, die ihre eigenen Interessen
- historische Bindungen usw. - verfolgen. Dafür ist das
Thema für uns alle in Europa zu wichtig. Hier muss Europa an einem Strang ziehen, und Deutschland ist besonders gefordert.
Ich bin besonders froh darüber, dass die Bundesregierung die ersten wichtigen und richtigen Maßnahmen
schnell ergriffen hat. Zunächst einmal ging es darum, in
dem Chaos in Libyen dafür zu sorgen, dass Deutsche
und andere Staatsbürger in Sicherheit gebracht werden Leib und Leben retten. Das hat die Bundesregierung effektiv und effizient gemacht. Das war hervorragend. Ich
glaube, ich kann im Namen aller sprechen, wenn ich den
Deutschen, die vor Ort, aber auch in Deutschland dazu
beigetragen haben, dass das schnell möglich war, ausdrücklich Dank und Anerkennung ausspreche. Herr
Staatsminister, bitte übermitteln Sie das Ihren Mitarbeitern!
({4})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Wir sind politisch gefordert. Wir sind zunächst gefordert, die wichtigen Dinge, die jetzt, in dieser
Woche und in diesen Tagen, anstehen, anzugehen. Dann
sind wir mittelfristig politisch gefordert, eine neue Mittelmeerpolitik in Europa zu entwickeln. Daran müssen
wir arbeiten. Dazu muss Deutschland einen wichtigen
Beitrag leisten. Wir dürfen dieses Thema nicht nur einigen wenigen Staaten überlassen. Deutschland muss seine
Rolle spielen, und wir, das Parlament, werden die deutsche Bundesregierung mit Kräften unterstützen.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Johannes Selle.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen erleben wir einmal mehr, wie viele Opfer es
kosten kann, wenn ein Diktator nicht aufgeben will. Man
kann bei der Fülle von Einzelinformationen nicht mehr
erkennen, ob 600, 1 000 oder bereits 2 000 Tote zu beklagen sind. Wer in die Menge schießt, hat jeden Anspruch auf Respekt verloren.
({0})
Er kämpft für niemanden mehr als für sich selbst.
Eine unübersehbare Zahl von brutalen Bildern kann man
im Netz finden - auch von toten Soldaten, die auf Befehl
Gaddafis getötet wurden, weil sie nicht auf Landsleute
schießen wollten. Wenn Soldaten durch ins Land geholte
Söldner ersetzt werden, dann hat der Diktator allein dadurch sein Recht verloren, das Volk zu vertreten.
Er kämpft bis zum letzten Blutstropfen um seine
Herrschaft und sein Einkommen. Dabei hat er durch die
Arroganz der Macht schon lange den Blick für die Realität verloren. Das bedeutet, er nimmt nicht mehr wahr,
dass er ohne die Zustimmung des Volkes handelt. Von
auf das Wohl des Volkes ausgerichteter Politik kann
schon lange keine Rede mehr sein.
Wenn man in dieser Zeit die Zeitungen liest, dann
sieht man, dass jetzt viele nationale und internationale
Vergehen aufgelistet werden, die einen erschaudern lassen. Es war bekannt, wes Geistes Kind das Regime ist,
und es fühlt sich nachträglich nicht gut an, für die Stabilität so manchen anderen europäischen Wert vernachlässigt zu haben. Jetzt aber ist die Zeit für klare Worte gekommen. Es reicht nicht, das Ende der Gewalt zu
fordern, sondern es muss die Verurteilung der Verantwortlichen verlangt werden.
Es wird ohnehin nicht mehr möglich sein, politisch
mit diesem System zu verhandeln. Alles, was für ein
schnelles Ende getan werden kann, muss auch schnell
getan werden. Dieses System darf durch nichts mehr
Zeit gewinnen, auch damit das libysche Volk in der verbleibenden Zeit nicht das Nachsehen hat und weiter betrogen wird. Wenn wir das Regime zögerlich verurteilen,
werden wir auf zögerliches Vertrauen der Bevölkerung
beim Neubeginn treffen. Bei diesem Neubeginn sollten
wir bereit sein, finanzielle Unterstützung und vor allem
Unterstützung beim Aufbau eines pluralen demokratischen Systems zu leisten.
Jede Opposition wurde brutal unterdrückt. Es gibt
keine geübten Strukturen. Wenn wir nicht zu einer geeigneten Unterstützung gelangen, werden vom Chaos nichtplurale Kräfte profitieren. Auch dafür gibt es Beispiele.
In der taz habe ich gelesen, dass islamische Führer gesagt haben, es bestehe die Pflicht der Muslime, gegen die
libysche Führung aufzubegehren. Die arabische Welt
wird nicht mehr so sein, wie sie war. Das ist die Chance,
über die Selbstbestimmung der nordafrikanischen Völker und die geografische Nähe zu einer echten und engen
Zusammenarbeit zu kommen. Darüber sollten wir hier
noch oft reden.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Wir sind uns darüber einig, dass die Gewaltherrschaft in
Libyen ein Ende haben und die Herrschaft von Gaddafi
überwunden werden muss. Das ist eine Riesenhürde.
Wir haben eben gehört, welche nächsten Schritte zu gehen sind.
Ich möchte an dieser Stelle einmal betrachten, wie es
denn eigentlich einem Volk ergeht, das aufbegehrt und
wohl einen Neubeginn haben möchte, und welche Voraussetzungen dafür vorhanden sind.
Ich betone ausdrücklich, dass vor Ort keine Entwicklung ohne eine gute Regierungsführung stattfinden kann.
An dem Beispiel dieses Landes wie auch anderer Länder
sehen wir, wie wichtig es ist, hier zu ganz neuen demokratischen Strukturen zu kommen.
Dabei stellt sich die Frage: Kann man mit der Entwicklungszusammenarbeit in Libyen die neuen Strukturen, die hoffentlich demokratischer Natur sind - wir
müssen das weiter beobachten -, unterstützen? Ein Blick
auf die derzeitige Situation zeigt: Bisher war Libyen
kein Partnerland bei der Zusammenarbeit in der Entwicklungspolitik.
Es gab zwei kleine regionale Projekte, die über die
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit verwirklicht wurden. Aber diese Projekte erfolgten in regionalem Zusammenhang und gegen Bezahlung, also nicht
durch Einsatz von Steuermitteln. Das war und ist derzeit
nicht unbedingt erforderlich, weil Libyen über große
Erdölvorkommen und damit auch sehr viele eigene Ressourcen verfügt.
Wenn aber die derzeitigen Strukturen überwunden
sein sollten und sich abzeichnet, dass es in Libyen demokratische Strukturen und Kräfte gibt, die den Neuaufbau
wollen, wie wir uns das vorstellen, stellt sich die Frage,
ob wir dann helfen können. Ich verweise darauf, dass das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
({0})
drei Fonds für Nordafrika und Nahost aufgelegt hat, zu
denen ich einige Details nennen möchte. Es gibt einen
Demokratiefonds, einen Bildungsfonds und einen Wirtschaftsfonds. Der Demokratiefonds ist mit 3,25 Millionen Euro ausgestattet, die für den Aufbau und die Unterstützung der politischen Stiftungen, die Akademie der
Deutschen Welle, die Gründung von Parteien und die
Organisation von Wahlen bestimmt sind. Der Bildungsfonds mit einem Umfang von 8 Millionen Euro hat die
Qualifizierung von jungen Menschen insbesondere im
beruflichen Bereich im Blick. Der Wirtschaftsfonds mit
einem Umfang von 20 Millionen Euro soll dieser Region
helfen, die Perspektiven zu verbessern und insbesondere
durch die Gründung von Kleinstunternehmen und mittelgroßen Unternehmen mithilfe von Mikrofinanzierung
Arbeitsplätze zu schaffen.
Es gibt also einen breiten Rahmen. Wir müssen sehen,
wie sich die Dinge weiterentwickeln.
Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, dass die
westlichen Länder möglicherweise von außen diktieren
wollen, was demnächst vor Ort in den genannten Ländern in Nordafrika und im Nahen Osten passiert. Vielmehr muss der Neubeginn von innen heraus vor Ort gestaltet werden. Die Menschen vor Ort müssen eine
Perspektive haben, damit sie Arbeitsplätze finden, dort
bleiben können und eine Zukunft haben. Ich glaube, das
ist für uns eine sehr wichtige Aufgabe.
({1})
Wir brauchen zudem sehr individuelle, maßgeschneiderte Hilfen und Unterstützung. Auch dafür gibt es keine
Allgemeinlösung.
Zum Schluss möchte ich einen Punkt betonen. Der
Kollege Stinner sprach von einer neuen Mittelmeerpolitik, die wir brauchen. Das ist sehr richtig. Denn die Kräfteverhältnisse und die Verhältnisse überhaupt haben sich
vollkommen geändert. Im Bereich einer neuen Mittelmeerpolitik müssen wir aber den Fokus insbesondere auf
die ländliche Entwicklung richten. Für die ländliche Entwicklung und den Agrarsektor ist es absolut notwendig,
dass die EU-Agrarsubventionen im Export gestrichen
werden
({2})
und die Länder eine Chance haben, in Zukunft weiter
agieren zu können, um den Aufbau voranzutreiben, statt
weiter den Mangel zu verwalten.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Günter Gloser für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer auf seine eigene Bevölkerung schießen
lässt, wer Söldner anwirbt, um Menschen töten zu lassen, wer unzählige Menschen auf dem Gewissen hat,
wer seine eigene Bevölkerung als Ratten tituliert, der hat
wahrlich keinen Schutz verdient.
({0})
Schutz verdient haben aber die vielen mutigen Menschen in Libyen, die auf die Straße gegangen sind.
({1})
Es gibt auch keinen Streit über die Analyse. Alle haben gesagt, welche Verhältnisse in Libyen herrschen,
auch im Vergleich zu Ländern wie Ägypten, Tunesien
oder anderen in der Golfregion. Es ist daher wichtig,
jetzt ein Zeichen zu setzen. Manchmal habe ich den Eindruck, wir haben immer noch nicht richtig verstanden,
was eine, zwei oder drei Flugstunden vom europäischen
Kontinent entfernt passiert. Angesichts dieser Umbruchphase wäre es wichtig gewesen, dass die Europäische
Union, abgesehen von der vielbeschworenen einen
Stimme, zumindest gesagt hätte: Wir setzen uns mittelfristig zusammen und beraten über die Konsequenzen
aus einem solchen Umbruch. - Aber ich kann nicht sehen, dass man das macht.
Verschiedene Redner haben bereits Kritik an der Vorgehensweise geübt. Herr Staatsminister Hoyer, es ist
vollkommen richtig, was Sie gesagt haben. Ich glaube,
Sie können die breite Unterstützung des Hauses für Ihre
Vorschläge bekommen. Aber das, was am Montag auf
europäischer Ebene herausgekommen ist - Sie haben an
den entsprechenden Sitzungen teilgenommen; ich zitiere
Sie jetzt nicht -, ist ein schwaches Bild.
({2})
Wenn ein Regierungschef den Eindruck erweckt - ich zitiere nur aus einer Zeitung, mit einer Fußnote versehen -,
dass er sich als Schutzmacht für Herrn Gaddafi geriert,
und sagt, man könne keine Sanktionen verhängen, weil
sonst möglicherweise Flüchtlinge zu uns kämen, dann
kann ich als Reaktion nur sagen: Das ist nicht die europäische Politik, auf die wir uns vor vielen Jahren verständigt haben.
({3})
Bevor ich auf die Binnenwirkung in unserem Land zu
sprechen komme, darf ich mit Einverständnis der Frau
Präsidentin aus der Berliner Erklärung zum 50. Jahrestag
der Europäischen Union zitieren:
Wir leben und wirken in der Europäischen Union
auf eine einzigartige Weise zusammen. Dies drückt
sich aus in dem demokratischen Miteinander von
Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen. Die
Europäische Union gründet sich auf Gleichberechtigung und solidarisches Miteinander. So ermöglichen wir einen fairen Ausgleich der Interessen zwischen den Mitgliedstaaten.
Wenn das so ist, dann müssen wir uns auch in der
Flüchtlingspolitik gegenseitig helfen.
({4})
Es hat doch keinen Sinn, dass manche auf der Einhaltung jedweder bürokratischen Regelung, die im Rahmen
von Dublin II getroffen wurde, bestehen. Da wir gerade
über Flüchtlingspolitik reden: Herr Staatssekretär Bergner, ich bin Ihnen dankbar, dass jetzt auch das Innenministerium vertreten ist. Sonst hätte ich das negativ angemerkt. Schließlich geht es auch um eine Aufgabe Ihres
Ministeriums.
Ich möchte einen Aspekt nennen, über den wir uns,
glaube ich, einig sind. Es ist sicherlich kein Widerspruch, wenn gesagt wird: Auf der einen Seite müssen
die Länder ihre Aufgaben machen. Auf der anderen
Seite müssen wir dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder in Schwung kommt und dass Demokratie und Freiheit herrschen. Das bestreitet niemand. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann man ernsthaft annehmen,
dass die betreffenden Länder dies alles allein schultern
können, sodass wir uns nicht um Flüchtlingspolitik und
Migrationsfragen wie Arbeitsmigration und Bildungsmigration kümmern müssen? Das alles muss doch im
Gleichklang geschehen. Ich finde es fatal, wenn ein
oberster Polizeifunktionär nach den ersten Flüchtlingsbewegungen nach Lampedusa sagt: Wir müssen Europa
zur Festung ausbauen. - Das kann nicht die richtige Antwort der Europäischen Union auf die aktuellen Fragen
sein.
({5})
Ich wünsche und hoffe, dass in diesen Stunden Sanktionen gegen Gaddafi und seine Clans verhängt werden.
Herr Staatsminister Hoyer, ich war gestern etwas überrascht - weil das sozusagen Ihre eigene politische Familie betrifft -, als ich die Meldung von Reuters gelesen
habe, wonach Herr Brüderle gesagt hat: Sanktionen stehen aktuell nicht an. - Das finde ich angesichts der Tatsache, dass Ihr Außenminister zuvor in Kenntnis dessen,
was am Montag in der Europäischen Union passiert ist,
etwas anderes gesagt hat, nicht gut. Die Vielstimmigkeit
in der Regierung sollte ein Ende haben.
Ich möchte am Schluss ausdrücklich den Kolleginnen
und Kollegen, die vor Ort in den deutschen Botschaften,
in verschiedenen Vertretungen und Institutionen tätig
sind, Dank für ihr Engagement und ihre Arbeit sagen.
({6})
Ich glaube, sie haben keine einfache Aufgabe. Das, was
in den letzten Tagen in Libyen passiert ist, ist nicht vergleichbar mit der Situation in anderen Ländern. Auch
deshalb bitte ich, Dank auszurichten.
Vielen Dank.
({7})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Fischer das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Libyen befindet sich in einem Kontext mit Tunesien,
Ägypten, den MENA-Staaten insgesamt. Trotzdem ist
jedes Land unterschiedlich. Wie wir sehen, könnten die
Auswirkungen in Tunesien, Ägypten und Libyen nicht
unterschiedlicher sein. Wir sehen, dass die Rebellion in
Tunesien und Ägypten gegen die eigenen Regierungen
in weiten Bereichen Früchte getragen hat. Wir sehen
aber auch, dass es für die Menschen in Libyen, wo der
Machthaber auf die eigene Bevölkerung schießt, im Augenblick keinerlei Perspektiven gibt.
Es gibt immer noch Diktatoren, die ihre Völker in
Geiselhaft nehmen: Castro, Ahmadinedschad, Baschir,
Kim Jong-il und einige andere. Der Massenmörder
Gaddafi zeigt jetzt, dass es noch schlimmer geht: brutale
Unterdrückung seit 40 Jahren, Mord, Inhaftierung, Isolierung, Folterung. Man nimmt den Menschen ihre
Würde. Man gibt ihnen keinerlei Chance zur Teilhabe.
Viele Menschen leben unterhalb des Existenzminimums.
Wie wir vom ehemaligen Justizminister Libyens hören,
war der Massenmörder Gaddafi am Mord von Lockerbie
direkt beteiligt: Er hat ihn befehligt. Dies ist jetzt in
Schweden bekannt geworden. Er hat den Abschuss des
PanAm-Jumbos 103 am 21. Dezember 1988, bei dem
259 Fluggäste und 11 Bewohner Lockerbies ums Leben
kamen, zu verantworten.
Ich danke ausdrücklich unserem Außenminister, aber
auch Herrn Staatsminister Hoyer und Herrn Niebel dafür,
dass man sofort gehandelt hat, dass man sofort Gespräche
in den entsprechenden Nachbarländern von Libyen geführt
und aufgezeigt hat, dass man denen, die dort rebellieren,
Chancen gibt, damit man dort Perspektiven sieht. Ich bin
dankbar, Herr Hoyer, dass Sie mir eben, als ich Sie kurz
gefragt habe, bestätigen konnten, dass es vollkommen
klar ist, dass diese Bundesregierung den Menschen in
Hartwig Fischer ({0})
Libyen sofort, wenn wir die Chance haben, Hilfestellung
zu geben, medizinische Hilfe und Nothilfe zukommen
lässt - direkt oder über NGOs -, damit sich die Situation
für die Menschen nicht über Wochen oder Monate
schlecht darstellt. Wir sind dankbar, dass das Versorgungsschiff „Berlin“ und die Fregatten „Brandenburg“
und „Rheinland-Pfalz“ bereits auf Kurs gegangen sind
und dass weitere Menschen mit dem Airbus der Bundeswehr zurückgeführt werden können, wie bereits gestern
Abend geschehen.
Herr Gehrcke, ich muss kurz auf Sie eingehen, weil
Sie kritisiert haben, dass in der Vergangenheit Gespräche
mit Mubarak und anderen dort auf höchster Ebene stattgefunden haben.
({1})
- Doch, auch Gespräche. Wir können es im Protokoll
nachlesen. - Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass
gerade in der Vergangenheit Männer wie Herr Gloser,
aber auch Ihr Kollege Aydin als Verantwortliche in den
Parlamentariergruppen bei allen Gesprächen dabei waren, die dort geführt wurden - daran waren Kollegen aus
allen Fraktionen beteiligt - und in denen die menschenunwürdigen Zustände in den einzelnen Staaten, das Unterdrücken der Bevölkerung, die Inhaftierung von Menschen, die Sperrung der Kontakte zu diesen Menschen
grundsätzlich thematisiert worden sind. Ich lege darauf
Wert, weil es eine der Hauptaufgaben unserer Parlamentariergruppen ist, Brücken zu schlagen, damit es den
Menschen in ihren Ländern besser gehen kann.
({2})
Ich sage ebenfalls ganz deutlich: Wenn wir den Menschen Perspektiven geben wollen, dann müssen sie nachhaltig sein. Dazu gehört, die Märkte zu öffnen. Das müssen wir in dem einen oder anderen Fall, etwa wenn es
um die Landwirtschaft geht, auch dann tun, wenn wir im
eigenen Land Gegenwind verspüren. Nur nachhaltige
Entwicklung, gerade im Maghreb, wird den Menschen
vor Ort helfen und ihnen die Chance geben, in ihren
Ländern Perspektiven zu finden.
({3})
Dazu gehört, dass es zu Einigkeit in der Europäischen
Union kommt. Es gibt derzeit ein klares Auseinanderklaffen zwischen den Nordländern und den Südländern
in der Europäischen Union, weil die Interessenlagen unterschiedlich sind. Es ist entscheidend, dass wir bei den
Gesprächen in den nächsten Tagen und Wochen eine gemeinsame Linie finden werden.
Wir brauchen eine begleitende Partnerschaft für diese
Länder und auch für Libyen, sobald sich dort die entsprechenden Gesprächspartner zeigen. Wir brauchen
eine nachhaltige Partnerschaft. Das heißt, wir dürfen
diese Länder, wenn sie aus dem medialen Fokus wieder
verschwunden sind, nicht vergessen, wie es bei anderen
Ländern in der Vergangenheit passiert ist. Ich will da gar
keine Regierung in der Vergangenheit ausnehmen.
Eine Bitte habe ich noch: Ich glaube nicht, dass es angehen kann, dass bereits am Freitag der Menschenrechtsrat tagt und Libyer aus der derzeitigen Regierung
am Tisch sitzen. Libyen muss vom Menschenrechtsrat
suspendiert werden. Gaddafi muss vor den Internationalen Gerichtshof gezogen werden.
Ich danke Ihnen.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a bis c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes
- Drucksache 17/4803 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Dr. Peter Tauber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian
Bernschneider, Heinz Golombeck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Stärkung der Jugendfreiwilligendienste - Bürgerschaftliches Engagement der
jungen Generation anerkennen und fördern
- Drucksache 17/4692 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Koch, Heidrun Dittrich, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen
statt Bundesfreiwilligendienst einführen
- Drucksache 17/4845 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Wehrpflicht geht und mit ihr auch der Zivildienst.
Wie schwer der Abschied fällt, merken viele von Ihnen
zurzeit in ihren Wahlkreisen. Viele kranke, ältere und behinderte Menschen sind in Sorge, weil sie die Arbeit der
Zivis als große Hilfe empfunden haben. Viele soziale
Einrichtungen befürchten, dass sie nicht mehr all das anbieten können, was aus Pflege Fürsorge macht: Zeit,
Hilfe und Zuwendung über das medizinisch Notwendige
hinaus.
Die spürbare Wehmut in den Wochen des Abschieds
ist aber auch eine große, eine schöne Anerkennung für
all das, was junge Männer in den letzten 50 Jahren in
mehr als 37 000 Einrichtungen in Deutschland geleistet
haben. Sie haben mit dem Zivildienst über die Jahre hinweg ein dicht geknüpftes Netz der Fürsorge gespannt
und es zu einem tragenden Pfeiler für den Zusammenhalt
der Gesellschaft gemacht. Gerade deshalb haben wir
jetzt die Chance, diesen Dienst weiterzuentwickeln zu
einem freiwilligen Angebot, das Männern und Frauen jeden Alters offensteht, zu einem Angebot, das Menschen
davon überzeugt, sich Zeit für Verantwortung zu nehmen, und zu einem Angebot, das Jung und Alt verbindet.
Mit dem Bundesfreiwilligendienst haben wir dafür die
Voraussetzungen geschaffen.
Der Bundesfreiwilligendienst ist der Nährboden für
eine neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland, für ein
Umfeld, in dem sich jüngere und ältere Menschen beteiligen wollen und aus eigener Motivation heraus aktiv werden können.
Kurz die Eckpunkte: Der Bundesfreiwilligendienst
steht Männern und Frauen jeden Alters offen. Die Freiwilligen sind gesetzlich sozialversichert. Sie erhalten ein
Taschengeld, das in Ost und West die gleiche Obergrenze hat. Der Einsatz soll zwischen 6 und 24 Monate
betragen, in der Regel Vollzeit. Bei den über 27-Jährigen
ist eine Teilzeit von mehr als 20 Wochenstunden möglich. Die Einsatzbereiche werden auf Sport, Integration,
Kultur, Bildung, Zivil- und Katastrophenschutz ausgedehnt.
Unser Ziel für den neuen Bundesfreiwilligendienst
sind 35 000 Freiwillige pro Jahr. Das ist zwar ein ehrgeiziges Ziel, aber ich bin optimistisch, dass wir dieses Ziel
erreichen werden. Optimistisch stimmt mich zum Beispiel, dass schon im Moment 30 000 junge Männer in
Deutschland die Möglichkeit nutzen, ihren Zivildienst
freiwillig zu verlängern. Das ist eine Möglichkeit, die
wir erst ganz aktuell geschaffen haben.
Viele Menschen im Ruhestand sind Gott sei Dank so
fit und wollen etwas von ihrer Lebenserfahrung und ihrem Wissen weitergeben. Auch in anderen Lebensabschnitten sind Auszeiten, zum Beispiel in Form von Sabbaticals, attraktiv. Die Bereitschaft, sich zu engagieren,
ist also vorhanden.
Gleichzeitig werden das Freiwillige Soziale Jahr und
das Freiwillige Ökologische Jahr ausgebaut. Insgesamt
fördert der Bund die Freiwilligendienste künftig mit
mehr als 350 Millionen Euro im Jahr. Gemeinsam mit
den Trägern und den Verbänden bin ich davon überzeugt, dass das vorliegende Gesetz die Freiwilligendienste in Deutschland insgesamt stärken wird.
({0})
Die Opposition wird dennoch zum x-ten Mal die angeblichen Doppelstrukturen kritisieren.
({1})
Da Ihnen jetzt wahrscheinlich auch wieder nichts anderes einfällt als die scheinheilige Frage, warum wir neben
dem FSJ und dem FÖJ noch einen Bundesfreiwilligendienst brauchen, will ich Ihnen das ganz präzise beantworten: Wir brauchen ihn, weil die Länder schlicht nicht
bereit sind, für den Ausbau der Freiwilligendienste
300 Millionen Euro auszugeben.
({2})
Der Bund hingegen ist dazu bereit. Wir investieren das
Geld in die Engagementförderung. Damit sind wir die
Bundesregierung, die wie keine Bundesregierung zuvor
so viel Geld in den Ausbau des bürgerschaftlichen
Engagements in Deutschland steckt.
({3})
Vor uns liegt eine gewaltige Gemeinschaftsaufgabe.
Wir müssen dafür werben, dass sich möglichst viele
Männer und Frauen, jüngere und ältere, in einem Freiwilligendienst engagieren. Dafür brauchen wir passgenaue Angebote sowie Tätigkeiten, die attraktiv und sinnvoll sind. Wir brauchen aber auch mehr Anerkennung
für gesellschaftliches Engagement in Deutschland.
Im Januar dieses Jahres habe ich Vertreter der Bundesländer, der kommunalen Spitzenverbände, der Hochschulrektorenkonferenz, der Wirtschaftsverbände und
viele andere an einen Tisch geholt, um darüber zu beraten, wie wir die Anerkennungskultur in Deutschland
stärken können. Wir waren uns darüber einig, dass eine
uniforme Anerkennung nicht weiterhilft. Es mag beispielsweise für den einen oder anderen eine super Sache
sein, den Freiwilligendienst als Wartezeit für einen Studienplatz anrechnen zu lassen. Das bringt aber demjenigen relativ wenig, der im Ruhestand vielleicht noch einmal für ein Jahr in einer Kita aushelfen möchte. Deshalb
brauchen wir ein ganzes Bündel unterschiedlicher Anreize, mit denen die jeweiligen Zielgruppen angesprochen werden sollen. Dafür müssen wir gemeinsam sorgen.
Ich persönlich finde es wichtig, dass wir dabei ganz
besonders junge Menschen mit Migrationshintergrund in
den Blick nehmen. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, bei Doppelstaatlern mit den jeweiligen Herkunftsländern darüber zu verhandeln, ob dort von der
Wehrpflicht abgesehen werden kann, wenn in Deutschland ein Bundesfreiwilligendienst absolviert wurde. Dabei denke ich vor allem an junge Männer mit türkischem
Migrationshintergrund. Bei der Wehrpflicht gibt es momentan bereits ähnliche Absprachen. Es wäre sehr gut,
wenn wir das auf den Bundesfreiwilligendienst übertragen könnten. Mit Sicherheit ist nichts so wirksam für die
Integration wie ein Bundesfreiwilligendienst. Dieser
Dienst bringt mehr als so manche staatliche Maßnahme.
({4})
- Entschuldigung, Ihr Zwischenruf zeugt davon, dass
Sie leider relativ wenig Ahnung haben.
In Deutschland gibt es allein aufgrund des Optionsmodells sehr viele junge Männer mit doppelter Staatsangehörigkeit, die noch Zeit haben, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Die Möglichkeit, hier in
Deutschland einen Bundesfreiwilligendienst zu absolvieren, kann dabei ein wichtiges Entscheidungskriterium
sein.
Wenn Sie den Geist des Zivildienstes erhalten und
auch weiterhin ein Netz der Fürsorge und der Hilfe in Ihrem Wahlkreis haben wollen, dann helfen Sie mit, eine
neue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland zu etablieren. Sagen Sie Ja zum Bundesfreiwilligendienst. Überzeugen Sie gemeinsam mit mir die Menschen in unserem
Land davon, dass es sich lohnt, sagen zu können: Ich
habe gedient.
Herzlichen Dank.
({5})
Die Kollegin Griese hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In diesem Land engagieren sich sehr viele Menschen ehrenamtlich. Ohne sie wären unsere Städte und Gemeinden ärmer. Sehr viele Jugendliche in unserem Land machen ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Freiwilliges
Ökologisches Jahr. Wir gehen von etwa 35 000 Jugendlichen im Jahr aus. Leider wird nur ein Teil von ihnen
durch den Bund gefördert. Der Bedarf ist noch viel größer. Es sind etwa doppelt so viele Jugendliche, die sich
um einen Platz bewerben. Bei den Auslandsdiensten und
in der Kultur - wir haben das gestern Abend noch einmal bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und
Jugendbildung sehr deutlich gehört - sind es sogar noch
viel mehr. All diese Jugendlichen wollen sich im Rahmen des FSJ oder FÖJ in den Bereichen Soziales, Sport,
Kultur oder Ökologie engagieren. Dazu kommen noch
die Jugendlichen bei „weltwärts“ in der Entwicklungspolitik.
Deshalb möchte ich zuallererst - ich hoffe auch, dass
ich das in Ihrer aller Namen tun kann - all denen danken,
ob Alt oder Jung, ob im FSJ oder in den vielen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände, in Initiativen und Kirchengemeinden, in der Nachbarschaftshilfe, in der Telefonseelsorge, in Umweltverbänden, in Kitas und Schulen, in
Behinderteneinrichtungen und Obdachlosenunterkünften, die sich freiwillig engagieren und die einen so wichtigen Beitrag leisten. Ihnen allen ein herzliches Dankeschön dafür!
({0})
Sie, liebe Frau Ministerin, haben mit dem Zivildienst
angefangen. Ich will ausdrücklich zum FSJ, zum Freiwilligen Sozialen Jahr, etwas sagen; denn das hat in den
letzten Jahren großen Zuspruch erfahren und es ist eine
bewährte, langfristig erprobte Form des freiwilligen Engagements Jugendlicher. Es ist auch deshalb so gut, weil
es im Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenleben die Möglichkeit gibt, sich persönlich oder beruflich
neu zu orientieren, sich auszuprobieren, Fähigkeiten einschätzen zu lernen. Von diesem Engagement profitieren
natürlich nicht nur die Jugendlichen, sondern die Gesellschaft insgesamt. Es ist die Chance, sich um Mitmenschen zu kümmern, einander zu begegnen, und für viele,
mit denen man spricht, die dieses Jahr gemacht haben,
war das auch ein Jahr, in dem sich ihr Berufswunsch entwickelt hat. Gerade junge Männer kommen häufig erst
dadurch auf die Idee, in soziale Berufe zu gehen. Wenn
Sie sich mit ehemaligen Zivis oder FSJlern unterhalten,
sehen Sie oft, wie ihre Augen glänzen, wenn sie von dieser Arbeit und von den Menschen erzählen, die ihnen anvertraut sind.
Der Freiwilligendienst bietet auch eine Chance, weil
Jugendliche dort unabhängig vom Elternhaus mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Schichten zusammenkommen. Wir haben ja nun leider eine viel zu frühe
Selektion im Bildungswesen. Deshalb ist auch das eine
ganz wichtige Sache. Mit dem Wegfall des Wehr- und
Zivildienstes wird jetzt ein Feld geräumt, wo sich Menschen begegnen können.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so
wichtig, jetzt die Chance richtig zu nutzen und im Zuge
der Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes attraktive und gut ausgestattete Freiwilligendienste konsequent zu stärken. Die SPD-Fraktion hat der Bundesregierung ihren konstruktiven Beitrag dazu angeboten. Wir
stehen für eine einheitliche Lösung im Interesse der jungen Menschen, die diese Freiwilligendienste machen
wollen, bereit.
({1})
- Danke.
Die Bundesregierung hat diese Chance ja bisher nicht
ergriffen, sondern will weiterhin - auch wenn Sie es
nicht mehr hören können - neben den bewährten, bestehenden Freiwilligendiensten einen neuen Bundesfreiwilligendienst installieren. Wir alle kennen die juristische
Debatte dazu. Wir sagen aber noch einmal ausdrücklich:
Wir halten diese Doppelstruktur weiterhin nicht für eine
gute und richtige Lösung; denn sie wird mehr Bürokratie
und Kosten verursachen.
Wenn Sie mit den Trägern des FSJ sprechen - viele
von uns tun das; einige haben das gerade auch gestern
Abend wieder getan -, erleben Sie da sehr viel Verunsicherung. Nach einer ersten Phase, die durchaus von
Freude darüber geprägt war, dass es mehr Mittel, wenn
auch leider nicht alle, die durch den Wegfall des Zivildienstes frei werden, für das freiwillige Engagement
gibt, gibt es jetzt sehr große Verunsicherung darüber, wie
diese neuen Bundesfreiwilligendienste organisiert werden sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat es mit ihrem Hin und Her wirklich geschafft,
alle zu verunsichern: erstens die jungen Menschen, die
wissen wollten, wie es bei ihnen biografisch weitergeht,
zweitens die Menschen in den Einrichtungen, die ihre
Zivis und FSJler zu schätzen wissen, drittens die Träger,
die qualifizierte Angebote machen wollen und Planungssicherheit brauchen. Wir haben jetzt in kurzer Zeit von
fünf verschiedenen Modellen gehört: von der Verkürzung des Zivildienstes, von der freiwilligen Verlängerung, von der Abschaffung, von der Aussetzung und nun
vom neuen Bundesfreiwilligendienst.
Hier muss man auch feststellen dürfen: Der Zeitplan
ist nicht optimal, und die Einrichtungen wissen immer
noch nicht, worauf sie sich ab dem 1. Juli einlassen können. Deshalb wird es auch schwierig sein, genügend
Menschen zu finden, obwohl wir ausdrücklich sagen:
Wir wollen viel dafür tun, damit sich junge Menschen in
diesem neuen Bundesfreiwilligendienst engagieren.
Es besteht weiterhin die Gefahr einer Zweiklassengesellschaft zwischen denen, die im FSJ sind, und denen,
die im neuen Bundesfreiwilligendienst sind.
({2})
Sie wissen, dass die SPD in ihren Regierungsjahren
auf den Ausbau des FSJ gesetzt hat. Da können Sie sicherlich kritisieren, dass das noch nicht genug war. Das
würde ich auch selbstkritisch annehmen; denn gerade die
Jugend- und Familienpolitiker wollten gerne mehr. Dabei waren Sie, liebe Frau Kollegin, allerdings auch nicht
immer hilfreich. Aber wir haben auf den Ausbau des FSJ
gesetzt. Wir haben den Zivildienst zum Lerndienst weiterentwickelt. Wir haben die generationsübergreifenden
Freiwilligendienste erfunden. Auch das ist, wie ich
glaube, eine wichtige Sache, die Sie ja auch teilweise
fortgesetzt haben. Ich denke, darauf hätte man mehr aufbauen müssen.
Wir wünschen uns auch eine sinnvolle Fortsetzung
des freiwilligen Engagements für Ältere. Ich glaube immer noch, es braucht unterschiedliche Konzepte, je
nachdem, ob man einen Dienst für Jugendliche anbietet,
die sich in einer Phase der beruflichen und biografischen
Orientierung befinden, oder ob man neue Möglichkeiten
des freiwilligen Engagements für Ältere schaffen will.
Dieser muss im Hinblick auf die Begleitung anders aussehen.
({3})
Das Jahr 2011 - viele wissen es noch gar nicht - ist
von der Europäischen Union zum „Europäischen Jahr der
Freiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven Bürgerschaft“ - in der EU-Sprache, ein etwas sperriger Titel erklärt worden. In Deutschland werden sich zahlreiche
zivilgesellschaftliche Akteure unter dem Motto „Freiwillig. Etwas bewegen!“ engagieren. Die Rahmenbedingungen sollen - das hat die EU so vorgeschlagen - in diesem
Jahr verbessert werden. Die Freiwilligenorganisationen
sollen gestärkt werden. Das freiwillige Engagement soll
mehr anerkannt werden, und die Menschen sollen für die
Bedeutung der Freiwilligentätigkeiten sensibilisiert werden.
Ich möchte ausdrücklich den Appell an die Bundesregierung richten: Nutzen Sie diese Chance! Wir brauchen
ein klares Auftreten der Bundesregierung beim Einsetzen
für die Ziele des Europäischen Jahres der Freiwilligentätigkeit. Die Zuständigkeit ist ja in Ihrem Haus, Frau Ministerin, und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Freien Wohlfahrtspflege angesiedelt. Ich appelliere weiterhin an Sie: Begreifen Sie dieses Europäische Jahr der
Freiwilligentätigkeit als Chance, das freiwillige Engagement europaweit zu unterstützen! Zeigen Sie etwas mehr
Herzblut! Denn es ist eine große Chance, die wir alle ergreifen sollten. Wir brauchen in Deutschland bessere
Strukturen zur Förderung des freiwilligen Engagements.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Bernschneider hat für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilligendienst und dem Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung der Jugendfreiwilligendienste
beraten wir heute nicht mehr und nicht weniger als eine
der größten engagementpolitischen Reformen, die es jemals in Deutschland gegeben hat.
Bereits im Koalitionsvertrag zwischen Union und
FDP haben die Förderung des bürgerlichen Engagements sowie der quantitative und qualitative Ausbau der
Freiwilligendienste breiten Raum eingenommen. Ich er10490
innere an die bisherigen Schritte: Die Neuregelung des
§ 14 c Zivildienstgesetz, aber auch die im Oktober 2010
vorgelegte erste Nationale Engagementstrategie waren
erste wichtige Maßnahmen, die wir heute mit den vorliegenden Anträgen und dem Gesetzentwurf fortschreiben.
Damit - es wurde gerade angesprochen - ist dieses
Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit mehr als eine
Worthülse. Diese Koalition tut alles dafür, dieses Europäische Jahr mit Leben zu erfüllen. Ich glaube, wir gehen da mit gutem Beispiel für die anderen europäischen
Länder voran.
({0})
Mit der Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch
mit der Aussetzung des Zivildienstes geht diese Koalition einen mutigen Schritt, zu dem bisherige Regierungen leider nicht bereit waren. Wir gehen den Schritt weg
von Pflichtdiensten hin zur Freiwilligkeit. Das ist auch
richtig so. Denn es ist doch absurd, dass wir so lange
darüber diskutiert haben, ob wir einen Pflichtdienst
brauchen. Dabei war doch klar, dass sich jeden Tag drei
junge Menschen auf einen Platz bewerben, um sich freiwillig engagieren zu können. Wir mussten zwei von ihnen eine Absage erteilen, weil eben geförderte Plätze
nicht in genügender Anzahl zur Verfügung standen.
Ich möchte ein besonderes Beispiel herausheben, weil
immer gefragt wird: Gibt es überhaupt genug junge Menschen, die sich freiwillig engagieren wollen? Allein im
Freiwilligendienst „kulturweit“ des Auswärtigen Amtes
haben sich auf 300 Plätze 2 000 junge Menschen beworben. Das macht uns allen deutlich, dass es genug junge
Menschen gibt, die freiwillig tätig werden wollen.
({1})
In diesem Punkt gebe ich Ihnen durchaus recht, Frau
Kollegin Griese: Nach den Diskussionen um die Verkürzung der Dauer der Wehrpflicht und des Zivildienstes,
die wir geführt haben, mag man vielleicht sagen: Da
hätte man auch gleich auf Wehrdienst und Zivildienst
verzichten können. - Als Liberaler würde ich das durchaus unterschreiben. Aber manchmal ist es in einer Koalition so, dass erst jemand für einen kleinen Schritt kämpfen muss, um dann gemeinsam einen großen Schritt zu
gehen. Wenn man sich diesen großen Schritt anschaut,
nämlich der Wechsel weg von Pflichtdiensten hin zur
Freiwilligkeit, den wir gehen wollen, und wenn man sich
vergegenwärtigt, wie kleinteilig mittlerweile die Kritik
der Opposition an dem Gesamtkonzept ist, dann wird
deutlich, dass wir unsere Arbeit in den letzten Wochen
und Monaten sehr gut erledigt haben.
({2})
Ich möchte noch einmal an den Anfang dieser Diskussion erinnern. Damals standen wir vor der Frage: Wie
können wir eigentlich all das Gute, das der Zivildienst
gebracht hat, nämlich das Engagement junger Männer
für unsere Gesellschaft und auch die Entwicklungschancen junger Männer zu fördern, beibehalten, wenn wir
den Wehrdienst und den Zivildienst aussetzen? Damals
war das Konzept vom freiwilligen Zivildienst im Gespräch. Da gab es vonseiten der Opposition, aber auch
von der FDP - das wissen Sie - die Befürchtung, dass
ein solcher freiwilliger Zivildienst die bisherigen durchaus guten Dienste - das Freiwillige Soziale Jahr und das
Freiwillige Ökologische Jahr - in ihrer Existenz bedrohen könnten. Aber wenn Sie heute sehen, was wir Ihnen
hier vorlegen - den Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilligendienst und den Antrag der Koalitionsfraktionen zur
Stärkung der Jugendfreiwilligendienste -, dann wird,
glaube ich, klar, dass sich diese Befürchtungen längst in
Luft aufgelöst haben. Wir nutzen die Fördermöglichkeiten des Bundes hinsichtlich der bisherigen Jugendfreiwilligendienste, die - das mag einem gefallen oder nicht zu einem Großteil in der Zuständigkeit der Länder liegen, endlich voll aus. Wir fördern trotz angespannter
Haushaltslage - auch das muss man einmal herausstellen - all jene Plätze für ein FSJ und FÖJ, für die seit langem zwar Bedarf besteht, für die aber bisher keine Regierung das nötige Geld hatte.
({3})
Wir erhöhen die Förderung für die Bildungsarbeit von
72 Euro auf 200 Euro. In diesen Tagen, in denen auch
viel über die Teilhabechancen junger Menschen diskutiert wird, möchte ich - auch weil es ein Herzensanliegen der FDP war - noch einmal sagen, dass für all diejenigen jungen Menschen, die es bisher nicht immer ganz
leicht im Leben hatten und die besonderen pädagogischen Förderbedarf aufweisen, noch einmal 50 Euro zusätzlich investiert werden.
Sie sehen also: Bevor wir überhaupt angefangen haben, darüber zu diskutieren, ob wir eine zweite Säule
brauchen, haben wir uns erst einmal um das Wichtige
gekümmert, nämlich die bestehenden Jugendfreiwilligendienste zu stärken, ihnen die Stärke zu geben, die sie
seit langem verdient haben.
Dann kann immer noch die Befürchtung bestehen,
dass das nicht ausreicht, dass sie trotzdem in eine Konkurrenzsituation geraten. Deswegen haben wir - das erkennen Sie, wenn Sie das Gesetz sehen - das Kopplungsmodell eingeführt, was auch wirklich garantiert,
dass beide Dienste nur stark sein können, wenn sie miteinander und nicht gegeneinander arbeiten.
Einen Unterschied gibt es, dass sich nämlich im Bundesfreiwilligendienst auch Ältere engagieren können.
Das geht in den Jugendfreiwilligendiensten nicht. Aber
ich erinnern daran: Wir sind mitten im demografischen
Wandel. Wir haben immer mehr Ältere, die aber immer
gesünder und fitter sind. Deswegen ist es auch gut, dass
wir gerade diesen die Möglichkeit geben, sich dauerhaft
- und nicht nur mit Projekten - in einem Freiwilligendienst zu engagieren.
Wenn die Regierungsfraktionen von zwei starken
Säulen sprechen, dann gehört es wohl auch zum alltäglichen politischen Hickhack, dass die Opposition eher von
Doppelstrukturen spricht. Ich kann auch gut verstehen,
dass man aufseiten der Opposition eher geneigt ist, die
Grenzen, die uns nun einmal durch die unterschiedlichen
Zuständigkeiten von Bund und Ländern vorgegeben
sind, zu übergehen.
({4})
Aber ich möchte noch einmal daran erinnern: Doppelstrukturen sind doch überhaupt nicht Kern des Problems.
Was haben wir denn bisher? Wir haben den Zivildienst
und die Jugendfreiwilligendienste. Um es ganz deutlich
zu sagen: Wir haben häufig zwei junge Menschen in derselben Einrichtung, die teilweise genau die gleichen
Aufgaben übernehmen, jedoch mit völlig anderen Rahmenbedingungen. Das ist der Status quo, an dem Sie als
Rot-Grün auch nie etwas getan haben. Deswegen sind
nicht die Doppelstrukturen Kern des Problems, sondern
es geht darum, dass zukünftig, wenn zwei junge Menschen freiwillig tätig sind, diese auch die gleichen Rahmenbedingungen vorfinden.
({5})
Nichts anderes tun wir jetzt. Sie haben die gleiche Anzahl an Urlaubstagen, die gleiche Anzahl an Arbeitsstunden. Sie haben das gleiche pädagogische Rahmenprogramm und am Monatsende auch das Gleiche in der
Tasche.
In Bezug auf das Kindergeld wird immer wieder ein
Punkt angesprochen, über den man zu Recht diskutieren
kann: Ist es gut so, wie es jetzt gelöst ist?
({6})
Ich sage auch im Namen der FDP, dass man über diese
Frage durchaus diskutieren kann, dass man darüber
nachdenken kann, ob man zu einer besseren, zu einer optimalen Lösung kommen kann. Ich bin auch zuversichtlich, dass uns das vielleicht noch gelingen wird.
In der Anhörung mit den Experten haben wir jetzt die
Chance, diese Detailfragen zu diskutieren. Ich würde mir
aber wirklich wünschen, dass die Opposition - gerade
SPD und Grüne - nicht länger diese Detailfragen nutzt,
um ihre Fundamentalkritik an diesem wirklich guten
Konzept zu begründen, sondern dass sie endlich anfängt,
sich konstruktiv einzubringen. Tun Sie uns, tun Sie sich,
aber tun Sie vor allem den freiwillig Engagierten und
den Einrichtungen vor Ort den Gefallen, diese Diskussion endlich konstruktiv zu führen.
Mit dem vorliegendem Antrag der Koalitionsfraktionen zur Stärkung der Jugendfreiwilligendienste und mit
diesem Gesetzentwurf zum Bundesfreiwilligendienst haben wir alle hier im Haus die Chance, endlich den Weg
für Freiwilligkeit anstelle von Pflichtdiensten freizumachen. Ich glaube, das ist etwas, was viele von uns unterschreiben wollen. Also tun wir es. Begleiten Sie uns dabei.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Die Kollegin Dittrich hat für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wenn in diesem Jahr der letzte Zivi geht,
dann muss der neue Bundesfreiwilligendienst diese
Plätze ersetzen. Die Entscheidung, den Dienst mit der
Waffe zu verweigern, war eine politische Entscheidung
für den Frieden. Den Kriegsdienstverweigerern wurde es
nicht leicht gemacht. Mit Bedacht wurden ihnen die
schwersten Arbeiten im sozialen Bereich zugewiesen,
gewissermaßen zur Abschreckung. Jetzt fehlen mindestens 40 000 Billigarbeitskräfte in der Pflege. Gerade
diese Lücke soll der neue Bundesfreiwilligendienst ausgleichen.
({0})
Die Heimleiter freuen sich auf die neuen Freiwilligen;
denn sonst wäre die soziale Arbeit nicht gewinnbringend
zu verrichten. Abgesehen davon halten wir es für richtig,
soziale Arbeit nicht profitorientiert zu organisieren, sondern sie staatlicherseits zu unterstützen.
Wer hat den Bundesfreiwilligendienst eigentlich erfunden? Die Bundeswehr.
({1})
Damit Sie merken, dass wir hier keine Märchenstunde
abhalten, zitiere ich kurz aus dem Bericht der Strukturkommission der Bundeswehr, veröffentlicht im
Oktober 2010, Seite 28. Dort empfiehlt die Kommission,
einen
… freiwilligen, bis zu 23-monatigen Dienst einzuführen, der allen erwachsenen Bürgerinnen und
Bürgern offen steht und ihnen die freie Wahl des
Engagements bietet. Die Möglichkeiten können von
der Pflege und Betreuung ({2})
über die Bildung und Erziehung ({3}), Umweltschutz, … und Entwicklungshilfe bis hin zum militärischen Dienst in der Bundeswehr reichen.
Die Linke ist als einzige Fraktion gegen den neuen
Bundesfreiwilligendienst,
({4})
weil damit die Strukturen beibehalten werden, die eine
Wiedereinführung der Wehrpflicht und der Ersatzdienste
ermöglichen - das wurde bereits heute Morgen in der
Debatte zum Wehrrechtsänderungsgesetz vermutet -,
falls sich zu wenige Soldaten freiwillig für die Bundeswehr melden.
Seit wann plant ein Verteidigungsministerium die sozialen Belange der Bundesrepublik mit? Seit wann gilt
der Leitspruch der Bundeswehr „Tu was für dein Land!“
auch für das Familienministerium? Die soziale und
pädagogische Arbeit soll nun in die Form eines militärischen Dienstes gegossen werden. Aus Zwang folgt
nichts Gutes.
Herr Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, hat an der Strukturreform der Bundeswehr mitgearbeitet. Auch er verfügt über eine Offiziersausbildung. Er war sich nicht zu schade, die passenden
Arbeitskräfte dafür vorzuschlagen, nämlich die Migrantinnen und Migranten, die arbeitslosen Jugendlichen, die
Frauen und die älteren Arbeitskräfte sowie die Frührentnerinnen. Übrigens wird der Freiwilligendienst bei der
Bundeswehr mit 1 100 Euro vergütet, der Freiwilligendienst im sozialen Bereich mit ungefähr 500 Euro. Der
lebende Mensch ist also nur die Hälfte wert.
({5})
Um die große Arbeitslosigkeit zu verdecken, werden
die genannten Personenkreise gezielt für den Bundesfreiwilligendienst angeworben. So sieht also die generationen- und nationenübergreifende Integration in den Arbeitsmarkt aus, und zwar im untersten Niedriglohnsektor.
({6})
Diese Menschen fallen natürlich aus der Arbeitslosenstatistik heraus. Die Bundesregierung bekämpft nicht die
Armut, indem sie Arbeitsplätze schafft, sondern die Armen. Von Anerkennung - davon hat die Ministerin gesprochen - und Teilnahme an Gemeinschaftsaufgaben
können sich die Menschen nichts kaufen, von dem guten
Gehalt, das ihnen ein Arbeitsplatz bietet, schon.
({7})
Der Geist des Zivildienstes war der eines Zwangsdienstes; wir halten ihn nicht für erhaltenswürdig. Denn
was kommt beim Bundesfreiwilligendienst heraus? Eine
ungeheuerliche Benachteiligung von Frauen. Berufe in
der Alten- und Krankenpflege oder Sozialarbeit werden
zu 80 Prozent von Frauen ausgeübt. Auch in den Freiwilligendiensten sind seit jeher mehr als 70 Prozent der
Aktiven Frauen; die Tendenz ist steigend. Gerade junge
Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt noch mehr benachteiligt, weil frauenspezifische Arbeitsplätze im sozialen und pflegerischen Bereich durch den Einsatz von
Freiwilligen vernichtet werden. Es ist nicht nur eine
schlechte Nachricht, sondern ein Skandal, was Sie den
Frauen kurz vor dem Internationalen Frauentag am
8. März zumuten.
({8})
Der Staat soll in die staatliche Fürsorge investieren
und darf sich im sozialen Bereich nicht aus der Verantwortung zurückziehen. Sonst treffen wir auf solche Anzeigen von älteren Menschen: „Jung gebliebene Frührentnerin sucht älteren Herrn, um häusliche Pflegearbeit
zu leisten.“ Die Frührentnerin will also ihre geringe
Rente aufstocken, und das als Ungelernte in der Pflege,
ohne Anspruch auf Mindestlohn. Das ist erzwungene
Freiwilligkeit durch Armut und weniger durch eigene
Motivation, wie die Ministerin Schröder eben meinte.
Freiwillige werden benutzt, um qualifizierte Fachkräfte
zu ersetzen, und das, obwohl schon jetzt ein Mangel an
ausgebildeten Pflegefachkräften besteht. Statt Jugendliche zu qualifizieren, sollen sie ohne Mindestlohn im
Pflegebereich arbeiten; denn es herrscht Pflegenotstand.
Die Behinderten und Kranken haben aber das Recht auf
eine menschenwürdige Pflege. Unqualifizierte Kräfte
sind mit der Betreuung von Schwerstkranken oft überfordert.
Im geplanten Bundesfreiwilligendienst sollen sich
Freiwillige aller Generationen von 16 bis 70 Jahren dem
Freiwilligendienst verpflichten. Das ist ein schöner Widerspruch. Was denn nun: freiwillig oder dienstverpflichtet? CDU/CSU und FDP weisen in ihrem Antrag
darauf hin - ich zitiere -:
… dass ein abgeleisteter Freiwilligendienst ein besonders positives Merkmal im Lebenslauf ist.
Eine Ausbildung als Krankenschwester bzw. Krankenpfleger erhalten also jene Personen, die einen Freiwilligendienst abgeleistet haben?
Wir lehnen den Bundesfreiwilligendienst ab und fordern ein besseres FSJ und FÖJ im sozialen Bereich.
Beim Freiwilligen Sozialen Jahr darf es sich nur um eine
berufliche Orientierung beim Übergang von der Schule
zur Ausbildung handeln. Es soll kein Ersatz für sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse sein. Wir
möchten auch keine Ausweitung des Niedriglohnbereichs. Wir fordern in unserem Antrag Mitbestimmungsmöglichkeiten von Jugendlichen und Mindeststandards.
({9})
Die Trägervielfalt in den 16 Bundesländern soll erhalten werden, aber nicht zum Nachteil der Jugendlichen.
Eine angemessene Aufwandsentschädigung ist zu gewährleisten. Ein Abbruch bzw. ein Wechsel in einen anderen Bereich darf nicht zum Nachteil im Lebenslauf
werden. Deshalb möchten wir ein verbessertes Gesetz
zum Ausbau der Jugendfreiwilligendienste bis 27 Jahre
und lehnen den Bundesfreiwilligendienst ab.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Gehring das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kehre jetzt zurück zum Thema unserer Debatte,
({0})
nämlich zum Thema Freiwilligendienste und bürgerschaftliches Engagement. Ich kann der Koalition nicht
die Kritik ersparen,
({1})
dass man ihrem Gesetzentwurf zur Einführung eines
Bundesfreiwilligendienstes deutlich anmerkt, dass er unter erheblichem Zeitdruck entstanden ist. Es wurde offenkundig mit heißer Nadel gestrickt. Jedenfalls ist dabei
keine langfristig tragfähige Lösung herausgekommen,
sondern Flickschusterei.
({2})
Das ist allerdings auch kein Wunder, da die Bundesregierung völlig überstürzt und planlos handeln musste
und gehandelt hat. Minister Guttenberg preschte bei der
Wehrpflicht mit einem wahren Zickzackkurs voran, der
abstrus gewesen ist. Die Wehrpflicht war vor kurzem
noch konservativer Markenkern der Union,
({3})
dann wurde sie von neun auf sechs Monate verkürzt.
Jetzt ist die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen.
Ministerin Schröder war lange Zeit Zaungast, anstatt den
Ausstieg aus dem Zivildienst aktiv, schrittweise und verlässlich zu gestalten. An dieser Stelle hilft keine Wehmut, sondern wir müssen beherzt anpacken und überlegen, wie wir so schnell wie möglich Alternativen aufbauen können.
({4})
Minister Rösler müsste angesichts seiner mangelnden
Aktivität zur Bekämpfung der Pflegemisere und zur Bekämpfung des Fachkräftemangels im Sozialbereich eigentlich „Tu-nix-Minister“ heißen.
({5})
Hier fehlen Initiativen vollständig. Frau Ministerin
Schavan hat am Kabinettstisch offensichtlich viele Monate geschlummert; denn nach wie vor ist keine Vorsorge dafür getroffen worden, dass 150 000 junge Männer ein Jahr früher einen Ausbildungs- oder Studienplatz
brauchen. Deshalb stelle ich fest: Der Gesetzentwurf ist
einfach schlecht gemacht.
({6})
So sehr wir als Grüne den Ausstieg aus den Pflichtdiensten begrüßen und den Ausstieg aus den Pflichtdiensten für überfällig und richtig halten, so klar kritisieren wir die schlechte Umsetzung der Koalition. Ihnen
fehlt eine konsistente Gesamtstrategie. Sie stehen für
eine schlechte Umsetzung.
({7})
Für uns sind Freiwilligendienste und das Jugendengagement für eine aktive Bürgergesellschaft ein Wert
an sich. Der Ausbau der Freiwilligendienste ist seit vielen Jahren überfällig. Wir haben das in den letzten Jahren gebetsmühlenartig vorgetragen und immer wieder
Anträge und Initiativen aus der Opposition heraus und
vorher im Regierungshandeln eingebracht, um die Quantität, Qualität und Attraktivität von Freiwilligendiensten
deutlich zu steigern.
({8})
Dass Sie sich dem fünf Jahre lang verweigert haben,
rächt sich heute. Heute rächt es sich, dass die Freiwilligendienste von zwei CDU-Jugendministerinnen über
Jahre hinweg systematisch vernachlässigt wurden.
({9})
Es ist bedauerlich, dass Frau Schröder den Bundesfreiwilligendienst jetzt zu einer Art Lückenbüßer für den wegfallenden Zivildienst degradiert. Das klappt allein rechnerisch
nicht, weil wir im vergangenen Jahr 90 000 Zivildienstleistende hatten, Sie aber nur 35 000 Freiwilligendienstleistende anstreben.
({10})
Wenn es darum geht, Zivildiensttätigkeiten wirklich
zu ersetzen, dann muss Herr Rösler etwas tun. Es muss
vor allem darum gehen, dass im Sozial- und Pflegebereich mehr fair bezahlte Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden.
({11})
Die Pflege muss attraktiver werden, und sie muss besser
bezahlt werden. Das ist eine Hausaufgabe dieser Bundesregierung.
Unser Kernkritikpunkt am Bundesfreiwilligendienst
bleibt: die Doppelstruktur. Sie bekommen es nicht hin,
die bewährten Freiwilligendienste deutlich auszubauen,
sondern bauen einen staatsfixierten Bundesdienst als
Konkurrenz zu den bewährten Freiwilligendiensten FSJ,
FÖJ etc., die von zivilgesellschaftlichen Trägern organisiert werden, auf. Diese Doppelstruktur ist einfach ineffizient, teuer und nichts anderes als eine Not- und
Übergangslösung. Jedenfalls ist sie nicht der große
Wurf, als den Sie sie heute verkaufen wollen.
({12})
Sie hätten sich schon vor Jahren mit den Ländern und
mit den Trägern zusammensetzen und nach Lösungen
suchen können. Jetzt ist nichts anderes als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für das Bundesamt für den Zivildienst herausgekommen.
Die Aussetzung der Pflichtdienste hätte als Chance
genutzt werden können, die Zivildienstbürokratie abzubauen und bei den 52 Kreiswehrersatzämtern, die ihre
historischen Aufgaben erfüllt haben, erheblich einzusparen. Die Mittel, die an dieser Stelle hätten eingespart
werden können, hätten in die Konversion und die Freiwilligendienste investiert werden können. Dass selbst
die FDP diese Chance auf Bürokratieabbau nicht erkennt, wundert mich sehr. Sie müssen die Zivilgesellschaft fördern und nicht bürokratische Strukturen.
({13})
Frau Schröder, Sie haben sich heute selbst sehr dafür
gelobt, dass Sie so viel investieren. Ich möchte Sie aber
darauf hinweisen, dass im bisherigen Zivildiensthaushalt
circa 600 Millionen Euro enthalten waren, in Ihren
neuen Bundesfreiwilligendienst aber nur 350 Millionen
Euro investiert werden. Mich würde interessieren, wo
die anderen 250 Millionen Euro geblieben sind.
({14})
Dienen die jetzt der Haushaltskonsolidierung? Können
die nicht genutzt werden für die Bekämpfung der Pflegemisere oder für Qualitätsverbesserungen?
({15})
Frau Schröder, Sie haben sich auch unheimlich dafür
gelobt, dass Sie den Bundesfreiwilligendienst für neue
Gruppen öffnen, ja sogar für Frauen. Was ist denn daran
neu? Die bestehenden Freiwilligendienste sind natürlich
für alle Geschlechter und für alle Generationen offen gewesen,
({16})
weil es auch den bewährten Freiwilligendienst aller Generationen gegeben hat.
({17})
Es wäre eine sinnvolle Perspektive gewesen, den bewährten Freiwilligendienst aller Generationen weiter
auszubauen. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass Ihre
Doppelstruktur nicht notwendig ist.
Bei dem weiteren Gesetzgebungsverfahren und in der
Praxis des neuen Bundesfreiwilligendienstes wird es
sehr wichtig sein, dass die Arbeitsmarktneutralität gewährleistet wird. Das müsste auch in Ihrem Interesse
sein; denn es darf nicht sein, dass Bundesfreiwilligendienstleistende reguläre Arbeitskräfte ersetzen, insbesondere dadurch, dass ein neues öffentlich-rechtliches
Dienstverhältnis geschaffen wird.
({18})
Der Freiwillige schließt künftig ja keinen Vertrag mit der
Einrichtung vor Ort, sondern mit dem Bundesamt für
den Zivildienst oder wie auch immer es künftig heißen
wird. Dabei ist es ganz wichtig, dass reguläre Jobs nicht
bedroht werden, damit das ohnehin sehr niedrige Lohnniveau bei sozialen Dienstleistungen nicht noch stärker
unter Druck gerät. Das müssen wir uns in den nächsten
Monaten und Jahren sehr genau anschauen, damit Arbeitsmarktneutralität gewährleistet wird und wir kein
neues Niedriglohnverhältnis schaffen.
Ganz wichtig ist es mir, die bestehende Ungleichbehandlung bei den Freiwilligendiensten zu beheben. Alle
Freiwilligendienstleistenden brauchen gleiche Bedingungen und gleiche Qualitätsstandards. Deshalb hätten
Sie den ersten Schritt zuerst machen müssen und nicht
den zweiten oder dritten. Sie hätten jetzt den Entwurf eines Freiwilligendienststatusgesetzes vorlegen müssen, in
dem Sie klar hätten definieren müssen, was der Freiwilligendienst ist, und zwar in Abgrenzung zu Ausbildung,
Praktika und Arbeitsverhältnissen.
Kollege Gehring, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - In diesem Gesetz hätten
auch Sozialversicherungsfragen gelöst werden müssen.
Dieses Gesetz ist jetzt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
verschoben worden. Das wird sich sicherlich rächen.
Finanzieren Sie nicht Bürokratie, sondern sorgen Sie
dafür, dass die Zivilgesellschaft gestärkt wird und die
bestehenden Freiwilligendienste deutlich ausgebaut werden. Das wäre das Gebot der Stunde, nicht dieser Gesetzentwurf.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Bär.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Gehring, ich muss mit Ihrer falschen Rechnung anfangen. Sie haben davon gesprochen, dass wir jetzt
90 000 Zivildienstleistende haben und in Zukunft
35 000 Freiwilligendienstleistende haben wollen. Diese
Rechnung könne nicht aufgehen. Zur Wahrheit gehört
aber auch, dass der Zivildienst gegenwärtig für ein halbes Jahr geleistet wird. Wir stellen uns vor, dass diese
35 000 ihren Dienst für ein Jahr bis hin zu zwei Jahren
leisten. Deshalb kann man die Zahlen nicht miteinander
vergleichen.
({0})
- Nein, zusätzlich. Jetzt haben wir sechs Monate. Wir
wollen, dass die Dauer des Dienstes in Zukunft verlängert werden kann.
({1})
Deshalb werden wir in Zukunft mehr Dienstleistende haben. Der Kollege Gehring hat die Rechnung falsch aufgemacht. Ich bitte ihn, das noch einmal nachzurechnen.
({2})
Uns wurde die Aufgabe gestellt, den Zivildienst neu
zu regeln. Wir haben es uns nicht ausgesucht, dass wir
uns anderthalb Jahre lang nur mit dem Zivildienst beschäftigt haben. Natürlich wäre es auch uns recht gewesen, wenn wir den Zivildienst in seiner jetzigen Form
hätten erhalten können. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht mussten wir aber auch den Zivildienst zum 1. Juli
2011 neu regeln. Wir wissen, dass die ersten anerkannten
Kriegsdienstverweigerer ihren Dienst am 10. April 1961
angetreten haben. Insofern ist es in diesem Jahr genau
50 Jahre her, dass die ersten jungen Männer auf diese
Weise unserem Land gedient haben. Am 10. April 2011
werden wir dieses Jubiläum also noch begehen, für die
Zeit nach dem 1. Juli 2011 müssen wir uns aber ein
neues Modell überlegen.
Zwar war der Zivildienst in erster Linie als Wehrersatzdienst vorgesehen, aber er war natürlich wesentlich
mehr. Dieser Dienst war nicht nur für die Gesellschaft
eine ungeheure Bereicherung, sondern auch für die jungen Männer selbst; das stellt man fest, wenn man sich
mit den Zivildienstleistenden unterhält. Dieser Dienst
stellte aber auch eine Bereicherung für kranke Menschen, für Menschen mit Behinderungen und für alte
Menschen dar. In dieser Zeit wurden Vertrauensverhältnisse aufgebaut, von denen viele auch in der Zeit nach
dem aktiven Zivildienst fortgeführt wurden. Weil wir
diesen - ich sage das in Anführungszeichen - positiven
„Nebeneffekt“ hoch schätzen, weil diese Zivildienstleistenden die Welt menschlicher gemacht haben, wollen
wir dafür Sorge tragen, dass es auch nach dem 1. Juli
2011 mit diesem Erfolgsmodell weitergeht.
Wenn ich mit einem Zivildienstleistenden gesprochen
habe, hatte ich noch nie das Gefühl, dass er nach seinem
Zivildienst nicht glücklicher war als vorher. Schließlich
sind Bindungen entstanden, und er hat fürs Leben gelernt. Dies ist natürlich ein Dienst für das Land - daran
finde ich überhaupt nichts verwerflich, ganz im Gegenteil -, aber man leistet den Dienst auch für sich selbst.
Man hat die Chance, in einem unbekannten Bereich Erfahrungen zu sammeln, sich weiterzuentwickeln und die
eigene Persönlichkeit zu formen.
Der Zivildienst war auch wichtig für die Stärkung des
Ehrenamtes. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt. Aus
dem Erleben im sozialen Bereich, zum Beispiel beim Roten Kreuz oder bei den Hilfsdiensten, entwickelte sich oft
ein lebenslängliches Engagement. Diejenigen, die Zivildienst geleistet haben, haben sich in der Folge häufig viel
stärker ehrenamtlich engagiert als Jugendliche, die diesen Dienst nicht geleistet haben.
Mehrfach ist gesagt worden, ein einheitlicher Dienst
sei besser. Wir haben lange überlegt, ob es möglich
wäre, Dienste zusammenzulegen. Das gehört zur Wahrheitsfindung dazu. Aus finanzverfassungsrechtlichen
Gründen ist das aber nicht möglich, weil der Bund nur
eine eingeschränkte Förderkompetenz für die von den
Ländern verwalteten Jugendfreiwilligendienste hat. An
dieser Stelle muss man auch sagen, dass die Länder nicht
bereit waren - ich betone: leider -, die Verwaltung ihres
Erfolgsmodells künftig einfach an den Bund abzutreten.
Weil das nicht möglich war, haben wir jetzt diese Lösung gefunden und entwickeln dieses Erfolgsmodell. Es
ist kein Konkurrenzmodell; das behaupten Sie. Vielmehr
haben wir ein gutes Nebeneinander entwickelt.
({3})
Sehr positiv ist - das muss man in den Mittelpunkt
stellen -, dass dieser Dienst nicht nur jungen Männern
zur Verfügung steht, sondern Männern und Frauen gleichermaßen. Ich sehe da überhaupt keine Benachteiligung für Frauen, ganz im Gegenteil.
({4})
- Natürlich ist das neu. - Er ist auch nicht nur für junge
Menschen, sondern für junge und für ältere Menschen,
für Männer und für Frauen. Er ist für alle Altersbereiche
offen.
Wir haben in Gesprächen mit der Bundesregierung erreicht, dass der neue Bundesfreiwilligendienst keine
Konkurrenz ist; denn die Förderpauschalen werden angehoben. Sie werden von monatlich knapp 73 Euro auf
200 Euro bzw. bei Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf auf 250 Euro erhöht. Die Förderung wird auf alle
besetzten Plätze sämtlicher - auch der regionalen - Träger
ausgeweitet. Auch das ist ein Verdienst. An dieser Stelle
bin ich unseren Haushältern dankbar.
({5})
Wir werden diese Dienste nebeneinanderstellen. Wir
müssen jetzt natürlich - da sind wir alle gefordert - mit
den Ländern darüber sprechen, was die Länder zum Beispiel hinsichtlich der Anrechnung von Wartesemestern,
der Anerkennung des Dienstes als Praktikum und der finanziellen Ermäßigung für kulturelle Veranstaltungen, in
kommunalen Einrichtungen und im öffentlichen Nahverkehr leisten können. Vieles davon liegt nicht in der
Kompetenz des Bundes; das ist für uns als Bundespolitiker natürlich bedauerlich. Aber ich bin sicher: Wenn wir
uns alle gemeinsam hinter diesen Dienst stellen, wenn
wir dies jetzt alle gemeinsam anpacken und versuchen,
35 000 junge und auch ältere Menschen zu erreichen,
wenn wir mit Begeisterung für diesen Dienst werben und
die Kommunen und die Länder mit ins Boot holen, dann
wird dies tatsächlich ein Erfolgsmodell. Deswegen lade
ich alle ein, hier mitzumachen. Sie sollten nicht stolz
darauf sein, dass Sie es ablehnen; das ist peinlich.
({6})
Der Kollege Rix hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal: Es ist gut, dass es hier im Haus mittlerweile einen breiten Konsens gibt, dass wir mehr auf
Freiwilligkeit setzen sollten und die Pflicht zum Wehrdienst und auch zum Zivildienst abschaffen sollten. Das
ist zu loben. Da darf man ohne Umschweife sagen: Nach
50 Jahren Zivildienst und Wehrpflicht ist es eine historische Leistung, dass wir nun hier in diesem Hohen Hause
einen breiten Konsens darüber haben, die Wehrpflicht
abzuschaffen bzw. auszusetzen und bei der Bundeswehr,
aber auch bei anderen Diensten auf Freiwilligkeit zu setzen. Das ist in Ordnung.
({0})
Wir dürfen dies aber nicht aus dem Grund tun, dass
die Wehrgerechtigkeit nicht mehr gegeben war. Das ist ja
einer der Gründe, der immer genannt wird. Wir dürfen es
erst recht nicht aus finanziellen Gründen tun und sagen:
Wir haben haushaltspolitische Herausforderungen und
wollen an einigen Stellen sparen. Der Wegfall des Zivildienstes und die Wehrdienstreform hängen natürlich eng
mit der Abschaffung der Wehrpflicht zusammen, und die
Ankündigung, die Wehrpflicht abzuschaffen, erfolgte
gleich nach der Haushaltsklausur der Bundesregierung.
Das sind falsche Gründe für die Abschaffung der Wehrpflicht. Vielmehr gibt es grundsätzliche Erwägungen, die
dagegen sprechen, Menschen für ein Jahr oder mehrere
Monate zu verpflichten, einen Dienst zu tun. Das ist der
eigentliche Grund, warum wir die Wehrpflicht ablehnen.
So ein historischer Schnitt stellt natürlich eine große
Herausforderung an die Gesellschaft und an den Staat an
sich dar. Was machen wir danach? Eben wurde von Ihnen, Herr Bernschneider, gesagt, dass wir eine historische Engagementreform auf den Weg bringen, indem
wir den Bundesfreiwilligendienst einführen. Ich glaube,
eine historische Engagementreform sieht ganz anders
aus und besteht nicht einfach nur aus der Einführung eines zusätzlichen Freiwilligendienstes. Eine historische
Engagementreform bedarf auch einer Verbesserung der
Rahmenbedingungen des bürgerschaftlichen Engagements insgesamt.
({1})
Ihre einzige Antwort auf den Wegfall des Zivildienstes ist der Bundesfreiwilligendienst.
({2})
In dem Gesetzesvorhaben, über das wir heute diskutieren, und auch in anderen Gesetzesvorhaben findet sich
keine weitere Maßnahme zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Sie verweisen natürlich auf die Engagementstrategie. Aber auch hier muss ich darauf hinweisen: Das ist eine Auflistung mehrerer Projekte, die schon
seit Jahren laufen; etwas Neues ist aber nicht dabei. Als
Zweites wird immer erwähnt: Wir stärken auch FSJ und
FÖJ. - Ja, aber am Jugendfreiwilligendienstegesetz ändern
Sie gar nichts. Das Einzige, was Sie getan haben, ist, dass
Sie angekündigt haben, die Pauschalen zu erhöhen. Mehr
wird in diesem Bereich nicht getan.
({3})
Gesetzlich tun Sie an dieser Stelle nichts. Es wird nach
wie vor jedes Jahr vom Haushalt abhängig sein, wie FSJ
und FÖJ finanziell ausgestattet sind. Das ist wirklich
keine historische Leistung.
({4})
Zu einem Gesamtkonzept, das, wie gesagt, nicht vorliegt, würde auch gehören, dass neben der Stärkung der
Freiwilligendienste - unser Vorschlag ist, lieber FSJ und
FÖJ weiter zu stärken - auch darauf zu achten ist, welche Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Zivildienst
vielleicht auch im Rahmen sozialversicherungspflichtiger Jobs verrichtet werden können. Das versäumen Sie.
({5})
Sie wollen in Ihrem Gesetz festschreiben, dass sämtliche
Zivildienstplätze einfach anerkannt werden; das soll auch
für Bundesfreiwilligendienstplätze gelten. Sie haben aber
kein Programm, wie an dieser Stelle - das müssten Sie eigentlich gemeinsam mit Herrn Rösler tun - mehr sozialversicherungspflichtige Jobs entstehen können. Keine Antwort, kein Gesamtkonzept!
Natürlich müssen wir uns auch mit dem Freiwilligendienstestatusgesetz beschäftigen; es ist schon angesprochen worden. Es gibt die Ankündigung, dass wir darüber
reden werden. Aber dazu liegt nichts vor. Auch das wäre
Bestandteil einer sogenannten historischen engagementpolitischen Leistung gewesen.
Man muss sich das sportliche Tempo vor Augen halten. Es ist natürlich so, dass die meisten großen Verbände sagen: Okay, wenn der Bundesfreiwilligendienst
kommt, dann beteiligen wir uns aktiv daran. - Das ist
auch in Ordnung. Aber waren Sie einmal vor Ort und haben mit Verantwortlichen in den Einrichtungen gesprochen? Die Einrichtungen sind total ins Schwimmen gekommen. Je kleiner eine Einrichtung ist, desto mehr kam
sie ins Schwimmen. Sie wissen nicht, woran sie sind:
erst die Verkürzung des Zivildienstes, dann die Ankündigung, dass der Zivildienst wegfällt, dann ein Bundesfreiwilligendienst, dann eine angebliche Stärkung des Freiwilligen Sozialen Jahres - aber nichts Konkretes, nichts
Festes. Die Einrichtungen geraten immer mehr ins
Schwimmen. Bis zum 1. Juli dieses Jahres soll das
Ganze umgesetzt sein. Ich frage Sie, ob Sie sich das
wirklich gut überlegt haben.
({6})
Meine Damen und Herren, wenn man von einer historischen engagementpolitischen Leistung spricht, dann
hätte man auch eine breite Debatte führen müssen, nicht
nur hier im Haus, sondern vor allen Dingen mit der Zivilgesellschaft. Auch das haben Sie versäumt. Sie haben
keine breite Debatte mit der Zivilgesellschaft geführt:
Wie gehen wir damit um, dass der Zivildienst wegfällt?
Welche Chancen ergeben sich daraus? Der Bundesfreiwilligendienst soll nicht nur ein Lückenbüßer für den Zivildienst sein. Wir wollen eine Gesamtlösung. Sie haben
es versäumt, darüber einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu führen. Das kreiden wir Ihnen natürlich an.
Über Ihre angeblich großen Taten beim FSJ habe ich
schon gesprochen. Es gab nur eine Pauschalerhöhung,
aber keine weiteren Veränderungen im Jugendfreiwilligendienstegesetz.
({7})
Wo bleiben denn die weiteren Anerkennungsmöglichkeiten? Wo bleibt die wirkliche Stärkung der jungen
Menschen, die diesen Dienst machen?
({8})
Dazu haben Sie nichts vorgelegt.
Sie sagen immer, unsere Kritik an den Doppelstrukturen sei Detailkritik. Gut, vielleicht ist das ein Detail; das
mag sein. Aber ich glaube, ich habe gerade deutlich gemacht, dass es noch viel gravierendere Probleme gibt,
zum Beispiel das Fehlen eines Gesamtkonzeptes. Natürlich sind aber auch die Doppelstrukturen ein Problem.
({9})
Sie kündigen immer wieder an: Jemand, der den Bundesfreiwilligendienst macht, soll genauso behandelt werden wie jemand, der ein FSJ oder ein FÖJ macht. Das ist
aber nicht der Fall. Sie glauben das vielleicht manchmal.
Aber ich sage Ihnen: Das ist schon bei der Kindergeldzahlung nicht der Fall. Das zeigt sich auch bei der Auszahlung des Taschengeldes an die Leistenden: Die einen
bekommen es vom Bund, die anderen von den Trägern,
die Höhe ist variabel.
({10})
Hier gibt es keine Gleichbehandlung. Die Betroffenen
wundern sich, warum jemand, der in der gleichen Einrichtung einen Dienst macht, ein anderes Taschengeld
bekommt. Diese Doppelstruktur bleibt vorhanden. Sie
können sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Das ist
unser Hauptkritikpunkt, den wir nach wie vor vortragen.
Hinzu kommen finanzielle Probleme. Es wird immer
noch argumentiert: Das ist finanzverfassungsrechtlich
problematisch. Deshalb können wir nicht ausschließlich
auf FSJ und FÖJ setzen. - Gleichzeitig kündigen Sie an,
die Mittel zu erhöhen. Gleichzeitig kündigen Sie auch
an, für mehr Anerkennung der Freiwilligendienstleistenden und der Jugendfreiwilligendienste sorgen zu wollen.
Aber wenn das verfassungsrechtlich bedenklich ist, warum tun Sie es dann trotzdem? Wenn man Ihrer Logik
folgen würde, dann müsste man sagen: FSJ und FÖJ
können wir gar nicht mehr durchführen, weil wir das eigentlich gar nicht dürfen. - Das passt einfach nicht zusammen.
Kurz und bündig zusammengefasst: Legen Sie ein
Gesamtkonzept vor! Der Zivildienst kann nicht einfach
nur durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt werden,
vielmehr brauchen wir ein gesamtgesellschaftliches
Konzept. Nutzen Sie die Chancen beim Wegfall des Zivildienstes und lösen Sie diese Doppelstrukturen auf!
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Grübel für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Morgen haben wir über die Aussetzung der Wehrpflicht beraten. Infolge der Aussetzung der Wehrpflicht
kommt es auch zur Aussetzung des Zivildienstes. Wir
antworten darauf mit dem Bundesfreiwilligendienst und
mit einer Stärkung der anderen Jugendfreiwilligendienste. Darin steckt eine Chance, darin steckt aber auch
eine große Herausforderung. Sie von der Opposition haben viel kritisiert, aber keine gangbare Alternative aufgezeigt.
({0})
Wir können positiv anmerken: Es gab noch nie so
viele Möglichkeiten für Freiwillige in Deutschland, wie
es künftig geben wird, und es gab noch nie so viel Geld
für Freiwillige im Bundeshaushalt, wie es künftig geben
wird. Die Frau Ministerin hat vorhin darauf hingewiesen. Es gibt neue Einsatzbereiche: Soziales, Kultur,
Sport, Ökologie, Integration, Zivil- und Katastrophenschutz.
({1})
- Soziales und Ökologie ja, aber gab es zum Beispiel ein
FSJ im Bereich Integration?
({2})
- Nein, das ist neu, Sönke Rix.
Das Nebeneinander wurde angesprochen: Der Bund
nimmt künftig 350 Millionen Euro und die Länder nehmen 12 Millionen Euro in die Hand. Über den Europäischen Sozialfonds fließen 8 Millionen Euro. Vor diesem
Hintergrund ist es doch klar, dass der Bund die Verantwortung behalten will. Hätten wir die Mittel an die Länder übertragen, dann würde ich auch für die CDU-geführten Länder nicht meine Hand ins Feuer legen, dass
sie diese 350 Millionen Euro nicht nehmen und andere
wichtige Aufgaben - Polizei, Schule, Kinderbetreuung,
innere Sicherheit, Hochschulen - daraus finanzieren
würden. Ich bin mir sicher, dass nur ein Bruchteil tatsächlich bei den Einrichtungen, Trägern und Freiwilligen, bei den Freiwilligendiensten ankommen würde.
Deshalb war dieser Weg richtig.
Wir stärken die klassischen Jugendfreiwilligendienste: das FSJ, das FÖJ. Wir hatten die Anzahl der
Plätze auf 25 000 gedeckelt, jetzt wollen wir 35 000,
möglicherweise sogar noch mehr Plätze fördern. Früher
wurden die Plätze mit 72 Euro im Monat gefördert,
künftig sind es 200 Euro im Monat. 50 Euro kommen
noch hinzu, wenn ein besonderer pädagogischer Betreuungsbedarf besteht. Es gibt das Kopplungsmodell.
Zugegeben, es gibt Unterschiede beim Kindergeld,
die sich aber begründen lassen. Beim Jugendfreiwilligendienst bleibt der Unterhaltsbedarf bei den Eltern bestehen, deshalb wird in dieser Zeit auch Kindergeld
gezahlt. Beim Bundesfreiwilligendienst werden Taschengeld, Unterkunft, Verpflegung, Dienstbekleidung
und Sozialversicherung bezahlt. Daher entfällt der Unterhaltsbedarf bei den Eltern, sodass kein Kindergeld
ausgezahlt wird. Es gibt keine Ost-West-Unterschiede
bei der Taschengeldobergrenze - darauf hat die Opposition früher hingewiesen.
Der Bundesfreiwilligendienst ist arbeitsmarktneutral.
Er darf nicht zu einem Wegfall oder einer Verdrängung
von regulärer Arbeit führen. Aber in einem positiven
Sinne ist er gleichzeitig auch nicht arbeitsmarktneutral:
Junge Menschen erwerben soziale Kompetenz, die sie in
vielfältigen Berufsfeldern einsetzen. Das ist zwar nicht
arbeitsmarktneutral, aber gut. Auch die Berufswahl wird
beeinflusst. Menschen kommen in Berufsfelder, die sie
sich vorher kaum vorstellen konnten. Durch den Freiwilligendienst sind sie plötzlich an Pflegeberufen und vielen anderen sozialen Berufen interessiert. Mehr Männer
kommen in klassische Frauenberufe. Zum Beispiel kommen auch mehr junge Menschen in die Pflege, was dort
gut tut. So betrachtet ist der Bundesfreiwilligendienst in
der Tat nicht arbeitsmarktneutral, aber diese Auswirkungen sind trotzdem sehr positiv.
Es gibt keine Umsatzsteuerpflicht beim Leistungsaustausch zwischen Bund und Einsatzstellen. Auch das ist
immer wieder angesprochen worden. Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Lerndienst; ich verweise auf die
Seminarangebote und die pädagogische Begleitung. Wir
wollen einen „Bundesfreiwilligendienst plus“ ermöglichen, der zwei Jahre dauert: Wir wollen eine Verknüpfung des Bundesfreiwilligendienstes mit einem Schulabschluss, einen Bundesfreiwilligendienst, ein Freiwilliges
Soziales Jahr plus Realschulabschluss für diejenigen, die
ihn nicht auf dem ersten Bildungsweg gemacht haben.
Wir arbeiten an einem Freiwilligendienstestatusgesetz, das wir noch in dieser Wahlperiode verabschieden
wollen. Diese Arbeit machen wir gründlich. Sie sagen
beim Freiwilligendienstestatusgesetz, es sollte schneller
gehen; husch, husch! Andererseits beklagen Sie, das es
zu schnell geht. So richtig recht kann man es euch auch
nicht machen.
({3})
Gute Informationen und Werbung für diesen Freiwilligendienst sind jetzt in der Tat wichtig. Es ist eine große
Herausforderung, 35 000 überwiegend junge Menschen
für ein Jahr Freiwilligenarbeit zu begeistern. Ab Mai
wird es Informations- und Werbekampagnen dazu geben. Die Information der Einsatzstellen findet ja schon
jetzt statt. Neu ist: Auch die über 27-Jährigen sind angesprochen. Der Bundesfreiwilligendienst soll auch für erwachsene und ältere Menschen gelten - 20 Stunden die
Woche.
Künftig sparen wir auch Ressourcen. Wir sparen zum
Beispiel beim Bundesamt für den Zivildienst. Von früher
1 000 Stellen wird nur ein Teil für den Bundesfreiwilligendienst gebraucht. Auch im Bereich der Kreiswehrersatzämter können wir sparen. Deren Anzahl wird von
52 auf 20 reduziert. Insgesamt heißt das, dass 6 000 Mitarbeiter der Bundesverwaltung umgesetzt werden müssen. Auch hier tut sich also etwas.
Ich fasse zusammen. Wir schaffen einen deutlich besseren Rahmen für die Freiwilligenarbeit in Deutschland,
und ich fordere alle auf, auch die Opposition, sich hier
nicht zu verweigern.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden über den neuen Bundesfreiwilligendienst,
aber auch über einen deutlichen Ausbau der Jugendfreiwilligendienste. Herr Kollege Rix, das hätten Sie gemerkt, wenn Sie unseren Antrag ein bisschen ausführlicher studiert hätten.
({0})
Ich glaube, das muss man an dieser Stelle sagen;
({1})
denn das, was wir hier machen - vielleicht ist Ihnen auch
das noch nicht bewusst -, geht nicht nur weit über das
hinaus, was wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben,
({2})
sondern auch weit über das hinaus, was Sie in den letzten Jahren zu diesem Thema formuliert haben.
({3})
Wir machen hier etwas, was Sie sich in der Vergangenheit in Ihren kühnsten Träumen nicht haben vorstellen
können; das muss man deutlich sagen.
({4})
An dieser Stelle beziehen wir uns natürlich auf die
Aussetzung der Wehrpflicht. Deswegen darf ich hier einige Sätze dazu sagen: Wir setzen die Wehrpflicht aus sicherheitspolitischen Gründen aus. Für uns als Union waren die Wehrpflicht und der Zivildienst immer auch
Ausdruck unserer Überzeugung als Bürgerinnen und
Bürger, dass unser Gemeinwesen nur funktioniert, wenn
alle bereit sind, mehr zu tun, als nur Steuern zu zahlen
und wählen zu gehen. Dieses Symbol, das die Wehrpflicht und der Zivildienst darstellten, entfällt nun.
Ich glaube, es ist gut, dass wir etwas Neues schaffen,
um jungen Menschen die Gelegenheit zu geben, in unserem Land Verantwortung für unsere Gesellschaft zu
übernehmen. Genau das machen wir durch den Bundesfreiwilligendienst. Die Länder alleine - das ist deutlich
geworden - können das gar nicht leisten. Deswegen ist
es gut, dass wir einen Großteil der Mittel, die wir bisher
für den Zivildienst aufgewendet haben, künftig für den
Bundesfreiwilligendienst zur Verfügung stellen.
({5})
Ich glaube, dass das auch deswegen richtig ist, weil
- das wird durch die Zahlen deutlich - 90 Prozent derjenigen, die derzeit freiwillig dienen - in welcher Form
auch immer, ob im FSJ oder im FÖJ -, danach zu der
Überzeugung kommen, dass es sich lohnt, sich in dieser
Gesellschaft ehrenamtlich zu engagieren. Ein übergroßer
Teil sagt, sie wollen dieses Engagement, in welcher
Form auch immer, fortsetzen.
Deswegen wollen wir an sehr vielen Stellen neue
Möglichkeiten dafür schaffen, dass junge Menschen sich
ausprobieren und mit ihren Fähigkeiten, Neigungen und
Interessen im Bereich der Integration, des Sports oder
auch der Kultur und eben nicht nur im sozialen Bereich,
auf den wir die Debatte in den letzten Minuten aus meiner Sicht zu sehr verengt haben, einbringen. Wir schaffen dafür die Rahmenbedingungen. Wir geben so viel
Geld für die Freiwilligendienste wie noch nie aus: für
den neuen Bundesfreiwilligendienst, aber auch für die
bestehenden Strukturen.
Wir schaffen in diesem Modell zwei stabile Säulen.
Wir lösen die Konkurrenz, von der Sie dauernd reden,
auf. Wenn Sie die Diskussion wirklich verfolgt haben,
dann wissen Sie, dass es am Anfang eine unheimlich
große Skepsis bei Trägern und Einrichtungen darüber
gab, wie das funktionieren wird. Wenn Sie die letzten
Stellungnahmen gelesen haben, dann wissen Sie auch,
dass die Vorbehalte zum Teil gänzlich verschwunden,
zum Teil deutlich leiser geworden sind.
({6})
Über die Stellen, wo es noch hakt, werden wir in den
nächsten Jahren weiter reden müssen. Denn wir schaffen
hier ja etwas fundamental Neues. Es hätte Ihnen gut angestanden, mitzumachen, statt danebenzustehen und nur
zu meckern. Diese Chance haben Sie eben gerade verpasst.
({7})
Ich persönlich finde es schade, weil wir auch in den
Berichterstattergesprächen gemerkt haben, dass wir in
sehr vielen Punkten eigentlich in dieselbe Richtung gehen wollen. Dort haben Sie Ihre Bedenken auch nicht so
laut vorgetragen wie eben. Vielleicht liegt es an der Öffentlichkeit und an der Kulisse hier; das weiß ich nicht
genau.
({8})
Es bleibt dabei: Wir haben noch nie so viel Geld für
Freiwilligendienste zur Verfügung gestellt. Wir haben
die Begrenzung bei der Förderung der Plätze aufgehoben. Länder und Kommunen sind aufgefordert, ihr Engagement ebenfalls fortzusetzen und weiter zu steigern,
statt sich zurückzuziehen. Wir erweitern die Einsatzbereiche und kommen damit den Interessen und Fähigkeiten der jungen Menschen viel weiter entgegen.
Wir wollen eine attraktive Werbekampagne machen,
um aufzuzeigen, welche Möglichkeiten junge Menschen
künftig haben. Wir wollen auch eine andere Anerkennungskultur, die deutlich über das hinausgeht, was es
bisher gibt.
Sie wissen, dass wir das nicht alleine in diesem Hohen Hause entscheiden können, sondern dass wir mit
vielen reden müssen. Ich bin der Ministerin dankbar,
dass sie schon entsprechende Gespräche geführt hat.
({9})
Das wird eine Daueraufgabe bleiben, weil wir ständig
fragen müssen, welche Zertifizierung, Anerkennung und
Qualifizierung jemand aus seinem Einsatzbereich mitnehmen kann. Das muss ihm für seinen weiteren Lebensweg bescheinigt werden.
Das ist nicht allein in unseren Gremien und in der
Diskussion zu erreichen. Wir müssen mit Einsatzstellen,
Trägern, Ländern und Kommunen reden.
({10})
Dazu haben Sie nach wie vor die Möglichkeit. Ich würde
mich freuen, wenn Sie mitmachen.
Frau Kollegin Dittrich, ich habe mir lange überlegt,
ob ich auf Ihre Rede eingehen soll,
({11})
auch weil Sie wieder dieselbe Platte aufgelegt haben wie
immer. Ich habe daran gedacht, das vorzulesen, was die
junge Frau aus den neuen Bundesländern, über die Sie
ausführlich gesprochen haben, nach Ihrer Rede auf meinem Facebook-Profil gepostet hat. Ich lese es aber nicht
vor, weil ich dann für die Formulierung der jungen Frau
zu Recht einen Ordnungsruf der Präsidentin bekommen
würde. Sie können es aber nachlesen. Ich glaube, das
hilft Ihnen ein bisschen.
Ansonsten bleibt es dabei: Es ist richtig, junge Menschen für ein Engagement für unser Land zu begeistern.
„Tu was für dein Land! Tu was für dich!“ ist die richtige
Botschaft. Vielleicht bekommen Sie noch die Kurve und
machen mit. Sonst machen wir das in der christlich-liberalen Koalition, und es wird gut.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4803, 17/4692 und 17/4845 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Anette Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Missbrauch der Leiharbeit verhindern
- Drucksachen 17/4189, 17/4756 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Beate Müller-Gemmeke
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung
- Drucksache 17/4804 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur strikten Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung
- Drucksache 17/3752 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Verabredet wurde, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Ralf Brauksiepe für die Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vor. Ich möchte einige Bemerkungen zu
den wesentlichen Inhalten machen.
Der Gesetzentwurf enthält Regelungen, in denen die
Vorgaben der sogenannten europäischen Leiharbeitsrichtlinie umgesetzt werden. Es war das erklärte Ziel der
Minister Müntefering und Scholz bei den Beratungen
über diese Richtlinie, den Kernbestand der deutschen
Regelungen zur Zeitarbeit bzw. zur Arbeitnehmerüberlassung auch durch die Richtlinie unangetastet zu lassen.
Dieses von der Großen Koalition insgesamt getragene
Vorhaben ist erfolgreich abgeschlossen worden. Das,
was an Umsetzungsbedarf in nationales Recht gleichwohl besteht, wird mit diesem Gesetzentwurf geregelt.
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf eine Regelung
vor, die vermeidet, dass die Zeitarbeit als Drehtür zur
Absenkung von Arbeitsbedingungen missbraucht wird.
Nachdem ein eklatanter Fall von Missbrauch im letzten
Jahr öffentlich geworden ist,
({0})
hat die Bundesregierung sehr sorgfältig geprüft, welcher
gesetzliche Änderungsbedarf besteht angesichts des Umstandes, dass dankenswerterweise die Tarifvertragsparteien auf die Situation reagiert und in den Tarifverträgen
entsprechende Änderungen vorgesehen haben. Die Bundesregierung ist nach sorgfältiger Überprüfung zu dem
Ergebnis gekommen, dass gleichwohl ergänzender gesetzlicher Handlungsbedarf besteht; denn es geht hier
um Fälle, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gekündigt wurde, um sie dann als Zeitarbeitnehmer in ihrem ehemaligen Unternehmen zu schlechteren
Bedingungen wieder zu beschäftigen. Ich sage für die
Bundesregierung ganz klar: Wer Zeitarbeit in dieser
Form zur Lohndrückerei missbraucht, der diskreditiert
und missbraucht ein gutes Instrument der Arbeitsmarktpolitik.
({1})
Das ist mit der Bundesregierung nicht zu machen.
({2})
Die Zeitarbeit hat in den letzten Jahren einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, den Arbeitskräftebedarf von
Unternehmen flexibel zu decken,
({3})
Beschäftigungspotenziale in den Unternehmen zu erschließen und Wirtschaftswachstum schneller in mehr
Beschäftigung umzusetzen. Man darf nie vergessen, dass
Zeitarbeit gerade Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen eine Chance auf Beschäftigung bietet. Etwa
zwei Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
waren unmittelbar vor ihrer Beschäftigung in der ZeitarParl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
beit nicht beschäftigt. Ein Drittel der Zeitarbeitskräfte
hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das heißt,
das Instrument bietet Chancen; die wollen wir nutzen.
Missbrauch gilt es mit aller Schärfe zu verhindern.
({4})
Die positiven Beschäftigungseffekte werden auch
durch den aktuellen Boom in der Zeitarbeitsbranche belegt. Der bereits seit April 2009 zu verzeichnende Anstieg der Zahl der Zeitarbeitnehmer hat sich auch im Jahr
2010 fortgesetzt. Gleichwohl dürfen wir nicht vergessen,
über welche Dimensionen wir reden. Ende Juni 2010 lag
der Anteil der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
bei 2,6 Prozent. Unter den offenen Stellen ist der Anteil
der Zeitarbeit deutlich größer; da liegt er bei knapp einem Drittel. Das heißt zweierlei: Die Zeitarbeit spielt
nicht die überragende Rolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Arbeitsplätze werden nicht überwiegend in
der Zeitarbeit geschaffen. Aber gleichzeitig reden wir
über ein Segment, das so groß ist, dass man sehr behutsam über Änderungen reden und sie so justieren sollte,
dass die Menschen faire Arbeitsbedingungen haben,
dass aber die Zeitarbeit als Jobmotor nicht abgewürgt
wird. Genau das ist es, worum es uns mit diesem Gesetz
geht.
({5})
Ich bin froh, dass es gelungen ist, auch im Rahmen
des Vermittlungsverfahrens zum Sozialgesetzbuch II gemeinsam mit der sozialdemokratischen Opposition zu
Vereinbarungen zu kommen, genauso wie beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dessen Regelungen betreffend die Löhne geändert werden sollen. In diesem Fall
hilft sozusagen das Hartz-IV-Vermittlungsverfahren, um
Fehler zu korrigieren, die damals die Regierung Schröder bei Hartz I gegen die Stimmen der Opposition
({6})
gemacht hat.
({7})
Ich stelle fest, dass diese Regelungen seinerzeit gegen
die Stimmen der damaligen Opposition beschlossen
worden sind.
({8})
Es bedurfte bei diesem nicht zustimmungspflichtigen
Gesetz nicht der Zustimmung der Opposition. - Ich
stelle fest: Der Kollege Heil bezeichnet das als Lüge. Es
ist nicht meine Aufgabe, das zu bewerten. Ich rede hier
über Tatsachen.
({9})
Wenn wir über Hartz IV reden, Herr Kollege:
({10})
Das war ein zustimmungspflichtiges Gesetz.
({11})
Es hat auch die Zustimmung des Bundesrates gefunden,
die Regelung zur Arbeitnehmerüberlassung nicht; das
war ein anderes Gesetz.
({12})
Ich bitte Sie, das noch einmal zu prüfen, damit wir bei
der Wahrheit bleiben.
({13})
Ich finde es gleichwohl wichtig, dass wir uns gerade
im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit den Herausforderungen stellen, die dort bestehen. Arbeitnehmerfreizügigkeit ist richtig. Es ist ein selbstverständlicher
Bestandteil eines freien Europas, dass Menschen in einem anderen Land nicht nur Urlaub machen können,
sondern auch arbeiten dürfen.
Arbeitnehmerfreizügigkeit darf aber nicht für Lohndrückerei missbraucht werden. Darum geht es uns.
({14})
Deswegen ist es wichtig, dass wir auch im Hinblick auf
die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit in der
Europäischen Union für die sensible Branche der Zeitarbeit zu Regelungen kommen, durch die eine Lohnuntergrenze festgelegt ist. Diese Lohnuntergrenze gilt dann
auch für all diejenigen, die zu uns kommen und in der
Zeitarbeitsbranche tätig sein wollen. Es ist gut, dass im
Rahmen des angesprochenen Vermittlungsverfahrens
hierüber ein Konsens erzielt worden ist. Wir wollen eine
Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit, die tariflich vereinbart ist und die für alle in der Zeitarbeit Beschäftigten im
Inland und im Ausland gilt.
Ich bin dankbar, dass die Koalitionsfraktionen Entsprechendes im Zuge des weiteren Gesetzgebungsverfahrens einbringen wollen. Ich habe die SPD bisher so
verstanden, dass sie dabei mitmachen will. Ich hoffe,
dass das keine unzutreffende Einschätzung ist. Ich finde
nämlich, es ist wichtig, dass wir gemeinsam dafür sorgen,
({15})
dass die Zeitarbeit denjenigen Menschen Chancen gibt,
die sie brauchen. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen,
dass die Menschen, die in der Zeitarbeitsbranche tätig
sind, fair bezahlt werden, dass es dort faire Löhne und
faire Arbeitsbedingungen gibt.
({16})
Es muss dort gute Aufstiegschancen geben. Dazu leisten
wir auch mit diesem Gesetzentwurf einen Beitrag.
Herzlichen Dank.
({17})
Hubertus Heil hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Brauksiepe, wissen Sie, warum Olaf Scholz am
Sonntag in Hamburg gewonnen hat?
({0})
Dafür, dass er die absolute Mehrheit geholt hat, gibt es
viele gute Gründe. Der Hauptgrund ist, dass er glaubwürdig - das ist der Unterschied zu Ihnen - dafür eingestanden ist, dass man wirtschaftlichen Erfolg nicht gegen
soziale Gerechtigkeit ausspielen darf.
({1})
Gleiches muss für die Zeit- und Leiharbeitsbranche gelten.
Zeit- und Leiharbeit können - so war es gemeint, als
das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz novelliert wurde ein wirtschaftlich vernünftiges Instrument zur Abdeckung von Auftragsspitzen in Unternehmen sein. Herr
Staatssekretär, trotz vieler warmer Worte sage ich Ihnen:
Wir dürfen nicht zulassen, dass Zeit- und Leiharbeit weiterhin das größte Scheunentor für Lohndumping in
Deutschland sind. Sie tun bisher nichts dagegen.
({2})
Zur Wahrheit gehört, dass wir Ihnen in den Verhandlungen einen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeitsbranche abringen mussten. Da verbiegen Sie hier die
Wahrheit. Das, was Sie in den Verhandlungen angeboten
haben, haben wir nicht zugelassen; wir haben vielmehr
etwas anderes durchgesetzt. Sie wollten nicht einmal einen Mindestlohn für die Zeit- und Leiharbeitsbranche.
Sie wollten, dass es einen Mindestlohn in dieser Branche
nur in der verleihfreien Zeit gibt.
Sie haben uns dann angeboten, dass man einen sogenannten Referenzlohn für die Einsatzzeit bildet, von dem
nach unten abgewichen werden könnte. Zu Deutsch:
Diese Koalition, bestehend unter anderem aus Herrn
Kolb, der Frau von der Leyen in Geiselhaft genommen
hat, wollte, dass Leiharbeitnehmer, wenn sie nicht arbeiten, möglicherweise mehr Geld bekommen, als wenn sie
arbeiten. Das ist leistungsfeindlich; das ist schwachsinnig. Deshalb haben wir gegen Ihren Widerstand im Vorfeld des 1. Mai einen gesetzlichen Mindestlohn im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz für die Zeit- und Leiharbeitsbranche durchgesetzt, der nicht abgesenkt werden
kann. Wir haben den Mindestlohn durchgesetzt, nicht
Sie!
({3})
Jetzt haben Sie eine „Lex Schlecker“ vorgelegt. Wir
werden sie benutzen, um den Mindestlohn vor dem
1. Mai durchzusetzen; so viel Zustimmung ist da. Aber
am wesentlichen Punkt, nämlich an dem Grundsatz
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Stamm- und
Leihbelegschaften“, geht diese Koalition kalt vorbei.
Ich habe am späten gestrigen Abend ferngesehen: das
Nachtmagazin in der ARD.
({4})
- Nein, bei denen darf man nicht schlafen. Da muss man
aufpassen, Fritz Kuhn. Das weißt du auch. Wir haben
wenig Zeit gehabt zum Schlafen. Wir haben gearbeitet
und gemeinsam in diesem Bereich viel erreicht. - In dieser Sendung wurde ein Bericht über eine Stamm- und
eine Leihbelegschaft gezeigt. Es wurde sehr eindrucksvoll beschrieben, wie sich zwei Kollegen, die dieselbe
Qualifikation haben und dieselbe Tätigkeit ausüben
- der eine gehört zur Stammbelegschaft, der andere zur
Leihbelegschaft -, fühlen. Der Verdienstunterschied
liegt bei 900 Euro. Mit anderen Worten: Der Arbeitnehmer der Stammbelegschaft bekommt 900 Euro mehr als
der Leiharbeitnehmer, obwohl sie dieselbe Tätigkeit ausüben und dieselbe Qualifikation haben. Der Zeitarbeitnehmer hat im Übrigen auch weniger Urlaub. Der eine
fühlt sich entwürdigt, weil er für die gleiche Leistung
nicht den gleichen Lohn bekommt. Der andere, der Kollege aus der Stammbelegschaft, sagt: Ich habe Angst,
dass ich demnächst durch Zeit- und Leiharbeiter ersetzt
werde. Das ist die Realität in Deutschland.
({5})
Wir haben in diesen Verhandlungen gesagt: Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dann hat die FDP
gesagt: nach neun Monaten. - Dazu muss man wissen,
dass 30 Prozent der Leih- und Zeitarbeitnehmer weniger
als drei Monate arbeiten. Die FDP, die CDU und die
Bundesministerin wollten dann, dass nach neun Monaten gar nicht Equal Pay - gleicher Lohn für gleiche Arbeit - gilt, sondern sie wollten das umdefinieren und die
Zuschläge, die vor allen Dingen in der Industrie 30 Prozent der Lohnbestandteile ausmachen, herunterdrücken.
Herr Brauksiepe, ich weiß nicht, welchen Einfluss Sie
als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales tatsächlich haben,
Hubertus Heil ({6})
({7})
aber Sachkenntnis gibt es in Ihrem Ministerium. Die
Wahrheit ist: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres
Hauses kennen die Situation offensichtlich besser als
Frau von der Leyen und Sie. Das ist der Skandal: Das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist im Bereich des Missbrauchs der Zeit- und Leiharbeit im
wahrsten Sinne des Wortes kopflos. Das ist eine
Schande!
({8})
Die gute Nachricht ist, dass wir in den Verhandlungen
mit Ihnen für 1,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, darunter 900 000 Beschäftigte in der Zeitund Leiharbeit, einen Mindestlohn durchgesetzt haben.
Das ist gut, das ist wichtig, und das ist richtig. Genauso
richtig und gut ist, dass wir uns beim Thema Equal Pay
nicht auf einen faulen Kompromiss einlassen. Die deutsche Sozialdemokratie wird nicht eher ruhen, als bis wir
den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für
die Menschen in Deutschland durchgesetzt haben, und
zwar für Männer und Frauen, auch in der Zeit- und Leiharbeit.
({9})
Ich will Ihnen sagen, warum ich das nicht nur für sozial geboten halte: Es stört den Betriebsfrieden, wenn
Kollegen unterschiedlich behandelt werden, obwohl sie
das Gleiche leisten. Das ist leistungsfeindlich.
Auch wirtschaftspolitisch ist es vernünftig, dass wir
die Zeit- und Leiharbeit auf das konzentrieren, was ökonomisch gemeint ist, nämlich um Auftragsspitzen in Unternehmen abzudecken, aber nicht, um Lohndumping zu
ermöglichen. Das ist auch aus Gründen der finanzpolitischen Solidität des Haushalts notwendig.
Vor allen Dingen in der Zeit- und Leiharbeit gibt es
immer mehr Menschen, die Vollzeit arbeiten, die jeden
Tag schuften, die morgens in die Fabrik gehen, die sich
anstrengen und mühen, aber die sich dann, weil es zum
Leben nicht reicht, ergänzendes Arbeitslosengeld II vom
Amt abholen müssen. Das verantwortet die schwarzgelbe Koalition. Wir werden darum kämpfen, das zu ändern. Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
({10})
Ich sage Ihnen noch etwas: Ein fauler Kompromiss,
der so tut, als würde er das Problem des Missbrauchs
von Zeit- und Leiharbeit in Deutschland bekämpfen, ist
mit uns nicht zu machen. Sie haben sich seit Jahren gegen die Einführung von Mindestlöhnen gewehrt. Wir haben die Mindestlöhne Branche für Branche gegen den
schwarz-gelben Widerstand durchkämpfen müssen. Wir
sind jetzt in drei Branchen zum ersten Mal einen großen
Schritt vorangekommen.
Wir werden Sie treiben, und wir werden nicht ruhen,
bis Equal Pay auch für die Zeit- und Leiharbeit durchgesetzt wird. Da wird es kein Gepfusche an dem Begriff
geben, was „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ meint. In
dieser Hinsicht ist das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
in seiner Definition des § 3 ziemlich klar. Darin steht:
„… wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des
Arbeitsentgelts“. Das ist übrigens auch das, was in der
Richtlinie steht. Sie versuchen, da herumzudoktern und
so zu tun, als ginge es nur um den Stundenlohn und nicht
um die Zuschläge, die es in der Industrie gibt.
Wir legen Ihnen heute einen Antrag vor in der Hoffnung, dass wir in den Verhandlungen zu Ihrem vorliegenden Gesetzentwurf auch im Bereich Equal Pay noch
zu Fortschritten kommen. Ich bin mir da nicht ganz sicher, weil wir erleben müssen, dass die FDP in der Sozialpolitik Frau von der Leyen offensichtlich an der Leine
führt.
({11})
Das ist nicht gut für Deutschland, aber in diesem Bereich
ist es offensichtlich so.
Ich sage Ihnen: Wir wollen gleichen Lohn für gleiche
Arbeit. Wir brauchen einen Mindestlohn, den wir schon
gegen Sie durchgesetzt haben. Wir brauchen ein Synchronisationsverbot, um Drehtüreffekte zu vermeiden,
und zwar nicht nur bei Schlecker.
Herr Brauksiepe, es ist sowieso ein Ding der Unmöglichkeit, dass Frau von der Leyen erst jetzt - sie ist fast
anderthalb Jahre im Amt - beim Thema Schlecker gemerkt hat, dass es einen Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit gibt. So viel Ignoranz gegenüber den hart arbeitenden Menschen in Deutschland ist nicht zu akzeptieren.
Herr Kollege!
Deshalb werden wir kämpfen und dafür sorgen, dass
dieses Gesetz im Interesse der arbeitenden Menschen
besser wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Heinrich Kolb für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema Zeitarbeit wird in der letzten Zeit sehr häufig
diskutiert. Herr Kollege Heil, Sie haben heute eine Rede
nach altem Muster gehalten. Ich glaube, es ist jetzt aber
an der Zeit, verbal abzurüsten. Wenn wir morgen in Bundestag und Bundesrat die Beschlüsse zu Hartz IV fassen
und anschließend im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
das normieren, was wir in den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss gemeinsam verabredet haben, dann
haben wir einen Rahmen für die Zeitarbeit in Deutsch10504
land geschaffen, der zum einen Missbrauch verhindert
und der zum anderen dieses Instrument auch in Zukunft
einsatzfähig erhält. Das ist uns wichtig, und das ist auch
richtig so.
({0})
Herr Heil, wir wollen Zeitarbeit. Sie ist für uns ein
wichtiges und gutes arbeitsmarktpolitisches Instrument.
Wir wollen, dass Zeitarbeit möglich ist, weil mit ihr eine
Integrationsleistung erbracht wird und weil sie vielen zuvor arbeitslosen Menschen, auch Langzeitarbeitslosen,
dazu verholfen hat, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Dieses Instrument wollen wir uns nicht kaputtmachen lassen. Deswegen haben die FDP und die Union
in den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss auch so
hart gekämpft.
({1})
Wir wollen gleichwohl, dass Missbrauch verhindert
wird. - Der Kollege Gabriel möchte eine Zwischenfrage
stellen.
Und Sie möchten die gerne zulassen, Herr Kolb?
Ja, sicher. Ich bin schon ganz wild darauf.
Vielen Dank, dass Sie sozusagen als Leiharbeiter
meine Arbeit übernommen haben.
Herr Gabriel, bitte.
Ich möchte Sie fragen, ob es zutrifft, dass Sie uns in
den nächtlichen Verhandlungen am 20. Februar ungefähr
drei Stunden lang Ihre Version von Equal Pay wie folgt
erklärt haben: Gleichen Lohn für gleiche Arbeit für
Leiharbeitnehmer und Festangestellte soll es sofort geben - so war Ihre Vorstellung -, wenn der Lohn geringer
ist als im Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche. Wenn der
Lohn höher ist als der in der Zeitarbeitsbranche, soll das
Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ allerdings
erst nach neun Monaten gelten. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie diese Position, die Sie uns stundenlang weismachen wollten, immer noch aufrechterhalten.
Herr Kollege Gabriel, Sie wissen, dass wir uns auf einen Kompromiss verständigt haben. Wir stehen zu diesem Kompromiss. Ich will aber gerne, weil Sie gefragt
haben, die Gelegenheit nutzen, noch einmal deutlich zu
machen, worum es uns eigentlich geht.
({0})
- Das will ich doch. - Es ist ja nicht so, wie Sie behaupten, dass der Mindestlohn in diesem Bereich etwas
Neues wäre. Es ist vielmehr so, dass es schon heute für
98 Prozent der Zeitarbeiter einen tariflichen Mindestlohn sowohl für die Verleihzeit als auch für die verleihfreien Zeiten gibt. Der tarifliche Mindestlohn gilt vom
ersten Tag an, ganz gleich, ob die Zeitarbeiter ausgeliehen sind oder nicht.
({1})
- Ich beantworte doch gerade die Frage. - Herr Gabriel,
Sie können bestätigen, dass ich in den Verhandlungen
immer darauf hingewiesen habe, dass nach der Logik
des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Equal Pay dann
gilt,
({2})
wenn nicht durch einen Tarifvertrag davon abgewichen
wird. Es ging um die Frage: Soll es in Unternehmen, die
nicht tarifgebunden sind
({3})
- das ist der Punkt; Herr Gabriel bestätigt es mir -, möglich sein, dass ein Tariflohn der Einsatzbranche gezahlt
werden kann, der unter der Lohnuntergrenze der Zeitarbeit liegt?
({4})
- Dafür waren wir.
({5})
Wir haben aber auch festgestellt: Die praktische Relevanz dieses Bypasses - wenn ich das einmal so sagen
darf - ist nicht sonderlich hoch. Das ist eine ordnungspolitische Grundsatzfrage. Wir haben in den Verhandlungen am Ende deutlich gemacht, dass wir einen wichtigen
Kompromiss, den wir im Bereich Hartz IV anstreben,
nicht an dieser Frage scheitern lassen werden.
Noch einmal: Entscheidend war, dass wir heute schon
praktisch flächendeckend einen Mindestlohn für deutsche
Zeitarbeiter haben. Deswegen ist es falsch, wenn der Kollege Heil sagt, dass wir für 1,2 Millionen Menschen neue
Mindestlöhne schaffen würden. Das kann man so nicht sagen, weil es für 900 000 Zeitarbeiter schon einen Mindestlohn gibt. Dazu kommen 20 000 Menschen aus dem Bereich der Aus- und Weiterbildung sowie 170 000 Menschen
aus dem Bereich des Wach- und Sicherheitsgewerbes;
das ergibt für mich 190 000.
Es stellt sich aber die Frage, was im Zuge der Freizügigkeit nach dem 1. Mai dieses Jahres mit den Zeitarbeitern passiert, die aus dem Ausland nach Deutschland
kommen. Welchen Lohn werden diese Menschen bekommen? Da ist jetzt über diese Lohnuntergrenze, die
eine absolute sein soll, sichergestellt, dass ein bestimmter Lohn nicht unterschritten werden kann. Auch polnische, lettische, litauische Zeitarbeiter werden nach dem
1. Mai, wenn sie nach Deutschland kommen, mit Löhnen, die mindestens dieser Lohnuntergrenze entspreDr. Heinrich L. Kolb
chen, bedient werden. Diese Verabredung haben wir gemeinsam getroffen. Dazu stehen wir auch.
Damit will ich zu einem zweiten Thema kommen,
Herr Kollege Heil: Equal Pay. Nachdem ein großes deutsches Einzelhandelsunternehmen Anfang letzten Jahres
damit angefangen hatte, die Stammbelegschaft zu entlassen und sie als Zeitarbeiter zurückzuholen, haben Kollege Schiewerling und ich gleichlautend, am selben Tag
und unabgesprochen - da sind wir uns sehr einig - gesagt: Das machen wir nicht mit. Diese Drehtür werden
wir relativ schnell wieder schließen. - Die Tarifpartner
haben das dann sogar selbst getan, was ich gut finde.
Darüber hinaus hat die FDP auch früh, nämlich im Frühsommer letzten Jahres, gesagt: Weil es für die deutschen
Zeitarbeiter ja längst einen Mindestlohn gibt, ist die viel
wichtigere Frage die nach dem Equal Pay. - An dieser
Stelle würde ich gerne eine Zwischenfrage des Kollegen
Heil zulassen, Frau Präsidentin, wenn es geht.
({6})
Ich unterbreche Sie so ungerne im Redefluss, Herr
Kolb. Deshalb wollte ich warten, bis Sie Luft holen.
Bitte schön, Herr Heil.
Lieber Kollege Kolb, nachdem Sie Sigmar Gabriel
bestätigt haben, dass Sie unter Mindestlohn einen Lohn
verstehen, von dem man noch nach unten abweichen
kann, hätte ich eine Frage zu dem Thema, was Sie unter
Equal Pay verstehen.
Entspricht es den Tatsachen - ich kenne Sie als einen
wahrhaftigen Menschen,
({0})
der zu seiner Überzeugung steht, auch wenn sie nicht
meine ist -, dass Sie erstens versucht haben, den EqualPay-Begriff, worunter wir weitgehend gleiche Arbeitsbedingungen inklusive gleiches Entgelt verstehen, wie
es jetzt auch im AÜG steht, umzudefinieren, und zweitens nicht bereit waren, Equal Pay vor einer Einarbeitungszeit von mindestens neun Monaten zuzulassen?
Auf Deutsch: Sie wollten, dass es neun Monate lang keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt und nach den
neun Monaten auch keinen gleichen Lohn für gleiche
Arbeit. Wir reden ja hier vom Gehalt der Stammbelegschaften im Vergleich zu Leihbelegschaften. Entspricht
es den Tatsachen, dass Sie im Gespräch mit mir und der
SPD in den Verhandlungen gesagt haben: „Man muss
den Equal-Pay-Begriff ändern, und erst nach neun Monaten sollen die Menschen gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen“? Ja oder nein? Das ist eine Ja-oderNein-Frage.
Das kann man ein bisschen ausführlicher beantworten.
Nein, das ist eine einfache Frage.
Sie stellen die Fragen, ich liefere die Antworten. Ich
bin der Meinung, dass man darauf etwas ausführlicher
antworten muss, und ich will es gerne tun.
Ich will zunächst darauf hinweisen, dass die FDP,
wenn ich mich recht erinnere, als eine der ersten Fraktionen in diesem Hause im Frühsommer letzten Jahres gesagt hat: Es geht nicht in erster Linie um Mindestlohn,
sondern um Equal Pay, also um die Heranführung der
Entlohnung der Zeitarbeiter an die der Stammbelegschaften. Das war uns wichtig. Wir haben aber auch immer gesagt: Diese Heranführung muss auf der Zeitschiene erfolgen. Das ist der eine Teil Ihrer Frage gewesen.
Equal Pay ab dem ersten Tag, was Sie nachdrücklich
und massiv gefordert haben, wäre aus unserer Sicht das
Ende der Zeitarbeit in Deutschland.
({0})
- Nein, Herr Heil. Wenn Sie hier schon aus den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses und seiner Arbeitsgruppen berichten,
({1})
dann muss man hier auch sehr deutlich darauf hinweisen, dass Sie in einer Sitzung unmissverständlich gesagt
haben: Wir wollen Equal Pay ab dem ersten Tag.
({2})
Sie haben hinzugefügt: Wenn wir das nicht bekommen,
machen wir überhaupt keinen Abschluss.
({3})
Am Ende haben wir trotzdem einen Abschluss hinbekommen, was ich auch richtig finde.
Sie haben sich bewegt, wir haben uns bewegt, und wir
sind am Ende trotzdem nicht zusammengekommen, Herr
Heil. Das bedaure ich, weil es schöner gewesen wäre,
wenn man nach außen hin hätte signalisieren können:
({4})
Politik ist sich in diesem Bereich einig.
Wir haben immer gesagt: Equal Pay, also gleiche Entlohnung für Stammbelegschaften und Zeitarbeiter, muss
auf der Zeitschiene erfolgen.
({5})
Nicht die FDP hat im Vermittlungsausschuss und in der
Arbeitsgruppe Angebote gemacht, sondern die Koalition
hat Angebote gemacht. Das ist doch wahr, Herr Kollege
Heil; da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln. Herr
Kollege Schiewerling hat für die Koalition zunächst an10506
geboten, Equal Pay nach zwölf Monaten festzuschreiben, und dann haben wir als Koalition gesagt: Wir können uns Equal Pay auch schon nach neun Monaten
vorstellen. - Das gehört noch zur Beantwortung der
Frage; Frau Präsidentin, ich finde, er hat sich zu früh
hingesetzt.
({6})
- Das ist eng an Ihrer Frage, Herr Kollege Heil,
({7})
und zwar deswegen, weil es uns darum ging, eine Auffangfrist zu schaffen. Im Vorfeld dieser Auffangfrist sehen wir die Tarifpartner, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, gefordert. Diese haben uns ja in den Wochen
bzw. - das kann man fast so sagen - Monaten dieser Diskussion förmlich bombardiert mit Zuschriften des Inhaltes: Finger weg! Bloß keine gesetzliche Regelung! Lasst
uns das doch selbst machen, weil wir näher dran sind.
Genau das, Herr Kollege Heil, wollen wir jetzt tun.
Darin sind wir uns in der Koalition vollkommen einig.
Wir geben den Tarifpartnern zwölf Monate Zeit und sagen ihnen: Alle Fragen im Zusammenhang mit diesem
Thema, dessen Wichtigkeit ihr erkannt habt, werdet ihr
jetzt nach Möglichkeit in eigener Verantwortung regeln.
Wenn ihr keine Lösung findet, dann müsst ihr euch gefallen lassen, dass wir handeln.
({8})
- Aber diese Kommission wird eine Empfehlung geben,
die umgesetzt werden würde, wenn es notwendig wäre. Ich bin allerdings sehr zuversichtlich - das wäre auch
der richtige Weg -, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber dieses Problem selber lösen und wir ein sehr feingliedriges Netz von Vereinbarungen bekommen.
Das Problem bei Ihrem Ansatz ist, dass man alle
Branchen über einen Kamm scheren würde und dass ab
dem ersten Tag Equal Pay die Folge wäre. Das ist kontraproduktiv. Es mag zwar Branchen geben, in denen das
nach einer relativ kurzen Frist möglich ist.
({9})
Aber es gibt auch Branchen, in denen die Frist länger
sein muss.
({10})
Diese von uns gewünschte Differenzierung kann nicht
der Gesetzgeber liefern. Es ist vielmehr eine Herausforderung, der sich letztendlich die Tarifpartner stellen
müssen.
Ich will zusammenfassen: In beiden Bereichen gibt es
Lösungen.
({11})
Wir werden mit Ihnen zusammen, Herr Kollege Heil,
eine absolute Lohnuntergrenze vereinbaren. Ich hoffe,
dass Sie dieser Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in der zweiten und dritten Lesung zustimmen werden. Das ist die Nagelprobe für Sie.
Wir werden auch am Thema Equal Pay dranbleiben.
Wir haben früh erkannt, dass das die eigentliche Herausforderung für die Zeitarbeit in Deutschland ist. Die Zeitarbeiter, die heute durch einen tariflichen Mindestlohn
gut geschützt sind, interessiert diese Frage. Aber sie ist
vorrangig von den Tarifpartnern zu beantworten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Jutta Krellmann hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem Gerede hin und her stellt sich die Frage, wo wir
beim Thema Leiharbeit stehen.
({0})
Wir sollen einen Mindestlohn in der Leiharbeit bekommen, nicht nur in der verleihfreien Zeit; aber von
gleichem Lohn für gleiche Arbeit ist keine Rede mehr.
Dieses Ergebnis zur Leiharbeit ist der Stand der Verhandlungen zum Hartz-IV-Regelsatz. Das ist schlichtweg enttäuschend.
({1})
Der beschlossene Branchenmindestlohn in der Leiharbeit ist ein untaugliches Feigenblatt und wird Lohnund Sozialdumping weiterhin zulassen. Die Leiharbeitsfirmen werden damit geschützt, und eine spürbare Verbesserung für die Beschäftigten wird es nicht geben. Wir
reden über 7,60 Euro im Westen und 6,55 Euro im
Osten. Keiner von Ihnen würde für so wenig Geld irgendwo arbeiten wollen.
({2})
Diese Beträge sind derzeit in Tarifverträgen festgelegt.
Das haben die Gewerkschaften in den letzten Jahren vereinbart, also zu einer Zeit, als Sie die Rahmenbedingungen für das Aushandeln von vernünftigen Tarifverträgen
systematisch zerstört haben. Die Bundesregierung und
„Frau von der Leiharbeit“
({3})
legalisieren damit Lohndumping für immer mehr Beschäftigte. Leiharbeiter bekommen weiterhin nur die
Hälfte des Lohnes, den ihre festangestellten Kollegen
bekommen, und das bei gleicher Arbeit.
Die Zahl der Aufstocker in der Leiharbeit steigt jedes
Jahr. Im angeblichen Jobwunderland Baden-Württemberg sind seit Mitte letzten Jahres circa 33 000 neue Arbeitsplätze entstanden, allein 27 000 davon in der Leiharbeitsbranche. Das sind 83 Prozent; ich wiederhole:
83 Prozent. Ihr Jobwunder basiert also auf Leiharbeit. Es
handelt sich um 27 000 Beschäftigte, die auch in Zukunft weniger Geld bekommen als ihre Kolleginnen und
Kollegen nebenan. Ich sage Ihnen: Diese moderne
Lohnsklaverei muss endlich aufhören.
({4})
Heute ist der Aktionstag der Gewerkschaften gegen
Leiharbeit und prekäre Beschäftigung. Die Beschäftigten geben sich nicht mit Mindestlösungen zufrieden, und
das zu Recht. Im Moment demonstrieren beispielsweise
Beschäftigte der Firma MetoKote gemeinsam mit Kollegen der Firma John Deere in Mannheim vor den Betriebstoren. Warum? Die Firma John Deere hat einen ganzen
Produktionszweig einfach an ihren Zulieferer MetoKote
ausgegliedert und beschäftigt jetzt nur noch Leiharbeitnehmer. Das Schlimmste an der Sache ist: Diese Praxis
des Unternehmens bleibt auch nach dem neuen Gesetzentwurf der Bundesregierung legal. Wir als Linke unterstützen die zahlreichen Proteste der Gewerkschaften und
der Beschäftigten gegen Unternehmenswillkür und prekäre Beschäftigung per Gesetz.
({5})
Die Bundesregierung legt hier einen Entwurf vor, der
für viele Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer
keine großen Verbesserungen bringt. Trotzdem stellt sich
Arbeitgeberpräsident Hundt hin und sagt: Egal, was Sie
neu regeln, wir werden es unterlaufen. - Dem muss man
doch die Stirn bieten können. Das ist Gesetzesbruch mit
Ansage. Das ist unglaublich.
({6})
Das kann die Bundesregierung doch nicht dulden. Wer
darf das wieder ausbaden? Die betroffenen Beschäftigten der Leiharbeit, denen Equal Pay verwehrt wird, und
die Menschen, die mit ihren Steuern Aufstockerleistungen
an Arbeitnehmer in Leiharbeitsfirmen subventionieren müssen, leiden darunter. Leiharbeit bedeutet Unsicherheit für die
Betroffenen und auch weniger Geld, weniger Rechte und
weniger Anerkennung der eigenen Arbeit.
Meine Damen und Herren von der SPD, das Tragische an diesem Kompromiss ist, dass Sie dazu beigetragen haben und morgen dieser Kuhhandel mit Ihren Stimmen den Bundestag passieren wird. Das ist äußerst
bedauerlich und aus meiner Sicht eine absolut verpasste
Chance.
Wir wollen eine Lösung bei der Leiharbeit, die den
Beschäftigten wirklich hilft. Der vorliegende Antrag der
SPD hört sich nicht schlecht an, liest sich auch nicht
schlecht, ist aber aus meiner Sicht absolut unglaubwürdig. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nicht
einmal das Papier wert, auf dem er steht.
({7})
Die Linke zeigt, dass es auch anders geht. Wir haben
ein klares Konzept und stehen auch dazu. Unsere zentrale Forderung ist: gleiches Geld für gleiche Arbeit von
Anfang an, und ohne Ausnahme.
({8})
Wer die Arbeit der Beschäftigten in Deutschland schätzt,
der gesteht den Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern auch gleichen Lohn zu. Wir wollen die Verleihdauer wieder auf maximal drei Monate begrenzen; das
ist ja nichts Neues. Leiharbeit muss wieder ein Thema
für Auftragsspitzen in Unternehmen sein und darf keine
reguläre Beschäftigung ersetzen. Wer ständig die Arbeit
und den Arbeitsplatz wechselt, der hat auch Anspruch
auf eine höhere Bezahlung und verdient mehr Anerkennung. Eine Flexibilitätsprämie von 10 Prozent ist an dieser Stelle das richtige Zeichen für die Beschäftigten.
({9})
Aber auch die Leiharbeitsfirmen müssen endlich Verantwortung übernehmen. Deswegen muss das Synchronisationsverbot wieder eingeführt werden.
({10})
Sie dürfen ihre Beschäftigten nicht mehr zwingen, als
Streikbrecher zu fungieren.
({11})
Nicht zuletzt ist es notwendig, die Mitbestimmung innerhalb der Betriebe zu stärken; denn nur der Betriebsrat
kann beurteilen und einschätzen, ob Leiharbeit überhaupt notwendig ist oder für Lohndumping benutzt wird.
Wir waren noch nie so dicht am Kern des Problems
und an einer möglichen Lösung. Die Linke ist damit die
einzige Partei, die zu ihrem Wort steht, weil wir Equal
Pay prinzipiell richtig und wichtig finden.
({12})
Deshalb fordere ich als Gewerkschafterin die Abgeordneten aller Fraktionen, die wie wir gegen Leiharbeit und
prekäre Beschäftigung sind, auf: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu, damit endlich etwas zugunsten dieser
Kolleginnen und Kollegen passiert.
({13})
Beate Müller-Gemmeke hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute wird also endlich der Gesetzentwurf der Regierung in den Bundestag eingebracht.
Seit über einem Jahr warten wir schon darauf. Ministerin
von der Leyen hat bereits zwei Anläufe gestartet; die
wurden aber immer vom Koalitionspartner, der FDP, gestoppt. Die Koalitionsfraktionen sind bei wichtigen sozialpolitischen Themen einfach nicht handlungsfähig. Das
ist die übliche schwarz-gelbe Chaospolitik; aber das kennen wir schon aus dem Vermittlungsausschuss.
({0})
Das, was jetzt vorliegt, kann ich nur als Minimalvariante bezeichnen. Die wichtigsten Punkte fehlen, etwa
das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und der
Mindestlohn. Mit diesem Gesetz bleiben die Leiharbeitskräfte die Verlierer. Auch der Staat verliert, und zwar
Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Dafür werden die Ausgaben für das aufstockende Arbeitslosengeld II steigen, und das nur, weil sich die schwarz-gelbe
Koalition lieber um Hoteliers und minimale Entlastungen, beispielsweise beim Arbeitnehmerpauschbetrag,
kümmert.
({1})
Ich hoffe nur, dass der Gesetzentwurf im Laufe des Verfahrens um den Mindestlohn ergänzt wird. Ich hoffe übrigens auch, dass die Arbeitsbedingungen normiert werden; hier geht es auch um Arbeitszeiten. Das wäre
wenigstens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
({2})
Es ist mir aber immer noch unverständlich, warum
sich die FDP so hartnäckig gegen einen Mindestlohn gewehrt hat. Der Mindestlohn in der Leiharbeit ist mit
Blick auf die ab Mai gewährte Arbeitnehmerfreizügigkeit unerlässlich.
({3})
Darüber sind sich mittlerweile alle Branchenverbände
inklusive BDA einig; nur die FDP hat es einfach nicht
kapiert.
({4})
Mit dem Gesetzentwurf muss auch die EU-Leiharbeitsrichtlinie umgesetzt werden; die Bundesregierung
ist verpflichtet, sie bis zum Ende des Jahres umzusetzen.
Ich finde - das wird Sie kaum überraschen -, dass der
geforderte Gesamtschutz der Leiharbeitskräfte nicht gewährleistet ist. Laut Richtlinie müssen die Leiharbeitskräfte zumindest die Arbeitsbedingungen von festangestellten Beschäftigten erhalten. Sie werden dieser
Vorgabe mit Ihrem Gesetzentwurf aber nicht im Geringsten gerecht.
Auch die hochgelobte sogenannte Schlecker-Klausel ist
nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Es gibt genügend
Möglichkeiten, diese Regelung zu umgehen. Beispielsweise können entlassene Beschäftigte sechs Monate lang
geparkt und danach als Leiharbeitskräfte am gleichen Arbeitsplatz eingesetzt werden; es können aber auch gleich
andere Leiharbeitskräfte angefordert werden. Damit
bleibt vom Gesetzentwurf bis auf kleine Detailregelungen nicht mehr viel übrig. Die Substitution von Stammbelegschaften ist weiterhin möglich; aber das wollten Sie
ja auch nicht verhindern.
({5})
Nicht nur die im Entwurf enthaltenen Regelungen
sind problematisch. Entscheidend ist, dass die wirklich
wichtigen Verbesserungen fehlen, beispielsweise die
Einführung von Equal Pay und die Wiedereinführung
des Synchronisationsverbots, aber auch mehr Rechte für
Betriebsräte. Das führt dazu, dass die Leiharbeit immer
salonfähiger wird und Stammbelegschaften entweder aktiv oder schleichend ersetzt werden. Aus regulären Beschäftigungsverhältnissen werden also Leiharbeitsverhältnisse. Ich frage mich, wohin das führen soll. Frau
Connemann von der CDU/CSU, aber auch Herr Kolb
von der FDP finden das natürlich in Ordnung; denn ihrer
Meinung nach gibt es in der Leiharbeit reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Das stimmt aber nicht.
({6})
Ich möchte einmal ausführen, was ich unter regulärer
Arbeit verstehe und warum ich die Leiharbeit als prekär
bezeichne.
({7})
Reguläre Beschäftigungsverhältnisse sind unbefristet.
Die Beschäftigten werden entsprechend ihrer Qualifikation oder der Art ihrer Tätigkeit bezahlt, und zwar nach
dem gleichen Tarifsystem wie alle anderen auch. Im
Kreis der Kolleginnen und Kollegen haben sie ein stabiles soziales Umfeld; man kennt sich, sie erhalten Anerkennung und Wertschätzung. Vor allen Dingen gibt es
klare Rahmenbedingungen, das heißt, die Beschäftigten
haben die Möglichkeit, ihr Leben wirklich zu planen.
Jobs in der Leiharbeit sind aber in der Regel befristet,
und zwar nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, häufig nur für die Dauer des Einsatzes, und können jederzeit
vorzeitig gekündigt werden. Wenn der Einsatz zu Ende
ist, bleibt nur noch der Gang in die Arbeitslosigkeit. Das
nenne ich prekär. Leiharbeitskräfte verdienen 30 bis
50 Prozent weniger als regulär Beschäftigte, und zwar
unabhängig von ihrer Qualifikation. Von dem Lohn können sie nicht leben, und darüber hinaus werden sie noch
wie Beschäftigte zweiter Klasse behandelt. Auch das bezeichne ich als prekär.
Leiharbeitskräfte werden im Betrieb häufig als Konkurrenz angesehen. Sie stehen unter einem deutlich höheren Leistungsdruck; denn sie wollen regulär angestellt
werden. Sie müssen sich immer wieder an neue Tätigkeiten gewöhnen; die Umgebung wechselt und natürlich
auch die Menschen, die sie um sich herum haben. Anerkennung, Wertschätzung - Fehlanzeige. Leiharbeitskräfte leben in Unsicherheit. Eine Lebens- und Familienplanung ist nicht möglich. Auch das bezeichne ich als
prekär.
({8})
Alles zusammen zeigt eindrücklich, mit welchen Lebensbedingungen die Leiharbeitskräfte tagtäglich zu
kämpfen haben. Hören Sie also endlich auf damit, immer
wieder zu behaupten, die Leiharbeit sei eine reguläre
und normale Beschäftigungsform. Die Realität sieht anBeate Müller-Gemmeke
ders aus. Die Leiharbeit ist und bleibt unsicher und unfair.
Ich frage die Regierungsfraktionen nochmals: Wo soll
das hinführen? In manchen Industriebranchen ist die
Leiharbeit und im Dienstleistungsbereich wird die Leiharbeit zur Normalität. Jede fünfte Bäckerei, jeder vierte
Kfz-Betrieb und jedes siebte Bauunternehmen setzt auf
Leiharbeit.
({9})
Im Gesundheitsbereich nimmt die Leiharbeit dramatisch
zu. In Banken, Versicherungen, Kitas, Schulen und sogar
in den Jobcentern werden Leiharbeitskräfte eingesetzt,
wie ich vor kurzem gehört habe und was mich wirklich
schockiert hat. Es geht schon lange nicht mehr um Flexibilität und um das Abfedern von Auftragsspitzen. Es
geht darum, eine zweite Niedriglohnlinie einzuführen.
Es geht um Profit, und es geht um den Wettbewerb um
die niedrigsten Löhne. Diese Tendenz wird mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht gestoppt.
Ich wiederhole: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft,
sondern sozial ist nur, was gute Arbeit schafft.
({10})
Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessern
und Zukunftschancen eröffnen. Um dem gerecht zu werden, müssen Sie Ihren Gesetzentwurf gewaltig überarbeiten.
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Karl Schiewerling hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Zeitarbeit hat sich in der
Tat von einem Arbeitsmarktinstrument zu einem Wirtschaftszweig entwickelt, in dem etwa 1 Million Menschen - Stand heute - beschäftigt sind. Das ist durch die
Regelungen der Hartz-Gesetze möglich geworden, insbesondere durch die Regelung in Hartz I. Equal Pay
kann demnach unterlaufen werden, indem die Tarifpartner in der Zeitarbeitsbranche von der Möglichkeit Gebrauch machen, miteinander Tarifverträge abzuschließen; denn dann gilt Equal Pay nicht. Das hat die
damalige rot-grüne Koalition alleine beschlossen. Das
Gesetz war nicht mitbestimmungspflichtig durch den
Bundesrat. Die Union hat dem nicht zugestimmt.
({0})
- Ich halte es für wichtig, Herr Kollege Heil, an dieser
Stelle darauf hinzuweisen, weil Sie den Herrn Staatssekretär Dr. Brauksiepe als Lügner bezeichnet haben. Mir
liegt daran, dass es durch uns richtiggestellt wird.
({1})
In der Tat waren zwei Drittel der Menschen, die Zeitarbeitsverträge neu abgeschlossen haben, vorher arbeitslos.
({2})
Sie hatten keine Beschäftigung und sind über diesen
Weg in Arbeit gekommen.
({3})
Das möchte ich an dieser Stelle konzedieren.
Ein weiterer Punkt. Zahlreiche Menschen, die sonst
keine Chance hätten, weil sie geringqualifiziert sind,
kommen über den Weg der Leiharbeit in Beschäftigung.
({4})
Sie bleiben in einer Größenordnung von etwa 13 bis
15 Prozent im ersten Arbeitsmarkt, und dies über einen
längeren Zeitraum. Ich kann das beklagen und sagen:
Das ist viel zu wenig, das ist alles vom Teufel. - Ich sage
Ihnen: Die 15 Prozent, die anschließend im ersten Arbeitsmarkt bleiben und einer Beschäftigung jenseits der
Zeitarbeit nachgehen, sind froh, dass sie über diesen
Weg in eine solche Situation gekommen sind.
({5})
Ich möchte dies nicht kleinreden lassen.
Mit Zeitarbeit wird flexibel auf die Anforderungen
des Arbeitsmarktes reagiert.
({6})
Ich gestehe gerne zu, dass nicht zuletzt durch die Regelungen, die wir heute haben, Entwicklungen eingetreten
sind, die auch aus meiner Sicht nicht alle glücklich sind.
Deswegen ist es notwendig, die Dinge zu verändern. Ich
sage Ihnen in aller Klarheit: Durch den seit der Neuregulierung durch die Hartz-Gesetze im Jahr 2005 verbreiteten Glauben, alles sei möglich und alles sei machbar in
der Wirtschaft - auch bei den Zeitarbeitsfirmen -, hat
sich Missbrauch eingeschlichen, der zuletzt in der Situation kulminierte, die wir bei einem großen Discounter
erlebt haben.
Genau in dieser Frage haben wir gehandelt. Wie haben wir gehandelt? Der Kollege Dr. Kolb und ich haben
Anfang letzten Jahres auf das Problem aufmerksam gemacht.
({7})
Wir haben den Tarifpartnern dann Zeit eingeräumt, das
zu regeln. Die Tarifpartner haben es nicht zu unserer Zufriedenheit geregelt. Deswegen machen wir jetzt ein Gesetz, um den Drehtüreffekt zu unterbinden.
({8})
Ich will überhaupt nicht in Abrede stellen, dass es
vielfältige Möglichkeiten gibt, Menschen über die Zeitarbeit in regulärer Beschäftigung zu beschäftigen. Es
gibt aber vielfältige Erscheinungsformen der Zeitarbeit.
({9})
In der Stahlbranche haben wir etwa einen Tarifvertrag,
der Equal Pay für Zeitarbeiter vom ersten Tag an vorsieht. Diese Entwicklung begrüßen wir alle miteinander.
Das ist eine richtige und gute Entscheidung.
({10})
Es gehört allerdings auch zur Wahrheit, dass die Zeitarbeitnehmer, die unter diesem Tarifvertrag offiziell bei
Equal Pay anfangen, zunächst in abgesenkten Stufen anfangen und am Anfang keineswegs dasselbe Gehalt wie
ihre Kollegen bekommen, weil die Einarbeitungszeit zugestanden werden muss.
({11})
Mir ist es sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass es unterschiedlichste Formen und unterschiedlichste Entwicklungen gibt. Dort allerdings, wo die Zeitarbeit systematisch zur Lohndrückerei genutzt wird, wollen wir
einschreiten. Das ist richtig.
({12})
Wir machen dies mit dem heute in erster Lesung eingebrachten Gesetzentwurf. Bis zur zweiten und dritten
Lesung werden wir das, was im Vermittlungsausschussverfahren geklärt worden ist, einbringen,
({13})
sodass wir zumindest auf diesem Weg erreichen, dass es
eine Lohnuntergrenze gibt, die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz mit den Instrumentarien des Entsendegesetzes so geregelt wird, dass sie nicht mehr unterlaufen
werden kann.
Ich halte diese Dinge, die wir jetzt auf den Weg bringen, für einen wichtigen Fortschritt, für eine gute Entwicklung und für eine gute Botschaft an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({14})
In dem Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, sind
auch die Dinge enthalten, die Europa uns vorschreibt.
Wir setzen die europäische Zeitarbeitsrichtlinie eins zu
eins um.
Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hinweisen, der mir sehr wichtig ist: Keine Branche und kein
Betrieb auf dieser Welt wird sich auf Dauer halten können, wenn sie oder er keine gesellschaftliche Akzeptanz
hat. Es wird im Interesse der Zeitarbeitsbranche liegen,
ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Genau deswegen
ist die Entscheidung im Vermittlungsausschuss richtig,
({15})
dass die Zeitarbeitsbranche jetzt Zeit hat, gemeinsam mit
den Gewerkschaften nach einem Weg zu suchen, wie
Equal Pay sichergestellt werden kann. Schaffen sie das
nicht, dann wird es - wie jetzt in dem Fall des großen
Discounters - nach einem Jahr zu einer Regelung durch
die Bundesregierung kommen.
({16})
Ich halte das unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten
für den richtigen Weg. Glauben Sie mir: Die Tarifhoheit
und die Verantwortung der Gewerkschaften sind uns
sehr wichtig. Im Übrigen
- dann komme ich zum Ende, Frau
Nicht „dann“. Jetzt.
- könnte ich etwas hinterfotzig darauf hinweisen,
dass wir heute schon Equal Pay vom ersten Tag an haben
könnten, wenn die Gewerkschaften darauf verzichten
würden, Tarifverträge mit der Zeitarbeitsbranche abzuschließen. Hätten wir dort keine Tarifverträge, würde
Equal Pay vom ersten Tag an gelten.
Herr Schiewerling!
Ich weiß, wie schwierig das Ganze ist. Ich denke, dass
wir in den weiteren Beratungen alles tun werden, um den
Menschen eine gute Perspektive zu geben.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hubertus Heil.
Frau Präsidentin, ich habe um das Wort gebeten, weil
Herr Schiewerling mich aufgrund eines Zwischenrufes,
den ich vorhin gemacht habe, angesprochen hat. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, ein Wort des Bedauerns
auszusprechen, und mich bei dem Herrn Staatssekretär
entschuldigen. Ich habe mich in einem Streit in der Sache dazu hinreißen lassen, das Wort „Lügner“ in den
Mund zu nehmen. Das gehört sich in einer inhaltlichen
Debatte nicht; in anderen Zusammenhängen muss man
auch das aussprechen können. Ich habe mich dazu hinreißen lassen, weil ich den Eindruck hatte, dass Sie mit
Ihrem Hinweis auf das Stimmverhalten der CDU/CSU,
der damaligen Oppositionsfraktion, beim Thema Hartz I
insinuieren wollten, dass die CDU/CSU damals gegen
die Liberalisierung von Leiharbeit war. Das ist mir so
nicht in Erinnerung. Deshalb nehme ich den Begriff zurück, die Gesamtdarstellung kritisiere ich aber nach wie
vor. Ich bitte Sie um Entschuldigung.
({0})
Anette Kramme hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Prinzip wissen wir alle in diesem Haus
ganz genau, dass die Leiharbeit in der jetzigen Ausgestaltung ein Irrweg der deutschen Arbeitsmarktpolitik
ist.
({0})
Leiharbeit hat häufig niedrigste Löhne gezahlt,
3,60 Euro sind ein Beispiel aus meinem Wahlkreis.
Manchmal sind es 4,00 Euro, manchmal 4,50 Euro. Sehr
häufig sind es Löhne in der Kategorie von 7,00 Euro
bzw. 7,50 Euro. Wir wissen auch: Die Arbeitsverhältnisse sind von kürzester Dauer. 55 bis 60 Prozent aller
Arbeitnehmer sind kürzer als drei Monate beschäftigt.
Wir wissen um die härteren physischen Arbeitsbedingungen. Wir wissen um den schlechteren Gesundheitsschutz. Vor allen Dingen haben wir durch eine neue
Untersuchung gelernt, dass eine systematische Ausgrenzung von Leiharbeitnehmern in den Betrieben stattfindet. Das hat selbstverständlich seine psychischen Auswirkungen.
Über die Jobcenter geben wir immerhin 500 Millionen Euro für Aufstockungsleistungen aus. Das ist ein
Skandal, weil wir damit die Dumpingpolitik der Leiharbeitsunternehmen finanzieren. Selbstverständlich unterstützen wir die Leiharbeitnehmer damit, aber wir gestatten es dadurch einer Branche auch, mit Löhnen zu
arbeiten, die unter regulären Bedingungen nicht möglich
wären.
({1})
Vor allen Dingen wissen wir, dass Leiharbeitsfirmen
immer häufiger als Hilfsmittel dienen, tarifvertragliche
Strukturen in Stammbetrieben zu unterlaufen. Das macht
vielen Menschen in dieser Republik Angst. Das geht
weit über das Phänomen hinaus, dass wir circa 1 Million
Leiharbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland
haben.
Wir müssen von dem Ammenmärchen abrücken, das
Herr Schiewerling am heutigen Tag hier wieder verbreitet hat: Es gibt keine positiven Arbeitsmarkteffekte der
Leiharbeitspolitik.
({2})
Es gibt keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt,
({3})
sondern im Regelfall kommt nach drei Monaten das
Ende des Arbeitsverhältnisses. Das ist keine Brücke,
sondern allenfalls ein Steg, möglicherweise auch nur ein
Strohhalm.
Der Handlungsbedarf ist unübersehbar. Auch der
Handlungsdruck kann nicht übersehen werden. Ich sage,
dass wir als SPD durchaus in einer besonderen Verantwortung sind. Wir haben geholfen, die Büchse der Pandora zu öffnen.
({4})
Wir wollen aber auch dazu da sein, diese Büchse der
Pandora wieder zu schließen und zu regulären Bedingungen zu kommen.
Meine Damen und Herren von der FDP einerseits und
von der CDU/CSU andererseits, wir haben in den letzten
Wochen hart über die Leiharbeit verhandelt.
({5})
Ich kann Ihnen sagen, wie ich das beurteile: Ihr Verhalten in den Verhandlungen war schamlos und von Ignoranz gekennzeichnet.
({6})
Wir haben einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn
gefordert. Sie haben klipp und klar gesagt, den wollen
Sie nicht.
({7})
In dieser Republik verdienen 23 Prozent aller Arbeitnehmer weniger als 8,50 Euro pro Stunde.
({8})
Fast ein Viertel aller Arbeitnehmer arbeitet unter
schlechtesten Arbeitsbedingungen. Wir mussten dieses
Nein, dieses No-Go hinnehmen, aber wir haben gesagt,
dass wir zumindest etwas für den Bereich der Leiharbeit
tun müssen. Wir haben deshalb einen Mindestlohn für
die verleihfreie Zeit und Equal Pay für Verleihzeiten gefordert. Sie haben uns dann ein Angebot unterbreitet.
Dieses Angebot war von Lächerlichkeit gekennzeichnet.
Sie haben Leiharbeit zu Equal-Pay-Bedingungen nach
neun Monaten angeboten.
({9})
Dabei wissen wir alle: Leiharbeitnehmer sind überwiegend nur zu drei Monaten in den Betrieben. Was soll dieses Angebot? Hilfreich war es sicherlich nicht.
({10})
Sie haben sich zunächst nicht einmal auf einen Mindestlohn einlassen wollen. Sie haben die feine Differenzierung getroffen, dass ein Mindestlohn nur für verleihfreie Zeiten gelten soll. Im Übrigen haben Sie von einem
sogenannten Referenzlohn gesprochen, der auch hätte
unterschritten werden dürfen. Gott sei Dank haben wir
das verhindern können. Dieser Mindestlohn ist jetzt vorgesehen. Das ist mit Sicherheit ein erster Schritt in die
richtige Richtung.
Ihr Arbeitnehmerüberlassungsgesetz enthält einen
weiteren wichtigen Schritt, allerdings ist das nur ein
ganz kleiner Schritt.
({11})
Sie schließen Fallkonstellationen wie bei Schlecker aus,
aber im Prinzip wissen wir alle in diesem Haus, dass wir
ein weiteres Aufwachsen des Niedriglohnsegments nicht
zulassen dürfen. Sie bleiben Ihrem Weg jedoch treu und
betreiben Subventionspolitik zugunsten der Unternehmen und Arbeitsrechtspolitik gegen Leiharbeitnehmer
und Leiharbeitnehmerinnen.
({12})
Frau Kollegin, Herr Kolb würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Aber sicher, ja.
Bitte.
({0})
Frau Kramme, nachdem Ihnen das alles nicht gefällt,
möchte ich nur gern wissen: Werden Sie am Ende zustimmen, wenn wir jetzt im AÜG das umsetzen, was wir
gemeinsam besprochen haben, oder werden Sie es ablehnen?
({0})
Wir werden dem Gesamtpaket zustimmen,
({0})
und zwar deshalb, weil wir Mindestlöhne für die Leiharbeit, einen Mindestlohn für das Bewachungsgewerbe
und einen Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche
haben werden, weil wir erreicht haben, dass es Schulsozialpädagogen gibt etc. Wir wollen den Menschen
diese positiven Leistungen nicht vorenthalten, aber Sie
wissen: Von dem Weg, den wir gehen müssen, gehen Sie
mit uns gemeinsam nur ein kurzes Stück. Das ist zu wenig.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen gleiches Geld für gleiche Arbeit, sonst zerstört Leiharbeit
weitere Normalarbeitsverhältnisse. Es darf keine Verträge von Fall zu Fall mehr geben. Leider müssen wir
immer wieder beobachten, dass Verleiher Leiharbeitnehmer nur für kurze Zeiträume beschäftigen. Wenn der
Entleiher den Leiharbeiter nicht mehr braucht, geht damit gleichzeitig die Kündigung einher. Deshalb sollte es
keine Verträge von Fall zu Fall mehr geben. Wir sind
auch der Auffassung, dass ein Leiharbeitnehmer, wenn
er für die Dauer eines Jahres beschäftigt war, das Recht
haben soll, in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen
zu werden.
({2})
Wir sagen ganz klar: ein Platz, ein Jahr. Es geht auch darum, die Rechte des Betriebsrates zu stärken. Wir wollen
ein echtes Mitbestimmungsrecht nach § 87 des Betriebsverfassungsgesetzes. Betriebsräte sollen mit darüber entscheiden können, ob es Leiharbeitnehmer in ihrem Betrieb gibt, wie lange sie beschäftigt werden und in
welchen Bereichen sie eingesetzt werden.
Wenn wir alle in diesem Hause ehrlich miteinander
umgehen, können Sie im Prinzip nichts anderes machen,
als dieser Vorlage zuzustimmen. Dazu fordere ich Sie an
dieser Stelle auf.
Herzlichen Dank.
({3})
Johannes Vogel hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Opposition ist dafür da, die Regierung zu kritisieren.
Nur, wenn ich mir das Verhalten von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in den letzten MonaJohannes Vogel ({0})
ten und auch heute wieder anschaue, habe ich das Gefühl, Sie kritisieren sich selbst.
({1})
Rente mit 67? Das war jemand anderes; das wollen wir
nicht mehr. Leiharbeit? Die kennen wir nicht. Was haben
wir da gemacht?
({2})
Sie kritisieren sich selbst. Der Unterschied zwischen uns
und Ihnen ist, dass wir das, was Sie richtigerweise eingeführt haben, erhalten wollen und gemeinsam schauen
wollen: Wie können wir Missbrauch wirklich verhindern?
({3})
Nur, Sie kommen mir vor wie jemand, der, wenn Schimmel in der Garage ist, das ganze Haus abreißen will. Das
macht keinen Sinn. Man muss die wirklichen Probleme
lösen und darf nicht das Gute kaputtmachen.
({4})
Zwei Worte dazu. Erst einmal, weil das hier gerade
wieder falsch dargestellt wurde, zur Frage: Was ist gut
an der Zeitarbeit? Die Zeitarbeit ist für Flexibilität da, ja.
Aber sie ist auch ein Jobmotor. Sie hilft Menschen aus
der Arbeitslosigkeit
({5})
- zwei Drittel der Zeitarbeiter kommen aus der Arbeitslosigkeit - und gibt ihnen einen Einstieg in den ersten
Arbeitsmarkt. Eben wurde gesagt, das sei nicht dauerhaft. Da kann ich nur auf das IAB verweisen. Das IAB
hat letztes Jahr festgestellt, dass drei Viertel der Langzeitarbeitslosen durch die Zeitarbeit dauerhaft in den Arbeitsmarkt integriert werden.
({6})
Das wollen wir nicht wegschmeißen. Sie machen sich
daran schuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition.
({7})
Jetzt schauen wir einmal auf den echten Missbrauch.
({8})
Wegen der angeblichen Bedrohung durch Dumpinglöhne von ausländischen Leiharbeitern gibt es da
jetzt einen Mindestlohn. Den haben wir gemeinsam vereinbart,
({9})
weil wir natürlich nicht wollen, dass das Lohnniveau in
Deutschland dort unterschritten wird. Herr Heil, ich ärgere mich wirklich darüber, wie Sie das darstellen, dass
Sie hier einen Pseudounterschied aufmachen und sagen,
wir hätten einen echten Mindestlohn verhindern wollen;
auch über die Zwischenfrage Ihres Parteivorsitzenden
habe ich mich eben gewundert.
({10})
- Herr Heil, wir zwei saßen in der Unterarbeitsgruppe.
({11})
Sie wissen doch ganz genau, über welches Detail wir
diskutiert haben.
({12})
Wenn hier, wie eben, aus internen Runden zitiert
wird, mache ich es auch. Wir haben die Frage gestellt, ob
es denn sinnvoll sein kann, wenn wir Equal Pay stärken
wollen, dass jemand in den ersten Monaten als Zeitarbeiter, wenn er einmal lange in einem Unternehmen ist,
mehr verdient und dann ab der Grenze, ab der Equal Pay
einsetzt - sagen wir einmal, es wäre nach neun Monaten;
was auch immer die Tarifpartner da vereinbaren -, auf
einen niedrigeren Lohn zurückfällt. Wir haben gesagt:
Das ist doch absurd. - Herr Heil, Sie wissen genau: Sie
haben zugestimmt.
({13})
Auch Sie haben gesagt, dass das absurd ist und dass es
das nicht sein kann. Da ist es unredlich, uns hier zu unterstellen, wir hätten nur einen Pseudomindestlohn angeboten.
({14})
Sie wissen genau, dass wir eine sachgerechte Lösung
wollen und hier niemand den Mindestlohn mit Blick auf
das Ausland infrage gestellt hat, liebe Kolleginnen und
Kollegen. So sieht es aus.
({15})
- Wir haben alle gewonnen, wenn die Leute etwas davon
haben.
Johannes Vogel ({16})
({17})
Darum geht es nämlich in der Politik. Da geht es nicht
darum, wer gewonnen hat, sondern darum, dass wir eine
gute Lösung für die Menschen finden.
({18})
Das Problem Mindestlohn haben wir also gelöst. Wir
haben Ihrer Lösung letztlich zugestimmt, weil wir gesagt
haben: Da geht es nur um wenige Fälle; daran kann es
nicht scheitern. Deswegen finden wir eine gemeinsame
Lösung.
Auch beim Equal Pay werden wir eine gute Lösung
finden.
({19})
- Ja. - Wir werden das an die Tarifvertragsparteien übergeben. Wir haben gesagt: Wir können uns nicht auf eine
vernünftige Lösung einigen. Denn wenn der Gesetzgeber eine Frist festlegt, dann ist das wie ein grober Keil.
Die passt nicht auf alle Probleme für alle Menschen.
({20})
Wir haben uns einmal die Praxis angeschaut. Ich nenne
Ihnen ein Beispiel: Im Unternehmen START Zeitarbeit
NRW sitzt die Landesregierung Nordrhein-Westfalen,
Ihre Landesregierung, mit im Aufsichtsrat. Die haben
eine sehr differenzierte Lösung für Equal Pay gefunden.
Da wird schrittweise an Equal Pay angeglichen. Da wird
unterschieden zwischen ungelernten und qualifizierten
Arbeitskräften. Das sind sachgerechte Lösungen, die den
Menschen wirklich helfen. Solche Lösungen können nur
die Tarifvertragsparteien finden. Deshalb haben wir gesagt: Wir wollen Equal Pay. Aber wir wollen eine kluge
Lösung, die die Zeitarbeit nicht kaputtmacht. Das ist bei
den Arbeitgebern und Gewerkschaften richtig aufgehoben. Genauso werden wir es deshalb jetzt auch machen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({21})
Herr Heil, als mein letzter Satz: Sie haben eben auf
Olaf Scholz verwiesen. Sie haben gesagt - ich habe es
mir aufgeschrieben -, die SPD habe in Hamburg Erfolg
gehabt, weil sie wirtschaftlichen Erfolg und soziale Gerechtigkeit zusammenbringen will. Wissen Sie, was? Ich
glaube, Sie haben recht. Das war der Erfolg von Olaf Scholz. Das Problem ist, dass Sie diesem Anspruch hier im
Deutschen Bundestag nicht genügen.
({22})
Was wir jetzt mit dieser Lösung machen - ich freue
mich, dass Sie ihr zustimmen -,
({23})
ist, die Brücke, die die Zeitarbeit in den Arbeitsmarkt
bildet,
({24})
mit einem Geländer zu versehen, damit weniger Menschen straucheln. Sie wollen sie abreißen.
({25})
Da machen wir nicht mit. Insofern freue ich mich, dass
wir doch noch eine Lösung gefunden haben, der auch
Sie zustimmen werden.
({26})
Auch bei Equal Pay werden wir über die Tarifvertragsparteien eine gute Lösung finden. Das ist die beste Lösung für die Menschen in diesem Land und auf dem Arbeitsmarkt.
Vielen Dank.
({27})
Ulrich Lange hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ziemlich genau vor einem Jahr haben wir an gleicher Stelle die Causa Schlecker diskutiert. Wir alle waren uns einig, dass wir die Wiederholung eines solchen
Falles nicht erleben wollen.
Wir haben seither aus der Branche positive Signale
bekommen. Die Tarifvertragsparteien haben gehandelt.
Aber unsere Ministerin hat schon damals deutlich gesagt: Wenn es nicht zu einer wirklich befriedigenden Lösung kommt, dann werden wir gesetzgeberisch handeln. Heute liegt dieser Gesetzentwurf in erster Lesung vor.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine Lösung in Sachen Drehtüreffekt gefunden, die, glaube ich,
aus dem Rechtsgedanken der „Zuvor-Arbeitsverhältnisse“ heraus diese Missbrauchsmöglichkeit sehr wohl
schließen wird. - Ich sehe schon Ihr Kopfschütteln, aber
wir werden ja sehen. Ich glaube schon, dass wir auf dem
richtigen Weg sind.
Wir haben aber auch feststellen können, dass die Ankündigung eines Gesetzentwurfes bei den Tarifvertragsparteien eine enorme - ich sage es ausdrücklich so pädagogische Wirkung hatte.
({1})
Denn daraufhin wurde gehandelt. Ich glaube, die ganze
Branche hat gemerkt, dass es ohne gesellschaftliche Akzeptanz nicht möglich ist, Zeitarbeit zu halten.
({2})
- Jurist. Dazu werde ich Ihnen auch gleich noch etwas
erklären, Herr Heil.
({3})
- Ohne. Aber Fachanwalt für Arbeitsrecht. Und zu Ihrer
etwas missverständlichen Auslegung werde ich Ihnen
gleich noch etwas sagen.
Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf gleichzeitig
eine EU-Richtlinie um. Anders als Rot-Grün bei einigen
Richtlinien schießen wir dabei nicht über das Ziel hinaus. Auch darüber haben wir in diesem Haus schon einmal diskutiert.
({4})
In einem zweiten Schritt - da wird die SPD ja mit ins
Boot kommen; so habe ich das jetzt auch verstanden werden wir eine Lohnuntergrenze für die Zeitarbeit im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz einführen, und zwar auf
Antrag der Tarifvertragsparteien.
({5})
- Herr Heil, wenn ich es richtig verstanden habe, dann
haben Sie vorhin von einem „gesetzlichen Mindestlohn“
gesprochen. So habe ich es verstanden.
({6})
- Ja, bitte.
Herr Heil, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen? Und Sie möchten sie gerne zulassen, Herr Lange? - Bitte
schön.
Ich lasse sie zu und freue mich auf die Beantwortung.
Herr Kollege, weil Sie Fachanwalt für Arbeitsrecht
sind, will ich Ihnen das gerne erläutern. Sie werden das
dann auch so sehen.
({0})
- Man muss übrigens nicht unbedingt eine Zwischenfrage stellen, Herr Kollege, man kann auch eine Zwischenbemerkung machen.
({1})
Herr Kollege, ich mache es ganz fix, damit wir nicht
so lange brauchen.
Wir wollten den Weg über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gehen, der zur Erstreckung von tarifvertraglichen Mindestlöhnen eingeübt ist. Ihre Seite wollte den
Weg über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, sodass
ein Tarifvertrag jetzt nicht klassisch nur erstreckt und zur
Grundlage genommen wird, sondern es wird im AÜG
gesetzlich eine verbindliche Lohnuntergrenze - sprich:
ein Mindestlohn - verankert. Deshalb ist es aus unserer
Sicht ein branchenspezifischer, aber gesetzlicher Mindestlohn für die Leih- und Zeitarbeitsbranche. Das können Sie nicht bestreiten. Wenn wir den Weg über das
Entsendegesetz gegangen wären, dann wäre es ein Branchentarifvertrag gewesen, den wir für allgemeinverbindlich erklären. Aber das Rechtsinstrumentarium AÜG
sieht das bisher noch nicht so vor. Nur zur Aufklärung,
okay?
Okay. - Ich darf auch gleich darauf antworten: Das
Wort „branchenspezifisch“ haben Sie vorhin in Ihren
Ausführungen, wenn ich richtig aufgepasst habe, nicht
verwendet. Sie hatten ganz allgemein vom gesetzlichen
Mindestlohn gesprochen.
({0})
Wir kommen wahrscheinlich am Ende des Tages, wenn
wir alle zustimmen, in der juristischen Auslegung zusammen.
Frau Kollegin Kramme, Sie haben gesagt, bei Ihnen
im Wahlkreis - ich habe nachgeschaut, Sie kommen über
die Landesliste in Bayern - würde es Zeitarbeit für
3,50 Euro die Stunde geben. Das kann ich nicht nachvollziehen; das kann nur im Zusammenhang mit Tarifbruch möglich sein.
({1})
Aber die richtige Antwort müssen die Tarifparteien geben. Denn auch der 1. Mai - das ist klar - kann eines
nicht: das Wertesystem tarifautonomer Regelungen außer Kraft setzen. Darauf möchte ich ganz besonders hinweisen.
Unsere Aufgabe ist es, grenzenlose Lohnunterbietung
in einem am Ende grenzenlosen Europa zu verhindern.
Das und nicht die Einführung von staatlichen Mindestlöhnen ist die Aufgabe, die wir hier als Gesetzgeber zu
leisten haben.
({2})
Am Ende des Tages muss es auch wieder über den
Weg der Tarifparteien nach einer mehrmonatigen - ich
unterstreiche: mehrmonatigen - Einarbeitungszeit gleichen Lohn für gleiche Arbeit im - jetzt auch wieder gleichen Land geben.
({3})
- Ich habe „nach einer mehrmonatigen“ gesagt.
({4})
- Sechs, sieben,
({5})
acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn. Ich kann weiter
zählen.
({6})
Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Krellmann zulassen?
Nur, wenn dieses Mal die Uhr richtig angehalten
wird. Bitte mir nicht auch noch meine Zeit nehmen.
Die ist auch vorhin angehalten worden, solange Sie
geantwortet haben. - Frau Krellmann, bitte.
Vielen Dank, dass Sie meine Frage zulassen. - Wir
sind uns einig, dass wir über einfache Arbeit reden,
oder?
({0})
In erster Linie reden wir aber über einfache Arbeit. Was
glauben Sie, wie lange man braucht, um sich in Dinge
einzuarbeiten? Wissen Sie, dass in so gut wie jedem Tarifvertrag schon heute Regelungen über die Einarbeitungszeit enthalten sind? Warum wollen Sie dann noch
eine zusätzliche Regelung haben? Die Tarifvertragsparteien haben das doch schon vereinbart, oder?
Frau Kollegin Krellmann, damit geben Sie mir ja geradezu die Antwort. Wir überlassen es den Tarifvertragsparteien, weil sie wissen, wie lange man braucht, um
sich einzuarbeiten.
({0})
Ich bedanke mich ganz herzlich dafür, dass Sie das, was
ich gerade eben gesagt habe, jetzt bestätigt haben.
({1})
Eines möchte ich in diesem Zusammenhang aber
auch noch einmal ganz klar sagen: Wenn die Tarifvertragsparteien zu keinem Ergebnis kommen, dann
schwingen wir schon noch einmal die pädagogische
Keule und dann werden wir auch hier eine gesetzliche
Regelung finden; denn eines muss bitte klar sein: Es
geht hier nicht um eine Schonfrist für die Branche,
({2})
sondern es geht ganz klar um eine Handlungsfrist für die
Tarifvertragsparteien. Das möchte ich an dieser Stelle
ganz deutlich unterstreichen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Idee der seriösen Zeitarbeit
({4})
ist weiterhin richtig. Herr Kollege Heil, das haben Sie
damals in rot-grüner Koalition beschlossen, und in dem
AÜG-Bericht, der auch noch unter Olaf Scholz, der
heute ja schon mehrfach lobend erwähnt worden ist, erstellt wurde, wird dies unterstrichen.
Sie haben sich - das halten wir Ihnen zugute - der
Verantwortung gestellt. Wir korrigieren heute in erster
Lesung die von Rot-Grün verantwortete schrankenlose
Zeitarbeit und geben der Zeitarbeit gemeinsam mit Ihnen
ein neues Gesicht.
Herr Kollege.
Wir bieten den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit der Brücke Zeitarbeit eine arbeitsmarktpolitisch faire Chance.
Herzlichen Dank.
({0})
Gitta Connemann hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
geht es einmal mehr um die Frage: Was ist gute Arbeit?
Am besten kann dies sicherlich Frank-Jürgen Weise beurteilen. Er ist bekanntlich Chef der Bundesagentur für
Arbeit und der Arbeitsmarktexperte in Deutschland.
Seine Kompetenz ist über Parteigrenzen hinweg anerkannt; denn Sie, meine Damen und Herren von RotGrün, haben ihn 2004 in sein Amt berufen.
({0})
Herr Weise wurde nun befragt, ob er den Rekordstand
bei der Zeitarbeit für eine gute Sache halte. Seine Antwort lautete: Ja, zu arbeiten sei immer besser, als nicht
zu arbeiten.
({1})
Er wurde auch gefragt, ob die Arbeit eine Brücke in den
regulären Arbeitsmarkt sei. Seine Antwort lautete wieder: Ja, die Zeitarbeit sei ein Sprungbrett in einen festen
Job. Das Wort von Herrn Weise hat Gewicht - eigentlich; es sei denn, es passt gerade nicht in Ihr Konzept.
({2})
Meine Damen und Herren von der SPD, wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, dann wäre dies das Aus für
die Zeitarbeit in Deutschland.
({3})
Es wäre auch das Ende für den Turbo am Arbeitsmarkt.
Denn jede dritte neue Stelle am Arbeitsmarkt kommt aus
der Zeitarbeit.
({4})
Das hat damit zu tun, dass Flexibilität am Arbeitsmarkt
erforderlich ist, die nicht grundsätzlich gewährt wird.
Deshalb ist Zeitarbeit gefragt.
Es wäre aber vor allem ein besonders schwerer
Schlag für die Schwächsten am Arbeitsmarkt. Denn die
Zeitarbeit gibt gerade denen eine Chance, die vorher
keine hatten: Geringqualifizierte, Menschen ohne Schulbildung oder ohne Ausbildung.
({5})
100 000 ehemalige Hartz-IV-Empfänger haben so allein im letzten Jahr Arbeit gefunden. Zwei Drittel der
neu eingestellten Zeitarbeiter waren vorher arbeitslos
oder noch nie beschäftigt. Sie haben jetzt Arbeit, und
zwar, Frau Müller-Gemmeke, reguläre Arbeit.
({6})
Ich bitte Sie insoweit, einen Blick ins Gesetz zu wagen. Denn wenn Sie statt irgendwelcher Unterlagen nur
ein einziges Mal das Gesetz lesen würden, dann würden
Sie feststellen, dass jeder Zeitarbeitnehmer Anspruch
auf Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz, nach Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz und übrigens auch auf einen Tariflohn
hat. Denn die Tarifbindung liegt in der Zeitarbeit bei
98 Prozent.
({7})
Es gibt keine andere Branche mit einem vergleichbaren
Niveau.
Ich bitte Sie, das endlich zur Kenntnis zu nehmen.
Denn es sind Tatsachen,
({8})
die Herr Weise kennt und die Sie ignorieren, weil sie
nicht in Ihre Welt passen.
({9})
In dieser Welt steht Zeitarbeit für Lohndumping. Ihr
vermeintlicher Beleg auch ganz aktuell in den letzten Tagen war ein fünfseitiger Newsletter des DGB. Danach ist
das durchschnittliche Lohnniveau in der Zeitarbeitsbranche niedriger als in der Gesamtwirtschaft. Welche Erkenntnis!
({10})
In der Zeitarbeit haben überdurchschnittlich viele Ungelernte bzw. Hilfsarbeiter einen neuen Job gefunden.
({11})
Es braucht keine Weisheit, um zu wissen, dass Hilfsarbeiter nun einmal weniger Geld verdienen als ein Facharbeiter.
({12})
Frau Kollegin Connemann, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke zulassen?
Ja, sehr gerne.
Bitte schön.
Kollegin Connemann, ich habe eine Nachfrage. Sie
reden die ganze Zeit davon, dass die Leiharbeitskräfte
unqualifiziert sind, zum Teil nie gearbeitet haben und
endlich eine Chance brauchen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass über 60 Prozent der Leiharbeitskräfte eine abgeschlossene Berufsausbildung haben?
({0})
Ich finde es schlimm, dass man bei 1 Million Menschen, die in der Leiharbeit arbeiten müssen, weil es zurzeit keine anderen Jobs mehr gibt, so tut, als wenn sie
alle Probleme, Hemmnisse und keine Qualifikation haben und vielleicht auch noch faul sind. Ich finde es langsam unerträglich, dass so über diese Menschen geredet
wird.
({1})
Das war der erste Punkt.
Ich muss noch einen zweiten Punkt ansprechen. Man
tut immer so, als wenn es diese 1 Million Arbeitsplätze
in der Leiharbeit nicht gäbe, wenn sie nicht so attraktiv
wäre, wie es jetzt der Fall ist. Dazu frage ich Sie: Ist tatsächlich die ganze Branche ein Sozialunternehmen, das
nur deshalb Leiharbeitskräfte einstellt, um gute Bedingungen zu bieten? Oder geht es um Auftragslagen, so10518
dass die Jobs auch ohne Leiharbeit besetzt werden müssten?
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben eben davon gesprochen, was Sie unerträglich finden. Ich finde
es unerträglich, von Ihnen ganz bewusst falsch zitiert zu
werden.
({0})
Denn ich habe mit keinem Wort meiner Rede - Sie können das im Plenarprotokoll nachlesen ({1})
in irgendeinem Zusammenhang gesagt, Zeitarbeitnehmer seien faul.
Gerade das finde ich unglaublich. Denn Zeitarbeitnehmer sind diejenigen, die eine Chance, die ihnen geboten wurde, ergreifen. Diffamieren Sie nicht immer
diese Personen, die ihre Chance ergreifen!
({2})
- Vielleicht hören Sie einfach zu!
({3})
Wenn Sie nicht so schreien würden, dann könnte ich die
Frage endlich beantworten.
({4})
- Sie dürfen nicht reden. Vielleicht sollten Sie mit Ihrer
Fraktion darüber reden.
Das Zweite ist, dass Sie behaupten, ich hätte gesagt,
60 Prozent hätten keinen Abschluss.
({5})
Das ist vollkommen unzutreffend. Ich habe Ihnen gesagt, dass 100 000 Zeitarbeitnehmer im letzten Jahr einen Job gefunden haben, die zuvor im Hartz-IV-Bezug
gewesen sind; das war meine Formulierung.
({6})
Bei diesen 100 000 handelt es sich um Langzeitarbeitslose oder solche, die zuvor noch nie eine Beschäftigung
hatten. Ich bitte Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu
nehmen: Zeitarbeit baut Brücken in den ersten Arbeitsmarkt.
({7})
Sie haben als Letztes gesagt, die Zeitarbeit sei eine
soziale Branche. Das ist sie sicherlich nicht. Die Zeitarbeit ist eine Wirtschaftsbranche - der Kollege Schiewerling hat darauf zutreffend hingewiesen - wie viele andere,
({8})
eine Wirtschaftsbranche, die zum Beispiel an Tarifverträgen teilnimmt, eine Wirtschaftsbranche, die Menschen einstellt und manchmal auch Menschen entlässt.
Sie befristet allerdings Arbeitsverträge nicht annähernd
in dem Umfang, wie Sie es behaupten. Ein Drittel der
Arbeitsverträge ist befristet, wie in allen anderen Wirtschaftsbereichen.
({9})
Die Zeitarbeit ist nicht besser als andere Wirtschaftsbereiche, aber sie ist auch nicht schlechter.
Das, was Sie machen, ist eine dauerhafte Diffamierungskampagne auf Kosten von hart wirtschaftenden Betrieben und ihren Mitarbeitern.
({10})
Das ist offensichtlich Ihr Stil, den ich persönlich wirklich abstoßend finde; das sei an dieser Stelle auch gesagt.
({11})
Frau Connemann, es gäbe noch den Wunsch von Frau
Kipping nach einer Zwischenfrage.
Gerne.
Bitte schön.
Frau Connemann, Sie haben hier den Eindruck erweckt, die Opposition diffamiere Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen, nur weil wir die Bedingungen und die Praxis der Leiharbeit als Sklavenarbeit kritisieren.
({0})
Ich will an dieser Stelle festhalten, dass das ein ganz
hilfloser Dreh Ihrerseits ist, vor der notwendigen Kritik
die Augen zu verschließen. Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu
nehmen, dass schon beim gestrigen Treffen des Ausschusses für Arbeit und Soziales mit einer Delegation
des DGB einer Ihrer Kollegen versucht hat, diesen Dreh
anzuwenden, dass ihm aber vonseiten der DGB-Delegation sehr deutlich widersprochen wurde. Betriebsräte,
die die Realität der Leiharbeit in ihren Betrieben selber
erlebt haben, haben sehr deutlich gesagt: Wir selber bezeichnen Leiharbeit als Sklavenarbeit, weil wir erleben,
dass sie sowohl für die Betroffenen als auch für die
Kernbelegschaft, die dadurch gleichermaßen permanent
unter Druck gesetzt wird, eine Belastung ist. Ich bitte
Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
({1})
Frau Kollegin Kipping, darf ich Ihnen antworten?
({0})
Frau Kollegin Kipping, Sie haben mich angesprochen, und ich werde Ihnen antworten. Die Tatsache, dass
Sie diffamieren, zeigt allein die Verwendung des Wortes
„Sklavenarbeit“.
({1})
Ich finde es unglaublich, dass annähernd 1 Million Menschen in diesem Land allein durch diese Bemerkung Ihrerseits als Sklaven bezeichnet werden. Das mag vielleicht in früheren Zeiten in anderen Teilen dieses Landes
so üblich gewesen sein. Bei uns, in diesem Land, ist das
nicht mehr üblich.
({2})
Ich wünsche mir, dass Sie nicht ungeprüft irgendwelche Begrifflichkeiten übernehmen, sondern dass Sie selber Tatsachen und Fakten prüfen. In dem Gespräch, das
Sie gestern mit dem DGB geführt haben, haben Sie sicherlich hinterfragt, auf welcher Datengrundlage der besagte Newsletter entstanden ist. Das wird Ihnen der
DGB an dieser Stelle vielleicht auch gesagt haben: Zwischenzeitlich hat der Autor dieses Newsletters - das ist
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachzulesen eine methodische Unschärfe eingeräumt und sich dafür
entschuldigt.
({3})
Haben Sie danach gefragt?
Haben Sie danach gefragt, dass die Tarife für die Zeitarbeit von DGB-Gewerkschaften, unter anderem von
Verdi, abgeschlossen worden sind und dass gemäß diesen Tarifverträgen in der Zeitarbeit flächendeckend ein
Grundlohn in Höhe von 7,60 Euro im Westen und ein
Grundlohn in Höhe von 6,65 Euro im Osten gelten?
Bitte, erklären Sie mir, was das mit Zeitarbeit zu tun hat.
Das ist wieder eine reine Diffamierung, für die Sie sich
schämen sollten.
({4})
Keiner von uns stellt infrage, dass es schwarze Schafe
in der Zeitarbeitsbranche gibt.
({5})
Ja, Firmen wie Schlecker treiben Schindluder mit der
Zeitarbeit. Das, was dort geschieht, ist Schein-Zeitarbeit,
nichts anderes. Deshalb hat die Bundesregierung gehandelt, auch auf Intervention unseres sozialpolitischen
Sprechers Karl Schiewerling und von Dr. Kolb.
({6})
Zukünftig ist deshalb ein „Schleckern“ in Deutschland
nicht mehr möglich. Im gleichen Gesetzentwurf setzt die
Ministerin die EU-Arbeitsrichtlinie um. Wir tun noch
mehr - auch darauf ist hingewiesen worden -: Wir werden im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eine Lohnuntergrenze verankern. Damit schützen wir die Zeitarbeit
vor ausländischer Billigkonkurrenz;
({7})
denn der Tariflohn gilt dann für alle.
Vielleicht erklärt sich dadurch aber auch die Kampagne des DGB. Zukünftig müssen nämlich er bzw. seine
Tochtergesellschaften offen Verantwortung für das übernehmen, was er unterschreibt,
({8})
übrigens auch für alle Vereinbarungen, die jetzt getroffen
werden, was das Entgelt, Equal Pay oder die Höchstüberlassungsdauer angeht. Ich bin gespannt, was vorgeschlagen werden wird.
Der DGB hat heute unter anderem bei VW protestiert.
Ich habe das gesehen.
({9})
VW hat inzwischen zwei Zeitarbeitsunternehmen. In diesen Zeitarbeitsunternehmen werden mehr als 7 000 Mitarbeiter innerhalb des Konzerns verliehen.
({10})
- Übrigens mit Zustimmung der Gewerkschaft.
({11})
Dasselbe Prozedere treffen wir an unter anderem bei
DB Zeitarbeit, Vivento Interim Services, BASF Jobmarkt - jeweils mit Wissen und Unterstützung der dortigen Betriebsräte und des DGB.
Frau Kollegin.
Dies zeigt mir sehr deutlich: Alle, die mit der Frage
„Was ist gute Arbeit?“ befasst sind, sind gut beraten,
sich nicht von Vorurteilen, sondern von Fakten leiten zu
lassen ({0})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
- und Verantwortung zu übernehmen. Wir haben dafür den Aufschlag gemacht. Stimmen Sie deshalb dem
Gesetzentwurf zu.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich will deutlich machen, dass ich mich sehr freue,
dass die Kollegen des US-Congress, die unserer Debatte
beiwohnen, eine so lebendige Diskussion erleben konnten. Herzlich willkommen hier bei uns!
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Miss-
brauch der Leiharbeit verhindern“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/4756, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/4189 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zuge-
stimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegenge-
stimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Linke hat sich enthalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/4804 und 17/3752 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doro-
thee Bär, Markus Grübel, Nadine Schön, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Sibylle Laurischk, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
100 Jahre Internationaler Frauentag
- Drucksache 17/4860 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({1}), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gleichberechtigung in Entwicklungsländern
voranbringen
- Drucksache 17/4846 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Frauen verdienen mehr - Gleichstellung ist Innovationspolitik
- Drucksache 17/4852 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. Ich sehe und höre keinen Widerspruch zu der beschlossenen Redezeit. Dann werden wir so verfahren.
Besonders willkommen sind uns viele Männer im
Saal.
({5})
- Zwar sind Männer bei dieser Debatte willkommen,
aber sie müssen nicht unnötig ausführlich auf sich aufmerksam machen, indem sie auch noch hin und her laufen. Ich nehme an, dass sie der Debatte folgen wollen,
und zwar in besonderer Weise und mit besonderer Aufmerksamkeit.
Als Erster gebe ich das Wort der Kollegin Dorothee
Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor
92 Jahren und fünf Tagen eine Sozialdemokratin das
erste Mal ihre Rede mit den Worten „Meine Herren und
Damen“ eröffnet hat, hat das Protokoll „Heiteres Gelächter“ vermerkt, weil es eben das allererste Mal war,
dass vor 92 Jahren und fünf Tagen eine Frau im Parlament das Wort ergriffen hat. Heutzutage lacht bei den
Anreden „Meine Damen und Herren“ und „Meine Herren und Damen“ kein Mensch mehr. Deswegen müssen
wir einmal festhalten, was sich in den letzten 100 Jahren
an dieser Stelle entwickelt hat.
Wenn wir jetzt nicht 2011, sondern das Jahr 1911 hätten, dann wären die meisten von uns nicht hier. Die
meisten, die hier wären, dürften keine Hosen anhaben.
Wahlrecht gab es sowieso keines. Wenn überhaupt einmal eine Erlaubnis bestanden hätte, dann hätte man sich
wahrscheinlich auf seinen Ehemann berufen müssen.
Wir müssen also festhalten, dass in den letzten
100 Jahren sehr viel passiert ist.
Das 100-jährige Jubiläum das Weltfrauentages nehmen wir zum Anlass, zum einen einen historischen
Rückblick zu machen und zum anderen, um uns zu fragen, wo wir heute, im Jahr 2011, gleichstellungspolitisch
stehen.
({0})
Als 1911 der Weltfrauentag ins Leben gerufen wurde,
stand eine Hauptforderung im Raum. Diese Hauptforderung war ein Wahlrecht für Frauen. Auch das können wir
uns heute nicht mehr vorstellen. Daneben gab es die Ablehnung des Ersten Weltkrieges. Später wurde dieser
Frauentag vor allem durch arbeits- und sozialrechtliche
Forderungen getragen.
In der DDR wurde dieser Frauentag zunehmend zu einer Art sozialistischem Muttertag.
({1})
Die Frauenbewegung in Westdeutschland hat sich bis in
die 90er-Jahre überhaupt sehr schwer mit diesem Tag getan. Aber man muss festhalten, dass sich der Weltfrauentag in den vergangenen Jahren im wiedervereinten
Deutschland eine neue Selbstverständlichkeit gegeben
hat.
Was vor 100 Jahren die Frage nach dem Stimmrecht
für Frauen war, ist heute für uns die Frage nach der Besetzung von Frauen in Führungspositionen; denn wir
müssen festhalten, dass Frauen in Führungspositionen
nach wie vor massiv unterrepräsentiert sind. Wir führen
diese Debatte mittlerweile fast jede Woche. Die Zahlen
werden von Woche zu Woche nicht besser. Nur 3,2 Prozent der Vorstandssitze in den 200 größten Unternehmen
werden von Frauen besetzt. Keinem einzigen Vorstand
in den Top-100-Unternehmen steht eine Frau vor. Selbstverständlich sehen wir hier einen ganz konkreten Handlungsbedarf.
({2})
Selbstverständlich widmen wir uns auch dem Thema,
was sinnvoll ist, um diese Zustände zu ändern. Wir haben in der Vergangenheit schon öfter über das Thema
Quote gesprochen: Quote ja, Quote nein? Wir ringen insgesamt auch in unseren Fraktionen - das ist kein Geheimnis - um die Details. Aber wir wissen, dass das
nicht nur ein gesellschaftliches Topthema ist; denn immerhin haben wir dieses Thema auf die Agenda gebracht im Gegensatz zu den vorangegangenen Regierungen.
({3})
Trotz des gekünstelten Gelächters der Oppositionsfraktionen muss man festhalten - dies habe ich schon in meiner letzten Rede angesprochen -, dass Ihre Ministerin,
eine gewisse Frau Bergmann, an die sich niemand mehr
erinnern kann, es nicht geschafft hat, sich durchzusetzen,
weil sie von Schröder ohne Ende abgewatscht wurde,
und sich auch noch für Sachen entschuldigen und rechtfertigen musste, die sie nicht wollte.
({4})
Wir stehen neben dem Thema Quote und neben der
Geschlechtergerechtigkeit in diesem Land auch zu anderen Themen - auch in unserem Antrag -, nämlich zu der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, was für uns im
Vordergrund steht. Was für mich aber noch entscheidender ist als die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil
das noch schwieriger durchzusetzen ist, ist die Vereinbarung von Familie und Karriere. Wir setzen uns für den
Ausbau der Kinderbetreuung ein. Auch dafür macht
diese Regierung sehr viel. Wir wollen flexiblere Arbeitszeitmodelle und sagen: Wir wollen auf keinen Fall, dass
es in diesem Land mit der übertriebenen Anwesenheitskultur so weitergeht, die leider Gottes noch immer gilt;
denn auch die Qualität steht im Vordergrund, nicht nur
die Quantität.
({5})
Wir haben jedes Jahr wieder dieselbe Debatte über die
Entgeltungleichheit. Deshalb haben wir das Logib-D
eingeführt. Logib-D stößt nicht nur in Europa auf ein
ganz großes Interesse. So stellen wir Logib-D morgen,
am 25. Februar, auf der 55. Frauenrechtskonferenz der
Vereinten Nationen in New York, die seit Dienstag tagt,
einem internationalen Publikum vor, weil jeder von uns
lernen und wissen möchte, wie wir das Instrument umsetzen.
({6})
Wir rollen das gesamte frauenpolitische Feld weiter
auf. Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu dem
wichtigen Thema der Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen wollen wir noch weitergehen. Hierzu gehören
häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung,
aber natürlich auch Bräuche, Riten und Traditionen zum
Schaden von Frauen. Hierunter fallen für uns ganz besonders die Genitalverstümmelung, die Zwangsehen und
die sogenannten Ehrenmorde. Schätzungen zufolge haben 20 bis 25 Prozent aller Frauen mindestens einmal in
ihrem Leben körperliche Gewalt erlitten. Deswegen führen wir unser Programm gegen häusliche Gewalt fort.
Wir wollen ein bundesweites Hilfstelefon für von Ge10522
walt betroffene Frauen einrichten. Hierzu haben wir bereits die nötigen Mittel in den Haushalt eingestellt.
({7})
Beim Brückenschlag zum Thema 100 Jahre Frauenbewegung und 100 Jahre Weltfrauentag sehen wir, dass
sich Frauen seit vielen Jahren für ihre Rechte engagieren. Vieles ist seitdem besser geworden; das darf man
auf jeden Fall festhalten. Trotzdem sind wir noch lange
nicht am Ziel. Die Frauen haben für ihr Wahlrecht und
für die Zulassung an Universitäten gekämpft. Die Frauen
haben in diesem Hohen Hause dafür gekämpft, dass sie
Hosenanzüge anziehen dürfen.
({8})
Die Frauen mussten gegen unbewusste Rollenbilder angehen und sich gegen gläserne Decken durchsetzen. Ich
bin mir aber sicher, dass wir gemeinsam weiterkommen
können. Dabei würde es helfen, wenn die Debatte von
denselben immer wiederkehrenden reflexhaften Beißreaktionen der SPD befreit würde und wir alle an einem
Strang ziehen könnten.
({9})
Dafür wäre ich sehr dankbar.
Stellvertretend für alle großartigen Frauen, die sich
heute in diesem Hohen Hause befinden, möchte ich eine
besondere Frau herausgreifen. Ich darf hoffentlich im
Namen aller der Kollegin Katharina Landgraf zu ihrem
heutigen Geburtstag gratulieren. Liebe Katharina, alles
Gute!
({10})
Das Wort hat Caren Marks für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! 100 Jahre Internationaler Frauentag - in der Tat, welch gleichstellungspolitische Zeitstrecke. Die Koalitionsfraktionen präsentieren uns heute zu diesem Jahrestag einen Antrag, über
den sofort abgestimmt werden soll nach dem Motto:
heute schnell debattieren, und dann bloß nicht weiter
darüber reden.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Über diesen Antrag von
Union und FDP lohnt eine weitere Debatte allerdings
nicht wirklich.
({0})
Dieser Antrag enthält genauso wenig Substanz wie die
Gleichstellungspolitik der Bundesregierung, nämlich keine.
Ein Beleg dafür ist folgendes Zitat aus dem Antrag:
Der Internationale Frauentag verpflichtet als Feiertag der Frauenbewegung dazu, der Lobbyarbeit von
Frauen im politischen Raum Gehör zu schenken
und frauenpolitische Projektarbeit zu stärken.
({1})
Ich denke, hier ist kein Kommentar notwendig.
Die SPD hingegen meint es mit der Gleichstellungspolitik ernst, so wie bereits vor 100 Jahren. 1911 gingen
mehr als 1 Million Frauen auf die Straße und kämpften
für ihre Rechte, insbesondere für das Recht, zu wählen.
Sieben Jahre später führte die Sozialdemokratie unter erbittertem Widerstand konservativer Kräfte das Frauenwahlrecht ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den zurückliegenden Jahrzehnten hat die Frauenbewegung in Deutschland
in der Tat viel erreicht. Ich glaube, darauf können wir
stolz zurückblicken. Aber wir sind gleichstellungspolitisch längst noch nicht am Ziel; auch das ist richtig.
Frauen und Männer sind zwar juristisch gleichgestellt,
nicht aber in der Realität. So gibt es nach wie vor eine
strukturelle Benachteiligung von Frauen, insbesondere
im Erwerbsleben. Wir suchen Frauen in Führungsetagen
noch immer mit der Lupe. Gleicher Lohn für gleiche und
gleichwertige Arbeit - Fehlanzeige. Der Anteil von
Frauen im Niedriglohnbereich und in Minijobs ist überproportional hoch, Teilzeitarbeit ist überwiegend weiblich. Die Ursachen dafür liegen in veralteten Rollenstereotypen und auch in der nach wie vor schlechten
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Es gäbe also für die Bundesregierung und insbesondere für die zuständige Ministerin einiges zu tun; denn
die bis jetzt vorhandenen rechtlichen Rahmenbedingungen helfen Frauen nicht wirklich weiter. Um Benachteiligung abzubauen und eine eigenständige Existenzsicherung zu ermöglichen, sind weitere gesetzliche Maßnahmen unumgänglich. Die Bundesfrauenministerin und
die schwarz-gelbe Koalition verharren jedoch in Lethargie. Sie stehen leider für gleichstellungspolitischen Stillstand, Frau Schröder.
({2})
Dabei, Frau Ministerin, müssten Sie, nachdem Sie es
schon nicht selbst entgegengenommen haben, nur das
aktuelle Gutachten der Sachverständigenkommission für
den ersten Gleichstellungsbericht lesen und entsprechend handeln. Aber wie im aktuellen Antrag ersichtlich
setzen Sie und die Koalition unbeirrt und ignorant auf
Freiwilligkeit, Appelle und Projekte - und das alles vor
dem Hintergrund, dass selbstverständliche Frauenrechte
immer hart erkämpft werden mussten. Von alleine und
mit Freiwilligkeit ging es gleichstellungspolitisch leider
nie voran.
({3})
Die SPD streitet deshalb für gesetzliche Regelungen.
Sie sind wirklich notwendig, um verkrustete Strukturen
aufzubrechen. Wir fordern einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, da dieser vor allem Frauen zugutekäme. Weiter müssen wir für eine Aufwertung von
sogenannten typischen Frauenberufen, beispielsweise in
der Altenpflege, kämpfen.
Nur durch eine gesetzliche Quote von mindestens
40 Prozent wird eine angemessene Vertretung von
Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen möglich werden.
({4})
Dass in den 100 größten Unternehmen in Deutschland
Frauen nur zu 2,2 Prozent in den Vorständen vertreten
sind, ist nicht nur beschämend. Es ist diskriminierend.
({5})
Ein Antrag der SPD zur Quote wird ja morgen diskutiert.
Wir fordern endlich gesetzliche Regelungen zur
Durchsetzung von Entgeltgleichheit; denn 23 Prozent
Lohnunterschied sind skandalös. Wir fordern weiterhin
familien- und geschlechtergerechte Arbeitszeitmodelle
wie die sogenannte Große Teilzeit für beide Geschlechter und auch ein Rückkehrrecht für Eltern von Teilzeit in
Vollzeit.
Außerdem fordern wir die gesetzliche Eingrenzung
der Minijobs. Immer mehr Minijobs zulasten guter, das
heißt existenzsichernder Arbeit sind nicht zu akzeptieren. Minijobs werden für Frauen zur Armutsfalle, ganz
besonders im Alter.
({6})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das alles
sind konkrete Schritte für die Verwirklichung von
Gleichstellung und mehr Geschlechtergerechtigkeit und
damit für mehr Fortschritt in unserem Land. Die
schwarz-gelbe Bundesregierung einschließlich der Kanzlerin ist jedoch nicht bereit, wirklich aktiv zu handeln
und etwas zu ändern.
Abschließend möchte ich eine bemerkenswerte Feststellung der Sachverständigenkommission für den ersten
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung zitieren:
Die Kosten der gegenwärtigen Nicht-Gleichstellung
übersteigen die einer zukunftsweisenden Gleichstellungspolitik bei weitem.
Frau Kollegin.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ob das der
Bundesfinanzminister weiß?
Vielen Dank.
({0})
Sibylle Laurischk hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! 100 Jahre Internationaler Frauentag - ein langer
Weg von den ersten Forderungen nach dem Frauenwahlrecht über die Kampagne beispielsweise von Elisabeth
Selbert zur Formulierung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern in Art. 3 Grundgesetz liegt hinter
uns Frauen. Der Weg ist nicht zu Ende. Seit 1994 steht in
Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes Satz 2. Dieser lautet:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
Auch die Opposition hatte in der Zeit reichlich Gelegenheit, auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.
({0})
Stichworte wie Equal Pay und die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf - anscheinend nur ein Thema für
Frauen und leider immer noch nicht für Männer - beschreiben noch offene Punkte. Zurzeit wird das Thema
insbesondere an der unzureichenden Zahl von Frauen in
Führungsgremien der Bundesbehörden oder der Wirtschaft gemessen. Dies zu ändern, ist Ziel der Koalition
von FDP und CDU/CSU. Wir setzen auf einen Stufenplan und den im Mai letzten Jahres überarbeiteten sogenannten Corporate Governance Codex, der Berichtspflichten zum Stand der Beteiligung von Frauen enthält.
({1})
Die Aussage ist klar: Frauen wollen entsprechend ihrer
Ausbildung Führungsaufgaben und Verantwortung übernehmen. Angesichts des demografischen Wandels ist dies
auch gar keine Frage mehr. Dieses gesellschaftlich und
damit auch wirtschaftlich gebotene Ziel muss angesteuert werden - auch von den Männern.
({2})
Das sage ich auch an die Adresse von Herrn Kauder, der
mir im Moment den Rücken zuwendet.
({3})
Dieses Ziel ist sowohl in der Politik als auch in der
Wirtschaft umzusetzen. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass sich die FDP, seit weit
über 100 Jahren eine echte Emanzipationsbewegung,
({4})
auf ihrem nächsten Bundesparteitag im Mai mit einem
Satzungsänderungsantrag der liberalen Frauen, in dem
eine 40-Prozent-Quote für die Führungsgremien der Partei gefordert wird, auseinandersetzen muss.
({5})
Die Unternehmen sind ihrerseits aufgefordert, zu handeln. Sollten wir keine erhebliche Erhöhung des Anteils
von Frauen in Führungspositionen von Unternehmen bis
2013 feststellen können, ist die Einführung einer Quote
meines Erachtens absehbar.
({6})
Gleichstellungspolitik ist aber nicht nur ein Thema
der Bundespolitik, auch Europa fordert dies ein. So ist
das Thema „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ in
der Strategie für die Gleichstellung von Frauen und
Männern 2010 bis 2015 verankert. An der Umsetzung
dieser europäischen Strategie müssen wir mit Nachdruck
arbeiten. Frauen müssen sich klar darüber sein, dass nur
ein qualifizierter und ausgeübter Beruf ihrer Altersarmut
entgegenwirkt.
Trotz des 100. Geburtstages des Internationalen Frauentages: Gewalt gegen Frauen und familiäre Gewalt sind
nach wie vor Alltag. Verlässlich finanzierte Frauenhäuser und Unterkünfte für Frauen in Not gibt es auch nach
100 Jahren Gleichstellung noch nicht. In den Kommunen kämpfen die Frauen um jeden Cent zur Finanzierung. Schutz und Hilfe für gewaltbetroffene Frauen und
deren Kinder müssen jedoch flächendeckend vorliegen.
Die christlich-liberale Koalition hat jetzt zumindest einen Haushaltstitel geschaffen, um eine bundeseinheitliche Notrufnummer für gewaltbetroffene Frauen einzurichten. Unbürokratische Hilfe soll so möglich werden.
Ein letztes Stichwort zum Internationalen Frauentag,
das Ausländerinnen besonders betrifft: die Bekämpfung
der Zwangsheirat. Ein Gesetzentwurf hierzu liegt vor. Es
ist vorgesehen, die Mindestbestandszeit einer Ehe zur
Begründung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts von
zwei auf drei Jahre zu erhöhen. Der Gesetzentwurf hat
das Ziel, Opfer von Zwangsheirat besser zu schützen.
Die Erhöhung der Ehebestandszeit steht meines Erachtens dazu im Widerspruch. Im Koalitionsvertrag heißt es
hierzu, die Erhöhung der Ehebestandszeit sei zu prüfen.
Meine Herren, meine Damen, ich bitte um Prüfung.
Als Liberale bin ich stolz, einer Emanzipationsbewegung anzugehören, die weit älter als 100 Jahre ist.
100 Jahre Internationaler Frauentag bedeuten 100 Jahre
Ringen um Gleichberechtigung.
({7})
Uns Frauen bleibt die Einsicht: Geschenkt wird uns
nichts; wir müssen für unsere Rechte immer wieder aufs
Neue kämpfen. Wir sollten dies gemeinsam tun. Dann
sind wir stark.
({8})
Die Kollegin Kipping hat für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
100 Jahre Frauentag - zu den Wurzeln dieses Tages gehören auch folgende Etappen: Am 8. März 1857 streiken
in New York Textilarbeiterinnen. Am 8. März 1908
kommen über 100 streikende Textilarbeiterinnen bei einem Fabrikbrand ums Leben, weil sie während des
Streiks in der Fabrik eingeschlossen wurden. Vor
100 Jahren wurde der Frauentag in einigen Ländern erstmals am 19. März begangen. Am 8. März 1917 waren es
wieder Textilarbeiterinnen, die in Russland gegen Hunger, Krieg und Zarismus streikten. Anknüpfend an diese
Arbeitskämpfe wurde der Frauentag von der Zweiten
Kommunistischen Frauenkonferenz auf Initiative von
Clara Zetkin auf den 8. März gelegt.
({0})
Betrachten wir die Geschichte des Frauentages, so können wir festhalten: Der Frauentag ist nicht bei Kaffeekränzchen entstanden, er ist nicht Blumenrabatten entsprungen, sondern er ist aus Kämpfen um Rechte
entstanden. Genau an diese Tradition des Frauentages
sollten wir anknüpfen.
({1})
Die Art, den Frauentag zu begehen, hat sich über die
Jahrzehnte verändert, aber an der Notwendigkeit, um
Frauenrechte zu kämpfen, hat sich nichts, aber auch gar
nichts verändert. Kämpfe um Geschlechtergerechtigkeit
sind hochaktuell - und das weltweit.
({2})
Geschlechterungerechtigkeit hat viele Gesichter. Das
beginnt damit, dass auf den obersten Etagen der Wirtschaft faktisch immer noch „oben ohne“ - also ohne
Frauen - gilt. Schließlich sind noch nicht einmal
10 Prozent aller Aufsichtsratsposten in Frauenhand. Es
geht damit weiter, dass Frauen im Durchschnitt ein Viertel weniger verdienen als Männer und dass Frauen überdurchschnittlich stark in Minijobs gedrängt werden. Wir
wissen: Auf Minijobs folgen Minirenten. Altersarmut ist
somit gerade bei Frauen vorprogrammiert. Hier müssen
wir deutlich gegensteuern.
({3})
Geschlechterungerechtigkeit geht weiter mit den
Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. Das führt zum einen
dazu, dass Frauen, die womöglich ihr Leben lang gewohnt waren, von ihrer eigenen Hände Arbeit zu leben,
dann, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren und der Partner etwas über den entsprechenden Grenzen verdient,
sofort in die Position von Taschengeldempfängerinnen
gedrängt werden. Oder es führt dazu, dass Alleinerziehende, die einen neuen Partner kennenlernen, mit diesem
faktisch nicht zusammenziehen können, weil er ansonsten sofort als Aufstocker in Hartz-IV gedrängt werden
würde, wenn sein geringes Einkommen auf das Einkommen des Kindes angerechnet wird.
Bei der Geschlechterungerechtigkeit spielt die ungerechte Verteilung der verschiedenen Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern eine Schlüsselrolle; denn leider
ist es immer noch so, dass vor allen Dingen die Hausund Familienarbeit den Frauen obliegt. Sie werden eher
in die Rolle der Hinzuverdienenden gepresst, während
die Männer die Rolle des Hauptverdienenden übernehmen. Das Ehegattensplitting zementiert diese überkommene alte Arbeitsteilung. Deswegen gehört das Ehegattensplitting abgeschafft.
({4})
- Frau Bär, Sie sagen, das gehört nicht abgeschafft. Damit unterstreichen Sie noch einmal eindeutig, dass Sie
diese überkommene Arbeitsverteilung zementieren wollen.
({5})
Das Statistische Bundesamt führt aus, dass die Arbeitsverteilung wirklich ungerecht ist. 75 Prozent der Putzarbeiten und 85 Prozent der Arbeit mit Wäsche werden immer
noch von Frauen erledigt. Der Armuts- und Reichtumsbericht weist aus, dass von den Müttern mit Kindern ab
sechs Jahren gerade einmal 17 Prozent vollzeiterwerbstätig sind. Diese Zahlen zeigen, wie stark die überkommene Arbeitsverteilung immer noch unseren Alltag bestimmt.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Mir geht es
nicht darum, Männer oder Frauen mit den angeblichen
Segnungen der Erwerbsarbeit zwanghaft zu beglücken.
Aber meine Kritik an dieser Verteilung setzt dann an,
wenn Menschen - vor allen Dingen Frauen - von der Erwerbsarbeit - entweder aufgrund von überkommenen
Geschlechterrollen oder aufgrund eines Mangels an Kitaplätzen - sozusagen weggedrängt werden. Das ist für
uns als Linke nicht hinnehmbar.
({6})
Doch reden wir anlässlich einer Debatte über den
Frauentag nicht nur über Probleme, sondern auch über
Perspektiven, die Mut machen. Für mich ist die von der
Feministin Frigga Haug entwickelte Vier-in-einem-Perspektive Mut machend und ermunternd. Diese geht davon
aus, dass es vier gleichwertige Tätigkeitsbereiche gibt:
erstens die Erwerbsarbeit; zweitens die Sorgearbeit, auch
bekannt als Reproduktionsarbeit oder Haus- und Familienarbeit; drittens die Weiterentwicklung bzw. die Weiterbildung, auch vorstellbar als Muße; viertens die Politik, die in einer Demokratie nicht nur
Berufspolitikerinnen und Berufspolitikern obliegen
sollte.
({7})
Zunehmend begeistern sich Frauen für einen solchen
Aufbruch in ein Leben im Viervierteltakt, in dem eine
Arbeitswoche aus vier gleichen Teilen besteht: ein Viertel Erwerbsarbeit, ein Viertel Sorgearbeit, ein Viertel
Weiterentwicklung und Muße sowie - um das Ganze
vollständig zu machen - ein Viertel Politik. Eine konsequente Arbeitszeitverkürzung für Männer und Frauen
gleichermaßen wäre die Grundlage für einen Aufbruch
in ein solches Leben im Viervierteltakt.
({8})
Kämpfen wir nicht nur am Frauentag, sondern an allen Tagen im Jahr konsequent und engagiert dafür, dass
die Erwerbsarbeitszeit verkürzt wird und die vorhandenen Tätigkeitsfelder gerecht zwischen den Geschlechtern verteilt werden. Das heißt, dass ein Großteil der
prestigeträchtigen Jobs von Männer- in Frauenhand
wechseln muss; im Gegenzug würde man gerne Sorgearbeit abgeben. Kämpfen wir dafür, dass die Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand kommt. Kämpfen wir für
gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Kämpfen wir
für globale soziale Rechte, und sorgen wir dafür, dass
aus den Chefsesseln Sitzgelegenheiten werden, die mindestens zu 50 Prozent von Frauen besetzt sind.
Danke schön.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Deligöz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Bär, wenn ich die Entwicklung der Debatten
verfolge, höre ich durchaus Zwischentöne aus Ihrer
Fraktion: Offenbar nehmen Sie die Frauenpolitik zunehmend ernst. Ich hätte aber gern, dass das durch Taten bestätigt wird. Wenn ich mir Ihren Antrag durchlese und
mir das Verhalten Ihrer Ministerin in den vergangenen
Wochen anschaue, dann muss ich feststellen: An dem,
was Sie zu tun gedenken, ist nicht einmal im Ansatz zu
erkennen, dass Sie Frauenpolitik ernst nehmen.
({0})
Stattdessen streiten sich zwei Ministerinnen in der Öffentlichkeit. Die Kanzlerin kommt in Basta-Manier,
zieht darunter einen Strich und zieht sich auf die Position
zurück, dass der Wirtschaft „noch einmal die Chance gegeben werden“ solle, auf der Grundlage von Absichtserklärungen „freiwillig zu Fortschritten zu kommen“.
Jetzt ist es so: Sie kreiden uns an, dass wir vor zehn
Jahren, unter der rot-grünen Regierung, über freiwillige
Vereinbarungen geredet haben; das sei zu wenig gewesen.
({1})
Warum machen Sie genauso weiter, wenn es angeblich
schon vor zehn Jahren falsch war? Dann ändern Sie es
doch!
({2})
Wenn es ein Fehler war, dann muss man es jetzt ändern.
Kreiden Sie es uns nicht an, sondern machen Sie es
heute anders!
Noch eines: Es hat mich schon gestört, dass Sie eben
„eine gewisse Frau Bergmann“ gesagt haben. Ihre Regierung hat Frau Bergmann zur Beauftragten in einem
sehr wichtigen Themengebiet benannt, nämlich bei der
Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern.
Sie hat in dieser Gesellschaft einen wirklich wichtigen
Auftrag.
({3})
Jetzt sprechen Sie, Frau Bär, aber von „Frau Bergmann,
an die sich niemand mehr erinnern kann“, so als ob sie
unwichtig sei. Wie ernst nehmen Sie diesen Auftrag,
wenn Sie Frau Bergmann dermaßen degradieren? Wie
ernst nehmen Sie denn dieses Thema?
({4})
Mit diesen Fragen sollten Sie sich einmal selber befassen.
Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Sie sagen in Ihrem
Antrag, dass sich die Herausforderungen aus dem Ersten
Gleichstellungsbericht ergeben würden. Da schlucke ich
ganz schön. Brauchen wir denn in diesem Parlament
wirklich Berichte, die erst von den Ministerien und der
Regierung abgenommen werden müssen, bevor sie vorgelegt werden, um zu wissen, wie es Frauen in diesem
Land geht? Müssen wir es erst schriftlich vorliegen haben? Müssen wir einem Bericht entnehmen, was in diesem Land zu tun ist?
({5})
Was noch viel schlimmer ist: Dieser Bericht liegt eigentlich schon vor; der Sachverständigenrat hat ihn bereits
im Januar vorgelegt.
({6})
Nur haben Sie, Frau Ministerin, den Bericht noch nicht
abgenommen, sondern gerade einmal Ihren Staatssekretär hingeschickt, um ihn abnehmen zu lassen; dann haben Sie ihn sofort wieder in die Schublade verbannt.
({7})
Jetzt sagen Sie: Wir warten einmal, was die Ministerien
dazu sagen. - Was ist denn das für ein Selbstverständnis
von einer Frauenministerin? Wenn es nichts mit Ihrem
Selbstverständnis zu tun hat, dann seien Sie zumindest
so ehrlich, zu sagen, dass Ihnen schlicht und einfach die
Ergebnisse nicht gefallen. In dem Bericht steht nämlich,
dass noch viel getan werden muss, um echte Chancengerechtigkeit in diesem Land zu schaffen. Dieser Befund
gefällt Ihnen nicht. Da ist es viel geschickter, den Bericht in der Schublade verschwinden zu lassen, anstatt
ihn uns vorzulegen und im Parlament darüber zu debattieren. Sie müssen schon ehrlich sagen, was Sie mit dem
Bericht machen.
Jetzt komme ich zum 100. Internationalen Frauentag.
Ja, richtig: Viele Frauen haben gekämpft und sind auf
die Straße gegangen. Diesen Frauen sind wir etwas
schuldig; wir müssen ihre Erbschaft antreten.
({8})
Das, was die Frauen geschaffen haben, verpflichtet.
Wenn wir aber in dem Tempo, das die Regierung gerade
an den Tag legt, weitermachen, dann sind wir in weiteren
100 Jahren nicht viel weiter. Dann bleiben wir auf der
Stelle stehen. In 100 Jahren drehen wir uns dann um und
sind dankbar, dass es vor 200 Jahren wenigstens ein paar
Frauen gegeben hat, die aktiv geworden sind.
Ich sage Ihnen aber auch, was mich an der Diskussion
in Deutschland insgesamt stört. Wir haben in den letzten
Tagen viel gelesen; viele Bücher sind veröffentlicht worden. In all diesen Debatten reden wir immer über das
Trennende zwischen den Frauen: Es werden die Frauen
mit Kindern gegen die ohne Kinder ausgespielt, Hausfrauen gegen Berufstätige, Junge gegen Alte, Frauen mit
Männern gegen solche ohne Männer, man spricht von
freiwilligen Annäherungen oder aber von einer Verpflichtung. Ich finde, wir sollten heute hier im Bundestag den Mut haben, all diese Debatten hinter uns zu lassen; denn konzentrieren müssen wir uns auf die heutigen
und künftigen Rahmenbedingungen. Konzentrieren
müssen wir uns auf das, was das Parlament, die Politik
machen kann, um die Dinge zu verändern und um dieses
zu Land gestalten.
Ich spreche noch einmal die zehn Jahre Erfahrung mit
der Selbstverpflichtung an. Wenn die Politik es nicht
wagt, konkrete Schritte und Vorgaben zu machen, wird
sich in diesem Land nichts, aber auch rein gar nichts ändern. Wir sind in der Verantwortung, angesichts dieser
100 Jahre Frauentag etwas zu ändern.
({9})
Frau Allmendinger - viel zitiert, heute hier noch nicht sagt: Frauen wollen Kinder und Karriere. Sie wollen alles. Sie sind auf dem Sprung. Sie wollen erwerbstätig
sein. - Die Zahl der Erwerbstätigen ist eindeutig gestiegen, und zwar kontinuierlich. Gleichzeitig gibt es auch
die bittere Wahrheit: Das Arbeitsvolumen nimmt ab und
37 Prozent - nur 37 Prozent - der Frauen in diesem Land
haben einen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob.
84 Prozent der Teilzeitstellen sind von Frauen besetzt.
Es gibt noch eine Zahl, die mich selber ehrlich gesagt
erschreckt hat, sodass ich zweimal nachschauen musste:
Lediglich 25 Prozent der Frauen in diesem Land erziehen minderjährige Kinder. 75 Prozent der Frauen haben
entweder keine Kinder mehr im Haushalt oder haben
volljährige Kinder. Trotzdem wird auf dem Arbeitsmarkt
ein Argument immer gegen sie verwendet. Die Unternehmen und auch die FDP sagen nämlich: Frauen können gar nicht in die Führungsetagen, weil ihnen die Vereinbarkeitsfrage im Weg steht. - Das mag für 25 Prozent
gelten. Warum sind die anderen 75 Prozent dann aber
trotzdem nicht vertreten? Warum muss man sie dann
trotzdem mit der Lupe suchen? Da kann doch das Argument der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf nicht
gelten.
({10})
Noch eines: Sie, Frau Ministerin, glorifizieren in der
heutigen Ausgabe der Zeit die Ehe. Das kann jeder halten, wie er will. Das ist eine private Sache. Das Steuerrecht und das Sozialversicherungsrecht in Deutschland
sind aber doch auf der Grundlage gestaltet, dass Frauen
zu Hause bleiben und eben nicht erwerbstätig sind.
({11})
Es führt de facto zur Benachteiligung von Frauen. Solange das so ist, sind wir in der Pflicht, das infrage zu
stellen. Wenn die politischen Strukturen Frauen benachteiligen, dann müssen sie geändert werden. Das gilt auch
und gerade für die ehebezogenen Leistungen.
({12})
Was müssen wir tun, Frau Ministerin? Zu tun gibt es
viel: Gleichstellungsgesetz, Quote, gleicher Lohn für
gleichwertige Arbeit, eine Weiterentwicklung des Ehegattensplittings zu einer Individualbesteuerung. Die
Liste ist lang. Vor allem aber brauchen wir endlich eine
Frauenministerin, die auch zur Frauenpolitik steht.
({13})
Politik muss meines Erachtens ermutigen. Sie, Frau Ministerin, entmutigen Frauen. Politik muss gestalten. Sie
aber schieben auf. Das ist zu wenig. Dies gilt insbesondere angesichts der Verpflichtung gegenüber all den
Frauen, die vor 100 Jahren auf die Straße gegangen sind.
({14})
Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Kristina
Schröder.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der 100. Weltfrauentag ist für meine Generation ein Tag,
um Danke zu sagen, Danke für all das, was Generationen
von Frauen vor uns erkämpft haben:
({0})
das Frauenwahlrecht, die formale rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit - Dinge, die für uns heute ganz selbstverständlich sind. Deshalb ist der 100. Weltfrauentag ein
Feiertag weiblicher Emanzipation, und zwar nicht nur
von traditionellen Rollenmustern, sondern junge Frauen
emanzipieren sich auch von manchen Vorkämpferinnen
weiblicher Emanzipation.
({1})
Viele Frauen meiner Generation haben es satt, sich von
anderen Frauen sagen zu lassen, wie man als emanzipierte Frau zu leben hat.
({2})
Wir wollen Wahlfreiheit. Wir wollen uns für Lebensmodelle entscheiden können, und zwar auch für solche,
die nicht den Vorstellungen anderer Frauen entsprechen,
ohne dafür wahlweise als egoistisch oder feige hingestellt zu werden.
({3})
Deshalb sollte von der heutigen Debatte vor allen
Dingen auch einmal folgendes Signal ausgehen: Respekt
vor privaten Lebensentscheidungen statt Diffamierung
von bestimmten Rollenmodellen.
({4})
Dafür müssen wir uns nur auf etwas verständigen, was
eigentlich selbstverständlich ist: Gleichberechtigung ist
nicht Gleichschaltung und Gleichsetzung. Gleichberechtigung berücksichtigt die Verschiedenartigkeit von Männern und Frauen.
({5})
- Sie fragen mich, woher ich das habe? Das sage ich Ihnen: Die Frauenrechtlerin Helene Weber hat diesen
Satz 1949 vor dem Deutschen Bundestag gesagt,
({6})
und zwar kurz nachdem sie im Parlamentarischen Rat als
eine von vier Frauen den wohl revolutionärsten Grundsatz unseres Grundgesetzes erkämpft hat: „Männer und
Frauen sind gleichberechtigt.“
Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft zu fördern - nicht im Sinne von Gleichsetzung, von Ergebnisgleichheit, sondern von Chancengleichheit -, das bleibt unsere gemeinsame Aufgabe,
liebe Kolleginnen und auch liebe Kollegen.
({7})
Da ist viel zu tun. Frauen sind in Führungspositionen
kaum vertreten. Wir alle sind uns einig, dass sich das ändern muss. Das fängt bei den Arbeitszeiten und bei der
Arbeitskultur an. Unsere Arbeitswelt ist gerade in den
Führungsetagen auf Männer oder - ich sage es allgemeiner - auf Menschen zugeschnitten, die familiäre Verantwortung delegieren können
({8})
oder die von vornherein auf Familie verzichten.
Eine 70-Stunden-Woche nach dem Prinzip „Karriere
wird nach Feierabend gemacht“ bezahlen diejenigen mit
eingeschränkten Karrierechancen, die nach Feierabend
die Kinder bettfertig machen.
({9})
Frauen erwarten deshalb zu Recht mehr von uns als
lächerliche Überbietungswettbewerbe der Opposition
nach dem Motto: Wer fordert die höchste Quote?
Frauen erwarten vielmehr, dass wir bei den Ursachen
ungleicher Chancen ansetzen und dass wir ihre Bedürfnisse in den Blick nehmen.
({10})
Wenn Frauen Teilzeit arbeiten, um Zeit für Familie zu
haben - gestern konnten wir in einer Allensbach-Studie
lesen, dass 59 Prozent der unter 45-Jährigen in Deutschland dieses Modell für das optimale halten -, dann sind
diese Frauen doch nicht feige. Das ist eine selbstbewusste Entscheidung, die wir genauso respektieren und
ermöglichen müssen wie diejenige, ganz auf den Beruf
zu setzen oder ganz für die Familie da zu sein.
({11})
Nicht die Frauen müssen sich also ändern. Ändern
muss sich unsere Arbeitswelt.
({12})
Die windelweiche Selbstverpflichtung unter der rot-grünen Bundesregierung 2001 war doch ein Rohrkrepierer.
Es gab viel joviales Schultergeklopfe, aber keine Inhalte.
Aber so war Gerhard Schröder eben.
({13})
Ich setze deshalb auf gesetzliche Regelungen.
({14})
Erstens. Ich will Unternehmen gesetzlich verpflichten, sich konkrete Zielvorgaben für den Vorstand und für
den Aufsichtsrat zu setzen.
({15})
Diese Zielvorgaben können die Unternehmen - anders
als es bei Ihrer Selbstverpflichtung der Fall war - nicht
ignorieren.
({16})
Zweitens. Die Unternehmen werden auch gesetzlich
verpflichtet, diese Zielvorgaben transparent zu machen.
Da wird es ruck, zuck Rankings geben. Diese Zielvorgaben müssen vor der Belegschaft, vor dem Betriebsrat,
vor einer kritischen Presse und vor der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden.
({17})
Drittens. Ich will Sanktionen, wenn die eigenen Zielvorgaben nicht eingehalten werden,
({18})
zum Beispiel die Anfechtbarkeit von Aufsichtsratswahlen.
({19})
Immer mehr Unternehmen haben sich gerade in den
letzten Wochen und Monaten selbst solche Zielvorgaben
gesetzt. Das ist nicht mehr nur die Telekom. In den letzten Monaten sind BMW, Daimler, Bosch, Eon, Merck
und Airbus hinzugekommen. Es geht also, meine Damen
und Herren.
Union und FDP setzen auf eine Politik der fairen
Chancen, die allen Frauen zugutekommt. Diese Politik
hat die Union in den letzten Jahrzehnten geprägt. Es war
eine unionsgeführte Bundesregierung, bei der es die
erste Frau in einem Bundeskabinett gab: Elisabeth
Schwarzhaupt.
({20})
Es war die Union, die vor 25 Jahren das Frauenressort
eingerichtet hat. Es war die Union, die die Anerkennung
von Kindererziehungszeiten bei der Rente durchgesetzt
hat,
({21})
die einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz
eingeführt hat,
({22})
die die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen durchgesetzt hat, und es war die Union, die den Ausbau der Kinderbetreuung auf den Weg gebracht hat.
({23})
Jetzt geht es darum, die Jungen und die Männer stärker
einzubeziehen.
({24})
Wenn wir Frauen zu fairen Chancen verhelfen wollen,
dann müssen wir auch Männern die Chance geben, sich
von Rollenmustern zu lösen und auf Partnerschaft zu setzen.
({25})
Auch das hat schon Helene Weber gesagt:
Es gibt in der Politik wie überall zwischen Mann
und Frau eine Partnerschaft.
Auf diese Partnerschaft sollten wir bauen. Das muss eine
gleichberechtigte Partnerschaft werden.
Frau Ministerin, Sie können natürlich weiterreden,
aber ich mache Sie darauf aufmerksam, dass das zulasten der Redezeit Ihrer Kolleginnen und Kollegen geht.
({0})
Ich komme zum Schluss. - Setzen wir auf diese Partnerschaft und schaffen wir die Voraussetzung für Wahlfreiheit und selbstbestimmte Entscheidungen von Männern und Frauen. Wir werden das ebenso packen wie die
Frauen, die vor 100 Jahren das Wahlrecht erkämpft haben: mit Selbstbewusstsein, mit Stolz und mit einer gesunden Portion Sturheit.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Roth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, die Leidenschaft Ihres Vortrags
({0})
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eigentlich
um Wichtiges geht, nämlich um die Frage, wie die Bundesregierung, das Parlament, von mir aus fraktionsübergreifend, Rahmenbedingungen schaffen kann, damit die
sicher schon gut fortgeschrittene Gleichberechtigung in
Deutschland noch besser wird.
({1})
Das heißt, es geht um Fortschritt und nicht um Pause. Es
geht nicht darum, hier zu sagen, was wir alles schon erreicht haben, Frau Ministerin.
({2})
Vor 100 Jahren haben 1 Million Frauen dafür gekämpft, dass das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Damals hat sich die Sozialdemokratie das Frauenwahlrecht
auf ihre Fahnen geschrieben. Es bedurfte auch noch einer Revolution im wahrsten Sinne des Wortes, ehe das
Frauenwahlrecht 1919 eingeführt wurde.
({3})
Das ging nicht nach dem Motto: Schauen wir mal, wir
machen mal eine Quote, und dann gucken wir mal, ob es
geht oder nicht. Nein, wir haben Rahmenbedingungen
gesetzt. Die Rahmenbedingung war die Einführung des
Frauenwahlrechts. Dafür sind wir dankbar, und darauf
sind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
stolz.
({4})
Ich will mich jetzt nicht nur zu dem Thema Wahlfreiheit einlassen. Es gilt: Wahlfreiheit setzt voraus, dass
das, was wir wählen wollen, auch wählbar ist. Es kann
aber nicht von Wahlfreiheit gesprochen werden, wenn
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht vorhanden ist.
({5})
Das ist eine Binsenweisheit.
({6})
Ich will auf den Antrag der SPD zu sprechen kommen. Wir nehmen diesen 100. Geburtstag zum Anlass,
um nicht nur über Deutschland und die Frauenpolitik in
Deutschland zu reden, sondern auch über die Frage der
Gleichstellung der Frauen in der Welt, vor allem in Entwicklungsländern. Deshalb ist das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hier ja
auch vertreten. Es geht vor allen Dingen darum, dass wir
die Unterdrückung der Frauen dort überhaupt erst einmal
wahrnehmen. Sie haben wirklich noch einen langen Weg
vor sich. Ich weiß das, wir alle wissen das. Es geht in der
Entwicklungspolitik im wahrsten Sinne des Wortes auch
darum, dass über das Leben von Millionen von Frauen in
den Entwicklungsländern entschieden wird.
Eine Zahl ist mir heute ganz wichtig: 75 Prozent der
unbezahlten Arbeit in diesen Ländern übernehmen die
Frauen. Wenn die Frauen nicht bereit wären, diese unbezahlte Arbeit zu erledigen, würden diese Länder ganz
anders dastehen. Diese Situation der Frauen muss sich
aber ändern. Es ist unsere Aufgabe, dies im Rahmen der
Entwicklungspolitik zu unterstützen.
({7})
Die Armut ist weiblich; dies ist auch bei uns so, aber vor
allen Dingen dort. Es geht darum, den Frauen in diesen
Ländern beispielsweise die Möglichkeit zu eröffnen,
nicht nur einen Schulabschluss, sondern auch einen Uni10530
Karin Roth ({8})
versitätsabschluss zu erreichen, auch und gerade um
weiterzukommen.
Es ist wichtig, dass auch die Vereinten Nationen festgestellt haben, dass die Gleichberechtigung der Frauen
- das gilt auch für uns - ein zentrales Thema ist und die
soziale Lage der Frauen, insbesondere in den Entwicklungsländern, dadurch verbessert wird. Frauen sind der
Motor für wirtschaftliches Wachstum und für soziale
Verantwortung. Das gilt natürlich auch bei uns, aber vor
allen Dingen in Entwicklungsländern. Die Frauen, die
sich dort engagieren, sind ehrgeizig und übernehmen
Verantwortung.
Interessant ist, dass die Quotenregelungen in diesen
Ländern - Frau Ministerin, jetzt hören Sie einmal zu ({9})
dazu geführt haben, dass Frauen in den Parlamenten in
Afrika vertreten sind, zum Beispiel in Angola, Burundi,
Tansania und Uganda mit über 30 Prozent. Ruanda hat
mit über 56 Prozent die weltweit höchste Frauenquote
im Parlament. Das kam nicht einfach nur so, sondern
wurde durch eine Frauenquote in den entsprechenden
Wahlgesetzen erreicht.
({10})
Insofern sollten wir uns hier in Deutschland nichts
vormachen: Ohne Frauenquote in den Unternehmen
werden wir die Gleichberechtigung nicht erreichen. Das
wissen wir im Grunde alle. Die Schonfrist ist zu Ende.
Nach zehn Jahren der Selbstverpflichtung der Unternehmen ist jetzt Schluss. Ich hoffe, dass das Thema morgen
noch einmal einen besonders prominenten Part bekommt.
({11})
Wir sind der Meinung: Die Frauen in den Entwicklungsländern setzen auf uns als Vorbild. Dass wir in den
Parlamenten so gut vertreten sind, ist ja auch ein Ergebnis der Frauenquote in den Parteien.
({12})
Diejenige Partei, die noch keine Frauenquote hat, überlegt sich ja zurzeit, eine einzuführen. Das wissen wir.
({13})
Wir wollen Sie ermuntern: Führen Sie die Frauenquote
ein!
Entscheidend für uns Frauen, die etwas bewegen wollen - Frau Ministerin, natürlich gemeinsam mit den
Männern, partnerschaftlich sowieso -, ist, dass wir die
entscheidenden Prioritäten setzen und Strukturen schaffen.
Kollegin Roth, achten Sie bitte auf die Zeit.
- Danke. - In der Entwicklungspolitik, Frau Staatssekretärin, brauchen wir natürlich weiterhin Genderpolitik. Wir brauchen weiterhin die Zielgrößen und die entsprechende Finanzierung. Wir brauchen im Entwicklungsbereich die Unterstützung der Frauenpolitik und
der Frauenorganisationen in diesen Ländern. Das ist zentral. Das gilt im Übrigen auch für die Bekämpfung von
Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Dies muss ein Ende haben. Dafür müssen wir eintreten.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Bracht-Bendt
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
1911 zogen in Berlin die Frauen auf die Straße, um für
das Frauenstimmrecht zu kämpfen. Auch 100 Jahre nach
Einführung des Internationalen Frauentages sind Frauen
häufig schlechter gestellt als die Männer. Frauen sind in
vielen Ländern bis heute die Schwächsten der Gesellschaft. Unter dem Vorwand der Tradition werden Mädchen von Bildung ausgeschlossen. Weltweit sind 12 Millionen Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder,
Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung.
In Deutschland ist die Gleichheit von Männern und
Frauen in Art. 3 des Grundgesetzes verankert. Dennoch
- das wissen wir alle - sind wir noch nicht am Ziel; ich
sage als Stichwort nur Entgeltgleichheit bzw. Entgeltungleichheit. Deshalb ist der Internationale Frauentag ein
guter Anlass, um Probleme beim Namen zu nennen.
({0})
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen. In den letzten
15 Jahren ist die Zahl der Familienernährerinnen deutlich gestiegen. Im Westen stieg die Zahl von 6,3 auf
9,5 Prozent, im Osten von 10,4 sogar auf 13,1 Prozent.
({1})
Viele Frauen werden nicht freiwillig zu Hauptverdienerinnen; Sie haben recht. Sie werden es, wenn zum Beispiel plötzlich der Mann arbeitslos wird. Hinzu kommt
die steigende Zahl der Alleinerziehenden. Deshalb werden Fragen der Einkommens- und Aufstiegschancen von
Frauen immer bedeutender. Obwohl in Deutschland
51 Prozent der Hochschulabsolventen Frauen sind, beträgt der Verdienstunterschied 23 Prozent. In Europa haNicole Bracht-Bendt
ben wir damit die rote Laterne; da gibt es nichts zu beschönigen.
({2})
Die Ursachen sind vielfältig. Deshalb muss an verschiedenen Stellen - ich sage: an verschiedenen Stellen angesetzt werden.
({3})
Es beginnt bei der Berufsauswahl; das liegt mir besonders am Herzen. Hier dominieren immer noch traditionelle Bilder. Jungen lernen Kfz-Mechatroniker und Industriemechaniker, Mädchen werden Verkäuferin, Friseurin oder Bürokauffrau. Aber leider entscheiden sich
Mädchen oft für Berufe, die von vornherein eine Einbahnstraße sind. Damit verbunden sind häufig ein niedriges Einkommen und wenige Aufstiegsmöglichkeiten.
Wir müssen die Ausbildung von Frauen in technischen
Fächern fördern.
({4})
Es reicht nicht, wenn einmal ein Berufsberater in die
Schule kommt. „Fit machen fürs Leben“ muss in der
Schule immer wieder Thema sein.
Eine andere Frage lautet: Warum bekommt ein KfzMechatroniker mehr Gehalt als eine Altenpflegerin? Auf
diese Frage weiß ich keine Antwort. Die Unterbewertung von sozialen Berufen zu beenden, ist für mich ein
gesellschaftliches Anliegen. Das müssen wir in Angriff
nehmen. Ich bin froh, dass Gesundheitsminister Rösler
in der Pflege einen Schwerpunkt setzt.
({5})
Ein anderer Grund, warum Frauen statistisch gesehen
weniger verdienen als Männer, sind die Erwerbsunterbrechungen; sie wurden schon mehrmals angesprochen.
Anders als in Frankreich und Skandinavien steigen viele
Frauen in Deutschland mehrere Jahre aus dem Berufsleben aus, um sich ganz der Erziehung der Kinder zu widmen. Viele Frauen arbeiten Teilzeit - wir hörten vorhin:
84 Prozent -, und zwar nicht, weil sie dazu gedrängt
werden, sondern weil viele Frauen Teilzeit arbeiten wollen - ich wiederhole: arbeiten wollen. Das muss klargestellt sein.
Jeder Monat, den eine Frau im Beruf aussetzt, bedeutet Abstriche bei der Rente. Ich glaube, dass viele Frauen
die Änderungen im Unterhaltsrecht nicht kennen. Vor
dem Hintergrund, dass jede zweite Ehe geschieden wird,
ist eine längere Auszeit aus dem Beruf gefährlich. Deshalb wird das erfolgreich gestartete Aktionsprogramm
„Perspektive Wiedereinstieg“ von großer Bedeutung sein.
Altersarmut von Frauen ist für mich ein Schreckgespenst. Gleichstellungspolitik muss darauf abzielen, soziale Risiken in den Lebensläufen und Erwerbsbiografien zu erkennen, und eine Bandbreite von Möglichkeiten bereithalten. Im Mittelpunkt muss der Abbau von
Stereotypen bei Bildung, Ausbildung und Beschäftigung
stehen.
Gleichstellungspolitik für heute und morgen muss
Vielfalt bedeuten. Familienfreundliche Personalpolitik
in Unternehmen - sie wurde schon mehrmals angesprochen - muss Hand in Hand gehen mit ganz unterschiedlichen Möglichkeiten, das Berufsleben individuell zu gestalten. Bei der Gleichstellungspolitik müssen wir alle
ran: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Aber wir wollen keine Ergebnisgleichheit.
Danke.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ziegler für die SPD-Fraktion - wenn der Kollege Wunderlich sie bitte vorbeilässt.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Männer stehen uns
eben doch öfter einmal im Weg.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die französische Regierung gilt ja nicht unbedingt als Hort linken
Sektierertums. Und doch hat gerade Frankreich unter
seinem konservativen Präsidenten Sarkozy beschlossen,
dass bis 2017 40 Prozent der Aufsichtsrats- und Verwaltungssitze mit Frauen besetzt sein müssen. Damit hat
Frankreich das nachvollzogen, was Norwegen bereits
vor Jahren erfolgreich eingeführt hat, nämlich gesetzliche Quotenregelungen, um den Stillstand in Sachen
Gleichstellung endlich zu überwinden. Das ist natürlich
im Interesse der Frauen, aber - seien wir ehrlich - auch
im Interesse der Unternehmen selbst.
Wir wissen genauso wie die Franzosen und die Norweger, dass freiwillige Maßnahmen nahezu wirkungslos
sind. Wir haben es mehrfach betont: Das, was wir uns erhofft haben, ist seit zehn Jahren nicht in dem Maß eingetreten, wie wir es uns vorgestellt haben. Die Menschen
sehen das und ziehen ihre Schlüsse daraus. Ich freue
mich, dass auch die FDP-Frauen zum Teil ihre Schlüsse
daraus gezogen haben. Wir werden also immer mehr.
Wir werden Zeugen eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels. Immer mehr Frauen und Männer sagen:
Wir brauchen keine freiwilligen Maßnahmen, sondern
verbindliche gesetzliche Regelungen.
Was aber tut unsere Ministerin Schröder? Einzig bei
ihr und bei der Bundesregierung zeichnet sich leider keinerlei Erkenntnisgewinn ab. Sie verkündet immer wieder unverdrossen, wiederum ein Gesetz vorlegen zu wollen, mit dem sie erneut auf Freiwilligkeit bei den
Unternehmen setzt. Als mögliche Sanktion hebt sie den
Zeigefinger ({1})
mehr ist nicht. Das kann nicht sein. So viel Naivität können wir nicht mehr zulassen.
({2})
Um die Gleichstellung endlich voranzutreiben, braucht
es die ganze Frau.
Ihre Kollegin von der Leyen ist da von einem anderen
Kaliber; das haben wir in den letzten Wochen erlebt. Um
von ihren Versäumnissen bei Hartz IV abzulenken, hat
sie flugs eine 30-Prozent-Quote für Frauen in Aufsichtsräten gefordert. Leider ist sie dann von unserer Bundeskanzlerin Merkel zurückgepfiffen worden.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bär, das Versagen der Frauenministerin kommt uns teuer zu stehen.
Denn wenn Frauen weiterhin vergebens auf gleiche Teilhabe in Wirtschaft und Gesellschaft warten müssen,
({4})
dann schwindet das Vertrauen in unsere demokratischen
Institutionen. Die Bemerkung bzw. Unterstellung der
Ministerin, wenn sich Frauen für Teilzeit entschieden,
dann sei das frei gewähltes Schicksal, fand ich ziemlich
vermessen. Das ist für viele Frauen purer Hohn.
({5})
Der Schaden, den Ihre Untätigkeit anrichtet, lässt sich
auch konkret in Cent und Euro beziffern.
({6})
Denn Frauen, die man mit Niedriglöhnen abspeist - Frau
Bär, davon haben Sie sicherlich noch nichts zu spüren
bekommen -, sind später häufig von Altersarmut betroffen. Auch die Vernachlässigung unserer gut ausgebildeten weiblichen Fachkräfte in der Wirtschaft bedeutet für
diese Wirtschaft Milliardenverluste. Man muss sich einmal hinsetzen und die Fakten genau anschauen.
({7})
Die Kosten für eine aktive und wirkungsvolle Gleichstellungspolitik wären sehr viel geringer. Deshalb kann
ich Ihnen wirklich nur noch einmal ins Stammbuch
schreiben: Lesen Sie das Gutachten! Ziehen Sie für den
ersten Gleichstellungsbericht kluge Schlüsse aus dem
Gutachten, und lassen Sie es nicht in der unteren Schublade verschwinden! Wir befürchten allerdings, dass genau das passiert. Deshalb bleibt unseren Frauen wohl nur
übrig, auf die nächste Wahl zu warten. Ich verleihe aber
meiner Erwartung und Hoffnung trotzdem noch einmal
Ausdruck und sage: Es gibt viele Frauen in der Koalitionsfraktion, die so denken wie wir. Lassen Sie uns doch
einfach einmal gemeinsam eine Initiative starten!
({8})
Die Kollegin Fischbach hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, Frau Marks, wir haben heute
eine Chance verpasst; das haben Sie gerade wieder belegt. Wenn unsere Mütter und Großmütter das Thema
Frauen und Gleichberechtigung vor 100 Jahren so angegangen hätten, dann hätten sie es, glaube ich, nicht geschafft, dass Frauen heute gleichberechtigt, selbstbewusst und eigenverantwortlich leben können.
({0})
Aber sie haben eines besser gemacht als wir. Dass wir
das heute in dieser Debatte zum Teil nicht hinbekommen
haben, stimmt mich etwas traurig; ich hätte die Chance
gern genutzt. Anstatt dass wir uns an den Stellen, an denen wir gemeinsam etwas erreichen können, gemeinsam
auf den Weg machen, schaffen wir es immer wieder, uns
gegenseitig - ({1})
- Sehen Sie, das ist genau der Punkt, Frau Humme: Ein
bisschen mehr Ruhe, den anderen ausreden lassen, ihn
respektieren, auch seine Entscheidung respektieren,
({2})
das wäre ein guter Weg.
Frau Marks, Sie haben gesagt, von alleine gehe
gleichstellungspolitisch nichts voran; da haben Sie recht.
Aber es geht auch nichts voran, wenn wir die Männer
nicht mitnehmen.
({3})
- Nicht „die Armen“, Frau Roth, das ist genau falsch.
Das ist genau der Punkt, der uns alle Möglichkeiten, die
wir haben, kaputtmacht.
Wir brauchen Mehrheiten. Wenn die Männer nicht mitziehen, können wir uns so weit aus dem Fenster lehnen,
wie wir wollen. Wir müssen die Männer mitnehmen.
Das haben unsere Großmütter und Mütter früher auch
geschafft.
({4})
Sie haben die Männer überzeugt, dass es richtig war.
Wir wollen das ja nicht, weil wir angeblich besser
sind, sondern wir haben andere Dinge zu bieten; denn
wir sehen die Dinge anders.
({5})
Wir gehen aufgrund unserer Entwicklung und Geschichte pragmatischer an die Dinge heran und treffen
Entscheidungen anders. Deswegen ist es wichtig, dass
wir davon überzeugen, dass dann, wenn Frauen mitmischen - an allen Stellen und in allen Bereichen -, bessere
Ergebnisse erzielt werden. Das gilt genauso für Aufsichtsräte und Vorstände. Alle Unternehmen, die Frauen
in der Führungsriege haben, schreiben bessere Ergebnisse.
({6})
Ich finde es wirklich schade, dass wir diese Chance
heute vertun.
({7})
Es ist ein 100. Geburtstag. An dieser Stelle sollte man
doch wirklich einmal schauen, was wir gemeinsam auf
den Weg bringen können, und nicht immer dazwischenrufen.
({8})
Es gibt Forderungen, die wir gemeinsam durchsetzen
müssen. Es ist für mich und für viele junge Frauen nicht
hinnehmbar, dass Frauen in Deutschland bei gleicher
Ausbildung und gleichwertiger Arbeit heute noch
23 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen.
({9})
Lassen Sie uns doch einmal an die Ursachen herangehen, gemeinsam Grenzen überschreiten und sagen: Das
wollen wir jetzt verändern; das ist unsere Aufgabe, die
wir gemeinsam angehen. - Ich glaube, hierfür brauchen
wir bei unseren Kollegen gar keine große Überzeugungsarbeit zu leisten.
({10})
Vielleicht müssen wir vermehrt bei den Gewerkschaften Überzeugungsarbeit leisten, die die Löhne ja auch
ausverhandeln. Wenn ich mir die dortigen Vorstandsriegen anschaue, dann muss ich ganz ehrlich sagen: Für Tarifabschlüsse sind vorrangig Männer verantwortlich.
({11})
- Sie handeln doch die Tarifverträge aus. Da müssen Sie
hier nicht den Kopf schütteln.
({12})
- Aber Boni und Sonderzahlungen. Haben Sie schon
einmal an Verhandlungen teilgenommen? Wer denkt
denn daran, dass Frauen andere Erwerbsbiografien oder
auch Erwerbsbrüche in ihrer Biografie haben?
({13})
Hier muss man doch ansetzen und dafür sorgen, dass die
Situationen anders bewertet werden.
({14})
Wie wird denn Teilzeitarbeit bei uns bewertet? Auch
hier müssen wir etwas tun. Sie sehen es doch: Sie reagieren genau so, wie man nicht reagieren sollte.
({15})
- Das ist genau der Punkt. Wenn man die Gewerkschaften auch einmal in die Pflicht nimmt, dann sagen Sie:
Die haben nichts damit zu tun, das müssen die Unternehmen machen. - Ich möchte, dass sich die Gewerkschaften nach 100 Jahren auch den Frauenfragen verpflichtet
fühlen.
({16})
Sie können 100-mal dagegenrufen; das nützt nichts. Das
sind diejenigen, die verhandeln.
Ich wünsche mir, dass auch in den Gewerkschaften
Frauen an der Spitze sind. Für andere Bereiche werden
entsprechende Forderungen aufgestellt. Warum nicht in
Bezug auf die Gewerkschaften? Wir müssen mit bestem
Beispiel vorangehen. Wir als CDU/CSU-Fraktion können das.
Die Frau Ministerin hat noch einmal deutlich gemacht
- dafür bin ich sehr dankbar -, welche gleichstellungspolitischen Erfolge unter einer CDU/CSU-Bundesregierung erzielt wurden.
({17})
Es gab Zeiten - das geben wir ehrlich zu -, in denen das
nicht das große Thema war. Da hatten wir andere Probleme, die wir lösen mussten, und das Thema trat etwas
in den Hintergrund. Das bedeutet aber nicht, dass wir das
Schiff nicht wieder gemeinsam in Fahrt und auf den Weg
bringen können.
Ich finde, wir haben eine gute Chance, gemeinsam für
Verbesserungen zu sorgen, damit die Grundsatzarbeit,
die unsere Mütter und Großmütter geleistet haben, nicht
umsonst war. Lassen Sie uns die Arbeit fortführen.
Ich möchte mit einem Auszug aus der Stellungnahme
des Katholischen Frauenbundes in Deutschland schließen, der zu seinem 100. Geburtstag geschrieben hat:
Heute nutzen wir die Möglichkeiten unserer Zeit,
um einen Neuaufbruch zu schaffen - mit dem Ge10534
wicht der hundertjährigen Geschichte im Gepäck,
mit dem Wind der hundertjährigen Geschichte im
Rücken. Morgen werden unsere Töchter dort das
fortsetzen, wozu heute die Zeit für Veränderungen
noch nicht reif war. Sie werden dies tun, wenn wir
mutig auch für jene Forderungen eintreten, die
nicht selbstverständlich Beifall finden.
Dazu lade ich Sie herzlich ein.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Schön für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die ungarische Schauspielerin Zsa Zsa Gabor
hat einmal gesagt: Wenn ein Mann zurückweicht, weicht
er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können.
({0})
Das ist ein schönes und passendes Zitat, wenn wir in
diesen Tagen den 100. Geburtstag des Weltfrauentags
feiern. Es ist ein Tag mit einer beeindruckenden und
wechselvollen Geschichte. Diese Geschichte haben wir
im Antrag der Regierungskoalition bewusst in den Vordergrund gestellt.
Liebe Kollegin Marks, Sie haben diesen guten Antrag
eben kritisiert. Ich frage mich, warum die Oppositionsparteien nicht selber einen Antrag zum 100. Jahrestag
vorgelegt haben.
({1})
Die Grünen haben einen Antrag vorgelegt, der aber
auf einen speziellen Teil des ganzen frauenspezifischen
Spektrums reduziert ist. Das finde ich sehr schade.
Wir erinnern in unserem Antrag an die Genese der
Frauenbewegung, an ihren unterschiedlichen Verlauf in
Ost und West - die Kollegin Bär hat das dargestellt und auch an die weltweite Bedeutung dieses Tages. Wir
erinnern an all die Verbesserungen für Frauen und an
diejenigen, die dazu beigetragen haben.
Wir definieren in unserem Antrag aber auch zukünftige Herausforderungen. Denn 100 Jahre Weltfrauentag
sind nicht nur ein Grund zum Feiern, sondern in erster
Linie Ansporn und Verpflichtung für die nächsten
100 Jahre.
({2})
Ich will kurz auf die Herausforderungen eingehen. Ich
sehe die Hauptherausforderung derzeit darin, in unseren
Anstrengungen nicht nachzulassen. Denn gerade weil
schon so vieles erreicht wurde, scheint das Thema vor
allem junge Menschen nicht sonderlich zu interessieren.
Studien bestätigen das.
Fragt man 20-jährige Frauen und Männer nach ihrer
Meinung zur Gleichstellung, wie es in der Sinus-Studie
der Fall war, so stellt man fest, dass sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass sie gleiche Chancen haben. Bei genauer Nachfrage werden die Unterschiede im
Rollenverständnis und in den Lebensentwürfen jedoch
sehr wohl erkennbar. Dabei wird deutlich: Gleichberechtigung ist noch längst nicht in allen Köpfen angekommen. Das ist aber notwendig. Denn nur dann, wenn sich
im Denken etwas ändert, wird sich auch in der Praxis etwas ändern. Umgekehrt gilt: Nur dann, wenn sich in der
Praxis etwas tut, wird sich auch im Denken etwas ändern.
Dass es in der Praxis Nachholbedarf gibt, ist deutlich
geworden. Die einzelnen Punkte sind heute Nachmittag
oft genug genannt worden: Frauen in Führungspositionen, in der Wissenschaft und in den Hochschulen, in den
Medien, sowohl aktiv als auch passiv - das ist noch nicht
angesprochen worden -, aber auch die politische Partizipation auf allen Ebenen. In all diesen Bereichen schlummern noch große Potenziale. Dabei geht es nicht darum,
wie Herr Ackermann vielleicht glaubt, etwas farbiger
und schöner zu machen, sondern es soll schlicht und einfach fairer und besser gemacht werden.
({3})
Das Thema ist nach wie vor aktuell. Es besteht nach
wie vor Handlungsbedarf, was das Denken und die Praxis angeht. Ich wünsche mir, dass der Weltfrauentag in
diesen Tagen dem Ganzen neuen Schwung gibt, und
zwar mit Ihrer aller Unterstützung.
Wir sollten am 8. März unser Augenmerk allerdings
nicht nur auf die Frauen als Gestalterinnen richten, sondern auch auf die Verbrechen, die ihnen angetan werden.
Tagtäglich werden Frauen misshandelt, missbraucht und
zum Verkauf ihres Körpers gezwungen. Um diesen
Frauen zu helfen, gibt es viele Hilfsorganisationen und
Angebote. Ich denke, auch der 100. Weltfrauentag ist
eine gute Gelegenheit, um all den Menschen, die sich für
diese Frauen einsetzen, ein Wort des Dankes zu sagen.
({4})
Auch auf internationaler Ebene bestehen noch große
Herausforderungen. Weltweit werden Frauen als Mittel
der Kriegsführung vergewaltigt. Bei Kriegen und Katastrophen sind gerade Frauen die Hauptleidtragenden.
Man muss aber auch sehen, dass es gerade die Frauen
sind, die in von Kriegen und Naturkatastrophen zerrütteten Ländern die Gesellschaft zusammenhalten. Es sind
die Frauen, die Aufbauarbeit, Versöhnungs- und Zukunftsarbeit leisten. Es sind starke Frauen in den Entwicklungsländern und Krisenregionen, die am heutigen
Nadine Schön ({5})
Tag besonders unseren Respekt und unsere Solidarität
verdienen.
Gerade in diesen Tagen haben wir es tagtäglich vor
Augen: In Tunesien, Ägypten und Libyen werden wir
Zeugen einer nie für möglich gehaltenen Demokratisierungsbewegung. Dabei marschieren häufig die Frauen
vorweg. Es sind mutige Frauen, denen am Weltfrauentag
unsere Solidarität gilt.
({6})
Ich freue mich, dass wir in diesen Tagen und auch zukünftig intensiv über diese Themen diskutieren können.
Ich bin stolz darauf, den 100. Jahrestag des Weltfrauentags mit Ihnen und all den Frauenverbänden und -organisationen sowie den Gleichstellungsbeauftragten, die in
diesen Tagen in Berlin tagen, und natürlich mit allen
Frauen feiern zu können. Ich sage: Happy Birthday, auf
die nächsten 100 Jahre und darauf, dass wir Frauen in
diesen 100 Jahren noch oft zurückweichen, allerdings
nur um Anlauf zu nehmen!
Danke.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/4860 mit dem Titel „100 Jahre Internationaler Frauentag“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
({0})
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/4846 und 17/4852 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Bettina Herlitzius, Friedrich Ostendorff,
Undine Kurth ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs Beschränkung der Massentierhaltung im Außenbereich
- Drucksache 17/1582 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({2})
- Drucksache 17/4724 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir später namentlich über diesen Gesetzentwurf abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich würde gern die Aussprache eröffnen, werde das
aber erst tun, wenn all diejenigen, die an dieser Debatte
teilnehmen wollen, einen Sitzplatz gefunden haben und
alle anderen ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaales
fortsetzen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Götz für die Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesem Jahr
wollen wir das Baugesetzbuch anpassen und die Baunutzungsverordnung ändern. Dabei geht es vor allem darum, den Klimaschutz stärker zu verankern, den Vorrang
der Innenentwicklung zu stärken und die Genehmigungsverfahren weiter zu entbürokratisieren. Das ist
nichts Neues, sondern steht so in der Koalitionsvereinbarung. Es macht allerdings wenig Sinn, Woche für Woche
jede einzelne Bestimmung im Baugesetzbuch oder in der
Baunutzungsverordnung kleckerweise hier im Plenum
auf die Tagesordnung zu setzen.
({0})
Es ist purer Aktionismus, wenn die Grünen ständig
neue Einzelanträge zum Bauplanungsrecht produzieren.
Heute ist es der Außenbereich nach § 35 des Baugesetzbuches. Einmal geht es um die Spielhallenproblematik in
der Baunutzungsverordnung, ein anderes Mal um Kinderlärm in Wohngebieten.
({1})
Hierzu ändern wir übrigens gerade das Bundes-Immissionsschutzgesetz. Außerdem haben wir erklärt, dass wir
zusätzlich die Baunutzungsverordnung ändern werden,
um Rechtssicherheit zu schaffen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, machen Sie konstruktiv mit, wenn wir wie vorgesehen das
Bauplanungsrecht insgesamt novellieren! Lassen Sie
einfach diese Spielchen mit Einzelanträgen! Sie verwirren damit nur die Leute vor Ort, die mit dem Baugesetzbuch wirklich arbeiten müssen.
({3})
Das Gesetzgebungsverfahren für das gesamte Bauund Planungsrecht wird gründlich vorbereitet. Ich begrüße, dass das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung das Deutsche Institut für Urbanistik
damit beauftragt hat, eine Reihe von Expertengesprächen mit dem Titel „Berliner Gespräche zum Städtebaurecht“ durchzuführen. Auf diesem Weg konnten
frühzeitig Erfahrungen von Experten, und zwar aus der
Wissenschaft und der Praxis vor Ort, gewonnen werden.
Es war auch selbstverständlich, dass die kommunalen
Spitzenverbände ebenso frühzeitig in dieses Verfahren
eingebunden waren. Die durchgeführte Auswertung ist
eine ausgezeichnete Grundlage für die anstehende Novellierung des Baugesetzbuchs und der Baunutzungsverordnung.
({4})
Diese Auswertung bestätigt nochmals, dass sich das
geltende Bau- und Planungsrecht dem Grunde nach bewährt hat. Es wird in den Städten und Gemeinden in hohem Maße akzeptiert. Deshalb sind - auch das sage ich
an dieser Stelle - revolutionäre Veränderungen nicht zu
erwarten. Vielmehr wird es im Wesentlichen darum gehen, die bestehenden Planungsinstrumente weiterzuentwickeln und fortzuschreiben. Dabei ist auch klar, dass
wir die Belange des Klimaschutzes und die Anpassungen an den Klimawandel als dauerhafte Zukunftsaufgabe
der Städte und Gemeinden stärker verankern werden.
Klimaschutz hat vor allem eine städtebauliche Dimension. Ihm können die Gemeinden bei ihren Vorgaben zur
örtlichen Bodennutzung Rechnung tragen.
Wir wollen im Bau- und Planungsrecht den Bereich
der Entwicklung von Windenergie an Land angemessen
regeln. Dies entspricht übrigens den Grundzügen unseres bereits beschlossenen Energiekonzepts. Konkret geht
es dabei um die Absicherung des Ersatzes alter durch
neue Windenergieanlagen. Davon sind sowohl Anlagen
im Bebauungsplangebiet als auch im Außenbereich betroffen. Wenn wir über Änderungen in Bezug auf den
Außenbereich nachdenken, sind wir ganz schnell bei der
privilegierten landwirtschaftlichen Nutzung, mit der wir
uns ebenfalls auseinandersetzen müssen.
Wir wissen sehr wohl, dass die Ansiedlung von Anlagen der Intensivtierhaltung im planungsrechtlichen Außenbereich in bestimmten Regionen stark zugenommen
hat. Dies führt vor Ort zu entsprechenden Nutzungskonflikten in den Gemeinden. Deshalb war dieses Problem
auch Thema der eingangs von mir zitierten „Berliner
Gespräche zum Städtebaurecht“. Dort war man überwiegend der Auffassung, dass die Kommunen nach der geltenden Rechtslage über eine Reihe von bauplanungsrechtlichen Steuerungsinstrumenten verfügen, um mit
den Nutzungskonflikten umgehen zu können.
Die Kommunen haben heute einen ganzen Instrumentenkasten, aus dem sie das Passende für ihre Gemeinde
auswählen können, von der Aufstellung eines einfachen
Bebauungsplanes für den Außenbereich nach § 30 Baugesetzbuch über die Aufstellung mehrerer Bebauungspläne, die den Außenbereich der Gemeinde ganz oder
teilweise erfassen, bis zur Ausweisung von Sondergebieten in Bebauungsplänen für gewerbliche Tierhaltungsbetriebe. Im letztgenannten Fall würde außerhalb dieser
Gebiete in der jeweiligen Gemeinde der gesamte Privilegierungstatbestand nicht mehr greifen. Das heißt, ein geplantes Bauvorhaben muss unter Hinweis auf das Sondergebiet nicht mehr genehmigt werden.
Es gibt also vor Ort viele Möglichkeiten, mit dieser
Problematik umzugehen. Sie muss allerdings auch genutzt werden. Die Entscheidung darüber treffen nicht
wir hier in Berlin, sondern ausschließlich die Gemeinden
in Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten,
({5})
und das ist auch in Ordnung. Sie tun dies im Rahmen ihrer kommunalen Planungshoheit.
({6})
Meines Wissens sind zum Beispiel im Landkreis
Emsland gegenwärtig mehrere Gemeinden dabei, mit
den Instrumenten der geltenden Bauleitplanung die Entwicklung größerer Anlagen zur Haltung von Tieren zu
steuern.
({7})
Unabhängig davon werden wir dieses Thema mit in die
Beratungen zum Baugesetzbuch aufnehmen, und werden, wenn notwendig, auch eine Lösung finden. Es ist
unsere politische Aufgabe, im parlamentarischen Verfahren das Für und Wider sorgfältig abzuwägen. Ich
kann Ihnen versichern: Das werden wir auch tun.
({8})
Wichtig ist uns, dass wir uns nicht nur mit dem Außenbereich beschäftigen, sondern auch mit der Innenentwicklung. Innenstädte und Ortskerne sind die Schlüssel
für eine gute Stadtentwicklung. Dort findet die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger statt. Innenstädte und
Ortskerne dienen der Versorgung und sind der kulturelle
und gesellschaftliche Mittelpunkt - auch wenn Ihnen das
offensichtlich nicht gefällt. Urbanität und Baukultur setzen den qualitativen Anspruch für eine positive und attraktive Kommune, in der man gerne lebt. Unser Ziel ist,
diese Entwicklung im Inneren zu stärken und die Neuinanspruchnahme von Flächen auf der grünen Wiese
weitgehend zu vermeiden.
2006 haben wir mit dem Gesetz zur Erleichterung von
Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte
eine Reihe von Instrumenten für die Stärkung der Innenentwicklung geschaffen. Nun wollen wir sowohl im
Baugesetzbuch als auch in der Baunutzungsverordnung
weitere Verbesserungen für die Kommunen im Interesse
der Kommunen vornehmen. Schließlich wollen wir Planungs- und Genehmigungsverfahren weiter beschleunigen. Das wird zu Kostenentlastungen führen.
Beim Bau- und Planungsrecht hat sich seit Jahrzehnten bewährt, notwendige Änderungen sorgfältig vorzuPeter Götz
bereiten. Dies ist durch die frühzeitige Einbindung von
Experten und Kommunen geschehen. Die im November
vergangenen Jahres vorgestellten Ergebnisse der Gespräche zum Städtebaurecht sind eine ausgezeichnete Grundlage, auf der aufgebaut werden kann. Im Namen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion danke ich dafür Bauminister Dr. Peter Ramsauer und allen daran Beteiligten.
({9})
- Man kann auch jemandem danken, der nicht hier ist,
Herr Kollege.
Im Planungsrecht ist es eine gute Tradition, mit ausgewählten unterschiedlichen Städten, Gemeinden und
Kreisen zur Vorbereitung des Gesetzgebungsverfahrens
die Auswirkungen der beabsichtigten Änderungen in
Planspielen zu erproben. Das ist besser als irgendwelche
Schnellschüsse.
Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir das Bau- und
Planungsrecht nicht gestückelt, sondern im Zusammenhang beraten und in diesem Jahr zum Abschluss bringen.
Das ist für die, die in den Kommunen damit arbeiten
müssen - davon bin ich fest überzeugt -, der bessere
Weg. Deshalb lehnen wir den Einzelantrag zu § 35 des
Baugesetzbuches ab.
Ich lade alle Fraktionen dazu ein, aktiv an der Weiterentwicklung des Baugesetzbuches und der Baunutzungsverordnung mitzuwirken. Dann werden wir gemeinsam
ein gutes Ergebnis erzielen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Zahl der Vegetarier in Deutschland hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vervielfacht. Sicherlich ist es die
Aufgabe der Ernährungsforschung, herauszufinden, woran das liegt. Es ist nicht auszuschließen, dass es nicht
nur an dem einen oder anderen Essen liegt, das einem
einfach nicht schmeckt, sondern auch an dem Wissen
darüber, wie Tiere gehalten werden. Wer kennt nicht die
Berichte über die Haltungsbedingungen von Geflügel,
Schweinen und anderen Tieren zur Nahrungsproduktion,
und wer war davon nicht schon einmal schockiert und
abgestoßen?
Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland fragen immer kritischer danach, wie Tiere gehalten
und wie Fleisch und Geflügel produziert werden. Diese
Fragen drängen sich auf. Die Bundespolitik darf nicht
wegschauen, insbesondere deshalb nicht, weil immer
wieder Lebensmittelskandale öffentlich werden.
({0})
Wer Fleisch und Geflügel in Deutschland isst, soll als
Verbraucher nicht nur sicher sein, dass es nicht verseucht
oder vergiftet ist, sondern auch wissen, dass die Tiere
artgerecht gehalten werden. Dafür setzt sich die SPDBundestagsfraktion ein.
Nach unserer Auffassung stehen nicht zuletzt tierschutzrechtliche Regelungen im Mittelpunkt der Betrachtungen. Sie können und müssen weiter verbessert
werden. Eine baurechtliche Regelung allein löst das Problem nicht.
({1})
Beispielsweise bedarf die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung dringend einer Überarbeitung. Das haben
auch Fachgespräche am heutigen Tage noch einmal belegt. Das ist seit langem eine Forderung von uns. Diese
Forderung muss erfüllt werden.
Bereits seit mehreren Jahren entstehen immer mehr
und immer größere Tiermastanlagen in Deutschland;
weitere sind geplant und stehen vor der Realisierung.
Wir alle kennen die Probleme im Land Niedersachsen.
Dort werden mehr als 5 Millionen Puten, also etwa zwei
Drittel der Puten in Deutschland, gehalten. Dort werden
57 Millionen Hühner - das sind 50 Prozent der Masthühner in Deutschland - gehalten. Die riesigen und immer
größer werdenden Anlagen müssen kontrolliert und besser überwacht werden. Dazu gehört auch - das fordern
wir ebenso - die Einführung eines Tierschutz-TÜV;
denn wir als Verbraucher wollen, dass Tiere ordentlich
und artgerecht gehalten werden.
({2})
Zur Wahrheit gehört auch: Die Tierproduktion ist ein
gewaltiger Markt mit hohen Umsätzen und vielen Arbeitsplätzen. Es liegt an uns, einen Weg zu finden, um
Tierschutz und Nahrungsmittelproduktion in Einklang
zu bringen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Lösung dieser Problematik im Baugesetzbuch sucht. Beabsichtigt ist eine Regelung, nach der künftig für Massentieranlagen im
Außenbereich keine Privilegierung mehr möglich sein
soll.
({3})
Der Gesetzentwurf greift allerdings - hier verweise ich
auf meine Eingangsausführungen - die Problematik der
Massentierhaltung nur einseitig auf.
({4})
Fragen des Tierschutzes, der Kontrollen und der
Hygiene werden nicht thematisiert. Dazu gibt es in diesem Gesetzentwurf keine Lösungsansätze.
({5})
Es greift aber zu kurz, sich dem Thema lediglich baurechtlich zu nähern.
({6})
Der Gesetzentwurf enthält zudem eine juristische Unschärfe, die in der Rechtsanwendung eher zur Verwirrung führt, als dass damit Klarheit geschaffen wird. Was
meinen Sie denn mit dem Satz:
Ein Vorhaben, das der Tierhaltung dient und nicht
nach Satz 1 Nr. 1
- des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch zugelassen werden kann, ist in der Regel auch nicht
nach Satz 1 Nr. 4 zulässig.
Was bedeutet diese Regelung? Diese Formulierung öffnet der subjektiven Auslegung Tür und Tor und führt
nicht dazu, dass die von vielen nachvollziehbar kritisierte Massentierhaltung im Außenbereich beendet wird.
Ihr Gesetzentwurf spricht in der Überschrift selbst lediglich von einer Beschränkung der Massentierhaltung
im Außenbereich. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird dann auch richtigerweise ausgeführt - ich zitiere -,
dass die vorgeschlagene Regelung nicht zu einem
Totalverbot der Massentierhaltung führt. Vielmehr
kann diese auch in Zukunft insbesondere dort zulässig sein, wo die Gemeinden entsprechende bauleitplanerische Entscheidungen treffen.
Das ist aber bereits nach geltender Rechtslage weitestgehend möglich.
({7})
Die Zielgenauigkeit und die praktische Wirksamkeit
Ihres Vorschlages zur Ergänzung des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch werden nicht nur von Mitgliedern der SPDBundestagsfraktion hinterfragt, sondern auch von unabhängigen Fachexperten. Hinzu kommt: Die Positionen
der Länder sind in dieser Frage ebenfalls unterschiedlich. In einigen Ländern werden hygienerechtliche Vorschriften diskutiert und in den Bundesrat eingebracht;
hier erinnere ich an den Vorschlag von Nordrhein-Westfalen. Andere Länder lehnen eine Änderung des § 35
Baugesetzbuch hinsichtlich der Problematik der Massentierhaltung im Außenbereich jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab.
In der Tat gibt es auch heute schon baurechtliche
Möglichkeiten, um die Ansiedlung von gewerblichen
Tierhaltungsanlagen zu steuern. Hierzu gehören die Aufstellung von Bauleitplänen oder die Ausweisung von geeigneten Standorten für solche Anlagen im Flächennutzungsplan.
Im Kern geht es aber nicht darum, Anlagen generell
zu verhindern, sondern Standorte dort zu planen, wo sie
verträglich sind. Das muss der baurechtliche Ansatz
sein. Diesem baurechtlichen Ansatz verschließt sich die
SPD-Bundestagsfraktion nicht. Darüber hinaus - das
will ich noch einmal unterstreichen - bedürfen tierschutzrechtliche Regelungen, insbesondere das Tierschutzgesetz und weitere Verordnungen, in unterschiedlichen Bereichen einer dringenden Klarstellung.
({8})
Die Widersprüche, die hier existieren, müssen gelöst
werden. Das ist aber mit einer Änderung des § 35 Baugesetzbuch nicht möglich.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, es
gibt auch nicht die Alternative, Tierhaltungsbetriebe statt
im Außenbereich im Innenbereich anzusiedeln. Das ist,
so denke ich, auch nicht streitig. Diese Alternative stellt
sich nicht; denn schon zur Vermeidung von Verkehr ist
es notwendig, Tierhaltungsanlagen in der Nähe von
landwirtschaftlichen Betrieben anzusiedeln, in denen
Futter produziert und Gülle unschädlich abgefahren werden kann.
Ich möchte auf Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
vom Bündnis 90/Die Grünen, zugehen und Sie zu einer
Diskussion einladen, in der es darum geht, wie wir ein
besseres Steuerungsinstrument im Planungsprozess für
die Errichtung von Anlagen der Massentierhaltung finden können.
({10})
- Wir wollen nicht jahrelang diskutieren. Eine solche
Regelung muss kommunalfreundlich sein und darf die
Möglichkeiten der Gebietskörperschaften nicht übersteigen.
({11})
Eine solche Regelung, wie ich sie hier angemahnt
habe, muss kommunalfreundlich sein, und sie muss sowohl baurechtliche Aspekte lösen wie auch Erfordernisse der spezialgesetzlichen Regelungen einbeziehen.
Die SPD-Bundestagsfraktion enthält sich bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf,
({12})
weil mit diesem Gesetz die Balance zwischen den notwendigen Verbesserungen im Tierschutz und den Möglichkeiten zur Lebensmittelproduktion nicht hergestellt
wird. Der Gesetzentwurf enthält Unschärfen - ich hatte
darauf hingewiesen - mit dem Begriff „in der Regel“,
mit denen wir dem Lösungsziel nicht näher kommen.
Damit ist das Thema aber für uns längst nicht beendet.
Die Diskussion über die baurechtlichen Aspekte muss
fortgesetzt werden.
Ich greife an dieser Stelle das Ergebnis der Berliner
Gespräche zur Novelle des Baugesetzbuches auf; Herr
Götz, Sie hatten das schon angesprochen. Das wird in
der SPD-Bundestagsfraktion ernsthaft diskutiert. Wir
werden die Vorlagen in den weiteren Diskussionsprozess
einfließen lassen. Unter den Experten gab es bei dieser
Diskussion zum Thema Massentierhaltung keine einheitliche Auffassung dahin gehend, dass eine Änderung des
§ 35 Baugesetzbuch notwendig ist. Die Experten haben
gesagt, das bedarf einer ernsthaften Prüfung. Ich sage es
noch einmal: Die SPD-Bundestagsfraktion verschließt
sich solchen Überlegungen nicht. Wir müssen aber justiziable Regelungen finden, die nicht zu mehr Unklarheit
führen, als bisher besteht, und es den Kommunen ermöglichen, hier effektiver zu arbeiten.
({13})
Der Ort für weitere Diskussionen sind die Beratungen
über die bevorstehende Novelle des Baugesetzbuches.
Herr Scheuer, ich fordere Sie als Staatssekretär auf, die
Erkenntnisse aus den genannten Berliner Gesprächen
und aus weiteren Expertengesprächen, die Sie in Ihrem
Hause ja durchgeführt haben, dem Parlament zugänglich
zu machen. Wir wollen, dass wir jetzt zu konkreten Lösungen kommen.
Ich plädiere dafür, dass wir darüber eine sachliche
Diskussion führen - hier in Berlin, aber auch in den
Wahlkreisen. Damit meine ich insbesondere, dass wir
diese Diskussion fair führen und in den Wahlkreisen den
Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr versprechen als
das, was wir hier schon gemeinsam als richtig erkannt
haben und als Lösungsmöglichkeit ansehen.
({14})
Notwendig ist, alle Fragen zur Änderung des Baugesetzbuches wie in den letzten Jahren oder gar Jahrzehnten im Paket zu beleuchten, und nicht, über Einzelanträge oder einzelne Gesetzentwürfe das Thema zu
zerfasern. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion stehen
einer Diskussion über die Massentierhaltung, ihrer Begrenzung und rechtlichen Reglementierung - das will ich
noch einmal unterstreichen - offen gegenüber, meinen
aber auch, dass weitere Regelungen in § 35 - ich denke
insbesondere an Abs. 1 Nr. 6 über Biogasanlagen - ebenso
in die Prüfung einbezogen werden sollten. Ich lade Sie
zu einer solchen Diskussion ein.
Ich glaube, die Begründung, warum wir uns bei der
Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten - dabei haben wir uns ja insbesondere auf die juristischen
Unschärfen bezogen -, ist überzeugend rübergekommen.
Ich werbe auch bei den Grünen um Verständnis
({15})
und bitte sie, sich auf den Weg der Diskussion mit den
anderen Fraktionen in diesem Haus zu begeben.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Kollegin Petra Müller für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ihrem Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen, erzeugen Sie zunächst einen Widerspruch:
einen Widerspruch zwischen dem landwirtschaftlichen
Raum einerseits und der industriellen Fleischproduktion
auf der anderen Seite. Hier eine krasse Grenze zu konstruieren, macht für uns Liberale keinen Sinn. Pflanzlicher Anbau, Tierhaltung, traditioneller extensiver Bauernhof oder Intensivtierhaltung - das alles sind wichtige
und notwendige Bestandteile einer modernen und differenzierten Landwirtschaft.
({0})
Wir Liberale stehen zu allen,
({1})
zu den Unternehmen, zu den Einzelbauern, zu den Angestellten und auch zur modernen intensiven Tierhaltung.
Diese ist notwendig,
({2})
weil der Fleischkonsum in Deutschland seit den 50erJahren kontinuierlich gestiegen ist. Gleichzeitig ist die
Fleischwarenindustrie ein erfolgreicher mittelständischer Wirtschaftszweig. Mit Ihrer grünen Propaganda
zum „traditionellen kleinbäuerlichen Betrieb“ ist keines
von beidem machbar:
({3})
Weder die Erzeugung sozialverträglich preiswerter Lebensmittel noch ein Wirtschaftszweig mit 85 000 Beschäftigten in der Fleischproduktion ist damit möglich.
({4})
Für beides steht die christlich-liberale Koalition. Wir setzen uns für jeden Arbeitsplatz in diesem Berufszweig
ein.
({5})
Petra Müller ({6})
Worum geht es in Ihrem Gesetzentwurf? Sie wollen
die Abschaffung der Intensivtierhaltung durch die Hintertür Baugesetzbuch erreichen.
({7})
Denn eines ist klar: Ihr Vorschlag macht Genehmigungen fast unmöglich. Sie gefährden Arbeitsplätze im Mittelstand, und Sie sorgen dafür, dass in Deutschland die
Lebensmittelversorgung keinerlei Perspektive hat. Das
werden wir nicht zulassen.
({8})
- Super!
Aus Sicht der Stadtplanung sind Eingriffe in Genehmigungsverfahren nicht notwendig. Die Kommunen haben heute schon Möglichkeiten, die Errichtung von Tierhaltungsanlagen zu beeinflussen: entweder auf dem Weg
der Bauleitplanung oder durch das Versagen des Einvernehmens im Rahmen des Genehmigungsverfahrens.
Gerade von dem zweiten Fall fühlen sich viele Kommunen abgeschreckt, weil sie Haftungsprobleme sehen.
Dieses Problem ist bekannt und nicht neu. Hier würde
ich mit Ihnen gemeinsam eine Lösung suchen. Der Kollege von der SPD hat schon angedeutet, dass er diskussionsbereit ist.
({9})
- Danke, ich weiß. Aber er hat sich umgedreht und hört
mir im Moment nicht zu. Das finde ich nicht nett. Ein
schöner Rücken kann zwar entzücken, aber nicht immer.
({10})
Wir können in diesem Hause zum Beispiel über stärker spezifizierte Planungsvorbehalte bei der gewerblichen Tierhaltung diskutieren. Wir können auch über Zurückstellungen nach § 15 Abs. 3 Baugesetzbuch und
über die Verlängerung der Jahresfrist nachdenken. All
das können wir sicher tun.
({11})
Wenn Sie Tierschutz wollen, dann muss es konsequente
Regeln, hohe Standards und Kontrollen geben. Da können wir zusammenarbeiten. Aber städtebaulich mithilfe
des Baugesetzbuches Tierethik zu steuern, das kann
nicht sein.
({12})
Sie können damit keinen Skandal wie den Dioxinskandal
verhindern.
({13})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Sie müssen sich in die Pflicht nehmen lassen.
({14})
Genehmigungsverfahren sind vor allem dazu da, Projekte, Investitionen und unternehmerisches Handeln zu
ermöglichen, nicht zu verhindern.
({15})
Ich muss noch eines sagen: Packen Sie bitte die Fachpolitiker aus und die Wahlkämpfer ein. Sie sind eine
Verhinderungspartei. Deshalb lehnt die FDP Ihren Gesetzentwurf ab.
({16})
Das Wort hat nun Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Dann läute ich jetzt mal die Runde
der Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker aus dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ein.
({0})
Wir beraten heute abschließend den Gesetzentwurf
von Bündnis 90/Die Grünen zu dem Bereich Massentierhaltung. Sie wollen eine Einschränkung der Privilegierung von forstwirtschaftlichen und landwirtschaftlichen
Betrieben.
({1})
Ihre Intention ist vollkommen nachvollziehbar. Ich
möchte ganz klar sagen, dass wir von der Linken diese
Intention unterstützen.
({2})
Ich muss aber dennoch einschränkend sagen, dass ich
Ihren Gesetzentwurf als Etikettenschwindel empfinde;
denn er hält nicht das, was er verspricht. Im Titel Ihres
Gesetzentwurfs steht unter anderem „Beschränkung der
Massentierhaltung im Außenbereich“. Damit ergibt sich
für mich schon die erste ungeklärte Frage: Was ist Massentierhaltung? Wir haben derzeit keine klare Definition
für Massentierhaltung. Diesen Begriff müssen wir aber
klären, wenn wir diesbezüglich etwas ändern wollen. Sie
drücken sich in Ihrem Gesetzentwurf aber um die Definition des Begriffs Massentierhaltung.
({3})
Sie sprechen nur davon, dass die Tierhaltung „ihrer Produktionsweise nach eine landwirtschaftstypische“ sein
muss. Aber was bedeutet das genau?
({4})
Ich gebe ein Beispiel. Ist ein Ökobetrieb mit 30 000 Legehennen in einer Stallanlage - solche Anlagen gibt es
schon, zum Beispiel im brandenburgischen Wittstock schon eine Massentierhaltung, die man aber akzeptieren
könnte, weil sie unter ökologischen Gesichtspunkten betrieben wird?
In vielen Regionen gibt es eine sehr große Anzahl
landwirtschaftlicher Betriebe mit nach heutigen Maßstäben intensiver Tierhaltung - allerdings in kleiner Dimension. Ein weiteres Beispiel: In einem Dorf in Westfalen
gibt es zehn Betriebe mit jeweils 2 000 Mastschweinen.
In dem Ort gibt es dann 20 000 Mastschweine. Nach Annahme der Grünen fällt das wohl nicht unter Massentierhaltung, da es sich um einzelne landwirtschaftliche Betriebe - aber in einem einzigen Ort - handelt.
({5})
Wenn es nur ein Betrieb mit 20 000 Schweinen wäre,
wäre das Massentierhaltung, obwohl die Zahl der
Schweine in beiden Fällen gleich wäre.
({6})
Wir müssen die Massentierhaltung definieren, um sie
vor Ort regeln und verbieten zu können. Es ist aber für
uns von der Linken nicht nur eine rein quantitative
Frage, sondern auch eine qualitative Frage.
({7})
Deshalb geht das meiner Ansicht nach nicht über das
Baurecht, sondern zum Beispiel über Regelungen zu
Emissionen, zu Haltungsformen der Tiere, zu ökologischen und kulturellen Auswirkungen und auch zu den
Arbeitsbedingungen.
({8})
Industrielle Tierhaltung ist keine Frage des Baugesetzbuches, sondern Ergebnis eines marktradikalen Denkens
und eines Willens zur Profitmaximierung des Kapitals.
({9})
Produktionskosten werden - auf Kosten der Tiere, der
Umwelt und des Menschen - auf das absolute Minimum
gedrückt. Deshalb ist auch die Linke gegen die Industrialisierung und Konzentration von Tierhaltung.
({10})
Ihr Antrag taugt aber nicht, das zu verhindern; denn
Sie täuschen das nach außen nur vor. Selbst Sie schreiben in der Begründung:
Hinzuweisen ist darauf, dass die vorgeschlagene
Regelung nicht zu einem Totalverbot der Massentierhaltung führt.
Und weiter:
Vielmehr kann diese auch in Zukunft insbesondere
dort zulässig sein, wo die Gemeinden entsprechende bauleitplanerische Entscheidungen treffen.
Diese Feststellung beschreibt für mich aber schon das
nächste gravierende Problem, das ich in diesem Antrag
sehe. Sie wollen den Gemeinden bei der Ansiedlung von
großen Einheiten der Tierhaltung mehr Spielraum einräumen. Dabei verkennen Sie allerdings meiner Meinung nach folgende Gefahr: Wie wollen Sie denn verhindern, dass sich Betriebe, deren Bauten man im
Außenbereich dann nicht mehr haben will, in Gewerbeund Industriegebieten ansiedeln? Angesichts der chronisch leeren Kassen der Kommunen bin ich mir sicher,
dass sich genügend Gemeinden finden werden, die noch
Industrie- oder Gewerbegebiete haben, in denen Platz
ist.
Die Massentierhaltung insgesamt können wir dadurch
aber nicht verhindern. Das Einzige, was eventuell passiert, ist, dass die Genehmigungsverfahren länger dauern; aber es wird eben nicht verhindert. Statt im Baurecht sind unserer Meinung nach rechtliche Regelungen
im Bereich der Bürgerbeteiligung, des Naturschutzes
und vor allem des Emissionsschutzes gefragt, um konzentrierter industrieller Tierhaltung ein Ende zu setzen
und unsere Nahrungsmittelproduktion wieder enger an
die Natur zu koppeln.
({11})
Was noch viel entscheidender ist: Wir brauchen
- zum Nutzen für Tiere, Umwelt und Menschen - einen
grundlegenden Ideologiewechsel in der Agrarpolitik.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Friedrich Ostendorff für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der § 35 des Baugesetzbuches mit der Privilegierung der Landwirtschaft im Außenbereich ist ein sehr
gutes planerisches Instrument. Er schützt den Außenbereich vor Zersiedelung und planloser Bebauung. Es gibt
jedoch durch den Ausnahmetatbestand in Abs. 1 Nr. 4
seit 1983 unter anderem die Möglichkeit der gewerblichen Tierhaltung - nur darum geht es - ohne Flächen10542
bindung. Dies führte in den letzten Jahren oftmals zu
krassen Fehlentwicklungen
({0})
beispielsweise durch Schweinemäster, die ihre Flächen
hinsichtlich der Anzahl der Schweine bis zum Letzten
ausgereizt haben. Als Bauernhof unterliegen sie der Flächenbindung.
Sie bauen - oftmals viele Hundert Meter vom Hof
entfernt in die freie Landschaft - 40 000er-Hühnchenställe - 22 Hühnchen, je 1,6 Kilogramm schwer, auf einem Quadratmeter - und weitere Schweineställe nach
§ 35 Abs. 1 Nr. 4 gewerblich expansiv obendrauf. Allein
900 dieser 40 000er-Hühnchenställe sind bundesweit
noch in der Planung. Die Nr. 4 des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch wurde 1983 nicht für solche Massenställe
geschaffen, sondern für Anlagen, die nur in atypischen
Fällen - wie Kompostanlagen - in den Außenbereich gehören. Herr Hacker, wir brauchen deshalb eine Änderung des § 35 Abs. 1 Baugesetzbuch, um klarzustellen,
dass die gewerbliche Massentierhaltung nicht zu den privilegierten Vorhaben beim Bauen im Außenbereich gehört.
({1})
Drei Motive leiten unseren Antrag:
Erstens. Massentierhaltungen haben nichts mit Bauernhöfen zu tun.
({2})
Diese Anlagen ohne eigene Futterfläche und ohne eigene
Fläche für Gülle- und Mistverbringung dürfen im Außenbereich nicht genehmigungsfähig sein. Tierhaltung
muss an die Fläche des Bauernhofes gebunden sein.
({3})
Zweitens. Die Riesenställe sind eine erhebliche Belastung für Tier, Umwelt und Natur und zerstören ganze
Landschaften.
Drittens. Die Großtierhaltungsanlagen produzieren
massive Ammoniakemissionen, Ausscheidungen wie
Bioaerosole und Gerüche. Sie beeinträchtigen die Lebensqualität und Gesundheit der Anwohner und Nachbarn.
Herr Götz, die Bürgerinnen und Bürger wollen das
nicht mehr hinnehmen. Sie engagieren sich landauf,
landab in Hunderten von Bürgerinitiativen. Während der
Grünen Woche haben über 20 000 Menschen ihren Protest auf einer vom Netzwerk „Bauernhöfe statt Agrarfabriken“ organisierten Demo unter dem Motto „Wir haben es satt!“ nach Berlin getragen. Hier sind wir alle
gemeinsam gefordert.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bürgerinnen und
Bürger wollen wissen, wie wir den Fehlentwicklungen
auf dem Lande begegnen wollen. Wenn wir jetzt nicht
die Bremse ziehen, wird die freie Landschaft, die wir für
die Artenvielfalt und Naherholung so schätzen und brauchen, zum landwirtschaftlichen Gewerbegebiet.
Herr Götz, die Kommunen sind absolut machtlos: Es
gibt keine Regelungsmechanismen für die Kommunen.
Die Werkzeuge der Kommunen sind stumpf, ihre Anwendung ist aufwendig und kostenintensiv.
({5})
In der letzten Woche konnte ich im münsterländischen
Billerbeck mit der Baudezernentin und der Bürgermeisterin sprechen. Wir haben uns angesehen, was es bedeutet,
in Billerbeck Gewerbebetriebe anzusiedeln, und welche
Planungsprozesse dabei in Gang gesetzt werden: bürgerfreundlich, langfristig angelegt, mit allen abgestimmt.
Bei der Massentierhaltungsanlage, die 300 Meter von der
Molkerei entfernt steht, hat die Kommune keine Möglichkeit, einzugreifen.
({6})
Die Anlage steht im Landschaftsschutzgebiet, oben auf
dem Berg; jeder in der Gemeinde sieht sie, denn sie ist
von überall einzusehen. Hier ist die Kommune machtlos;
der Investor hat die Planungshoheit, niemand sonst. Herr
Götz, dieser Zustand ist unhaltbar. Wir müssen diesen
Wildwuchs beenden.
({7})
Wir liegen doch bei der Beurteilung der Lage gar
nicht weit auseinander. Staatssekretär Ferlemann hat hier
in der Antwort auf unsere Frage bestätigt, dass § 35
Abs. 1 Nr. 4 Baugesetzbuch „nach der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts eher eng auszulegen“
ist. Ministerin Aigner kritisiert die Fehlentwicklung im
ländlichen Raum. Staatssekretär Peter Bleser hat in der
Neuen Osnabrücker Zeitung vom 12. Februar Nachdenklichkeit hinsichtlich der Konzentration der Schweine- und
Hähnchenmast gezeigt. Viele von uns haben sich zu
Hause klar positioniert. Wir müssen doch jetzt nur das,
was wir zu Hause erklären, mit der Gesetzeslage im
Bund in Einklang bringen. Das kann doch nicht so
schwer sein.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns versuchen, so wie das Parlament der Niederlande gemeinsam vorzugehen. Das niederländische Parlament hat vor
wenigen Tagen einen Baustopp für industrielle Massentierhaltungsanlagen beschlossen. Intensive Viehhaltung
als ein System organisierter Verantwortungslosigkeit
solle abgeschafft werden - so das niederländische Parlament. Der Beschluss wurde mit großer Mehrheit gefasst;
auch die Sozialdemokraten in den Niederlanden haben
zugestimmt.
({9})
Lassen Sie uns durch eine kleine Weiterentwicklung
des Baugesetzbuches eine wichtige Weichenstellung für
die weitere Entwicklung des ländlichen Raumes vornehmen, für den Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft, für
eine nachhaltige regionale Entwicklung, für den Erhalt
der Landschaften und der Lebensqualität im ländlichen
Raum.
({10})
Die Bürgerinnen und Bürger draußen erwarten unser
Handeln; sie werden es uns danken.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Max Lehmer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben bei der Entwicklung der Landwirtschaft klare
Ziele:
({0})
Wir wollen die Entwicklungsmöglichkeiten unserer
landwirtschaftlichen Betriebe erhalten. Wir wollen eine
starke und wettbewerbsfähige Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland erhalten und sie weiterentwickeln. Wir wollen auch in Zukunft eine durch bäuerliche
und unternehmerische Betriebsstrukturen gestaltete flächendeckende Landbewirtschaftung.
({1})
Wir wollen ausdrücklich keine Großinvestoren in der
tierischen Veredelung haben.
({2})
Dafür müssen wir aber auch die entsprechenden Entscheidungsspielräume für wirtschaftliche Betriebsformen erhalten. Die Entwicklung bleibt nicht stehen, Herr
Kollege Ostendorff.
({3})
Nur so können sich die Landwirte am Markt behaupten
und die aufgrund des weltweiten Bevölkerungswachstums steigende Nachfrage nach Lebensmitteln decken.
Herr Ostendorff, mit den Systemen, von denen Sie reden, können wir nicht einmal ansatzweise den Bedarf in
Deutschland decken. Ich habe nachgeschaut: Der Beitrag
der Biolandwirtschaft bei Rindfleisch beträgt 4,5 Prozent, bei Schweinen unter 1 Prozent.
({4})
- Hören Sie doch einmal zu, Herr Kollege. - Bei der
Eierproduktion sind es 3,5 Prozent und bei der Milch
2 Prozent. Sie sind weit davon entfernt, wenigstens die
Menschen in unserem Land mit Lebensmitteln zu versorgen.
({5})
Sie müssen bei der Wahrheit bleiben und die Dinge so
nehmen, wie sie sind. Unverhältnismäßige Einschränkungen der Grundstückseigentümer und der Betriebsinhaber in ihrem Grundrecht auf Eigentum und freies Unternehmertum sind hier kontraproduktiv und abzulehnen. Das Vorhaben der Opposition, vor allen Dingen
der Grünen, ist allzu leicht zu durchschauen. Hier geht es
nicht um Korrektur oder Beseitigung von Fehlentwicklungen; die sehen wir auch in manchen Punkten. Bei Ihrer beabsichtigten Beschränkung der sogenannten Massentierhaltung - die muss erst einmal definiert werden;
das sagte die Kollegin schon - geht es um die Verhinderung der weiteren positiven Entwicklung eines wichtigen
großen Wirtschaftsbereiches im ländlichen Raum.
({6})
Der gesamte Gesetzentwurf ist von einer ungerechtfertigten Übertreibung und Polemik gekennzeichnet.
Dies zeigt sich nicht nur an der Verwendung des Begriffs
„Massentierhaltung“, der schon an sich unsachlich und
abwertend ist, sondern auch an der Beschwörung des
- so heißt es im Text - unrealistischen Szenarios einer
flächendeckenden industriellen Fleischproduktion im
Außenbereich.
Lassen Sie mich das anhand von Zahlen erläutern: Im
Durchschnitt gibt es in Deutschland 337 Schweine pro
Betrieb. Je nach Bundesland schwankt die durchschnittliche Anzahl an Schweinen pro Betrieb zwischen 80 und
etwa 1 000 Stück. Damit liegt Deutschland zwar knapp
über dem europäischen Schnitt, aber noch weit hinter den
Niederlanden - diese Zahlen haben Sie richtig zitiert - mit
1 340 Schweinen pro Betrieb und Dänemark mit knapp
2 000 Schweinen pro Betrieb.
({7})
Auch bei der Legehennenhaltung sind die in Deutschland durchschnittlich in einem Betrieb gehaltenen Hennen mit 700 Stück pro Betrieb zwar mehr als im europäischen Durchschnitt. Dennoch ist die Zahl der Legehennen pro Betrieb - Frau Höhn, hören Sie zu - in sechs
anderen EU-Ländern erheblich größer als bei uns, nämlich in Belgien, Dänemark, Finnland, den Niederlanden,
Schweden und Großbritannien.
({8})
In den Niederlanden werden im Schnitt sogar über
25 000 Legehennen pro Betrieb gehalten. Darum nehmen sie dort jetzt Änderungen vor. Sie liegen aber um
den Faktor 40 über unseren durchschnittlichen Betriebsgrößen.
({9})
Diese Zahlen zeigen, dass es sehr große lokale und regionale Unterschiede gibt. Wir müssen dabei auch be10544
rücksichtigen, dass unsere Landwirte im internationalen
Wettbewerb stehen und die tierische Erzeugung an die
50 Prozent des Produktionswertes der deutschen Landwirtschaft ausmacht. Die Tierhaltung erfolgt dabei fast
ausschließlich in familiengeführten Betrieben. Das ist
bitte unbedingt festzuhalten.
({10})
Tierhaltung in größeren Beständen kann darüber hinaus nicht gleichgesetzt werden mit einer nicht artgerechten Haltung; das tun Sie immer wieder. Die Beschränkung bestimmter Haltungsformen in Deutschland führt
zudem oft nur dazu - das bitte ich zu bemerken -, dass
die Produktion ins Ausland verlagert wird. Dort können
wir die Haltungsbedingungen nicht mehr kontrollieren.
Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Legehennenhaltung.
Die Entwicklung zeigt, dass seit dem Verbot der Käfighaltung in Deutschland der Selbstversorgungsgrad mit
Eiern von 70 Prozent auf unter 55 Prozent gesunken ist.
Die Haltung in dieser Produktion ist nicht tiergerechter.
Das Gegenteil ist der Fall; das bitte ich zu berücksichtigen.
({11})
Ich verschweige nicht, dass es auch in Deutschland
Strukturen gibt, die wir kritisch beobachten müssen.
({12})
Obwohl die Strukturen in weiten Bereichen in Ordnung
sind, ist es uns bewusst, dass es in einigen Regionen Entwicklungen gibt, bei denen Stallbauvorhaben an die
Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz stoßen; das ist
richtig. Darauf wollen und werden wir reagieren; das hat
Herr Götz schon gesagt. Wir werden aber nicht mit pauschalen Verboten reagieren. Die helfen hier nicht weiter.
({13})
Wir wollen im Rahmen der im Koalitionsvertrag vereinbarten Novelle zum Baugesetzbuch eine ergebnisoffene Diskussion über die zukünftige Steuerung der Betriebsentwicklung im Außenbereich führen. Es macht
keinen Sinn, jetzt den Teilbereich der Tierhaltung in größeren Beständen vorab ohne ausreichende Prüfung
reglementieren zu wollen.
Außerdem, Herr Ostendorff, haben Behörden und Gemeinden bereits nach geltendem Recht - ich bin selbst
seit 35 Jahren in Kommunalparlamenten tätig - vielfältige planerische Möglichkeiten, die Genehmigung gewerblicher Tierhaltungsanlagen sozial- und umweltverträglich zu steuern. Beispiele sind die Aufstellung von
Flächennutzungs- oder Bebauungsplänen. Insbesondere
durch positive Planung können die Verantwortlichen vor
Ort die Zulässigkeit von Vorhaben der gewerblichen
Tierhaltung beeinflussen.
Darüber hinaus darf eine Genehmigung auch bei privilegierten Vorhaben ohnehin nur dann erfolgen, wenn
öffentliche Belange nicht entgegenstehen. Über all diese
bereits bestehenden Möglichkeiten sollten die Kommunen verstärkt informiert werden.
Wir müssen dafür sorgen, dass eine geradezu offensichtliche Tatsache weiterhin fest im Bewusstsein verankert bleibt: Die Landwirtschaft ist nicht Gegner des ländlichen Raumes, sondern eine tragende Säule für die
Erwerbsmöglichkeiten und die Wertschöpfung im ländlichen Raum sowie die Erzeuger hochwertiger Nahrungsmittel. Zur Landwirtschaft gehören aber auch gewerbliche Tierhaltungsbetriebe.
Wenn durch den Gesetzentwurf der Grünen Entwicklungsmöglichkeiten durch Verbote eingeschränkt werden, gefährdet das den ländlichen Raum als Produktionsstandort sowie Arbeitsplätze, und zwar nicht nur in den
Landwirtschaftsbetrieben, sondern auch in den vor- und
nachgelagerten Bereichen, die im ländlichen Raum erhebliche Arbeitsplatzpotenziale beinhalten.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassen: Im vorliegenden Gesetzentwurf ist die
Thematik völlig überzeichnet. Es wird sogar die Befürchtung geäußert, dass sich der Außenbereich - ich zitiere - „… nahezu flächendeckend in einen Standort der
industriellen Fleischproduktion“ verwandelt. Dies ist
keineswegs der Fall. Außerdem ist die vorgeschlagene
Regelung sehr pauschal und nicht ausreichend geprüft.
Im Rahmen der bevorstehenden Novelle zum Baurecht
werden wir uns der Thematik sach- und fachgerecht umfassend annehmen und gewiss auch passende Lösungen
finden.
Vielen herzlichen Dank.
({15})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der § 35 des Baugesetzbuches ist zweifellos
kein ganz einfacher Paragraf.
({0})
Er leidet darunter, dass er im Grunde genommen eine
bundesrechtliche Regelung beinhaltet, die vor Ort in völlig unterschiedlichen Situationen anzuwenden ist. Der
§ 35 des Baugesetzbuches ist ein guter Paragraf,
({1})
weil er genau das schützt, was Sie, lieber Kollege Ostendorff, im Grunde genommen im Sinn haben, nämlich die
traditionelle bäuerliche Landwirtschaft. Aber das, was
Sie in Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen, bedeutet gerade das Ende der bäuerlichen Landwirtschaft,
({2})
- nein, nicht der gewerblichen -, weil Sie die Entwicklung eines landwirtschaftlichen Betriebes unmittelbar an
Fläche binden.
({3})
Dazu ist ein einigermaßen aufwachsender Milchviehbetrieb heute aber gar nicht in der Lage, weil er aufgrund
der schlechten Milchpreise und der explodierenden
Frachtkosten nicht die Fläche erwerben kann, die er
braucht, um auf dem Milchmarkt einigermaßen vernünftig zurechtzukommen.
({4})
Mit der Regelung, die Sie vorschlagen, öffnen Sie genau den Anlagen Tür und Tor, die Sie scheinbar nicht
wollen; denn diese Betriebe werden in die Vorranggebiete gehen, die die Kommunen werden ausweisen müssen,
({5})
- Herr Ostendorff, hören Sie doch zu -, um die Säule der
intensiven Produktion in Deutschland zu sichern. Verschiedene Kollegen haben schon gesagt, dass es nicht
nur gilt, träumerische Ökolandwirtschaft zu realisieren,
sondern dass es gilt, alle Säulen agrarischer Produktion
zu realisieren:
({6})
die ökologische, die konventionelle, die regionale und
natürlich auch die intensive.
Kollege Ostendorff, ich bin von der fachlichen Seite
Ihres Antrags sehr enttäuscht, das will ich ganz deutlich
sagen. Dieser Antrag beinhaltet einen fundamentalen
Fehler. Er setzt Massentierhaltung mit Qualzucht gleich
und sagt im Grunde genommen: Alle, die heute gegen
diesen Antrag sind, stimmen dafür, dass Tiere in Ställen
gequält werden.
({7})
Ihnen geht es überhaupt nicht um die Sache. Bei diesem
Antrag geht es Ihnen allein um eine populistische Botschaft.
({8})
Sie springen damit auf einen Zug auf. Das halte ich für
die Produktionssituation in der Landwirtschaft insgesamt für gefährlich.
({9})
- Frau Höhn, es wäre schön, wenn Sie das im Ausschuss
zur Kenntnis bringen würden.
Ich komme aus einer Region, in der es sehr viel Intensivhaltung gibt. Ich will gerne sagen: Wir sind an der
Grenze angekommen. Darüber sind wir uns alle einig.
Nur, wissen Sie, woran das liegt? Wir waren zu dumm,
um es einmal ganz ehrlich zu sagen. Als ich in den
Kreistag kam, habe ich gesagt: Wir müssen unsere
Räume besser ordnen. Aber nein, die Räume sollten
nicht geordnet werden. Wenn Sie das kommunale Instrumentarium, das es heute schon gibt,
({10})
- Entschuldigung, ich habe davon Ahnung, Sie nicht -,
({11})
für die regionale Raumordnung und die kommunale Planung nutzen, wenn Sie Keimgutachten, Brandschutzgutachten und die gute fachliche Praxis bei Filteranlagen
nutzen, haben Sie mit diesem Sachverhalt überhaupt
kein Problem. Wir müssen das endlich anpacken und
umsetzen. Dann können wir eine tierschutzgerechte intensive Haltungsform auch zukünftig in Deutschland
realisieren.
({12})
Ihr Antrag taugt nichts, und das wissen Sie genau. Ihnen geht es nur um Stimmung, und das ist schlecht für
jemanden, der sonst so tut, als ob er Ahnung hätte.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Baugesetzbuchs - Beschränkung der Massentierhal-
tung im Außenbereich. Der Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/4724, den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1582
abzulehnen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf
auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen na-
mentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle vorgese-
henen Plätze von den Schriftführern besetzt? - Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre
Stimme abgegeben? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben. Inzwischen setzen wir die Bera-
tung fort.1) Ich bitte die lieben Kolleginnen und Kolle10546
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
gen, Platz zu nehmen, damit der kommende Redner auch
Gehör finden kann.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2010 ({0})
- Drucksache 17/4400 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Wehrbeauftragen des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus.
({1})
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bitte erlauben Sie mir eine kurze Vorbemerkung, bevor ich zum Jahresbericht komme. Wir werden
morgen in Regen drei unserer Soldaten, die in Afghanistan Opfer eines hinterhältigen Anschlages wurden, gedenken. Ich habe mit zweien von ihnen erst vor wenigen
Wochen in Afghanistan gesprochen wie auch mit einigen
der jetzt Verwundeten. Ich bin daher in diesen Tagen mit
meinen Gedanken vor allem bei den Hinterbliebenen,
den Verwundeten und ihren Angehörigen. Ich wünsche
den Verwundeten natürlich eine baldige Genesung.
Ereignisse wie dieses erinnern uns immer wieder daran, welche Risiken unsere Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz auf sich nehmen. Gerade im Angesicht dieses
tragischen Ereignisses möchte ich all denen, die jetzt leiden, mein tief empfundenes Mitgefühl aussprechen. Ich
möchte den Kameradinnen und Kameraden der Gefallenen und Verwundeten, die auch nach diesem tragischen
Geschehen weiter treu ihren Dienst und ihren Auftrag
ausführen, dafür meinen besonderen Dank und meine
Anerkennung aussprechen.
({2})
Vor dem Hintergrund solchen Leides, vor dem Hinter-
grund von Tod und Verwundung können Sie sicher nach-
vollziehen, weshalb ich mich als Wehrbeauftragter so
nachdrücklich um Ausbildung, Ausstattung und Ausrüs-
tung, und zwar vor, nach und bei dem Einsatz, kümmere.
Es ist unsere gemeinsame Pflicht, ohne Rücksicht auf
Kosten oder sonstige Belange die Sicherheit unserer Sol-
datinnen und Soldaten auf das bestmögliche Niveau zu
bringen.
1) Ergebnis Seite 10548 C
Dieser Jahresbericht ist natürlich nicht nur den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz gewidmet, sondern allen
Angehörigen der Bundeswehr. Sie nehmen eine für die
Gesellschaft unverzichtbare und leider immer noch viel
zu wenig gewürdigte Aufgabe wahr. Auch ihnen gelten
mein Dank und meine Anerkennung. Mit der sehr frühzeitigen Befassung mit diesem Jahresbericht macht dieses Hohe Haus deutlich, dass es den Streitkräften und ihren Anliegen eine herausragende Bedeutung beimisst.
Das ist, wie ich weiß, ein wichtiges Signal für die
Truppe.
Der Jahresbericht enthält keine Anmerkungen zu den
zuletzt in der Öffentlichkeit diskutierten aktuellen Ereignissen, die beispielsweise unter den Stichworten „Gorch
Fock“ oder Feldpost erörtert wurden. Er behandelt eben
nicht jene Vorgänge, deren Bedeutsamkeit sich erst im
laufenden Jahr zeigte, auch wenn sie sich bereits im vergangenen Jahr, im Berichtsjahr, zutrugen.
Dennoch will ich hier einige Worte zum Thema
„Gorch Fock“ anfügen, weil die öffentliche Diskussion
dazu Veranlassung gibt. Viele in der öffentlichen Meinung und in den Medien sahen bereits in der Befassung
mit den Vorgängen einen unzulässigen Angriff auf die
hergebrachten Traditionen der Marine. Darum aber geht
es hier ganz gewiss nicht. Tradition kann Gemeinschaft
stiften und Werte vermitteln. Tradition findet aber dort
ihre Grenzen, wo Rechte von Soldatinnen und Soldaten
verletzt werden. Allein der Rückzug auf Tradition ist
keine gelebte Innere Führung.
({3})
Das Grundgesetz und die Grundsätze der Inneren
Führung werden nicht durch die Tradition begrenzt, sondern umgekehrt. Genau um eine solche Grenzziehung
geht es hier. Angehörige der Ausbildungscrew der
„Gorch Fock“ haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden, weil
sie sich in ihren Rechten verletzt sahen. Ihr Vorbringen,
das aus meiner Sicht von Gewicht ist, habe ich meinem
gesetzlichen Auftrag entsprechend an das Parlament und
an den Bundesminister der Verteidigung herangetragen.
Damit ist natürlich keine abschließende Wertung verbunden und schon gar keine Vorverurteilung. Aber es ist
natürlich Anlass, in eine Prüfung der Praxis der Segelausbildung auf dem Schiff im Allgemeinen und des Führungsverhaltens Einzelner im Besonderen einzutreten.
Ich würde es begrüßen, wenn die pflichtgemäße Erfüllung meines gesetzlichen Auftrages nicht in den Verdacht parteipolitischer Motive gerückt würde. Als Wehrbeauftragter des gesamten Deutschen Bundestages bin
ich von der Verfassung zum Schutz der Rechte der Soldaten und zur Unterstützung der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte berufen. Ich darf und werde mich
niemals instrumentalisieren lassen, schon gar nicht parteipolitisch.
({4})
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
Meine Damen und Herren, der Jahresbericht 2010 hat
drei Schwerpunkte. Besonders eingehend behandelt er
das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“. Daneben widmet er sich, wie schon in den Jahren zuvor,
eingehend den Einsätzen und den fortbestehenden Problemen im Bereich des Sanitätsdienstes. Mängel und
Defizite in der Ausbildung und Ausrüstung reichen von
den Defiziten bei der einsatzvorbereitenden Ausbildung
über Mängel bei der persönlichen Ausstattung bis hin
zur Frage nach Bewaffnung und Eignung des eingesetzten Gerätes. Verbesserungen in diesem Bereich sind unverkennbar. Sie dürfen aber nicht über noch bestehende
Mängel und Defizite hinwegtäuschen. Ich werde Sie
hierzu demnächst erneut in einem Sonderbericht näher
unterrichten.
Zu den Problemen im Einsatz gehört allerdings auch
der Aspekt der Fürsorge. Insbesondere die Einsatzdauer
und die Verlässlichkeit der Einsatzplanung, die Kommunikation mit der Heimat sowie die Betreuung und Versorgung während des Einsatzes und nach dem Einsatz
sind Stichworte, die die Problemfelder leider noch immer kennzeichnen.
Meine Damen und Herren, Sie haben heute Vormittag
in erster Lesung die Aussetzung der Wehrpflicht beraten.
Gerade jetzt wird die Verbesserung der Attraktivität des
Dienstes in den Streitkräften besonders dringlich. Attraktivität schließt übrigens die Frage nach der Absicherung und Versorgung der Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz, aber auch ihrer Familien ein. Hier gibt es weiß
Gott noch viel zu tun, insbesondere bei der Versorgung
der Hinterbliebenen.
Ich bin sehr dankbar, dass der Deutsche Bundestag
noch bestehende Versorgungslücken schließen will; das
ist Beschlusslage. Es ist zu wünschen - das ist nämlich
noch nicht gesichert -, dass die Bundesregierung hierzu
die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen vorbereitet. Darüber hinaus muss natürlich auch der tägliche
Dienst mit den Erwartungen und Bedürfnissen der Familien in Einklang gebracht werden. Insbesondere eine heimatnahe Stationierung und Ausbildung ist zu fordern.
Wir müssen die Chance der Strukturreform unbedingt
nutzen, einzelne Truppengattungen regional zu konzentrieren, um den Umfang des Wochenendpendelns zum
Dienstort - nur als Stichwort genannt - und lehrgangsbedingter Trennungen von der Familie so weit wie möglich
zu reduzieren.
Ein besonders dringendes Problem ist dabei übrigens
nach wie vor die Kinderbetreuung. Ich begrüße es, dass
hierzu erste Maßnahmen ins Auge gefasst sind. Es wird
jetzt aber darauf ankommen, dass sie auch schnell umgesetzt werden. Denn die Vereinbarkeit von Familie und
Dienst ist keine Frage von ein bisschen mehr oder weniger Fürsorge, sondern dieser Anspruch ist uns vom
Grundgesetz aufgegeben: „Ehe und Familie stehen unter
dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ Das
gilt natürlich erst recht dann, wenn der Staat selbst der
Dienstherr ist. Ich wiederhole das immer wieder. Ich
glaube, es ist auch wichtig, sich immer wieder daran zu
erinnern, wenn es um die konkrete Umsetzung geht.
({5})
Besondere Aufmerksamkeit benötigt auch weiterhin
der Sanitätsdienst. Der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal konnte noch nicht ausgeglichen werden. Ich habe
auch schon darüber gesprochen, als wir den Jahresbericht 2009 erörtert haben. Ja, es hat in diesem Bereich
zwar Verbesserungen gegeben, aber wir sind noch lange
nicht am Ziel. Der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal
konnte nicht ausgeglichen werden. Seit mehreren Jahren
kann der Sanitätsdienst seinen Auftrag nicht mehr ohne
Rückgriff auf zivile Ressourcen erfüllen. Das macht mir
Sorge; das wird in der Zukunft ein immer drängenderes
Problem werden. Wenn die Streitkräfte vom Einsatz her
gedacht werden, dann muss der Sanitätsdienst in der
Lage sein, die sanitätsdienstlichen Leistungen aus eigener Kraft zu erbringen.
Damit an dieser Stelle kein falscher Eindruck entsteht: Unsere Streitkräfte sind insgesamt in einer guten
Verfassung. Wenn es gelingt, die Bundeswehr zu einer
neuen Struktur zu führen, die sie noch leistungsfähiger,
aber auch noch lernfähiger macht und die auch eine Fehlerkultur herbeiführt, dann hat sie eine gute Zukunft.
Lassen Sie mich an dieser Stelle abschließend noch
Dank sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
meinem Amt, an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
den beteiligten Partnerdienststellen, im Ministerium, in
den militärischen Strukturen. Einen letzten Dank möchte
ich auch an den Minister richten - an einem Punkt hat er
das wirklich verdient -:
({6})
Immer dann, wenn es um problematische Einzelfälle
geht, ist er jederzeit ansprechbar, insbesondere auch
ohne Kamera und ohne Presse
({7})
- dann sagt er sicher auch die Wahrheit -,
({8})
und kümmert sich um diese konkreten Fälle. Für diese
Form der Empathie muss man ihm, glaube ich, danken.
Die Betroffenen haben das immer sehr geschätzt.
({9})
Damit möchte ich die Vorstellung meines Jahresberichts beenden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Königshaus, und Ihren Mitarbei10548
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
terinnen und Mitarbeitern im Namen des ganzen Hauses
für die Vorlage des Berichts und für die Arbeit herzlich
danken.
({0})
Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen zunächst
noch das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zur Änderung des Baugesetzbuchs - Beschränkung der Massentierhaltung im Außenbereich - bekannt
geben: abgegebene Stimmen 534. Mit Ja haben gestimmt 65, mit Nein 291. Es gab 178 Enthaltungen. Der
Gesetzentwurf ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 534;
nein: 291
davon
ja: 65
enthalten: 178
Ja
CDU/CSU
SPD
Dietmar Nietan
Silvia Schmidt ({1})
Peer Steinbrück
DIE LINKE
Eva Bulling-Schröter
Jan Korte
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({2})
Volker Beck ({3})
Birgitt Bender
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({4})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Undine Kurth ({5})
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({6})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({7})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({8})
Manfred Behrens ({9})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({10})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({11})
Dirk Fischer ({12})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({13})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({14})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({15})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({16})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({17})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({18})
Nadine Schön ({19})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({20})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Ludwig
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({21})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({22})
Anita Schäfer ({23})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({24})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Thomas Strobl ({25})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({26})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({27})
Peter Weiß ({28})
Sabine Weiss ({29})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Holger Ortel
FDP
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({30})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({31})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({32})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({33})
Michael Link ({34})
Oliver Luksic
Jan Mücke
Petra Müller ({35})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({36})
Hans-Joachim Otto
({37})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({38})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({39})
Enthalten
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({40})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({41})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({42})
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({43})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Petra Hinz ({44})
Frank Hofmann ({45})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({46})
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({47})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Manfred Nink
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({48})
Marlene Rupprecht
({49})
Axel Schäfer ({50})
Bernd Scheelen
Werner Schieder ({51})
Carsten Schneider ({52})
Swen Schulz ({53})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
({54})
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({55})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Nun können wir in der Debatte fortfahren. Ich erteile der Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({56})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Wehrbeauftragter! Vorweg
möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern, lieber Herr
Königshaus, einmal ein ganz schlichtes Lob aussprechen. Dieser erste von Ihnen verantwortete Jahresbericht
besticht durch seine übersichtliche Gestaltung, die es
dem Leser leichter macht. Das ist gar kein so unwichtiges Detail. Zwar verfassen Sie als Wehrbeauftragter des
Deutschen Bundestages Ihren Bericht zunächst für uns
Parlamentarier - ich hoffe, dass wir uns alle mit der gebotenen Sorgfalt seiner Lektüre widmen -, aber natürlich wirkt er auch in die weite Öffentlichkeit hinaus. Es
ist schließlich wünschenswert, dass sich möglichst viele
Menschen für den Zustand der Bundeswehr interessieren; denn der interessierte und informierte Staatsbürger
ist ebenso wie der uniformierte Staatsbürger innerhalb
der Truppe eine wesentliche Voraussetzung für die Verankerung der Streitkräfte in der Gesellschaft. Wir wollen
eine Gesellschaft, die Anteil an dem nimmt, was innerhalb der Bundeswehr geschieht - auch an den Sorgen
und Klagen der Soldaten, die für die Sicherheit dieser
Gesellschaft in den Einsatz gehen. Wir wollen keine Gesellschaft, der die Bundeswehr egal ist oder die sie als
Fremdkörper betrachtet,
({0})
ebenso wie wir keine Bundeswehr wollen, die sich gerade
jetzt, da wir für den Übergang zur Freiwilligenarmee stehen, als Fremdkörper fühlt. Deswegen ist jedes Detail wichtig, durch das die Beschäftigung mit der Truppe erleichtert wird.
Meine Damen und Herren, andererseits gibt es Grenzen dafür, wie viele Details aus aktuellen Vorgängen in
die Öffentlichkeit getragen werden. Angesichts kürzlicher Debatten muss die Frage erlaubt sein, ob für politische Ziele, für die Auflage oder für die Quote noch zusätzlich auf den Betroffenen herumgetrampelt werden
muss, indem etwa mit Einzelheiten aus dem Feldjägerbericht operiert wird, Pauschalurteile über Marinebesatzungen gefällt werden oder ganz Deutschland über das
Körpergewicht einer tödlich verunglückten Kadettin diskutiert. Dadurch werden in erheblichem und völlig unnötigem Umfang die Familien von Opfern und von Soldaten belastet, die sich Ermittlungen ausgesetzt sehen.
Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages haben wir
natürlich ein Recht auf Information über die Vorgänge in
der Parlamentsarmee Bundeswehr, und zwar sowohl durch
das Verteidigungsministerium als auch durch den Wehrbeauftragten. Das gilt zwar nicht für jedes einzelne Disziplinarproblem und jeden Dienstunfall - wofür es schließlich
den Bericht des Wehrbeauftragten gibt, in dem eine jährliche Gesamtschau vollzogen wird -, aber für schwerwiegende Vorfälle, über die wir schnellstmöglich, vollständig
und unmittelbar informiert werden müssen, also nicht auf
Umwegen über die Presse. Als Berichterstatterin für den
Einzelplan 02 muss ich sagen, Herr Wehrbeauftragter,
dass ich mir gelegentlich eine noch frühere Einbindung
gewünscht hätte.
Diese Medaille hat aber natürlich noch eine andere
Seite. Die Politik sollte auch die Disziplinarvorgesetzten
und die zuständigen Ermittlungsbehörden ihre Arbeit
Anita Schäfer ({1})
machen lassen, bevor öffentliche Urteile abgegeben werden, auch wenn der mediale Druck groß ist, wobei ich
mir von Medienseite ebenfalls etwas mehr Zurückhaltung wünschen würde.
So viel zum Formalen; nun komme ich zum Inhalt.
Meine Damen und Herren, in dem Bericht wird auf
drei Schwerpunkte hingewiesen, die gegenüber den Vorjahren gleich geblieben sind. Bei diesen sehen wir erneut
einiges an Schatten, aber mittlerweile auch einiges an
Licht.
Erstens: die Attraktivität des Dienstes und die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Gerade mit Blick auf die
Nachwuchswerbung für eine künftige Freiwilligenarmee, so stellt der Wehrbeauftragte richtig fest, stelle sich
die Frage der Attraktivität in allen Bereichen. Der Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes, den wir heute
Morgen in erster Lesung behandelt haben, bildet hier die
Grundlage für weitere Verbesserungen. Ich begrüße es
sehr, dass der Bundesverteidigungsminister bereits angekündigt hat, 200 weitere Eltern-Kind-Arbeitszimmer
einrichten zu wollen.
Das Programm des Ministeriums zur Attraktivitätssteigerung enthält viele weitere wertvolle Anregungen.
Es liegt an uns, diese umzusetzen. Durch das Reformbegleitgesetz, das bald vorliegen wird, wird uns die Möglichkeit dazu gegeben. Wir von der Union haben bereits
eine interne Unterarbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit
der Verbesserung der Attraktivität des Dienstes bei der
Bundeswehr befasst,
({2})
nicht zuletzt hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Familie.
Der zweite Punkt sind die fortbestehenden Probleme
im Sanitätsdienst. Hier geht es insbesondere um den erheblichen Mangel an Fachpersonal. Die dagegen ergriffenen Maßnahmen werden erst mittel- bis langfristig
vollständig umgesetzt werden können. Das ist umso
wichtiger, als die Bundeswehr weiterhin im Wettbewerb
mit dem zivilen Gesundheitssektor steht.
Drittens können wir bei den Auslandseinsätzen erneut
konstatieren, dass sich die Ausrüstungssituation laufend
verbessert. So ist die früher stets kritisierte Ausstattung
mit geschützten Fahrzeugen und Bewaffnung in Afghanistan mittlerweile zufriedenstellend. Aber noch immer
sehen die Soldaten dieses Gerät vielfach erst im Einsatzland. Deswegen müssen und deswegen werden wir unsere Anstrengungen in diesem Bereich fortsetzen.
Bei einem anderen leidigen Thema zeichnet sich
ebenfalls eine Verbesserung ab: Der neue Rahmenvertrag zur Betreuungskommunikation sichert einen Verbindungsumfang, der den gestiegenen technischen Möglichkeiten und Anforderungen entspricht, sodass
beispielsweise trotz des erheblich gestiegenen Kontingentumfangs künftig wieder das Skypen, also die Videotelefonie, nach Hause möglich wird. Zudem erhält jeder
Soldat pro Woche 30 Freiminuten zum Telefonieren
nach Hause, und zwar zusätzlich zum Auslandsverwendungszuschlag, der eigentlich Belastungen wie die teure
Kommunikation aus dem Einsatz bereits berücksichtigt.
({3})
Der Hinweis des Wehrbeauftragten auf Ausbildungsmängel gerade beim Gebrauch von Schusswaffen erscheint vor dem Hintergrund der derzeit öffentlich diskutierten jüngsten Vorfälle bei der Bundeswehr
besonders prägnant. Ausdrücklich betont der Bericht die
Notwendigkeit drillmäßigen Übens. Eigentlich eine
Selbstverständlichkeit: Nur ständige Wiederholung gibt
beim Umgang mit gefährlichem Gerät und bei dem Ausüben gefährlicher Tätigkeiten die notwendige Sicherheit.
Das steht im Gegensatz zu der medialen Kritik an militärischem Drill, die etwa in der Berichterstattung über die
Vorgänge auf der „Gorch Fock“ zu lesen war. Dieser
Drill ist kein Selbstzweck, sondern dient der Vorbereitung der Soldaten auf einen Dienst, in dem sie das Gelernte buchstäblich im Schlaf beherrschen müssen.
Selbstverständlich findet dies aber seine Grenzen an den
Grundsätzen der Inneren Führung, des Strafrechts und
der Menschenwürde.
Ich möchte zum Schluss noch ein aktuelles Ereignis
ansprechen. Am vergangenen Freitag erreichte uns erneut eine schlimme Meldung aus Afghanistan. Ein Angreifer in afghanischer Armeeuniform erschoss heimtückisch drei Bundeswehrsoldaten innerhalb eines
Beobachtungspostens und verwundete sechs weitere,
zwei davon schwer. Leider ist das in der Berichterstattung quasi nur als Fußnote erwähnt worden. Es war offenbar wichtiger, über andere Fußnoten zu debattieren.
Ich möchte den Angehörigen der drei Gefallenen an
dieser Stelle unser Mitgefühl und Beileid aussprechen,
besonders angesichts der schweren Stunden, die ihnen
morgen mit dem Abschiednehmen bei der Trauerfeier
bevorstehen. Zudem wünsche ich den Verwundeten eine
rasche und vollständige Genesung. Es ist besonders bitter, dass dieser Angriff im Rahmen der Ausbildung für
die afghanischen Sicherheitskräfte geschah, die in wenigen Jahren die Verantwortung für ihr Land übernehmen
sollen, damit wir uns zurückziehen können.
Unsere Soldaten kämpfen dort in einem Konflikt, in
dem sich der Gegner an keinerlei Regeln des Völkerrechts hält, während wir diese peinlich genau befolgen
und bereits beim bloßen Verdacht auf Verstöße staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren einleiten und Untersuchungsausschüsse einrichten, wie es die Pflicht eines Rechtsstaates ist. Dennoch erfüllen unsere Soldaten
dort weiter den gefährlichen Auftrag, den wir ihnen gegeben haben, auch um die Sicherheit Deutschlands zu
gewährleisten. Dafür verdienen sie unseren Dank, unseren Respekt und unsere volle Unterstützung.
Ich wünsche mir, dass sich das in der öffentlichen Debatte noch stärker zeigt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Evers-Meyer
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch meine Fraktion möchte den Familien und Angehörigen der gefallenen Soldaten in Afghanistan sagen, dass
wir mit ihnen fühlen in dem Wissen, dass in dieser Situation nichts ihren Schmerz stillen kann und nichts ihrem
Schmerz gerecht wird. Den verwundeten Soldaten wünschen wir baldige und vollständige Genesung. All unseren Soldaten im Einsatz wünschen wir, dass sie heil und
gesund zurückkommen.
({0})
Ich danke dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Gerade
in letzter Zeit haben wir erfahren müssen, dass wir mehr
wertvolle Informationen von ihm bekommen als von unserem Verteidigungsminister.
({1})
Aus dem Bericht des Wehrbeauftragten geht erfreulich klar hervor, dass die Bundeswehr nicht genug für
Soldatinnen und Soldaten und deren Familien tut. Die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst ist ein „zentraler
Attraktivitätsfaktor“; so steht es im aktuellen Bericht des
Wehrbeauftragten. Das kann ich hier und heute nur noch
einmal mit Nachdruck unterstreichen. Wenn die Bundeswehr zukünftig ohne Wehrpflichtige auskommen muss,
dann gilt das umso mehr. Die bessere Vereinbarkeit von
Familie und Dienst ist nicht nur eine wesentliche Erleichterung für Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien, sondern ist auch ein ganz wichtiges Argument für
junge Leute, wenn sie vor der Entscheidung für oder gegen die Bundeswehr als Arbeitgeber stehen.
Vor vier Jahren hat die Bundeswehr eine Teilkonzeption zum Thema „Familie und Dienst“ vorgelegt. In der
Folge gab es sogar einige hoffnungsvolle Pilotprojekte.
Aber insgesamt ist eigentlich viel zu wenig passiert. Ein
großes Problem ist die Kinderbetreuung. Es gibt genau
einen einzigen Betriebskindergarten der Bundeswehr,
und der ist ausgerechnet in Bonn, und zwar im Verteidigungsministerium. Das ist sicherlich gut und richtig für
die Mitarbeiter im Ministerium. Aber das ist natürlich
weit entfernt von einem ernstzunehmenden Betreuungsangebot für die Truppe. Auch wenn man den Grundsatz
verfolgt, dass man zuerst die Kooperation mit Kindertagesstätten vor Ort sucht, bleibt das Problem, dass der
Soldatenberuf und seine besonderen Anforderungen
eben nicht mit den Öffnungszeiten eines kommunalen
Kindergartens in Einklang zu bringen sind. Deswegen ist
ganz klar: Bundeswehr und Verteidigungsministerium
müssen die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausbauen
und zu einem Teil ihres Attraktivitätsportfolios machen.
({2})
Natürlich kostet das auch Geld. Bisher gilt, dass Kinderbetreuung kein zusätzliches Geld kosten darf. Aber
mit diesem Ansatz wird es bestimmt nicht gehen. Wenn
wir eine Bundeswehr wollen, die als Arbeitgeber wirklich attraktiv ist, dann werden wir alle miteinander so
ehrlich sein müssen und das dann auch so sagen. Genauso sage ich, dass nicht alles, was zur Familienfreundlichkeit beiträgt, letztendlich mehr Geld kostet. Beispielsweise leiden Soldatinnen und Soldaten darunter,
dass bei der Personalerfassung oft nicht berücksichtigt
wird, dass der Partner oder die Partnerin auch Soldat ist.
Die Folge ist dann, dass bei Versetzungen eben nicht bedacht wird, welche Verwendung für den Partner eingeplant ist. Das könnte man zum Beispiel durch einen Eintrag in die Personaldaten verhindern. Ähnliches gilt für
die Planung von Fortbildungen. Hier könnte die Bundeswehr recht kurzfristig ihren guten Willen zeigen und untermauern.
Kommen wir jetzt zum Thema Auslandseinsätze.
Noch wichtiger wird die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wo Soldatinnen und Soldaten in den
Einsatz gehen. Der Bericht des Wehrbeauftragten räumt
diesem Punkt zu Recht besonders viel Platz ein. Das
fängt an bei der Einsatzdauer. Im Jahr 2010 gab es eine
schleichende Verlängerung der Afghanistan-Mandate
über die eigentlich vorgesehenen vier Monate hinaus. Im
Januar dieses Jahres ging ein Kontingent nach Afghanistan, dessen Soldaten schon vor der Abreise gesagt
wurde, dass sie für sechs Monate eingesetzt seien, manche sogar noch länger. Wir haben das hier vor einigen
Wochen schon einmal angesprochen. Ich will es trotzdem wiederholen: Das schadet unseren Soldaten, weil
die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen mit jedem
zusätzlichen Tag im Einsatz steigt.
({3})
Der Wehrbeauftragte hat auch dazu im letzten Jahr einige Berichte bekommen. Es ist ebenfalls nicht einzusehen, dass auf einmal die breite Masse der Soldatinnen
und Soldaten zu Spezialisten geworden ist, für die wir
eine längere Einsatzdauer eigentlich vorgesehen haben.
Das sollten und sollen wirklich Ausnahmen bleiben.
Sonst müssen Sie so ehrlich sein und begründen, warum
ganze Kontingente ein halbes Jahr und länger in den Einsatz gehen.
Was bei diesen Einsätzen oft unter den Tisch fällt: Die
lange Abwesenheit hat spürbare Folgen für die Familien.
Da fehlt die Mama oder der Papa einfach mal für ein halbes Jahr, und zwar nicht, weil er mit einem Schirmchendrink auf den Malediven sitzt, sondern weil er in einen
gefährlichen Einsatz geht. Das zehrt an den Nerven der
Angehörigen. Es ist nicht in Ordnung, dass sich viele
Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien nicht mehr
auf das Wort ihres Dienstherrn verlassen können, wenn
es um die Länge ihres Auslandseinsatzes geht.
({4})
Verschlimmert wird das noch durch eine undurchsichtige Einsatzplanung. Im Bericht ist von Fällen zu lesen,
in denen es keine rechtzeitige Information über verschobene In- und Out-Termine gab. Das betraf übrigens auch
Kontingente für das Kosovo, bei denen in der zweiten
Septemberwoche noch nicht feststand, wann in der zweiten Monatshälfte die Rückflüge stattfinden sollten. Dass
die Soldaten dann nach ihrer Ankunft in Deutschland
noch durch die halbe Republik reisen müssen, um zu ihrem Heimatstandort zu kommen, das komplettiert das
Bild eines Arbeitgebers, der solche Fragen offensichtlich
nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit behandelt.
Das sind natürlich Kleinigkeiten im Vergleich zu Tod
und Verwundung im Einsatz. Aber es sind wichtige
Dinge, die nicht nur das Leben der Soldatinnen und Soldaten erleichtern, sondern auch der Bundeswehr helfen;
denn sie erhält als Gegenwert zufriedenere Mitarbeiter,
die sich wertgeschätzt fühlen. Die Bundeswehr sollte daher nicht den Fehler begehen, Dinge wie Familienbetreuung und Fürsorge während eines Auslandseinsatzes
als Sozialdudelei zu verniedlichen. Ich glaube, viele
große Unternehmen in Deutschland haben mittlerweile
gelernt, dass das ein großer Fehler ist. Die meisten haben
dazugelernt, und das Verteidigungsministerium sollte
sich diesem Lernprozess anschließen.
({5})
Ein weiterer Punkt in dieser Reihe ist das Thema
„Kommunikation aus dem Einsatzland“. Wir haben uns
im Ausschuss wiederholt damit beschäftigt. Im Vergleich
zu dem, was unsere Partnernationen den Soldatinnen und
Soldaten anbieten, befindet sich unsere Bundeswehr immer noch im letzten Jahrtausend. Neue Mobilfunkverträge sollen bis Mitte des Jahres stehen. Aber es ist
schon jetzt abzusehen, dass auch diese Verträge nicht
ausreichen werden.
({6})
Es ist doch eigentlich ganz einfach: Dinge wie Skype
gehören heute einfach zur Alltagskommunikation, besonders wenn man über Tausende von Kilometern kommunizieren muss. Das sollte sich auch in den Vertragsanforderungen niederschlagen; es fehlt aber bisher. Ich
bitte, das noch einmal zu überprüfen. Alles andere führt
doch nur zu unnötiger Frustration. Unsere Soldatinnen
und Soldaten warten dringend auf eine Verbesserung und
vertrauen auf die Ankündigung des Ministeriums. Wenn
es entgegen dieser Ankündigung bis Mitte des Jahres immer noch keine Lösung für die Kommunikation aus den
Einsatzgebieten gibt, dann wird dieses Vertrauen verschenkt.
Das führt mich zum nächsten Schwerpunkt im Jahresbericht, zum Thema „Verlässlichkeit und Qualität“. Wir
haben heute Vormittag über den Entwurf zum Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 beraten. Zum 1. Juli 2011
soll die Wehrpflicht wegfallen. Was mir bei der Diskussion bisher zu kurz kommt, ist die Frage, wie die Bundeswehr in Zukunft eigentlich den Nachwuchs gewinnen
will, den sie braucht. Die Bundeswehr wird sich nach
dem Wegfall der Wehrpflicht doch viel intensiver als
bisher um Nachwuchsgewinnung kümmern müssen. Das
wird für die Truppe zu einer wirklichen Herausforderung
werden.
Die Nachwuchsgewinnung wird durch den demografischen Wandel noch erschwert. Unsere Bundeswehr
wird in Zukunft also viel mehr mit der freien Wirtschaft
um gute Köpfe konkurrieren müssen. Wenn ich mir die
Äußerungen aus der Bundeswehrführung der letzten
Tage dazu vergegenwärtige, dann bin ich skeptisch, ob
das schon überall erkannt worden ist. Ich glaube wirklich, dass es ein falsches Signal ist, wenn die Bundeswehrführung davon spricht, in Zukunft vor allem Geringqualifizierte ansprechen zu wollen. Umgekehrt wäre
es richtig: Sie sollten den Anspruch haben, die wirklich
gut Qualifizierten anzuwerben. Dazu braucht man natürlich auch eine entsprechende finanzielle Ausstattung. In
Zukunft steigen also die Anforderungen an eine effiziente Nachwuchsgewinnung.
Die Bundeswehr hat bei einer Stärke von rund
185 000 Mann einen jährlichen Regenerationsbedarf von
10 000 Kurzzeitdienern und 17 000 Zeit- und Berufssoldaten. Wenn wir für die Zeit- und Berufssoldaten ein
Verhältnis von drei Bewerbern auf eine Stelle und für
Kurzzeitdiener ein Verhältnis von zwei zu eins ansetzen,
dann können wir feststellen, dass die Bundeswehr jährlich mehr als 70 000 Bewerber benötigt.
Legt man die Ausgaben anderer Armeen für die
Nachwuchswerbung zugrunde, müsste die Bundeswehr
künftig pro Jahr deutlich über 1 Milliarde Euro aufwenden, um neue Kräfte anzuwerben. Wie diese wirklich
beträchtliche Summe von über 1 Milliarde Euro im Verteidigungshaushalt aufgebracht werden soll, ist noch immer nicht klar.
Auch die geplante Reduzierung der Zahl der Kreiswehrersatzämter macht uns große Sorgen. Damit sinken
die Chancen der Bundeswehr, auch in der Fläche präsent
zu sein.
Natürlich spielt die Bezahlung eine wichtige Rolle;
aber das ist nicht das Einzige. Fairness, Transparenz und
Verlässlichkeit dürfen nicht auf der Strecke bleiben.
Dazu gibt es ein paar negative Beispiele: Die versprochene Sonderzahlung, die Weiterzahlung des Weihnachtsgeldes, ist nicht erfolgt. Das hat unsere Soldaten
sehr enttäuscht. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage weiterkommen.
Mir ist sehr wichtig, zu sagen, dass meine Fraktion erwartet, dass uns hinsichtlich der Vorkommnisse auf dem
Schulschiff „Gorch Fock“ möglichst bald ein vollständiger Bericht vorliegt. Wir erwarten mit Ungeduld die Ergebnisse der angekündigten Untersuchung.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Schnurr für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf im Namen der FDP-Fraktion zu Beginn meiner
Ausführungen und meiner Berichterstattung zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten zum Ausdruck bringen,
dass auch unsere Gedanken bei den Hinterbliebenen der
bei den tragischen Ereignissen der letzten Woche in Afghanistan Gefallenen sind. Wir hoffen, dass die Verwundeten schnellstmöglich genesen. Wir senden von dieser
Stelle - ich glaube, ich tue das auch im Namen des ganzen Hauses - die besten Wünsche.
({0})
Der Wehrbeauftragte hat dem Parlament Ende Januar
dieses Jahres den Jahresbericht für 2010 vorgelegt. Er
hat die Erkenntnisse, die er im Jahr 2010 bei unterschiedlichsten Truppenbesuchen, bei Gesprächen, bei diversen anderen Gelegenheiten mit den Soldatinnen und
Soldaten sowie Angehörigen der Bundeswehr, aber auch
mit unterschiedlichen Institutionen gewonnen hat, in
dem Jahresbericht gebündelt und ihn dem Deutschen
Bundestag sehr zeitnah übergeben. Ich glaube, es ist der
erste Bericht, der dem Deutschen Bundestag so zeitnah
übergeben wurde. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür,
dass wir die Gelegenheit haben, ebenfalls zeitnah über
diesen Bericht zu diskutieren.
Herr Minister, ich setze auch in diesem Zusammenhang auf die Offenheit Ihres Hauses, darauf, dass Sie den
Inhalt des Berichts nicht nur prüfen werden, sondern
dass Ihr Haus die Stellungnahme zu diesem Bericht nach
Möglichkeit zeitnah dem Parlament übermittelt, damit
wir dann hier über die Konsequenzen, die aus dem Jahresbericht 2010 resultieren, angemessen diskutieren können.
Sie, Herr Königshaus, nehmen Ihre verantwortungsvolle Aufgabe als Wehrbeauftragter sehr ernst. Dies
zeigt sich insbesondere dadurch, dass Sie den Verteidigungsausschuss im Jahr 2010 bereits zweimal unterrichtet haben. Es ist gut, zu wissen, dass Sie uns nicht nur am
Ende des Jahres mit dem komprimierten Jahresbericht
informieren, sondern dass Sie die Mitglieder des Verteidigungsausschusses auch regelmäßig über Ergebnisse
und Ereignisse unterrichten, die sich in der Truppe abspielen.
Auch der 52. Jahresbericht legt viele Missstände dar,
die jedoch zum Teil - das ist das Positive daran - wieder
abgestellt sind. Der Jahresbericht 2010 hat im Wesentlichen drei Schwerpunkte: die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst, die Situation in den Auslandseinsätzen und,
damit verbunden, die Ausrüstung der Soldaten sowie die
Probleme im Sanitätsdienst.
Im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Dienst
besteht Nachholbedarf. In der Kinderbetreuung gibt es
zwar erste Erfolge; ein flächendeckender großer Durchbruch ist aber noch nicht erzielt worden. Es ist darüber
nachzudenken, ob beispielsweise eine Kinderbetreuung
an den Universitäten und an den Bundeswehrschulen
sinnvoll erscheinen würde. Nachzudenken ist auch über
weitere Betriebskindergärten, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Frauenanteil in der Truppe mittlerweile
bei knapp 9 Prozent liegt. Wir wollen diesen Anteil auf
15 Prozent steigern. Deswegen ist es begrüßenswert, dass
der Bundesminister im letzten Jahr angekündigt hat, an
200 Standorten weitere Eltern-Kind-Arbeitszimmer neben denen zu schaffen, die bereits existieren. Das ist ein
erster Schritt in die richtige Richtung. Ich bin mir sicher,
dass es nicht der letzte Schritt sein wird.
({1})
Wenn wir über die Auslandseinsätze und die vorhandene Ausrüstung sprechen, dann dürfen wir nie vergessen, dass Ausbildung und Ausrüstung die höchste Priorität haben müssen. Die haben sie auch. Das Training mit
den Handwaffen und den Fahrzeugen kann nicht oft genug unter harten Bedingungen erfolgen, damit die Soldatinnen und Soldaten dieses Material im Einsatz auch in
schwierigen Situationen sicher beherrschen. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt.
Wir sind hier auf dem richtigen Weg, wenngleich es
noch viel zu tun gibt. Deswegen ist es eine richtige Entscheidung gewesen, im Verteidigungsministerium eine
Ad-hoc-Arbeitsgruppe zu gründen, die aus den Erfahrungen im Einsatzkontingent Ausrüstungsmängel identifiziert, damit diese dann abgestellt werden können. Es ist
auch richtig, dass wir als Parlamentarier den Haushaltsansatz für den einsatzbedingten Sofortbedarf im Jahr
2011 auf 300 Millionen Euro angesetzt haben, der unmittelbar unseren Soldatinnen und Soldaten in den Auslandseinsätzen zugutekommt.
({2})
Dass das richtig war, sehen wir daran, dass sich die Anzahl der geschützten Fahrzeuge insbesondere in Afghanistan maßgeblich erhöht hat.
Ein wichtiger Punkt, der nicht nur im letzten Bericht
erwähnt wurde, sondern auch immer wieder im Gespräch mit den Soldaten ein Soft Skill ist, ist die Möglichkeit der Kommunikation mit der Heimat. Der ehemalige Anbieter hat einiges geleistet, wenngleich wir uns
alle erhofft haben, dass die Möglichkeiten der Soldatinnen und Soldaten, mit ihren Angehörigen in Deutschland
zu kommunizieren, besser werden. Deswegen ist es richtig und gut, dass nicht nur eine Ausschreibung stattgefunden hat, sondern dass auch die Entscheidung getroffen wurde, einen neuen Anbieter zu suchen und die
damit verbundenen Leistungen für die Soldatinnen und
Soldaten im Auslandseinsatz wesentlich zu verbessern.
Hierzu gehört nicht nur, dass mehr Computerarbeitsplätze und höhere Geschwindigkeitsraten für Telefonie
und Internet zur Verfügung stehen, sondern auch, dass
das Ministerium zugesagt hat, den Soldatinnen und Soldaten 30 Telefonfreiminuten in der Woche zur Verfügung zu stellen. Das sind erste Schritte, um die Attraktivität der Bundeswehr zu steigern.
({3})
Der Sanitätsdienst ist selber zum Patienten geworden.
Das hat der Wehrbeauftragte bereits angeführt. Auch
hier haben wir mit einem erhöhten Mittelumfang die Talfahrt beenden können. Im letzten Jahr fehlten noch rund
600 Ärzte. Mittlerweile hat sich diese Zahl auf 360 reduziert. Wir konnten sogar 85 Seiteneinsteiger aus der
freien Wirtschaft für die Bundeswehr gewinnen.
Wir müssen neue Anreize schaffen. Angesichts der
Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen, insbesondere der Umstrukturierung der Bundeswehr, müssen
wir die Bundeswehr noch attraktiver machen. Herr
Wehrbeauftragter, ich wünsche Ihnen für die Arbeit in
diesem Jahr, die sicherlich vor dem Hintergrund der
Strukturreform und der Aussetzung der Wehrpflicht,
aber auch vor dem Hintergrund der bestehenden Einsätze äußerst interessant werden wird, alles Gute.
Am Ende meiner Rede - Frau Präsidentin, ich sehe
das Licht - möchte ich den Soldatinnen und Soldaten im
Auslandseinsatz, aber auch ganz bewusst deren Familien, Angehörigen und den Freunden der Soldaten sowie
den Soldatinnen und Soldaten in Deutschland danken.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich meinen Dank an den Wehrbeauftragten für diesen wertvollen Bericht und seine wichtige Arbeit aussprechen. Solange es eine Bundeswehr
gibt, ist die Institution des Wehrbeauftragten in jedem
Fall sinnvoll und notwendig.
({0})
Der Bericht zeigt aber auch, warum die Vorstellung einer
Bundesrepublik ohne Armee so attraktiv ist. Ein Teil der
aufgeführten Missstände und Exzesse wie Bedrohung
von Untergebenen oder gar Körperverletzung oder entwürdigende Behandlung ist wohl eher ein Zerrbild als
ein Spiegel der Gesellschaft.
({1})
Da helfen die jährlichen Berichte, wenigstens die Probleme der real existierenden Bundeswehr zu beschreiben.
Wie wichtig die Arbeit des Wehrbeauftragten als Anwalt der Soldatinnen und Soldaten ist, zeigten die letzten
Monate schmerzlich. Besorgte Bundeswehrangehörige
haben sich über die Feiertage an mein Büro und wohl
auch an viele andere Abgeordnete gewandt. Die Anlässe
sind in der Zwischenzeit hinlänglich bekannt, aber noch
lange nicht aufgeklärt: geöffnete Briefe, lebensgefährliche Missstände auf der „Gorch Fock“ und Waffenspiele
in Afghanistan. Das alles beunruhigte Soldaten, lange
bevor es die Bild-Zeitung aufgriff. Meinen Brief mit der
Bitte um Aufklärung beantwortete das Verteidigungsministerium erst gut einen Monat später. Auch die erste Sitzung des Verteidigungsausschusses in diesem Jahr trug
kaum zur Klärung bei. Dort erzählte der Staatssekretär
Kossendey, der Soldat sei in Afghanistan beim Waffenreinigen gestorben.
Auch der Minister redet zwar gerne mit ausgewählten
Medien, nimmt aber seine Auskunftspflichten gegenüber
Abgeordneten nicht allzu ernst.
({2})
Ohne einen Wehrbeauftragten wären dem Verteidigungsausschuss wohl wieder einmal wesentliche Informationen vorenthalten worden. Eine wirkliche parlamentarische Kontrolle der Armee ist so kaum möglich.
({3})
Ich bin dankbar für das Korrektiv des Wehrbeauftragten.
Doch eigentlich ist es Aufgabe des Ministeriums, alle
wesentlichen Informationen zur Verfügung zu stellen.
Stattdessen wird vertuscht und verschleiert. So kann das
nicht weitergehen.
({4})
Der größte und gewichtigste Teil der Probleme der
Soldatinnen und Soldaten bezieht sich auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr und ganz speziell auf den
Kriegseinsatz in Afghanistan. Der Bericht des Wehrbeauftragten macht sichtbar, was es konkret bedeutet, dass
Deutschland eine „Armee im Einsatz“ hat. Die verfahrene Lage in Afghanistan wird überdeutlich. Wir können
nachlesen, dass die „Intensität der Einsätze kontinuierlich zugenommen“ hat, dass Soldaten „nahezu täglich in
Feuergefechte verwickelt“ sind, dass sie „durch zunehmend militärisch organisierte Hinterhalte und Angriffe
bedroht“ sind. So steigt die Zahl der Soldatinnen und
Soldaten ständig, die dies nicht mehr verkraften. Im Jahr
2010 wurden 40 Prozent mehr posttraumatische Erkrankungen festgestellt als im Vorjahr. Das ist nur die Spitze
des Eisberges; die Dunkelziffer ist hoch. Diese Erkrankungen, aber auch die immer häufigeren und immer längeren Kriegseinsätze belasten auch die Angehörigen.
Deshalb wenden sich auch immer mehr Familienangehörige an den Wehrbeauftragten.
In dem Bericht des Wehrbeauftragten wird auch sehr
deutlich, dass es der Bundesregierung mehr um militärische Interessen als um die Soldatinnen und Soldaten
geht. So dauern die Versorgungsverfahren zur Anerkennung von posttraumatischen Erkrankungen sehr lange,
und nur etwa ein Drittel der Anträge auf Wehrdienstbeschädigung im Falle von PTBS wurde anerkannt. Das ist
zynisch.
({5})
Es kann nicht sein, dass Soldaten und ihre Angehörigen
den Preis für die Kriegspolitik der Regierung zahlen und
dann auch noch mit den Folgen alleingelassen werden.
({6})
Kriege ohne Traumatisierung gibt es nicht; das gilt für
Soldaten ebenso wie für die Zivilbevölkerung - ein weiterer Grund, warum die deutsche Kriegsbeteiligung so
schnell wie möglich beendet werden muss.
({7})
Es gibt nur einen wirklichen Schutz für die Soldatinnen und Soldaten: Das ist ein Ende dieses Krieges. In
den letzten zwölf Monaten starben elf deutsche Soldaten
in Afghanistan. Etwa 70 wurden verletzt. Jeder Einzelne
von ihnen ist einer zu viel.
({8})
Die Mehrheit in diesem Haus hat es in der Hand, wenigstens weitere Opfer zu verhindern. Holen Sie die
Bundeswehr zurück! Beenden Sie diesen Kriegseinsatz!
({9})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Freiherr zu Guttenberg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Höger, das war wieder einmal eine bemerkenswerte Rede,
({0})
die Sie mit den Worten „solange es eine Bundeswehr
gibt“ eingeleitet haben.
({1})
Ich kann nur sagen: Solange es die Linke gibt, wird es
auch die Bundeswehr geben.
({2})
Gott sei Dank ist das der Fall.
({3})
Ich darf auch Ihr hartes Urteil über das Ministerium,
das letztendlich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
und alle Soldaten trifft, mit Nachdruck zurückweisen.
Das haben sie nicht verdient. Ein solches Urteil sollte
man nicht fällen.
({4})
Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten Herrn Königshaus ist „den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie ihren Angehörigen gewidmet“. Weiter heißt
es im Vorwort:
Sie nehmen eine für die Gesellschaft unverzichtbare und viel zu wenig gewürdigte Aufgabe wahr.
Das ist, wenn man so will, der Schlüsselsatz in Ihrem
Jahresbericht, der auch das gesamte Spannungsfeld aufzeigt, in dem wir uns immer wieder befinden und das
letztlich auch bei den Soldaten sowie bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr vorzufinden
ist. Ich kann daher nur das unterstreichen, was Sie mit
diesem Satz zum Ausdruck bringen, nämlich dass immer
noch viel zu wenig gewürdigt und wahrgenommen wird,
was an Dienst für unser Land - auch fern davon - geleistet wird. Daher haben unsere Soldaten Dank und nicht
ein solches Pauschalurteil verdient.
({5})
Diese klare Aussage wird dann mit vielen Beispielen
untermauert. Ich will dem Wehrbeauftragten für seine
Tätigkeit danken. Er macht meinen Dienst nicht immer
ruhiger; das liegt aber in der Natur der Sache. Ich glaube,
dass wir eine sehr gute Form gefunden haben, die Probleme aufzugreifen, anzugehen und zu bearbeiten. Ich
bin überzeugt von der Richtigkeit der Einrichtung des
Amts eines Wehrbeauftragten, weil es unsere Arbeit ergänzt und weil wir Dinge oftmals erst über den Wehrbeauftragten erfahren. Deshalb ist es eine wichtige und für
Sie, Herr Königshaus, oft auch eine hoch emotionale Arbeit, die sicherlich nicht immer ganz einfach ist. Uns eint
das Ziel, dass wir die Sorgen, die Nöte und die Hoffnungen der Soldatinnen und Soldaten nicht nur ernst nehmen, sondern sie aufgreifen und unsere Bemühungen
letztlich in Ergebnisse münden lassen. Wir wollen ein
klares Bild zeichnen, das die Realitäten wiedergibt.
Wenn Vorwürfe von Soldaten kommen oder Vorwürfe
über einzelne Soldaten uns erreichen - manchmal erreichen sie uns erst über die Medien -, dann gehen wir vernünftig und ruhig damit um und versuchen, Abhilfe zu
schaffen.
Die Einrichtung des Wehrbeauftragten macht sichtbar, wie eng der Dienst in unseren Streitkräften an das
Grundgesetz gebunden ist. Der jährlich vorgelegte Bericht ist immer auch willkommener Anlass, die Frage
nach dem Zustand und nach dem inneren Gefüge unserer
Streitkräfte zu stellen.
Die teilweise eher laute öffentliche Diskussion über
einzelne Missstände der letzten Monate darf uns allerdings nicht den Blick auf eine Sache verstellen: Es ist
mir wichtig, dass wir keine voreiligen Schlüsse über die
innere Gesamtlage der Bundeswehr ziehen. Wir müssen
uns immer wieder deutlich machen, dass es sich um
Fehlverhalten Einzelner handelt und dass das nicht den
Zustand der gesamten Bundeswehr widerspiegelt.
({6})
Es ist und bleibt ein gefährlicher Dienst, den unsere
Soldatinnen und Soldaten in unserem Auftrag leisten.
Morgen Nachmittag - darauf wurde von fast allen Rednern hingewiesen - kommen wir zusammen, um in Regen der drei in der vergangenen Woche gefallenen Soldaten zu gedenken. Herr Königshaus, Sie haben mit zwei
der gefallenen Soldaten noch gesprochen. Ich selbst war
einen Tag vor diesem schrecklichen Vorfall in dem
OP North. Ich habe dort Soldaten getroffen und mit ihnen gesprochen. Dieser Vorfall hat mich daher in besonderer Weise erschüttert. Wir denken an Hauptfeldwebel
Georg Missulia, wir denken an den Stabsgefreiten
Konstantin Menz und an den Hauptgefreiten Georg
Kurat, alle aus der 4. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 112 in Regen. Wir sind mit unseren Gedanken
und Gebeten bei ihnen, bei den Angehörigen, insbesondere aber auch bei den Verwundeten. Es waren zehn Verwundete an diesem Tag. Es gab zwei unterschiedliche
Vorfälle. Wir wünschen uns baldige und beste Genesung
gerade für die Verwundeten.
({7})
Die öffentliche Anteilnahme ist in den letzten eineinhalb bis zwei Jahren sehr gewachsen. Das ist trotz der
Schrecklichkeit der Vorfälle ein positives Zeichen, da
die Menschen aufnehmen und wahrnehmen, was unsere
Soldaten leisten. Es zeigt, dass die Menschen in unserem
Land hinter unseren Soldaten stehen. Ohne diesen Rückhalt könnten die Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst
auch gar nicht in dieser Weise leisten.
Wenn wir heute über diesen Bericht diskutieren, debattieren wir immer über Verantwortung, über die Verantwortung des Dienstherrn, über meine Verantwortung
und die Verantwortung, die wir alle gegenüber der Bundeswehr und den Soldaten haben. Gleichwohl dürfen wir
uns auch durch Vorfälle wie am vergangenen Freitag,
durch Rückschläge, gerade was den Einsatz in Afghanistan betrifft, nicht entmutigen lassen. Wegen eines solchen Vorfalls dürfen wir unseren afghanischen Partnern
nicht generell misstrauen. Auch das ist ein wichtiger
Punkt. Wenn wir jetzt ein pauschales, generelles Misstrauen gegenüber unseren afghanischen Partnern an den
Tag legen würden, wäre das ein gänzlich falscher Schritt.
Es entspricht unserer Verantwortung, dass wir an unserer
Strategie des Aufbaus der afghanischen Sicherheitskräfte und der engen Kooperation mit ihnen festhalten.
Der Wehrbeauftragte kennt die Sorgen und Nöte unserer Soldaten von vielen Reisen und Besuchen. Zu
Recht betont er in seinem Bericht die Bedeutung und
Notwendigkeit der Solidarität und Unterstützung der Gesellschaft. Neben den Auslandseinsätzen liegen weitere
Schwerpunkte des Berichts auf der Situation des Sanitätsdienstes und vor allem auf der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr, insbesondere bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese Anregungen
- allesamt wertvolle Anregungen - werden bei der bevorstehenden Neuausrichtung der Bundeswehr in unsere
Überlegungen mit einfließen. Sie sind teilweise schon
Bestandteil dessen, was konzeptionell vorliegt, was es an
Überlegungen gibt und worüber in den nächsten Wochen
zu entscheiden ist. Deshalb verbessern wir mit einem
Maßnahmenpaket die Attraktivität des Dienstes in der
Bundeswehr insgesamt.
Dort, wo in dem Bericht auf bestehende Mängel hingewiesen wird, gehen wir den Einzelfällen konsequent
nach. Wir werden, wo immer es möglich ist, auch Abhilfe schaffen. Insbesondere die Kritik an Ausrüstung
und Ausbildung der Streitkräfte nehme ich außerordentlich ernst. Es wurde im letzten Jahr einiges erreicht, fraglos in den letzten Monaten. Der Bericht würdigt das
auch; aber wir können es nicht dabei belassen. Weitere
Verbesserungen müssen folgen, und sie werden auch folgen. Wir haben uns dem mit aller Kraft anzunehmen.
Wir alle sind dabei in der Pflicht, ein jeder an seinem
Platz: der Wehrbeauftrage, Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen des Deutschen Bundestages, der Bundesminister der Verteidigung und das Bundesministerium der
Verteidigung. Vergessen wir nicht: Es geht um die Sicherheit unseres Landes, es geht um unsere Soldatinnen
und Soldaten. Von daher sage ich dem Wehrbeauftragten
noch einmal Danke. Wir alle müssen weiterhin die Kraft
aufbringen, gemeinsam an der Aufarbeitung dessen zu
arbeiten, was an Missständen gegeben ist. Wir müssen
aber auch das aufgreifen, was in der Breite an Positivem
in der Bundeswehr vorzufinden ist.
Herzlichen Dank.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Omid
Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
trauern um die getöteten Soldaten. Wir fühlen mit den
Angehörigen. Wir wünschen den seelisch wie körperlich
Versehrten schnellstmögliche und vollständige Genesung. Wir danken denjenigen, die wir als Parlament in
den Einsatz geschickt haben.
({0})
Der Vorfall, der uns morgen nach Regen führen wird,
zeigt nicht nur, wie gefährlich dieser Einsatz ist, sondern
auch unsere Verantwortung als Parlament. In diesem Zusammenhang möchte ich auch Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihrem Stab herzlich danken. Sie üben eine
wichtige Hilfsfunktion aus, damit wir eine Parlamentsarmee haben können. Herzlichen Dank dafür.
({1})
Sie sind als Institution nicht nur international einmalig, sondern gerade in diesen Zeiten deswegen besonders
wichtig, weil es irgendeine Person geben muss, denen
die Soldaten in diesen Zeiten tatsächlich vertrauen können. Herr Minister, wenn Sie dem Wehrbeauftragten hier
danken, ihn an anderer Stelle aber eine wandelnde Defizitanalyse nennen, ist das nicht nur ein unfreundlicher
Akt, sondern auch ein Zeugnis dafür, dass Sie die Einmaligkeit und Wichtigkeit dieser Institution nicht erfasst
haben. Natürlich macht er Ihnen Arbeit. Aber die Tatsache, dass Sie ihn als Klotz am Bein empfinden, zeigt,
dass es Ihnen nicht darum geht, die Verhältnisse zu verbessern, sondern darum, einen bequemen Job machen zu
können.
({2})
So geht es nicht.
Die Vorfälle auf der „Gorch Fock“ und bei der Feldpost sind nur zwei Beispiele für eine viel zu zäh verlaufende Aufklärungsarbeit. Das hat etwas mit Ihrem Krisenmanagement zu tun, Herr zu Guttenberg. Am Fall der
„Gorch Fock“ erkennt man exemplarisch, wie viele Haken Sie geschlagen haben: Freitagvormittag haben Sie
sich jede Vorverurteilung verbeten. Freitagnachmittag
wurde der Kommandant geschasst.
({3})
- Nein, habe ich nicht. - Am Samstag war von einer
Suspendierung die Rede. Am Montag haben Sie dann
gesagt, Sie hätten die Abkommandierung nur befohlen,
um ihn zu schützen. Ich glaube, dass das sowohl der
Kommandant als auch die Stammbesatzung der „Gorch
Fock“ anders empfunden haben und es bis heute tun.
Herr Minister, an dieser Stelle haben Sie wiederum den
Überblick verloren.
({4})
Lassen Sie mich auf zwei Punkte aus dem Bericht des
Wehrbeauftragten eingehen, zum einen auf den direkten
Draht der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz
zu ihren Familien; das ist von fast allen Rednern angesprochen worden. Die Kollegin Evers-Meyer hat völlig
zu Recht gesagt, dass die Situation bisher desolat war.
Der alte Vertrag - ich weiß, dass Sie das nicht zu verantworten haben - war alles andere als gut. Das Problem
ist: Der neue Vertrag ist es auch. Ich will ein paar Beispiele nennen: Höchstens ein Drittel der Soldatinnen und
Soldaten wird skypen können, was gerade in Zeiten, in
denen man sich nicht so ganz auf die Feldpost verlassen
kann, wahnsinnig wichtig ist.
({5})
Die Peak-Zeiten, also die Hochzeiten, in denen die
Rechner tatsächlich benutzt werden, nämlich nach dem
Abendessen, werden bei der Bereitstellung der Kapazitäten nicht wirklich berücksichtigt. Besonders witzig ist:
Der Vertrag ist so gestrickt, dass die Gebühren für die
Soldatinnen und Soldaten im Einsatz steigen, wenn das
eintritt, was die Bundesregierung verspricht, nämlich
dass bereits zum Ende des Jahres Soldatinnen und Soldaten abgezogen werden und das Kontingent verkleinert
wird. Der Vertrag wurde ohne jeden Überblick abgeschlossen. Es wäre schön, wenn Sie bei der Lösung solcher Probleme einmal mit dem Wehrbeauftragten reden
und ihm zuhören würden.
Das zweite Beispiel: Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Natürlich ist die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf einer der zentralen Bausteine im Hinblick auf die
Attraktivität der Bundeswehr, gerade wenn die Wehrpflicht ausgesetzt wird. In dieser Situation stellen Sie
sich hin und sagen: Ich mache etwas dafür; denn ich
werde 200 zusätzliche Eltern-Kind-Zimmer bereitstellen. - Das zeigt, wie kurzsichtig Ihre Überlegungen sind.
Ich habe viele Kasernen besucht. Die dortige Angebotssituation ist ambivalent. Viele Menschen wissen nicht so
genau, was sie mit den Eltern-Kind-Zimmern machen
sollen. Die Bundeswehr braucht - wie der Rest der Gesellschaft - echte Betreuungsangebote. Allerdings ist an
dieser Front bisher Fehlanzeige.
Uns wurde ein Katalog mit Vorschlägen vorgelegt,
wie die Attraktivität der Bundeswehr gesteigert werden
kann. Dabei war auch von Inländern ohne deutschen
Pass die Rede. Herr Wehrbeauftragter, in diesem Zusammenhang möchte ich eine Bitte wiederholen: Ich glaube,
dass es den Realitäten und den Veränderungen unserer
Gesellschaft entspräche, wenn Sie sich in Ihrem nächsten Bericht mit der Situation der Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundeswehr beschäftigen würden;
denn sie haben, wie Sie dann erfahren würden, nicht nur
eigene Probleme, sondern bringen auch eigene Erfahrungen mit. Es ist sinnvoll, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen.
Nach dem Katalog mit Vorschlägen, der uns vorgelegt
wurde, soll es möglich sein, Menschen ohne deutschen
Pass bei der Bundeswehr zu beschäftigen. Ich spreche
hier von Inländern ohne deutschen Pass; damit wird der
Unterschied zu Söldnern deutlich. Herr Minister, wir haben erfahren, dass Sie das abgelehnt haben; Sie wollen
das nicht. Mein Verdacht ist: Sie verfallen hier einer Loyalitätsparanoia und sind nicht imstande, zu erkennen,
dass wir hier über die Kinder dieses Landes reden; da
gibt es keine Schwierigkeiten mit der Loyalität.
Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren Punkt
ansprechen, nämlich das von Ihnen beschriebene Partnering. Natürlich müssen wir in dieser Situation in erster
Linie von den Afghanen fordern, dass sie das Vertrauen
wieder herstellen; sie müssen uns erklären, wie sie das
machen wollen. Da ist einiges zu tun. Es geht nicht darum, die Intensität der Ausbildung der afghanischen Soldaten durch die Bundeswehr grundsätzlich infrage zu
stellen. Die Frage ist nur, ob man das ganze Konzept für
sakrosankt erklären sollte, ob man also sagen sollte: So,
wie es ist, ist es richtig; alles andere machen wir nicht.
Ich glaube, dass die Verunsicherung in der Truppe viel
zu groß ist, um einfach zu sagen: Alles bleibt so, wie es
ist; es gibt keinerlei Überprüfung des Konzepts. Sie sollten da besser zuhören, um auch bei diesem Thema den
Überblick zu behalten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4400 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Lambrecht, Sören Bartol, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Maklerkosten gerecht verteilen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner,
Ingrid Hönlinger, Volker Beck ({1}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren
- Drucksachen 17/3212, 17/4202, 17/4614 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Stefan Ruppert
Ingrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte
nicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Saales führen, können wir mit der Aussprache beginnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion das
Wort.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir haben heute Abend zwei Anträge abschließend zu beraten: den Antrag der SPDFraktion, die Maklerkosten gerecht zu verteilen, und den
Antrag über die Einführung eines Bestellerprinzips. Lassen Sie mich zu Beginn eines feststellen: Wir brauchen
weder den einen noch den anderen Vorschlag; denn die
derzeitigen gesetzlichen Regelungen sind völlig ausreichend.
Zum einen haben wir einen Grundsatz in unserem Zivilrecht, der sich klar durch alle Regelungen zieht. Es
handelt sich dabei um den Grundsatz der Vertragsfreiheit. Die Menschen sollen, weil wir ihnen vertrauen,
dass sie ihre Dinge am besten selbst regeln können, ihre
Verträge selber schließen und die Preise, die im Rahmen
der Verträge zu verabreden sind, selber aushandeln können. Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, darüber zu
befinden, wie das, was die Parteien aushandeln, gerecht
verteilt werden soll. Das ist der erste Punkt: Wir brauchen Vertragsfreiheit und keine Verteilung im Zivilrecht.
Schon aus diesem Grund ist das, was Sie vorschlagen,
meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, abzulehnen.
({0})
Wenn man Ihren Antrag im Detail liest, wird sichtbar,
wie suspekt er ist. Wir machen hier ein Recht für Großstädte, das auch für alle anderen Bereiche in Deutschland gilt. Wenn es in einer Großstadt aus verschiedenen
Gründen zu einer Wohnungsnot kommt, die zu Marktverschiebungen führt, dann heißt das nicht, dass beispielsweise wir in Mecklenburg-Vorpommern dieselbe
Situation haben. In Mecklenburg-Vorpommern ist es
eher so, dass Vermieter Schwierigkeiten haben, Mieter
für ihre Wohnungen zu finden. Dort müssen die Mieter
nichts bezahlen, weil der Markt dafür sorgt, dass der
Vermieter die Maklerkosten trägt. Der Mieter hat eine
wesentlich bessere Verhandlungsposition. Sie aber wollen die Kosten des Maklers zur Hälfte auf den Mieter
übertragen. Es ist völlig falsch, zu versuchen, ein Recht
aufgrund Gerechtigkeits- und Verteilungserwägungen zu
verschieben, nur weil man etwas, was in München,
Stuttgart oder Berlin gilt, auch auf das - ich darf das so
salopp formulieren - platte Land übertragen möchte.
Dritter Punkt. Das, was Sie wollen, ist bereits gesetzlich geregelt. Wir haben das Wohnraumvermittlungsgesetz. Darin ist auch enthalten, was die Grünen wollen. In
diesem Gesetz steht, dass ein Makler bei der Wohnraumvermittlung nur dann tätig werden darf, wenn er vom
Vermieter einen Auftrag hat. Das ist das Bestellerprinzip. Außerdem ist darin eine Begrenzung der Maklercourtage festgeschrieben, und zwar auf zwei Mieten. Insofern wurde mittels dieses Gesetzes reagiert, um
ungerechte Marktentwicklungen zu verhindern, die für
Verbraucher belastend sein können. Das ist ein weiterer
Punkt, der es nicht sinnvoll erscheinen lässt, auch nur
annähernd über das, was Sie hier vorschlagen, nachzudenken.
({1})
- Nachdenken schadet nie, Herr Kollege Danckert. Aber
manchmal ist es auch sinnvoll, nachzudenken, bevor
man einen Antrag vorlegt.
({2})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir brauchen
keine Bevormundung im deutschen Recht. Unser deutsches Recht, insbesondere unser Zivilrecht, gründet auf
Vertragsfreiheit. Die Menschen sind in der Lage, ihre
Verträge selbst auszuhandeln. Sie sollen das nach den
vorhandenen Marktsituationen auch selbst tun. Aus den
genannten Gründen lehnen wir Ihre Vorschläge ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ahrendt, wenn Sie sagen, wir brauchen dieses Gesetz nicht, weil die Menschen das alles selbst regeln können, dann mag das vielleicht für Menschen wie Sie gelten, für die zwei Wohnungsmieten Maklergebühr keine
große Rolle spielen. Aber für eine ganze Reihe von
Menschen, die auch bedingt durch die Anforderungen
der Arbeitswelt häufiger umziehen müssen und vielleicht nicht über das Einkommen eines Bundestagsabgeordneten oder eines Anwalts verfügen, spielt es eine
ganz große Rolle, ob sie jedes Mal diese Maklergebühr
bezahlen müssen oder nicht. Deshalb glaube ich sehr
wohl, dass dieses Thema hierher gehört.
({0})
Ich will das mit einigen Zahlen belegen. Wir haben in
Deutschland circa 23 Millionen Mietverhältnisse. Bei einer Umzugsquote von 11 Prozent - sie ist so hoch aufgrund der Anforderung, dass die Menschen flexibel sein
und den Wohnort wechseln müssen, wenn sie woanders
einen Arbeitsplatz bekommen können - haben wir jedes
Jahr 2,3 Millionen neue Mietverhältnisse. Davon ist fast
die Hälfte, nämlich 1 Million, mit Maklergebühren belegt, Tendenz steigend.
({1})
Angesichts dessen können Sie hier doch nicht sagen, das
spiele alles keine Rolle, die Menschen müssten diese
Verträge mit Maklerkosten ja nicht abschließen. Denn
die Realität ist eine andere. Es ist nicht so, dass nur in
Großstädten wie Berlin, Hamburg, München, Stuttgart
und Frankfurt die Situation vorherrscht, dass die Menschen gar keine andere Möglichkeit mehr haben, an geeigneten Wohnraum zu kommen, als durch Verträge, die
über Makler abgewickelt werden,
({2})
sondern das gibt es durchaus auch in ganz anderen Bereichen.
({3})
Beispielsweise findet man in einem riesigen Ballungsgebiet wie der Rhein-Main-Region so gut wie keine Wohnung mehr, wenn man keinen Makler einschaltet.
Jetzt kann man natürlich sagen, man habe doch die
Freiheit, einen Vertrag zu schließen, bei dem Maklergebühren anfallen, oder es zu lassen. Das bedeutet aber
nichts anderes, als sich zu entscheiden, ob man eine
Wohnung bekommt oder nicht. Das ist eine ziemlich
zynische Auslegung der Vertragsfreiheit.
({4})
Deswegen ist es dringend erforderlich, das von Ihnen
eben angeführte, nach dem Wohnraumvermittlungsgesetz geltende Bestellerprinzip kritisch zu hinterfragen.
Sie selbst haben gesagt, dass der Makler nur dann tätig
werden darf, wenn der Vermieter ihn beauftragt. Aber
was geschieht denn dann? Die Kosten der Beauftragung
werden auf denjenigen abgewälzt, der den Wohnraum
anmietet. Der Vermieter bestellt - da haben Sie recht -,
aber bezahlen muss dann alleine der Mieter. Das hat
nichts mehr mit dem Bestellerprinzip zu tun, und deswegen wollen wir einen fairen Ausgleich bei dieser Belastung erreichen.
Ich sehe durchaus ein, dass auch ein Mieter etwas davon hat, wenn ein Makler eingebunden wird, denn
selbstverständlich koordiniert dieser Besuchs- und Besichtigungstermine usw. Deswegen ist uns der Antrag
der Grünen zu weitgehend, nach dem allein der Vermieter oder Verkäufer die Maklergebühren tragen soll.
Wir wollen einen Ausgleich, weil beide davon profitieren und weil es in der jetzigen Situation, die sich noch
dramatisch verschlechtern wird - vielleicht nicht in jedem Ort Mecklenburg-Vorpommerns, aber auch in
Kleinstädten und Dörfern, beispielsweise in der RheinMain-Region -, schwierig ist, an bezahlbaren und akzeptablen Wohnraum zu kommen.
Für Sie mag das vielleicht nicht von Belang sein, aber
für eine ganze Menge Menschen ist es sehr wohl wichtig, ob sie zusätzlich zu Umzugs- und Renovierungskosten auch noch Maklergebühren zu entrichten haben,
wenn sie umziehen und ein neues Mietverhältnis eingehen müssen. Springen Sie deshalb über Ihren Schatten,
und unterstützen Sie unseren Antrag! Das würde zeigen,
dass Sie die Lebensrealität der Menschen durchaus
wahrnehmen.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Jan-Marco Luczak.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich will gar nicht lange um den
heißen Brei herumreden: Auch die Union wird diese beiden Anträge, die von SPD und Grünen vorgelegt wurden, ablehnen. Ich will Ihnen gerne erläutern, warum das
so ist: Ihre Anträge gehen erstens von falschen Annahmen aus, sie sind zweitens zum Teil kontraproduktiv,
und drittens sind sie vom ganzen Ansatz her auf staatliche Interventionen ausgelegt und damit ordnungspolitisch verfehlt.
({0})
Zunächst einmal zu den falschen Annahmen. Ich bin
selber gerade erst vor kurzem in Berlin umgezogen. Ich
habe durchaus lange nach einer Wohnung suchen müssen. Deswegen habe ich mich recht intensiv mit dem Immobilienmarkt in Berlin, also in einer großen Stadt, wie
Sie das in Ihrem Antrag schreiben, auseinandergesetzt.
Ich kann Ihnen also aus persönlicher Erfahrung - der
Umzug liegt erst einige Monate zurück - berichten.
({1})
Nach meiner Erfahrung ist das ganz eindeutig: Hier in
Berlin haben Sie keinerlei Probleme, eine Wohnung zu
finden, die gänzlich ohne Provision vergeben wird. - Da
Sie dazwischenreden, sage ich: Es mag sein, dass es darauf ankommt, wo man sucht.
({2})
Dazu muss man aber sagen, dass man in seiner Freiheit
nicht beschränkt ist, sich auf ein bestimmtes Gebiet zu
beschränken.
Der Bundestag hat sich vor knapp anderthalb Jahren,
zu Beginn der 17. Legislaturperiode, neu zusammengesetzt. Ich gehe davon aus, dass auch einige Kollegen von
der SPD-Fraktion sich eine neue Wohnung in Berlin gesucht haben, auch wenn aufgrund des Wahlergebnisses
vermutlich mehr von Ihnen aus Berlin weggezogen als
zugezogen sind. Das war ja auch nicht schlecht so.
({3})
- Ja, finde ich auch. - Jedenfalls dürften Sie in der Sache
keine anderen Erfahrungen gemacht haben als ich.
In Ihrem Antrag behaupten Sie aber das komplette
Gegenteil. Dort sagen Sie nämlich, dass Makler „regelmäßig“ eingeschaltet werden. Das entspricht nicht meiner Erfahrung.
({4})
Ich bin nun ein bisschen verwirrt. Die Kollegin Lambrecht hat nämlich in einer früheren Debatte zu diesem
Thema zu Protokoll ausgeführt, dass im Bundesdurchschnitt lediglich bei der Hälfte der Neuvermietungen ein
Makler eingeschaltet wird. Was gilt denn nun? Wird er
regelmäßig eingeschaltet, in der Hälfte der Fälle oder
noch seltener? Sie scheinen sich bei Ihren Zahlen selber
nicht so ganz sicher zu sein.
({5})
Ich glaube eigentlich nicht, dass Sie unter kollektivem
Gedächtnisschwund leiden.
({6})
Deswegen glaube ich, dass Sie Ihre Erfahrungen zurückstellen, um politisches Kapital aus der Sache zu schlagen. Das hat mit politischer Seriosität an dieser Stelle
aber nur noch recht wenig zu tun.
({7})
Zugegebenermaßen mag die Wohnungsmarktsituation
in Berlin anders sein als in anderen Regionen. Das muss
man sich schon genau anschauen. In den neuen Bundesländern gibt es zum Beispiel aufgrund der demografischen Entwicklung, wohl auch, weil viele Menschen in
wirtschaftlich besser aufgestellte Regionen ziehen, Gebiete, in denen nach wie vor ein hoher Wohnungsleerstand herrscht. Dort gibt es so wenig Nachfrage, dass die
Vermieter im Grunde gezwungen sind, einen Makler einzuschalten, wenn sie ihre Wohnung schnell wieder vermieten wollen. Weil die Nachfrage in diesen Gebieten so
gering ist, zahlt fast immer der Vermieter die Provision.
Sonst würde er seine Wohnung nämlich überhaupt nicht
vermieten können. Dort herrscht also eine Situation, die
die Grünen mit ihrem Antrag letztlich erreichen wollen.
Der Markt hat an dieser Stelle sozusagen das Bestellerprinzip durchgesetzt.
Anders ist das zum Beispiel in Baden-Württemberg
und Nordrhein-Westfalen. Soweit dort überhaupt eine
Provision verlangt wird - das ist sehr unterschiedlich -,
ist es vollkommen üblich, dass die Maklercourtage zwischen Mieter und Vermieter gleichmäßig aufgeteilt wird.
({8})
Dort herrscht also eine Situation, die die SPD mit ihrem
Antrag herbeiführen möchte. Einer gesetzlichen Regelung, eines staatlichen Eingriffs hat es in beiden Fällen
nicht bedurft.
Bei den regionalen Unterschieden, die ich hier gerade
aufgezeigt habe, muss man auch beachten, dass es innerhalb der Regionen ganz unterschiedliche Marktsegmente
gibt. Die Höhe der Maklerkosten ist sehr unterschiedlich. Es gibt große und kleine Wohnungen. Es gibt eher
einfach ausgestattete Wohnungen, und es gibt Wohnungen mit gehobener Ausstattung. Es gibt Wohnungen, die
von Kleinvermietern angeboten werden, und es gibt
Wohnungen, die von Wohnungsgesellschaften angeboten werden. Manchmal ist die Nachfrage groß, manchmal ist sie gering. Manchmal wird eine Provision verlangt und manchmal eben nicht. Wenn man sich das
genau anschaut, stellt man also fest, dass sich die Situation bezüglich der Maklerprovisionen für Mietwohnungen in Deutschland regional ausgesprochen unterschiedlich darstellt und entwickelt hat.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sind Sie
eigentlich deutschlandweit tätig mit Ihrem Unternehmen?
Jetzt stellt sich die entscheidende Frage: Ist das nun
ein Grund, diese Unterschiede durch ein Gesetz, also
durch staatlichen Zwang aufzuheben? Ist das ein Grund,
alles über einen Kamm zu scheren, oder ist es nicht vielleicht klug, mal dahinter zu schauen und zu fragen, woher diese Unterschiede kommen? Dazu findet man in Ihren beiden Anträgen kein Wort. Ich sage, dass eine
bundesweit einheitliche, staatlich festgelegte Regelung
den unterschiedlichen Interessenlagen und den bestehenden regionalen Unterschieden in keiner Weise gerecht
wird.
({9})
Im Übrigen ist die Wohnungssituation keineswegs statisch, sondern es gibt durchaus Veränderungen. Auf
diese Veränderungen kann der Markt - Angebot und
Nachfrage - am flexibelsten, am schnellsten und damit
auch am besten reagieren.
Man muss sich verdeutlichen - das hat Kollege Ahrendt hier schon angesprochen -, was mit Ihren beiden
Anträgen verfolgt wird. Es handelt sich dabei um einen
ganz erheblichen Eingriff in die Vertragsfreiheit der Parteien. Es müsste schon bedeutende Gründe geben, um einen solchen Eingriff in ein immerhin auch grundrechtlich, nämlich durch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes
geschütztes Recht zu rechtfertigen. Solche Gründe kann
ich aber nicht erkennen. Im Gegenteil: Man sieht an den
regionalen Unterschieden, dass der Markt tatsächlich
funktioniert und den unterschiedlichen Gegebenheiten
Rechnung trägt.
Schauen wir einmal weiter: Ihr Antrag blendet völlig
die Entwicklungen und Veränderungen aus, die auf dem
Immobilienmarkt durch neuere technische Entwicklungen entstehen, zum Beispiel das Internet. Es gibt diverse
Plattformen. Ich nenne nur das Beispiel Immobilienscout. Dort findet man 1,2 Millionen Immobilienangebote, sowohl Miet- als auch Kaufwohnungen, und zwar
pro Monat.
({10})
Diese Internetportale ermöglichen es sowohl Miet- als
auch Kaufinteressenten, sich schnell und unkompliziert
einen Angebotsüberblick zu verschaffen und eine geeignete Immobilie auszusuchen.
Wer keine Maklercourtage zu zahlen bereit ist, kann
die entsprechenden Angebote mit einem einfachen Klick
aussortieren. Er klickt einfach an, dass er nur die Angebote sehen möchte, bei denen keine Provision zu zahlen
ist. Kein Problem, dann bekommt er auch nur diese angezeigt. Vor allen Dingen können auch Vermieter und
Verkäufer mit nur wenigen Klicks ihre Immobilien selber in diesen Portalen einstellen. Dazu brauchen sie keinen Makler.
Allein durch diese in den letzten Jahren stark zunehmende Anbahnung und Abwicklung von Vertragsverhältnissen über das Internet gibt es immer weniger Notwendigkeit, überhaupt einen Makler einzuschalten.
Wenn man in die Zukunft denkt, geht Ihr Antrag tendenziell ohnehin ins Leere. Sie schreiben an anderer Stelle
in Ihrem Antrag ja auch selbst, dass die Anbahnung des
Vertrages häufiger direkt über den Vermieter oder den
Verwalter erfolgt. In diesen Fällen wäre es ohnehin unzulässig, eine Maklerprovision zu verlangen. Das ist ja
auch richtig. Aber Sie nehmen das nicht zum Anlass, Ihren Antrag einmal kritisch zu hinterfragen, sondern Sie
ignorieren diese Tatsache einfach. Da muss ich wieder
sagen, dass Sie mit diesem Antrag Schaufensterpolitik
betreiben.
Das vermeintliche Problem, das Sie mit Ihrem Antrag
aufgreifen, ist also, wenn es überhaupt je eines war, in
den letzten Jahren deutlich kleiner geworden. Es wird in
Zukunft noch kleiner werden. Damit schwindet zugleich
die Rechtfertigung für diesen erheblichen Eingriff in die
Privatautonomie, den Sie hier vornehmen wollen. Damit
wir uns richtig verstehen: Ich bin bestimmt niemand, der
immer sagt, der Markt regelt alles.
({11})
An bestimmten Stellen ist es durchaus richtig, dass man
gesetzgeberisch tätig wird, aber an dieser Stelle, wenn es
um die Maklerprovision geht, zeigen uns die tatsächlichen Gegebenheiten: Der Markt funktioniert. Deswegen
ist es ordnungspolitisch völlig verfehlt, hier staatlich intervenieren zu wollen.
({12})
Meine Damen und Herren von der SPD und von den
Grünen, eines kommt noch hinzu. Ihr Antrag ist - selbst
wenn man Ihr Anliegen teilen würde - in der Sache sogar kontraproduktiv. Denn Sie lassen außer Acht, dass es
nicht nur Außenprovisionen - über diese reden Sie hier -,
sondern auch Innenprovisionen gibt.
({13})
Bei diesen geht es darum, dass ein Vermieter einen Makler mit der Vermittlung beauftragt, aber die Provision
selber, also im Innenverhältnis, zahlt. Dazu schreiben
Sie in Ihrem Antrag, dass man auch hier hälftig teilen
müsse.
({14})
Das würde ja in der Konsequenz dazu führen, dass der
Mieter, der vorher möglicherweise überhaupt keine Provision zahlen musste, auf einmal die Hälfte zahlen muss.
Ich glaube, da geben Sie ihm Steine statt Brot. Das haben Sie bestimmt nicht damit gewollt. Das scheint erneut
deutlich zu machen, dass Sie Ihren Antrag offensichtlich
nicht bis zu Ende gedacht haben.
Wir haben bislang nur von Mietern und Vermietern
gesprochen, aber der Antrag der SPD ist durchaus weitergehend. Es geht nicht nur um Miete, sondern Sie wollen ja auch bei Kaufimmobilien die Provision reglementieren. Da wird es nun ganz absurd. Jeder Verkäufer
möchte für seine Immobilie natürlich einen bestimmten
Kaufpreis erzielen. Wenn Sie jetzt aber den Verkäufer
gesetzlich zwingen, die Hälfte der Provision selbst zu
zahlen, dann kann man sich doch an drei Fingern abzählen, was dann passieren wird. Selbstverständlich wird
der Verkäufer den zu tragenden Provisionsteil, also die
Hälfte, schlicht auf den Kaufpreis aufschlagen. Zumindest würde das jeder wirtschaftlich denkende Mensch so
tun. Eine Entlastung für den Käufer erreichen Sie damit
also keineswegs. Im Gegenteil: Sie würden letztlich nur
eine Kostenspirale in Gang setzen, die für alle Beteiligten zu einer Erhöhung der Kosten führt. Deswegen ist
Ihr Antrag an dieser Stelle absolut kontraproduktiv.
Es gibt - zugegebenermaßen - vielleicht einen, der
sich darüber freuen würde. Das ist nämlich der Makler
selber, weil sich die Provision nach dem Kaufpreis richtet. Er kriegt dann, wenn der Kaufpreis deswegen höher
ist, auch eine höhere Provision. Auch die Notare werden
das vielleicht ganz nett finden, weil sich auch deren Gebühren nach dem Kaufpreis richten. Aber ich glaube, Ihr
Antrag ist nicht so zu verstehen, dass Sie den Maklern
und den Notaren hier etwas Gutes tun wollen, sondern
Sie wollten eigentlich Mieter und Käufer entlasten. Das
ist wieder einmal ein Beispiel dafür: Sie haben an dieser
Stelle nicht bis zum Ende gedacht.
Ihnen geht es vor allen Dingen um die Mieter, jedenfalls in Ihrer Antragsbegründung. Da heißt es immer nur:
Im Übrigen gilt das entsprechend auch für Kaufimmobilien. - Aber vornehmlich fokussieren Sie sich auf die
Mieter. Da verhält es sich im Kern auch nicht anders.
Natürlich wird sich ein Vermieter, wenn er jetzt die
Hälfte der Provision zahlen muss, auch fragen: Wie
kriege ich diese Provision wieder herein? Das heißt, er
wird tendenziell eine höhere Miete verlangen, um das
Geld über die Zeit wieder hereinzubekommen. Das führt
aber dann dazu, dass ein Mieter nicht nur einmal mit einer Provision belastet wird, sondern dauerhaft über eine
höhere Miete.
Meine Damen und Herren, auch die von mir sonst
sehr geschätzten Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen haben ihren Antrag, so scheint mir, nicht ganz
bis zum Ende gedacht.
({15})
Sie schreiben nämlich in Ihrem Antrag, dass gerade in
Zeiten eines flexibilisierten Arbeitsmarktes, wo Arbeitnehmer häufig umziehen müssen, die Maklercourtage
ein Preissteigerungsfaktor sei, der wirtschaftlich eine
spürbare und eine extreme Belastung darstelle. Meine
Damen und Herren, das ist schlichtweg falsch. Sie sollten bei Ihren Anträgen auch einmal ein Stück weit über
den Tellerrand schauen.
({16})
Wenn Sie auch einmal andere Rechtsgebiete in den Blick
genommen hätten, dann hätten Sie nämlich festgestellt,
dass man die Maklerkosten, die beruflich veranlasst sind
- wenn man also beruflich bedingt umziehen musste -,
steuerlich absetzen kann. Insofern findet an dieser Stelle
gar keine Belastung der Mieter statt. Insofern geht Ihr
Argument an dieser Stelle auch völlig ins Leere.
Ich komme zum Schluss. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der SPD,
normalerweise erwarte ich von Ihnen eigentlich kein
Verständnis. Da aber die Anträge, die Sie uns hier vorlegen, die tatsächlichen Gegebenheiten verkennen, ihr inhaltliches Ziel zum Teil sogar konterkarieren, also in
dieser Hinsicht nicht zu Ende gedacht sind, und auch
ordnungspolitisch insgesamt verfehlt sind, werden Sie,
glaube ich, vielleicht doch Verständnis dafür haben, dass
die Union diesen Anträgen beim besten Willen nicht folgen kann.
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Petermann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Worum geht es bei diesen Anträgen im Kern? Es
geht um soziale Gerechtigkeit bei der Anbahnung eines
Mietverhältnisses; so könnte man das Thema der Debatte überschreiben. Übrigens wird diese Debatte aufmerksam verfolgt. Das haben mir Zuschriften bereits
nach der ersten Lesung gezeigt. Die Leute schauen also,
was wir hier treiben; das finde ich sehr interessant. SPD
und Grüne haben mit ihren Anträgen zu einem großen
Sprung angesetzt. Ob auch das Ziel damit erreicht wird,
das wird sich zeigen.
Zur Ausgangslage. In Großstädten und Ballungsräumen mit geringen Leerständen erfolgt die Vermittlung
von Wohnraum meist über einen Makler, der vom Eigentümer beauftragt wird. Der potenzielle Mieter hat bei
derartigen Angeboten regelmäßig keinen Verhandlungsspielraum. Entweder zahlt er die Provision, oder er ist
außen vor. Gerade der stark zunehmende Flexibilisierungsdruck in unserer Gesellschaft führt zu einem rapiden Anstieg der Umzugsraten. Kollegin Lambrecht, Sie
hatten die Zahlen geschildert; sie sind insoweit auch valide.
Die angespannte finanzielle Situation der Betroffenen
wird durch diese Praxis noch verstärkt und führt nicht
selten zu einer weiteren Verschuldung. Das trifft übrigens verstärkt auch auf Studentinnen und Studenten zu,
die es doppelt so hart trifft, wenn sie auf den privaten
Wohnungsmarkt angewiesen sind. Beispielsweise in der
beliebten Thüringer Universitätsstadt Jena werden von
privat überwiegend Wohnungen über Makler angeboten.
Zu den ohnehin schon überdurchschnittlich hohen Mieten kommen neben den üblichen Kautionen noch die
Provisionen, sodass ein Student, ohne auch nur einen
Tag studiert zu haben, bereits mit 2 000 Euro in Vorkasse
gegangen ist, ohne überhaupt eine möblierte Unterkunft
zu bekommen; Geld, das übrigens oft nur geborgt ist.
Man kann also durchaus von einer sozialen Schieflage sprechen, derer wir uns annehmen müssen und annehmen sollen. Hier wird auch das Verständnis von
sozialer Politik sehr deutlich. Ich sage Ihnen: Der Wohnungsuchende ist eindeutig in der schwächeren Position
und bedarf unseres besonderen Schutzes.
({0})
Die Verhandlungsmacht liegt bei knappem Wohnraum immer beim Vermieter. Damit kommt das im Bürgerlichen Gesetzbuch geschützte Privatrechtsverhältnis
auf Augenhöhe, Kollege Ahrendt, zunehmend abhanden.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie versucht
haben zu erläutern. Wir müssen also den Mieter, aber
auch den Käufer vor einer Abwälzung der Maklerkosten
schützen.
({1})
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen setzt den
richtigen Schwerpunkt.
({2})
Er stellt eine konsequente Umsetzung des Bestellerprinzips dar, indem der Besteller der Maklerleistung diese allein zu zahlen hat. Allerdings ist der Immobilienkauf außen vor geblieben. Wenn Sie diesen Punkt noch mit
aufgenommen hätten, wäre Ihr Antrag perfekt gewesen.
({3})
Meine Damen und Herren der Koalition, wenn das,
was Sie meinen, eine Einschränkung der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit ist, dann ist dies jedenfalls
an dieser Stelle gerechtfertigt. Worum es geht, hat bereits Rousseau erklärt - den haben Sie beim Studium
vielleicht auch einmal kennengelernt -:
({4})
Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es
die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das
befreit.
({5})
Das Gesetz soll also den Schwächeren schützen. Dem
sind wir verpflichtet. Darum ist die hier geforderte Regelung unseres Erachtens auch zulässig.
Das gesamte Wohnraummietrecht kennt Regelungen
mit Einschränkungen für den Eigentümer. Kein Mensch
käme auf die Idee, die gesetzlichen Kündigungsfristen
für Mietwohnungen mit dem Argument der Einschränkung der Privatautonomie zu streichen,
({6})
jedenfalls nicht in einem sozialen Rechtsstaat. Ich denke,
die Koalition geht davon aus, dass wir einen solchen haben. Zeigen Sie doch einfach einmal Ihre soziale Seite,
sofern davon noch etwas vorhanden ist!
({7})
Blenden Sie die unsoziale Lobbypolitik aus, damit Studierwillige nicht auf der Strecke bleiben, nur weil sie
nicht von wohlhabenden Eltern abstammen und sich eine
solche Wohnung nicht leisten können! Die Linke sagt:
Wer die Musik bestellt, soll sie auch bezahlen.
({8})
Das gilt auch für Maklerkosten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Daniela Wagner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Ich habe es zur Kenntnis genommen, Herr Kollege.
Wir wollen aber auch noch steigerungsfähig sein.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben es schon in anderen Reden gehört: Die Grünen wollen, dass die Umlagefähigkeit von Maklerkosten gestrichen und ein konsequentes Bestellerprinzip in das
Gesetz zur Regelung der Wohnungsvermittlung integriert
wird. Unser Antrag zielt darauf ab, den im Dienstleistungssektor übrigens eigentlich absolut üblichen Marktmechanismus auch für die Maklerprovision einzusetzen.
Ich habe von Ihnen bisher noch nie gehört, dass das Bestellerprinzip falsch wäre, aber hier ist es ganz offensichtlich fehl am Platz.
Sie wissen, wenn jemand in unserem Land eine
Dienstleistung bestellt, dann zahlt er diese in der Regel
auch. Das Bestellerprinzip wird auch der Unterschiedlichkeit unserer Wohnungsmärkte, die Sie zu Recht benannt haben, am ehesten gerecht. Die Situation sieht in
Kassel in der Tat anders aus als in Frankfurt. Sie sieht in
Nordrhein-Westfalen auch anders aus als im Großraum
Stuttgart. Im Übrigen ist der Hauptnutzer der Leistung
natürlich in erster Linie der Eigentümer, also der Vermieter. Er ist deswegen in aller Regel auch derjenige, der
bestellt. Denn für den Mieter ist es im Grunde genommen vollkommen gleichgültig, ob er mit dem Hauseigentümer, mit dem Hausverwalter - was zunehmend der
Fall ist - oder mit einem Makler die Verhandlungen und
Gespräche führt und die Wohnungsbesichtigung durchführt. Er hat nichts davon. Und wenn er etwas davon hat
und selber bestellen will, dann soll er es auch bezahlen.
Das ist, denke ich, die richtige Herangehensweise.
Im Übrigen stellt die Maklerprovision insbesondere
in angespannten Mietwohnungsmärkten einen nicht zu
unterschätzenden Preissteigerungsfaktor dar. Zum BeiDaniela Wagner
spiel sind die Mieten in den Jahren von 2005 bis 2011 in
Hamburg um 22 Prozent und in Berlin um 20 Prozent
gestiegen. Ganz interessant ist in diesem Zusammenhang das Frühjahrsgutachten des Jahres 2011, das diese
Zahlen darstellt und gleichzeitig feststellt, dass diese
Mietsteigerungen keineswegs auf Qualitätssteigerungen, zum Beispiel durch umfassende Sanierungen, zurückzuführen sind. Das heißt, diese Mietsteigerungen ergeben sich aus den jeweiligen Wohnungsmärkten.
Deswegen wollen wir insbesondere auf diesen schwer
angespannten Wohnungsmärkten die Mietwohnungsuchenden, die Mieterpartei bei der Maklerprovision etwas
entlasten.
({0})
Sie haben auch im Ausschuss schon die Einwände erhoben, das würde gegen die Privatautonomie und die
Vertragsfreiheit verstoßen. Das verstehe ich nun überhaupt nicht. Es ist schon jetzt so, dass es natürlich auch
in diesem Geschäft begrenzende Regeln gibt. Nach dem,
was Sie sagen, wäre es auch ein Eingriff in die Vertragsfreiheit, wenn man diese Gebühren begrenzt; denn man
kann nicht versuchen, beliebig hohe Maklergebühren
von jemandem abzupressen, selbst dann nicht, wenn
man den Eindruck haben kann, dass er genug Geld hat.
Deswegen sage ich Ihnen: Wir greifen keineswegs in
die Vertragsfreiheit ein. Nein, im Gegenteil: Wir schlagen sogar vor, den schwächeren Marktteilnehmer mit einem klassischen Marktmechanismus - wer bestellt, bezahlt - auf geschicktere Art und Weise erfolgreicher zu
schützen und dem stärkeren Marktteilnehmer unter Umständen mehr abzuverlangen. Das soll sich aber jeweils
im Einzelfall regulieren. Wer bestellt, bezahlt!
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Mein Auftrag von der Fraktion war, nachdem
meine Christine Lambrecht alles Wesentliche zu dem
Antrag von unserer Fraktion gesagt hat, auf die Argumente einzugehen, die aus dem Kreis der Kollegen hier
gekommen sind.
Eines ist mir besonders aufgefallen, das ist die Tatsache, dass hier ein Kollege von der CDU/CSU gesprochen hat, der Kollege Luczak, der nicht nur Rechtsanwalt, sondern nach der App, die man vom Bundestag
aufs iPhone geliefert bekommt, auch Inhaber der Firma
Luma Hausverwaltung ist. Ich finde es allerdings sehr
interessant, dass er sich hier als Experte auf diesem zugegeben sehr schwierigen Terrain bewegt, eine Propagandarede für die Hausverwaltungen hält und sich damit
ganz in der Nähe der Vermieter befindet.
({0})
Möglicherweise gibt es an dieser Stelle einen Interessenkonflikt.
Die jetzige Situation muss meines Erachtens dringend
geändert werden. Momentan beauftragen die Vermieter
den Makler, und es wird ein Vertrag zulasten Dritter geschlossen. Das ist eine sehr unfaire Regelung. Deshalb
liegen heute hier zwei Anträge vor, die beide in die richtige Richtung gehen.
Zum einen wird in dem Antrag der Grünen ganz klar
gesagt: Wer den Auftrag erteilt, soll am Ende auch bezahlen. Wir sagen an dieser Stelle: Der erste Schritt muss
sein, dass es einen fairen Kompromiss zwischen Vermieter und Mieter gibt. Beide haben einen Nutzen von dieser Sache.
({1})
Deshalb haben sie sich den Betrag für den Makler gerecht zu teilen.
Diese beiden Anträge gehen also in die richtige Richtung. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, unseren Antrag zu unterstützen, damit wir für die Mieter, die in allererster Linie die Zeche bezahlen müssen, an dieser
Stelle eine Erleichterung schaffen. Durch diesen Antrag
kommt es zur Entlastung der Mieter, die bei der Beschaffung von Wohnraum in eine schwierige Situation geraten. Ich bitte um Unterstützung unseres Antrages.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/4614.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3212 mit dem Titel
„Maklerkosten gerecht verteilen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4202 mit dem Titel „Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist ebenfalls angenommen, und zwar mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur
Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen ({0})
- Drucksachen 17/3629, 17/4233 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
- Drucksache 17/4895 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/4896 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Sören Bartol
Heinz-Peter Haustein
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde
zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden.
Dann können wir so verfahren.
Die Aufmerksamkeit für die Redner scheint gesichert
zu sein. Damit eröffne ich die Aussprache. Als erste
Rednerin hat das Wort für die Bundesregierung Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der sperrige Titel „Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien“ beschreibt nur unzureichend,
worum es heute Abend geht. Dahinter verbirgt sich:
Deutschland ist vorbildlich, wenn es um die Förderung
erneuerbarer Energien geht.
({0})
Unser nationales Recht entspricht bereits weitgehend
dem, was die Europäische Union mit ihrer ErneuerbareEnergien-Richtlinie vorgibt. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und dem Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz haben wir die Weichen richtig gestellt, übrigens in
vorbildlicher Art und Weise zuallererst in BadenWürttemberg. Das Land ist bundesweit Vorreiter, wenn
es darum geht, erneuerbare Wärme zu fördern.
({1})
Beide Gesetze sind die zentralen Säulen für eine Entwicklung der erneuerbaren Energien in Deutschland, die
weltweit Anerkennung findet und inzwischen mehr als
340 000 Arbeitsplätze bei uns geschaffen hat.
Wenn wir heute das Europarechtsanpassungsgesetz
Erneuerbare Energien beschließen, geht es darum, den
eingeschlagenen Weg konsequent weiter zu beschreiten.
Ich möchte zwei Punkte aus dem Gesetzentwurf nennen,
die mir besonders wichtig sind.
Erstens. Wir wollen den Wärmemarkt durch eine Vorbildfunktion bei den öffentlichen Gebäuden stärken. Die
Richtlinie der Europäischen Union sieht vor, dass ab
dem nächsten Jahr alle bestehenden öffentlichen Gebäude eine Vorbildfunktion für die Nutzung erneuerbarer
Energien übernehmen müssen, wenn sie grundlegend renoviert werden.
Dies ist ein wichtiger Schritt, die Nutzung erneuerbarer Wärme weiter voranzubringen. Es geht darum, die
Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude zu stärken, wenn
beispielsweise ein Rathaus oder das Landratsamt vor Ort
durch Solarthermie oder aus einem lokalen Biomasseheizkraftwerk beheizt wird. Dies kann andere dazu ermuntern, ebenfalls auf erneuerbare Energien umzusteigen. Natürlich steigt der Anteil erneuerbarer Energien an
der Wärmeversorgung, wenn die öffentliche Hand konsequent erneuerbare Energien nutzt.
Wir nehmen bei dieser Vorbildfunktion aber auch
Rücksicht auf die finanzielle Situation der Städte und
Gemeinden. Für überschuldete Gebietskörperschaften
sehen wir eine Ausnahmeregelung vor. So verhindern
wir, dass Kommunen überfordert werden, und so haben
wir einen guten Kompromiss zwischen den kommunalen
Interessen und dem Klimaschutz gefunden.
Zweitens wollen wir die Kosten der Förderung für die
Stromverbraucher im Rahmen halten. Wenn die Kosten
der Förderung eines erneuerbaren Energieträgers nicht
mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu seinem Anteil
am Gesamtstromaufkommen der erneuerbaren Energien
stehen, wenn es also zu einer deutlichen Überförderung
kommt, dann gefährdet das die allseits große Akzeptanz
für die erneuerbaren Energien und das Erneuerbare-Energien-Gesetz insgesamt. Das kann niemand wollen.
Deshalb nehmen wir heute eine erneute Anpassung
der Photovoltaikförderung vor, indem wir die Degression teilweise vom 1. Januar 2012 auf den 1. Juli dieses
Jahres vorziehen. Die Degression in diesem Jahr kann in
der Summe bis zu 24 Prozent - je nach Zubauraten - betragen. Dieser Schritt war zwingend erforderlich. Wir
verhindern so eine unverhältnismäßige Belastung der
Stromverbraucher durch zu stark steigende EEG-Kosten.
Es ist erstaunlich, aber auch gut, dass dieser Schritt
diesmal auch von denen akzeptiert wird, die bei der Anpassung vor gut einem halben Jahr noch den Niedergang
der deutschen Photovoltaikindustrie prophezeit haben.
Dafür gab es damals keinen Anlass. Es war ein Stück
weit Panikmache zulasten der Verbraucherinnen und
Verbraucher. Wir müssen in diesem Jahr auf jeden Fall
erneut korrigieren. Auch in Zukunft kann es hier zu weiteren Anpassungen kommen, wenn sich die Schere zwischen sinkenden Anlage- und Modulkosten sowie den
Vergütungssätzen weiter öffnen sollte.
Mit der Begrenzung des Grünstromprivilegs ab dem
1. Januar 2012 auf 2 Cent je Kilowattstunde schränken
wir Mitnahmeeffekte zulasten der Stromverbraucher ein.
Auch das ist ein Beitrag zur Kostenbegrenzung.
Beide Maßnahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sind unverzichtbar und dringend notwendig.
({2})
Sie konnten nicht bis zur großen EEG-Novelle 2012
warten, die Ende des Jahres in Kraft treten soll. Wir verbessern so die Kosteneffizienz des EEG und geben
Anreize für Innovationen. Mit der EEG-Novelle 2012
werden die nächsten Schritte folgen. Wir wollen die
Erfolgsgeschichte des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
fortschreiben. Wir wollen die erneuerbaren Energien in
Deutschland weiter fit für die Zukunft machen und
bauen dabei auf Ihre Unterstützung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dirk
Becker.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ja, Frau Staatssekretärin, es geht hier im Wesentlichen um die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude
bei unserem Bestreben, den Anteil der erneuerbaren
Wärme bis zum Jahr 2020 in Deutschland von derzeit
7 auf 14 Prozent zu steigern, und zwar im Gesamtkontext der Klimaschutzpolitik in der EU und in Deutschland. Warum eine Vorbildfunktion? Wir werden bis zum
Jahr 2015 die Einsatzpflicht im Hinblick auf die erneuerbare Wärme für alle Gebäude beschließen und ausgestalten. Wichtig ist, dass wir schon heute sagen, wie man in
den Gebäuden auf allen staatlichen Ebenen die vorgegebenen Ziele erreichen kann, wie es gelingen kann, erneuerbare Wärme einzusetzen. Da stellt sich in der Tat die
Frage, Frau Staatssekretärin: Was versteht man eigentlich unter einer Vorbildfunktion? Über diese Fragestellung wird in diesen Tagen auf unterschiedlichen politischen Ebenen diskutiert. Keine Sorge, es gelingt mir
auch bei diesem Thema, deutlich zu machen, dass die
Vorbildfunktion nicht gewahrt wird.
({0})
Der Normalfall für den Einsatz erneuerbarer Energien
ist doch wohl dann gegeben, wenn die alte Heizungsanlage ausfällt, wenn sie kaputt ist, wenn sie sozusagen fällig ist und sowieso repariert werden muss. Aber genau
diesen Tatbestand lassen Sie nicht zu. Sie verkomplizieren das Ganze. Zusätzlich müssen nämlich 20 Prozent
der Gebäudehülle erneuert werden, und das innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren. Das heißt, für jeden, der
erneuerbare Wärme nicht einsetzen will, wird es nach
der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs leicht, die
Einsatzpflicht zu umgehen. So dienen Sie dem Klimaschutz nicht. Mit Vorbildfunktion hat das rein gar nichts
zu tun.
({1})
Sie begründen Ihr Vorgehen zum Teil mit der Rücksicht auf die finanzielle Situation der Kommunen. An
dieser Stelle bin ich bei Ihnen: Wir dürfen die Kommunen, die in einer schwierigen finanziellen Lage sind,
nicht überfordern. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, da gibt es auch andere Instrumente. Man sollte den Kommunen ihre Steuereinnahmen lassen, anstatt unsinnige Steuergeschenke zu
machen, mit der Folge, dass den Kommunen Geld fehlt.
({2})
- Wir haben diese Steuergeschenke nicht beschlossen.
Unsere Fraktion hat zusammen mit den anderen Fraktionen in dieser Woche die Bürgermeister der Großstädte
angehört. Ihre Fraktion hat das als einzige nicht getan.
Tun Sie jetzt nicht so, als wären Sie eine Kommunalpartei.
({3})
Der entscheidende Punkt ist in der Tat die finanzielle Situation der Kommunen.
Allerdings: Ist es denn richtig, hier nur einen Umgehungs- und Ausnahmetatbestand herzustellen, die Kommunen aber dauerhaft in der Falle zu belassen, hohe
Brennstoffkosten tragen zu müssen - wir erleben gerade
die Entwicklung des Ölpreises -, anstatt ihnen über den
kommunalen Klimaschutz, über ein umfangreiches
Marktanreizprogramm Wege zu eröffnen, Investitionen
zu tätigen, die sie nachhaltig entlasten? Das wäre der
richtige Weg gewesen.
({4})
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen. Es wird
seit langem darüber gestritten, wie man Biogas, Biomethan am sinnvollsten einsetzt. Wir haben in der Großen Koalition die Pflicht zum Einsatz von Biomethan im
Neubaubereich ganz bewusst an die Nutzung der
Kraft-Wärme-Kopplung gebunden. Warum? Weil wir
gesagt haben: Biogas ist eben kein erneuerbares Abfallprodukt, nicht irgendein Produkt, das einfach so da ist,
sondern ein wertvolles Gut. Wir erleben doch zurzeit,
wie über Biogas auf unterschiedlichsten Ebenen diskutiert wird und welche Akzeptanzprobleme damit verbunden sind. Auch um die Akzeptanz des Biogases nach
Effizienzkriterien auszurichten, müssen wir bei der Verwendung von Biomethan darauf achten, dass es so effizient, so klimaverträglich wie möglich eingesetzt wird.
({5})
Dieser Einsatz ist eben nicht die schlichte Verwertung in
der Therme, sondern die Verwertung bei der Kraft-WärmeKopplung. Wenn eine Vorbildfunktion der öffentlichen
Gebäude angestrebt wird, dann muss das Effizienzkriterium gerade in diesem Bereich vorbildlich berücksichtigt
werden. Daher muss es hier bei der KWK-Verpflichtung
bleiben, und es darf nicht der Verbrennung in der
Therme der Vorrang gegeben werden.
({6})
Frau Reiche, ich will noch auf die Themen PV und
Grünstromprivileg - auch Sie haben sich dazu geäußert eingehen. Dabei geht es nicht um die ureigenen Regelungstatbestände des Europarechtsanpassungsgesetzes
Erneuerbare Energien; wir regeln diese Bereiche mit der
Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes mit. Ich sage
ganz klar: Ja, auch wir wollen die Absenkung der PVVergütung im Markt. Warum? Weil die Marktentwicklung hier weitere Vergütungsabsenkungen zulässt. Es ist
ein Erfolg, dass die Kosten durch die Nutzung erneuerbarer Energien wesentlich schneller als geplant gesunken sind. Das hilft uns allen. Die Zubauzahlen und die
Entwicklungszahlen machen uns stolz. Es zeigt sich,
dass das EEG das richtige Instrument ist und im Kern
daher so bleiben muss, wie es ist.
({7})
An einer Stelle haben wir eine andere Auffassung.
Wir glauben, dass es der falsche Weg ist, wieder mit einem unterjährigen Schritt nur für 2011 dieses Preissenkungspotenzial abzuschöpfen. Wir hätten uns vielmehr
gewünscht - auch für alle Investoren, für alle Anleger -,
über zwei Jahre Verlässlichkeit im Markt zu haben, indem wir jährlich in vier Absenkungsschritten bis zum
1. Januar 2013 dazu kommen, dass der Strom aus großen
PV-Anlagen günstiger ist als der Strom aus Offshorewindparks. Wir hätten damit Verlässlichkeit und Planbarkeit. Wir glauben, das wäre besser gewesen.
Jetzt ist wieder nicht klar, was zum 1. Januar 2012
kommt. Herr Fuchs sagt, dass es noch einmal einen kräftigen Schlag werde geben müssen. Wichtig wäre hier gewesen, auch um unterjährig keine neue Marktüberhitzung zu provozieren, dass man dem Markt längerfristig,
für zwei Jahre, Sicherheit gegeben hätte. Wir haben Ihnen das angeboten, aber Sie haben sich jetzt auf einen
anderen Vorschlag verständigt.
Wichtig bleibt für mich, dass wir, wenn wir dann im
Rahmen der EEG-Novelle über das Thema PV reden,
auch noch andere Aspekte berücksichtigen wie zum Beispiel die Frage, dass man auch regional nach Sonneneinstrahlung prüft. Möglicherweise könnte man hier PVAnlagen fördern.
Letzter Punkt: das Grünstromprivileg. Frau Reiche,
an diesem Punkt darf ich der Koalition zunächst einmal
sagen: Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Sie von Ihrem
ursprünglichen Vorhaben, was die Neuregelung des
Grünstromprivilegs anbelangt, abgewichen sind und
jetzt sagen: Wir machen jetzt einen klaren Schritt - das
sind die 2 Cent -, aber die Neuausrichtung erfolgt mit
der Novelle zum 1. Januar 2012. - Das ist richtig und
wichtig, um nicht in bestehende Verträge einzugreifen.
Aber eines müssen wir schon jetzt wissen: Wir müssen den Stromhändlern frühzeitig sagen, wie es in 2012
weitergeht. Wir können damit nicht bis irgendwann nach
der Sommerpause warten; denn es geht darum, auch für
den Strombezug aus erneuerbaren Energien im Jahr
2012 Verlässlichkeit herzustellen. Von daher die Bitte an
Sie im Ministerium, möglichst frühzeitig gerade das
Thema Grünstromprivileg zu regeln, einen Vorschlag zu
unterbreiten und dabei nicht nur die schlichte Absenkung auf 2 Cent zu prüfen, sondern auch die wichtige
Frage zu klären, wie sich die Reststrommenge zusammensetzen soll. Wir schlagen vor, die Reststrommenge
ganz klar mit dem Gütesiegel „Ökostrom“ oder „KWKStrom“ zu versehen.
Das sind nur einige Punkte. Alles Weitere werden wir
im Rahmen der EEG-Novelle diskutieren.
Noch einmal: Vorbildfunktion - gerade der Wärmebereich ist der schlafende Riese, wie Herr Röttgen gesagt
hat - in diesem Bereich sieht deutlich anders aus.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat: Wir setzen mit dem Europarechtsanpassungsgesetz
eine Richtlinie für die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude im Wärmemarkt um und stellen gleichzeitig die
Weichen dafür, dass es im Bereich der erneuerbaren
Wärme weiter vorangeht. Wir wissen, wir sind in
Deutschland ziemlich gut, was erneuerbare Energien
beim Strom angeht, und wir sind ziemlich schlecht,
wenn es um die Wärme und um den Verkehr geht. Das
muss sich ändern; denn wir haben bei der erneuerbaren
Wärme große Potenziale, nicht nur an CO2-Einsparung,
sondern auch an kostengünstiger CO2-Einsparung. Das
müssen wir mit unseren Förderinstrumenten stärker umsetzen und heben.
Es macht einen Unterschied, ob die FDP regiert oder
nicht. Das zeigt sich beispielsweise beim Thema Biogas.
Seit vielen Jahren war es unser Anliegen, dass wir mehr
Technologieoffenheit in das Wärmegesetz bekommen.
({0})
Es ist unser Anliegen, dass wir diese Form von erneuerbarer Wärme nicht weiter so diskriminieren, wie es die
alte Regierung gemacht hat.
({1})
Die Vorgabe, die Sie beim Biogas machen und die
Herr Becker hier angesprochen hat, nämlich das Biogas
sei zu wertvoll, um es zu verheizen - im Übrigen nicht in
der Therme; hier ist von effizientester Technik die Rede;
das ist der Brennwertkessel -, müssten Sie mit der gleichen Logik auch beim russischen Erdgas machen. Denn
es geht nicht um die Frage, welches Molekül - egal ob
ein Biogasmolekül oder ein Erdgasmolekül - gerade in
der ineffizienten Anlage ankommt. Das können Sie am
Schluss im Gasnetz ohnehin nicht mehr unterscheiden.
Vielmehr geht es darum, dass wir die Produktion und die
Verwendung effizient machen, aber bitte nicht nur bei
denen, die Biogas verkaufen wollen, sondern auch bei
denen, die Erdgas verkaufen. Wir stehen hier insgesamt
vor einer Effizienzfrage.
({2})
Wir haben auf die Argumente reagiert, dass nämlich
der Einsatz von Biogas in der Tat eine sehr kostengünstige Lösung ist - was grundsätzlich für die Verbraucher
erst einmal nichts Schlechtes ist -, dass man hier hohe
Anfangsinvestitionen spart und dass wir deswegen beim
Biogas auch etwas anspruchsvoller sein können als bei
anderen Formen erneuerbarer Wärme. Deshalb haben
wir vorgesehen, dass das Biogas dort, wo die Solarthermie nur 15 Prozent der Wärme erbringen muss, 25 Prozent erbringen muss. Das macht es gerade noch wettbewerbsfähig, ermöglicht aber dem Bauherrn, selbst zu
entscheiden, welche Technologie er wählt. Ich möchte
die Entscheidung, was für die Menschen gut ist, nicht
immer Beamten und Politikern überlassen. Sie sollen
selbst entscheiden, welche Technologie sie einsetzen
wollen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben mit diesem Gesetz vernünftige Regelungen für die Kommunen geschaffen, insbesondere für diejenigen, die überschuldet
sind. Das sage ich als jemand, der aus einem Wahlkreis
kommt, der sich seit Jahren in der Haushaltssicherung
befindet, wo sich die SPD-Kommunalführung trotzdem
immer wieder schicke Leuchtturmprojekte gönnt, für die
energetische Sanierung der Schulen aber kein Geld hat.
Das ist nämlich auch die Wahrheit bei den ach so armen
Kommunen.
({4})
Für bestimmte Prestigeprojekte ist immer Geld da. Für
die energetische Sanierung von Schulen fehlt es dann.
Deswegen haben wir gesagt: Die Verwaltung darf nicht
einfach unter dem Tisch entscheiden, das Gesetz fallen
zu lassen, weil man ja so überschuldet ist. Stattdessen
haben wir geregelt, dass der Rat der Stadt als das demokratische Gremium entscheiden muss. Er muss sagen:
Liebe Bürger, uns ist das Prestigeprojekt wichtiger, als
erneuerbare Wärme in die Gebäude zu bekommen. Das
bedeutet für die Kommunen einen politischen Druck. Sie
sollen nicht so verfahren, wie es ihnen von Herrn Becker
unterstellt wird, nämlich zu versuchen, diesem Gesetz
auszuweichen.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Ja, klar.
Bitte sehr.
({0})
Sie tun mir ja so leid. - Ich bin glücklicherweise ein
Vertreter einer Stadt, die noch nicht im Haushaltssicherungskonzept ist, aber da sie vor einiger Zeit kurz davorgestanden hat, haben wir uns natürlich mit den Regularien eines Haushaltssicherungskonzepts sehr genau
auseinandergesetzt. Teilen Sie meine Auffassung, dass
eine Stadt wie die Ihre, die im Haushaltssicherungskonzept ist, gar keine freiwilligen Prestigeprojekte beschließen kann, weil die Kommunalaufsicht ihr das als Ausgabe verbietet?
Lieber Herr Kelber, ich kann Ihnen ein klassisches
Beispiel aus der Stadt Dortmund nennen, die seit ungefähr 50 Jahren von der SPD geführt wird.
({0})
- Auch nach einem Haushaltsbetrug wiedergewählt. Ich kann Ihnen sagen, dass beispielsweise der U-Turm,
das Museum, das Dortmund für die „Kulturhauptstadt
Europas 2010“ neu gebaut hat, ein sehr schönes Museum
ist. Dem Radeberger-Konzern - das ist wohlgemerkt
eine Tochtergesellschaft von Oetker, also nicht gerade
ein armes Unternehmen - wurde in diesem Zusammenhang für 35 Millionen Euro die städtebauliche Verantwortung abgenommen. Das hat der Regierungspräsident
sanktioniert. Es ist also durchaus möglich, Prestigeprojekte zu bauen und dafür die Schulen nicht energetisch
zu sanieren. Das zeigt leider die Realität in unseren Städten, gerade auch im Ruhrgebiet, wo die SPD herrscht.
({1})
Wenn Sie sagen, die Koalition tue nichts für die Kommunen, dann möchte ich Sie darauf hinweisen, dass alleine mit dem Hartz-IV-Kompromiss auf Initiative von
Union und FDP die Kommunen schrittweise bis zum
Jahr 2014 um 3,5 Milliarden Euro jährlich durch die
Übernahme der Grundsicherung im Alter entlastet werden.
({2})
Hier sind es wieder besonders die Städte mit einer
schwierigen Sozialstruktur, die davon profitieren. Behaupten Sie also nicht, Sie seien die Kommunalpartei.
Wir tun etwas für die Kommunen. Wir entlasten sie.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Gesetz
für die erneuerbaren Energien auch noch andere wichtige Dinge erreicht. Wir tun das, was wir immer gesagt
haben, nämlich die erneuerbaren Energien aufzubauen,
die Verbraucher dafür aber nur so viel zahlen zu lassen,
wie es unbedingt nötig ist.
({4})
Sie von der SPD und Sie von den Grünen haben im letzten Jahr Zeter und Mordio geschrien, als wir 15 Prozent
bei der Photovoltaik abgesenkt haben. Sie haben gesagt,
der Markt bricht zusammen, die Photovoltaikindustrie
geht pleite.
({5})
Nichts davon ist passiert. Die Werte liegen um mehr als
das Doppelte über dem Zielkorridor. Wir liegen bei
7 000 Megawatt. Sie hatten unter Gabriel noch
1 900 Megawatt als Ziel.
({6})
Die Photovoltaik boomt, und zwar trotz der Kürzungen.
({7})
Deswegen sind wir verpflichtet, die Einsparungen, die
der Weltmarkt hergibt, auch an die Verbraucher weiterzugeben.
({8})
Sie haben die Leute im letzten Jahr hinters Licht geführt,
und wir hatten recht mit unserer Politik.
({9})
Als Letztes, meine Damen und Herren, möchte ich sagen: Wir haben der Bundesregierung mit einem Entschließungsantrag auch eine Aufgabe mitgegeben. Wir
wollen das nationale EEG erhalten, aber wir wollen
ebenso Brücken zu einem europäischen Strombinnenmarkt auch für die erneuerbaren Energien bauen, und
zwar unter anderem deswegen, damit wir Projekte wie
Desertec an den deutschen Markt anbinden können. Deshalb haben wir der Bundesregierung gesagt: Bis Mitte
2012 erwartet der Deutsche Bundestag ein Gesamtkonzept für flexible Kooperationsmechanismen in der EU.
Das öffnet die Märkte anderer europäischer Länder. Wir
werden das in dieser Wahlperiode abschließen und den
Investoren einen klaren Rahmen geben.
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Menzner
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Energiepolitik der schwarz-gelben Koalition erscheint mir einmal mehr wie eine Slalomfahrt bei Nebel.
Eigentlich haben wir es hier mit der Anpassung nationalen Rechts an europäische Vorgaben zu tun, aber - das ist
schon angesprochen worden - ganz verschämt und fast
nebenbei werden die Vergütungen für Photovoltaikstrom
weiter abgesenkt und ein erster Schritt zur Eliminierung
des Grünstromprivilegs gemacht. Das hat mit Europarecht überhaupt nichts zu tun. Man hätte das hier nicht
eben einmal so nebenbei abhandeln müssen.
({0})
Aber wir Parlamentarier sind es ja schon fast gewohnt,
da wir uns immer öfter Ad-hoc-Aktionen gefallen lassen
müssen. Das ist allerdings das Gegenteil von dem, was
Ihr Umweltminister immer propagiert, nämlich Planungssicherheit für die Akteure.
Gezielte Falschinformationen schüren Ängste bei der
Bevölkerung, zum Beispiel davor, dass erneuerbare Energien den Strompreis verteuern würden. Ich merke, dass
diese Angst teilweise sogar bis in die eigenen Reihen
geht.
Tatsache ist aber, dass der weitaus größte Teil des
Strompreises auf die Erstellung von Strom und nicht auf
das EEG bzw. staatliche Abgaben oder Steuern zurückzuführen ist. Diese machen den geringsten Teil des
Strompreises aus. Tatsache ist auch, dass der Strompreis
an der Börse in den letzten zwei Jahren um 1,5 Cent je
Kilowattstunde gesunken ist - also von wegen steigende
Strompreise. Tatsache ist auch, dass in den letzten beiden Jahren die großen Stromversorger jeweils circa
35 Milliarden Euro an Gewinnen eingefahren haben. Da
bleibt also das Geld. Darauf ist die Kostensteigerung zuDorothee Menzner
rückzuführen und nicht darauf, dass wir erneuerbare Energien so stark ausgebaut haben.
({1})
Oder haben Sie eine Mitteilung Ihres Stromlieferanten
bekommen mit dem Inhalt: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass der Strompreis gesunken ist und
dass wir, obwohl es mehr erneuerbare Energien im Netz
gibt, den Preis nicht anheben müssen“? Nein, das findet
nicht statt. Erhöhungen werden sofort an den Kunden
weitergegeben, aber keine Preissenkungen.
Was passiert denn nun praktisch? Stück für Stück
wird mittels Ad-hoc-Aktionen das EEG in seine Einzelteile zerlegt. Für dieses Jahr ist jedoch die Vorlage eines
Erfahrungsberichts über das EEG angekündigt. Diesen
auszuwerten und daraus Schlüsse zu ziehen, ist mit uns
durchaus machbar. Natürlich kann man darüber reden,
ob die Photovoltaikförderung weiterhin auf diesem hohen Niveau bleiben muss, aber bitte nach Evaluierung
und nicht vor Vorlage der Ergebnisse. So weiß doch kein
Mensch, was demnächst kommt.
Wenn Sie das umsetzen, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht, wird die Einspeisevergütung in wenig mehr
als zwei Jahren um 40 oder gar 50 Prozent abgesenkt.
Das ist ein Nachsteuern im Hauruckverfahren. Das sorgt
nicht für Verlässlichkeit. Das kaschiert die Probleme, die
Sie eigentlich haben. Das eigentliche Problem ist nämlich, dass Sie den Einfluss auf die Höhe des Strompreises und auf die Stromwirtschaft längst verloren haben,
dass Sie sich von den großen EVUs auf der Nase herumtanzen lassen, dass Sie die erneuerbaren Energien gegen
andere Energien ausspielen und den Lobbyisten der
Stromwirtschaft die Gewinne hinterherwerfen. Ihre Politik hat den Namen Verbraucherschutz nicht verdient, und
das ist mit uns nicht zu machen.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Josef Fell für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Regierungsfraktionen betonen immer wieder
- Frau Staatssekretärin Reiche hat es vorhin ausdrücklich getan -, dass sie hinter dem Ausbau der erneuerbaren Energien stünden. Das Europarechtsanpassungsgesetz wäre nun eine gute Gelegenheit, dies auch wirklich
unter Beweis zu stellen. Aber anstatt eines großen Wurfes haben Sie die Vorgaben der EU verwässert und eine
Vielzahl von Ausnahmeregelungen gestreut. Dies ist
wirklich kein Hinter-den-erneuerbaren-Energien-Stehen.
Ich nenne beispielsweise den Wärmebereich. Es wäre
schön gewesen, wenn Sie die Gesetzesnovelle nun genutzt hätten, um den Wärmesektor einmal richtig voranzubringen und die EU-Vorgaben auch für den Altbausektor endlich umzusetzen, damit wir dort eine
Bauverpflichtung bekommen.
({0})
Nichts davon ist zu sehen.
Herr Kauch, Ihre Umsetzung ist auch nicht technologieoffen. Noch immer wird die Windenergie im Wärmegesetz diskriminiert. Dafür haben Sie das Biogas in die
Wärmenutzung aufgenommen, womit verhindert wird,
dass innovative Technologien tatsächlich auf den Markt
kommen; denn das wirkt sich auf die Bestände der Thermen aus. Das ist keine innovative Technologie.
({1})
Insofern wurde eine große Chance für den Ausbau des
Wärmesektors vertan und die Technologie eben nicht
nach vorne getrieben.
({2})
Statt dass sich die Regierungsfraktionen endlich gegen die Kampagne der Energiekonzerne und des BDEW
stellen, bleiben die dreisten Verleumdungen gegen die
erneuerbaren Energien als Strompreistreiber unwidersprochen. Sie sollten endlich Gesetze verabschieden, die
einen Missbrauch verhindern. Anstatt den Ökostromanteil zu erhöhen, setzen Sie einen Deckel und lassen sogar
die EEG-Umlagebefreiung für Atomstrom zu. Das ist
ein Beleg, dass Ihnen der Atomstrom wichtiger ist als
der Ökostrom. So haben Sie das Grünstromprivileg nicht
optimal umgesetzt und haben keinen optimalen Zustand
erreicht.
({3})
Zur Photovoltaik. Wir sind fraktionsübergreifend der
Meinung, dass die Photovoltaikvergütung in dem Umfang gesenkt werden sollte, wie dies ohne Probleme für
die Photovoltaikbranche möglich ist. Darin sind wir uns
in der Tat einig. Aufgrund der - von Schwarz-Gelb abgelehnten - Markteinführung der Photovoltaik durch das
rot-grüne EEG ist eine industrielle Erfolgsgeschichte
entstanden, die wohl keine Parallele in der weltweiten
Industriegeschichte hat. Die Produktionskosten befinden
sich sensationell im steilen Sinkflug. Folglich ist es ein
richtiger Schritt, weitere marktabhängige Vergütungsabsenkungen noch in diesem Jahr vorzunehmen. Aber statt
aus der Vergangenheit zu lernen, wiederholen Sie genau
den Fehler des letzten Jahres und konzentrieren die Absenkung auf ein einziges Datum. Ein neuer Schlussverkaufseffekt ist ebenso zu befürchten wie daraus resultierende Attacken der erbitterten Photovoltaikgegner in
Ihren Reihen. Ich kann nur an Sie appellieren: Wenn im
Juni der Markt wieder explodiert, dann geben Sie sich
bitte selbst die Schuld und nicht der Solarbranche. Gestehen Sie dann endlich Ihren Fehler ein.
({4})
Die Photovoltaik ist eine wichtige Zukunftstechnologie. Die chinesische Regierung hat das begriffen und
vergibt zinsgünstige Kredite. Allein die Kredite an zwei
chinesische Solarunternehmen sind höher als die ge10572
samte deutsche EEG-Vergütung für Photovoltaik. Die
Bundesregierung redet stattdessen lieber die Nutzung
der Solarenergie schlecht, redet von hohen Kosten und
überlässt den Chinesen einen der größten Exportmärkte
der kommenden Jahre. Ich würde mich freuen, wenn irgendein Vertreter der Koalition endlich einmal das Wort
Industriepolitik in den Mund nehmen würde, wenn es
um erneuerbare Energien geht, und wenn nicht immer
nur von der Strompreistreiberei gesprochen werden
würde.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie haben mit der zusätzlichen Absenkung der Solarvergütung und auch mit der
Korrektur beim Grünstromprivileg - ich erwähnte es
schon - wenigstens einige Trippelschritte in die richtige
Richtung gemacht. Das sehen wir ein. Wir werden deswegen Ihr Gesetz nicht ablehnen, sondern uns enthalten.
Aber wir hätten uns eine wesentlich bessere Umsetzung
mit größeren Chancen gewünscht. Uns ist auch klar: Sie,
meine Damen und Herren von Union und FDP, haben
mit dem Nichtergreifen wichtiger neuer Maßnahmen erneut bewiesen, dass Sie die Blockierer für einen schnellen Transformationsprozess unserer Energiewirtschaft
hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien sind. Ihre
Atomwünsche blockieren dies einfach.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sachverständigen haben uns in der Anhörung zu diesem
Gesetzesvorhaben bescheinigt: Deutschland ist bei der
Umsetzung dieser Erneuerbaren-Energien-Richtlinie
weit fortgeschritten. Ob es das Erneuerbare-EnergienGesetz ist, das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz, die
Biokraftstoffförderung oder auch die Nachhaltigkeitsverordnungen - wir sind europaweit vorbildhaft. Daher
bedurfte es lediglich einiger kleinerer Anpassungen im
Rahmen des EEG und auch des EEWärmeG, um diese
EG-Richtlinie umzusetzen. Beim EEG handelt es sich
um kleine Anpassungen beim Herkunftsnachweisregister. Das ist ein elektronisches Register für die Herkunftsnachweise für Strom aus erneuerbaren Energien. Das
soll demnächst beim UBA geführt werden. Weiterhin
geht es um Informationspflichten bei einem Netzanschlussbegehren für EEG-Anlagen. Das soll konkretisiert, klargestellt und auch zügiger ausgestaltet werden.
Das alles sind kleine Schritte, die wir aufgrund dieser
Richtlinie noch gehen mussten.
Wir haben dann allerdings noch zwei Bereiche - das
haben auch verschiedene meiner Vorredner gesagt - im
Rahmen des EEG novelliert, bevor wir dann im Sommer
dieses Jahres die große Novelle in Angriff nehmen werden. Es geht auf der einen Seite um die Neuregelung der
Photovoltaikvergütung, und auf der anderen Seite geht
es um das Grünstromprivileg.
Die große Akzeptanz in der Bevölkerung für erneuerbare Energien ist ein großes Pfund, mit dem wir wuchern
können, da auch wir als Parlament insgesamt den Ausbau der erneuerbaren Energien wollen. Nichts anderes
sieht auch das Energiekonzept der Bundesregierung vor.
Deshalb müssen wir mit dieser Akzeptanz auch sehr
sorgsam umgehen und schauen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger, die Stromkunden, die über die Strompreise letztendlich auch die Kosten für die erneuerbaren
Energien aufzubringen haben, nicht überfordern.
({0})
Deshalb ist es doch vernünftig - wenn wir im Bereich
PV insgesamt 17 000 Megawatt installierter Leistung
haben, von denen mehr als 7 000 im Jahr 2010 installiert
worden sind -, dass wir jetzt schon bezüglich der Vergütung des PV-Stroms nachsteuern. Ich glaube, es ist
durchaus erträglich, was wir da - für Dachanlagen zum
1. Juli und für Freiflächenanlagen zum 1.September vorgesehen haben. Das ist aber auch noch von der
Marktentwicklung in den Monaten März, April und Mai
2011 abhängig. Diese Regelung findet auch in der Branche weite Akzeptanz. Deshalb kann ich, ehrlich gesagt,
einige Angriffe aus der Opposition überhaupt nicht
nachvollziehen. Es ist doch kein Qualitätszeichen, dass
PV-Strom so teuer wie möglich ist, sondern im Gegenteil, es ist ein Qualitätszeichen, dass er so preisgünstig
wie möglich ist.
({1})
Bei der Frage des Grünstromprivilegs haben wir auch
schon einmal eingegriffen; denn letztendlich können
nach derzeitiger Regelung Energieversorgungsunternehmen von der Zahlung der EEG-Umlage ausgenommen
werden, wenn sie mindestens 50 Prozent erneuerbaren
Strom am Markt vertreiben. Dann sind auch die restlichen 50 Prozent des sogenannten grauen Stroms von der
EEG-Umlage befreit. Das führt aber eben auch dazu,
dass diejenigen, die dann noch als Umlagezahler bleiben, entsprechend mehr Umlage bezahlen müssen.
Aufgrund der preislichen Entwicklung in diesem Jahr
schien es geraten, dass wir diese Regelung schon vorzeitig in Angriff nehmen, bevor wir uns, wie gesagt, im
Sommer an eine Neuregelung begeben, um Mitnahmeeffekte zulasten der nichtprivilegierten Stromversorger zu
verhindern. Aber eines muss ganz klar sein: Die Frage,
wie wir erneuerbare Energien besser in den Markt bzw.
ins Netz integrieren, wird die zentrale Frage sein, die wir
im Rahmen der EEG-Novellierung gemeinsam zu diskutieren haben. Es wird vorrangig nicht darum gehen, ob es
hier einen etwas höheren Bonus und da ein bisschen weniger Vergütung gibt - wie auch immer - oder welche
Degressionsschritte gewählt werden. Letztendlich müssen wir einen qualitativen Schritt in die richtige Richtung machen: Die erneuerbaren Energien müssen erwachsen werden; sie müssen sich dem Markt noch mehr
stellen und müssen ernstzunehmende Wettbewerber werden. Dabei stellen wir die Bedeutung des EEG überhaupt
nicht infrage.
({2})
Jetzt eine Bemerkung zum Erneuerbare-EnergienWärmegesetz. Wir haben da tatsächlich eine Tür geöffnet: Das Ordnungsrecht schreibt jetzt vor, dass bei einer
grundlegenden Sanierung von Bestandsgebäuden der öffentlichen Hand Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien mit installiert werden.
({3})
Hier geht es um die Vorbildfunktion der öffentlichen
Hand. Wir wissen aber, wie es unseren Kommunen derzeit geht: Ihre Finanzen sind, um es zart auszudrücken,
sehr knapp gestrickt. Deshalb haben wir Härtefallregelungen vorgesehen:
({4})
Bei akuter Haushaltsnotlage tritt die Nutzungspflicht
nicht ein. Allerdings konnten wir im Rahmen der parlamentarischen Beratungen Verfahrensregeln durchsetzen, dass die Räte diese Problematik in aller Offenheit
thematisieren und darüber abstimmen müssen, damit der
Bürger darüber informiert ist, wofür in seiner Stadt, in
seiner Kommune Geld ausgegeben wird und wofür
nicht.
Ich bin sicher, dass wir einen ausgewogenen Entwurf
eines Europarechtsanpassungsgesetzes vorgelegt haben,
mit dem wir unsere Klimaschutzziele in einem ehrgeizigen, aber dennoch realistischen Rahmen umsetzen. Ich
bitte um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie zur Förderung der Nutzung
von Energie aus erneuerbaren Quellen. Der Ausschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4895, den Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 17/3629 und 17/4233 - in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit angenommen.
({0})
Uns liegt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsord-
nung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4895 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4897. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Dagmar Ziegler, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide
nach Abzug der Bundeswehr
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Jan van Aken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Friedliche Zukunft der Kyritz-Ruppiner
Heide und Interessen der Region sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({2}), Agnes
Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhalten - Voraussetzungen für eine chancenreiche Regionalentwicklung schaffen
- Drucksachen 17/1961, 17/1972, 17/1989, 17/4276 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({3})
Michael Groschek
Paul Schäfer ({4})
1) Anlage 24
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Anita Schäfer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor sechs Wochen hat der offizielle Auflösungsappell des Bundeswehrstandortes Wittstock stattgefunden. Die letzten Soldaten werden bis zum 30. September 2011 abziehen. Damit endet die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide. Drei verschiedene
Bundesregierungen haben den Bedarf gesehen, das ehemals sowjetische Übungsgelände weiter zu nutzen, wenn
auch in erheblich geringerem Umfang als vormals die
Rote Armee. Zudem wäre mit zahlreichen Einschränkungen zugunsten der Anwohner und nicht mit scharfer
Munition geübt worden. Dieser Bedarf hat sich in den
letzten Jahren geändert.
Was sich nicht geändert hat, ist die Notwendigkeit für
ein umfassendes Training unserer Soldaten, gerade für
das Zusammenwirken von Luft- und Bodenstreitkräften.
Der gegenwärtige Einsatz in Afghanistan unterstreicht
diese Notwendigkeit. Aber der damalige Verteidigungsminister Jung ist zu dem Schluss gekommen, dass hierfür künftig auf den Luft-Boden-Schießplatz Wittstock
verzichtet werden kann. Der durch seinen Nachfolger
angestoßene Umbau der Bundeswehr, der mit einer Reduzierung einhergeht, bestätigt dies im Nachhinein.
({0})
- Ich meine Freiherrn zu Guttenberg.
Eines muss klar sein: Die Ausbildung für alle Einsatzarten, auch unter mitteleuropäischen Bedingungen,
bleibt unverzichtbar. Wir sind daher aufgefordert, diese
auch nach dem Verzicht auf Wittstock sicherzustellen.
Das bedeutet im Sinne der Lastenteilung im Bündnis
auch weiterhin Übungsbetrieb in Deutschland. Weder
können wir Deutsche die damit einhergehende Belastung
einfach vollständig auf unsere Partner abwälzen, noch
können wir uns in ein Luftschloss zurückziehen und alle
Übungsplätze schließen, wie es im Antrag der Linken
einmal mehr durchklingt.
({1})
Für die Stadt Wittstock
({2})
war die mit dem Schießplatz verbundene Garnison über
viele Jahre lang eine Grundlage für stabile und sichere
Arbeitsplätze, die nicht der Abhängigkeit von verschiedensten Faktoren unterlagen und deren Zahl mit der ursprünglich geplanten Nutzung noch erheblich angewachsen wäre. Für die Region geht es nun darum, eine zivile
Nachnutzung zu finden, die diese Pläne kompensiert.
Mittlerweile sind die ersten Schritte für eine Konversion
des Truppenübungsplatzes Kyritz-Ruppiner Heide eingeleitet. Gegenwärtig befasst sich eine Arbeitsgemeinschaft unter Beteiligung des Landes Brandenburg und
der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben mit diesem
Thema.
({3})
Deren zweite Sitzung soll im Frühjahr stattfinden. Ein
Gutachten zur Weiterverwertung, insbesondere im Hinblick auf die Munitionsbelastung, befindet sich derzeit
im Zulauf. - Herr Hacker, zuhören!
({4})
Insofern sind zahlreiche Forderungen der vorliegenden
Oppositionsanträge bereits überholt.
Bei allen vorangegangenen Differenzen besteht kein
Zweifel daran, dass jetzt allen Beteiligten daran gelegen
ist, sobald wie möglich zu einer Abgabe der Liegenschaft zu gelangen. Vor Oktober ist damit jedoch nicht
zu rechnen. Zusätzlich wird die notwendige Altlastensanierung dazu beitragen, dass die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide erst in einiger Zeit realisiert werden
kann. Für die Nutzung durch die Bundeswehr wurde ein
finanzieller Bedarf von rund 220 Millionen Euro ermittelt. Eine zivile Nutzung setzt aber ganz andere Standards voraus. Hier muss man von einer deutlich höheren
Kostenbelastung ausgehen.
Was die in allen drei Anträgen geforderte teilweise
oder vollständige Eingliederung der Kyritz-Ruppiner
Heide in das nationale Naturerbe betrifft, das in unserem
Koalitionsvertrag mit 25 000 Hektar festgeschrieben ist:
Für tragfähige Entscheidungen müssen der Bund, die
Länder und die Bundesanstalt ausreichend Zeit für die
Klärung noch offener Fragen haben.
({5})
Daher werden voraussichtlich zunächst 12 000 Hektar in
diesem Projekt für die Kyritz-Ruppiner Heide reserviert.
Nach Auswertung der derzeitigen Gespräche wird man
dann sehen, welche Flächen entsprechend überführt werden können.
({6})
Sosehr ich der Region eine touristische Weiterentwicklung durch die Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide wünsche: Quasi im Schnellwaschgang, wie die drei vorliegenden Anträge dies suggerieren,
({7})
wird man dies nicht erreichen können.
Viel wichtiger ist es, hierfür eine sichere rechtliche
und finanzielle Basis zu schaffen. Zeitliche und inhaltliche Festlegungen, wie sie ganz konkret in den Anträgen
Anita Schäfer ({8})
gefordert werden, sind aber derzeit nicht glaubhaft
machbar. Der Antrag der Linken taugt schon wegen der
erwähnten sicherheitspolitischen Luftschlösser darin
nicht als Grundlage.
({9})
Bei dem Antrag der Fraktion der SPD ist zwar anzuerkennen, dass man sich bei ihm sehr viel mehr um
Sachlichkeit bemüht hat, gleichwohl ist auch er abzulehnen.
({10})
Denn ihm ist mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und dem Antrag der Linken gemein, dass er vor allen
notwendigen Prüfungen weitgehende Festlegungen des
Bundes fordert.
({11})
- Ich warte darauf. Ich bin auf die Rede gespannt.
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Joachim Hacker
von der SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir heute
erst zu vorgerückter Stunde über eine so wichtige Thematik für den Landkreis Ostprignitz, für die Region
Kyritz-Ruppiner Heide sprechen. Wenn ich Ihre Rede
richtig verstehe, Frau Schäfer, dann hätten Sie dem SPDAntrag eigentlich zustimmen können; denn genau das,
was Sie hier vorgetragen haben, haben wir in unserem
Antrag gefordert. Genau das war Gegenstand unseres
Antrages. Wir haben unseren Antrag mit dem Land
Brandenburg abgestimmt, und wir haben auch den Bund
nicht über Gebühr in die Verantwortung drängen wollen,
weil der Bund nur bestimmte Aufgaben hat. Er hätte
aber gemeinsam mit dem Land und natürlich auch mit
den Akteuren vor Ort dieses Verfahren gestalten können.
„Die Heide ist frei!“ - dieser Aufkleber ist auf Schildern in vielen Orten im Norden Brandenburgs zu lesen,
mit denen sich Bürgerinnen und Bürger in diesen Städten
und Gemeinden in der Ostprignitz gegen den geplanten
Luft-Boden-Schießplatz der Bundeswehr zur Wehr gesetzt hatten. Dieser Aufkleber ist Ausdruck des jahrelangen und am Ende erfolgreichen Bemühens von Bürgerinitiativen, aber auch der Bemühungen aus dem
politischen Bereich; wir haben das Thema in den letzten
Jahren zum Teil auch hier im Bundestag begleitet.
Wir wollen, dass für diese Region eine Perspektive
zur Entwicklung des sanften Tourismus geschaffen wird.
Mit der Entscheidung des Bundesverteidigungsministeriums vom Juli 2009, den Luft-Boden-Schießplatz aufzugeben, haben sich für die Region neue Chancen für die
zivile Nutzung und natürlich auch für den Naturschutz
eröffnet.
({0})
Damit endet die Verantwortung der Bundeswehr und
der Bundesregierung aber nicht; denn nach einer jahrzehntelangen militärischen Nutzung müssen deren Folgen bewältigt werden. Munition und andere Altlasten
müssen beseitigt werden, um die Heide nicht nur von der
militärischen Nutzung zu befreien, sondern um sie vor
allen Dingen für die Menschen in der Region, aber auch
für Besucher aus Nah und Fern zu öffnen.
({1})
Für diese strukturschwache Region können Potenziale für den sanften Tourismus, aber auch für Windparks
und andere erneuerbare Energien erschlossen werden.
Genau dies ist Gegenstand des Antrages der SPD-Bundestagsfraktion, liebe Kollegin Schäfer. Der zentrale Gedanke ist der Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Nutzung und Naturschutz.
Die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide kann aber nur
gemeinsam mit den Menschen in dieser Region gestaltet
werden. Die Bürgerinitiativen waren erfolgreich. Jetzt
müssen sie auch an der Zukunftsplanung für diese Region beteiligt werden. Die SPD-Fraktion hat deswegen
in ihrem Antrag gefordert, die lokalen Akteure mit einzubeziehen. Unsere Forderungen richten sich aber auch
ganz klar an den Bund. Er ist in der Pflicht, mit seiner eigenen Koordinierungsstelle für Konversionsfragen an
Nachnutzungskonzepten zu arbeiten und die Altlasten zu
beseitigen. Das kann nicht allein Angelegenheit des Landes Brandenburg sein. Ich habe gehört - Frau Schäfer,
Sie sind ja auch dafür -, dass das im gegenseitigen Einvernehmen zwischen dem Bund und dem Land Brandenburg geschehen soll. Die Entwicklung der Kyritz-Ruppiner Heide war seit Jahren ein parteiübergreifendes
Anliegen. Nach Vorlage der auf der Tagesordnung stehenden Anträge gab es Bemühungen, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu entwickeln. Ein solcher Antrag
- das muss hier gesagt werden - ist am Starrsinn der
Unionsfraktion im vorigen Jahr gescheitert.
({2})
Er ist, um das konkret zu benennen, am Starrsinn der
Landesgruppe Brandenburg der CDU/CSU-Fraktion gescheitert, die nicht bereit war, einen solchen fraktionsübergreifenden Antrag zu gestalten. Frau Behm, ich entsinne mich noch gut an unsere Gespräche. Wir hätten das
hier gemeinsam gestalten können. Frau Schäfer, wir waren auch bereit, auf die Belange und Forderungen Ihrer
Fraktion einzugehen.
({3})
Wir haben aber nicht ein Signal bekommen, dass Sie
zum Zusammenwirken bereit sind.
Wenig hilfreich - auch das muss an dieser Stelle gesagt werden - war der Antrag der Linken. Sie haben von
vornherein reine Kritik an der Bundeswehr geübt. Sie
haben mit dieser blassen Kritik
({4})
von vornherein einen Kompromiss ausgeschlossen. Das
war offenbar Ihre Absicht.
({5})
Sie wollten sich vermutlich vor Ort entsprechend präsentieren. Sie haben nichts dazu beigetragen, dass wir hier
einen fraktionsübergreifenden Kompromiss erreichen.
({6})
- Sie haben einen Antrag gestellt, der von vornherein
nicht kompromissfähig war, Frau Tackmann. Lesen Sie
doch Ihren eigenen Antrag!
({7})
Wir sagen klar: Wir wollen einen Nutzungsmix. Neben Flächen für die touristische Nutzung soll es unter
Naturschutz gestellte Flächen geben, aber auch Flächen
für die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen. Allein
dieser Mix kann die Region voranbringen.
Wenn der Antrag heute nochmals von der Koalition
abgelehnt wird, wenn nochmals der Versuch unternommen wird, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sagen
wir: Frau Schäfer, diese Fahnenflucht kann nicht erfolgreich sein. „Die Heide ist frei“ bedeutet eben nicht, dass
die Bundesregierung und die Bundeswehr frei von Verantwortung sind. Die Heide ist erst dann frei, wenn sie
frei von Munition und Altlasten ist, wenn Tier und
Mensch das Gelände gefahrlos betreten können
(Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Das
hätte alles schon sein können!
und eine vernünftige Balance zwischen wirtschaftlicher
Nutzung und Naturschutz erreicht wurde. Genau das ist
der Inhalt unseres Antrages. Frau Schäfer, ich lade Sie
und die CDU/CSU-Fraktion noch einmal ein: Stimmen
Sie unserem Antrag zu.
({8})
Sie haben gleich die Chance dazu.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Spatz von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hacker, dass wesentliche Forderungen, die in Ihrem
Antrag stehen, bereits jetzt in der Umsetzungsphase
sind, ist kein Grund dafür, dem Antrag zuzustimmen;
({0})
das ist vielmehr ein Beleg dafür, dass die Koalition und
die Bundesregierung in Partnerschaft mit den lokalen
und den Landesautoritäten auch ohne Ihren Antrag handlungsfähig sind.
({1})
Bundesminister Jung hat entgegen dem, was vom
Verteidigungsministerium jahrelang als notwendig erachtet worden ist, auf die Nutzung verzichtet. Wir sind
froh darüber. Als neuer Abgeordneter kann ich dem vorbehaltlos zustimmen. Andere Kollegen, die jahrelang die
andere Richtung vertreten haben, haben sich damit ein
bisschen schwerer getan. Auch das sei hier einmal erwähnt.
Natürlich muss jetzt durch die BImA in Partnerschaft
mit den lokalen und Landesgebietskörperschaften ein
Nachnutzungskonzept gefunden werden. Seit dem
5. November 2010 gibt es einen Lenkungskreis, dem die
Betroffenen angehören. Unter Leitung der BImA und
Beteiligung des Landes Brandenburg, des Landkreises
und des Bundesministeriums der Verteidigung wird ein
abgestimmtes Konversionskonzept gesucht. Eines ist
aber schon klar: Die weitgehenden Festlegungen, die
von diesem Lenkungskreis getroffen werden, sind für
den Bund ein bisschen schwierig; denn die Kosten der
Dekontaminierung sind natürlich noch nicht genau zu
beziffern. Schließlich geht es hier nicht um ein kleines
Areal, sondern um ein Riesenareal. Natürlich muss man
erst einmal wissen, über welche Größenordnung man
verhandelt, bevor man letztendlich Festlegungen trifft.
({2})
Die Einbindung der lokalen Autoritäten ist, wie gesagt, gewährleistet. Auch wir sind für ein gemischtes
Nutzungskonzept. Die Einbeziehung der Kyritz-Ruppiner Heide in das nachhaltige Energiekonzept für Brandenburg ist vorgesehen. Ferner ist eine touristische Entwicklung vorgesehen. Auch die Stiftung „Nationales
Naturerbe“ und ähnliche Dinge sollen eine Rolle spielen.
Ein großes, einheitliches Konzept ist auch aus unserer
Sicht relativ unwahrscheinlich.
Im Übrigen sind wir dafür, dass verschiedene Eigentumsformen in diesem Gebiet möglich sind; auch private
Investoren sollen erlaubt sein. Deswegen ist es nicht
vertretbar, dass, wie von Linken und Grünen gefordert,
bereits zum jetzigen Zeitpunkt private Investoren generell ausgeschlossen werden. Wer in anderen Städten lebt
- auch in meiner Heimatstadt Würzburg gibt es ein giJoachim Spatz
gantisches Konversionsprogramm -, der weiß, dass das
nur mit privaten Investoren funktionieren kann. Andernfalls ist es für die beteiligten Kommunen überhaupt nicht
zu stemmen.
({3})
Das ist Fakt. Natürlich kann man sich die Welt schönmalen, aber mit Realität hat das dann nichts zu tun.
Zu den Linken kann man in dem Fall keine ernstzunehmende Stellungnahme abgeben. Es ist wie bei jedem
Thema, das mit der Bundeswehr zu tun hat - wir haben
das heute bei der Wehrrechtsreform gesehen -: An allem, was eine funktionierende Armee benötigt, in diesem Fall die Möglichkeit, Luft-Boden-Übungen durchzuführen, wird Generalkritik geübt. Dies wird auch an
anderer Stelle kritisiert. Das geht natürlich überhaupt
nicht. Sie verabschieden sich völlig von der seriösen
Diskussion über den vorliegenden Fall, die Umnutzung
der Kyritz-Ruppiner Heide, und üben Generalkritik an
der Bundeswehr. Damit haben Sie ein Stück weit - da
gebe ich dem Kollegen von der SPD recht - die Anträge
der anderen Oppositionsparteien kontaminiert. Das sage
ich ganz deutlich.
({4})
- Ja, in der Tat, kontaminiert mit Ihrer Fundamentalkritik an der Bundeswehr und ihren Übungsmöglichkeiten.
({5})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollen für die Zukunft bei der Bundeswehr bestimmte Fähigkeiten erhalten. Dazu gehören Luftfähigkeiten. Das betrifft auch die
anderen Übungsplätze, die Sie apostrophiert haben. Wir
wollen diese erhalten und nicht schließen. Wir achten
darauf, dass auch bei diesen Übungsplätzen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen militärischen Notwendigkeiten und den berechtigten Interessen der Anwohner erhalten bleibt. Wie gesagt: Dieser Fundamentalkritik
können wir uns nicht anschließen.
Wir wünschen, dass die Kooperation zwischen Land,
Bund und Kommune in unserem konkreten Fall zu einer
positiven Entwicklung vor Ort führt.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
geht heute Abend nicht um irgendwelche 12 000 Hektar
märkischen Boden; vielmehr geht es bei der Kyritz-Ruppiner Heide um ein Symbol für eine lebendige Bürgerdemokratie. Der Verzicht auf das Bombodrom war formal
eine Entscheidung von Regierenden; aber erzwungen
wurde sie durch ein breites überparteiliches Bündnis in
der Region mit überregionaler Unterstützung.
({0})
Die Bürgerinitiativen „Freie Heide“ und „Freier Himmel“ waren neben „Pro Heide“ und vielen anderen Initiativen Motor dieses Widerstandes. Die Linke war immer
an ihrer Seite. Wir haben gemeinsam gekämpft, auch
wenn die Ziele im Einzelnen unterschiedlich waren: gegen Kriegsübungen, gegen Naturzerstörungen oder einfach nur gegen die Blockade der regionalen Wirtschaftspotenziale. Fast 20 Jahre lang hat die Bundeswehr
versucht, eine Nutzung des Geländes als Bombodrom zu
erzwingen, und zwar gegen eine übergroße demokratische Mehrheit in der Region und mit rechtsstaatswidrigen Mitteln, wie in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg festgestellt wird. Am Ende
war es die Hartnäckigkeit des politischen und juristischen Widerstands, die zum Erfolg geführt hat.
({1})
Das sollte auch denen Mut machen, die in Nordhorn und
Siegenburg für die Schließung von Übungsplätzen
kämpfen.
Wieso erzähle ich das? Weil die Bundespolitik gegenüber der Region in ganz besonderer Verantwortung steht,
nach diesem sehr langen, sehr steinigen Weg zu einer
friedlichen Zukunft in der Kyritz-Ruppiner Heide zu
kommen.
({2})
Angesichts des breiten überparteilichen Bündnisses vor
Ort wäre es ein wichtiges Signal gewesen, einen gemeinsamen überfraktionellen Gruppenantrag zu erarbeiten.
Das ist leider gescheitert - das wurde hier schon gesagt -,
aber es ist nicht an den Linken gescheitert.
({3})
In unserem Antrag haben wir ausdrücklich den Diskussionsstand in der Region aufgegriffen, weil uns das
besonders wichtig ist. Unsere Kernforderungen lauten:
Erstens. Wir fordern den rechtssicheren und unumkehrbaren Verzicht auf eine militärische Nutzung des
Geländes und die Streichung aus dem Standortkonzept.
Es gibt nach wie vor viel Misstrauen in der Region. Ich
finde, dass man hier wirklich eine klare Entscheidung
treffen muss.
({4})
Zweitens. Wir fordern einen Zeitplan für den Abzug
der Bundeswehr. Es wurde hier schon gesagt: Der Abzug
hat bereits begonnen.
Drittens. Wir fordern die Übernahme aller Verpflichtungen nach Art. 14 Grundgesetz durch den Eigentümer
Bund. Das heißt, er muss dieses Eigentum zum Gemein10578
wohl verwenden. Dazu müssen die Region und die Landesregierung eng in alle Entscheidungen einbezogen
werden. Das ist mit der Schaffung verschiedener Arbeitsgremien unterdessen auf den Weg gebracht worden.
Allerdings wurde der Antrag der Linken zur finanziellen
Unterstützung der Kommunalen Arbeitsgemeinschaft
Kyritz-Ruppiner Heide durch den Bund abgelehnt. Ich
finde, das ist nicht richtig.
({5})
Viertens fordern wir, unverzüglich mit einer nutzungsorientierten Kampfmittel- und Altlastenbeseitigung zu beginnen und sie bedarfsgerecht zu finanzieren.
Niemand will die gesamte Heide sofort beräumen; aber
es sollte zumindest bedarfsgerecht und nutzungsorientiert geschehen.
({6})
Das ergibt sich nach Auffassung der Linken vor allen
Dingen daraus, dass der Bund nach jahrzehntelanger
Blockade der Region zur Wiedergutmachung aufgefordert ist.
({7})
Es ist auch inakzeptabel, dass für diese Beräumung nach
wie vor kein Geld zur Verfügung steht und auch nicht in
Aussicht gestellt wurde.
Unsere fünfte Forderung lautet, auf die Privatisierung
der gesamten Fläche zu verzichten; das wurde bereits betont. Ich finde, das ist richtig.
Sechstens. Dem Naturschutz soll auf dem Gelände ein
besonderer Stellenwert eingeräumt werden. Dazu soll
die Option der Aufnahme des Geländes in das Nationale
Naturerbe ernsthaft geprüft werden.
({8})
Über das Nationale Naturerbe gibt es sehr intensive Diskussionen, nicht nur in der Region, sondern auch darüber
hinaus. Als Linke teilen wir ausdrücklich die Position
der Kommunalen Arbeitsgemeinschaft Kyritz-Ruppiner
Heide. Das heißt, wir könnten uns die Aufnahme in das
Nationale Naturerbe vorstellen, wenn dabei eine sanfte
touristische Nutzung möglich bleibt.
Bei dieser Frage gehen aber zwei Dinge ganz bestimmt nicht:
Erstens. Diese Entscheidung darf nicht über die Region und die Landesregierung hinweg entschieden werden, schon gar nicht im Haushaltsausschuss des Bundestages.
Zweitens. Die bereits für das Nationale Naturerbe
vorgesehenen 25 000 Hektar an anderen Orten müssen
um die Kyritz-Ruppiner Heide aufgestockt werden. Sie
darf nicht Bestandteil dieser 25 000 Hektar sein; denn
diese 25 000 Hektar stehen bereits in einer Liste und
wurden nach einem Kompromiss verteilt. Sie müssen
absolut „on top“ kommen; sonst geht das gar nicht.
({9})
Ich denke, dass die Linke einen sehr wichtigen Antrag
vorgelegt hat, der von der Region, von denen, die die
Kyritz-Ruppiner Heide freigekämpft haben, in ganz großer Breite befürwortet wird. Schon der Respekt vor dieser Bewegung sollte Sie eigentlich dazu bringen, den
Antrag zu unterstützen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dass der Weg in die zivile Zukunft der KyritzRuppiner Heide ein langer und steiniger werden würde,
das ahnte man seit langem, ist doch das Gelände, das
Anfang der 50er-Jahre zwangsenteignet worden ist, von
den Sowjets genutzt worden, um diverse international im
Einsatz befindliche militärische Geräte, unter anderem
Bomben, zu prüfen und zu testen; daher kam auch der
Name „Bombodrom“. Dass aber so schwer eine Einigung darüber zu erzielen ist, wie mit den kostenträchtigen Altlasten auf der einen Seite und den verständlichen
Ansprüchen der Region und der Anrainer auf der anderen Seite umzugehen ist, das ist in der Tat ein Trauerspiel.
Das Bemühen um einen Gruppenantrag blieb erfolglos - es ist hier schon erwähnt worden -, weil sich die
Union sperrte. Das ist ein Armutszeugnis, wird doch den
Menschen vor Ort von allen Parteien - ich wiederhole:
von allen Parteien - immer wieder versprochen, dass sie
sich für eine zivile Nutzung des Geländes einsetzen.
({0})
Die Bevölkerung in den 14 Anliegergemeinden hat
im Übrigen schon 1990, als die Sowjets abzogen, Pläne
zur Nutzung der Heide gemacht. So wurde damals beispielsweise ein Wegenetz für die touristische Erschließung konzipiert. Diese Pläne wurden aber zu Makulatur,
als die Bundeswehr 1992 ankündigte, das Gelände als
Truppenübungsplatz nutzen zu wollen, und zwar als
Luft-Boden-Schießplatz.
Nun ist die Heide frei. Doch noch immer gibt es politisches Gezerre um Zuordnung, Zuständigkeit und Verantwortung. Man könnte vom Glauben abfallen. Denn
am 11. November des vergangenen Jahres hatte der
Haushaltsausschuss des Bundestages mit der Mehrheit
der Regierungskoalition beschlossen, die Kyritz-Ruppiner Heide in das Nationale Naturerbe zu übertragen, und
zwar nicht, wie wir es in unserem Antrag fordern, zusätzlich zu den im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und
FDP vereinbarten 125 000 Hektar. Die 13 000 Hektar
sollten vielmehr auf die sogenannte zweite Tranche von
25 000 Hektar, die noch nicht übertragen worden sind,
angerechnet werden. Nicht einmal mit den eigenen
Fachpolitikern hatten die Haushälter das abgesprochen.
Ich habe danach mit ihnen geredet: Die eigenen Leute
waren entsetzt.
Da blockiert der Bund mit seinen Schießplatzplänen
erst 17 Jahre lang die Entwicklung einer Region,
({1})
verbrennt Tausende Euro in zig verlorenen Gerichtsprozessen - Steuergelder und Geld der klagenden Kommunen -, und dann versucht er, sich auf Kosten von zahlreichen anderen Regionen in Deutschland, die darauf
warten, dass wertvolle Naturschutzflächen durch den
Status Nationales Naturerbe dauerhaft geschützt werden,
der Verantwortung für die Heide zu entledigen.
({2})
Ist denn hier kein Bewusstsein dafür vorhanden, dass der
Bund in der Bringpflicht ist?
Diese sogenannte zweite Tranche darf nicht beschnitten werden. Ich fordere Sie auf, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus Union und FDP - ich richte mein Wort insbesondere an die Haushälter -: Nehmen Sie den Beschluss des Haushaltsausschusses zurück! Beschließen
Sie meinetwegen eine dritte Tranche, die nur naturschutzfachlich wertvolle ehemalige Militärflächen enthält. Im Zuge der Reform der Bundeswehr wird zusätzlich zur Kyritz-Ruppiner Heide noch eine ganze Menge
an Flächen anfallen. Aber stellen Sie endlich die Weichen für eine zivile Nutzung des ehemaligen Bombodroms!
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Brackmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal zu den Regelkreisläufen,
über die wir heute zu sprechen haben: Das Gelände, über
das wir heute sprechen - ein naturbelassenes Gebiet -,
ist der Natur für eine besondere staatliche Aufgabe entzogen worden. Heute sind wir in der glücklichen Lage,
dass diese militärische Nutzung aufgegeben werden
kann. Deswegen ist es doch geradezu ein Gebot der
Nachhaltigkeit, in einem solchen Moment zu sagen: Wir
müssen das, was wir der Natur vor einiger Zeit vorübergehend entzogen haben, der Natur auch wieder zuführen.
Genau dieses Ziel verfolgen wir mit Blick auf die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide.
({0})
Von daher ist diese neue Nutzung ein Glücksfall für
Natur und Mensch gemeinsam. Wir befinden uns glücklicherweise überhaupt nicht auf dem Weg zu einem
„Heide 21“,
({1})
sondern Bund und Land, Kreis, BImA und die betroffenen Menschen vor Ort sind mittlerweile in sehr konstruktiven Gesprächen über die Zukunft der Kyritz-Ruppiner Heide. Das sollten wir alle begrüßen
({2})
und nicht das Gegenteil davon tun. Die Gespräche brauchen Zeit; denn es soll einen gesellschaftlichen Konsens
über die Zukunft dieser Fläche geben.
({3})
- Dagegen steht eben nicht der Haushaltsausschuss. Der
Haushaltsausschuss hat etwas beschlossen, weil es für
bestimmte große Entscheidungen nur ganz bestimmte
Zeitfenster gibt. Es handelt sich hier nicht um irgendeine zusammenhängende Fläche mit einer Größe
von 11 900 Hektar, sondern um eine Fläche, von der
über 9 000 Hektar als FFH-Gebiet ausgewiesen sind und
die damit allerhöchsten Naturschutzwert hat. Der Haushaltsausschuss hat diese Fläche nur im Gesamtzusammenhang gesichert, um sie nicht zerbröseln zu lassen.
Denn wir machen Umweltschutz nach Umweltgesichtspunkten und nicht nach Länderquoten.
({4})
Deswegen haben wir auch keine Chancen für die Zukunft „gebaut“; denn wir wissen, dass in allen Ländern
hochwertigste Umweltflächen angeboten werden und
zur Verfügung stehen. Das Stichwort ist ja schon gefallen. Man mag zu gegebener Zeit über eine dritte Tranche
reden können;
({5})
aber heute ist es erst einmal an der Zeit, das zu entscheiden, was wir entscheiden können, nämlich diese zusammenhängende, höchst wertvolle Naturschutzfläche dauerhaft für den Naturschutz zu sichern. Damit haben wir
als Haushaltsausschuss einen deutlichen Hinweis gegeben.
({6})
Das ist auch keine Frage, die nur den betroffenen
Landkreis betrifft. Das ergibt sich schon daraus, dass das
gesamte Gebiet, wenn man es der Natur tatsächlich wegnehmen und komplett für andere, touristische Zwecke
nutzen wollte
({7})
- partiell, aber wir reden hier ja auch über Geld -, für
rund 600 Millionen Euro dekontaminiert werden müsste.
Das übersteigt mit Sicherheit die Leistungsfähigkeit eines Landkreises.
Wir sind doch schon viel weiter, als Sie hier glauben
machen. Selbst wenn wir dort nur die partielle Nutzung
sicherstellen und die entsprechenden Flächen dekontaminieren wollen, kommen wir immer noch, je nachdem,
wie man es macht, auf einen Preis von bis zu 81 Millionen Euro. Auch die wollen erst einmal aufgebracht werden.
Sie haben hier gehört, dass wir von der Regierungskoalition in Verantwortung für die Natur einstehen. Ich
glaube, das ist auch für die betroffene Region ein ganz
wertvolles und wichtiges Signal.
({8})
Vor diesem Hintergrund geht es darum, diese Fläche
ganz konkret zu sichern und die Möglichkeit für eine
Mischnutzung zu eröffnen.
({9})
Ich habe darauf hingewiesen, dass über 9 000 Hektar
FFH-Gebiet sind. Damit bleiben immer noch 3 000 Hektar übrig, die, wenn Sie so wollen, im Konsens mit den
Menschen vor Ort für eine andere Nutzung bereitgestellt
und als andere Naturschutzflächen ausgewiesen werden
können.
({10})
- Ja, stellen Sie sich dieser Diskussion.
({11})
Sie sind herzlich eingeladen. Die Diskussion wird ja geführt.
Um für all dies einen Konsens zu erzielen, braucht
man Zeit. Ein altes afrikanisches Sprichwort lautet: Das
Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Man könnte auch sagen: Gut Ding will Weile haben.
({12})
Geben Sie uns für die Diskussion also die erforderliche
Zeit. Wir sind davon überzeugt, dass das Ganze ein gutes
Ende nehmen wird. Wir haben die entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Dazu bedarf es nicht der Unterstützung durch Ihre Anträge.
Herzlichen Dank.
({13})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Dagmar Ziegler von
der SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mich wundert, dass es zwischen Ihren Reden und dem, was im Haushaltsausschuss
beschlossen wurde, eine eklatante Spanne gibt. Nur damit wir wissen, worüber wir hier debattieren, will ich
den zweiten Punkt, der im Haushaltsausschuss beschlossen wurde, noch einmal zitieren:
Der Haushaltsausschuss fordert die Bundesregierung auf, in der o. g. Gesamtumsetzung die noch
ausstehende Übertragung der Liegenschaft Wittstock … mit rund 11.900 Hektar vollständig zu berücksichtigen.
Ich lege hier Wert auf das Wort „vollständig“.
({0})
Ich zitiere einmal Frau Schäfer, in deren Rede am
10. Juni 2010 im Bundestag es heißt:
Daher ist auch die zum Beispiel von der SPD geforderte Einbeziehung in den Flächenpool des Nationalen Naturerbes nicht angebracht. … Wichtig ist
es, dass nun die verschiedenen Stellen des Bundes
gemeinsam mit dem Land Brandenburg sämtliche
Modalitäten der Eigentumsübertragung klären und
hinsichtlich künftiger Nutzungsüberlegungen frühzeitig auch die Interessenträger vor Ort in die entsprechenden Verfahren einbinden.
Herr Brackmann, Sie kann ich auch gleich zitieren:
Bevor diese Schritte abschließend erfolgt sind,
kommt die Opposition mit der Forderung daher, geeignete Flächen in das Nationale Naturerbe zu überführen.
({1})
Wir verschließen uns keinesfalls einer solchen
Überlegung, jedoch ist dies der zweite Schritt vor
dem ersten. Ob und in welcher Form die Liegenschaft dem Nationalen Naturerbe zugeführt werden
kann, ist abhängig von der Ermittlung der Munitions- und Altlastenbelastung und der Feststellung
der naturfachlichen Eignung.
Ich frage mich: Wo sind wir hier? In der Rede von
Herrn Ackermann von der FDP heißt es - Zitat -:
Es gilt nun, das Verfahren für die umfassende zivile
Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide mit den betroffenen Kommunen eng zu verzahnen und den Willen
der Bürger vor Ort zu berücksichtigen.
Das war am 10. Juni letzten Jahres. Im November
letzten Jahres hat der Haushaltsausschuss dann die vollständige Übertragung dieser Flächen in das Naturerbe
definitiv beschlossen. Heute reden Sie wiederum so, als
wäre dieser Haushaltsbeschluss nicht relevant; man
könne noch einmal vor Ort über eine Mischnutzung und
alle möglichen Modalitäten reden.
Vor Ort fühlt man sich mittlerweile wirklich vergackeiert. Man wird den Initiativen, die sich seit Jahren um
eine zivile Nutzung bemüht haben, nicht gerecht.
Deshalb kann ich Sie nur bitten, Ihr Reden und Tun
miteinander in Einklang zu bringen und dem Antrag der
SPD-Fraktion zuzustimmen. Denn sonst verspielen Sie
das Vertrauen vor Ort. Das Hü und Hott der Koalition
bringt uns in der Sache nicht voran; es verunsichert vielmehr die Menschen. Überall wird gesagt: Wir wissen
nicht, was dabei herauskommt.
Alles, was jetzt vor Ort an Kommunikation stattfindet, kommt uns vor wie eine Beschäftigungstherapie. Es
stand von vornherein fest, was die Koalition will. Das
andere ist nur noch Schauwerk vor Ort. Dagegen verwahren wir uns.
Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu. Dadurch können Sie beweisen, dass Sie wirklich das meinen, was Sie
hier immer vortragen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 17/4276. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1961
mit dem Titel „Zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide nach Abzug der Bundeswehr“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1972 mit dem Titel „Friedliche Zukunft
der Kyritz-Ruppiner Heide und Interessen der Region sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1989 mit dem Titel „Kyritz-Ruppiner Heide in
ihrer Einheit erhalten - Voraussetzungen für eine chancenreiche Regionalentwicklung schaffen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur
Änderung weiterer Vorschriften
- Drucksachen 17/3630, 17/4145 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/4893 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Manuel Höferlin
Jan Korte
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Clemens Binninger von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
E-Mail und Internet sind mittlerweile Massenkommunikationsmittel geworden. Wir alle nutzen täglich E-Mail.
Bürgerinnen und Bürger senden uns täglich E-Mails.
Auch Behörden versenden E-Mails.
Trotzdem muss uns eines immer bewusst sein: Eine
E-Mail hat kein besonders hohes Sicherheitsniveau. Sie
hat etwa das Sicherheitsniveau einer Postkarte, die Sie
an das schwarze Brett hängen, mit dem Text nach außen.
Sie ist also alles andere als sicher. Ein jährliches Volumen von etwa 17 Milliarden Briefsendungen in Deutschland macht deutlich, dass durchaus ein großes Potenzial
für sicheren E-Mail-Verkehr besteht. Genau dieses
Potenzial wollen wir ausschöpfen, indem wir heute in
zweiter und dritter Lesung das De-Mail-Gesetz verabschieden und damit einen Rahmen für eine sichere, komfortable und vertrauensvolle Kommunikation mit E-Mail
schaffen. Das ist ein wichtiger Baustein für eine moderne Verwaltung und eine moderne Gesellschaft.
({0})
Lassen Sie mich die Kerninhalte des Gesetzes ganz
kurz darlegen, weil sie von Bedeutung sind. Mit dem
De-Mail-Gesetz schaffen wir den rechtlichen Rahmen
dafür, dass ein Provider, der diese Technik anbieten will,
vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zertifiziert sein und hohe Sicherheitsanforderungen
erfüllen muss. Ich füge hinzu: Es kann bis heute noch
keinen zertifizierten De-Mail-Provider geben. Aber sobald das Gesetz in Kraft tritt, können die Zertifizierungsmaßnahmen anlaufen.
Wer De-Mail als Nutzer in Anspruch nimmt, muss
sich beim ersten Mal zweifelsfrei identifizieren. Das
heißt, man weiß, wer hinter der De-Mail-Adresse steht.
Das weiß man heute bei der E-Mail-Adresse nicht. Wir
regeln in diesem Gesetz auch, dass der Versand von DeMails verschlüsselt erfolgen muss, und zwar auf zwei
unterschiedlichen Niveaus: Transportverschlüsselung
auf dem gesamten Weg und als zusätzliche Option bei
hohem Sicherheitsbedürfnis eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Wir regeln des Weiteren, dass eine Versandbestätigung gesendet wird, wenn De-Mails verschickt werden. Eine solche Bestätigung schafft
Rechtssicherheit und ermöglicht es Unternehmen, insbesondere kleinen Unternehmen und mittelständischen Betrieben, ihre Kommunikation mehr über De-Mail rechtssicher abzuwickeln.
Wir schaffen noch etwas anderes Wichtiges: Wir
verbinden Sicherheit und Komfort. Machen wir uns
nichts vor: Es gibt schon immer Methoden, mit denen
man E-Mails verschlüsseln kann. Auch die elektronische
Signatur gibt es schon seit einigen Jahren. Nichts davon
konnte sich durchsetzen, weil es offensichtlich zu kompliziert, zu anspruchsvoll und zu technisch für den Nutzer war. Deshalb ist unser Ziel, mit dem De-Mail-Gesetz
einen Rahmen zu schaffen, der beides gewährleistet: Sicherheit und Komfort. Ich glaube, das ist uns mehr als
geglückt. Es wird sicher sein, und es wird komfortabel
sein.
({1})
Ich will noch ein paar Sätze zum Verfahren sagen; das
ist mir wichtig. Die Koalition hat sich ausreichend Zeit
für dieses Gesetz genommen. Wir haben keinen Punkt,
der an uns herangetragen wurde, beiseitegewischt, nach
dem Motto „Wir wissen es besser“. Wir haben viele Gespräche mit Vertretern der Wirtschaft und von Verbänden, mit den Kollegen der Opposition und mit Ländervertretern geführt. Wir haben wirklich versucht, auf
jeden Punkt einzugehen. Wir haben eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Wie es für Sachverständigenanhörungen üblich ist, gab es Lob und Kritik. Wir
haben aber auch Anregungen, die wir erhalten haben,
umgesetzt. In dem von uns vorgelegten Änderungsantrag
haben wir viele Punkte, die wir für bedenkenswert halten, aufgegriffen. So haben wir es am Ende geschafft, ein
Gesetzeswerk zu etablieren, das nach meiner Meinung
nicht nur einen ersten Schritt, sondern einen wichtigen,
soliden Schritt hin zu einer digitalen Raumordnung darstellt. Es schafft Sicherheit für alle Beteiligten und ist ein
echter Fortschritt für unser Land.
({2})
Trotzdem gibt es noch immer Kritikpunkte. Ich
nehme an, dass wir nachher einiges dazu hören werden.
Auch ich will auf die Kritikpunkte eingehen, die in der
Ausschussberatung deutlich wurden und mit denen wir
uns sehr lange befasst haben.
Erster Punkt. Warum gibt dieses Gesetz keinen einheitlichen Domainnamen vor? Warum gibt es keine
staatlich verordnete E-Mail-Adresse? Anfangs wurde
gesagt, man brauche das, weil sonst die Gefahr der Verwechslung von normalen E-Mails mit sicheren De-Mails
bestehe. Wir wissen aber nun - davon haben wir uns
mehrfach überzeugt -, dass es sich um getrennte Systeme handelt.
Die Gefahr, dass man eine E-Mail versehentlich als
De-Mail erhält, geht gegen null, weil man in seinem
E-Mail-Postfach gar keine De-Mails empfangen kann. Im
E-Mail-Postfach erhält man nur seine normalen E-Mails.
De-Mails sind sicher. Eine Verwechslungsgefahr ist ausgeschlossen, weil man nur dort De-Mails empfangen
kann, wo man auch dafür registriert ist. Es ist deshalb
nicht notwendig, anhand des Namens eine Unterscheidung zu treffen. Es wäre sogar gefährlich, wenn man den
Bürgern suggerieren würde: Sie müssen nicht mehr
schauen, wo eine E-Mail ankommt; Hauptsache, die
Adresse ist eindeutig gekennzeichnet; dann ist sie sicher.
So wenig wie die Sicherheit eines Autos oder eines Ausweisdokumentes an der Farbe festzumachen ist, so wenig gilt dies für den Namen einer Domain bei einer Mail.
Deshalb war es ordnungspolitisch, aus Sicherheitsgründen und technisch nicht notwendig, hier eine staatlich
verordnete E-Mail-Adresse vorzugeben. Wir haben als
Kriterien festgelegt, dass die entsprechenden Adressen
nur für De-Mails genutzt werden dürfen. Ich wiederhole:
Eine einheitliche, staatlich vorgegebene Domain war
nicht notwendig.
Zweiter Punkt: Warum gibt es nicht nur Ende-zuEnde-Verschlüsselungen, sondern auch Transportverschlüsselungen? Es stimmt natürlich - das werden wir
sicherlich nachher von der Opposition hören -, dass
Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen ein etwas höheres Sicherheitsniveau als die Transportverschlüsselung auf
dem gesamten Weg gewährleisten. Aber schon die
Transportverschlüsselung wird den Bedürfnissen der
Nutzer mehr als gerecht und hebt das Sicherheitsniveau
einer De-Mail.
({3})
Wir haben Folgendes gesagt: Wenn der Nutzer es will
- Stichwort „Eigenverantwortung“ -, dann muss er die
Möglichkeit haben, zwischen Transportverschlüsselung
und Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu wählen. Eine
staatliche Vorgabe darf es aber nicht geben. Genau in
diesem Sinne haben wir uns entschieden: Transportverschlüsselung als Standardsicherheit; wer dies will, kann
von der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung Gebrauch machen.
Was würde denn passieren, wenn wir nur die höchste
Verschlüsselungsform vorgeben würden? Das würde für
den Nutzer mehr Aufwand nach sich ziehen. Er bräuchte
mehr technisches Know-how. Ich garantiere Ihnen:
Dann würde das De-Mail-Gesetz den gleichen Weg gehen wie die elektronische Signatur und andere komplizierte Anwendungen. Es gäbe keine Massenanwendung,
sondern es entstünde eine Nische. Das war nicht unser
Ziel. Wir wollten den Rahmen dafür schaffen, dass
De-Mails zu einem Massenkommunikationsmittel werden - sicher und komfortabel.
({4})
Ich glaube, dass wir auch an einem anderen wichtigen
Punkt sehr gute Arbeit geleistet haben, nämlich bei der
Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern. Wenn
ein Bürger mit einer Behörde per De-Mail kommunizieren will, muss er das der Behörde eröffnen. Das ist
schon einmal ein Beitrag zum Verbraucherschutz. Eine
De-Mail gilt erst dann als zugestellt, wenn dieser Bürger
sich an seinem Postfach angemeldet hat, unabhängig
vom jeweiligen Tag. Und nur für den Fall, dass er ausschließlich per De-Mail mit seiner Behörde kommunizieren will, den Postweg also ausgeschlossen hat, gilt die
Zustellfiktion, dass das zugesandte Schriftstück dem
Empfänger nach drei Tagen als zugestellt gilt, wie im
normalen Briefverkehr. Daran gibt es wirklich nichts zu
kritisieren.
Gestatten Sie mir, auch ein paar Sätze zur Opposition
zu sagen.
Bei der Linkspartei bin ich mir nicht ganz sicher, ob
sie an diesem Thema überhaupt interessiert ist. Die
Form, wie Sie in den letzten Monaten im Ausschuss und
auch in der Anhörung Ihre Beiträge dazu geleistet haben,
wirkte relativ uninspiriert und gelangweilt. Wahrscheinlich kommt nachher wieder die einzige Nummer, die Sie
können: Wir schaffen angeblich das Briefgeheimnis ab.
Das ist völlig falsch: Im Gesetzentwurf steht eindeutig,
dass am Briefgeheimnis nicht gerüttelt wird. Es gilt das
Gleiche wie für den gedruckten Brief. Ohne Richtervorbehalt gibt es keinen Zugriff auf den Inhalt. Da ist bei
den De-Mails nicht anders. Von der Linkspartei gab es
also wenige Beiträge.
Zur SPD muss ich sagen: Ich verstehe sie nicht. Dieser Gesetzentwurf hatte ja einen Vorläufer: das Bürgerportalgesetz. Dadurch wäre im Wesentlichen das Gleiche
geregelt worden. Seine Ausarbeitung haben wir in der
Großen Koalition begonnen, konnten sie aber wegen
Ablaufs der Legislatur nicht mehr zu Ende bringen. Damals war die SPD dafür, heute ist sie gegen den vorliegenden Gesetzentwurf, obwohl wir den damaligen Gesetzentwurf weiterentwickelt haben.
({5})
Ich glaube, das macht es Ihnen ein bisschen schwierig, Herr Kollege Reichenbach. Der Bürger weiß bei Ihnen nicht so richtig, woran er ist. Gestern waren Sie
noch dafür, heute sind Sie schon dagegen oder vielleicht
auch beides am gleichen Tag. Auf jeden Fall haben Sie
keine konstante Meinung. Das ist zu wenig, um einen
wichtigen Beitrag zu diesem wichtigen Thema zu leisten.
({6})
Ich wiederhole: Bei Ihnen weiß man nicht, woran man
ist.
Bei den Grünen weiß man, woran man ist:
({7})
Sie sind, wie bei allen anderen Themen, dagegen. So wie
es sich gehört, sind sie auch gegen dieses Gesetz.
({8})
Sie sind zwar schon ein bisschen für E-Government, und
ein bisschen modern wären Sie schon gern, aber wenn es
dann konkret wird, dann verlässt Sie der Mut.
({9})
- Herzlichen Dank für diesen Zwischenruf, Kollege
Winkler. Ich habe Ihren Entschließungsantrag gelesen.
({10})
Gestatten Sie mir, dass ich den zahlreichen interessierten
Kollegen nur drei Punkte - bitte kurz zuhören, es lohnt
sich! - aus Ihrem Entschließungsantrag dazu vorstelle,
was die Grünen gerne hätten. Wenn es bei De-Mail nach
den Grünen ginge, dann würde der Staat vorgeben, dass
es nur eine Verschlüsselungstechnik gibt,
({11})
nämlich die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, selbst wenn
damit für den Bürger ein Mehraufwand verbunden ist
und er es daher vielleicht gar nicht anwendet.
Wenn es nach den Grünen ginge, dann gäbe es eine
staatlich verordnete E-Mail-Adresse, die staatliche Einheitsadresse. Auch das steht in Ihrem Antrag.
({12})
Wenn es nach den Grünen ginge, dann würde nicht nur
die staatliche Einheitsadresse vorgegeben, sondern dann
würden vom Staat einheitlich auch das Porto und der
Preis vorgegeben.
({13})
All das steht in Ihrem Antrag. Das ist nicht modern und
nicht innovativ. Das, was Sie da machen, ist Internetsozialismus, nichts anderes!
({14})
- Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so darauf anspringen,
dann hätte ich es gleich zu Beginn meiner Rede gesagt;
das hätte sich gelohnt.
({15})
Es reicht, zu wissen, welche Punkte in Ihrem Antrag stehen.
Ich glaube, wir haben hier einen wichtigen Schritt
zum Thema digitale Raumordnung sowie für einen sicheren und komfortablen E-Mail-Versand gemacht. Die
Koalition wird das weiterentwickeln. Wir werden Ende
des Jahres ein E-Government-Gesetz vorlegen und bei
diesem Thema einen Baustein auf den anderen setzen.
Ich darf mich zum Schluss ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesministerium
des Innern bedanken, die uns über viele Monate hinweg
fachlich sehr kompetent unterstützt haben. Herr Staatsse10584
kretär, wenn Sie den Dank bitte an die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in der Abteilung von Herrn Schallbruch
weitergeben.
Die christlich-liberale Koalition hat heute einen guten
Beitrag für ein wichtiges und modernes Thema vorgelegt.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Gerold Reichenbach für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie haben recht: Grundsätzlich sind die Idee
und das Vorhaben De-Mail zu begrüßen. Sie haben es
angesprochen: Wir haben uns mit dem Vorschlag eines
Bürgerportalgesetzes - damals noch gemeinsam in der
Großen Koalition - auf den Weg gemacht. Ziel war: Der
Bürger soll schnell, bequem, sicher und rechtssicher
online mit der Behörde auch vertrauliche Daten kommunizieren können. Vertrauenswürdige und sichere Kommunikation, die Verbindlichkeit und Rechtssicherheit
gewährt, war das Ziel.
Das Projekt gelingt nur dann, wenn De-Mail von den
Bürgerinnen und Bürgern angenommen wird, wenn es
für den Bürger, für den Verbraucher einen Mehrwert gibt
bzw. wenn es einen Vorteil für ihn hat. Zu dieser Idee
stehen wir noch immer.
({0})
Ihre Frage, Kollege Binninger, warum wir jetzt nicht zustimmen, haben Sie selbst beantwortet, nämlich weil
Schwarz-Gelb es weiterentwickelt hat. Wie so vieles,
was Schwarz-Gelb weiterentwickelt hat, hat sich auch
dies nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren entwickelt.
({1})
Genau das wurde Ihnen doch von der Mehrheit der
Sachverständigen - übrigens auch von den wohlwollenden Sachverständigen, die von CDU und FDP benannt
worden sind - in der Anhörung bestätigt. Sie haben dem
Gesetzentwurf nach wie vor erhebliche Schwächen und
Mängel bescheinigt, die Sie mit den von Ihnen jetzt eingebrachten Änderungsanträgen und mit der kleinen
nachgereichten Änderung nicht wirklich beheben.
({2})
Die Mängel, die der Gesetzentwurf nach wie vor vorweist, sind gravierend, und sie gehen überwiegend zulasten des Verbrauchers.
({3})
Es gibt keine erleichterte Portabilität, und bei der einheitlichen Kennung geht es nicht um Sicherheitsfragen.
Die Portabilität kennen wir heute bereits von der Mobiltelefonnummer, die man, wenn man den Provider wechselt, mitnehmen kann. Diese Situation ist mit der Situation bei E-Mails nicht vergleichbar. Wie wir wissen,
ändert sich, wenn man den Provider wechselt, auch die
E-Mail-Adresse.
Hier geht es darum, einen rechtsverbindlichen
Schriftverkehr zu organisieren, der mit Behörden, Versicherungen oder wichtigen Geschäftspartnern geführt
werden soll. Das ist so, als müssten Sie, wenn Sie im
normalen Briefverkehr aus Kostengründen zu einem anderen Diensteanbieter wechseln, allen Beteiligten - den
Behörden, den Versicherungen usw. - mitteilen, dass Sie
jetzt eine neue Adresse haben.
Wie das zu mehr Wettbewerb auf dem Markt insbesondere für den kleinen Kunden führen soll, das wissen
nur CDU und FDP. Sie haben die Verbraucherinteressen
den Marketinginteressen der großen Unternehmen geopfert. Das ist doch der Hintergrund.
({4})
Es fehlt eine verbindlich angebotene sichere Ende-zuEnde-Verschlüsselung, die dem Gesetzeszweck einer
vertrauenswürdigen und zuverlässigen Kommunikationsform gerecht wird. Wenn ich eine wirklich sichere
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung will, dann muss ich
mich laut Ihrem Entwurf nach wie vor selbst darum
kümmern, so wie ich es jetzt auch schon kann und so,
wie ich auch jetzt schon eine E-Mail mit einer sicheren
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und einer Signatur ausstatten kann. Es gibt nur einen Unterschied: Dann darf
ich dafür bezahlen.
Sie verschärfen die Zustellungsfiktion im digitalen
Raum faktisch zulasten des Verbrauchers. Die Beweislast für den Empfang bzw. Nichtempfang von Nachrichten wird auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälzt, und
dies in einem hochkomplizierten technischen System.
Nach den Änderungen im Verwaltungszustellungsgesetz
soll der Bürger nicht mehr wie bisher nur glaubhaft machen, sondern einwandfrei beweisen müssen, dass er
nicht auf sein Postfach zugreifen konnte oder die Abholbestätigung fälschlicherweise generiert wurde, weil etwa
nach dem Einloggvorgang die Verbindung abgebrochen
ist und er sich nicht erneut einloggen konnte.
Diese Verschärfung führen Sie ohne Not herbei, und
zwar nicht mehr in der normalen Welt wie früher bei der
Post, sondern in einem hochtechnischen System, bei
dem ich es unter Umständen mit mehreren Diensteanbietern zu tun habe. Das ist eindeutig eine Verschiebung zulasten der Nutzer und Verbraucher.
({5})
Bei der Aufhebung der Pseudonymisierung, der Herausgabe von Namen und Anschriften, soll der Provider abwägen, ob das Verlangen rechtsmissbräuchlich ist oder
schutzwürdige Interessen des Nutzers überwiegen. In
anderen Bereichen stellen wir eine solche Abwägung unter einen Richtervorbehalt. Hier wird die Abwägung einem Provider überlassen, wogegen sich sogar die Provider selbst gewehrt haben.
Mit den Identitätsbestätigungsdiensten, die Sie in § 6
Ihres Gesetzentwurfs planen, werden Sie Ihr Sicherheitsversprechen nicht einlösen, weil nicht überprüft werden
kann, ob jemand, der seine Identitätsbestätigung durch
Anmeldung in einem De-Mail-Dienst bekommen hat,
nicht anschließend mit dieser Bestätigung als ein vermeintlich sicheres Unternehmen De-Mails verschickt
und etwa für Kaffeefahrten oder Ähnliches wirbt nach
dem Motto: Sie haben gewonnen.
Wie soll sich der Bürger unter diesen Bedingungen
für das De-Mail-Verfahren entscheiden, wenn er dabei
schlechter gestellt ist als bei der normalen Briefpost?
Der Vertreter des Anwalts- und Notarvereins hat in der
Anhörung gesagt: Ich kann keinem meiner Klienten das
De-Mail-System empfehlen.
Wieso soll sich aufgrund Ihres Gesetzes der Bürger in
den De-Mail-Verkehr begeben? Weil es ein Geschäftsmodell ist? Weil es den Behörden und Versicherungen
Kosten erspart? Weil sich für die Behörden und Unternehmen im Gegensatz zum Briefverkehr die Beweislast
zulasten des Bürgers verschiebt? Weil es zwar etwas sicherer ist als E-Mails, aber nicht wirklich sicher? Oder
weil der Bürger im Gegensatz zu einer sicheren Verschlüsselung, die er mit wenig Aufwand und ohne Kosten selbst vornehmen kann, dafür Gebühren zahlen
muss?
Genau das ist der Mangel an Ihrem Gesetz. Sie haben
nicht versucht, dieses Gesetz verbraucherfreundlich auszugestalten, sondern Sie haben versucht, dieses Gesetz
behördenfreundlich, unternehmensfreundlich und providerfreundlich auszugestalten. Das wird leider dazu führen, dass die Akzeptanz beim Bürger nicht herbeigeführt
werden kann.
({6})
Nebenbei sind Sie noch nicht einmal sicher, ob Ihr
Gesetzentwurf überhaupt mit EU-Normen und den
neuen Post-DIN-Normen kompatibel ist. Deswegen ist
es kein Zufall, dass jetzt auch die Europäische Union an
die Bundesregierung Fragen hinsichtlich der europarechtskonformen Ausgestaltung Ihres De-Mail-Gesetzes
richtet. Die Antwort liegt auf der Hand: Das Projekt ist
gut, aber Sie sind gerade dabei, es in den Sand zu setzen.
Deswegen können wir diesem Gesetz nicht zustimmen.
Weil viele von diesen Kritikpunkten, die ich eben vorgetragen habe, auch in dem Entschließungsantrag der
Grünen enthalten sind, werden wir diesem Entschließungsantrag zustimmen.
Nehmen Sie die Kritik an, ziehen Sie das Gesetz zurück, und versuchen Sie, es zu verbessern! Denn im
Grundsatz ist De-Mail eine vernünftige Sache, aber nicht
in der Form, wie Sie es jetzt hier probieren.
({7})
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine
Damen und Herren! Mit dem De-Mail-Gesetz schafft die
christlich-liberale Koalition die Rahmenbedingungen für
eine moderne digitale Kommunikation. Bürgerinnen und
Bürger haben jetzt endlich die Möglichkeit, mit Behörden, mit Unternehmen, aber auch untereinander verbindlich Informationen digital auszutauschen. Es gab bisher
immer Schwierigkeiten bei der Frage, welche Verbindlichkeit E-Mails in der Kommunikation haben. Es konnte
nur schlecht nachgewiesen werden, dass eine E-Mail zugestellt wurde.
Herr Reichenbach, nachdem ich Ihre Ausführungen
gehört habe, muss ich feststellen, dass Sie offensichtlich
bestimmte Eigenschaften von De-Mail immer noch nicht
begriffen haben. Es geht nämlich darum, dass bei einer
E-Mail nicht nachgewiesen werden kann, ob sie zugestellt wurde, aber bei der De-Mail eben doch.
({0})
Das zweite Problem der E-Mails war und ist immer
noch, dass die Nutzer nicht mit Sicherheit wissen, mit
wem sie kommunizieren. Genau das ändern wir jetzt mit
der Einführung von De-Mail.
({1})
De-Mails sind eben rechtsverbindlich und können vor
Gericht dann auch als Beweismittel eingesetzt werden,
wenn es um die Frage der Zustellung geht. Die Zustellung wird mithilfe einer Übermittlungsbestätigung erbracht. Das kann nachgewiesen werden. Das ist rechtssicher. Das ist auch ein Nutzen für die Bürgerinnen und
Bürger, wenn sie De-Mails verschicken. De-Mail ist an
dieser Stelle einfacher E-Mail überlegen.
Diese neue Verbindlichkeit - das ist richtig - stellt
auch gesteigerte Anforderungen an die Sicherheit von
De-Mail. Die christlich-liberale Koalition hat im Austausch mit zahlreichen Sachverständigen und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hohe
Sicherheitsstandards für De-Mail entwickelt. Wir haben
auch in der Anhörung mit zahlreichen Experten gesprochen. De-Mails müssen beim Transport auf jeden Fall
verschlüsselt sein. Das ist die Mindestanforderung an die
Sicherheit, die bei dieser digitalen Korrespondenz geboten ist.
Daneben können De-Mails, wenn gewünscht, eben
auch mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung versehen
werden oder mit einer Unterschrift nach dem Signaturgesetz oder auch mit einer Verschlüsselung nach dem
Signaturgesetz. De-Mail und Signaturgesetz stehen eben
nicht im Widerspruch zueinander, sie ergänzen sich ge10586
genseitig. Genau das haben wir so in der christlich-liberalen Koalition auch gewollt und ins De-Mail-Gesetz geschrieben.
({2})
Das hat auch einen einfachen Grund; denn eine zentral vorgegebene Ende-zu-Ende-Verschlüsselung würde
auch der Verbreitung von De-Mail entgegenstehen. Das
haben die Erfahrungen mit dem Signaturgesetz gezeigt.
Es gibt schon seit über 15 Jahren die Möglichkeit, Endezu-Ende-Verschlüsselung bei E-Mails anzuwenden.
Diese hat sich deshalb nicht durchgesetzt, weil sie für
den einzelnen Nutzer schwer umzusetzen ist, weil es für
ihn umständlich ist, weil er nicht überall von unterwegs
mailen kann. Alle Verfahren, die uns in der Anhörung
von den Experten genannt wurden, bieten keine echte
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Wir wollten nicht generell solche Verfahren vorschreiben; denn das würde die
Verbreitung von De-Mail verhindern bzw. ihr nicht förderlich sein. Zugleich wollten wir aber den Nutzern, die
es möchten, die Möglichkeit zur Ende-zu-Ende-Verschlüsselung geben. Dieses Ziel wollten wir erreichen,
und das ist uns auch gelungen.
({3})
Meine Damen und Herren, die christlich-liberale Koalition hat mit dem De-Mail-Gesetz einen Rahmen geschaffen, in dem im freien Wettbewerb verschiedene Anbieter ein modernes Produkt entwickeln können, das
diesen Sicherheitsanforderungen Genüge tut.
Die Kollegen von den Grünen dagegen haben einen
Entschließungsantrag gestellt, der einmal mehr beweist,
dass sie teilweise sehr viel und sehr lautstark fordern
können, dass das aber nicht immer mit Sachverstand und
Augenmaß zu tun hat.
({4})
- Da kann man auch klatschen, sehr geehrter Herr Kollege. - Die Grünen fordern zum Beispiel ein definiertes
Höchstporto für De-Mails. Wir lehnen dies ab. Wir wollen keinen Preis für die De-Mail festsetzen. Wir wollen,
dass darüber der Wettbewerb entscheidet. Deswegen
müssen wir Wettbewerb schaffen. Wir tun dies mit dem
De-Mail-Gesetz, was letztendlich verbraucherfreundlich ist.
({5})
Sie wollen, dass De-Mail nicht verpflichtend für die
Bürgerinnen und Bürger ist. Das haben wir aber ins Gesetz geschrieben. Die christlich-liberale Koalition hat jedem Bürger freigestellt, die De-Mail zu nutzen. Er muss
sogar erst den Kommunikationsweg öffnen. Noch nicht
einmal das Veröffentlichen im Verzeichnis reicht aus.
Nein, der Nutzer muss wirklich bewusst sagen, er
möchte die De-Mail benutzen. Genauso wollten wir es
haben. Auch das ist verbraucherfreundlich.
({6})
Mit Ihrem Wunsch nach Portabilität verhält es sich
genauso. Auch das haben Sie, Herr Reichenbach, nicht
verstanden. Wenn man keine Domäne einheitlich festlegt
und jeder eine Domäne benutzen kann, so wie er es
möchte - das haben wir mit den Domänennamen im Internet erreicht -, dann ist es ein portables System.
({7})
Wenn wir alle nur eine Domäne benutzen würden, wie
Sie das fordern, dann würde es sich um eine Staats-DeMail handeln, wie es der Kollege Binninger schon richtig gesagt hat. Genau das wollten wir eben nicht.
({8})
Ein solches Monopol bei der digitalen Kommunikation
und eine Sammlung von Kommunikationsdaten können
wir Liberale jedenfalls nicht unterstützen.
Unser Entwurf für die De-Mail bietet jedoch nicht nur
Sicherheit und hohe Standards. Er schafft auch neue
Möglichkeiten für Verbraucher und Unternehmen. Es
zeichnet sich schon jetzt ein intensiver Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern im De-Mail-Bereich ab.
Dadurch können sich auch die Sicherheitsstandards weiterentwickeln. Außerdem gibt es einen Wettbewerb um
günstige Tarife. Letztlich profitieren davon die Nutzerinnen und Nutzer.
Mit dem De-Mail-Gesetz in der jetzt von uns geänderten Fassung haben wir es geschafft, einen vernünftigen und nutzerfreundlichen Rahmen für moderne digitale Kommunikation zu schaffen. Die De-Mail ist sicher,
rechtsverbindlich, schnell und preiswert. In diesem Rahmen können die Anbieter nun ihre Dienste anbieten. Genau das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns.
Ich bitte alle Fraktionen um die Zustimmung zu diesem
Gesetz.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Linken begrüßen es, wenn elektronische Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Verwaltung einer höheren Vertraulichkeit und Authentizität
unterliegt. Mit diesem Gesetzentwurf wird dieses Ziel
allerdings nicht erreicht. Deshalb wird die Linke diesen
Gesetzentwurf ablehnen.
({0})
Sie verkaufen De-Mail als große Vereinfachung für
Bürgerinnen und Bürger. Wenn Ihnen aber tatsächlich
daran gelegen wäre, neue, gute und sichere Kommunikationswege zu schaffen, hätten Sie nach der Anhörung im
Innenausschuss am 7. Februar Anregungen aufgenommen und Änderungen an Ihrem Entwurf vorgenommen,
und zwar Änderungen, die in der Anhörung angesprochen worden sind, und nicht die, die Sie tatsächlich vorgenommen haben.
Sie fahren aber lieber eingleisig und halten an Ihrem
Entwurf fest, der - einmal vorausgesetzt, die Verbraucher machen mit; das sehe ich bei Ihrem angeblich bürgerfreundlichen Gesetz aber noch nicht - eher dem Staat
dient und der Wirtschaft ermöglicht, Kosten zu sozialisieren, Profite zu maximieren und Kontrollmechanismen
auszubauen.
({1})
Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass Sachverständigenanhörungen zu Alibiveranstaltungen verkommen. Im Rahmen der Anhörung spielte die fehlende
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung beispielsweise eine zentrale Rolle. Solange eine solche Ende-zu-Ende-Verschlüsselung fehlt oder nicht verbindlich festgeschrieben
ist, können wir diesem Gesetz nicht zustimmen. Da sind
wir tatsächlich Fundamentalisten.
({2})
Wir wollen eine durchgehende Inhalteverschlüsselung und nicht lediglich eine Verschlüsselung vom Absender zum Provider und dann vom Provider zum Empfänger. Solange das nicht passiert, sehen wir tatsächlich
- da hat Herr Binninger recht - das Post- und Fernmeldegeheimnis als nicht gesichert an.
({3})
Es gibt im Übrigen, wie in der Anhörung vorgetragen,
auch keine kollidierenden Verfassungsgüter, die eine
Außerkraftsetzung dieser Grundrechte begründen könnten; es sei denn, es gibt einen Generalverdacht. Ohne
Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ist es so, als würde beispielsweise die Post des Finanzamtes an den Bürger und
die Bürgerin und umgekehrt grundsätzlich vorher geöffnet - ich sage: geöffnet, nicht gelesen -, bevor sie an den
Empfänger weitergeleitet wird. In der analogen Welt
wäre dies unvorstellbar; in der digitalen Welt halten Sie
es offensichtlich für vertretbar. Wir tun das aber nicht,
und das macht den kleinen, aber feinen Unterschied aus.
({4})
Sie werden hier auch selbst unlogisch; denn der Gesetzentwurf soll angeblich Kosten sparen. Sie müssen
mir einmal erklären, wie Sie Kosten sparen wollen,
wenn das BSI zusätzliches Personal für jährlich eine
halbe Million Euro und der Bundesdatenschutzbeauftragte Personal für eine Viertelmillion Euro einsetzen
soll.
Oder sehen wir uns die Prognose der Bundesregierung bezüglich der Endpreise für die Verbraucher und
Behörden an. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf:
Außerdem ist nicht auszuschließen, dass der Preis
pro De-Mail-Nachricht unter den heute üblichen
Portokosten liegen wird.
- „Es ist nicht auszuschließen“: Das ist wirklich überzeugend. Für mich klingt das nicht nach einer sicheren
Bank.
({5})
Ein weiterer Grund für unsere fehlende Zustimmung
ist das Fehlen einer einheitlichen, verbindlichen und providerunabhängigen Kennzeichnung der De-Mail-Adresse.
Nur so kann tatsächlich eine Unterscheidbarkeit zu normalen E-Mail-Adressen erreicht werden. Vor allem ist
nur so für den Verbraucher und die Verbraucherin die Sicherheit gegeben, dass sie im Rahmen des Wettbewerbs
den Anbieter wechseln können. Und wenn Sie schon
nicht auf mich hören wollen, dann hören Sie wenigstens
auf den Deutschen Landkreistag, der ausdrücklich kritisiert, dass die Festschreibung einer einheitlichen Kennzeichnung fehlt.
({6})
Herr Binninger, die Mitglieder des Landkreistages
sind genauso wenig wie die Grünen Sozialisten. Für demokratischen Sozialismus war, ist und bleibt die Linke
zuständig, und das ist auch gut so.
({7})
Mit diesem Gesetz leisten Sie leider einen Beitrag, die
vielfältig noch anzutreffende und nicht immer von der
Hand zu weisende Kritik in Bezug auf elektronische Verfahren zur Verwaltungsvereinfachung zu bestätigen. Damit erreichen Sie genau das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. Das Gesetz schadet mehr, als es nutzt.
Und das machen wir nicht mit.
({8})
Als letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Konstantin von Notz vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Einig sind wir uns darin: De-Mail könnte eine
gute und attraktive Anwendung sein. Gut gemacht
könnte sie für Rechtssicherheit bei der Onlinekommunikation sorgen. Sehr gut gemacht - das haben Sie, Herr
Kollege Binninger, vorhin ja angedeutet - könnte sie sogar den Ausbau von Open-Government-Strukturen stärken. Aber leider erfüllt das Gesetz die Anforderungen an
eine erfolgreiche Einführung nicht. Wenn Sie so wollen:
Es ist nicht wirklich sicher und auch nicht komfortabel,
Herr Kollege Binninger. Deswegen lehnen wir Grünen
diesen Gesetzentwurf ab.
({0})
Unsere Befürchtung bleibt: De-Mail wird floppen,
denn es handelt sich um einen freiwillig zu nutzenden
Service. Und der muss - gerade die FDP ist doch so
wettbewerbsorientiert - attraktiv sein.
({1})
In der vorgelegten Form ist De-Mail eben nicht attraktiv,
sondern hat vor allem gegenüber dem Hauptkonkurrenzprodukt, nämlich dem traditionellen Brief, massive
Nachteile. Davon möchte ich einige aufzählen.
Mit der Transportverschlüsselung bringt De-Mail
letztlich nichts Neues auf den Markt. Das hat heute
praktisch jeder Mailanbieter als Standard im Angebot.
Innovativ wäre es gewesen, eine Vorgabe für eine anwendungsfreundliche Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu
machen. Das haben Sie aber explizit - gegen das Anraten fast aller unbefangenen Fachleute, die in der Anhörung waren - nicht gewollt.
({2})
Wenn die Bundesnotarkammer erklärt, ein Umstieg
auf De-Mail sei für sie der Tausch einer schusssicheren
Kevlarweste gegen einen römischen Lederharnisch,
dann sind Sie einfach im falschen Film, wenn Sie hier
versuchen, die Bundesnotarkammer und den Landkreistag in die Sozialismusecke zu schieben. Die haben handfeste Argumente, und damit müssen Sie sich auseinandersetzen.
({3})
Gerade wenn es darum gehen soll, den analogen
Briefverkehr zu digitalisieren - das ist ja das Ziel, wenn
ich es richtig verstehe -, ist es doch dringend geboten,
die Erfolgsgaranten des traditionellen Kommunikationsverkehrs, nämlich das Grundrecht des Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnisses, auch in den digitalen Raum zu
übertragen. Wer von Ihnen will eigentlich ein Einschreiben egal welchen Inhalts verschicken oder bekommen,
von dem man weiß, dass es an einer Stelle des Transportweges aufgemacht wird? Die fehlende Ende-zu-EndeVerschlüsselung ist eben - wie hier so getan wird - keine
Petitesse, sondern sie ist der Kardinalfehler Ihres Gesetzentwurfs.
({4})
Das Gesetz bringt aber auch Nachteile hinsichtlich
der Verbraucherfreundlichkeit oder, Herr Kollege Binninger, wenn Sie so wollen, hinsichtlich des Komforts
mit sich. Als Verbraucher bin ich doch nicht in der Lage,
den Beweis für den Empfang oder Nichtempfang einer
E-Mail anzutreten - Sie sollen mir einmal erklären, wie
das in der Praxis gehen soll -, aber genau das verlangen
Sie in Ihrem Gesetzentwurf.
Die harten Rechtsfolgen bei der Nutzung von DeMail werden die Menschen verunsichern; das sage ich
Ihnen heute voraus. Einmal eingewilligt, wird es unerbittlich: Spätestens alle drei Tage muss nachgeschaut
werden,
({5})
ob beispielsweise ein Gerichtsurteil oder ein Strafmandat zugestellt worden ist. Ich sage es Ihnen: Die Angst
vor dem Bagger vor dem Haus nach der versäumten
Kenntnisnahme einer Abrissverfügung via De-Mail wird
die Menschen verunsichern.
Ihr gedanklicher Kardinalfehler bei dem gesamten
Gesetzentwurf ist: Sie tun so, als ob der traditionelle
Briefkasten und das elektronische Postfach dasselbe wären. Aber die ganzen tradierten Sorgfaltspflichten, die
wir bei der traditionellen Briefpost für den Krankheitsfall oder den Urlaub entwickelt haben - die Nachbarin,
die den Briefkasten kontrolliert -, können Sie nicht auf
das elektronische Postfach übertragen.
Schließlich verstößt Ihr Gesetzentwurf - Herr Binninger, jetzt wird es noch einmal ganz interessant - gegen
das Gebot der Technik- und Wettbewerbsneutralität. Ihre
Vorlage ist eine deutsche Insellösung.
({6})
Dieses wettbewerbsrechtliche Problem hat inzwischen
auch die EU-Kommission erkannt. Mich interessieren
Ihre Antworten auf die Fragen, die die EU-Kommission
schon zu diesem Bereich gestellt hat.
Insgesamt ist der Gesetzentwurf einfach zu stark von
Unternehmensinteressen geprägt.
({7})
Wir befürchten, dass das Gesetz die Bildung eines Oligopols einiger weniger Anbieter begünstigen würde. Was
Oligopole für den Wettbewerb bedeuten, können Sie jeden Tag am deutschen Strommarkt verfolgen.
Ich komme zum Schluss. Geben Sie sich einen Ruck,
besinnen Sie sich! Wir alle wollen, dass De-Mail gut
funktioniert. Dafür muss der Gesetzentwurf aber überarbeitet werden; sonst floppt De-Mail wie die digitale Signatur oder der E-Perso. Sie haben nicht mehr viele
Chancen, die Kompetenzen des Bundes in Sachen ITProjekte unter Beweis zu stellen. Es hilft der Sache
nicht, das Gesetz jetzt schnell durchzupeitschen, um auf
der CeBIT ein für die PR verwertbares Projekt vorweisen zu können.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Regelung
von De-Mail-Diensten und zur Änderung weiterer Vorschriften. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4893, den Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 17/3630
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
und 17/4145 - in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4894. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Forderungen des Goldstone-Berichts nach unabhängigen Untersuchungen des Gaza-Kriegs
unterstützen
- Drucksache 17/2418 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Annette Groth von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Freunde auf der Tribüne! Letzte Nacht haben israelische Kampfjets und Hubschrauber die schwersten Angriffe auf den Gazastreifen seit dem Krieg 2008/2009
durchgeführt. In den letzten Wochen und Monaten
wurde Gaza immer wieder bombardiert. Die meisten
dieser Angriffe fanden in der von Israel festgelegten Pufferzone statt, die 17 Prozent der Fläche von Gaza einnimmt. Die meisten Opfer sind Bauern und Kinder.
13 Schulen gibt es in der Pufferzone. Weil es zu gefährlich ist, dürfen Rettungswagen und Mitarbeiter internationaler Organisationen nicht in diese Zone. Aber Schulkinder müssen jeden Tag dahin. Sie leben in ständiger
Angst. Viele leiden an Depressionen, Bettnässen und anderen psychischen Krankheiten.
In einem Brief vom 4. Februar 2011 fragten 13 israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen die Hochkommissarin für Menschenrechte der
UNO: Ist der Goldstone-Bericht tot? Zwei Jahre sind seit
der israelischen Offensive „Gegossenes Blei“ auf dem
Gazastreifen vergangen und Gerechtigkeit für die Opfer
steht immer noch aus. Politische Interessen wiegen offenkundig stärker. Gibt es einen Weg aus der vorherrschenden Kultur der Straflosigkeit?
Die Goldstone-Kommission hat Kriegsverbrechen auf
israelischer und palästinensischer Seite dokumentiert.
Die Zusammenarbeit mit der Goldstone-Kommission
wie auch Untersuchungen dieser Verbrechen durch unabhängige Kommissionen lehnt die israelische Regierung bis heute ab. Nach zweimaliger Fristverlängerung
für nationale Untersuchungen muss jetzt die internationale Strafgerichtsbarkeit eingeschaltet werden.
Bei dem israelischen Überfall auf Gaza wurden
850 palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten getötet,
darunter 350 Kinder und 200 Frauen. Über 5 000 Menschen wurden verletzt. Für Hina Jilani, Mitverfasserin
des Goldstone-Berichts, waren die Zeugnisse über das
bewusste Zielen auf Kinder das Schlimmste, was sie jemals gehört hat. Frau Jilani war UN-Sonderberichterstatterin in Darfur. Die Kommission untersuchte Vorfälle,
bei denen Familien mit weißer Flagge ein Haus verließen und die trotzdem gezielt beschossen wurden. Das ist
ein gravierender Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und gehört bestraft.
({0})
Yehuda Shaul, Direktor der israelischen Menschenrechtsorganisation „Das Schweigen brechen“ befürchtet,
dass zukünftige Kriege wieder mit den gleichen Mitteln
oder sogar noch schlimmer geführt werden, wenn die
Armee sich keinen unabhängigen Untersuchungen stellen muss und Schuldige nicht bestraft werden.
Im 9. Menschenrechtsbericht der Bundesrepublik
heißt es:
Die Verhinderung der Straflosigkeit für schwere
Völkerrechtsverbrechen bleibt ein wichtiges Anliegen.
({1})
Der jüdische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel
schreibt in seinem Bestseller-Büchlein „Empört Euch“:
Der Gaza-Bericht von Richard Goldstone vom September 2009 sollte Pflichtlektüre sein.
Was den Gaza-Streifen betrifft, so ist er für anderthalb Millionen Palästinenser ein Gefängnis unter
freiem Himmel. Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich.
Seit den Diskussionen um den Goldstone-Bericht stehen Menschenrechtsverteidiger in Israel unter großem
Druck. Undemokratische Gesetzesinitiativen boomen.
Damit sollen Aussagen vor internationalen Untersuchungskommissionen verboten werden, wenn sie zu einem Strafverfahren gegen israelische Staatsbürger wegen Kriegsverbrechen führen könnten.
Die israelische Friedensbewegung „Gush Shalom“
veröffentlichte in der Tageszeitung Haaretz am
18. Februar 2011 folgendes Inserat: Das ägyptische Volk
kämpft tapfer für die Menschenrechte. Die israelische
Knesset kämpft tapfer darum, die Menschenrechte abzuschaffen.
({2})
Wenn gravierende Verstöße gegen das Völkerrecht
nicht angeklagt werden, führt dies zu einer Legitimierung von Kriegsverbrechen und einem allgemeinen
Klima der Straflosigkeit. Die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und internationaler Menschenrechtsnormen ist eine wesentliche Voraussetzung für Frieden
in der Region.
({3})
Als Mitglied im Weltsicherheitsrat kann die deutsche
Regierung den Goldstone-Bericht auf die Tagesordnung
setzen. Im Namen vieler Menschenrechtsaktivisten fordere ich Sie auf, dies zu tun und dafür zu sorgen, dass
Schuldige bestraft werden.
({4})
Da alle übrigen Redner ihre Reden zu Protokoll1) geben, schließe ich jetzt die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes
- Drucksache 17/4805 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen laut
Tagesordnung zu Protokoll genommen werden.
Wir beraten heute den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsge-
setzes. Es ist ein kleiner, ein kurzer Gesetzentwurf; denn
er beinhaltet lediglich die Aufhebung eines einzelnen
Absatzes, nämlich des § 1 Abs. 2 des Steinkohlenfinan-
zierungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung
vom 27. Dezember 2007. Ein kurzes Gesetz, aber sehr
bedeutend für den Steinkohlenbergbau in Deutschland
und insbesondere für die Revierländer Nordrhein-West-
falen und Saarland. Denn mit diesem Gesetz beschreiten
wir den Weg des endgültigen sozialverträglichen Aus-
stiegs aus der subventionierten Steinkohlenförderung in
Deutschland.
1) Anlage 15
Was ist der Hintergrund? Das Gesetz, das wir heute
ändern, nämlich das Steinkohlefinanzierungsgesetz aus
dem Jahr 2007, stellt eine Landmarke in der Geschichte
der deutschen Steinkohlenförderung dar. Europaweit
einzigartig ist der Vorgang, dass im Wege eines Kompromisses ein wirtschaftliches und sozialverträgliches Gesamtkonzept zum Auslaufen des subventionierten Bergbaus in einem Staat der Europäischen Union vorgelegt
wird. Es war ein gut austariertes Konzept, das das Jahr
2018 als anvisierten Endpunkt der heimischen Kohlenförderung vorsah. Im Zuge einer Revisionsklausel sollte
2012 noch einmal darüber beraten werden, ob der Zeitpunkt 2018 endgültig ist oder ob es die Möglichkeit eines Sockelbergbaus in Deutschland geben wird. Es war
ein gutes Konzept; denn es war wirtschaftlich, sozialverträglich und mit dem Enddatum 2018 vor allem
verlässlich.
Wieso also beschäftigen wir uns überhaupt heute mit
einer Änderung? Kurz gesagt: um Schlimmeres abzuwenden. Schlimmeres drohte in dem Fall von der EU;
denn Beihilfegenehmigungen und auch die entsprechende Kontrolle obliegen der EU. Rechtsgrundlage für
die Gewährung von Kohlenbeihilfe war bisher die Verordnung ({0}) NR. 1407/2002 des Rates. Diese läuft zum
Ende des Jahres aus. Im Juli vergangenen Jahres wurde
nun von der Kommission ein Vorschlag für eine „Verordnung des Rates über staatliche Beihilfen zur Erleichterung der Stilllegung nicht wettbewerbsfähiger Steinkohlenbergwerke“ vorgelegt. Die darin enthaltenen
Bestimmungen hätten für Deutschland das Ende des
subventionierten Bergbaus schon im Jahre 2014 bedeutet. Wäre die Verordnung entsprechend diesem Vorschlag in Kraft getreten, hätte dies massive Auswirkungen auf Deutschland gehabt: Der Kohlenkompromiss
hätte nicht eingehalten werden können.
Damit wäre - dieser Punkt wird in der Öffentlichkeit
kaum genannt - der im Kohlenkompromiss vereinbarte
Zeitraum zum Aufbau eines Kapitalstocks der RAG-Stiftung zur Übernahme der Ewigkeitslasten massiv verkürzt worden. Dies hätte Auswirkungen auf die Übernahme der Ewigkeitskosten gehabt, die in einem
Bergwerk, wie der Name schon sagt, auch noch Jahrzehnte nach der Schließung anfallen, etwa zur Wassererhaltung und zur Versorgung der Flächen.
Der Beschluss hätte auch der Zulieferindustrie die
benötigte Zeit genommen, sich im Ausland neue Märkte
für die hochtechnisierten Produkte zu suchen.
Schließlich haben Experten für Ende 2014 technische
und praktische Probleme in den betroffenen Bergwerken
vorhergesagt.
Die schlimmste Folge aber wären die Auswirkungen
auf die Beschäftigten gewesen: Mit einem Ausstieg 2014
wäre ein sozialverträglicher Personalabbau kaum möglich gewesen. Dies hätte als unmittelbare Folge betriebsbedingte Kündigungen nach sich gezogen. Viele
der jetzt noch 25 000 Kumpels stünden vor der Arbeitslosigkeit mit entsprechenden Auswirkungen auf die Familien - und auch auf die Allgemeinheit, die ja die Kosten der Arbeitslosigkeit zahlen muss.
Nadine Schön ({1})
Als saarländische Abgeordnete kann ich sagen, dass
der Vorschlag der Kommission die saarländischen Bergleute tief erschüttert hat. In den vergangenen Jahren gab
es mehrfach Phasen, in denen sie und ihre Familien
massiven Existenzängsten ausgesetzt waren. Gleich drei
Mal in wenigen Jahren mussten sie um ihre Existenz
fürchten:
Zum einen waren die Verhandlungen zum Kohlenkompromiss 2007 eine harte Zeit voller Unsicherheit für
die Bergleute. Doch hier konnte - wie bereits erwähnt eine für alle tragfähige Lösung erzielt werden.
Einschneidend war dann ein Ereignis von genau gestern vor drei Jahren, am 23. Februar 2008. Nach schlimmen, bergbaubedingten Erderschütterungen in Saarwellingen beschloss das Unternehmen den sofortigen
Abbaustopp in der Primsmulde, unserem größten und
profitabelsten Abbaugebiet. Mehrere Tausend Bergleute
wurden freigestellt. Viele fürchteten um ihre Existenz.
Dank einer unglaublich effektiven Gemeinschaftsaktion
unter Führung der saarländischen Landesregierung ist
es gelungen, allen davon betroffenen Bergleuten eine
Perspektive zu geben. Als Mitglied des Ausschusses für
Wirtschaft und Grubensicherheit habe ich diesen Prozess mitbegleitet und weiß um die Bedeutung eines
solchen Transformationsprozesses für alle Beteiligten.
Elementarer Bestandteil dieses Prozesses ist die Möglichkeit für 1700 Bergleute, für einige Jahre in Ibbenbühren in NRW zu arbeiten. Auch wenn es für die betroffenen Familien hart ist, 500 km von zu Hause arbeiten zu
müssen, so ist dennoch die Verlässlichkeit ein hohes Gut.
Und so können Sie sich vorstellen, dass es ein Schock für
die Bergleute war, als die Kommission Mitte letzten Jahres den Zeitpunkt 2018 wieder infrage gestellt hat und
damit zum dritten Mal in kurzer Zeit ihr Arbeitsplatz in
Gefahr war.
Das Jahr 2018 ist somit ein maßgeblicher Zeitpunkt
für Bergleute in beiden Revierländern. Ein frühzeitiges
Auslaufen im Jahr 2014 wäre fatal gewesen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich deshalb mit
großem Einsatz für eine Modifikation des Kommissionsvorschlags eingesetzt. Ihrem Verhandlungsgeschick und
Einfluss auf europäischer Ebene ist es zu verdanken,
dass der Bergbau in Deutschland wie vereinbart noch
bis 2018 weitergeführt werden kann. Der Kompromissvorschlag sieht vor, dass Beihilfen für die Bergwerke nur
weitergewährt werden dürfen, wenn für jedes Bergwerk
ein definitiver, irreversibler Stilllegungszeitpunkt und
ein entsprechender Stilllegungsplan festgelegt wird.
Dieser Kompromiss ermöglicht also ein Festhalten am
Jahr 2018 als Ausstiegsdatum, er lässt aber keinen
Raum für einen subventionierten Sockelbergbau nach
2018 und macht somit die Revisionsklausel obsolet.
Indem wir heute den § 1 Abs. 2, nämlich die Revisionsklausel, aus dem Gesetz streichen, kommen wir der
Forderung der EU nach einem ernsthaften und endgültigen Ausstiegsszenario nach. Jeder, der meint, ein subventionierter Sockelbergbau hätte auch nur den Hauch
einer Chance auf Genehmigung der EU, der irrt. Darum
ist es besser, heute ein klares Ausstiegsszenario vorzulegen, auf das sich alle einstellen können, als wohl wissend, dass das Unterfangen keine Chance hat, auf eine
Fortsetzung über 2018 hinaus zu hoffen. Ein Festhalten
an der Revisionsklausel hätte das Ende des Bergbaus
schon in den nächsten Jahren bedeutet. Deshalb sollten
wir heute gemeinsam den Verzicht auf die Revisionsklausel beschließen und unseren vereinbarten Weg des
Ausstiegs bis 2018 gemeinsam beschreiten.
Diese Lösung gibt den Bergleuten in den Revierländern, vor allem in NRW, die Möglichkeit, sich in den
nächsten sieben Jahren umzuorientieren. Im Saarland
haben wir gesehen, dass es durchaus möglich ist, für gut
ausgebildete Bergleute Ersatzarbeitsplätze zu finden.
Das Auslaufen bis 2018 gibt allen die Möglichkeit, diesen Prozess sukzessive zu gestalten. Die Sozialverträglichkeit ist damit sichergestellt.
Diese Lösung ist auch dem Steuerzahler zumutbar.
Die Steinkohlensubventionen von etwa 2 Milliarden
Euro pro Jahr machen nach wie vor einen großen Teil
des Bundeshaushalts aus. Es ist nicht abzusehen, dass
sich an der Notwendigkeit zur Subventionierung etwas
ändern wird; denn wir bauen weiterhin deutlich über
dem Weltmarktpreis ab. Steinkohle für unsere Wirtschaft
kann zu wesentlich günstigeren Preisen aus sicheren Abbaugebieten im Ausland mit geologisch günstigeren Abbaubedingungen importiert werden. Daher ist eine dauerhafte Subventionierung nicht nur EU-rechtlich
unmöglich, sondern auch wirtschaftspolitisch nur
schwer zu begründen. Er sieht also ein Ende der Subventionen vor, ohne gleichzeitig hohe Kosten zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit zu generieren.
Der Kompromiss gibt außerdem der Zulieferindustrie
die Möglichkeit, neue Märkte im Ausland zu erschließen. Ein wichtiger Punk; denn deutsche Zulieferer stehen weltweit für Qualität und Innovation, und diese Innovationen und damit die Arbeitsplätze sollten wir
weiter in Deutschland zu halten versuchen, auch wenn
wir keinen eigenen Absatzmarkt dafür haben. An der
saarländischen Zulieferindustrie können sie sehen, dass
diese Umorientierung auf neue Märkte machbar ist.
Der sozialverträgliche Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau kann nicht von heute auf
morgen geschehen. Er braucht Zeit und einen klaren
Ausstiegsplan. Im Einvernehmen mit der EU wollen wir
diesen Weg bis 2018 gehen. Gehen wir ihn gemeinsam,
schaffen wir heute die rechtlichen Voraussetzungen, damit kein Bergmann ins Bergfreie fallen wird.
Basierend auf der nun vorliegenden Änderung des
Steinkohlefinanzierungsgesetzes wird der subventionierte deutsche Steinkohlenbergbau ab dem Jahr 2018
beendet werden. Damit verschwindet die Kohle aber
nicht aus Deutschland. Mittelfristig ist die Abkehr vom
Rohstoff Kohle falsch und nicht machbar.
Auch wenn das Ziel, die Energieversorgung unseres
Landes bis zum Jahr 2050 vollkommen auf erneuerbare
Energien umzustellen, nicht aus den Augen verloren
werden darf, ist unbestritten, dass Steinkohle bis dahin
eine wichtige Rolle spielen wird. Besonders vor dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Hintergrund der aktuellen Preisentwicklung und der
Verfügbarkeit auf dem Weltmarkt wird der Rohstoff
Kohle ein wesentlicher Faktor des Energie- und Chemiestandortes Deutschland bleiben. Niemand glaubt
ernsthaft daran, dass insbesondere die für die Stahlproduktion so wichtige Kokskohle nicht mehr gebraucht
wird. Jede Tonne heimische Kohle wird durch Exportkohle ersetzt. Niemand glaubt ernsthaft daran, dass das
heutige Preisniveau bei steigender Weltmarktnachfrage
so bleibt. Die Preise werden in die Höhe schnellen. Dazu
reicht ein Blick auf die Ölpreisentwicklung. Deshalb ist
es aus meiner Sicht unverantwortlich, den Zugang zu
heimischen Lagerstätten aufzugeben. Hinzu kommt,
dass große Teile der Exportkohle unter fragwürdigen
Bedingungen gefördert werden.
Im Übrigen steckt im Rohstoff Kohle mehr als die Energie zur Stromerzeugung. Kohle ist ein wichtiger Rohstoff
für die chemische Industrie. Sie wird unter anderem bei
der Herstellung von Kunststoffen oder Medikamenten
gebraucht. Darauf können wir nicht verzichten. Deshalb
macht auch die sogenannte Revisionsklausel weiterhin
Sinn. Sie ermöglicht eine sachliche Prüfung der dann
bestehenden Weltmarktbedingungen.
In den Bergwerken steckt Zukunft: So suchen die RAG
und auch der Evonik-Konzern derzeit nach Lösungen
zur Nutzung erneuerbarer Energien. Tiefengeothermie,
Schachtturbinen oder Methangasnutzung sind nur einige wenige Beispiele. In der Stadt Bottrop bietet sich
die Zusammenarbeit mit der dortigen Fachhochschule
geradezu an. Forschung, Wissenschaft und Technologie
sind eng mit dem Bergbau verbunden.
Der deutsche Bergbau bietet eine praxisnahe Ausbildung und gute Forschungsbedingungen. Noch sind rund
29 000 Arbeitsplätze im deutschen Steinkohlenbergbau
vorhanden. Diese sollten nicht ohne Not aufgegeben
werden. Neben diesen Arbeitsplätzen sind auch weitere
in der Zulieferbranche und im Umfeld der Bergwerksstandorte gefährdet.
Bergbautechnologie „Made in Germany“ - hinter
diesem Titel verbirgt sich immer noch eine weltweit führende Spitzentechnologie. Diese Chancen dürfen nicht
ungenutzt bleiben. Der Zugang zu deutschen Lagerstätten und eine ({0}) Unabhängigkeit hinsichtlich der
Verfügbarkeit von Rohstoffen müssen erhalten bleiben.
Deshalb bedarf es der weiteren Unterstützung des deutschen Steinkohlenbergbaus. Die Möglichkeit eines nicht
subventionierten Steinkohlenbergbaus in Deutschland
muss erhalten bleiben. Dafür müssen entsprechende
Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Der 2007 mühsam errungene Steinkohlenkompromiss
war ein ausgewogenes Gesamtpaket für sozialverträgliche Lösungen und die Sicherstellung der Finanzierung
der anfallenden Ewigkeitskosten durch die RAG-Stiftung. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, dass ein Gesetz, auf das sich eine ganze Region verlassen hat, durch
verschleppte Verhandlungsführung und Uneinigkeit zwischen den Regierungsparteien von CDU/CSU und FDP
gefährdet wurde. Die Revisionsklausel wurde geopfert
und damit eine objektive Bewertung über die Zukunft
des Bergbaus in Deutschland aufgegeben. Es steht fest,
dass die Bundesregierung auf EU-Ebene schlecht verhandelt hat.
Zwar konnte damit der Kernbestandteil des Steinkohlefinanzierungsgesetzes ({0}) gehalten werden. Jedoch wird uns dies in Zukunft schwer zu schaffen machen. Für den deutschen Steinkohlenbergbau bedeutet es,
dass Beihilfen an die verbliebenen Bergwerke ab 1. Januar 2011 nur dann weitergewährt werden, wenn für jedes Bergwerk ein definitiver, irreversibler Stilllegungszeitpunkt in einem Stilllegungsplan festgelegt ist. Das
von der EU und Brüderle noch ins Spiel gebrachte Auslaufen des Bergbaus 2014 widersprach selbst kommissionseigenen Abschätzungen hinsichtlich der sozialen
und regionalen Folgen. Laut einer Prognos-Studie ergäbe ein früherer Ausstieg keinerlei Einsparung für öffentliche Haushalte, sondern eine Mehrbelastung durch
Folgekosten der Arbeitslosigkeit von 2,5 Milliarden
Euro für den deutschen Steuerzahler. Ebenso wäre kein
ökologischer Vorteil feststellbar, da heimische Steinkohle durch Importkohle ersetzt würde. Noch bietet die
Zeche in Marl 4 000 Menschen Arbeit und 400 jungen
Leuten qualifizierte Ausbildung. Dazu kommen zahlreiche Beschäftigte in abhängigen Unternehmen und
Dienstleistungsbetrieben. Kohleförderung brachte bisher Umsätze und sicherte Aufträge an Dritte. Heute sind
weitere Arbeitsplatzverluste durch fehlende Kaufkraft
und Investitionen absehbar.
Bisher war deutsche Bergbautechnologie weltweit
führend, gefragt und ein Exportschlager. Nun werden
wir mit Technologie- und Innovationsabwanderung zu
kämpfen haben. Hightechunternehmen lassen sich nicht
an jedem beliebigen Ort ansiedeln. Materielle Standortfaktoren, qualifizierte Arbeitskräfte, anwendungsorientierte Forschung und günstige sozioökonomische und
kulturelle Faktoren sind entscheidend. Der erforderliche
Strukturwandel in der Kohleregion hängt von materiellen Faktoren wie Strukturhilfen und insbesondere auch
von den jeweils prägenden gesellschaftlichen Strukturen, der Partizipation der Betroffenen und den Mitbestimmungsmöglichkeiten ab. Ich erwarte jetzt konkrete
Aussagen zu Strukturhilfen für die Bergbauregionen von
der Bundesregierung.
Nicht zuletzt hat die Bundesregierung die Tür für einen beihilfefreien Steinkohlenbergbau zugeschlagen.
Sollten Zechen nach 2018 subventionsfrei weiterbetrieben werden können, was bei der derzeitigen Preisentwicklung nicht unwahrscheinlich erscheint, müssen die
Subventionen zurückgezahlt werden. In einer marktwirtschaftlich orientierten Europäischen Union wäre zu erwarten gewesen, unternehmerische Entscheidungen zu
fördern, einen subventionsfreien und gewinnorientierten
Bergbau weiterzuführen. Gerade vor dem Hintergrund
der aktuellen Preisentwicklung für Kohle und Koks auf
dem Weltmarkt und dem enorm ansteigenden Energiebedarf wäre das eine Chance, die man sich für die Zukunft
nicht verbauen dürfte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Seit mehr als zwei Jahrzehnten tritt die FDP im Deutschen Bundestag für ein Auslaufen der Subventionierung des deutschen Steinkohlenbergbaus ein. Nach erfolgreichen Verhandlungen zwischen dem Bund, den
Ländern Nordrhein-Westfalen und Saarland sowie der
RAG AG und der IG BCE wurde im Jahr 2007 eine tragfähige und ausgewogene Einigung erzielt, die diesem
Ziel Rechnung trägt.
Mit Ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die Gewährung staatlicher Beihilfen zur Erleichterung der
Stilllegung nicht wettbewerbsfähiger Steinkohlenbergwerke vom 20. Juli 2010 hat die Europäische Kommission
diesen vereinbarten Kompromiss weitgehend bestätigt.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Verhandlungsführung der Bunderegierung auf europäischer
Ebene loben. Durch ihren konsequenten Einsatz für den
bereits gefundenen Konsens haben die geschlossenen
Verträge auch weiterhin Bestand, und es bleibt bei einem sozialverträglichen Übergang in die Zeit nach Ende
der Steinkohlenförderung. Unverkennbar stellt dies die
politische Verlässlichkeit dieser Bundesregierung unter
Beweis.
Auch in meinem Wahlkreis, nämlich in der Stadt Ibbenbüren, wird Steinkohle abgebaut. Die Bürgerinnen
und Bürger in dieser Region bereiten sich seit 2007 auf
den Strukturwandel vor. Der notwendige Veränderungsprozess wird dort aktiv gestaltet, zielgerichtet gefördert.
Der Übergang in neue Beschäftigungsfelder gelingt so
schrittweise und für den Einzelnen verträglich. Eine Abkehr von den bisherigen Planungen hätte diesen Prozess
empfindlich gestört, erhebliche Verunsicherung hervorgerufen und zu einem finanziellen Desaster der RAG
Stiftung geführt. Deshalb war es richtig und wichtig, am
Zukunftsfahrplan 2018 festzuhalten.
Mit dem uns nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes endet auch ein
langjähriges Kapitel deutscher Wirtschaftsgeschichte.
Der subventionierte Abbau von Steinkohle wird, wie im
Kohlekompromiss 2007 vereinbart, im Jahr 2018 verbindlich auslaufen. Seit dem Beginn der Subventionierung werden bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 140 Milliarden Euro unwiederbringlich in dunklen Zechen
vergraben worden sein, zulasten unserer Bürgerinnen
und Bürger, die sprichwörtlich die Zeche dafür zahlen
mussten.
Die klare Absage an diese Politik eröffnet in den
nachfolgenden Jahren neue Spielräume für die Bewältigung essenzieller und drängender Zukunftsfragen, beispielsweise für Investitionen in Bildung und Forschung
oder die notwendige Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte. Eines möchte ich an dieser Stelle kritisch ansprechen. Auch wenn uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein großer Schritt in Richtung Subventionsabbau gelungen ist, das süße Gift der Subvention ist
deshalb noch lange nicht sicher verwahrt. Allein die
Beihilfen im Bereich der erneuerbaren Energien nähern
sich bereits heute dem Zweifachen derer, die in der
Spitze für die Förderung der Steinkohle aufgebracht
werden mussten.
Heute beraten wir wieder einmal über ein Versagen
der Großen Koalition. Nach zähem Hin und Her kam es
2006 zum sogenannten Kohlekompromiss zwischen allen Beteiligten mit folgenden Eckpunkten: Auslaufen der
Steinkohlensubventionierung bis 2018, Gründung der
RAG-Stiftung und Überprüfung der Vereinbarungen im
Jahr 2012. Doch während sich insbesondere die SPD im
Inland von den Kohlekumpel als Retterin ihrer Arbeitsplätze feiern ließ, hat sie es in der Regierung versäumt,
das Steinkohlefinanzierungsgesetz auch auf europäischer Ebene bestandsfest zu machen.
Zehntausende Bergleute in NRW und im Saarland
hatten sich auf das Gesetz verlassen. Im Herbst letzten
Jahres mussten sie miterleben, wie wenig Vertragstreue
und Verlässlichkeit in der Demokratie wert sind. Nicht
nur, dass die EU-Kommission versuchte, die Regelungen
zu kippen; auch der deutsche EU-Kommissar Oettinger
und Wirtschaftsminister Brüderle taten alles, das Gesetz
über die EU-Ebene zu Fall zu bringen. Minister Brüderle hat dabei zum wiederholten Male seine Ignoranz
gegenüber dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der
Bedeutung von Industriearbeitsplätzen bewiesen. Nur
den Protesten der Bergleute im letzten Herbst ist es zu
verdanken, dass die Steinkohlensubventionierung nun
doch bis 2018 sozialverträglich beendet werden kann,
allerdings mit dem Wermutstropfen, dass im Gegenzug
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Revisionsklausel aus dem Steinkohlefinanzierungsgesetz gestrichen werden soll.
Wir halten diese Streichung für falsch. Es darf auf
keinen Fall passieren, dass man damit gleichzeitig den
Erhalt des technologischen Know-hows in Deutschland
zu den Akten legt. Ob man das nun „Sockelbergbau“
oder „Referenzbergwerk“ nennt, ist einerlei. Wichtig ist
doch nur eines: Die Technologiesparte der Kohlewirtschaft beschäftigt mehr als 15 000 Menschen in NRW.
Nur mit dem Erhalt eines Sockel- oder Referenzbergwerks können ein moderner Maschinen- und Anlagenbau und hochqualifizierte Stellen erhalten werden.
An die Adresse der Grünen sei gesagt: Eine Beendigung der heimischen Steinkohlenförderung hat nichts
mit einem Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohleverstromung zu tun. Natürlich ist die Verstromung von
Kohle eine der Hauptursachen für Treibhausgasemissionen bei der Energieerzeugung. Wir teilen auch das Nein
zum Bau neuer Kohlekraftwerke in NRW. Kohle- und
Atomkraftwerke blockieren den auch in NRW dringend
benötigten Umstieg auf erneuerbare Energien. Aber mit
der Beendigung der heimischen Steinkohlenförderung
wird nicht ein Kohlekraftwerk abgeschaltet, sondern nur
die heimische Kohle durch Importkohle ersetzt. Die Entscheidung an diesem Punkt heißt nicht „Kohle, ja oder
nein?“, sondern „Aktive Industriepolitik oder Wirtschaftsliberalismus?“. Wir treten ein für eine aktive Industriepolitik, für den Erhalt von Industriearbeitsplätzen durch einen sozial-ökologischen Umbau und nicht
für eine Verbesserung der CO2-Bilanz durch die Vernichtung von qualifizierten Arbeitsplätzen in der Industrie.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir beraten heute über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Streichen der Revisionsklausel im
Steinkohlefinanzierungsgesetz. Im Jahr 2007 hatten sich
die damalige Große Koalition im Bund, die Länder, RAG
und IG BCE auf eine Beendigung des subventionierten
Steinkohlenbergbaus bis zum Jahr 2018 geeinigt, mit der
Vorgabe, durch eine Revisionsklausel im Jahr 2012 dies
noch einmal zu überprüfen. Doch die damalige Große
Koalition im Bund und auch die damalige schwarzgelbe Landesregierung in NRW hatten es dabei versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungsgesetz von
2007 auch europarechtlich abzusichern - obwohl es
vonseiten der EU-Kommission eine Zustimmung für ein
Fortführen der Subventionen nur bis 2011 gab.
Die Haltung - die EU wird schon tun, was Deutschland sagt - hatte sich spätestens im Juli 2010 gerächt.
Denn die EU-Kommission machte einen Vorschlag für
eine Verordnung des Rates, die Steinkohlenbeihilfen bereits im Oktober 2014 einzustellen. Dieses Enddatum
2014 sorgte auch in der Bundesregierung - wie es bei
Schwarz-Gelb nicht ungewöhnlich ist - für Streit. War
Bundeswirtschaftsminister Brüderle anfangs vehement
für ein Auslaufen der Steinkohlenbeihilfen bis 2014, betonte Bundeskanzlerin Merkel in ihrer letzten Pressekonferenz vor der Sommerpause, dass sie sich persönlich für die Beibehaltung des Ausstiegsdatums 2018 in
Brüssel einsetzen werde. Erst später wurde Wirtschaftsminister Brüderle einkassiert und sprach sich auf einmal
ebenfalls für das Auslaufen 2018 aus. Dies passt in das
Bild der FDP. Zuerst populistische Forderungen erheben, wenn es aber konkret wird, knickt sie ein.
Das Zugeständnis der Bundesrepublik, das die Bundesregierung in Brüssel dann letztlich machen musste,
war, die Revisionsklausel zu streichen. Im deutschen
Steinkohlefinanzierungsgesetz heißt es dazu in § 1
Abs. 2, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 einen Bericht zuleitet, auf dessen Grundlage der Deutsche Bundestag unter
Beachtung der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit,
der Sicherung der Energieversorgung und der übrigen
energiepolitischen Ziele prüft, ob der Steinkohlenbergbau weiter gefördert wird. Die EU-Kommission und die
Regierungen verschiedener Mitgliedstaaten werten den
aktuellen Absatz im Gesetz zu Recht als Versuch
Deutschlands, ein endgültiges Ende des subventionierten Steinkohlenbergbaus erneut hinausschieben zu wollen.
Wir begrüßen die Entscheidung der Bundesregierung, nun endlich einen Gesetzentwurf zur Streichung
der Revisionsklausel einzubringen. Nur hätte sie dies
viel früher tun können und hätte damit die Verunsicherung Zehntausender Bergbaukumpel verhindert. Die
schwarz-gelbe Koalition kommt mit ihrem Gesetzentwurf unseren Anträgen „Steinkohlesubventionen jetzt
überprüfen“ und „Subventionierten Steinkohlenbergbau
sozialverträglich beenden“ endlich nach. Diese Anträge
hatten wir bereits im Juni und Oktober 2010 in den
Deutschen Bundestag eingebracht. Leider hatte die
Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt noch immer die
herablassende Haltung, dass die EU das zu akzeptieren
habe, was Deutschland beschließt. Dass dies nicht funktioniert hat, merken Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, anscheinend erst jetzt.
Ansonsten hätten Sie einen solchen Gesetzentwurf zur
Streichung der Revisionsklausel hier nicht jetzt vorgelegt, sondern bereits im vergangenen Jahr unseren Anträgen zugestimmt.
Denn mit dem Streichen der Revisionsklausel kann
Deutschland den berechtigten Sorgen seiner europäischen Partner durch konkrete politische Initiativen verdeutlichen, dass Deutschland 2018 endgültig seine Beihilfen für den Steinkohlenbergbau beenden wird. Damit
wird zudem dokumentiert, dass absurde Forderungen
von SPD und Linken nach einem steuerfinanzierten,
dauerhaften nationalen Steinkohlensockel oder Ähnlichem über keine politische Mehrheit verfügen.
Aber die Streichung der Revisionsklausel hätte bereits viel früher geschehen müssen. Mehr noch: Die
Klausel war von Anfang überflüssig. Diese Regelung
war und ist bis heute die Ursache dafür, dass alle Beteiligten sich nicht langfristig auf ein definitives Ende des
Bergbaus einstellen können oder wollen. Denn es war
bereits 2007 bei der Verabschiedung des Steinkohlefinanzierungsgesetzes und ist auch heute in keiner Weise
absehbar, dass die Steinkohlenförderung in Deutschland
auch nur in die Nähe der Wirtschaftlichkeit kommen
wird. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Situation des Bundeshaushaltes ist es geboten, die im
Steinkohlenfinanzierungsgesetz verankerte Revisionsklausel schnellstmöglich zu streichen und so Planungssicherheit für alle zu schaffen. Es muss Schluss sein,
Milliarden in schwarzen Löchern zu versenken, die dann
bei der Bewältigung des Strukturwandels fehlen. Dabei
steht die Sozialverträglichkeit der Beendigung des Steinkohlenbergbaus nicht infrage. Bis allerspätestens 2018
ist nun Zeit, alles sauber zu beenden und, wo immer
möglich, in der Zeit das Entstehen neuer Ewigkeitslasten zu vermeiden.
Eine lange Bergbaugeschichte an Saar und Ruhr hat
beträchtliche Altlasten und Ewigkeitskosten hinterlassen. So müssen zum Beispiel Tausende einsturzgefährdete Schächte saniert und durch den Bergbau abgesenkte und dichtbesiedelte Flächen auf Hunderten
Quadratkilometern dauerhaft entwässert und vor Überflutungen geschützt werden. Ob die Einnahmen der
RAG-Stiftung aus dem Verkauf der Evonik für solche
Ewigkeitskosten ausreichen, ist zumindest fraglich. Da
werden wir noch sehr genau hinschauen müssen, damit
nicht am Ende die öffentliche Hand für die Bergbauschäden geradesteht. Von der Bundesregierung und
den Koalitionsfraktionen erwarten wir daher, dass sie
die deutsche Rechtslage schnell in Übereinstimmung mit
den Rechtsgrundlagen der Europäischen Union bringt.
Das heißt: Streichung der Revisionsklausel und ein endgültiger Schluss bis spätestens 2018. Vielleicht geht es
am Ende ja sogar noch schneller und günstiger für den
Bundeshaushalt.
Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion des
vorliegenden Gesetzentwurfes in den Ausschüssen des
Deutschen Bundestages mit Ihnen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4805 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Volker Beck ({0}), Katja
Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wach- und Sicherheitspersonal beim Bundestag beschäftigen
- Drucksache 17/4741 Überweisungsvorschlag:
Ältestenrat ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen.
Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass es spät ist. Aber dennoch möchte ich diese Rede nicht zu Protokoll geben,
weil mir das Thema sehr wichtig ist. Ich bedanke mich
bei der SPD dafür, dass sie als einzige andere Fraktion
nachher noch das Wort ergreifen wird. Die Redner aller
übrigen Fraktionen haben ihre Reden schon zu Protokoll
gegeben.
Es ist allseits bekannt, dass die Bundestagsverwaltung
etliche Dienstleistungen an Dritte vergeben hat und dies
nicht nur Vorteile hat, sondern auch Probleme mit sich
bringt. Ausdrücklich hervorheben möchte ich, dass die
Bundestagsverwaltung vieles versucht hat, damit die externen Anbieter soziale und tarifliche Standards einhalten. So wird beispielsweise verlangt, dass bestehende
Tarifverträge eingehalten werden. Das ist gut so, und ich
möchte dies noch einmal ausdrücklich anerkennen.
Wenn aber Sicherheitskräfte hier im Bundestag, die
nicht aufstockendes Arbeitslosengeld II beantragen wollen, 220 Stunden im Monat arbeiten müssen, um gerade
einmal 1 000 Euro netto zu verdienen, dann ist das meiner Meinung nach ein unhaltbarer Zustand.
({0})
Die Abgeordneten werden hier im Bundestag auf
Händen getragen. Es wird alles für unsere Sicherheit getan, und wir werden immer freundlich und respektvoll
behandelt. Der Alltag im Deutschen Bundestag entspricht der Würde des Hauses, und das schätze ich sehr.
Umso mehr geht es mir unter die Haut, dass manche, die
all das ermöglichen, so wenig verdienen, dass sie an der
Armutsgrenze leben müssen. Das entspricht nicht der
Würde des Hauses.
({1})
Schlimm finde ich es auch, wenn solche Fakten an die
Öffentlichkeit kommen und das Ansehen des Deutschen
Bundestags darunter leidet. Der Bundestag hat auch eine
Vorbildfunktion als Arbeitgeber, und die sollten wir alle
ernst nehmen. Aus diesem Grunde bringe ich heute unseren Antrag ein. Wir wollen, dass in einem ersten
Schritt die Wach- und Sicherheitskräfte wieder direkt angestellt und nach TVöD bezahlt werden.
Die Sicherheitskräfte sollen Löhne erhalten, von denen sie und ihre Familien auch leben können. Aber es
geht auch darum, dass wir ihnen soziale Sicherheit geben, indem sie unbefristete Beschäftigungsverhältnisse
erhalten. Jetzt müssen sich die Sicherheitskräfte schon
wieder Sorgen machen, ob sie im Juni, nach der neuen
Ausschreibung, noch einen Job haben oder ob sie arbeitslos werden. Gerade Ältere wissen ganz genau: Gewinnt eine andere Firma die Ausschreibung, droht Arbeitslosigkeit bis zur Rente.
Ich hoffe sehr, dass der Antrag nicht nur von der Opposition, sondern auch von den Regierungsfraktionen
unterstützt wird. Bei solch einem Thema könnten meiner
Meinung nach alle Abgeordneten durchaus an einem
Strang ziehen, und wir könnten den Sicherheitskräften
gemeinsam unsere Wertschätzung deutlich machen.
({2})
Das Problem ist nur, dass die Ausschreibung zur Vergabe der Wach- und Sicherheitsdienstleistungen bereits
läuft. Deswegen bitte ich alle Gremien, die sich mit diesem Antrag befassen müssen, zügig zu handeln, bevor es
zu spät ist.
Natürlich gibt es auch noch andere Beschäftigtengruppen, die auch nicht direkt beim Bundestag beschäftigt sind. Diese Beschäftigten haben wir auch im Blick.
Deshalb soll die Bundestagsverwaltung noch einmal intensiv prüfen, welche ausgegliederten Dienstleistungserbringer wieder direkt beim Bundestag angestellt werden
können. Dabei müssen natürlich die Belange der Beschäftigten in Bezug auf Arbeitsentgelt und Arbeitsbedingungen sorgfältig mit betrieblichen Überlegungen
wie zum Beispiel im Hinblick auf Qualität und Sicherheit abgewogen werden.
Ich weiß, dass die Struktur des Bundestages mit Sitzungswochen und sitzungsfreien Zeiten nicht einfach ist.
Dennoch muss es doch Wege geben, möglichst viele Beschäftigte fair und sicher beim Bundestag anzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitglieder des
Ältestenrates, der Inneren Kommission und des Ausschusses für Arbeit und Soziales, ich bitte Sie, sich möglichst zeitnah mit dem Antrag zu beschäftigen und ihn
dem Plenum so schnell wie möglich zur Abstimmung
vorzulegen. Bitte geben Sie sich einen Ruck und entscheiden Sie sich für bessere Arbeitsbedingungen und
bessere Löhne für das Sicherheitspersonal. Die Beschäftigten haben diese Wertschätzung verdient.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger. Die
Kollegen der anderen Fraktionen werden ihre Reden zu
Protokoll1) geben.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich schon ein bisschen spät. Heute bin
ich einmal die letzte Rednerin. Da mir der Antrag relativ
wichtig ist,
({0})
finde ich es aber bedeutsam, heute Abend noch hierzu zu
sprechen. Schließlich geht es - diesbezüglich stimme ich
dem Antrag der Fraktion der Grünen voll zu - um die
Glaubwürdigkeit unseres Parlaments und die Vorbildfunktion des Gesetzgebers, was die Arbeitsbedingungen
und die Bezahlung der Beschäftigten in diesem Hohen
Hause betrifft.
Zweitens - lassen Sie mich das an dieser Stelle auch
sagen - geht es darum, einfach einmal all denjenigen ein
herzliches Dankeschön zu sagen, die täglich dafür sorgen, dass unser Umgang hier miteinander geregelt ist.
Dabei geht es nicht nur um das Wach- und Sicherheitspersonal, sondern auch um die Personen, die an den Garderoben, den Fahrstühlen und den Pforten arbeiten, sowie um das Reinigungspersonal und die im Bereich der
Haustechnik Beschäftigten.
({1})
Ihnen allen gehört der Applaus und das Lob dafür, dass
sie den parlamentarischen Betrieb aufrechterhalten und
wir unsere Arbeit hier verrichten können.
Nun aber zum Antrag, der zunächst grundsätzlich besagt, dass möglichst alle Vollzeitbeschäftigten von ihrem
Einkommen leben können sollen, ohne dass sie zusätzliche Sozialleistungen erhalten. Das ist sozialdemokratische Politik. Wir sind der Meinung, dass generell in allen Bereichen der Arbeitswelt faire Löhne gezahlt
werden müssen. Es geht um faire Löhne, die sicherstellen, dass Frau oder Mann nicht auf dem Amt zu einem
Bittsteller gegenüber dem Staat wird, um faire Löhne,
die ausreichen, um monatlich wirklich über die Runden
kommen zu können.
Gerade weil wir das wollen, haben wir vor zwei Wochen hier im Deutschen Bundestag einen neuen Anlauf
für einen flächendeckenden existenzsichernden Mindestlohn unternommen.
({2})
1) Anlage 26
Ein entsprechender Gesetzentwurf der SPD sieht eine
Lohnuntergrenze von 8,50 Euro vor. Wer Leistungsgerechtigkeit will, wer also will, dass es gute und anständige Löhne für gute Arbeit gibt, der weiß, dass wir diesen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland brauchen;
({3})
denn ein gesetzlicher Mindestlohn verhindert Lohndumping, sorgt für einen fairen Wettbewerb zwischen den
Unternehmen, entlastet den Bundeshaushalt und stärkt
nicht zuletzt die Binnennachfrage in diesem Land.
Der Antrag besagt ganz konkret, dass die Wach- und
Sicherheitskräfte wenig Planungssicherheit haben, da
die Dienstleistungen durch den Bundestag alle sechs
Jahre neu ausgeschrieben werden. Auch diesem Aspekt
in Ihrem Antrag können wir zustimmen. Nur ein gesichertes und möglichst unbefristetes Arbeitsverhältnis
bietet ein geeignetes Fundament, um gute Arbeitsbedingungen einfordern zu können. Nur ein gesichertes Arbeitsverhältnis bietet die Grundlage für ein Leben ohne
Existenzangst. Gerade ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer brauchen diese Planungssicherheit. Wir
alle wissen aus unzähligen Debatten hier im Hohen
Haus, wie schwierig es vor allem für Ältere ist, nach
Eintritt der Arbeitslosigkeit wieder Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen. Weil wir für faire Löhne und für sichere
Arbeitsverhältnisse sind, stimmen wir überein mit den
Forderungen, dass der Bundestag seiner Verantwortung
gerecht wird und die Arbeitsbedingungen und die Entgelte der Wach- und Sicherheitskräfte verbessert.
Dennoch gibt es einige weitere Punkte, die ich erwähnen möchte. Wir müssen uns, wenn wir faire Bedingungen für die Wach- und Sicherheitskräfte fordern, auch
mit den Bedingungen der anderen Beschäftigten befassen, die bei externen Dienstleistern angestellt sind und
ihren Dienst hier im Bundestag verrichten.
({4})
Ich meine die Garderobenfrauen und -männer, den Pfortendienst und die Fahrstuhlführerleistungen. Die Situation dieser Beschäftigten sollte in die gesamte Diskussion einbezogen werden. Weiterhin müssen wir uns
selbstverständlich damit auseinandersetzen, was das für
die Ausgabenseite des Bundestages bedeutet. Wenn die
Dienstleistungen nicht mehr extern ausgeschrieben, sondern vom Bundestag intern wahrgenommen würden,
müssten wir damit rechnen, dass sich die Kosten mehr
als verdoppeln. Dieser Aspekt kommt in dem Antrag etwas zu kurz.
({5})
Noch etwas ist zu beachten: Können alle der derzeitigen externen Dienstleister problemlos wieder in ein
Dienstverhältnis intern im Bundestag übernommen werden, oder sind die Anforderungen, die der TVöD an die
Qualifikationen der Beschäftigten stellt, nicht in manchen Teilen so hoch, dass es gegebenenfalls Beschäftigte
geben wird, die der Bundestag nicht intern beschäftigen
kann? Das würde bedeuten, dass sie wegen dieser hohen
Anforderungen eventuell in die Arbeitslosigkeit geschickt werden.
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Bundestagsverwaltung bereits heute sehr genau darauf achtet, dass
die Dienstleistungen nicht immer an den Billigsten vergeben werden. Es wird sehr wohl darauf geachtet und
bestanden, dass das Vergaberecht in seinen Möglichkeiten ausgeschöpft wird, zum Beispiel hinsichtlich der
Vergütung, der Überstunden, der Ausbildung, der Fortbildung und auch der Frauenquote. Zudem wurde die
Verwaltung vom Ältestenrat verpflichtet, bei Ausschreibungen eine Tariftreueklausel aufzunehmen.
Abschließend möchte ich anmerken, dass die Entscheidung darüber, ob eine Dienstleistung extern eingekauft wird oder nicht, vom Präsidium des Deutschen
Bundestages getroffen wird. Die aktuelle Ausschreibung
und der entsprechende Vertragsentwurf sehen vor, dass
sich die Vergütung der Sicherheitsmitarbeiter an dem
Entgelttarif für das Wach- und Sicherheitsgewerbe Berlin und Brandenburg in der Fassung vom 22. November
2010 orientiert. In diesem ist vorgesehen, dass der Stundenlohn in der Zukunft auf 7,50 Euro erhöht wird.
({6})
- Das war netto, 7,50 Euro netto. - Zusätzlich sind seitens der externen Unternehmer umfangreiche Schulungsmaßnahmen sowie Investitionen für Ausrüstung
und Ausstattung in eigener Verantwortung zu übernehmen.
Wie so oft steckt der Teufel im Detail. Deshalb appelliere ich, über das Thema in der Inneren Kommission,
der Unterkommission des Ältestenrates, ausführlich zu
diskutieren, damit wir diese Punkte klären. Der Bundestag hat diese Vorbildfunktion. Wenn es um Arbeitsbedingungen und Löhne geht, muss er dieser Vorbildfunktion
auf diese Art und Weise gerecht werden. Der Kernpunkt
ist doch: Wir müssen politisch entscheiden, was uns
wichtiger ist, die Kostenersparnis für den Bundeshaushalt oder die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen der
Beschäftigten, die uns hier das Leben erleichtern.
Ich bedanke mich und wünsche allen noch einen
schönen Abend.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4741 an den Ältestenrat und an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Zu den nächsten Tagesordnungspunkten wurden alle
Reden zu Protokoll gegeben. Trotzdem bitte ich Sie,
noch mit mir gemeinsam die formalen Dinge abzuwickeln, damit das ordentlich ins Protokoll kommt. Die
Namen der Redner sind schriftlich aufgeführt und werden im Protokoll festgehalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Die Demokratische Republik Kongo stabilisieren
- Drucksache 17/4691 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Demokratische Republik Kongo ist ein Schwerpunkt des Engagements der Vereinten Nationen. Mit
20 000 VN-Blauhelmsoldaten im Kongo ist dies die
größte Blauhelmmission weltweit. Die VN haben hier
ein umfassendes und robustes Mandat zum Schutz der
Bevölkerung und der Stabilisierung und dem Wiederaufbau der Region geschaffen. Doch trotz eines breiten und
tiefgehenden multilateralen Einsatzes der VN, der EU
und anderer internationaler Institutionen sowie vielfältigen bilateralen Engagements durch die USA, Deutschland und weitere Länder, hat sich die Menschenrechtslage, die politische und die wirtschaftliche Situation im
Kongo seit den Wahlen 2006 nur wenig verbessert. Die
Menschen im Kongo und die Bundesrepublik mit ihrer
Unterstützung haben großes Vertrauen in die Zeit nach
den Wahlen gesetzt. Die Lage heute ist sehr ernüchternd.
Zwar ist die Bedeutung des vielfältigen Einsatzes im
Kongo für die Sicherheit der Menschen und die Verbesserung ihrer Lebenslage klar erkennbar. Doch passiert
leider immer noch zu wenig, um einen nachhaltigen
Fortschritt anzustoßen. Dies wird einem umso deutlicher bei Betrachtung des Human Development Index, in
dem die Demokratische Republik Kongo den Platz 177
von 179 betrachteten Ländern belegt. Das BIP pro Kopf
liegt bei 178 US-Dollar, was einmal mehr die prekäre
Lage der Menschen verdeutlicht. Wenn ich hier fordere,
dass Deutschland sich stärker engagieren muss, dann ist
dies aber kein einseitiges Anliegen. Es ist für alle offensichtlich, dass die Regierung der Demokratischen Republik Kongo sich aus der Verantwortung stiehlt und es
fast so wirkt, als bestünde kein Interesse der Eliten des
Landes, die Lage der über 60 Millionen anderen Einwohner ihres Staates zu verbessern. Die verbreitete Korruption, die Vettern- und Misswirtschaft treten als
Symptome offen zutage. Auf dem Korruptionsindex von
Transparency International belegt die Republik Kongo
einen besorgniserregenden 162. von 180 Plätzen. Hier
müssen wir als Bundesrepublik die Demokratische Republik Kongo zur Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien
drängen. Auch unsere Zusammenarbeit muss von der
Erfüllung verbindlicher Ziele abhängig gemacht werden. Dies sollte sogar bis zur Verhängung von Sanktionen führen. Es kann nicht sein, dass die Bundesrepublik
mit ihren Trägern der Entwicklungszusammenarbeit geradezu verhöhnt wird, wie es kürzlich bei dem Vorgehen,
bar jeder Grundlage, der kongolesischen Justiz gegen
Hartwig Fischer ({0})
die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit der
Fall war. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist
wertegebunden. Daher muss es in Zukunft möglich sein,
die Zusammenarbeit mit korrupten Regionen vollständig
einzustellen. Zum Kampf gegen die Korruption gehört
die Einrichtung einer unabhängigen Behörde, die über
Antikorruptionsmaßnahmen wacht. Ebenso muss eine
vernünftige Bezahlung der Beamten und Richter angestrebt werden, damit der Anreiz zu bestechlichem Verhalten minimiert wird.
Die im Januar beschlossene Verfassungsänderung,
die die Machtposition des Präsidenten Kabila ausbaut,
ist ein Auswuchs der Korruption und Missachtung
rechtsstaatlicher Prinzipien. Die in der Verfassung festgeschriebene Dezentralisierung wird eingeschränkt.
Dabei ist gerade die Stärkung der Provinzen für ein
Land, das über sechsmal so groß wie Deutschland ist,
unabdingbar. Nur so kann sich an der Lage der Menschen fernab der Hauptstadt Kinshasa etwas ändern.
Die gewollte Machtakkumulation in der Hauptstadt verstärkt vielmehr den Kontrollverlust, der sich nicht nur in
der Desertion und dem Überlaufen der eigenen Soldaten
zu verschiedensten Rebellenmilizen im Osten des Landes
äußert. Die Reform des Sicherheitssektors muss dringend angegangen werden. Dazu werden die EUSEC und
die EUPOL einen wichtigen Beitrag leisten können und
müssen. Dennoch gibt es auch hier noch große Probleme. Beispielsweise fehlende Soldzahlungen, die die
Loyalität der kongolesischen Armee beeinträchtigen.
Es sind gerade auch die eigenen Soldaten der kongolesischen Armee Forces Armées de la République Démocratique du Congo, FARDC, die für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. In diesem Sinne
ist es nicht nachvollziehbar, warum die DRC nicht längst
die in der Verfassung vorgeschriebene nationale Menschenrechtskommission einberufen hat. Zwar hat die
kürzliche Verurteilung von ranghohen kongolesischen
Soldaten für Massenvergewaltigungen ein wichtiges Signal gesetzt, doch befindet sich der Kongo auch hier
noch am Beginn eines langen und steinigen Weges. Hier
müssen wir als Bundesrepublik mehr Mittel und Projekte
bereitstellen, um die Opfer von Massenvergewaltigungen zu betreuen.
Beunruhigend ist auch, dass die MONUSCO mit
20 000 Soldaten den Ostkongo noch nicht wirklich befrieden konnte. Es darf nicht sein, dass die UN-Blauhelmsoldaten auch in Vorwürfe der Massenvergewaltigung verstrickt werden. So verlieren die Vereinten Nationen ihre
Glaubwürdigkeit. Die Bestrebungen, den Anführer der
Lord’s Resistance Army, Joseph Kony, dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu überstellen, müssen
vorangetrieben werden. Die FARDC kann hier ihrem
Auftrag gerecht werden und die vielen zerstreuten Milizen wirksam bekämpfen. Unter diesem Zeichen steht
auch das DDRRR-Programm, Disarmament, Demobilization, Repatriation, Resettlement and Reintegration,
der MONUSCO, das versucht, ausländischen Kombattanten ihre Anreize zum Kampf zu nehmen. Zusätzlich
brauchen wir ein Zertifizierungssystem für die Rohstoffe
aus dem Ostkongo. Hier liegen zum Beispiel über
80 Prozent der weltweiten Coltan-Vorkommen. Nur die
Zertifizierung der Rohstoffe sichert, dass alle Staaten zu
Weltmarktpreisen die für die Hightechindustrie wichtigen Rohstoffe kaufen können. Gleichzeitig wird damit
erreicht, dass die Wertschöpfung aus der Rohstoffförderung in den kongolesischen Haushalt fließen kann und
damit für die wesentlichen Staatsaufgaben nutzbar ist.
Doch durch die Kontrolle von illegalen Minen durch die
Milizen sprudelt weiter eine Geldquelle, die den Konflikt
am Laufen hält. Diese Quelle gilt es zum Versiegen zu
bringen. Nur so kann ein wichtiger Schritt hin in Richtung einer Verbesserung des Lebens der Menschen im
Ostkongo gemacht werden.
In den letzten Tagen und Wochen gab es viele ermutigende Nachrichten aus Nordafrika. Die Menschen
demonstrieren dort für ihre Freiheitsrechte und versuchen, sich ihrer korrupten Herrschaftscliquen zu entledigen. Diese guten Nachrichten hören wir aus der Demokratischen Republik Kongo, der rohstoffreichsten
Region Afrikas, nicht. Wir hören oder lesen in den Medien in der letzten Zeit kaum einmal etwas über das, was
in diesem Land zurzeit passiert, und das vielleicht deshalb, weil sich die Öffentlichkeit an die Berichte über
die grauenhaften Zustände, die dort seit vielen Jahren
herrschen, gewöhnt hat. Ob Mord, Vertreibung, Vergewaltigung, Missbrauch von Kindern, Korruption, fehlende oder mangelhafte Grundversorgung mit sauberem
Trinkwasser oder Gesundheitsversorgung - all das
kennzeichnet die Situation in weiten Teilen dieses Landes seit vielen Jahren.
Wie schlimm die Situation vor Ort ist, vermag sich ein
Außenstehender kaum vorzustellen. Gerade ich als Frau
fühle mich betroffen, wenn ich von Massenvergewaltigungen und Gewaltexzessen gegen Frauen und Mädchen höre. Die offiziellen Zahlen, die der Antrag zu diesen Gräueltaten zitiert, sind für sich genommen schon
schrecklich - doch die Dunkelziffer wird noch unvorstellbar höher sein. Nicht jede Frau ist so mutig wie
Anna Mburano aus dem Dorf Luvungi im östlichen
Kongo und berichtet darüber, wie sie am 30. Juni letzten
Jahres als 80-Jährige nacheinander von vier Milizionären vergewaltigt wurde - quasi vor den Augen untätiger
Blauhelmsoldaten. Solche Schicksale machen einem das
unendliche Leid hinter den Statistiken deutlich, das unzählige Menschen in der Demokratischen Republik
Kongo tagtäglich aushalten müssen. Menschen wie
Anna Mburano schulden wir es, trotz aller Misserfolge
nach Mitteln und Wegen zu suchen, dieses Land zu stabilisieren und den Menschen eine Zukunft ohne Gewalt
und Angst zu ermöglichen.
Der Antrag, über den wir heute beraten, listet viele
der Missstände in der Demokratischen Republik Kongo
klar und ehrlich auf. Allein das Wort „katastrophal“
wird sechsmal benutzt, um die Situation in einzelnen Bereichen zu beschreiben! Diese Form der ehrlichen
Bestandsaufnahme brauchen wir, wenn wir darüber diskutieren, was wir anders machen können, um die Lage
dort zu verbessern, und wer für das Elend zuständig ist.
Zu allererst ist dafür der korrupte und selbstsüchtige
Machtapparat um Präsident Kabila verantwortlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Durch die von uns unterstützten Präsidentschaftswahlen
2006 ist er an die Macht gelangt, und er lässt bis heute
fast jedes Bemühen um gute Regierungsführung vermissen.
Aber es werden auch offen die Versäumnisse der
UN-Mission MONUSCO angesprochen. Sie ist mit
20 000 Blauhelmen und einem robusten Mandat ausgestattet und die größte UN-Mission derzeit. Doch es fehlt
ihr an Disziplin, Ausbildung, geeigneter Ausrüstung wie
Hubschraubern und offensichtlich auch an Truppenstärke, um ihrem Auftrag, dem Schutz der Zivilbevölkerung, gerecht zu werden. Schlimmer noch: Es gibt
glaubwürdige Berichte darüber, dass selbst Blauhelmsoldaten an schlimmen Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Das ist ein Desaster für die nach Sicherheit
suchenden Menschen, aber auch für die Glaubwürdigkeit der Blauhelmsoldaten insgesamt. Leider sind auch
die nationale Armee und Polizei nicht in der Lage, im
Land für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen. Weder scheinen die
Sicherheitskräfte militärisch in der Lage zu sein, effektiv
gegen Rebellengruppen und Milizen vorgehen zu können, noch schaffen es Polizei und Justiz, dem Rechtsstaat Geltung zu verschaffen. Sie sind zu einem Teil der
Probleme in diesem Land geworden.
Dabei ist gerade die Reform des Sicherheitssektors
und dessen Unterstützung ein großes Anliegen der internationalen Gemeinschaft und der Bundesregierung gewesen. Trotz einiger kleiner Teilerfolge muss man heute
ernüchtert feststellen, dass uns die Unterstützung und
Begleitung dieser Reformbemühungen insgesamt nicht
gelungen ist. Hauptsächlich liegt das an der zu schwachen, korrupten und offensichtlich unwilligen Exekutive,
den Versprechungen und Verpflichtungen gegenüber der
internationalen Gemeinschaft nachzukommen. Daher
müssen wir den politischen Druck erhöhen und im Zweifelsfall auch bereit sein, die notwendigen Konsequenzen
zu ziehen. Lange Zeit war der Begriff „Konditionalisierung“ in der Entwicklungspolitik verpönt. Doch wir
müssen einsehen, dass eine Kooperation ohne diese
Form der Sanktionsandrohung mit der Regierung
Kabila kaum mehr möglich scheint. Daher unterstützt
die Unionsfraktion auch ausdrücklich die Bundesregierung darin, Programme der bilateralen Entwicklungspolitik bei ausbleibendem Erfolg entsprechend zu sanktionieren. Das ist nicht nur für die Glaubwürdigkeit
unseres Engagements, sondern auch für die langfristige
Ausrichtung der Zusammenarbeit mit der Demokratischen Republik Kongo dringend nötig. Wir müssen die
Regierung dieses Landes in die Pflicht und Verantwortung nehmen und dürfen nicht zulassen, dass Korruption
und Misswirtschaft folgenlos bleiben. Und wenn nicht
nur die Bundesregierung, sondern auch andere nationale und internationale Geber diesem Beispiel folgen
und wir der illegalen Rohstoffökonomie Herr werden
würden, dann dürfte das für Präsident Kabila und seine
Regierung mittel- und langfristig spürbare Folgen haben. Nur so können wir es schaffen, dass die Menschen
der Demokratischen Republik Kongo eine Regierung bekommen, die bereit ist, die katastrophalen Lebensbedingungen zu verbessern und der Bevölkerung ein menschenwürdiges und gewaltfreies Dasein ermöglicht.
Die Positionen im Antrag der CDU/CSU und FDP
stimmen in weiten Punkten mit unseren Überzeugungen
überein, sodass die Möglichkeit besteht, einen gemeinsamen Berichtsbeschluss des Auswärtigen Ausschusses
für den Bundestag zu erreichen. Für die Debatte möchte
ich folgende Bereiche herausgreifen:
Die Sicherheitslage im Kongo verschlechtert sich zusehends. Besonders betroffen sind Frauen und Mädchen, die neben alltäglicher Diskriminierung in ihren
Menschenrechten massiv verletzt werden. Sexuelle
Übergriffe in Form von Massenvergewaltigungen werden von Gewaltgruppen im Osten des Kongos gezielt
eingesetzt, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Seit
Mitte der 90er-Jahre wurden mehr als 200 000 Vergewaltigungen registriert. Damit gehört die Demokratische Republik Kongo zu den Ländern mit der größten sexuellen Gewalt weltweit. Der UN-Sicherheitsrat hat in
einer Resolution festgestellt, dass Massenvergewaltigungen, die in Konflikten als Kriegswaffe eingesetzt
werden, Kriegsverbrechen sind. Demnach ist die kongolesische Regierung aufgefordert, derartige Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im eigenen Land zu verurteilen. Hilfe beim Aufbau von Justiz
und rechtsstaatlichen Strukturen soll von der internationalen Gemeinschaft schwerpunktmäßig vorangebracht
werden. Wenn die kongolesische Regierung ihre Verpflichtungen nicht einlöst, ist die internationale Gemeinschaft verpflichtet, die Verbrecher und ihre Namen zu ermitteln und vor den Internationalen Strafgerichtshof in
Den Haag zu bringen.
80 Prozent der weltweiten Vorkommen von Coltan,
das für die Handyproduktion benötigt wird, befinden
sich im Kongo. Zudem läuft ein Kupfergürtel durch das
Land, der ein Zehntel der weltweiten Kupferreserven
darstellt. Es gibt ein eklatantes Missverhältnis zwischen
dem Ressourcenreichtum des Landes und der krassen
Armut der Bevölkerung. Von den Rohstoffen des Landes
profitieren meist ausländische Unternehmen, die sich
durch entsprechende Vertragsregelungen beträchtliche
Erträge sichern - zum Nachteil der kongolesischen
Wirtschaft und der dort lebenden Menschen. Bei einer
Änderung der Verträge stünde ein Vielfaches dieser Mittel für die Armutsbekämpfung zur Verfügung.
Die Offenlegung von Gewinnung, Ex- und Import von
Rohstoffen sowie der damit zusammenhängenden Verträge und Finanzflüsse wäre ein wichtiger Schritt in
Richtung mehr Transparenz. Es muss eine bessere Zertifizierung von Handelsketten im Bereich mineralischer
Rohstoffe geben. Die Verpflichtung zur Transparenz darf
dabei nicht nur im Herkunftsland der Rohstoffe bestehen, sondern muss auch bei den beziehenden Unternehmen und Staaten liegen. Ein Meilenstein für mehr Transparenz im Ressourcenbereich ist ein Gesetz der USA.
Demnach sind amerikanische Unternehmen ab 2012
nach der sogenannten Cardin-Lugar-Klausel verpflichtet, ihre Zahlungen an ausländische Regierungen auf
Zu Protokoll gegebene Reden
Länder- und Projektbasis detailliert offenzulegen. Rund
90 Prozent aller international operierenden Ölfirmen
sind von dieser Regelung betroffen.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, auf europäischer Ebene eine ähnliche gesetzlich verpflichtende
Regelung zu entwickeln, damit Unternehmen ihre Zahlungsströme an Regierungen offenlegen müssen.
Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in der Demokratischen Republik Kongo bleibt auch fünf Jahre
nach den ersten freien Wahlen im Land katastrophal. Im
Osten des Landes sind - man muss es leider so drastisch
formulieren - Vergewaltigungen an der Tagesordnung.
Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat allein in
diesem Jahr bereits mehr als 200 Vergewaltigungsopfer
behandelt. Zuletzt wurden am Montag dieser Woche
56 Frauen und Männer nach einer Massenvergewaltigung medizinisch versorgt. An den Vergehen sind keineswegs nur marodierende Banden beteiligt: An Neujahr
vergewaltigten Mitglieder der kongolesischen Armee
mehr als 50 Frauen in der Ortschaft Fizi in der Provinz
Südkivu. Der einzige kleine Lichtblick in dieser Angelegenheit: Erstmals wurde anschließend ein hochrangiger
Angehöriger der Streitkräfte nach einer solchen Tat vor
Gericht gestellt und zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt.
Die geschilderten Beispiele sind keine Einzelfälle.
Die Vereinten Nationen haben allein im vergangenen
Jahr rund 11 000 Vergewaltigungen registriert. Die
Dunkelziffer dürfte noch weit darüber liegen. Seit Mitte
der 90er-Jahre sind über 200 000 Vergewaltigungen im
Land registriert worden, auch hier liegt die Dunkelziffer
wohl deutlich höher. Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt, die mit der VN-Sicherheitsratsresolution 1820 als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit besonders geächtet sind,
werden von bewaffneten Gruppen in der Demokratischen Republik Kongo systematisch als Einschüchterungs- und Herrschaftsstrategie eingesetzt.
Die internationale Gemeinschaft hat sich in unterschiedlicher Form im kongolesischen Friedensprozess
stark engagiert, auch bei den Präsidentschafts- und
Parlamentswahlen 2006. Schon damals hatte meine
Fraktion zu Recht angemahnt, dass zwar Wahlen ein
wichtiger Schritt sind, dass es aber ein Follow-up-Konzept geben muss. Schon damals haben wir eine bessere
und koordinierte Unterstützung von EUSEC und
EUPOL gefordert, gerade im Nachgang der Wahlen.
In diesem Jahr stehen wieder Wahlen an im Kongo.
Man sollte dann auch einen Blick darauf werfen, wie die
Situation vor Ort aussieht. Leider muss man feststellen:
Es hat sich nicht viel verändert in fünf Jahren. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage im Land ist nach wie
vor katastrophal. Teile des Ostkongo sind nach wie vor
nicht befriedet, Rebellengruppen treiben ihr Unwesen,
und Vergewaltigungen sind dort alltägliches Geschehen.
Auch bezüglich der versprochenen Reformen der maroden Strukturen von Polizei und Armee fällt das Fazit
nicht gut aus. Presseberichte beschreiben die Armee als
undisziplinierte und schlecht ausgerüstete Truppe. In ihren Reihen finden sich international gesuchte Kriegsverbrecher, und ihre Mitglieder beteiligen sich in zahlreichen Fällen an Vergewaltigungen und anderer Gewalt
gegen die Zivilbevölkerung. Die Sicherheitssektorreform hatte trotz europäischer und internationaler Programme von Anfang an Probleme: den mangelnden
Reformwillen der kongolesischen Regierung, die grassierende Korruption, aber auch fehlende Abstimmung
der Programme untereinander.
Nicht nur im sicherheitspolitischen Bereich ist die Bilanz schlecht, auch bei eher zivilen, innenpolitischen
Themen gibt es kaum Fortschritte zu berichten. Die
Menschenrechtssituation im Land bleibt katastrophal.
Dies betrifft nicht nur die schon geschilderten Fälle von
Vergewaltigungen, sondern auch die Lage von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Die Ermordung
des über die Landesgrenzen hinaus bekannten Aktivisten
Floribert Chebeya Bahizire im Juni 2010 macht deutlich, welchen Gefahren Regimekritiker in der Demokratischen Republik Kongo ausgesetzt sind. Eine Kommission zur Aufklärung des Falls wurde erst auf massiven
internationalen Druck hin ins Leben gerufen. Ob der
mittlerweile vor einem Militärgericht eröffnete Prozess
rechtsstaatlichen Kriterien genügt, muss bezweifelt werden.
Nach wie vor sehen wir ein Klima der Straflosigkeit.
Eine unabhängige Justiz, die solche Fälle unabhängig
aufklären und zur Anklage bringen würde, fehlt. Das betrifft nicht nur aktuelle Fälle, sondern auch die systematische Aufarbeitung der Verbrechen, die in den Konflikten seit Mitte der 90er-Jahre und zuvor unter der
Herrschaft Mobutus begangen wurden. Korruption ist
ein zentrales Merkmal des öffentlichen Lebens. Dies beweist auch der Korruptionsindex von Transparency. Die
Demokratische Republik Kongo landet hier regelmäßig
in der Gruppe der korruptesten Staaten dieser Erde.
Auch hier hat die kongolesische Regierung viel versprochen, passiert ist wenig. Trotz mehrerer groß angekündigter Kampagnen hat sich nämlich nichts geändert:
Die Aktionsprogramme der Regierung Kabila 2008 und
2009 dienten der Entfernung unbequemer und der Installation regimetreuer Beamter. Denn der Vorwurf der
Korruption kann dabei gezielt als Waffe eingesetzt werden, um missliebige Provinzgouverneure zu entfernen.
Was aber besonders schwer wiegt, ist die Tatsache,
dass die kongolesische Regierung ihre eigenen zentralen
Reformaufträge der neuen Verfassung nicht umgesetzt
hat. So hat sie weder die von der Verfassung geforderte
Nationale Menschenrechtskommission eingesetzt, noch
die geforderte föderale Neugliederung des Staatsgebietes vorgenommen. Die Politik der Regierung lässt den
Schluss zu, dass es ihr eher daran gelegen ist, weitere
Macht zu akkumulieren, als dem in der Verfassung durch
eine Ewigkeitsklausel geschützten Auftrag zur dezentralen Neustrukturierung des Landes nachzukommen. Hinweise hierfür liefert die von der Regierung eingesetzte
Verfassungskommission, die unter anderem für eine Ausdehnung der Amtszeit und mehrmalige Wiederwahl des
Präsidenten sowie für eine Kürzung des Anteils der Provinzen an den Steuereinnahmen plädiert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit unserem Antrag wollen wir da ansetzen, wo nach
den letzten Wahlen 2006 leider nicht energisch genug
nachgesetzt wurde. Unser Antrag hat daher zum Ziel,
eine wirksamere Politik gegenüber der Demokratischen
Republik Kongo zu formulieren, die mehr von der kongolesischen Regierung einfordert und der dortigen Bevölkerung zugutekommt. Bereits viel zu lange hat die
kongolesische Regierung die Umsetzung der von ihr verlangten Reformschritte lustlos schleifen lassen und stiefmütterlich als technische Lästigkeiten behandelt. Es ist
an der Zeit, dass die Regierung das klare, eindeutige politische Signal der internationalen Gemeinschaft erhält,
dass Kinshasa den politischen Willen entfaltet und die
dringend notwendigen Schritte entschlossen, zügig und
nachhaltig umsetzen muss. Daher werden wir insbesondere für eine stärkere Konditionalisierung bei der Vergabe von Mitteln und Programmen der bilateralen Entwicklungshilfe sorgen. Diese müssen vor allem auf
Fortschritte bei der Durchsetzung und dem Schutz der
Menschenrechte abzielen. Außerdem müssen die bereits
laufenden Sicherheitssektorreformen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und stärker mit den internationalen
Partnern abgestimmt werden. Bei all dem muss klar
sein, dass die kongolesische Regierung die Verantwortung für die Politik in ihrem Land trägt.
Während die Weltöffentlichkeit derzeit ihren Blick in
Afrika besonders auf Sudan und die anhaltende Krise in
der Elfenbeinküste richtet, darf nicht vergessen werden,
dass der Friedens- und Konsolidierungsprozess in der
Demokratischen Republik Kongo von zentraler Bedeutung für die Stabilität und die Entwicklung der gesamten
Region ist. Dabei bleibt viel zu tun. Hierzu leistet unser
Antrag einen wichtigen Beitrag.
Vor genau einer Woche, am 17. Februar 2011, haben
50 kongolesische Menschenrechtsorganisationen einen
dramatischen Appell unterzeichnet. Sie berichten darin
von systematischen Einschüchterungen und Morddrohungen durch die kongolesische Polizei und das Militär.
Diese Drohungen müssen ernst genommen werden. Der
bekannteste kongolesische Menschenrechtsaktivist,
Floribert Chebeya, wurde im vergangenen Juni getötet
aufgefunden, nachdem er einer Aufforderung des Polizeipräsidenten Folge leistend das Hauptquartier der Polizei in Kinshasa aufgesucht hatte. Ende September letzten Jahres wurden die Menschenrechtsanwältin Nicole
Bondo Mwaka, der Leiter eines belgischen Hilfsprojektes, Armand Tungulu, und eine weitere Juristin von der
Präsidentengarde festgenommen und verprügelt. Armand Tungulu wurde dann am 2. Oktober 2010 tot in
seiner Zelle aufgefunden. Dies sind nur einige wenige
Beispiele, die ich hier nennen möchte, weil es diese mutigen Menschen verdient haben, dass man sie würdigt.
Das Europäische Parlament hat aber festgestellt, dass
es sich hier um einen eindeutigen Trend handelt, dass
„viele nichtstaatliche Organisationen im vergangenen
Jahr eine zunehmende Unterdrückung von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Oppositionsführern, Opfern und Zeugen in der Demokratischen Republik Kongo
einschließlich Tötungen, rechtswidriger Verhaftungen,
Verfolgungen, Drohanrufen und wiederholten Vorladens
bei den Geheimdienststellen beobachtet haben“.
Sowohl dem Rat der Europäischen Union als auch
der Bundesregierung ist bekannt, dass die allermeisten
Menschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Republik Kongo auf die Polizei und das Militär zurückgehen, die seit Jahren von Deutschland und der EU ausgerüstet und ausgebildet werden. Und da kommen Sie mit
diesem Antrag und fordern „eine spürbare finanzielle
und personelle Verbesserung der EUSEC- und EUPOLMissionen“. Im Rahmen der Mission EUPOL Kinshasa
wurden für 10 Millionen Euro sogenannte Integrierte
Polizeieinheiten in der Hauptstadt aufgebaut. Das sind
Einheiten, die dazu da sind, Demonstrationen aufzulösen. Das sind letztendlich Einheiten, die dazu da sind,
Menschenrechte zu verletzen. Diese Einheiten wurden
im Rahmen der EUPOL-Mission mit „Schutzschilden,
Helmen, Schlagstöcken und Tränengas sowie Maschinenpistolen der Marke UZI“ ausgestattet. Und die
Hälfte dieses Geldes stammte zudem noch aus dem
Europäischen Entwicklungsfonds. Das ist ein Skandal!
Das ist ein Skandal, der sich hervorragend einpasst
in die aktuellen Ereignisse in Nordafrika und auf der
arabischen Halbinsel, wo sich vom Westen unterstützte
Diktatoren mit Waffen aus Europa gegen ihre eigene Bevölkerung zur Wehr setzen, wo von Deutschland und der
EU ausgebildete Soldaten und Polizisten auf Demonstranten losgehen. Der heutige Staatspräsident der Demokratischen Republik Kongo, Kabila, wurde unter dem
Schutz einer EU-Militärmission „gewählt“. Anschließend ließ er den unterlegenen Kandidaten und Oppositionsführer Bemba von seiner Armee aus dem Land
jagen. Belgien ließ den Oppositionsführer dann festnehmen, und heute sitzt Bemba in Den Haag in Haft. Mag
sein, dass er dorthin gehört. Dass Deutschland und die
EU aber tolerieren, dass andere Kriegsverbrecher in der
kongolesischen Armee ungestört ihren Dienst tun und
sogar - wie Bosco Ntaganda - in führende Posten der
Armee befördert werden, ist unerhört. Diese Armee, die
auch Kindersoldaten umfasst, wird im Rahmen der
EUSEC-Mission beraten und unterstützt und erhält Waffen und Ausrüstung - teilweise kostenlos - aus Europa.
Dass der vorliegende Antrag den EU-Militäreinsatz
zur Absicherung der Wahl Kabilas als Beitrag zu den
„bisher erzielten Erfolgen“ lobt, ist grotesk. Dieser Einsatz war ein militärischer Einsatz zur Absicherung einer
der schlimmsten Diktaturen in ganz Afrika. Vieles wird
ja richtig benannt in Ihrem Antrag, dass die Menschenrechtslage unter Kabila „katastrophal“ ist, dass sich der
Krieg in einigen Regionen intensiviert hat und auf andere Regionen übergegriffen hat. Vor diesem Hintergrund fordern Sie mehr Geld für die kongolesische Polizei und das kongolesische Militär, mehr Geld, das
eigentlich für Entwicklungshilfe und humanitäre Nothilfe gedacht ist, das bei der Versorgung der über 2 Millionen Binnenvertriebenen fehlt.
Entlarvend ist auch der einzige tatsächliche „Erfolg“
des deutschen und des europäischen Engagements am
Kongo, den Sie in Ihrem Antrag nennen: die Annahme
und Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahre
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
2005. An dieser Stelle ist der Antrag nämlich schon wieder veraltet, denn die Verfassung wurde kürzlich durch
Kabila und seine geschmierten Anhänger im Parlament
wieder geändert, um dessen Wiederwahl zu sichern.
Künftig soll der Präsident nur noch in einem Wahlgang
gewählt werden. In einem Land, in dem jegliche Opposition mit Militär und Polizei unterdrückt wird, ermöglicht
dies eine Wiederwahl schon mit 20 Prozent der Stimmen,
die sich auch kaufen lassen.
Wie die Repression gegen die Opposition aussieht,
konnte man etwa am 15. Dezember 2010 in Goma beobachten. Damals wollte einer der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten außer Kabila, Vital Kamerhe,
in der wichtigen Provinzhauptstadt Goma eine Rede halten. Die Regierung untersagte diese Veranstaltung, und
die Polizei trieb seine Anhänger mit Tränengas und
Warnschüssen auseinander. Auch in Goma unterhält die
EUPOL einen Stützpunkt, und sie ist an der Ausbildung
der Polizei beteiligt. Angehörige der EUPOL-Mission
seien aber bei den Vorfällen nicht anwesend gewesen.
Das behauptet die Bundesregierung zu wissen. Zugleich
aber behauptet sie, dass sie nicht wüsste, welche Polizeieinheiten an der Verhinderung der Wahlkampfveranstaltung beteiligt waren. Offensichtlich ist es ihr auch
egal, oder sie will es gar nicht wissen, was die von ihr
ausgebildeten und ausgestatteten Polizisten im Dienste
Kabilas anrichten.
Was uns an Libyen dieser Tage schockiert, dass Soldaten aus Hubschraubern auf Zivilisten feuern, ist am
Kongo fast schon Alltag. Es muss endlich Schluss sein
mit der polizeilichen und militärischen Unterstützung
von Despoten. Die Einsätze EUPOL und EUSEC stehen
symbolisch für diese Politik und müssen deshalb sofort
beendet werden - und nicht etwa ausgeweitet, wie es der
vorliegende Antrag fordert.
Als Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist Deutschland in vielfältiger Weise im
Kongo aktiv und unterstützte das Land im Jahr 2009 in
einer Höhe von 82,2 Millionen Euro. Das Riesenland
Kongo hat viele Schätze. Es geht im Kongo nicht nur um
Menschenrechte, mehr Demokratie, Kampf gegen Korruption und mehr Rechtsstaatlichkeit, sondern auch um
den Erhalt der Artenvielfalt.
Ich bin alarmiert, weil die kongolesische Regierung
plant, die Erlaubnis zu geben, Öl im Virunga-Nationalpark zu fördern. Das wäre ein grotesker Rückschritt für
all die Bemühungen, diesen Park zu erhalten. Dieser
einzigartige Park gehört zum Weltkulturerbe der
UNESCO. Hervorzuheben ist, dass dort die seltenen
Berggorillas leben, die letzten ihrer Art. Wir müssen unseren ganzen Einfluss geltend machen, um zu verhindern, dass dieses wertvolle Stück Erde von kurzfristig
denkenden Ölkonzernen zerstört wird. Vor allem im Hinblick auf die Wahlen im November 2011 muss die
Chance genutzt werden, die Öffnung des Parks für eine
Ölförderung zu verhindern. Mit der MONUC, die ab Juli
als MONUSCO weiter präsent sein wird, steht in der
Demokratischen Republik Kongo die größte FriedensSevim Dağdelen
mission der Vereinten Nationen weltweit. Leider konnte
auch die MONUC in der Vergangenheit nicht verhindern, dass es immer wieder zu unvorstellbaren Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung kam. Zu den
schlimmsten zählen die Massenvergewaltigungen, Täter
gibt es dabei auf allen Seiten. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat im
November die Massenvergewaltigungen aufs Schärfste
verurteilt. Die Bundesregierung muss sich gegenüber
der kongolesischen Regierung dafür einsetzen, dass
diese Form der sexualisierten Gewalt verhindert wird.
Das Mandat der MONUSCO muss angepasst und vor allem präzisiert werden. Bei sexualisierter Gewalt gegen
Frauen und Kinder darf die internationale Gemeinschaft nicht wegschauen.
Die Befriedung des Kongo ist eine Herkulesaufgabe.
40 Jahre Krieg, 30 000 Kindersoldaten, Millionen Tote,
Vertriebene und Traumatisierte. Langfristig braucht der
Kongo einen funktionierenden Sicherheitssektor, um
selbstständig für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und
Bürger Sorge tragen zu können. Allein am Willen der Beteiligten hat es in der Vergangenheit allzu oft gemangelt.
Vor allem die kongolesische Regierung muss sich da
noch sehr weit bewegen. Ich begrüße es, dass die deutsche Regierung die Reform des Sicherheitssektors unterstützt, indem sie den Aufbau der kongolesischen Polizei
durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, also die neue GIZ, unterstützt und darüber hinaus
zur Demobilisierung und Reintegration von ehemaligen
Soldaten und Kindersoldaten beiträgt. Allerdings kann
die internationale Gemeinschaft hier noch viel mehr
tun - und sie muss es tun. Denn die international gewünschten Rohstoffe wirken für die Konflikte im Kongo
als Brandverstärker.
Die Demokratische Republik Kongo ist ein Paradebeispiel für das „paradox of plenty“. Das Land ist extrem reich an Rohstoffen - gleichzeitig lebt die Bevölkerung in extremer Armut. Wie geht es zusammen, dass
80 Prozent der weltweiten Reserven an Coltan und
10 Prozent der Kupferreserven im Kongo liegen und
dennoch über 80 Prozent der Bevölkerung von weniger
als 0,20 US-Dollar am Tag leben? Die Herausforderungen sind doch: Wie können die Einnahmen aus der
Rohstoffgewinnung erhöht werden und in eine breite
Entwicklung für die Menschen fließen? Wie können Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden? In welchen Bereichen bedarf es verpflichtender Mechanismen? Wie kann die Bevölkerung mitentscheiden, was
passiert? Welche Gesetze müssen implementiert werden,
damit sich nicht wenige auf Kosten vieler bereichern?
Die Aktivitäten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Kooperation mit der Internationalen Region der Großen Seen, ICGLR, zum Aufbau
von Zertifizierungsmechanismen halte ich für wegweisend: Denn nur durch den Aufbau eines legalen Handelsnetzes können illegal operierende Militärs aus dem
Mineralienhandel gedrängt werden. Und nur so erhalten die Minenbetriebe und vielen Kleinschürfer die
Möglichkeit, ihre Waren direkt auf dem Weltmarkt zu
verkaufen. Sie auf diesem Weg zu begleiten, das ist eine
zentrale Aufgabe.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dennoch ist es mit dem Aufbau von Zertifizierungssystemen und der Unterstützung der Transparenzinitiative EITI - die Aktivitäten, auf die sich das BMZ im Rohstoffsektor so gerne bezieht - nicht getan.
Zum Antrag der Koalition: Der Antrag der Koalition
ist in der Sache sehr begrüßenswert. Er benennt die
wichtigsten Probleme und Herausforderungen und geht
in die richtige Richtung. Ich finde, er hat Lücken. Entwicklungszusammenarbeit wird von der Koalition
scheinbar vor allem als Sanktionsinstrument verstanden.
Da ist immer wieder die Rede von Kürzungen der Entwicklungsgelder; ein umfassendes Konzept, was die Entwicklungszusammenarbeit im Kongo leisten soll, sucht
man vergebens.
Und wir müssen auf die aktuellen Entwicklungen im
kongolesischen Rohstoffsektor reagieren - diese ignoriert Ihr Antrag leider völlig: Obwohl Sie den Punkt Biodiversität behandeln, findet sich nichts zur geplanten
Ölförderung im UNESCO-Weltnaturerbe Virunga-Nationalpark. Sie gehen auch nicht auf die aktuelle Lizenzvergabe und geplante massive Steigerung der Ölproduktion durch die kongolesische Regierung ein.
Außerdem greifen Sie nicht das aktuelle Problem
Uran auf - weder den illegalen Abbau, für den es trotz
offiziellem Verbot Hinweise gibt, noch die anvisierte
Uranförderung in der DRC durch AREVA. Wenn Sie wissen wollen, welche Konsequenzen eine solche Förderung
für die DRC hätte, dann schauen Sie sich die Situation im
Niger an - dort werden laut Menschenrechtsgruppen und
Umweltverbänden Sicherheits-, Arbeitsschutz- und Umweltauflagen durch den französischen Konzern ignoriert.
Daher muss ein solcher Antrag diesen kommenden Problemen Rechnung tragen und darf im Interesse des Landes nicht dazu schweigen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4691 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 19:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung
nichtehelicher Kinder
- Drucksache 17/3305 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/4776 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Stephan Thomae
Wir beraten heute abschließend das Gesetz zur weiteren Gleichstellung nichtehelicher Kinder im Bereich des
Erbrechts. Bis 1970 waren nichteheliche Kinder im
rechtlichen Sinne nicht mit ihrem Vater verwandt und
hatten im Verhältnis zu diesem auch kein Erbrecht. Erst
mit dem Gesetz über die rechtliche Gleichstellung der
nichtehelichen Kinder wurde ihnen für Erbfälle, die sich
nach Inkrafttreten besagten Gesetzes 1970 ereigneten
bzw. ereignen, ein Erb- und Pflichtteilsrecht zuerkannt.
Explizit ausgenommen waren aber jene Kinder, die vor
dem 1. Juli 1949 geboren und deshalb bei der Gesetzesreform älter als 21 Jahre waren.
Diese Stichtagsregelung stellt unzweifelhaft einen
Anachronismus dar, den wir mit dem vorliegenden Gesetz beenden wollen. Eine Abschaffung der Stichtagsregelung wurde bereits in der Vergangenheit mehrfach diskutiert. Unter Verweis auf das vermeintliche Vertrauen
der ehelichen Verwandten des Vaters in den Fortbestand
der geltenden Rechtslage wurde bisher aber von einer
weiteren Gleichstellung abgesehen. Das ist bedauerlich
und stellt uns deshalb heute vor besondere Herausforderungen. Offensichtlich gab und gibt es vereinzelt immer
noch eine gesellschaftliche Vorstellung, wonach eine
Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen
Kindern gerechtfertigt sei. Das ist nicht akzeptabel. Der
Ausschluss nichtehelicher Kinder vom gesetzlichen Erbrecht nach ihrem Vater und dessen Verwandten wird
heute zu Recht einhellig als Unrecht angesehen. Das ist
der Ausgangspunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs.
Die jetzt vorgeschlagene Änderung sieht vor, dass
auch vor dem 1. Juli 1949 geborene nichteheliche Kinder, die bisher nicht gesetzliche Erben ihres Vaters und
seiner Verwandten waren, künftig den ehelichen Kindern
gleichgestellt werden. Dazu soll der bisherige Stichtag
1. Juli 1949 rückwirkend für Erbfälle aufgehoben werden, die nach dem 28. Mai 2009 eingetreten sind, also
dem Tag, an dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden hatte, dass die bisherige Ungleichbehandlung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. In allen Erbfällen ab dem
29. Mai 2009 sind somit eheliche und nichteheliche Kinder erbrechtlich gleichgestellt.
Für die Union ist es ein wichtiges Anliegen, jegliche
Diskriminierung nichtehelicher Kinder ein für alle Mal
zu beseitigen. In diesem Sinne haben wir, um nur ein
Beispiel zu nennen, in der letzten Legislaturperiode die
nichtehelichen Kinder auch im Bereich des Unterhaltsrechts gleichgestellt. Von diesem Gedanken lassen wir
uns auch jetzt leiten.
Unser Ziel ist daher, die Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder nicht nur für die Zukunft, sondern so
weit wie möglich auch im Hinblick auf schon eingetretene Erbfälle zu beseitigen. Ich sage an dieser Stelle sehr
deutlich: Auch aus Sicht der Union wäre eine uneingeschränkte Rückwirkung auf die Zeit vor dem 29. Mai
2009 wünschenswert gewesen. Die nichteheliche Geburt
rechtfertigt keinerlei Ungleichbehandlung. In den Ausschussberatungen haben wir vor diesem Hintergrund intensiv die Frage einer weitergehenden Rückwirkung ge10604
prüft. Dieser Punkt war auch ein Schwerpunkt der
Gespräche, die wir mit externen Experten im Rahmen eines erweiterten Berichterstattergesprächs geführt haben.
Wir haben in diesem Zusammenhang auch intensiv
alternative Lösungen geprüft und diskutiert. Ein vermittelnder Vorschlag bestand beispielsweise darin, dem
nichtehelichen Kind nachträglich einen Anspruch gegen
die Erben in Höhe des gesetzlichen Pflichtteils einzuräumen. Ein alternativer Vorschlag sah vor, den neuen
Stichtag einige Jahre vorzuziehen. Im Ergebnis wurden
diese Überlegungen jedoch dann insbesondere aus
praktischen Erwägungen verworfen.
Denn die nachträgliche Einbeziehung von Erbfällen,
die teilweise schon viele Jahre zurückliegen, wäre mit
erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden.
Die betroffenen Erbfälle sind oftmals bereits rechtskräftig entschieden und auch abgewickelt. Diese Fälle nach
einer langen Zeit nachträglich wieder aufzurollen, wäre
rechtlich höchst kompliziert und, wenn überhaupt, nur
äußerst schwer zu realisieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Ansprüche in den meisten Fällen
nicht mehr durchsetzen ließen, da die Vermögenswerte
nicht mehr vorhanden sein dürften und daher die Erben
den Einwand der Entreicherung erheben könnten. Auf
dieses Problem haben auch die Sachverständigen hingewiesen. Im Übrigen stehen einer weitergehenden Regelung verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf
das Rückwirkungsverbot und den Vertrauensschutz der
Erben entgegen. Darauf wurde auch von der Bundesregierung in der Gesetzesbegründung ausführlich hingewiesen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns im Ergebnis gegen eine weitergehende Rückwirkung auf die
Zeit vor dem 29. Mai 2009 entschieden.
Umso wichtiger ist es daher für uns gewesen, dass zumindest bei Erbfällen nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die nichtehelichen Kinder vollständig gleichgestellt werden. In
diesem Sinne sieht die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses vor, dass die im Regierungsentwurf vorgesehene Ausnahmeregelung, wonach erbrechtliche Ansprüche zwischen den weiteren Verwandten ausgeschlossen
sein sollen, wenn am 29. Mai 2009 das nichteheliche
Kind, der Vater und die Mutter schon verstorben waren,
ersatzlos gestrichen wird. Aus unserer Sicht gibt es für
eine solche Ausnahme keinen sachlichen Grund. Es
wäre nicht nachzuvollziehen, wieso die Abkömmlinge
des nichtehelichen Kindes in den beschriebenen Fallkonstellationen vom Erbrecht abgeschnitten und insofern gegenüber den Abkömmlingen der ehelichen Kinder
benachteiligt sein sollten. Das würde die bisherige Diskriminierung der nichtehelichen Kinder lediglich perpetuieren. Ich denke, hier hat der Rechtsausschuss eine
richtige und wichtige Änderung beschlossen.
Wir haben uns im Rechtsausschuss auch mit der
Frage befasst, ob das Gesetz zusätzlich um eine flankierende Regelung erweitert werden soll, die eine nachträgliche Anrechnung von Zuwendungen des nichtehelichen Vaters auf das Erbe des nichtehelichen Kindes
ermöglicht. Dies wurde von einigen Sachverständigen
angeregt. Im Ergebnis bestand hierfür jedoch aus unserer Sicht kein Bedarf. Sofern der Erblasser noch lebt,
kann er durch Verfügungen unter Lebenden für Gerechtigkeit sorgen. In den Fällen, in denen der Erblasser bereits tot ist, erscheint eine solche Regelung ebenfalls
nicht erforderlich, da eine Regelungslücke in den wenigen zu erwartenden Problemfällen durch richterliche
Rechtsfortbildung geschlossen werden kann.
In den Ausschussberatungen haben wir noch ein anderes Gesetz mit behandelt, und zwar konkret einen Vorschlag der Bundesregierung zur Änderung der ZPO. Die
Ergänzung, die wir in das Gesetz eingefügt haben, betrifft die sogenannte Monatsanfangsproblematik beim
Pfändungsschutzkonto. In der Praxis gibt es in diesem
Zusammenhang ganz offenbar Anwendungsschwierigkeiten. Es geht dabei um die Auszahlung von nicht
pfändbaren Beträgen, die dem Konto des Schuldners
zum Monatsende gutgeschrieben werden, aber eigentlich erst für den Folgemonat bestimmt sind. Unklar ist in
der Praxis, ob diese Beträge im Monat der Gutschrift
oder erst im darauffolgenden Monat angerechnet werden.
Um weitere Unsicherheiten zulasten der betroffenen
Schuldner zu vermeiden, ist nunmehr eine gesetzliche
Präzisierung vorgesehen. Demzufolge soll die Bank den
überwiesenen Betrag zunächst bis zum Ende des auf den
Zahlungseingang folgenden Kalendermonats zurückhalten und gegebenenfalls erst dann an den Gläubiger auskehren. Damit soll sichergestellt werden, dass Beträge,
die der Existenzsicherung in einem bestimmten Monat
dienen, den Empfängern auch in diesem Monat zur Verfügung stehen und nicht durch eine Weiterleitung an den
Gläubiger entzogen werden. Insofern handelt es sich um
eine technische Modifizierung, die im Interesse der Betroffenen Klarheit schafft.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungsvorschlägen des Rechtsausschusses einen guten Weg gefunden haben, um nichteheliche Kinder im Bereich des
Erbrechts endlich gleichzustellen. Aus praktischen und
verfassungsrechtlichen Gründen war eine weitergehende Rückwirkung leider nicht möglich. Insgesamt haben wir in guter und konstruktiver Zusammenarbeit eine
überzeugende Lösung gefunden. Ich hoffe daher heute
auf breite Zustimmung.
Recht und Gesetz müssen laufend an die gesellschaftliche Weiterentwicklung und an die aktuelle Lebenswirklichkeit angepasst werden. Leider mangelt es dem Gesetzgeber dabei immer einmal wieder an der notwendigen Konsequenz. Ein Beispiel hierfür ist die erbrechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder.
Im Verlauf der Einführung des Gesetzes über die
rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder, NEhelG,
vom 19. August 1969 wurde eine Ausnahmeregelung geschaffen, die dazu führte, dass vor dem 1. Juli 1949 geborene nichteheliche Kinder bis heute mit ihren Vätern
als nicht verwandt gelten und daher auch kein gesetzliches Erbrecht haben. Bis heute wurde es versäumt, diese
Zu Protokoll gegebene Reden
Gruppe umfassend gleichzustellen. Die damit verbundene erbrechtliche Problematik ist seit langem bekannt,
wie die hierzu eingereichten Petitionen belegen. Allerdings war erst eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nötig, um ein Gesetzgebungsverfahren in Gang zu setzen.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen es ausdrücklich, dass mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf die vor dem 1. Juli 1949 geborenen
nichtehelichen den ehelichen Kindern für die Zukunft
auch erbrechtlich gleichgestellt werden. Wir werden
dem Gesetz daher zustimmen. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen wurde eine wichtige Korrektur vorgenommen: Das ab dem 29. Mai 2009 geltende Erbrecht
wurde auch auf Verwandte des nichtehelichen Kindes
und des Vaters ausgedehnt. Die Diskriminierung wegen
nichtehelicher Geburt wird damit zumindest ab dem
Stichtag der Urteilsverkündung durch den EGMR umfassend beseitigt.
Der Stichtag ist allerdings der Knackpunkt des Gesetzes. Hier hätte ich mir ein mutigeres Datum als den
29. Mai 2009 gewünscht. Natürlich darf bei bereits eingetretenen und abgewickelten Erbfällen der Vertrauensschutz, den die gesetzlichen Erben genießen, nicht außer
Acht gelassen werden. Eine weiterreichende Rückwirkung hätte zu erneuten Auseinandersetzungen bei schon
abgewickelten Erbengemeinschaften führen können. Besonders schwierig wäre es zum Beispiel bei Fällen geworden, bei denen der Nachlass bereits verbraucht
wurde. Dem Gesetzgeber sind hier aufgrund des Vertrauensschutzes auch verfassungsrechtlich sehr enge
Grenzen gesetzt.
In den unterschiedlichen Berichterstattergesprächen
wurde aber aus meiner Sicht deutlich, dass zumindest
eine Rückwirkung auf den 1. April 1998, dem Tag des Inkrafttretens des Erbrechtsgleichstellungsgesetzes, möglich und umsetzbar gewesen wäre. Erst seit 1998 wird
ein nichteheliches Kind grundsätzlich Mitglied der Erbengemeinschaft. Bei vorhergehenden Erbfällen galt
nur ein Erbersatzanspruch.
Ein Weg wäre gewesen, bei Erbfällen zwischen April
1998 und Mai 2009 einen Anspruch in Anlehnung an
den Pflichtteilsanspruch einzuräumen. Leider haben
sich die Koalitionsfraktionen und das Bundesjustizministerium mit einer solchen, meiner Meinung nach gerechteren Lösung nicht anfreunden können.
Auch zukünftig werden alle nichtehelich geborenen
Menschen, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind und
deren Väter bis zum 29. Mai 2009 verstorben sind, eben
nicht erbrechtlich den ehelichen Kindern gleichgestellt.
Noch ist nicht absehbar, wie der EGMR in dieser Frage
zukünftig entscheiden wird. Zumindest in Fällen, in denen wie bei dem verhandelten Erbfall aus dem Jahr
1998 keine näherstehenden gesetzlichen Erben vorhanden sind, könnte der EGMR auch nach Verabschiedung
dieses Gesetzes eine Konventionswidrigkeit feststellen.
Alles in allem werden wir einige Menschen, die mit
Petitionen oder sogar vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ihr Recht auf Gleichstellung
eingefordert haben, mit der jetzigen Regelung leider
nicht erreichen. Sie werden zu Recht enttäuscht sein.
Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen,
darauf hinzuweisen, dass mit diesem Gesetzgebungsverfahren ein Weg gefunden wurde, um auch eine wichtige
Weiterentwicklung im Bereich des Pfändungsschutzkontos schnell vorzunehmen. Die ersten Erfahrungen mit
dem sogenannten P-Konto haben Anwendungsschwierigkeiten bei der Auszahlung von Beträgen gezeigt, die
am Monatsende gutgeschrieben, aber für den Folgemonat bestimmt waren. Durch die gesetzliche Klarstellung
werden nun im Interesse der Betroffenen bestehende Unsicherheiten ausgeräumt.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer
Schritt auf dem von Art. 6 Abs. 5 GG vorgegebenen Weg.
Darin wird dem Gesetzgeber aufgetragen, für nichteheliche Kinder die gleichen Bedingungen für ihre leibliche
und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie für ehelich geborene Kinder.
Diesem Ziel kommen wir im Erbrecht mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfes bedeutend näher. Rückwirkend ab dem 29. Mai 2009 werden nun nichtehelich
geborene Kinder und auch deren Abkömmlinge im Erbrecht mit ehelich geborenen Kindern gleichgestellt.
Dies ist nicht nur eine deutliche Verbesserung der Position unehelich geborener Kinder. Wir beheben damit
auch den Verstoß gegen Art. 8 und Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention, den der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung
vom 28. Mai 2009 festgestellt hatte. Ich habe bewusst
gesagt, dass wir uns dem Ziel des Art. 6 Abs. 5 GG nähern. Eine Gleichstellung unehelicher Kinder auch für
die Zeit vor dem 29. Mai 2009 ist aus Praktikabilitätsgründen und aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht
möglich. Dies hätte nämlich zur Folge, dass zahlreiche
bereits auseinandergesetzte Erbengemeinschaften wieder zusammentreten müssten, um sich erneut auseinanderzusetzen.
Dabei würde sich dann die Frage stellen, was geschieht, wenn die Erbmasse im Falle einer Neuauseinandersetzung bereits verbraucht ist. Hier wurde teilweise
vorgeschlagen, es könne eine Art Entreicherungseinrede
eingeführt werden. Dies würde jedoch zu einem weiteren
Gerechtigkeitsproblem führen: Derjenige, der den Nachlass bereits verschwendet hat, wäre dann besser gestellt
als der Erbe, der eigentlich für seine eigene Familie vorsorgen wollte.
Würde man den Ansatz einer vollständigen Gleichstellung konsequent zu Ende denken, müsste man dann
auch die Frage klären, ob Erbansprüche vererbbar sind.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die bisherigen
Erben auf den Schutz ihrer gewonnen Rechtsposition
vertrauen durften. Zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht dies in seiner Entscheidung vom 20. November
2003 bestätigt. Eine Gleichstellung nichtehelicher Kinder auch für die Zeit vor dem 29. Mai 2009 würde diesen
Vertrauensschutz zunichte machen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns nach intensiven Diskussionen daZu Protokoll gegebene Reden
für entschieden, den 29. Mai 2009 als Stichtag für die
Gleichstellung zu wählen.
Der vorliegende Gesetzentwurf behandelt neben der
Gleichstellung unehelich geborener Kinder im Erbrecht
noch ein weiteres Thema. Die sogenannte Monatsanfangsproblematik war eine Folge des am 1. Juli 2010 in
Kraft getretenen Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes. Sie tritt insbesondere dann auf, wenn einem Pfändungsschutzkonto eines Schuldners unpfändbare Beträge zum Monatsende gutgeschrieben werden
und für den Folgemonat bestimmt sind.
Ein Pfändungsschutzkonto sichert einem Schuldner
gegenüber seinen Gläubigern einen monatlichen Mindestbetrag, den er zum Bestreiten seiner Existenz benötigt. Nach dem 1. Juli 2010 waren vermehrt Fälle aufgetreten, in denen Beträge, die zum Monatsende auf einem
Pfändungsschutzkonto eingegangen und für den Folgemonat bestimmt waren, dem Schuldner letztlich nicht zur
Verfügung standen.
Das neue Gesetz regelt nun explizit, dass unpfändbare Beträge, die dem Pfändungsschutzkonto eines
Schuldners zum Monatsende zufließen und für den Folgemonat bestimmt sind, von der Bank erst nach Ablauf
des auf den Zahlungseingang folgenden Monats an den
Gläubiger des Schuldners weitergeleitet werden dürfen.
Diese Regelung schafft für alle Beteiligten Klarheit und
ist ein wirksames Mittel gegen die Monatsanfangsproblematik. Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Gesetzentwurf vor diesem Hintergrund befürworten.
Ungleichbehandlung beenden! Das war die Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor nunmehr knapp zwei Jahren. Dies bezog sich
auf die bis dahin im deutschen Erbrecht vorgesehene
Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen
Kindern, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden. Nach
dem überarbeiteten Gesetzentwurf soll dies korrigiert
werden und sollen alle vor dem 1. Juli 1949 geborenen
nichtehelichen Kinder künftig auch gesetzliche Erben
ihrer Väter werden.
An der kuriosen Erbrechtsgeschichte hat sich nichts
geändert; ich möchte sie nochmals anführen: Nichteheliche Kinder, die vor dem 01. Juli 1949 geboren sind,
hatten nach der bislang gültigen Rechtslage grundsätzlich kein Erbrecht nach ihrem Vater und dessen Verwandten. Umgekehrt genauso: Auch der Vater des verstorbenen nichtehelichen Kindes konnte nicht dessen
Erbe sein. Beide galten als nicht verwandt, Art. 12 § 10
Nichtehelichengesetz. Dies ist jetzt leider nicht umfassend, wie von der Linken gefordert, sondern nur teilweise geändert worden.
Zunächst bestand die Hoffnung - da in den Berichterstattergesprächen sich fast alle Beteiligten fraktionsübergreifend einig waren -, nichteheliche Kinder und
eheliche Kinder erbrechtlich umfassend gleichzustellen.
Diese Hoffnung schwand, als die FDP dann wieder umfiel und sich gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner
darauf einigte, die Fälle derart zu beschränken, dass
das nur ab dem Stichtag der Verkündung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gelten soll. Wieder mal umgefallen! Deshalb bleiben, dank des Stichtages 29. Mai 2009, doch noch
Ungerechtigkeiten, weshalb die deutlichen Verbesserungen im Gesetz nicht ausreichen, um dem Gesetz zustimmen zu können.
Nach wie vor wird bei Kindern, welche in der DDR
geboren sind, unterschiedlich gehandelt, soweit es das
Erbrecht angeht. Denn nur, wenn der nichteheliche Vater seinen Aufenthalt auf dem Hoheitsgebiet der DDR
hatte, war das Kind von ihm auch erbberechtigt. Dazu
möchte ich zitieren:
Der Vater des nichtehelichen Kindes hatte am
2. Oktober 1990 ({0}) seinen gewöhnlichen
Aufenthalt im Gebiet der ehemaligen DDR. Dann
ist auch auf einen späteren Erbfall das Erbrecht
der DDR anzuwenden, wonach das nichteheliche
Kind und der Vater gegenseitig erb- und pflichtteilsberechtigt sind, Art. 235 § 1 EGBGB; §§ 365,
367, 396 DDR-ZG. Der Aufenthalt des Kindes ist
dabei nicht maßgeblich.
Ich finde es schade, dass die ursprüngliche Mehrheit
der Berichterstatter sich nicht durchsetzen konnte, die
Stichtagsregelung entfallen zu lassen, um wirklich alle
Kinder zu erfassen.
Dass hier der Vertrauensschutz seitens des Ministeriums in den Vordergrund gespielt wurde, lässt Fragen offen, die auch nicht dadurch ausgehebelt werden, dass es
bei Aufhebung des Stichtages zu neuen Ungerechtigkeiten kommen könnte. Insgesamt kann die Argumentation
der Koalition meine Fraktion und mich nicht restlos
überzeugen. Mit dem eingebrachten Änderungsantrag
wurde zwar die erbrechtliche Gleichstellung auch auf
die Nachkommen nichtehelicher Kinder erstreckt, wenn
der nichteheliche Erblasser zum Zeitpunkt des Stichtages bereits verstorben war, und auch die sogenannte
Monatsanfangsproblematik wurde durch die weiteren
Ergänzungen beseitigt. Ob allerdings auch weiterhin gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen wird und wie
hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es zu weiteren Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR kommen
kann, müssen gegebenenfalls die Gerichte prüfen.
Bei all den positiven Änderungen, welche durch das
Gesetz eingeführt werden, können wir dem Gesetz aber
aus den vorgenannten Gründen nicht zustimmen.
Heute beraten wir abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem zweiten Gesetz zur
erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder.
Die Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf vorgelegt, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 28. Mai 2009 festgestellt hat, dass das geltende deutsche Erbrecht gegen die
Menschenrechtskonvention verstößt. Denn nichteheliche
Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind, sind im
Erbrecht ehelichen Kindern nicht vollständig gleichgestellt. Deutschland wurde deshalb vom Europäischen
Zu Protokoll gegebene Reden
Gerichtshof für Menschenrechte zu einer Entschädigungszahlung an das betroffene nichteheliche Kind verpflichtet. Der Entscheidung lag ein Erbfall aus dem
Jahre 1998 zugrunde.
Für uns Grüne ist die Gleichstellung von nichtehelichen Kindern seit Jahren ein zentrales Anliegen. Wir begrüßen die - nach den Gesprächen im Rechtsausschuss durchaus vorgenommenen kleinen Änderungen an dem
Gesetzentwurf. Sie stellen zumindest eine Verbesserung
des ursprünglichen Entwurfs dar. Die Bundesregierung
sieht in ihrem Entwurf aber lediglich eine erbrechtliche
Gleichstellung von nichtehelichen Kindern vor, wenn
der Erbfall nach dem 28. Mai 2009 eintritt. Somit werden nichteheliche Kinder, deren Väter vor dem 28. Mai
2009 verstorben sind, erbrechtlich nicht berücksichtigt.
Uns Grünen erschließt sich die Argumentation der
Bundesregierung nicht. Aus grüner Sicht gibt es keinen
sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung. Wir
fragen uns: Wieso soll eine Gleichbehandlung nur eintreten, wenn der Erbfall nach dem 28. Mai 2009 eingetreten ist? Die FDP begründet die Ungleichbehandlung
mit angeblich bestehenden praktischen Problemen.
Zahlreiche bereits abgewickelte Erbfälle müssten neu
aufgerollt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion der FDP, es geht um die Gleichstellung der
nichtehelich geborenen Kinder, die vor dem 1. Juli 1949
geboren sind, also um Personen, die heute 62 Jahre und
älter sind. Es geht somit nicht um eine unüberschaubare
Anzahl von Fällen, die neu aufgerollt werden müssten.
Alle jüngeren nichtehelichen Kinder sind bereits erbrechtlich gleichgestellt.
In der Praxis des Erbrechts ist das Aufrollen von bereits abgewickelten Erbfällen auch nichts Neues. Das
gibt es immer wieder. Anwaltschaft und Gerichte sind
gewohnt, damit umzugehen. Ganz abgesehen davon darf
der Arbeitsaufwand an Gerichten auch kein Argument
sein, die grundrechtlich geschützte Gleichbehandlung
ehelicher und nichtehelicher Kinder einzuschränken.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion der FDP, Sie führen weiter an, dass Gerechtigkeitsungleichgewichte aufträten, wenn derjenige, der
den Nachlass verschwendet hat, bessergestellt wird als
ein sparsamer Nachkomme. Der verschwenderische
Erbe könne sich nämlich auf die Einrede der Entreicherung berufen. Der sparsame Erbe müsste sein Erbe teilen.
Über dieses Argument kann man nachdenken. Allerdings sollte immer der Gesamtkontext im Blick behalten
werden. Die Möglichkeit eines Erben, sich darauf zu berufen, dass er erbrechtliche Ansprüche nur aus einer
noch vorhandenen Erbmasse erfüllen muss und nicht
aus seinem sonstigen Privatvermögen, ist Ausdruck des
Vertrauensschutzes des Erben. Der Vertrauensschutz ist
ein Umstand, den wir bei der Abwägung berücksichtigen
müssen. Hinzu kommt, dass die Einrede der Entreicherung bereits für das gesamte Zivilrecht und damit auch
für das Erbrecht gilt. Somit sind nicht nur Fälle der
Gleichstellung nichtehelicher Kinder betroffen. Vielmehr ist es ein allgemeiner zivilrechtlicher Ausdruck,
dass derjenige, der das Vermögen gutgläubig verbraucht hat, nicht mehr zur Auszahlung oder Rückzahlung verpflichtet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der
CDU/CSU, Sie begründen die kurze Rückwirkung bis
zum 28. Mai 2009 damit, dass der Vertrauensschutz berücksichtigt werden müsse, der mit der Festlegung des
Stichtags für die Gleichbehandlung ehelicher und
nichtehelicher Kinder auf den 1. Juli 1949 geschaffen
wurde. Das ist sicher richtig. Allerdings muss auch dies
im Rahmen einer Abwägung erfolgen. Dabei müssen wir
berücksichtigen, dass der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in seinem Urteil ausgeführt hat - ich zitiere -:
Der Gerichtshof ist insbesondere der Auffassung,
dass … der Gesichtspunkt des Schutzes des „Vertrauens“ des Erblassers und seiner Familie dem
Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und
ehelicher Kinder unterzuordnen ist.
Das bedeutet: Der Europäische Gerichtshof stellt die
Gleichbehandlung der Kinder über den Vertrauensschutz des Erblassers und seiner Erben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
in seiner Entscheidung eine umfassende Abwägung zwischen den Interessen des nichtehelichen Kindes und den
Interessen des Erblassers bzw. seiner Familie vorgenommen. Damit hat er dem deutschen Gesetzgeber viele
Anhaltspunkte für eine mögliche Abwägung vorgegeben.
Diese Anhaltspunkte müssen wir im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen. Wir können uns nicht zurücklehnen und zuschauen, wie der nächste Einzelfall von den
höchsten Gerichten entschieden wird, um eine endgültige Gleichstellung von nichtehelichen und ehelichen
Kindern zu erreichen. Hier ist auch entscheidend, dass
der Erbfall, den der Europäische Gerichtshof zu beurteilen hatte, lange vor dem Stichtag lag, den die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf zugrunde legen will,
nämlich bereits im Jahr 1998.
Abschließend ist festzuhalten: Das Erbrecht ist sicherlich keine einfache Materie. Gleichwohl darf die
Bundesregierung sich nicht ihrer Verantwortung entziehen, eine wirklich gerechte und ausgleichende Regelung
für nichteheliche Kinder zu schaffen, zumal diese Kinder
ihre personenstandsrechtliche Situation in keiner Weise
mit verursacht haben. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht in die richtige Richtung, er geht jedoch
nicht weit genug. Wir werden uns bei der Abstimmung
daher enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4776, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/3305 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Lesung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Ent10608
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
haltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({0}), Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste stoppen - Sicherstellung von Qualität, Transparenz und Effizienz
- Drucksache 17/4847 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die SPD fordert in ihrem Antrag die Aufhebung der
Ausschreibungspflicht für Leistungen der Integrationsfachdienste. Im Folgenden möchte ich Ihnen, liebe Kollegen, darlegen, dass Sie mit Ihren Ausführungen zu dieser Forderung falsch liegen.
Aufgrund der prognostizierten demografischen Entwicklung in unserem Land und dem daraus hervorgehenden Fachkräftemangel ist es unser Ziel, das Arbeitskräftepotenzial von schwerbehinderten Menschen zu
aktivieren. Bisher ungenutzte Potenziale müssen intensiver für den Arbeitsmarkt genutzt werden, und nicht nur
deshalb, sondern auch aufgrund unserer moralischen
Verpflichtung, alle Menschen in unsere Gesellschaft zu
integrieren und dafür zu sorgen, dass jeder die Möglichkeit hat, sich an unserem Gemeinwohl zu beteiligen und
einen möglichen Beitrag dazu zu leisten und für diesen
auch Wertschätzung zu erfahren.
Die Bundesregierung prüft gerade in Abstimmung mit
den Ländern, wie vorhandene Bundesmittel aus der Ausgleichsabgabe zur Verbesserung der Ausbildungs- und
Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen
genutzt werden können.
Ein zentrales Element zur Eingliederung schwerbehinderter Menschen sind die Integrationsfachdienste,
deren Leistung die Kolleginnen und Kollegen der SPD
in ihrem Antrag zu Recht als eine „kontinuierliche
hervorragende Arbeit in einer verlässlichen bundeseinheitlichen Struktur“ bewerten. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt auch weiterhin die Arbeit der
Integrationsfachdienste und erkennt deren zentrale Bedeutung an.
Grundsätzlich muss gesagt werden, dass die Bundesagentur für Arbeit Arbeitsmarktdienstleistungen im
Rahmen des Vergaberechts beschafft, und dies gilt
selbstverständlich auch für die Leistungen der Integrationsfachdienste zur Vermittlung schwerbehinderter
Menschen - mit Ausnahme von Rehabilitationsleistungen, welche nach den §§ 111 und 113 SGB IX ausgenommen sind.
Nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ist ein gleicher
Zugang aller privaten Dienstleister zu öffentlichen Aufträgen im Rahmen wettbewerblicher Vergabeverfahren
zu gewährleisten. Das Vergaberecht ist ein geeignetes
Instrumentarium, um den erforderlichen Anforderungen
an die zu erbringenden Dienste flexibel gerecht zu werden. Wir brauchen Dienstleister für diese bedeutungsvolle Aufgabe, die zuverlässig sind und die fachkundige
und leistungsfähige Dienste anbieten. Und entscheidend
hier ist nicht primär der Preis der Dienstleister. Entscheidend ist die im Interesse der schwerbehinderten
Menschen erforderliche Qualität der Dienstleistung.
Doch natürlich gibt es auch Sonderfälle. Kommt etwa
für die Leistung aus besonderen Gründen nur ein Unternehmen in Betracht, wäre eine freihändige Vergabe auch
ohne die Ermöglichung von Wettbewerb selbstverständlich zulässig. Daraus wird auch ersichtlich, dass beim
Vergaberecht lediglich der Prozess der Vergabe festgelegt ist, nicht jedoch die Qualität der Leistung.
Zudem erfolgt dadurch eine präzise Struktur der zu
erbringenden Leistung. Eine Dynamik, Flexibilität und
ein gewisser Druck an den ausführenden Dienstleister,
eine zeitgemäße und dem aktuellen Forschungsstand gemäße Leistung anzubieten, ist zentral für eine erfolgreiche Integration schwerbehinderter Menschen.
Demnach ist der Träger verpflichtet, mit Angebotsabgabe ein detailliertes inhaltliches Konzept vorzulegen,
in welchem eventuelle behinderungsspezifische Besonderheiten der Teilnehmer zu berücksichtigen sind. Dazu
gehört es, erstens eine Analyse und Aufarbeitung der
Bewerberprofile durchzuführen, zweitens ein Bewerbercoaching-Konzept und Strategien zur Aktivierung von
Eigenbemühen darzulegen, drittens Methoden aufzuzeigen, wie Teilnehmern ermöglicht werden kann, Teile der
Maßnahmen bei einem Arbeitgeber zu absolvieren, und
viertens ein Konzept zur Nachbetreuung vorzulegen. Zudem erfolgt eine weitere Systematisierung durch die
Festlegung einer Präsenzzeit der Teilnehmer auf 15 Stunden; diese sind notwendig, um einen angemessenen
Raum zu bieten, die komplexen inhaltlichen Anforderungen vermitteln zu können.
Aber nicht nur inhaltlich werden wichtige Maßstäbe
festgesetzt, sachgerechte Anforderungen werden auch
an die technische Ausstattung gestellt. So muss der
Stand der Technik den gesetzlichen Vorgaben, beispielsweise nach der Arbeitsstättenverordnung oder Bildschirmarbeitsverordnung, entsprechen.
Der Antragsteller bemängelt eine fehlende Kontinuität durch das Vergaberecht. Eine Laufzeit der Verträge
über einen Zeitraum von 33 Monaten gewährt durchaus
eine verlässliche Planungssicherheit für die beauftragten Träger.
Nach § 46 SGB III hat der Gesetzgeber in Abs. 4 Satz 1
vorgegeben: „Das Vergaberecht findet Anwendung.“ Im
Antrag wird eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen
Dienstes zitiert, in welcher behauptet wird, dass der Absatz nur mit der Formulierung „Das Vergaberecht ist
anzuwenden“ zwingendes Recht sein würde. Das vom
Bundesministerium der Justiz herausgegebene „Handbuch der Rechtsförmlichkeit“ geht im Gegenteil davon
aus, dass die beiden Formulierungen eine identische Bedeutung haben. Ein Ermessen wird in der Regel durch
das Wort „kann“ ausgedrückt, was hier nicht der Fall
ist.
Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass § 46
Abs. 4 Satz 1 SGB III einen deklaratorischen Verweis auf
das Vergaberecht beinhaltet, welcher besagt, dass das
Vergaberecht dann anwendbar ist, wenn die Voraussetzungen des Vergaberechts vorliegen. Diese liegen dann
vor, wenn Verträge der Integrationsämter mit privaten
Dritten abgeschlossen werden, sofern es sich nicht um
Rehabilitationsleistungen handelt.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer
Integrationsmaßnahme ist fachlich qualifiziertes und
geschultes Personal. Durch die existierenden hohen Anforderungen an die Qualifikation des in der Maßnahme
eingesetzten Personals in den Ausschreibungsunterlagen wird ein ausreichend hoher Qualitätsstandard für
die Durchführung festgelegt. Den besonderen Bedürfnissen schwerbehinderter Menschen wird damit Rechnung getragen - nicht jedoch mit dem vorliegenden Antrag.
In ihrem Antrag plädiert die SPD für die Abschaffung
der Ausschreibungspflicht für Integrationsfachdienste.
Dem Antrag liegen dabei zwei Grundannahmen zugrunde, deren Beweis die Sozialdemokraten aber schuldig bleiben, erstens dass die Art der Vergabe über die
Qualität der Integration von behinderten Menschen entscheidet und zweitens dass Integration von behinderten
Menschen ausschließlich über die Integrationsfachdienste geleistet werden könne.
Sozialrecht und Vergaberecht stehen meines Erachtens nicht im Widerspruch zueinander. Mit dem Vergaberecht steht uns ein Instrumentarium zur Verfügung, um
auch den Anforderungen beim Einkauf von Diensten zur
Erbringung von Sozialleistungen gerecht zu werden.
Dies trifft sowohl auf die notwendigen Anforderungen
an die Eignung bei der Auswahl fachkundiger, leistungsfähiger und zuverlässiger Dienstleister als auch auf die
Ermittlung des im Hinblick auf die Qualität der Leistungserbringung wirtschaftlichsten Angebots zu. Der
Preis allein ist dabei nicht entscheidend. Das Vergaberecht regelt lediglich den Prozess der Vertragsanbahnung. Um die Qualität auch bei der Ausführung der
Leistung sicherzustellen, sind entsprechende vertragsrechtliche Regelungen, zum Beispiel Zielesteuerung,
Kontrolle, Rückkopplung und Nachjustierung vorzusehen. Entscheidend sollte für uns alle sein, dass Integration gelingt, und nicht, durch wen. Nicht zuletzt haben
wir nach Art. 3 Grundgesetz allen privaten Dienstleistern den gleichen Zugang zu öffentlichen Aufträgen im
Rahmen wettbewerblicher Vergabeverfahren zu gewährleisten.
Die vergaberechtliche Rechtsprechung stellte klar,
dass Freihandvergaben nur an Einrichtungen möglich
sind, die unmittelbarer Teil der staatlichen Verwaltung
und daher vom Wettbewerb mit gewerblichen Unternehmen ausgeschlossen sind. Da Integrationsfachdienste
keine staatlichen Regiebetriebe, sondern Dienste Dritter
sind, stand die freihändige Vergabe für Auftragsvergaben der Bundesagentur für Arbeit an Integrationsfachdienste nicht mehr länger zur Verfügung. Schließlich
wurden die entsprechenden Regelungen bei der Novellierung der VOL/A im Jahre 2009 gestrichen, weil sie
mit großen rechtlichen Unsicherheiten behaftet waren
und ihren Zweck, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, nicht mehr erfüllten.
Von der geänderten Rechtslage ist aber nur ein Teil
der Integrationsfachdienste betroffen. Nur in BadenWürttemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen haben
bisher Integrationsfachdienste nahezu flächendeckend
Leistungen zur Vermittlung schwerbehinderter Menschen erbracht. In Hamburg, Hessen, Niedersachsen
und Rheinland-Pfalz waren bzw. sind sie nur teilweise
beauftragt. In anderen Ländern, in Berlin, Brandenburg,
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen, werden diese Leistungen durch andere
Dienstleister am Markt erbracht.
Das Vergaberecht ist nur ein Instrument zur Beschaffung der erforderlichen Ressourcen für die Erbringung
der Sozialleistungen. Im Vordergrund steht daher die
Frage, welche Leistungen benötigt werden und angeboten werden müssen.
Die Qualitätskriterien spielen unter den Ausschreibungsbedingungen eine herausragende Rolle. Im Rahmen der Wertung der Angebote erhält die Qualität eine
hohe Gewichtung im Verhältnis zum Preis, sodass die
Position bewährter und kompetenter Maßnahmeträger
im Ausschreibungsverfahren gestärkt wird. Vergleichbare Ausschreibungen zur Unterstützten Beschäftigung,
bei denen bereits umfangreiche Qualitätsanforderungen
an die Bieter gestellt worden sind, wurden auch von Verbänden, die Ausschreibungen tendenziell kritisch gegenüberstehen, inhaltlich grundsätzlich positiv gewürdigt.
Es kann auch nicht gesagt werden, dass Integrationsfachdienste in ihrer Existenz bedroht sind, wenn sie bei
einer Ausschreibung einmal nicht den Zuschlag bekommen. Im Übrigen bieten die komplexen Maßnahmepakete nach § 46 SGB III den Diensten die Chance, ein
weit größeres Geschäftsfeld zu erschließen, als dies bei
den reinen Vermittlungsleistungen der Fall war.
Eine Evaluation sowohl der Ausschreibungen als
auch der Umsetzung der Maßnahmen ist vorgesehen.
Die Maßnahmen der beruflichen Eingliederung schwerbehinderter Menschen wurden erstmalig und unabhängig voneinander mit regional unterschiedlichen Zeitschienen im Herbst 2010 ausgeschrieben. Als Beginn
der Maßnahmen war der 3. Januar 2011 vorgesehen.
Eine erste inhaltliche Auswertung der Durchführungsqualität, insbesondere Analyse der Eingliederungsquoten, wird dann frühestens Ende 2012 erfolgen können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der
Integrationsmaßnahmen ist fachlich qualifiziertes und
geeignetes Personal. Zwar ist es vor dem Hintergrund
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs derzeit vergaberechtlich nicht möglich, Vorgaben an die
Dienstleister zur Entlohnung ihrer Fachkräfte zu stellen,
doch kann auch durch die Anforderungen an die Qualifikation des in der Maßnahme eingesetzten Personals im
Rahmen der Ausschreibungsunterlagen ein ausreichend
hoher Qualitätsstandard für die Durchführung bestimmt
und damit den besonderen behinderungsbedingten Bedürfnissen der Teilnehmer Rechnung getragen werden.
Darüber hinaus unterstützen sachgerechte Anforderungen an die technische Ausstattung, die dem Stand der
Technik und den gesetzlichen Vorgaben entsprechen
muss, die erfolgreiche Durchführung der Maßnahmen
zur beruflichen Eingliederung schwerbehinderter Menschen.
Lassen sie uns nun gemeinsam die Evaluation der
Ausschreibungspflicht abwarten! Uns eint das Ziel einer
qualitativ hochwertigen und nachhaltigen Integration
behinderter Menschen. Lassen sie uns dabei offen sein
für neue Lösungen und Wege! Es geht um Integration
und nicht um Ideologie. Entscheidend für uns ist, dass
Integration gelingt, und nicht, durch wen.
Die Integrationsfachdienste wurden geschaffen, damit in dem Bereich der Vermittlung und Begleitung
schwerbehinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine qualitativ hochwertige Dienstleistung und
eine einheitliche und regional vernetzte Struktur gewährleistet werden können. Verantwortung dafür tragen
die Rehabilitationsträger und die Integrationsämter gemeinsam.
Menschen mit Behinderung sind auch selbst in diesen
Diensten mitbeschäftigt und sorgen dafür, dass die
Chancen auf Teilhabe am Arbeitsleben insgesamt steigen. Dabei arbeiten die IFD sehr erfolgreich: Sie bieten
kompetente und individuell passgenaue Unterstützung
für die Betroffenen und auch für die Arbeitgeber. Die
IFD haben hervorragende Kontakte zu Arbeitgebern
und können diesen erklären, wie man am besten einen
schwerbehinderten Arbeitnehmer einstellt, können ihnen
die Berührungsängste nehmen und sie bei der Einrichtung von barrierefreien Arbeitsplätzen unterstützen - das
Erfolgsgeheimnis der IFD!
So unterstützten die Integrationsfachdienste im Jahr
2007 rund 89 800 besonders betroffene schwerbehinderte Menschen. Im Jahr 2005 waren es noch 77 600.
Bei 30 400 in 2007 schwerbehinderten Menschen genügte eine qualifizierte Beratung bzw. eine kurzzeitige
Intervention, um den Integrationserfolg zu erzielen.
2005 waren es noch 26 500. Bei knapp 69 300 Personen
war hingegen eine umfangreichere und auch längerfristige Begleitung erforderlich, um ein bestehendes Arbeitsverhältnis zu stabilisieren oder sie in ein neues zu
vermitteln. 2005 waren das noch 51 000 Personen.
Im Jahr 2009 haben die Integrationsfachdienste auf
diesem Wege 7 324 schwerbehinderte Menschen in Arbeit vermittelt. Insgesamt stieg die Zahl der unterstützten Menschen mit Behinderungen von 2005 bis 2009
sogar um 29 Prozent - von 77 600 auf rund
100 000 Personen. Dabei ist besonders zu beachten,
dass es sich bei den Klienten der IFD um eine sehr
schwer vermittelbare Zielgruppe handelt: Es sind überwiegend Menschen mit einer schweren seelischen, geistigen oder körperlichen Behinderung, seh- oder hörgeschädigte schwerbehinderte Menschen sowie Menschen
mit mehrfachen Behinderungen.
Die Integrationsfachdienste leisten somit seit Jahren
kontinuierlich hervorragende Arbeit in einer verlässlichen bundeseinheitlichen Struktur, auch wenn die Leistungen regional sehr unterschiedlich und durchaus ausbaufähig sind. Eine Weiterentwicklung des Systems ist
jedoch einer Öffnung und Zerschlagung vorzuziehen.
Eine Zerschlagung ist zu befürchten, da die Integrationsfachdienste seit vergangenem Jahr Aufträge für
Vermittlungsleistungen durch die Bundesagentur für Arbeit nicht mehr freihändig erhalten, sondern sich dafür
mit anderen Anbietern an Ausschreibungen beteiligen
müssen. Die Anwendung der Ausschreibung für die Vergabe von IFD-Leistungen wird vom zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales fälschlicherweise für verbindlich und alternativlos gehalten.
Ausschreibungen sind nicht grundsätzlich abzulehnen - das sage ich ganz bewusst -; sie sind uns ja zum
Teil auch durch europäische und nationale Wettbewerbspolitik verordnet. Das gilt hier aber nicht, denn
der Sozialbereich ist ausnahmsweise von Ausschreibungen auszunehmen; es herrscht hier kein freier Wettbewerb in einem freien Markt. Ökonomen sprechen von einem sogenannten Marktversagen. Der Sozialmarkt
erfordert eigene Steuerungsformen.
Nach unserer Auffassung lässt das Vergaberecht unter Beachtung des EU-Rechts grundsätzlich eine Ausnahme zu, denn die Staaten haben im Rahmen des EURechts nach wie vor die Verantwortung zur Steuerung
und Gestaltung des Angebots und können begründete
Ausnahmeregelungen setzen, wie dies in einzelnen Bereichen innerhalb der VOL/A auch vorgenommen wurde.
Eine einfache Übertragung aus anderen Wirtschaftsbereichen ist nicht sachgerecht, und das wird hier konkret auch keinen Erfolg bringen.
Ausschreibungen, wie wir sie aus der Praxis der Bundesagentur für Arbeit im Bereich der beruflichen Rehabilitation kennen, treiben seit Jahren Anbieter in einen
Preiskampf und zerstören die Qualität, anstatt das vorhandene, nachgewiesenermaßen erfolgreiche System
beruflicher Teilhabe weiterzuentwickeln. Die Ausschreibung von Leistungen in dem Bereich der individuellen
Dienstleistungen für schwerbehinderte Menschen ist
völlig ungeeignet, erfolgreich die Vermittlung und Begleitung am Arbeitsmarkt zu organisieren. Häufige Trägerwechsel, die den Vermittlungserfolg durch Übergangszeiten und neu zu knüpfende Kontakte zu
Unternehmen und Verwaltung behindern, sind für die Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kontraproduktiv. Erforderlich ist
vielmehr eine kontinuierliche und verlässliche Leistung Zu Protokoll gegebene Reden
Silvia Schmidt ({0})
beginnend von der ersten Kontaktaufnahme über die
Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bis hin
zu den begleitenden Hilfen.
Es gibt keinen Nachweis - und auch das zuständige
Ministerium konnte ihn bisher nicht erbringen -, dass
Ausschreibungen generell und so, wie von der BA im
Speziellen durchgeführt, tatsächlich zu einer gesteigerten Ergebnisqualität führen. Solange dieser Nachweis
nicht da ist und immer nur beschworen wird, lehnt die
SPD-Bundestagsfraktion Ausschreibungen im Bereich
der Rehabilitation ab. Lassen Sie uns gemeinsam darüber diskutieren, wie das Rehasystem weiterzuentwickeln
ist, anstatt weiter der Ausschreibungsideologie anzuhängen!
Die Ausschreibung ist somit nicht nur ein Systembruch, sondern, was mindestens genauso schwer wiegt:
Die Ministerialbürokratie versucht mindestens seit
2009, das Parlament in dieser Frage auszuklammern.
Wie unser Antrag aufzeigt, wurde der Gesetzgeber weder durch die Berichte zur Rehabilitation oder zur Lage
der Menschen mit Behinderung noch durch Informationen für den Ausschuss oder Berichterstattungen informiert. Erst im März 2010, als die Änderung der Vergabeordnung durch das BMAS längst beschlossen war und
das Inkrafttreten zum 1. Mai nicht mehr aufgehalten
werden konnte, hat man eine nachträgliche Rechtfertigung ausgearbeitet.
Dieses Verhalten kann für den Gesetzgeber nicht akzeptabel sein - das sage ich auch in Richtung meiner
Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen -; denn es hebelt eine gesetzlich verankerte Struktur
auf dem Verordnungswege aus - ohne jede Chance der
politischen Steuerung durch das Parlament. Was wird
die Folge sein? Fachlich wird die Qualität in der Vermittlung sinken, weil sich künftig viele andere, nicht
qualifizierte Anbieter mitbewerben dürfen.
Die IFD sind aber nur der Anfang - es kommen nach
und nach alle ambulanten Leistungen unter Beschuss,
und es besteht die Gefahr, dass bisher stationäre Leistungen zu ambulanten umgewidmet und für die Ausschreibung geöffnet werden. Das nehmen wir nicht hin
und werben mit unserem Antrag dafür, hier einen anderen Weg zu gehen und die Einheitlichkeit des SGB IX zu
stärken.
Das Beste kommt wie immer zum Schluss: Es gibt einen einstimmigen Beschluss der Arbeits- und Sozialminister, der das Anliegen unseres Antrages unterstützt.
Ich rate daher, sich in dieser Sache nicht Äpfel für Birnen verkaufen zu lassen. In dem Beschluss und in unserem Antrag steht es richtig: Freihändige Vergabe muss
wieder ermöglicht werden, die Ausschreibungspflicht
muss gestoppt werden.
Jeder Abgeordnete sollte die IFD im Wahlkreis auch
einfach mal besuchen und sich anschauen, wie da gearbeitet wird und was da an Kompetenz zur Arbeitsmarktintegration vorhanden ist. Die Diskussion im Ausschuss
wird zeigen, ob wir gemeinsam das bestehende System
weiterentwickeln können oder ob die Marktideologie
sich hier Bahn bricht und uns ein bewährtes System kaputtmacht.
Die Frage, wie Menschen mit Behinderung einen für
sie passenden Arbeitsplatz finden, ist zentral. Selber
Geld zu verdienen, davon leben zu können und selber bestimmen zu können, wie das Leben gestaltet sein soll,
macht unabhängig. Jeder Mensch soll unabhängig von
seinem Handicap entscheiden können, wie er sein Leben
gestalten möchte. Für mich als Liberale ist das ein zentraler Ansatz unserer Politik für Menschen mit Behinderung.
Gerade Menschen mit Behinderung müssen besondere Anstrengungen unternehmen, um ihr Leben so gestalten zu können, wie sie es sich selber wünschen. Einen
Arbeitsplatz zu haben, auch außerhalb des geschützten
Raumes einer Werkstatt, ist ein wesentlicher Teil eines
selbstbestimmten Lebens. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass Menschen mit Behinderung arbeiten wollen
und hochmotiviert sind. Sie dabei zu unterstützen, einen
für sie passenden Arbeitsplatz zu finden, muss bereits in
der Schule beginnen. Beratung und Betreuung ist dann
effizient, wenn sie die individuelle Behinderung berücksichtigt und Möglichkeiten aufzeigt, ein Arbeitsverhältnis aufzunehmen oder fortzuführen, zum Beispiel durch
technische Hilfsmittel oder durch die Anpassung des Arbeitsplatzes. Theoriereduzierte Ausbildungsgänge sowie
modulare Ausbildungsgänge bieten zum Beispiel lernbehinderten Menschen die Möglichkeit, eine Ausbildung
zu absolvieren und einen Abschluss zu erlangen. Auch
Unternehmen könnten durch gezieltes Jobcoaching ermutigt werden, Menschen mit Behinderung einzustellen.
Integrationsfachdienste haben die Aufgabe übernommen, Menschen mit Behinderung bei Eingliederung und
Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu unterstützen. Sie sitzen an der Schnittstelle von Unternehmen
und zukünftigen Arbeitnehmern und haben somit eine
wichtige Mittlerrolle.
Im Jahr 2009 erfolgte die Anpassung des deutschen
Vergaberechts an europarechtliche Vorgaben. Die Änderungen in der Vergabeordnung für Leistungen haben
dazu geführt, dass die freihändige Vergabe von Integrationsfachdiensten nicht mehr möglich ist. Bisher wurde
dieser Ausnahmetatbestand durch die Vergabeordnung
für Leistungen gestützt. Das bedeutet, dass künftige
Maßnahmen zur Eingliederung von Menschen mit Behinderung grundsätzlich nach § 46 SGB III von der Bundesagentur für Arbeit öffentlich ausgeschrieben werden
müssen.
Eine große Diskussion wurde mit dieser gesetzlichen
Neuregelung ausgelöst. Die Kritiker befürchten, dass
durch die Ausschreibung der qualitativ hohe Standard
der Arbeit der Integrationsfachdienste leidet und viele
sich nicht behaupten können. Diese Befürchtung ist
nicht haltbar. Eine Ausschreibung muss durchaus kein
Nachteil sein, wie es aber auch der vorliegende Antrag
der SPD-Fraktion suggeriert.
Ich möchte kurz daran erinnern, was der Sinn und
das Ziel öffentlicher Ausschreibungen ist. Eine AusZu Protokoll gegebene Reden
schreibung ist ein Teil des Verfahrens zur Vergabe von
Aufträgen im Wettbewerb. Ihr Ziel ist es, eine möglichst
passgenaue, qualitativ gute oder hochwertige Leistung
zu bekommen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales steht
zu dem Grundsatz der Ausschreibung. Im Rahmen der
Arbeitsmarktpolitik gibt es drei Zielsetzungen, die eine
Ausschreibung erfüllen muss: Effektivität, Qualität und
Wirtschaftlichkeit. Damit wird gewährleistet, dass der
Kunde, in diesem Fall ein Mensch mit Behinderung, der
arbeiten möchte und hierbei Unterstützung braucht,
bestmöglich beraten wird. Wenn Anbieter an einem Ort
gute Beratung leisten, dann werden sie dies auch zukünftig tun können. Entscheidend ist dabei auch der
Aspekt der Nachhaltigkeit. Nicht der kurzfristige Vermittlungserfolg zählt, sondern das langfristige Arbeitsverhältnis eines Unternehmens mit einem Arbeitnehmer
mit Behinderung.
Und Integrationsfachdienste leisten in der Tat gute
Arbeit. Das belegen die Vermittlungszahlen. Insofern
sind die Befürchtungen der Integrationsfachdienste, bei
öffentlichen Ausschreibungen nicht mehr berücksichtigt
zu werden, nicht zutreffend. Gute Leistung wird sich
auch weiterhin durchsetzen.
Die Kritik an der Ausschreibung berücksichtigt überdies nicht, dass das Vergabeverfahren nicht willkürlich
erfolgt, sondern anhand festgelegter Prüfkriterien. Die
Anbieter müssen nachweisen, dass sie über umfassende
aktuelle fachliche Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten für die zu erbringende Leistung verfügen. Dies
heißt beispielsweise: Um einen Zuschlag zu erhalten,
müssen entweder innerhalb der letzten drei Jahre vergleichbare Leistungen durchgeführt worden sein oder
muss das Personal bereits solche Beratungen durchgeführt haben.
Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt eingehen:
die regionale Ausprägung. Damit Menschen mit Behinderung eine kompetente Beratung erhalten, bewertet die
örtliche Agentur bzw. der Träger der Grundsicherung
die vorliegenden Angebote. Es ist sehr sinnvoll, diese
Bewertung nicht zentral vorzunehmen, da ein Vertreter
vor Ort die lokalen Besonderheiten kennt und beurteilen
kann, ob das unterbreitete Angebot passend ist.
Schließlich ist auch jedes Bundesland mit seinen Integrationsfachdiensten unterschiedlich aufgestellt. In
Nordrhein-Westfalen sind sie sehr häufig bei der Vermittlung von Menschen mit Behinderung einbezogen,
genauso auch in Baden-Württemberg oder Bayern. Generell lässt sich aber festhalten, dass die Unterschiede
in der Vermittlung nicht davon abhängen, ob ein Integrationsfachdienst eingeschaltet ist oder nicht. Damit ist
die Aussage, die gerne in diesem Zusammenhang ins
Feld geführt wird, widerlegt: dass allein und ausschließlich ein Integrationsfachdienst, der langjährig in der
Region tätig ist und über entsprechende Strukturen verfügt, der richtige Arbeitsvermittler für Menschen mit Behinderung ist.
Mir ist wichtig, festzuhalten, dass die Qualität der
Vermittlung unter den geänderten Vergabebedingungen
nicht geringer sein wird als zuvor. Das ist schließlich der
entscheidende Punkt. Ganz grundsätzlich begrüßt die
FDP das Mehr an Wettbewerb. Gute und kompetente
Leistung wird sich durchsetzen. Dies ist in jedem Fall im
Sinne der Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen.
Der vorliegende Antrag versucht, zu verhindern, dass
ein seit langem bestehendes Problem größer wird: die
Vermittlung von schwerbehinderten Menschen auf den
regulären Arbeitsmarkt.
Die Linke spricht sich seit langem gegen den Wettbewerb im Bereich Arbeitsvermittlung, Weiterbildung und
Arbeitsplatzsicherung aus. Vor diesem Hintergrund befürwortete die Linke die freihändige Vergabe von Mitteln
durch die Arbeitsagentur an die Integrationsfachdienste. Dafür gibt es gute Gründe: Die erfolgreiche und
dauerhafte Vermittlung von Menschen mit schweren Behinderungen auf den regulären Arbeitsmarkt bleibt
schwierig. Die Krise hat bestehende Hindernisse noch
verschärft und vermehrt. Die UN-Konvention jedoch
schreibt ausdrücklich soziale Teilhabe als individuelles
Recht von Menschen mit Behinderung fest. In Art. 27
„Arbeit und Beschäftigung“ schreibt sie vor, staatlich zu
sichern und zu fördern, dass behinderte Menschen in einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld
frei wählen können. Diese Gleichstellung gilt auch hinsichtlich des Entgelts.
Das für dieses Ziel in den letzten Jahren entwickelte
Instrument sind die Integrationsfachdienste. Sie sichern
Kontinuität in der Vermittlung. Hier ist Sachverstand
versammelt. Hier wuchsen in den letzten Jahren vertrauensvolle Kontakte. Integrationsfachdienste begleiten
behinderte Menschen von der Schule bis in die Unternehmen. Durch öffentliche Ausschreibung entsteht die
Gefahr, dass Leistungsangebote mit nur befristet angestellten Fachkräften gewinnen, weil kein Anbieter weiß,
wie lange er sich am Markt behaupten wird. Es wird der
billigste Anbieter dominieren, der wahrscheinlich Dumpinglöhne zahlt, und es besteht die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen in nur arbeitnehmerähnlichen
Verhältnissen an den regulären Arbeitsmarkt ausgeliehen werden.
Dr. Richard Auernheimer, ehemaliger Staatssekretär
in Rheinland-Pfalz, schätzt in einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 3. Mai 2010 zur
Drucksache 16/13829 gegenüber der Bundesregierung
ein:
Die Ausschreibung führt zu einer neuen Struktur
von Anbietern, die wirtschaftlich in der Lage sind,
überall in der Bundesrepublik anzubieten und aufzutreten. Das Sozialraum-Prinzip wird damit aufgehoben, bevor es überhaupt umgesetzt werden kann.
Was vermieden werden sollte, entsteht neu. Nämlich
ein von den Anbietern vorbestimmtes Geschehen.
Wir sollten alles vermeiden, was die Integrationsfachdienste schwächt oder über marktwirtschaftliche
Mechanismen abschafft. Die Gefahr, dass über öffentliZu Protokoll gegebene Reden
che Ausschreibungen mehr zerstört als produktiv gemacht wird, ist groß. Wenn Sachverstand, Fachkenntnis
und vertrauensvolle Beziehungen erst einmal zerstört
sind, wird es sehr schwer, sie wieder zusammenzubringen. Das beweisen die Änderungen in den rechtlichen
Regelungen zur Arbeitsvermittlung der letzten Jahre.
Der vorliegende Antrag versucht, eine solche Auflösung gewachsener Strukturen zu verhindern. Deshalb
wird die Fraktion Die Linke den vorliegenden Antrag in
den Ausschüssen konstruktiv diskutieren.
Heute sprechen wir über ein sehr erfolgreiches Instrument zur Vermittlung und Begleitung von behinderten Menschen mit besonderen Problemlagen in den ersten Arbeitsmarkt: die Integrationsfachdienste, IFD.
Integrationsfachdienste arbeiten träger- und schnittstellenübergreifend und bieten eine Komplexleistung an,
die ein ganzes Bündel am Unterstützungsmaßnahmen
beinhaltet. Der Gesetzgeber hat mit der Verankerung
der IFDs in das SGB IX im Jahr 2000 einen umfassenden Auftrag beschrieben, den es sich lohnt, nochmals
genau vor Augen zu führen. So heißt es gemäß § 110
SGB IX wie folgt:
({0}) Die Integrationsfachdienste können zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben
({1}) beteiligt werden,
indem sie
1. die schwerbehinderten Menschen beraten, unterstützen und auf geeignete Arbeitsplätze vermitteln,
2. die Arbeitgeber informieren, beraten und ihnen
Hilfe leisten.
({2}) Zu den Aufgaben des Integrationsfachdienstes
gehört es,
1. die Fähigkeiten der zugewiesenen schwerbehinderten Menschen zu bewerten und einzuschätzen
und dabei ein individuelles Fähigkeits-, Leistungsund Interessenprofil zur Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt in enger Kooperation mit
den schwerbehinderten Menschen, dem Auftraggeber und der abgebenden Einrichtung der schulischen oder beruflichen Bildung oder Rehabilitation
zu erarbeiten,
1a. die Bundesagentur für Arbeit auf deren Anforderung bei der Berufsorientierung und Berufsberatung in den Schulen einschließlich der auf jeden
einzelnen Jugendlichen bezogenen Dokumentation
der Ergebnisse zu unterstützen,
1b. die betriebliche Ausbildung schwerbehinderter,
insbesondere seelisch und lernbehinderter Jugendlicher zu begleiten,
2. geeignete Arbeitsplätze ({3}) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erschließen,
3. die schwerbehinderten Menschen auf die vorgesehenen Arbeitsplätze vorzubereiten,
4. die schwerbehinderten Menschen, solange erforderlich, am Arbeitsplatz oder beim Training der berufspraktischen Fähigkeiten am konkreten Arbeitsplatz zu begleiten,
5. mit Zustimmung des schwerbehinderten Menschen die Mitarbeiter im Betrieb oder in der
Dienststelle über Art und Auswirkungen der Behinderung und über entsprechende Verhaltensregeln
zu informieren und zu beraten,
6. eine Nachbetreuung, Krisenintervention oder
psychosoziale Betreuung durchzuführen sowie
7. als Ansprechpartner für die Arbeitgeber zur Verfügung zu stehen, über die Leistungen für die Arbeitgeber zu informieren und für die Arbeitgeber
diese Leistungen abzuklären,
8. in Zusammenarbeit mit den Rehabilitationsträgern und den Integrationsämtern die für den
schwerbehinderten Menschen benötigten Leistungen zu klären und bei der Beantragung zu unterstützen.
Für die Beauftragung der Integrationsfachdienste
sind gemäß § 111 SGB IX die Integrationsämter oder die
zuständigen Rehabilitationsträger verantwortlich. Der
Jahresbericht 2009/2010 der Bundesarbeitsgemeinschaft
der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, BIH,
zeigt, dass die Nachfrage bei den Integrationsämtern
kontinuierlich steigt. So stieg die Zahl der unterstützten
Menschen mit Behinderungen von 2005 bis 2009 um
29 Prozent, von etwa 77 600 auf rund 100 000 Personen. Weiter heißt es in dem Bericht, dass die Vermittlungsquote in eine Beschäftigung bei durchschnittlich
31,7 Prozent liegt, somit konnten im Jahr 2009
7 324 schwerbehinderte Menschen vermittelt werden.
450 waren hierbei Schulabgänger oder Mitarbeiter einer Werkstatt für behinderte Menschen. Die Zahl der zu
sichernden Arbeitslätze ist in den letzten vier Jahren angestiegen. Im Jahr 2009 wurden 11 027 Menschen in
Arbeit betreut, rund 75 Prozent konnten erfolgreich gesichert werden. Dass auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber den Integrationsfachdienst in den letzten Jahren
immer mehr zu schätzen wissen, zeigt die Zahl der unmittelbaren Nachfragen aus den Betrieben und Dienststellen. So besagt der BIH-Jahresbericht, dass diese
Zahl von 5 557 Fällen im Jahr 2005 auf 7 332 Fälle im
Jahr 2009 gestiegen ist.
Die Bundesagentur für Arbeit, BA, ist im Gegensatz
zu den Integrationsämtern nur noch für den Bereich der
Vermittlung zuständig. Im Rückblick war es allerdings
ein Fehler, dass der Gesetzgeber die Leistung aufgeteilt
und die BA nicht mehr als Auftraggeber eines umfassenden Integrationsfachdienstes vorgesehen hat. Problematisch blieb in all den Jahren zudem die Beauftragung
und Finanzierung durch die Bundesagentur für Arbeit,
BA, sowie durch die SGB-II-Träger. Der in der Produktinformation zu § 37 SGB III bzw. § 16 SGB II vereinbarte monatliche Grundbetrag reichte in der Vergangenheit kontinuierlich nicht aus, um kostendeckend zu
wirtschaften. Nichtsdestotrotz hob nicht zuletzt der Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter
Zu Protokoll gegebene Reden
Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe vom
17. Juli 2009 ({4}) die guten Arbeitsergebnisse der Integrationsfachdienste hervor. Dies sei
insbesondere „angesichts der Tatsache, dass zum 1. Januar 2005 die Strukturverantwortung für die Integrationsfachdienste von der Bundesagentur für Arbeit auf
die Integrationsämter übergegangen ist und organisatorische Änderungen die Folge waren“, bemerkenswert.
Anstatt nun jedoch kontinuierlich an einer weiteren
Verbesserung der Rahmenbedingungen zu arbeiten, kündigte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor
einigen Monaten an, die Integrationsfachdienste fortan
nicht mehr über die sogenannte freihändige Vergabe,
sondern über den Weg der öffentlichen Ausschreibung
zu beschaffen. Als Folge dieser Ankündigung brach im
vergangenen Jahr ein regelrechter Sturm der Entrüstung
und Empörung aufseiten der Träger der Integrationsfachdienste, Integrationsämtern und der Verbände der
Menschen mit Behinderungen los.
Dies war nicht verwunderlich, zeigten doch Erfahrungen mit öffentlichen Ausschreibungen durch die Bundesagentur für Arbeit, dass diese in den vergangenen
Jahren viel zu häufig negativ waren. Nicht nur in Einzelfällen ist es etwa zu erheblichen Einbußen insbesondere
bei der Vergütung des Personals, aber auch bei der Qualität und Verlässlichkeit gekommen. Aus diesem Grunde
bewerten auch Bündnis 90/Die Grünen seit Jahren die
Ausschreibungspraxis durch die Bundesagentur kritisch.
Das Instrument der öffentlichen Ausschreibung kann
zwar - vernünftig angewendet - durchaus sinnvoll sein,
um Wirtschaftlichkeit und Vergleichbarkeit der Leistungserbringer sicherzustellen. Es bestehen aber begründete Zweifel, ob gerade die Ausschreibungen im
Bereich der Weiterbildung, Rehabilitation und Beschäftigungsförderung vorrangig der Qualitätssicherung und
nicht nur der Kostenreduzierung dienen.
Mit der Ankündigung der Bundesregierung, künftig öffentlich auszuschreiben, gingen sodann viele Auseinandersetzungen und Unterrichtungen im federführenden
Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales einher, die
Bündnis 90/Die Grünen initiierten. Ich habe in diesem Zusammenhang mehrere Aufträge an den Wissenschaftlichen
Dienst des Deutschen Bundestages vergeben, um herauszufinden, ob die öffentliche Ausschreibung aus vergabeund europarechtlichen Gründen alternativlos sei, wie
die Bundesregierung stets behauptete. Eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen
Bundestages zur Anwendung des Vergaberechts nach
§ 46 SGB III bestätigte hierbei unsere Rechtsauffassung,
wonach eine öffentliche Ausschreibung von Leistungen
Dritter - hier die Integrationsfachdienste - keineswegs
„alternativlos“ sei. Zwar ist die öffentliche Ausschreibung von Rehabilitationsdienstleistungen nicht verboten. Sie ist aber auch in keinem Fall zwingend geboten
und bedarf der sorgfältigen Abwägung und Prüfung im
Einzelfall.
Unabhängig von dieser rechtlichen Frage scheint die
öffentliche Ausschreibung schlichtweg politisch gewollt.
Das geht unzweideutig aus der von uns Grünen angeforderten Unterrichtung durch das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales, BMAS, aus dem Mai 2010 hervor.
Nach Auffassung des Ministeriums seien die Integrationsfachdienste bei der Vermittlung schwerbehinderter
Menschen in Arbeit schon heute regional unterschiedlich erfolgreich. Daher sei der Einwand nichtig, eine offene Ausschreibung „bedeute den Abschied vom Gedanken des einheitlichen IFD“ und gefährde somit letztlich
die Qualität. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht sogar davon aus, dass offene Ausschreibungen, sofern die Ausschreibungsunterlagen eine gute
Qualität der Maßnahmen sicherstellten, mittelfristig
„eher zu einem besseren Dienstleistungsniveau führen“.
Nicht nur aufgrund der aktuellen Ereignisse rund um
die Vergabe der Leistungen der Integrationsfachdienste
ist es erforderlich, noch einmal grundlegend über die
Ausschreibungspraxis der Bundesagentur für Arbeit zu
sprechen und unter sachlichen Gesichtspunkten zu entscheiden:
Während in den 90er-Jahren arbeitsmarktbezogene
Maßnahmen grundsätzlich freihändig vergeben wurden,
werden seit dem Sommer 2003 Arbeitsmarktdienstleistungen vermehrt über den Weg der öffentlichen Auftragsvergabe beschafft. Der Anteil der im Bereich Arbeitsmarktdienstleistungen durchgeführten öffentlichen
Ausschreibungen lag im Jahr 2009 bei rund 80 Prozent.
Neben Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen
Eingliederung nach § 46 SGB III werden derzeit etwa
Maßnahmen im Bereich der beruflichen Rehabilitation
- Diagnose Arbeitsmarktfähigkeit, DIA-AM, nach § 33
SGB IX und Unterstützte Beschäftigung nach § 38 a
SGB IX - oder Fördermaßnahmen für Jugendliche
- BvB, abH, BaE, AQJ - öffentlich ausgeschrieben.
Die fünf Regionalen Einkaufszentren, REZ, in Deutschland schreiben hierfür die Leistungen anhand sogenannter
Verdingungsunterlagen aus. Letztere umfassen alle vergaberelevanten Aspekte des Leistungsumfangs, der Bieterauswahl, der laufenden Berichterstattung während der
Beauftragungen usw. Die Arbeitsagenturen vor Ort bestellen bei den REZ ihre Maßnahmen. Ziel der öffentlichen Auftragsvergabe war und ist eine höhere Wirtschaftlichkeit und Qualität in der Leistungserbringung
sowie Transparenz bei der Auftragsverteilung.
Bündnis 90/Die Grünen haben wie bereits beschrieben den Prozess der Beschaffung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen über die öffentliche Auftragsvergabe stets kritisch begleitet. Auch wenn wir die Ziele
einer öffentlichen Ausschreibung nach mehr Wirtschaftlichkeit, Qualität und Transparenz - verbunden mit der
Hoffnung nach Einbindung kleiner, regionaler Anbieter,
zielgruppenspezifischer Angebote und hoher Planungssicherheit für die Träger - stets unterstützten und für
richtig erachten, haben wir mögliche Alternativen der
Auftragsbeschaffung nie aus den Augen verloren. Ein
Grünes Fachgespräch „Optimierung der Vergabepraxis
arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen - Das aktuelle Vergabeverfahren der Bundesagentur für Arbeit auf dem
Prüfstand“ vom 10. Mai 2006 offenbarte immer wieder
die Schwachstellen der öffentlichen Ausschreibung.
Diese scheinen nunmehr auch fünf Jahre nach diesem
Zu Protokoll gegebene Reden
Fachgespräch nicht ausgeräumt, sodass wir über Alternativen sprechen sollten.
Ich bin der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit e. V.,
bag arbeit, dem Zusammenschluss von fast 400 Beschäftigungs- und Qualifizierungsunternehmen in Deutschland, dankbar für ihre Reforminitiative zum Vergaberecht. Die bag arbeit schlägt vor, die öffentliche
Ausschreibung durch ein Mix aus Präqualifizierungsverfahren, beschränkter Ausschreibung und freihändiger Vergabe zu ersetzen. Voraussetzung für alle Vergabeverfahren sollte nach Ansicht der bag arbeit die
Durchführung eines vorgeschalteten Zulassungsverfahrens zur Zertifizierung der Träger - sogenanntes Präqualifizierungsverfahren - sein. Hierdurch könnten die
Verwaltungsaufwendungen reduziert und Qualitätsstandards verbessert werden. Außerdem möchte die bag arbeit, dass die Trennung zwischen Besteller - Arbeitsagentur - und Einkäufer - Einkaufszentren - wieder
aufgehoben wird und die Federführung an den lokalen
Bedarfsträger übergeht, da dieser am besten die Förderbedarfe der Teilnehmer berücksichtigt und die Leistungsfähigkeit der Anbieter kennt. Für die Vergabe der
Maßnahmen selbst schlägt die bag arbeit eine Zweiteilung vor: Für Maßnahmen, die abschließend beschreibbar sind, sollte ein beschränktes Ausschreibungsverfahren zur Anwendung kommen. Maßnahmen jedoch, die
nicht abschließend beschreibbar sind - dies betrifft insbesondere Maßnahmen mit innovativen Elementen werden über die freihändige Vergabe beschafft. Hierbei
sollen in der Regel drei geeignete Träger aufgefordert
werden, ein Angebot abzugeben. Zwar sieht die bag arbeit ihren Vorschlag im Einklang mit der VOL/A 2009,
damit gemäß Vergaberecht aber nicht in jedem Einzelfall eine Begründung für die Wahl einer beschränkten
Ausschreibung erfolgen muss, empfehlen sie jedoch eine
Klarstellung des Verordnungsgebers in einer Neufassung der VOL/A 2011.
Ich denke, dass wir auf der Grundlage der Reforminitiative der bag arbeit in den kommenden Monaten mit
allen relevanten Akteuren ins Gespräch kommen sollten,
um gemeinsam über mögliche Alternativen zu diskutieren.
Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderungen ist weiterhin prekär. Es ist besorgniserregend,
dass vor diesem Hintergrund die Integrationsämter mit
der Veränderung des Vergabeverfahrens keine Grundlage mehr sehen, Vermittlungskräfte wie bisher bei den
Integrationsfachdiensten vorzuhalten. Ich habe die
große Sorge, dass wir hier ein Instrument kaputtmachen,
das doch vorweisbar erfolgreich und ermutigend war
und ist. In unruhigen schwarz-gelben Zeiten, in der der
Bundesagentur Milliarden gekürzt werden und eine Kürzung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen unter dem
Stichwort „Evaluation“ droht, heißt es, ganz besonders
wachsam zu sein.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4847 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der
Vereinbarung vom 16. April 2009 über die Änderungen des Übereinkommens vom 5. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des
Königreichs Dänemark und der Regierung der
Republik Polen über das Multinationale
Korps Nordost
- Drucksache 17/4809 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Wir beraten heute die Vereinbarung vom 16. April
2009 zwischen Deutschland, Dänemark und Polen, die
Veränderungen der Aufgaben dieses Stabes „Multinationales Korps Nordost“ in Stettin und Veränderungen des
Status dieses Hauptquartiers im Rahmen der NATOKommandostruktur festschreibt.
Erlauben Sie einen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Korpsstabes: Er entstand 1999 aus dem
deutsch-dänischen Korpsstab Jütland, COMLANDJUT,
der bis dahin in Rendsburg, Schleswig-Holstein, stationiert gewesen war. Dieser Stab hatte im Rahmen der
Bündnisverteidigung die Aufgabe, im Verteidigungsfall
die Halbinsel Jütland als gemeinsame deutsch-dänische
Aufgabe zu verteidigen.
Nach den weltgeschichtlichen Umwälzungen der
90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und nach der Auflösung des Warschauer Pakts war klar, dass die NATOPlanungen für den Verteidigungsfall nicht unverändert
fortgeführt werden konnten. Zwar war Deutschland nun
- wie sich der damalige Verteidigungsminister Rühe
ausdrückte - nur noch von Freunden umgeben, aber
trotzdem blieb die Bündnisverteidigung als Hauptaufgabe der NATO bestehen. Gerade dieser Stabilitätsraum
der NATO übte ja sehr große Anziehungskraft auf die
ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und einen Teil der
Nachfolgestaaten der Sowjetunion aus, und es gab ein
sehr großes Bedürfnis dieser Länder, Teil dieses Stabilitätsraumes zu werden.
Daher war es nicht verwunderlich, dass die Regierungen Deutschlands, Dänemarks und Polens am 5. September 1998 eine Übereinkunft schlossen über die Transformation des bisherigen Hauptquartiers LANDJUT in ein
trinationales Hauptquartier der drei Ostsee-Anrainerstaaten. Wohlgemerkt: Polen war zu diesem Zeitpunkt
noch nicht NATO-Mitglied, und so ist diese Vereinbarung zu einem Meilenstein der Integration dieses ehemaligen Mitgliedstaates des Warschauer Pakts in den
Sicherheitsraum der NATO geworden. Gewiss bedeutete
dies nicht, dass von dieser Vereinbarung schon eine
volle Schutzwirkung des Bündnisses für Polen entstand.
Aber die Gründung dieses Korpsstabes in der pommerschen Metropole Stettin, Polen, war so etwas wie ein Si10616
Dr. Karl A. Lamers ({0})
gnal für die im Jahr darauf vollzogene Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in die NATO. Der neue
Korpsstab war zunächst nicht Teil der Kommandostruktur der NATO. Aber er entwickelte sich weiter. 2004 kamen neue Aufgaben auf den Stab zu, als im Rahmen der
zweiten Erweiterungsrunde der NATO die ehemaligen
Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen dem
Bündnis beitraten. Nun suchte das Bündnis nach Möglichkeiten, diese und andere der neuen Mitglieder in das
Bündnis zu integrieren.
In dieser Lage schlugen Deutschland, Dänemark und
Polen der NATO vor, den Multinationalen Korpsstab
Nordost, MNCNE, als Hauptquartier für Kräfte niederer
Verfügbarkeit in die Kommandostruktur des Bündnisses
zu integrieren. Der NATO-Rat fasste daraufhin am
26. August 2004 den Beschluss, das MNCNE in die
NATO-Streitkräftestruktur einzubinden. Der Korpsstab
in Stettin erhielt damit den Status eines internationalen
militärischen Hauptquartiers.
Die Aufgaben, die der Stab MNCNE nun im Rahmen
der NATO zu erfüllen hatte, waren und sind die Befähigung zur Führung von multinationalen Großverbänden
im Rahmen von Operationen der NATO, die Beteiligung
an friedenserhaltenden Operationen und zur Hilfeleistung bei Katastrophen größeren Ausmaßes. Vielleicht
die wichtigste Funktion war und ist jedoch die Integration neuer Mitglieder in die Bündnisstrukturen und die
Stabilisierung der Nord- bzw. Nordostflanke der NATO.
Die drei Gründerstaaten waren nun nicht mehr allein:
Estland, Lettland und Litauen traten 2004 bei, die Slowakische und die Tschechische Republik 2005, die Vereinigten Staaten von Amerika 2006, Rumänien 2008 und
Slowenien 2009.
Die am 16. April 2009 zwischen Deutschland, Dänemark und Polen in Stettin gezeichnete Vereinbarung
nahm all diese Veränderungen der letzten Jahre in den
Blick und schaffte einen Rechtsrahmen für die künftige
Arbeit des Korpsstabes Nordost in Stettin. Deutschland,
Dänemark und Polen fungieren weiterhin als Rahmenstaaten, die wesentliche Beiträge zur Führung, Organisation und Finanzierung des Hauptquartiers Nordost
leisten. Die übrigen bereits genannten Staaten sind Teilnehmerstaaten und leisten ihre Beiträge, sind jedoch
nicht für die Führung und Organisation des Hauptquartiers zuständig.
Das NATO-Hauptquartier MNCNE hat in all den
Jahren seit der Gründung 1999 wichtige Beiträge zum
Funktionieren und Zusammenwachsen des Bündnisses
geleistet. Der multinationale Stab, in dem heute elf Nationen vertreten sind, hat bereits in zwei Einsätzen jeweils
ein halbes Jahr lang im Rahmen der ISAF in Afghanistan seine Einsatz- und Führungsfähigkeit unter Beweis
gestellt. Dabei hat er sich auch unter kriegsmäßigen
Einsatzbedingungen als Kommandobehörde der NATO
voll und ganz bewährt.
Deutschland als größter Partner in diesem Stab leistete von Anfang an wichtige Beiträge. Deutschland stellt
58 Offiziere und Unteroffiziere in diesem Stab; weitere
20 Soldaten und Beamte der Wehrverwaltung sind zu deren Unterstützung in Stettin tätig. Das Kommando des
Stabes rotiert zwischen Deutschland, Dänemark und
Polen. Deutschland hat im Gegensatz zu Dänemark und
Polen die Vereinbarung von 2009 noch nicht ratifiziert.
Es ist nun höchste Zeit, dass wir dem Beispiel der beiden
anderen Partnerländer folgen und diesen mit der Unterzeichnung das Gefühl vermitteln, dass uns die Angelegenheit des MNCNE nach wie vor sehr wichtig ist.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz der Bundesregierung zu.
Frieden ist nach Karl Jaspers nur in Kooperation und
nicht in abgegrenzter Koexistenz. Außen- und sicherheitspolitisch beispielhaft belegt dies die multinationale
Einbindung der Bundeswehr in die EU und die NATO.
Das Zusammenwirken unterschiedlich leistungsfähiger
Verbände in multinationalen Strukturen, die sich in Ausbildung, Ausrüstung, Tradition, Sprache und vor allem
auch in den Führungsphilosophien unterscheiden, ist
ein wertvoller und richtiger Schritt zu mehr Synergie
und auch haushalterisch gebotener europäischer sicherheitspolitischer Zusammenarbeit. Nach dem Wegfall der
Bedrohung durch den Warschauer Pakt wurden erhebliche Streitkräftereduzierungen erreicht, sodass allein
dadurch mehr Zusammenarbeit geboten war, um alle militärischen Aufgabenfelder wahrzunehmen. Darüber hinaus dürfen aber auch die friedenspolitischen Aspekte
nicht übersehen werden; so ist die Aufstellung multinationaler Streitkräfte auch ein Beitrag zur gemeinsamen
Sicherheit zur Vertrauensbildung zwischen Völkern und
Staaten.
Das Multinationale Korps Nordost, MNK NO, ist eines der Hauptquartiere der NATO zur Führung von
Operationen und ist heute ein wichtiger Bestandteil der
NATO-Kommandostruktur in Europa. Der Korpsstab,
der im Frieden keine Truppen führt, ist befähigt zur Führung multinationaler Großverbände im Rahmen der
Bündnisverteidigung der NATO, zur Beteiligung an friedenserhaltenden Operationen und zur Hilfeleistung bei
Naturkatastrophen. Das MNK NO hat sich eine Schlüsselrolle bei der Integration neuer Mitglieder im Rahmen
der NATO-Osterweiterung erarbeitet. Nachdem beim
NATO-Gipfel in Madrid 1997 den vormaligen Ostblockstaaten Polen, Ungarn und Tschechien ein NATO-Beitritt angeboten worden war, einigten sich die Verteidigungsminister Dänemarks, Deutschlands und Polens am
16. April 1998 auf die Aufstellung eines gemeinsamen
Korps. Ausgehend vom deutsch-dänischen Korps
LANDJUT wurden Truppen aus Polen nach dessen
NATO-Beitritt in das Korps integriert. Bereits am
5. September 1998, noch vor dem auf den 12. März 1999
terminierten Beitritt, unterzeichneten sie in Stettin das
Übereinkommen zur Bildung des Korps, in dem dessen
Grundlagen festgelegt wurden.
Neben dieser militärpolitischen Integrationsfunktion
des Korps steht es grundsätzlich für NATO-Einsätze zur
Verfügung. Der Korpsstab wurde bereits zweimal erfolgreich im Rahmen der Internationalen Sicherheits- und
Unterstützungstruppe für jeweils sechs Monate in AfZu Protokoll gegebene Reden
ghanistan eingesetzt und konnte so seine besondere Eignung für Einsätze unter Beweis stellen.
In dem Übereinkommen vom 5. September 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland,
der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Republik Polen über das Multinationale
Korps Nordost sind die Aufgaben und Aufträge des Multinationalen Korps Nordost in Stettin geregelt. Gemeinsames Verständnis und Ziel der Vertragsstaaten seinerzeit im Jahr 1998 war es, das Hauptquartier des Korps
als multinationales Hauptquartier außerhalb der NATOKommandostruktur zu errichten. Nach über 20 Jahren
muss das Übereinkommen aber jetzt an neue Gegebenheiten angepasst werden.
Die neue Streitkräftestruktur der NATO, die im Juli
2002 vom Nordatlantikrat gebilligt worden ist, besteht
aus aktiven und mobilmachungsfähigen Land-, Luft- und
Seestreitkräften, die sich in unterschiedlichen Bereitschaftsstufen befinden, um auf das gesamte Spektrum
möglicher Bedrohungen und Risiken reagieren zu können. Vor dem Hintergrund dieser strategischen Neuausrichtung der NATO wurde im April 2004 durch die Vertragsstaaten entschieden, das Hauptquartier des Korps
in Stettin weiterzuentwickeln. Durch Beschluss des
Nordatlantikrats vom 26. August 2004 wurde das Hauptquartier des Multinationalen Korps Nordost in die
NATO-Streitkräftestruktur eingebunden. Zudem wurde
ihm durch diesen Beschluss mit Wirkung zum 31. August
2004 der Status eines internationalen militärischen
NATO-Hauptquartiers unter Anwendung des Protokolls
vom 28. August 1952 über die Rechtsstellung der aufgrund des Nordatlantikvertrags errichteten internationalen militärischen Hauptquartiere verliehen.
Maßgeblich prägend für die Neuausrichtung des
Korps ist das Kriterium der Multinationalität. Es fordert
die Öffnung des Korps für Beteiligungen anderer NATOStaaten, ohne dass diese zwingend als Rahmenstaaten,
sogenannte Framework Nations, dem Übereinkommen
vom 5. September 1998 beitreten. Diese Staaten als Teilnehmerstaaten, sogenannte Participating Nations, leisten ihre Beiträge durch die Bereitstellung von Personal
und Finanzmitteln und sind im Gegensatz zu den Rahmenstaaten nicht für Struktur, Funktionsfähigkeit und
Finanzierung des Hauptquartiers und nicht für die Führung des Korps verantwortlich. Als Teilnehmerstaaten
beteiligen sich bereits acht weitere Staaten am Multinationalen Korps Nordost: Estland, Lettland und Litauen
seit 2004, die Slowakei und die Tschechische Republik
seit 2005, die Vereinigten Staaten seit 2006, Rumänien
seit 2008 und Slowenien seit 2009. Durch die Erfüllung
verschiedenster Kriterien konnte mit dem Beschluss des
Nordatlantikrats im Februar 2006 das Hauptquartier
des Multinationalen Korps Nordost als Hauptquartier
für Kräfte niedriger Verfügbarkeit im Rahmen der
NATO-Streitkräftestruktur anerkannt werden.
Das sind erfreuliche Entwicklungen, die die Erfolgsgeschichte des MNK NO aufzeigen und wiederum verdeutlichen, dass auch der gesetzliche Rahmen von 1998
angepasst werden muss. Deshalb wurde am 16. April
2009 in Stettin die uns vorliegende Vereinbarung zwischen der Regierung der Republik Polen, der Regierung
des Königreichs Dänemark und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Änderungen des
Übereinkommens zwischen der Regierung der Republik
Polen, der Regierung des Königreichs Dänemark und
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über
das Multinationale Korps Nordost in englischer Sprache
unterzeichnet. In dieser Änderungsvereinbarung werden
die Regelungen zum Rechtsstatus des Hauptquartiers
angepasst, die Aufgaben und Aufträge des Multinationalen Korps Nordost neu gefasst sowie die Bestimmungen
zum Haushalt des Multinationalen Korps Nordost geändert. Ferner werden Begriffe deutlicher gefasst, damit
durch die Multinationalität des Korps jetzt klarer zwischen den Rahmenstaaten und den Teilnehmerstaaten
unterschieden werden kann.
Im Verlauf seiner zehnjährigen Geschichte hat sich
die Anzahl der am MNK NO beteiligten NATO-Staaten
kontinuierlich erhöht. Heute leisten Soldaten aus elf Nationen ihren Dienst im Stab des MNK NO: Die Gründungsnationen des Korps - Deutschland, Dänemark und
Polen - nahmen im Verlauf der letzten Jahre zunächst
die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen,
später Tschechien, die Slowakei und die USA sowie in
der jüngsten Vergangenheit Rumänien und Slowenien
auf. Am Stab des Korps sind neun NATO-Bündnispartner beteiligt, federführende Truppensteller sind aber die
drei Gründungsnationen Deutschland, Dänemark und
Polen. Damit hat sich das Korps in den vergangenen
13 Jahren seit seiner Gründung als Integrationsinstrument in außergewöhnlichem Maße bewährt und
Deutschlands außen- und sicherheitspolitische Rolle im
unmittelbaren europäischen Umfeld gefestigt, für Vertrauen gesorgt und auch die Zusammenarbeit unter unseren Nachbarstaaten spürbar verbessert.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung freut es mich,
feststellen zu können, dass die europäische Integration
nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspolitisch, auch dank des Multinationalen Korps Nordost, erhebliche Fortschritte gemacht hat. Mit Blick auf die
künftig notwendige weitergehende sicherheitspolitische
Integration Europas ist Deutschland durch seine Beteiligung an multinationalen Korps, zum Beispiel auch mit
dem Eurokorps und dem Deutsch/Niederländischen
Korps gut vorbereitet für eine weitere, noch tiefere sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf europäischem
Boden. Und darum geht es uns. Nicht zuletzt aufgrund
seiner geografischen Lage als derzeit einziges Hauptquartier ostwärts des ehemaligen Eisernen Vorhanges
kommt dem Stettiner Korps eine Schlüsselfunktion bei
der Integration neuer NATO-Mitglieder zu.
Neben den Einsätzen, die das MNK NO zum Beispiel
zweimal im Rahmen von ISAF leistete, ist der wichtigere
Auftrag die Integration der neuen östlichen NATOPartner und deren Heranführung an die NATO-Kommandostruktur und -verfahren, sowie die glaubhafte Stabilisierung der NATO-Nordostflanke. Darum ist es notwendig und richtig, den Gründungsvertrag zwischen
Dänemark, Deutschland und Polen von 1998 entsprechend zu ändern. Deutschland hat als einziger Vertragspartner den Vertrag noch nicht ratifiziert. Die CDU/
Zu Protokoll gegebene Reden
CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung zu, weil es notwendig ist. Das MNK
NO braucht eine verlässliche und aktualisierte Rechtsgrundlage für die gewachsenen Herausforderungen.
Schaffen wir diesen Rahmen!
Das Multinationale Korps Nordost ist seit elf Jahren
ein vorbildliches Beispiel für gelungene militärische
Zusammenarbeit. Die ursprüngliche Idee, das Hauptquartier des Korps als multinationales Hauptquartier
außerhalb der NATO-Kommandostruktur zu etablieren,
ist durch die strategische Neuausrichtung der NATO
hinfällig geworden. Seither wurde das Hauptquartier
des Korps zu einem sogenannten Hauptquartier für
Kräfte niedriger Verfügbarkeit weiterentwickelt und in
die NATO-Streitkräftestruktur eingegliedert. Hierfür
wurden technische Veränderungen im Übereinkommen
vom 5. September 1998, welches die Bundesrepublik
Deutschland zusammen mit dem Königreich Dänemark
und der Republik Polen unterzeichnet hatte, nötig. Diesen Änderungen können wir so zustimmen.
Durch die Änderungen wurde auch die Multinationalität des Korps möglich gemacht. Somit können sich nun
andere NATO-Staaten am Korps beteiligen, ohne dass
sie zwingend als Rahmenstaaten dem Übereinkommen
beitreten müssen. Diese Teilnehmerstaaten leisten ihre
Beiträge durch Personal und Finanzmittel. In jeder Hinsicht also ein gelungenes Beispiel für multinationale Zusammenarbeit! So beteiligten sich seit 2004 Estland,
Lettland, Litauen, die Slowakei, die Tschechische Republik, die Vereinigten Staaten von Amerika, Rumänien
und Slowenien am Korps. Darüber hinaus war der
Korpsstab bereits zweimal im Rahmen von ISAF über jeweils sechs Monate in Afghanistan im Einsatz. Unser
Dank und Respekt gilt allen Soldatinnen und Soldaten,
die sich daran beteiligt haben.
Es muss unser Ziel sein, die erfolgreiche multinationale Zusammenarbeit über das operative Level hinaus
zu intensivieren. Die verschiedenen Streitkräfte der
NATO-Staaten stehen allen ähnlichen Herausforderungen gegenüber. Wir müssen uns also in anderen Bereichen besser koordinieren und so Synergieeffekte möglich
machen. Ich denke hierbei zum Beispiel an die Beschaffung oder an eine bessere und langfristige Aufgabenteilung. Lassen Sie uns das erfolgreiche Konzept des Multinationalen Korps Nordost als Anlass nehmen, um die
multinationale Zusammenarbeit zu intensivieren!
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges war es Westeuropa
vergönnt, in Frieden und Stabilität zu leben. Die Ursache für diese Entwicklung liegt im Willen zur europäischen Integration und in dem klaren Bekenntnis zur
transatlantischen Partnerschaft. Eine der wichtigsten
Säulen deutscher Sicherheitsarchitektur ist die Mitgliedschaft in der NATO. Seit 1955 ist Deutschland in dieses
Verteidigungsbündnis eingebunden, das darüber hinaus
auch einen gemeinsamen Wertekanon besitzt. Dies sind
die Förderung demokratischer Prozesse sowie die Sicherung des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes
der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten. Seit
der Wiedervereinigung unseres Landes haben wir auf
dem internationalen Parkett verstärkt Verantwortung
übernommen und sind damit auch den Erwartungen unserer europäischen und transatlantischen Partner nachgekommen.
Grundlegendes Merkmal einer gemeinsamen Verteidigungsarchitektur sind multinationale Hauptquartiere,
denen im Ernstfall die Truppen aus verschiedenen Mitgliedstaaten unterstehen. Das Multinationale Korps
Nordost in Stettin wurde 1998 durch das Königreich Dänemark, die Republik Polen und die Bundesrepublik
Deutschland aus der Taufe gehoben. Es sollte den drei
Ländern die Möglichkeit einer engeren militärischen
Kooperation auch als vertrauensbildende Maßnahme
bieten.
Im Jahr 2004 wurde vor dem Hintergrund der strategischen Neuausrichtung der Allianz beschlossen, das
Korps der NATO als einen weiteren Bestandteil der gemeinsamen Streitkräftearchitektur anzubieten. Gleichzeitig wurde es im Zuge der NATO-Osterweiterung auch
für neue Mitgliedsländer geöffnet. Die baltischen Staaten sind genauso vertreten wie die Tschechische Republik und die Slowakei, Rumänien, Slowenien. Damit liegt
der Fokus des Multinationalen Korps Nordost auf Ostund Südosteuropa. Deutschland als zentraleuropäische
Nation kommt dabei seiner Mittlerfunktion nach und
schafft so die Voraussetzung für eine Einbindung der
noch jungen NATO-Mitgliedstaaten in das bestehende
Verteidigungsbündnis.
Das Hauptquartier ist dabei im Rahmen von Einsätzen innerhalb der NATO, der Vereinten Nationen oder
regionaler Kooperationen flexibel einsetzbar. Angehörige des Stettiner Hauptquartiers waren im Rahmen der
International Security Assistance Force sowohl 2007 als
auch 2010 im ISAF-Hauptquartier in Kabul eingesetzt.
Damit sammelte das Personal die notwendigen Erfahrungen, um auch in Zukunft schnell und flexibel auf
komplexe und sich verändernde sicherheits- und verteidigungspolitische Herausforderungen reagieren zu können.
Im Falle Deutschlands ist dabei die Befassung des
Parlamentes die notwendige Voraussetzung, deutsche
Soldaten in einen Auslandseinsatz entsenden zu können.
Aufgrund der geschilderten Entwicklungen der letzten
Jahre wurde es erforderlich, das Übereinkommen aus
dem Jahr 1998 gemäß dem vorliegenden Gesetzentwurf
anzupassen. Dabei lässt sich konstatieren, dass dies
ohne eine Mehrbelastung des Haushaltes gelingen wird.
Die Nordatlantische Allianz bleibt auch in Zukunft
die wichtigste Säule deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Internationale Kooperationen wie das
Multinationale Korps Nordost schaffen dabei Vertrauen,
und sie sparen langfristig Ressourcen. Daher ist dem
vorliegenden Gesetzentwurf aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion zuzustimmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das neue Strategische Konzept der NATO, das im
letzten Herbst in Lissabon verabschiedet wurde, lässt
keinen Zweifel: Die NATO soll als eine Art selbsternannter Weltpolizist überall auf der Welt vor allem die
sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen
der NATO-Staaten durchsetzen. Dafür sollen jetzt die
Strukturen des Militärbündnisses optimiert werden. Die
heute vorliegende Regierungsvereinbarung zwischen
Dänemark, Deutschland und Polen zur Änderung der
1998 vereinbarten Arbeitsgrundlage des Multinationalen Korps Nordost dient genau diesem Zweck. Im Rahmen des NATO-internen Zulassungsprozesses für ein
solches Hauptquartier ist es unter anderem erforderlich,
die bisherigen Kooperationsbeziehungen zu den anderen elf NATO-Streitkräften, die derzeit das Personal für
die Stäbe stellen, auf eine andere Arbeits- und Rechtsgrundlage zu stellen. Das Korps soll geöffnet werden für
andere NATO-Staaten, um damit auch eine verbesserte
Einsatzfähigkeit als verlegbares Hauptquartier für Interventionseinsätze zu erreichen.
Im Klartext gesprochen: Es könnte sein, dass bei der
nächsten Militärintervention à la Afghanistan das Multinationale Korps Nordost die Koordination im Einsatz
übernimmt. Quasi als Probelauf wurden 2007 und 2010
jeweils für sechs Monate bereits Teile des Korpsstabes
in die Führungsstrukturen im ISAF-Hauptquartier Kabul integriert. 2014 ist wohl eine erneute Beteiligung geplant.
Die Linke lehnt dies ab. Deutschland bzw. die Bundeswehr wäre gut beraten, sich aus dieser militärischen
Integration zurückzuziehen. Hier werden Sachzwänge
und Automatismen geschaffen, hinter denen sich die Regierung im Zweifelsfall bequem verstecken kann - denn
ohne das Bundeswehrpersonal, das etwa 80 Personen
umfasst, wäre der Korpsstab kaum einsetzbar.
Was der Einsatz eines solchen Korpsstabes bedeuten
kann, wurde und wird in Afghanistan vorexerziert. Obwohl bis 2009 gegenüber der deutschen Öffentlichkeit
noch die Illusion eines Stabilisierungseinsatzes in Afghanistan gepflegt wurde und sich die Bundeswehr offiziell auf den Norden als Einsatzgebiet beschränkte, war
man im Hauptquartier in Kabul auch mit deutschen Offizieren vertreten. Und es war und ist das ISAF-Hauptquartier, das die Listen für die gezielten Tötungen erarbeitet, das das Vorgehen bei Einsätzen der Kampfflugzeuge und bei Hausdurchsuchungen koordiniert. Vor
allem aber symbolisiert der vorliegende Gesetzentwurf
das ungebrochene Festhalten der Bundesregierung an
der allgemeinen strategischen Ausrichtung der NATO.
Die negativen Erfahrungen der letzten zehn Jahre, nicht
nur mit dem ISAF-Einsatz, sondern auch mit dem USgeführten globalen Krieg gegen den Terrorismus oder
mit der gewaltsamen Kontrolle internationaler Seewege,
werden ausgeblendet. Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, soll das Multinationale Korps Nordost
auch in Zukunft für solche Aufgaben Gewehr bei Fuß
stehen - ungeachtet der ernsten Konsequenzen für die
internationale Sicherheit. Dies ist der falsche Weg. Mehr
Frieden und mehr Sicherheit wird es nur mit weniger
NATO geben.
Wir diskutieren heute über das sogenannte Multinationale Korps Nordost, einen multinationalen Streitkräfteverband der NATO mit einem Stabshauptquartier im
polnischen Szcezcin bzw. Stettin.
Lassen Sie mich zunächst sagen, dass das Multinationale Korps Nordost aus meiner Sicht ein hervorragendes Beispiel für den positiven Wandel der Sicherheitspolitik in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges ist.
1962 wurde das erste und einzige multinationale Korps
der NATO, das deutsch-dänische Korps LANDJUT ins
Leben gerufen. 1998 wurde beschlossen, diesen Verband
zu einem trinationalen Korps unter Beteiligung Polens
weiterzuentwickeln und das Hauptquartier des Stabes
nach Szcezcin, Stettin, zu verlegen.
Wenngleich Polen, Dänemark und Deutschland die
Truppensteller dieses integrierten Verbandes sind, so
beteiligen sich mittlerweile elf Staaten, darunter Slowenien und die baltischen Staaten, an der laufenden Stabsarbeit in Stettin. Das ist aus meiner Sicht ein wichtiges
Signal und Symbol für den europäischen Integrationsprozess auch im Bereich der Sicherheitspolitik. Auf der
anderen Seite diskutieren wir ja heute über die Anpassung des Korps, die aus Sicht der Bundesregierung nötig
ist, weil sich die Vertragsstaaten im April 2004 entschieden haben, das Hauptquartier des Korps in ein sogenanntes Hauptquartier für Kräfte niedriger Verfügbarkeit weiterzuentwickeln.
Hier gibt es aus meiner Sicht erheblichen Klärungsbedarf. Diese Entscheidung ist nicht nur sieben Jahre
her. Sie wurde auch auf der Grundlage des damaligen
Strategischen Konzepts aus dem Jahr 1999 sowie der
2002 gebilligten neuen Streitkräftestruktur getroffen.
Seitdem ist in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
in Europa und darüber hinaus viel geschehen: Der
Krieg in Afghanistan - militärisch durch die NATO geführt - ist in seinem zehnten Jahr. Gleichzeitig hat sich
die NATO auf dem Gipfel in Lissabon im vergangenen
Jahr ein neues Strategisches Konzept gegeben. NATOGeneralsekretär Anders Fogh Rasmussen hat wiederholt betont, dass die NATO effizienter und strukturell
schlanker werden soll. Stäbe, Ausschüsse und Hauptquartiere sollen reduziert werden.
Vor diesem Hintergrund frage ich mich dann aber
schon, inwiefern das Multinationale Korps Nordost in
der jetzigen Form und Ausgestaltung in der künftigen
Struktur der NATO seinen Platz hat. Wir reden hier
heute quasi über die Nachwehen einer Entscheidung aus
dem Jahr 2004!
Deshalb fordere ich die Bundesregierung dringend
auf, hier Klarheit zu schaffen. Dem Deutschen Bundestag wurde bisher nicht schlüssig auseinandergesetzt,
welche Teile der 2002 gebilligten Streitkräftestruktur
der NATO weiter Bestand haben sollen. Welche militärischen, multinationalen Verbände sollen künftig bestehen, und wie sollen sie organisiert werden? Und vor allem: Welche Aufgaben sollen ihnen zukommen? Das
Strategische Konzept der NATO schweigt sich hier mit
Blick auf die wirklich wichtigen Details aus. Ich hoffe,
dass wir in den weiteren Beratungen in den Ausschüssen
Zu Protokoll gegebene Reden
bis zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes
noch informiert werden und diesen Klärungsbedarfen
Rechnung getragen wird. Ansonsten hielte ich eine Zustimmung zum Vorschlag der Bundesregierung hierzu
für schwierig.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/4809 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mitgliedschaft in der International Organisation of Social Tourism
- Drucksache 17/4844 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Mit dem vorliegenden Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, dass Deutschland umgehend
einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Internationalen
Organisation für Sozialtourismus, OITS, stellt und dort
auch aktiv mitarbeitet. Begründet wird das mit der damit
verbundenen Möglichkeit der direkten Einflussnahme
auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus auf europäischer Ebene, dem Kennenlernen guter Praxisbeispiele in anderen Staaten sowie der möglichen Nutzung
dieser Beispiele auf nationaler Ebene.
Der Antrag weist zu Recht darauf hin, dass die Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismus erklärtes
Ziel der Bundesregierung ist. In den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung vom Dezember
2008 heißt es: Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen Einschränkungen sollen reisen
können. - Dazu stehen wir.
Deshalb fördert die Bundesregierung bereits in erheblichem Umfang den Bau und die Einrichtung von Familienferienstätten, Jugendbildungs- und Begegnungsstätten, Jugendherbergen, die internationale Jugendarbeit im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des
Bundes sowie den gezielten bilateralen Jugendaustausch über das Deutsch-Französische Jugendwerk und
das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Darüber hinaus
fördert die Bundesregierung Projekte der Nationalen
Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, und
der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien, abm.
Mit dieser Projektförderung soll ein Beitrag zur aktiven
Freizeitgestaltung einschließlich des Reisens für Menschen mit chronischer Erkrankung und Behinderung geleistet werden. Denn: Barrierefreies Reisen ist ein wichtiges Element für die Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen am gesellschaftlichen Leben.
Wie Sie sehen, engagiert sich die Bundesregierung
bereits in vielfältiger Weise für die Förderung des sogenannten Sozialtourismus, der in einzelnen Ländern im
Übrigen durchaus unterschiedlich interpretiert wird und
nicht einheitlich definiert ist. Zudem unterstützen auch
die Bundesländer Familien mit relativ geringem Einkommen bei der Finanzierung gemeinsamer Ferien in
einer gemeinnützigen Familienferienstätte mit Individualzuschüssen.
Auf lokaler Ebene gibt es weitere Programme zur
Kinder- und Jugenderholung, etwa in Ferienlagern, die
über Jugendämter, von freien Trägern und aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.
Ein möglicher Nutzen einer Mitgliedschaft Deutschlands in der bisher relativ unbekannten Internationalen
Organisation für Sozialtourismus ist nur schwer erkennbar. So sind etwa Praxisbeispiele anderer Staaten oder
Perspektiven des Sozialtourismus auf europäischer
Ebene schon Gegenstand des Projektes „Calypso“ der
Europäischen Kommission, auf das auch ausdrücklich
auf der Internetseite der OITS hingewiesen wird.
Ziel von „Calypso“ ist die Förderung des grenzüberschreitenden Austausches für Touristen benachteiligter
Zielgruppen in Europa außerhalb der Saison. Dabei sollen mit staatlichen Mitteln finanzierte Urlaubsreisen bestimmter Bevölkerungsgruppen in andere Mitgliedstaaten organsiert werden.
Mit diesem Projekt haben wir uns im vergangenen
Monat intensiv im Tourismusausschuss beschäftigt. Eine
Bestandsaufnahme der sogenannten bewährten Praktiken in den zunächst 21 teilnehmenden Mitgliedstaaten
kam aber zu dem Schluss, dass sich die Praktiken weder
vergleichen noch bewerten lassen, weil sie sehr unterschiedlich ausgestaltet sind und auch sehr unterschiedlichen touristischen Traditionen unterliegen, insbesondere in den südeuropäischen Mitgliedstaaten. In dieser
Studie konnte nicht belegt werden, wie die dargestellten
Praktiken oder daraus abgeleiteten möglichen europäischen Programme sich wirtschaftlich auswirken. Die geplante Ausgestaltung von „Calypso“ lässt die Entstehung eines Subventionswettlaufs zwischen den Mitgliedstaaten befürchten mit der Gefahr, dass sich finanziell selbsttragende Angebotsstrukturen zugunsten subventionsabhängiger Strukturen verdrängt würden. Eine
solche mögliche Entwicklung lehnen wir strikt ab.
Die Bundesregierung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich haushaltspolitisch nicht rechtfertigen
ließe, mit staatlichen Mitteln den Urlaub bestimmter Bevölkerungsgruppen in anderen Mitgliedstaaten zu finanzieren. Mit anderen Worten: Wollen wir wirklich, dass
deutsche Steuerzahler den Urlaub beispielsweise dänischer Rentner in Spanien finanzieren, um dort im Winter
die dortigen Hotels besser auszulasten? Das kann doch
wohl nicht wahr sein!
Wir sind der Bundesregierung daher sehr dankbar,
dass sie in einem Bericht für den Tourismusausschuss
diese Initiative abgelehnt hat, da sie weder unter soziaMarlene Mortler
len noch unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten
zu rechtfertigen sei. Wir stimmen der Bewertung zu, dass
ein solches Austauschprogramm weder wünschenswert
noch praktikabel, umsetzbar oder finanzierbar wäre,
ganz zu schweigen von der Ausgrenzung der betroffenen
Menschen, die sich als Reisende zweiter Klasse fühlen
müssten. Deutschland wird sich deshalb auch in Zukunft
nicht an diesem EU-Projekt beteiligen.
Es gibt auch formale Gründe, die gegen das Ziel des
vorliegenden Antrags sprechen. So sind Mitglieder der
OITS bisher fast ausschließlich private und öffentliche
Organisationen, die meist gemeinnützige Ziele verfolgen. Dazu gehören nach Aussage der OITS nationale
Tourismusorganisationen, Urlaubszentren, Jugendherbergsnetzwerke, Gewerkschaftsorganisationen, Kooperativen, Nichtregierungsorganisationen und Bildungseinrichtungen. Dies ist also eigentlich eine klassische
internationale Nichtregierungsorganisation.
Nur wenige Länder sind offensichtlich über einzelne
Ministerien oder staatliche Organisationen Mitglied,
zum Beispiel Frankreich oder Spanien, wo der sogenannte Sozialtourismus eine lange historische Tradition
hat. Damit erscheint es formal und inhaltlich sehr fraglich, ob Deutschland als Land Mitglied werden soll oder
kann. Neben den aus öffentlichen Mitteln und von gemeinnützigen Organisationen unterstützen Urlaubsangeboten sollten wir aber auf gar keinen Fall die vielfältigen Möglichkeiten aus den Augen verlieren, die der
Tourismusstandort Deutschland schon heute für die genannten Zielgruppen bietet.
So gibt es in vielen ländlichen Regionen durchaus
preiswerte und attraktive Urlaubsformen wie Urlaub auf
dem Bauernhof. Zuweilen sind diese so günstig, dass
selbst ich als Agrar- und Tourismusexpertin stutze und
mich frage, wie sich das für den Anbieter rechnen kann.
Viele familiengeführte Bauernhöfe bieten nicht nur
Familien in der Hauptsaison, sondern auch älteren Reisenden oder Personen mit geringem Einkommen eine
persönliche, individuelle Betreuung in familiärer Atmosphäre. Diese und andere Urlaubsangebote im ländlichen
Raum wollen wir mit der im Koalitionsvertrag festgelegten Tourismuskonzeption für den ländlichen Raum fördern. Mit solchen Schritten können wir den sogenannten
Sozialtourismus sicherlich besser fördern als mit einer
Mitgliedschaft in dieser internationalen Organisation,
die wir ausdrücklich ablehnen.
Wir diskutieren heute über den Antrag der Fraktion
Die Linke, die die Bundesregierung zur Mitgliedschaft
in der International Organisation of Social Tourism,
OITS, auffordert.
Was bedeutet eigentlich „Sozialtourismus“? Die Organisation OITS und die Fraktion Die Linke haben
selbst keinen eindeutigen Begriff dafür. „Sozialtourismus“ wird umschrieben als Tourismus von Personen,
die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse, einer
körperlichen oder geistigen Behinderung, persönlicher
oder familiärer Isolation, eingeschränkter Mobilität
oder geografischer Schwierigkeiten ganz oder teilweise
unfähig sind, ihr Recht auf Tourismus wahrzunehmen.
Die Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismus
ist erklärtes Ziel der Bundesregierung, wie sie auch in
ihren Tourismuspolitischen Leitlinien festgestellt hat.
Diesem Ziel fühlt sich auch die CDU/CSU-Fraktion verpflichtet. Der von den Linken geforderte Weg ist aber
nicht zielführend. Er vernachlässigt, dass wir bereits
eine Fülle von Familien-, Jugend-, Studenten- und Seniorentourismus und Tourismus für Behinderte haben. Vor
allem im öffentlichen Bereich wird derzeit ein breiter
Zugang zu Erholung, Urlaub und Freizeiten angeboten.
Gern möchte ich an dieser Stelle zur Erinnerung einmal die wichtigsten Anbieter nennen und dabei auch die
Arbeit meiner Fraktionskollegen ausdrücklich loben, die
sich hier im Rahmen ihrer Arbeit für die Förderung solcher Angebote einsetzen.
Aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden allein für das
Jahr 2011 insgesamt 42,343 Millionen Euro für die Förderung des Jugendtourismus eingesetzt: 20,317 Millionen Euro für die Förderung der internationalen Jugendarbeit im Rahmen des Kinder- und Jugendplan des
Bundes, KJP, 10,226 Millionen Euro für das DeutschFranzösische Jugendwerk, 5 Millionen Euro für das
Deutsch-Polnische Jugendwerk und 5 Millionen Euro
für Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten sowie Jugendherbergen.
Die Bundesregierung fördert bereits Familienferienstätten, Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten,
Jugendherbergen sowie die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e. V., NatKo.
Zu nennen wäre auch der Katholische Arbeitskreis
für Familienerholung, deren Vorsitzende meine Kollegin
Frau Winkelmeier-Becker ist. Zusammen mit dem evangelischen Arbeitskreis Familienerholung und mit dem
paritätischen Arbeitskreis für Familienerholung bildet
er die Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung.
Zentrales Anliegen dieser Organisationen ist es, Familien mit vielen Kindern einen preiswerten Urlaub in
familienfreundlichen Unterkünften anzubieten und den
Zusammenhalt in den Familien zu stärken. Dafür gibt es
in Deutschland 120 gemeinnützige Familienferienstätten, die seit den 50er-Jahren entstanden sind.
Diese Einrichtungen stellen 3 000 Arbeitsplätze und
erwirtschaften bei circa 3 Millionen Übernachtungen
pro Jahr 100 Millionen Euro Umsatz. Sie befinden sich
meist in strukturschwachen Gebieten und geben wirtschaftliche Impulse für ländliche Räume. Familienerholung wendet sich an alle Familien, doch werden finanziell benachteiligte und kinderreiche Familien, Alleinerziehende sowie Familien mit behinderten Kindern oder
behinderten Angehörigen besonders berücksichtigt.
Aus dem Bundeshaushalt werden Bau und Renovierung von Familienferienstätten gegenwärtig mit 1,8 Millionen Euro pro Jahr gefördert, BMFSFJ-Titel, in Kofinanzierung mit den Bundesländern und den Trägern
({0}).
Zu Protokoll gegebene Reden
Angebote für Familienberatung, zur Stärkung der Familienkompetenz und zur gesundheitlichen Prävention
spielen dabei heute eine große Rolle. Solche Angebote in
Verbindung mit einem Urlaub gibt es bei der kommerziellen Konkurrenz nicht. Familienerholung befindet
sich damit an einer Schnittstelle von Familienpolitik,
Sozialpolitik und Tourismuspolitik.
Dies alles zeigt: Es gibt vielfältige, auch niederpreisige Angebote, um allen Bevölkerungskreisen Urlaub
vom Alltag zu ermöglichen. Dafür brauchen wir keine
Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation;
davon hätte keine einzige Familie, die wir im Blick haben, etwas. Statt also Neues zu fordern, sollten wir lieber
die bewährten Strukturen fördern!
Wichtig ist hierbei eine bessere Vermarktung beispielsweise der Familienferienstätten, die zurzeit lediglich über einen eigenen Katalog erfolgt, der auf Anfrage
verschickt wird. Gegenwärtig erstellt die Bundesarbeitsgemeinschaft unter Federführung des Evangelischen
Arbeitskreises einen Antrag auf Förderung eines dreijährigen Projektes, in dem aufgearbeitet werden soll,
was Familienerholung leistet und wie das Marketing
verbessert werden kann. Die Kosten würden insbesondere aus Personalkosten in Höhe von 200 000 Euro pro
Jahr bestehen, wobei der größte Anteil vom BMFSFJ finanziert werden soll.
Auch diese konkreten Projekte helfen mehr als die
Forderungen der Linken.
Lassen Sie mich abschließend auf einen Aspekt hinweisen, der mir besonders am Herzen liegt. Die Linken
schreiben in ihrem Antrag vom „Recht auf Tourismus“.
Welche Dreistigkeit steckt hinter dieser Haltung der Linken! Sie sind die direkten Nachfolger der SED. Ihre Parteivorsitzende träumt schon wieder offen vom Kommunismus. Sie stehen in direkter Tradition derer, die ihr
Volk in der damaligen DDR mit Mauer und Stacheldraht
eingesperrt haben, in einem Land, in dem es kein „Recht
auf Tourismus“ gab, kein freies Reisen, sondern Reisebeschränkungen und Ausreiseverbote. Tourismus war
staatlich organisiert und reglementiert. Und gerade sie
reden jetzt vom „Recht auf Tourismus“? Sie sind die Allerletzten in diesem Hause, die diese Forderung in den
Mund nehmen dürfen!
Wahrscheinlich ist es den Regierungsfraktionen ganz
recht, dass die Reden zum heutigen Tagesordnungspunkt
zum Sozialtourismus zu Protokoll gegeben werden. Ich
finde das schade, denn der Antrag der Fraktion Die
Linke, den wir heute beraten und den wir im Ausschuss
für Tourismus noch genauer zu bewerten haben, bietet
eine gute Möglichkeit, über die politische Unterstützung
von Menschen zu sprechen, die sich alleine keinen Urlaub leisten können.
Die SPD setzt sich seit langem dafür ein, dass alle
Menschen am Tourismus teilhaben können. Dieses Ziel
haben wir in unserer Regierungszeit 2009 auch in den
Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung
beschlossen. Wir haben festgelegt: Auch Menschen mit
gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Einschränkungen sollen reisen können. Klar ist: Dazu bedarf es
vielfältiger Anstrengungen. Der Vorstoß der Fraktion
Die Linke, dass Deutschland sich stärker in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus, OITS, engagiert, kann dabei ein Baustein sein. Das BundesForum
Kinder- und Jugendreisen ist in der OITS bereits als
deutsches Mitglied vertreten. Die Fraktion Die Linke
schreibt in ihrem Antrag etwas lapidar, dass Staaten
Mitglied sind und die Bundesregierung beitreten soll.
Das müsste konkreter gefasst werden. Das Referat für
Tourismuspolitik im Bundeswirtschaftsministerium wäre
aus meiner Sicht der richtige Adressat.
Bislang ist die OITS den deutschen Tourismusakteuren kaum bekannt. Das sollte die Regierung aber nicht
davon abhalten, zu prüfen, inwiefern die Mitgliedschaft
des Tourismusreferats einen Mehrwert verspricht, zum
Beispiel durch das Sammeln guter Praxisbeispiele zur
Förderung von Sozialtourismus, genauso aber auch, inwieweit sich andere Akteure im Deutschlandtourismus
zur Förderung des sozialen Aspekts einbringen könnten.
Gerade das Thema Barrierefreiheit, das die OITS in ihrer Arbeit aufgreift, könnte Deutschland durch eine Beteiligung der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, international voranbringen.
Vonseiten der Regierung wäre es ein gutes Signal, wenn
sie für diesen Fall die - überschaubare - finanzielle Unterstützung gewährleisten würde.
Festzustellen ist jedenfalls, dass einige unserer EUNachbarn in der OITS gut vertreten sind, allen voran
Frankreich mit der Tourismusdirektion des Wirtschaftsministeriums und über 20 Organisationen. Insgesamt
sind in dem internationalen Forum 35 Länder mit rund
165 öffentlichen und privaten Organisationen beteiligt.
Die Förderung des Sozialtourismus hat die EU mit der
2009 gestarteten Initiative „Calypso“ aufgegriffen. Mit
dem Projekt wurde ausgelotet, wie benachteiligten Zielgruppen grenzüberschreitende Reisen ermöglicht werden können. Dazu zählen Menschen mit Behinderungen,
einkommensschwache Familien, Ältere ab 65 Jahren sowie junge Erwachsene.
Die Idee: Der Tourismus in der Nebensaison soll dabei befördert werden. Nicht nur in Deutschland wissen
wir, wie schwierig es für die Tourismusbranche ist,
durch die Zeiten fernab der Ferien zu kommen. Viele
Saisonarbeitskräfte stehen dann immer wieder aufs
Neue ohne Arbeit da. Leider hat sich die Bundesregierung - im Gegensatz zu 21 Mitgliedstaaten - nicht an
„Calypso“ beteiligt. Die Debatte dazu im Tourismusausschuss hat deutlich gemacht, wie sehr Schwarz-Gelb
allein marktordnungspolitische Bedenken herausstellt nach dem Motto: zuerst der freie Markt, dann die bedürftigen Menschen. Natürlich muss die Idee des EU-Pilotprojekts weitergedacht werden. So ist es gerade für
Familien mit Schulkindern kaum möglich, außerhalb der
Hauptferienzeiten zu verreisen. Geklärt werden müsste
zudem, wer genau von - zumindest teilweise - bezuschussten Austauschangeboten profitieren soll, auch wie
alle Länder möglichst gerecht beteiligt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Regierung sollte hier aber nicht vergessen, dass
es bei dem EU-Projekt auch um die Förderung des europäischen Gedankens geht. Es könnte ein weiterer wichtiger Schritt hin zu mehr europäischer Verständigung, Toleranz und Miteinander sein, wenn gerade Menschen,
die kein Geld zum Reisen übrig haben, Möglichkeiten
erhalten, unsere Nachbarländer einmal kennenzulernen.
Wenn man über den Tellerrand schaut, sollte die Bundesregierung beim Thema Sozialtourismus auch direkt
in der Welttourismusorganisation ihren Einfluss wahrnehmen. Leider besteht daran wohl wenig Interesse,
wenn man die Bewertung zu „Calypso“ zugrunde legt.
Interessant an der OITS ist der breite thematische Ansatz. Aktuell gibt es drei Arbeitsgruppen für Jugendtourismus, Tourismus für Menschen mit Behinderungen sowie fairen Tourismus. Ich finde es hierbei gut, die
Belange von Menschen mit Handicap, die vor den größten Problemen beim Reisen stehen, mit einzubeziehen.
Letztlich zeigt die Debatte um eine Mitgliedschaft in
der OITS, die im Übrigen auch UNWTO-Mitglied ist,
dann auch: Internationaler Austausch ist das eine, die
nationalen Hausaufgaben zu erledigen, das andere. Sowohl der Bund als auch die Länder stehen in vielen
Punkten in der Pflicht.
Thema Familienerholung: Wir alle wissen: Das ist
wichtiger denn je. Warum geben dann immer weniger
Bundesländer Zuschüsse für die Erholungseinrichtungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung?
Ob Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Hessen
oder Sachsen - hier sparen CDU und FDP die Unterstützung für bedürftige Familien einfach ein. Auch in
NRW und Hamburg ist das bislang der Fall. Wie gut,
dass dort nun endlich wieder die SPD regiert!
Zum Thema „Kinder- und Jugendreisen“: Warum
weigert sich die Bundesregierung, den Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus weiterzuführen? 2002 hatte
Rot-Grün diese wichtige Initiative gestartet. Nach neun
Jahren ist eine Evaluierung und Fortschreibung dringend nötig. Die Studie des BundesForums zu Kinderund Jugendreisen 2008 zeigt, dass Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten deutlich weniger am Tourismus teilhaben. Sie stellt auch fest, dass
bei öffentlich geförderten Kinder- und Jugendreisen
deutliche Kürzungen geplant sind. Bund und Länder
sind in der Pflicht, ausreichend Angebote zu finanzieren.
Erfreulich ist, dass es Regierung und SPD gelungen ist,
mit dem Bildungs- und Teilhabepaket im Rahmen der
Regelsatzneubemessung jetzt auch einkommensschwachen Familien Zuschüsse zu ein- und mehrtägigen Klassenfahrten zu gewähren.
Kinder- und Jugendreisen machen rund 30 Prozent
des Deutschlandtourismus aus. Dieses Standbein muss
gezielt gestärkt werden. Problematisch ist allerdings die
Situation der Unterkünfte: Die Regierung spricht selbst
von einem Renovierungsstau. Auch hier muss Bewegung
reinkommen.
An der Förderung der deutschen Jugendherbergen
als gemeinnützig anerkannter Träger der Jugendhilfe
darf hingegen nicht gerüttelt werden. Die rund 550 Häuser, die preiswerte Angebote für Kinder, Jugendliche und
Familien vorhalten, sind für viele Regionen unverzichtbar. Nun kommen die Jugendherbergen durch die
schwarz-gelbe Hotelsteuer in Bedrängnis, weil Kommunen wie meine Heimatstadt Lübeck Bettensteuern erheben müssen, um die Steuerausfälle zu kompensieren.
Thema „Barrierefreies Reisen“: Für Menschen mit
Behinderungen ist das vordringliche Ziel die Herstellung von Barrierefreiheit in der gesamten touristischen
Servicekette. Die Potenziale eines barrierefreien Tourismus in Deutschland sind groß und mit einem Umsatz von
fast fünf Milliarden Euro und rund 90 000 zusätzlichen
Vollzeitarbeitsplätzen laut der 2003 vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Barrierefreiheitsstudie längst bekannt. Trotzdem hakt es an allen
Ecken und Enden der touristischen Servicekette: bei Zügen, Bahnhöfen, Flugzeugen, dem Zugang zu öffentlich
genutzten Gebäuden oder Leitsystemen durch die Stadt.
Selbst in Hotels, die angeblich barrierefrei sind, ist für
Reisende mit Handicap nicht selten spätestens bei der
Inneneinrichtung der Zimmer Schluss, weil Rollstühle
nicht durch Türen passen, oder sich die Menschen nicht
zurechtfinden. Wer sich ernsthaft um Barrierefreiheit
kümmern will, dem muss klar sein: Jede Lücke in der
barrierefreien Reisekette kann schon das Aus der Reise
bedeuten. Zugleich muss sich die Erkenntnis durchsetzen: Barrierefreiheit ist für 10 Prozent der Bevölkerung
zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich und
für 100 Prozent komfortabel.
Es besteht allerdings wenig Hoffnung, dass die Regierung im März einen Aktionsplan vorlegen wird, der die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ernsthaft in Angriff nimmt. Ich befürchte, dass der Aktionsplan für mehr Barrierefreiheit nicht über die bisherigen
Maßnahmen hinausgeht. Die SPD wird in enger Abstimmung mit den Behindertenverbänden ebenfalls ihre Positionen veröffentlichen und die Regierung auch auf diesem Feld antreiben.
Die Linke fordert die Bundesregierung mit dem vorliegenden Antrag auf, die Mitgliedschaft in der Internationalen Organisation für sozialen Tourismus zu beantragen und dort aktiv mitzuarbeiten. Warum?
In der aktuellen 27. Deutschen Tourismusanalyse der
Stiftung für Zukunftsfragen heißt es:
Die Reiselust kennt keine Grenzen, das Urlaubsbudget schon. ... So verreisten in der abgelaufenen
Urlaubssaison vier von fünf Besserverdienenden
({0}). Dagegen stagnierte die Zahl der reisenden
Geringverdiener in Deutschland auf niedrigem Niveau - nicht einmal jeder Dritte dieser Einkommensgruppe ({1}) konnte sich 2010 eine Urlaubsreise von fünf Tagen Dauer leisten.
Hier wird deutlich, dass das vorhandene - und leider
nicht wachsende - Instrumentarium an Förderungen
von bezahlbaren Reisen für alle, zum Beispiel über gemeinnützige Familienferienstätten, die Angebote der JuZu Protokoll gegebene Reden
gendherbergen, die von Vereinen organisierten Ferienlager usw., nicht ausreicht.
Ein zweites Zitat möchte ich anführen. In den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung heißt es:
Ziel der Bundesregierung ist die Teilhabe aller Bevölkerungskreise am Tourismus. Auch Menschen
mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen
Einschränkungen sollen reisen können.
Deshalb fragte ich am 6. Oktober 2010 in der Fragestunde des Bundestages, wie die Bundesregierung dieses
Ziel für auf Hartz IV angewiesene Familien mit Kindern
realisieren will, da in den Regelsätzen Gelder für Reisen
und Erholung nicht vorgesehen sind. Die Antwort des
Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Hintze, CDU:
Vorrangiges Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist nicht in erster Linie die Umsetzung der
tourismuspolitischen Leitlinien, sondern die
schnellstmögliche Eingliederung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in den Arbeitsmarkt …
Bei der Entscheidung, welche einzelnen Verbrauchspositionen als regelsatzrelevant einzustufen sind, wurde in der Abteilung 11 „Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen“ die
Position „Übernachtungen“ nicht als regelbedarfsrelevant berücksichtigt. Diese Ausgaben sind dem
Bereich Urlaub zuzuordnen, der als nicht existenzsichernd anzusehen ist und folglich für den Regelbedarf nicht zu berücksichtigen ist.
Es muss davon ausgegangen werden, das auch Familien mit niedrigem Einkommen, die keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten, nicht durchgängig Urlaube finanzieren
können.
Diese aus meiner Sicht skandalöse Antwort zeigt, wie
ernst die Bundesregierung eigene Zielstellungen nimmt.
Gerade auch geringverdienende Familien mit Kindern,
Seniorinnen und Senioren, Menschen mit Behinderungen oder Angehörige von zu pflegenden Menschen brauchen den Urlaub für ihre Erholung, Gesundheit und Bildung. Und wer glaubt, dass es hier um Almosen geht und
nicht um Menschenrechte, sollte sich Art. 24 „Recht auf
Erholung und Freizeit“ der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948 oder die UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 30 „Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport“, ansehen.
In seiner Stellungnahme zum „Sozialtourismus in Europa“ ({2}) stellt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss im Amtsblatt der Europäischen Union vom 23. Dezember 2006 ({3}) unter
anderem fest:
Alle Menschen, selbst die am stärksten benachteiligten, benötigen in täglichen, wöchentlichen und
jährlichen Abständen Erholung, Freizeit und Zeit
zur Regeneration von der Arbeit, und sie haben einen Anspruch darauf.
Wir müssen also mehr tun, um Reisen für alle zu ermöglichen. Wir sollten dabei auch von anderen lernen,
sollten über den Tellerrand schauen. Dafür gibt es eine
hervorragende Möglichkeit: Die Bundesrepublik
Deutschland wird Mitglied der 1963 gegründeten International Organisation of Social Tourism, OITS.
Der Organisation gehören weltweit 140 staatliche
und nichtstaatliche Mitglieder aus dem Bereich des Tourismus an, darunter die Staaten Belgien, Frankreich,
Griechenland, Italien, Mexiko, Polen, Portugal,
Schweiz, Spanien, Türkei. Diese Staaten machen gute
Erfahrungen mit ihrem Engagement im Sozialtourismus.
Deutschland, der „Reiseweltmeister“, fehlt. Lediglich
das BundesForum Kinder- und Jugendreisen e. V.,
BuFo, ist von deutscher Seite Mitglied in der OITS. Das
ist angesichts der Bedeutung des Themas nicht ausreichend.
Eine Mitgliedschaft in der International Organisation of Social Tourism eröffnet der Bundesrepublik die
Möglichkeit der direkten Einflussnahme auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus auf internationaler und
europäischer Ebene, das Kennenlernen guter Praxisbeispiele sowie deren Nutzung auf nationaler Ebene.
Mein Kollege Jörn Wunderlich hatte im September
2010 die Möglichkeit, an der OITS-Konferenz in Rimini
teilzunehmen und dort auch zu sprechen. Von dieser
Konferenz gibt es die Botschaft, dass man sich auf eine
Mitgliedschaft der Bundesrepublik freut. Deswegen ist
es auch kein Zufall, dass der OITS-Vorstand seine
nächste Tagung während der ITB im März dieses Jahres
in Berlin durchführt.
Bleibt die Frage, ob die Bundesrepublik Mitglied in
einer internationalen Organisation werden muss, um
dort aktiv mitzuarbeiten, oder ob dies eher unüblich ist.
Ende 2010 bat ich den Wissenschaftlichen Dienst des
Bundestages um eine Übersicht, in welchen internationalen Organisationen die Bundesrepublik Deutschland
Mitglied ist. Die Antwort wäre sicher eine gute Grundlage für eine wissenschaftliche Arbeit eines Doktoranden, denn die Bundesregierung gestand, keine Übersicht
über diesbezügliche Mitgliedschaften zu haben. Es sind
aber - dies verdeutlichten die Zuarbeiten aus den einzelnen Ministerien - nicht wenige. Das für Tourismus zuständige Wirtschaftsministerium ist laut Haushaltsplan
in 22 internationalen Organisationen vertreten, darunter in der Welttourismusorganisation UNWTO. Der
jährliche Mitgliedsbeitrag an diese 22 Organisationen
beträgt rund 23 Millionen Euro. Der Mitgliedsbeitrag in
der Internationalen Organisation für Sozialen Tourismus beträgt 4 090 Euro. Das sollten wir uns wohl leisten
können.
In der alltäglichen Debatte der Tourismuspolitik gibt
es einen Bereich, der in Deutschland nur selten explizit
Beachtung findet. Das ist der Sozialtourismus, über den
wir heute beraten, wenn auch leider nur am Rande inhaltlich. Ich finde es aber außerordentlich wichtig, dass
wir das Thema heute überhaupt auf der Agenda des Hohen Hauses haben. Ich möchte das Thema Sozialtourismus mal etwas von der abstrakten, institutionellen
Ebene runterbrechen. Denn der Beitritt zur OITS kann
Zu Protokoll gegebene Reden
nur ein erster Schritt sein. Vielmehr muss es darum gehen, politische Ansätze und sogar eine neue Kultur für
das Thema Sozialtourismus zu finden. Die OITS wird mit
seinen zahlreichen Experten sicher viele Impulse geben
können. Genau diese sind vonnöten. Was jedoch muss
das Ziel sein? Ich möchte auf die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum
„Sozialtourismus in Europa“, die am 13./14. September
2006 beschlossen worden ist, verweisen. Hier finden
sich einige äußerst interessante Ansätze. Zwei davon
möchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben:
Erstens. Unter Punkt 4.2.1 wird die Agence nationale
pour les chèques-vacances, ANCV, mit einem Geschäftsvolumen von circa einer Milliarde Euro beschrieben.
Dieses Beispiel sollte uns ein Vorbild sein. Weiter heißt
es - daraus möchte ich direkt zitieren -:
Sozial und wirtschaftlich ist das Programm eindeutig rentabel, denn einerseits konnten dadurch viele
ältere Menschen erstmals in Urlaub fahren, andere
Städte und Gegebenheiten kennen lernen, gleichberechtigte soziale Kontakte knüpfen und ihren körperlichen Zustand verbessern, wobei eine vernünftige Qualität und die Akzeptanz durch die Nutzer
gewährleistet ist; und andererseits werden für jeden in das Programm investierten Euro 1,70 EUR
wieder eingenommen.
Zweitens. Es heißt in den Empfehlungen unter
Punkt 9.3:
Den Touristikunternehmen sei empfohlen, sich entschlossen an den Sozialtourismusaktivitäten zu beteiligen, Der Sozialtourismus vertritt Werte, die mit
einer korrekten Unternehmensführung, Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität vereinbar sind …
Etwas anderes, was mich in diesem Zusammenhang
besonders bewegt: Am heutigen Tag findet der Kinderund Jugendreisegipfel statt. Gerade für diese Zielgruppe
ist es von außerordentlichem Interesse, Ansätze zu finden, wissen wir doch alle um die außerordentlich positiven Effekte des Reisens in jungem Alter. Nicht umsonst
heißt es: Reisen bildet. Was ist jedoch das Problem? Einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge besteht für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche in
Deutschland die Gefahr, nicht an Kinder- und Jugendtourismus teilnehmen zu können. Betroffen von Armut
sind oft junge Menschen, die in Familien leben, in denen
die Eltern arbeitslos sind oder sehr wenig verdienen,
welche einen Migrationshintergrund haben, welche kinderreich sind oder die Alleinerziehende sind.
Die Teilhabe am Reisen unterstützt eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Während die
Urlaubsintensität der Deutschen ab 14 Jahren zunimmt,
ergaben Urlaubsreisen mit Kindern bis zu 13 Jahren im
Jahr 2008 mit lediglich 17 Prozent den niedrigsten Wert
seit seiner Erfassung im Jahr 1996, als der Wert noch
bei 22 Prozent lag. Diese Zahlen stammen übrigens aus
einem Papier des Wirtschaftsministeriums mit dem Titel
„Kinder- und Jugendreisen 2009“. Wie uns die Studie
„Deutsche Kinder- und Jugendreisen 2008“ verrät, gibt
es in Deutschland zwar mit 82,2 Prozent eine auch im
internationalen Vergleich hohe Urlaubsreiseintensität
bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren. Kinder
und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien
({0}) nehmen allerdings deutlich weniger am
Tourismus teil.
Öffentlich geförderte Kinder- und Jugendreisen sind
dabei sowohl im Kontext von Kinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf die internationale Jugendarbeit seit den 90er-Jahren rückläufig. Laut Experten
sind staatliche Förderungen im Kinder- und Jugendreisebereich um 30 Prozent und somit auch Zuschüsse an
die Träger gesunken. So besteht nicht nur die Gefahr,
dass Kinder- und Jugendreisen teurer werden. Auch
wird dieses Arbeitsfeld nach einer dynamischen Entwicklung in den 80er- und 90er-Jahren weiterhin von erheblichem Ressourcenabbau und Einsparungen betroffen sein. Während die Zahl der außerschulischen
Bildungsmaßnahmen in den Jahren 2000 und 2004 weitestgehend konstant geblieben ist, hat sich die Zahl der
Kinder- und Jugenderholungen um 23 Prozent reduziert.
Kinder von Hartz-IV-Empfängern bekommen zwar die
Kosten für mehrtägige Klassenfahrten von den Jobcentern erstattet - siehe § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II -.
Familien, die über geringes Einkommen verfügen, jedoch keine Leistungen nach dem SGB II beziehen, werden nicht unterstützt.
Wir sehen in allen Punkten: Der politische Weg kann
nur ein integrativer sein. Wir brauchen auch die Reiseveranstalter. Die OITS bietet da mit seinen 140 Mitgliedern, von denen einige Unternehmen sind, ein geeignetes Forum.
Mein Fazit: Ich denke, nach all dem ist es sinnvoll,
dass wir uns an der International Organisation of Social
Tourism beteiligen. Allerdings reicht eine Beteiligung an
einer internationalen Organisation nicht aus, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Dazu muss auch ein politischer Wille in einer wenig sozialpolitisch orientierten
Regierung, wie wir sie momentan haben, erkennbar
sein. Wir müssen in Deutschland eine Kultur des Sozialtourismus entwickeln, die es in dieser Form bisher noch
nicht gegeben hat.
Die Bundesregierung hat den Antrag der Fraktion
Die Linke zur Kenntnis genommen. Dem Antrag liegt die
Idee zugrunde, den Tourismus allen Bürgern Deutschlands zugänglich zu machen, unabhängig von deren Alter, sozialem und wirtschaftlichem Status oder einer
möglichen Behinderung. Das entspricht auch dem Anliegen der Bundesregierung. Die Bundesregierung setzt
sich für die Teilhabe aller am Tourismus ein. Barrierefreiheit ist ein wichtiger Teil unserer Politik.
Einige Beispiele, die die Unterstützung der Teilhabe
aller am Tourismus dokumentieren:
Die Bundesregierung engagiert sich seit Jahren - und
mit Erfolg - für das barrierefreie Reisen in Deutschland.
Im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes
unterstützt die Bundesregierung internationale BegegZu Protokoll gegebene Reden
nungen und andere Reiseformen für Kinder und Jugendliche. Die Bundesregierung fördert Maßnahmen der
internationalen Jugendarbeit aus dem Kinder- und Jugendplan des Bundes mit jährlich rund 35 Millionen
Euro.
Seit über fünfzig Jahren fördert die Bundesregierung,
BMFSFJ, den Bau und die Einrichtung gemeinnütziger
Familienferienstätten in Deutschland. Deren Dienstleistungen richten sich ganz besonders an kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Familien mit behinderten
Angehörigen sowie Familien mit niedrigem Einkommen,
die auf dem touristischen Markt häufig keine geeigneten
Angebote finden. Die gemeinnützigen Familienferienstätten sind verpflichtet, während der bundesweiten
Schulferien keine Saisonaufschläge zu erheben. Wirtschaftlich unterstützungsbedürftige Familien, Menschen
mit Behinderungen und ältere Menschen können in den
meisten dieser Einrichtungen von Preisnachlässen profitieren.
In 13 Bundesländern werden Familien mit relativ geringem Einkommen bei der Finanzierung gemeinsamer
Ferien in einer gemeinnützigen Familienferienstätte
- zum Teil auch in familiengeeigneten Jugendherbergen
oder auf familiengeeigneten Bauern- und Winzerhöfen mit einem Zuschuss des Landes unterstützt.
Auf lokaler Ebene gibt es zum Beispiel Programme
zur Kinder- und Jugenderholung. Damit sind Aufenthalte
von Kindern und Jugendlichen in Ferienlagern usw.
ebenso gemeint wie Naherholungsaufenthalte in der regionalen Umgebung. Der überwiegende Teil dieser Maßnahmen wird von freien Trägern organisiert und aus öffentlichen Mitteln finanziert. Die Maßnahmen kommen in
erster Linie solchen Kindern zugute, deren Eltern keinen
Urlaub finanzieren können.
Sowohl Bund als auch Länder und Regionen widmen
der Teilhabe aller am Tourismus große Aufmerksamkeit.
Dafür bedarf es keiner Mitgliedschaft der Bundesregierung in einer internationalen Organisation, die im Übrigen den Steuerzahler Geld kosten würde. Das würde
auch deshalb wenig Sinn machen, weil die Kompetenz für
die Entwicklung des Tourismus - auch unter dem Aspekt
der Teilhabe aller - in unserem föderalen System eindeutig bei den Ländern liegt.
Die Organisation lnternationale du Tourism Social
- abgekürzt: OITS -, um die es in dem Antrag geht, ist
affiliertes Mitglied der Welttourismusorganisation,
UNWTO, und arbeitet eng mit dem Sekretariat und den
Mitgliedstaaten der UNWTO - also auch mit Deutschland - zusammen. Insofern hat die Bundesregierung als
Mitglied der UNWTO natürlich Kenntnis von den Aktivitäten der OITS. Auch unter diesem Aspekt ist eine
Mitgliedschaft der Bundesregierung in dieser Organisation nicht erforderlich.
Im Übrigen ist das BundesForum Kinder- und Jugendreisen seit 2001 Mitglied in der OITS und arbeitet
im Vorstand der Organisation aktiv mit. Auch anderen
Verbänden und Organisationen, die sich mit der Teilhabe aller am Tourismus befassen, steht es jederzeit frei,
Mitglied zu werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4844 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({0}), Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu einer menschenrechtskonformen Reform der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 17/4593 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Bündnis 90/Die Grünen treten hier heute mit dem Anspruch an, einen Gesetzentwurf zu einer menschenrechtskonformen Reform der Sicherungsverwahrung
- so die selbst gewählte Überschrift für die Drucksache
17/4593 - vorzulegen. Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit dem Gesetzentwurf, der dann dieser Überschrift folgt, sind Sie allerdings krachend am selbst gesetzten Anspruch gescheitert. Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist
weder eine Reform, noch ist er ein Gesetzentwurf für
eine menschenrechtskonforme Reform. Es ist schlicht
und ergreifend der Entwurf eines Aufhebungsgesetzes.
Meinen Sie das wirklich ernst? Sind Sie wirklich der Ansicht, dass man bloß die Vorschriften für die nachträgliche Sicherungsverwahrung zu streichen brauche, und
schon seien alle Probleme gelöst? Leben Sie im Wolkenkuckucksheim?
Der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf ist nun wirklich zu kurz gesprungen. Ich erinnere mich noch sehr gut
an die Einlassungen des Kollegen Montag während der
Debatte um das von der christlich-liberalen Koalition
eingebrachte Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung. Sie haben sinngemäß gesagt, Ihre Fraktion
werde sich nicht konstruktiv an der Debatte beteiligen.
Offen gestanden: Dass Sie Ihr Wort durch einen so destruktiven Gesetzentwurf wahr machen würden, damit
hätte ich nicht gerechnet. Es ist doch nun wirklich jedem
klar, dass wir uns bei der derzeitigen Diskussion um die
Sicherungsverwahrung in einem ausgesprochen schwierigen Spannungsfeld bewegen: hier unsere Konzeption
der Maßregeln der Besserung und Sicherung, die nach
der Tradition der Zweispurigkeit des deutschen Strafrechts systematisch nicht als Strafen angesehen wurden,
was im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht
stets so gesehen hat - und im Ergebnis die entsprechenden nachträglichen gesetzlichen Regelungen immer hat
passieren lassen -, und dort die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der auf der
Grundlage der EMRK zum Ergebnis kommt, dass das
bisher angewandte System der Sicherungsverwahrung
den Anforderungen von Art. 7 und Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht genügt.
Dieses Spannungsverhältnis müssen wir auflösen.
Das ist ohne Zweifel eine knifflige Herausforderung, vor
der wir stehen, vor der wir im Übrigen nicht alleine stehen. Erkennbar steht auch das Bundesverfassungsgericht vor der Frage, wie dieses Spannungsverhältnis
aufzulösen ist. Davon konnte man sich bei der mündlichen Verhandlung in Sachen Sicherungsverwahrung vor
gut zwei Wochen in Karlsruhe überzeugen. Oder: Man
hätte sich davon überzeugen können; aus den Reihen
der Opposition hat dem Verfahren jedenfalls niemand
gelauscht. Wenn man sich die vermeintlich einfache Lösung, die Bündnis 90/Die Grünen hier vorlegen, anschaut, kann man das auch verstehen. Zu viel Auseinandersetzung mit der Sache hätte sich für dieses Ansinnen
als schädlich erwiesen. Denn vielleicht hätte man ja ins
Nachdenken kommen können.
Faktum ist doch, dass es auch Schutzpflichten des
Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern
gibt. Der Staat muss die Menschen vor gefährlichen
Straftätern wirksam schützen können. Diese Schutzpflicht blenden Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vollkommen
aus. Das hat noch nicht einmal der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte getan. Er hat die Schutzpflichten, die ihrerseits ihren Ausdruck in der EMRK finden, immerhin gesehen. Aus unserer Sicht hat er sie
dann allerdings nicht oder nicht ausreichend in die Abwägung gegenüber Art. 5 und Art. 7 einbezogen. Das ist
aus unserer Sicht ein Versäumnis des EGMR.
Ihr Versäumnis ist, dass die Schutzpflichten im Gesetzentwurf auf Drucksache 17/4593 überhaupt keinen
Niederschlag finden. Das ist zu wenig für einen diskutablen Gesetzentwurf. Will man das Spannungsfeld wirklich auflösen, so steht man natürlich scheinbar vor der
Quadratur des Kreises. Eine echte Reform muss das
aber für sich in Anspruch nehmen. Wir haben mit dem
Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und
dem Therapieunterbringungsgesetz einen ersten Schritt
dazu unternommen. Dem haben Sie sich von Bündnis 90/
Die Grünen seinerzeit bereits verweigert. Hätten Sie ein
echtes Alternativkonzept dazu vorgelegt, so hätte man
die Verweigerung ja noch verstehen können. Heute stellen Sie mit dem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/4593
allerdings unter Beweis, dass Sie keine Alternative vorlegen können. Ihr Gesetzentwurf ist damit nur eins: ein
Dokument des Scheiterns. Uns wird das nicht beirren.
Wir haben mit dem Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung unter Beweis gestellt, dass wir uns
daranmachen, das Spannungsfeld aufzulösen, nicht bloß
- wie Sie - aufzuheben. Damit werden wir fortfahren.
Denn für uns ist die Schutzpflicht des Staates gegenüber
den Bürgerinnen und Bürgern ebenso wichtig wie die
Folgerungen aus Art. 5 und Art. 7 der EMRK. Ihren Gesetzentwurf, der nicht einmal im Ansatz ein Reformentwurf ist, lehnen wir ab.
Selbstverständlich war bei der Neuregelung der Sicherungsverwahrung, die am 1. Januar 2011 in Kraft
getreten ist, davon auszugehen, dass die Sicherungsverwahrung ein aktuelles Thema bleibt. Denn es war klar,
dass es weitere Entscheidungen deutscher Gerichte wie
auch des Europäischen Gerichtshofs dazu geben würde.
Wenig überraschend ist deshalb, dass zu dem Streitthema Sicherungsverwahrung nun auch eine parlamentarische Initiative von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vorliegt. Wenig überraschend ist allerdings
auch der Inhalt der Initiative, denn die Vorschläge sind
bereits bei den Beratungen im Gesetzgebungsverfahren
zu dem Neuregelungsgesetz diskutiert worden.
Das gilt zunächst für das Problem der nach wie vor
unverändert existierenden nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht. Freilich war es die
SPD-Bundestagsfraktion, die bereits in der ersten Lesung des Gesetzes zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung explizit angemahnt hatte, dass die in der Entwurfsbegründung geäußerten Bedenken gegen die
Rechtmäßigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Erwachsenen konsequenterweise zu einer Neuregelung der Sicherungsverwahrung auch im Jugendgerichtsgesetz führen müssen. Deshalb haben wir sowohl
in den Ausschussberatungen als auch bei der abschließenden Plenarberatung einen Änderungsvorschlag unterbreitet, der den Wegfall der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit entsprechenden Anpassungen im
Jugendgerichtsgesetz nachzeichnen sollte. Bedauerlicherweise ist unser Vorschlag nicht aufgegriffen worden. Von den Koalitionären wurde aber eine Regelung
zugesagt. Deshalb erwarten wir jetzt von der Koalition,
dass sie zu ihren Ankündigungen steht und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegt, und zwar zügig vorlegt.
Im Gesetzgebungsverfahren intensiv diskutiert worden sind auch die beiden weiteren Vorschläge von Bündnis 90/Die Grünen, nämlich die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht nur für
Neufälle, sondern für alle Fälle. Diskutiert wurde auch
das Problem, dass im Jahre 1998 unter der damaligen
schwarz-gelben Regierung die Zehnjahreshöchstfrist für
die Sicherungsverwahrung abgeschafft wurde.
Selbstverständlich gelten auch für Täter, die schwere
Straftaten verübt haben, rechtsstaatliche Grundsätze.
Zugleich galt und gilt es, einen gangbaren Weg zu finden, um das Problem zu lösen. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von Dezember 2009 zur Sicherungsverwahrung galt es, dafür
zu sorgen, die Sicherungsverwahrung zu einem rechtlich
haltbaren Instrument zu gestalten, um gefährliche Täter
sicher unterbringen und die Bevölkerung vor ihnen
schützen zu können. Der nationale Gesetzgeber durfte
und darf die Antwort auf die Frage nicht schuldig bleiben, auf welche Weise der berechtigte Anspruch der Gesellschaft auf adäquaten Schutz vor gefährlichen Straftätern und Rückfalltätern zu realisieren ist. Vor dem
Hintergrund der bereits erfolgten Entlassungen von als
gefährlich angesehenen Sicherungsverwahrten ist die
Beunruhigung in der Bevölkerung gewachsen. Es geht
aber nicht nur um ein subjektives Sicherheitsgefühl in
der Bevölkerung. Wir müssen die Tatsache akzeptieren,
dass es eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe von Tätern
Zu Protokoll gegebene Reden
gibt, die tatsächlich eine permanente Gefahr für die Gesellschaft darstellen. In diesen begründeten Einzelfällen
muss es die Möglichkeit geben, die Gesellschaft vor diesen Menschen und diese Menschen vor sich selbst zu
schützen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich deshalb der gesetzgeberischen Verantwortung gestellt, dafür zu sorgen,
dass einerseits die Rechte der Verurteilten gewahrt werden und andererseits die Gesellschaft vor gefährlichen
Straftätern geschützt wird. Diesem Abwägungsprozess
Rechnung tragend haben wir uns entschieden, in einer
konstruktiven Auseinandersetzung mit der Bundesjustizministerin und den Vertretern der Koalition um eine Lösung in diesem Sinne zu ringen. Wir haben uns das nicht
leicht gemacht und es ist uns gelungen, wichtige Änderungen an den ursprünglichen Plänen zu erreichen. Ergebnis ist das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung.
Wie schon Ende Dezember 2009 hat der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte - allerdings nach wie
vor mit Blick auf das alte Recht - in seinen Entscheidungen am 13. Januar 2011 noch einmal im Wesentlichen
einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gerügt. In
drei Fällen ging es um die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die seinerzeit zulässige Höchstdauer
von zehn Jahren hinaus. Für dieses Problemfeld ist jedoch letztendlich entscheidend, ob es sich bei der Sicherungsverwahrung, so wie sie ausgestaltet ist, um eine
Strafe handelt. In seiner Entscheidung von Dezember
2009 hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Sicherungsverwahrung in der deutschen Praxis für kaum vom Strafvollzug unterscheidbar und bewertete sie deshalb als Strafe, die rückwirkend eben
nicht verhängt werden dürfe. Auch in seinen Entscheidungen vom 13. Januar 2011 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Ergebnis, dass
durch Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer
über die Zehnjahresfrist hinaus eine Verletzung sowohl
des Art. 5 Abs. 1 EMRK wie auch des Art. 7 Abs. 1
EMRK vorliegt bzw. in einem Fall vorlag.
Ihrer Konzeption nach ist die Sicherungsverwahrung
eigentlich eine Maßregel der Besserung und Sicherung.
An diesem Konzept hat der Gesetzgeber festgehalten
und nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte im Zusammenhang mit der Neuregelung der Sicherungsverwahrung ein neues Gesetz erlassen, das Therapieunterbringungsgesetz, ThUG. Es hat
zum Ziel, die Allgemeinheit vor psychisch gestörten Sexual- und Gewaltstraftätern zu schützen, indem solche
Täter eine zielgerichtete intensive Behandlung in geeigneten Einrichtungen erfahren. Dabei steht die Therapie
im Vordergrund, und die Unterbringung in Spezialeinrichtungen soll gerade keine zweite Haft darstellen.
Jetzt muss sich das Bundesverfassungsgericht mit der
Frage beschäftigen, wie mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzugehen ist, dies insbesondere auch vor dem Hintergrund der
zum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Neuregelung der
Sicherungsverwahrung, die die Straßburger Richter
nicht zum Maßstab gemacht hatten. Am 8. Februar fand
in Karlsruhe die mündliche Verhandlung statt, die endgültige Entscheidung steht allerdings noch aus. Ob sie
im Sinne der Vorschläge ausfallen wird, die jetzt von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wurden, darf
immerhin bezweifelt werden, denn anders als die Straßburger Richter, die bei ihrer Rechtsprechung den Aspekt
der staatlichen Schutzpflichten des Staates nicht im Fokus hatten, müssen die Karlsruher Richter dem Recht
des Einzelnen auf Freiheit und dem Verbot rückwirkender Bestrafung sowie dem Bedürfnis der Allgemeinheit
auf Schutz vor weiterhin gefährlichen Tätern Rechnung
tragen.
Den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, weitere Änderungen im Anordnungsrecht der
Sicherungsverwahrung vorzunehmen, lehnt die FDP ab.
Der Gesetzentwurf enthält drei Forderungen: erstens
Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
für alle Fälle, zweitens Beseitigung der rückwirkenden
Streichung der Zehnjahreshöchstfrist, drittens Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht.
Lassen Sie mich zu Beginn ein paar Worte zu dem am
1. Januar 2011 in Kraft getretenen Reform der Sicherungsverwahrung sagen: Mit der Neuordnung wurde erreicht, dass die Sicherungsverwahrung als schärfste
Sanktion, die das deutsche Strafrecht kennt, nur noch
dort verhängt wird, wo sie zum Schutz der Bevölkerung
auch wirklich nötig ist. Dabei wurden die Regelungen
der Sicherungsverwahrung besser aufeinander abgestimmt und damit auch für die Rechtsanwender, also
Richter und Staatsanwälte, wieder übersichtlicher und
nachvollziehbarer. Darauf kann die christlich-liberale
Koalition wahrlich stolz sein.
Nun zu den einzelnen Forderungen des hier vorliegenden Gesetzentwurfs: Im Rahmen der Reform wurde
die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Neufälle
abgeschafft. In der Praxis hatte sich gezeigt, dass die
nachträgliche Sicherungsverwahrung bei der verfassungsrechtlich gebotenen restriktiven Auslegung dieser
Regelungen nur in wenigen Ausnahmefällen in Betracht
kam, insbesondere weil es fast immer daran fehlte, dass
sich die Gefährlichkeit des Täters erst im Strafvollzug
aufgrund erheblicher neuer Tatsachen ergab. Der BGH
hat seit Sommer 2004 lediglich in gut einem Dutzend
Verfahren entsprechende Anordnungen bestätigt, während bereits bis Mitte 2008 in knapp 100 Fällen die Anordnung abgelehnt wurde. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung war als Instrument schlichtweg
untauglich, um die wirklich gefährlichen Straftäter zu
identifizieren.
Für die sogenannten Altfälle, das heißt die Anlasstat
geschah vor Inkrafttreten der Neuregelung, müssen die
Möglichkeiten zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung jedoch unverändert bestehen bleiben.
Das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf Altfälle auszudehnen, wäre nicht nur unbedacht, sondern auch leichtfertig. Der Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen liefert dafür entspreZu Protokoll gegebene Reden
chend eine ungenügende Begründung. Mit der Regelung
solle verhindert werden, dass es in Zukunft auch auf
viele Jahre zu einem Nebeneinander der alten und der
neuen Regelungen der Sicherungsverwahrung komme.
Dabei wird der entscheidende Grund, weshalb der Gesetzgeber genau dies nicht wollte, offenbar übersehen.
Eine solche Regelung würde im Recht der Sicherungsverwahrung eine erneute Lücke reißen, da das neue System wegen des Rückwirkungsverbotes auf die Altfälle
nicht erstreckbar ist. Das mögen die Kollegen von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen endlich zur Kenntnis
nehmen. Die Behauptung, die neue Rechtslage führe
dazu, dass auf unabsehbare Zeit die nachträgliche Sicherungsverwahrung bei Vorliegen der Voraussetzungen
verhängt werden müsse, trifft nicht zu. Die Altfälle werden die Praxis noch in den nächsten fünf bis zehn Jahren
beschäftigen, weil so lange noch Entlassungen aus dem
Strafvollzug anstehen werden. Diese Dauer ist wegen
der genannten Gründe hinzunehmen. Im Vergleich zu
dem Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung insgesamt, das Rot-Grün zu verantworten hat, bedeuten die neuen Regelungen endlich Rechtssicherheit.
Laut des hier zu beratenden Gesetzentwurfs werde
die Beseitigung der rückwirkenden Streichung der Zehnjahreshöchstfrist für erforderlich erachtet. Es wird gefordert, dass das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom
26. Januar 1998 auf alle Taten Anwendung finden solle,
über deren Taten bis zum Stichtag des 31. Januar 1998
noch nicht rechtskräftig entschieden worden sei. Dieser
Forderung darf keineswegs gefolgt werden. Um es einmal deutlich zu machen: Diese Forderung, würde man
sie tatsächlich gesetzlich umsetzen, käme einem Freilassungsgesetz gleich. Vor dem Hintergrund des Schutzes
der Bevölkerung wäre dies ebenfalls unverantwortlich.
Einen Freilassungsautomatismus darf es nicht geben.
Jeder einzelne Fall muss gesondert gewürdigt und unter
Berücksichtigung aller Interessen gerichtlich entschieden werden. In der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts am 8. Februar 2011, die vier
Verfassungsbeschwerden zum Gegenstand hatte, hat
Präsident Voßkuhle als Berichterstatter für zwei der Verfahren in seiner Einführung angemerkt, dass der EGMR
bei seiner Entscheidung zur Unvereinbarkeit rückwirkender Sicherungsverwahrung mit der EMRK die Sicherungsinteressen der Allgemeinheit „nur ganz am
Rande“ in den Blick genommen habe. Die Rechtsprechung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs geht
sogar soweit, dass die vom EGMR als unzulässig beurteilte rückwirkende Sicherungsverwahrung gleichwohl
dort fortzusetzen sei, wo ein ganz besonders hohes Maß
an Gefahr für die Allgemeinheit bestehe.
Die FDP fühlt sich darin bestätigt, die Betroffenen
der rückwirkenden Streichung der Zehnjahresfrist auf
den Rechtsweg zu verweisen, weil nur so die gegeneinander abzuwägenden Belange angemessen berücksichtigt werden können.
Das Recht der Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht konnte nicht zusammen mit der nun abgeschlossenen Reform der Sicherungsverwahrung behandelt werden, weil es zwei verschiedene Rechtsmaterien
sind. Im Jugendstrafrecht gelten Eigenheiten, die einer
besonderen Berücksichtigung bedürfen. Hier ist aber
auf die bereits benannten Verfassungsbeschwerden hinzuweisen, von denen ein Verfahren einen solchen Fall
betrifft. Mit der Entscheidung ist erst im Sommer zu
rechnen, weshalb voreiliges Handeln nicht angebracht
erscheint. Stellt sich also heraus, dass gesetzgeberischer
Handlungsbedarf besteht, werden die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts maßgeblich sein. Mit der
Reform der Sicherungsverwahrung wurden die bestehenden Rechtsunsicherheiten beseitigt und zugleich der
Schutz der Bevölkerung vor schweren Gewaltstraftätern
verbessert. Dabei wurden zugleich Verstöße gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention vermieden.
Weitere Änderungen hält die FDP daher für nicht angebracht.
Es ist bedauerlich, dass wir erneut über das Thema
Sicherungsverwahrung sprechen müssen. Der von den
Grünen vorgelegte Gesetzentwurf ist zu begrüßen.
Wir hätten uns diese Debatte und den Gesetzentwurf
der Grünen sparen können, hätte die Koalition aus der
im letzten Jahr stattgefundenen Anhörung zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung gleich die richtigen
Konsequenzen gezogen. Aber dazu fehlte ihr der nötige
Wille. Statt tatsächlich europarechtskonform die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur für Neufälle
abzuschaffen, hat die Koalition aus Rücksicht auf die
Stammtische die Sicherungsverwahrung für Altfälle einfach beibehalten. Dass dies bedenklich ist, ist mehrfach
ausgeführt worden.
In der Anhörung und auch hier im Plenum ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass bei Beibehaltung
der Sicherungsverwahrung für Altfälle die nicht unerhebliche Gefahr besteht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Regelung für nicht mit der
Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar
hält. Und tatsächlich haben diejenigen, die eine solche
Vermutung aufgestellt haben, recht behalten. Das Urteil
des EGMR vom 13. Januar 2011 hat nun ausdrücklich
die Unvereinbarkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung mit Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a EMRK festgestellt. Der Art. 5 b Abs. 1 verlangt für eine rechtmäßige
Freiheitsentziehung einen Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung - Schuldfeststellungen durch das
Strafgericht - und der späteren Anordnung der Sicherungsverwahrung - Gefährlichkeitsfeststellungen durch
die Strafvollstreckungskammer. Und genau der fehlt bei
der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung.
Nach einem alten Sprichwort könnte ich mich jetzt
hier hinstellen und sagen: Wer nicht hören kann, muss
fühlen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,
müssen nun fühlen. Sie müssen sich ganz schnell auf ihren Hosenboden setzen und eine europarechtskonforme
Neuregelung schaffen. Das „fühlen“ ist allerdings nicht
so schwierig. Sie können nämlich an diesem Punkt einfach den Gesetzentwurf der Grünen übernehmen und
vermutlich in dieser Frage Einstimmigkeit im Hohen
Zu Protokoll gegebene Reden
Haus erzielen. Sie müssen dazu nur einmal über Ihren
Schatten springen und den Stammtischen Widerspruch
entgegensetzen. Beweisen Sie einmal Mut und zeigen
Sie, dass nicht die Stammtische, sondern das Recht Ihr
Handlungsmaßstab ist.
Wenn Sie das an sich fragwürdige Instrument der Sicherungsverwahrung wenigstens rechtskonform machen
wollen, dann sollten Sie auch einen weiteren Aspekt berücksichtigen. Ein Verstoß gegen die EMRK ist nämlich
auch die rückwirkende Aufhebung der Zehn-JahresHöchstfrist. Und damit Sie Argumentationsmaterial haben, nenne ich Ihnen auch noch den genauen Paragrafen, gegen den die rückwirkende Aufhebung der ZehnJahres-Höchstfrist verstößt. Es handelt sich hierbei um
Art. 5 Abs. 1 Buchstabe a und Art. 7 Abs. 1 EMRK. Auch
für Sie gilt, was jeder Jurastudentin und jedem Jurastudenten von Anfang an beigebracht wird: Ein Blick ins
Gesetz erhöht die Kompetenz. Es ist jedenfalls für die
Linke ein unhaltbarer Zustand und eine Beschädigung
des Rechtsstaates, dass Menschen trotz festgestellten
Verstoßes gegen die EMRK weiterhin in Sicherungsverwahrung bleiben. Deshalb ist es richtig, dass mit dem
vorgelegten Gesetzentwurf gefordert wird, dass auf all
diejenigen Gefangenen, die wegen Taten, über die bis
zum 31. Januar 1998 noch nicht rechtskräftig entschieden worden war, die Rechtslage Anwendung findet, die
bei Begehung ihrer Tat aktuell war. Deshalb fordern wir
die Einhaltung des Rechts und damit, dass all jene, die
bereits länger als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung sitzen, obwohl zur Tatzeit die Höchstdauer auf zehn
Jahre begrenzt war, unverzüglich aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen sind. Besonders wichtig erscheint
uns die Aufhebung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende. Allerdings, liebe Freunde von den Grünen, sind Sie hier ein
wenig inkonsequent. Die Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende an sich gehört abgeschafft, sie ist mit dem System des JGG einfach unvereinbar.
Der Gesetzentwurf der Grünen insgesamt kann aber
nicht unsere Zustimmung finden, wir werden ihn allerdings auch nicht ablehnen. So löblich es ist, das Urteil
des EGMR zum Anlass zu nehmen, das Thema Sicherungsverwahrung erneut aufzugreifen, so sträflich ist es,
die grundlegenden Kritikpunkte am Recht der Sicherungsverwahrung nicht zu thematisieren. Ich will hier
nur kurz die Themen benennen: Therapieunterbringungsgesetz, die durch § 66 b StGB beibehaltene Möglichkeit, die nachträgliche Sicherungsverwahrung für
alldiejenigen anzuordnen, bei denen aufgrund eines
nicht mehr vorliegenden pathologischen Zustandes im
Sinne der §§ 20 und 21 StGB die Unterbringung in einer
psychiatrischen Klinik für erledigt erklärt worden ist,
Beibehaltung der Raub- und Erpressungsdelikte - auch
der gewaltanwendungsfreien -, Betäubungsmittel- sowie Brandstiftungsdelikte als Anlasstaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung.
All dies wird - und darauf haben wir als Linke bereits
mehrfach hingewiesen - dem Institut der Sicherungsverwahrung, wenn man sich überhaupt auf dieses Institut
als „schärfstes Mittel der Kriminalpolitik“ einlässt,
nicht gerecht.
Mithin enthält der Gesetzentwurf der Grünen bloß
eine wegen des jüngsten EGMR-Urteils zwingend erforderliche Minimalkorrektur. Wesentliche Ungerechtigkeiten im Rahmen der Sicherungsverwahrung bleiben aufrechterhalten und eine grundsätzliche Kritik am Institut
der Sicherungsverwahrung - wie potenzielles Weggesperrtsein auf Lebenszeit aufgrund unsicherer Gefahrenprognose, Abkoppelung des Strafrechts vom Schuldprinzip und Hinwendung zum Präventivstrafrecht,
Doppelbestrafungsverbot, Abkehr von Resozialisierungsgedanken und kontraproduktive Wirkungen auf die
Therapie während der Strafhaft - wird vom Gesetzentwurf nicht aufgenommen. Wir glauben, dass es an der
Zeit wäre, die Debatte um das Thema Sicherungsverwahrung noch einmal grundsätzlich aufzumachen. Wir
fordern die Bundesregierung auf, eine Expertenkommission einzurichten und externen Sachverstand einzuholen. Lassen Sie die Fakten sprechen und nicht die
Stammtische. Dann - und da bin ich mir sicher - können
wir das Thema seriös behandeln und lassen uns nicht
von Emotionen treiben. Die Chance wäre mit dem Urteil
des EGMR gegeben. Lassen Sie uns diese Chance nutzen.
Die schuldangemessene Bestrafung von Straftätern,
aber auch der Freiheitsentzug für nach der Verbüßung
weiterhin hochgefährliche Menschen können notwendige Maßnahmen sein, zu denen der Staat als äußerstes
Mittel greifen darf und muss. Diese Einsicht folgt der
unabweisbaren Erfahrung, dass es wenige Menschen
gibt, die wegen einer Krankheit, aus Veranlagung oder
fehlender innerer Hemmung eine so große und gegenwärtige Gefahr für Dritte sind, dass kein anderes Mittel
als die Freiheitsentziehung zur Abwendung dieser Gefahren möglich ist. Der Schutz der Bürgerinnen und
Bürger vor Gewalt und Willkür ist eine staatliche Kernaufgabe, der wir uns zu stellen haben.
Die Sicherungsverwahrung ist aber auch der schwerwiegendste Eingriff in das Freiheitsgrundrecht, der in
einem demokratischen Rechtsstaat möglich ist. In der
Sicherungsverwahrung wird Menschen die Freiheit genommen, weil von ihnen in der Zukunft eine Gefahr für
ihre Mitmenschen ausgeht, der nicht anders als eben nur
durch Freiheitsentziehung begegnet werden kann. Der
Rechtsstaat darf daher nur als absolute Ausnahme und
nur bei Gefahr schwerster zukünftiger Straftaten zum
Mittel der Sicherungsverwahrung greifen.
Seit dem 1. Januar 2011 haben wir neue Regelungen
zur Sicherungsverwahrung. Warum legen wir heute,
nach nur acht Wochen, einen neuen Gesetzentwurf zur
Reform der Sicherungsverwahrung vor? Weil es unabweisbar notwendig ist! Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat Deutschland am 13. Januar 2011
- zum wiederholten Male - wegen eines Verstoßes gegen
die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt.
Der Gerichtshof hat die Regelungen, wonach die Sicherungsverwahrung nicht nur zugleich mit dem Strafurteil,
Zu Protokoll gegebene Reden
sondern noch viele Jahre später zum Ende der Strafhaft
verhängt werden kann, als einen Verstoß gegen Menschenrechte beanstandet.
Die sogenannte nachträgliche Sicherungsverwahrung ist zwar - für die Zukunft - in Teilbereichen und
halbherzig abgeschafft worden. Aber nach dem Urteil
des EGMR muss dringend nachgebessert werden. Denn
das Straßburger Gericht hat recht. Auch nach der neuen
Reform verstößt Deutschland gegen die Menschenrechte. Und ich prophezeie Ihnen weitere Verurteilungen
durch den Gerichtshof, wenn Sie das Gesetz nicht so ändern, dass es zu einer menschenrechtskonformen Reform
der Sicherungsverwahrung kommt.
In der Presse sind Stellungnahmen des Bundesjustizministeriums zu lesen, wonach das Urteil nur die frühere
Rechtslage betreffe, die ja inzwischen durch die Koalition geändert wurde. Das ist falsch. Die Koalition hat
die nachträgliche Sicherungsverwahrung mit der letzten
Reform nicht abgeschafft, sondern nur für die Zukunft
eingeschränkt. Es wurde verbreitet, dass das Urteil letztlich nicht mehr als 20 Personen betreffe. Auch das ist
falsch. Bei Straftaten vor dem 1. Januar 2011 bleibt es
auf Jahrzehnte und für Tausende von Menschen dabei,
dass sie - bei Vorliegen der sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen - in die nachträgliche Sicherungsverwahrung gelangen können. Darin liegt ein tausendfacher
und auf Jahrzehnte fortdauernder Menschenrechtsverstoß. Der vielleicht noch größere Skandal liegt aber darin, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung für
Täter, die nach Jugendrecht verurteilt wurden und auch
in Zukunft werden, uneingeschränkt fortbesteht. Damit
werden junge Straftäter schlechtergestellt als schon Erwachsene.
Um ein für alle Mal mit Verstößen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention Schluss zu machen,
fordern wir mit unserem Gesetzentwurf - wie bereits mit
unserem Änderungsantrag zur Reform - die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur für Neufälle, sondern für alle Fälle abzuschaffen. Zwischen 1974 und
1998 galt eine Zehnjahreshöchstfrist für die Sicherungsverwahrung. Sicherungsverwahrte wurden spätestens
nach zehn Jahren Vollzug der Maßnahme aus dieser entlassen. Eingeführt wurde diese Befristung übrigens aus
dem nach wie vor geltenden Gedanken, dass unter Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes keine Freiheitsentziehung endlos vollstreckt werden darf, und
zwar unter dem SPD-Justizminister Gerhard Jahn.
Die letzte schwarz-gelbe Koalition hat diese Befristung im Januar 1998 aus dem Gesetz gestrichen, ohne
Übergangsbestimmungen und somit rückwirkend auch
für Menschen, die zur Sicherungsverwahrung verurteilt
wurden, als für sie noch die Zehnjahresfrist galt. Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits
im Dezember 2009 festgestellt, dass diese Rückwirkung
dem menschenrechtlichen Verschlechterungsverbot unterfällt, und Deutschland deswegen verurteilt. In neuen
Entscheidungen vom 13. Januar 2011 hat der Menschenrechtsgerichtshof seine Auffassung bekräftigt und
seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht,
dass Deutschland, ein Signatarstaat der Europäischen
Menschenrechtskonvention, die Rechtsprechung des Gerichts offensichtlich ignoriert und missachtet.
Die jetzige schwarz-gelbe Koalition hat diesen fortwährenden Menschenrechtsverstoß durch deutsche
gesetzliche Regelungen nicht beseitigt. Das neue Therapieunterbringungsgesetz schafft neue verfassungsrechtliche
Probleme und für die Länder enorme Umsetzungsprobleme, statt den Menschenrechtsverstoß zu beseitigen.
Das wollen wir ebenfalls grundlegend ändern und sicherstellen, dass es im Recht der Sicherungsverwahrung
keinerlei rückwirkende Verschlechterungen mehr gibt.
Einige hoffen ja, dass sich das Bundesverfassungsgericht, dem gegenwärtig ebenfalls einige Beschwerden in
Sachen Sicherungsverwahrung vorliegen, von der unbequemen menschenrechtlichen Rechtsprechung aus
Straßburg absetzt. Ich sehe das nicht so. Für die Sicherungsverwahrung gilt das, was das Bundesverfassungsgericht bereits zur lebenslangen Freiheitsstrafe gesagt
hat. Der frühere Verfassungsrichter Professor
Dr. Hassemer hat es einmal so formuliert:
Der Mensch muss eine Perspektive haben. Eine
Perspektive von Freiheit.
Das ist eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit,
aber die schwarz-gelbe Koalition weigert sich weiterhin
beharrlich, sie auszusprechen. Genauso weigern Sie
sich, auf Frau Dr. Renate Jaeger, die frühere deutsche
Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu hören, die letzte Woche zur Sicherungsverwahrungsdebatte klar und deutlich gesagt hat: „Auch
Mörder haben Rechte“. Diese richtige Grundhaltung
hat nichts mit angeblichem Täterschutz zu tun, der ernster als der Opferschutz genommen werde.
Wir wollen Opfer und gefährdete Menschen schützen
und haben dazu viele konkrete und umfassende Vorschläge gemacht. Aber Prävention und Strafverfolgung
können nur gelingen und Bestand haben, wenn sie sich
im Rahmen der Grundrechte und Menschenrechte bewegen, die allen Menschen zustehen, auch solchen, die gefehlt haben und von denen möglicherweise Gefahren für
andere ausgehen.
Wir appellieren an Sie, unseren Gesetzentwurf ernsthaft zu beraten und unsere Vorschläge zur menschenrechtlichen Ausrichtung der Regelungen zur Sicherungsverwahrung aufzugreifen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/4593 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Andrej Hunko,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
zu der legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Januar 2011 zu dem
Standpunkt des Rates in erster Lesung im
Hinblick auf die Annahme einer Richtlinie des
Europäischen Parlaments und des Rates über
die Ausübung der Patientenrechte in der
grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
({0})
Ratsdok. 11038/10 und KOM({1}) 0414 endg.
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Art. 23 Abs. 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 Abs. 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
EU-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung fördert gesundheitliche
Ungleichheit
- Drucksache 17/4717 Stephan Stracke ({2}):
Nach fast dreijährigen Verhandlungen hat das Europäische Parlament am 19. Januar 2011 die „Richtlinie
zur Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ angenommen.
Hierbei handelt es sich um einen Kompromiss, den das
Europäische Parlament, die EU-Kommission und der
Rat der EU-Gesundheitsminister ausgehandelt haben.
Dieser Kompromiss stellt auch aus deutscher Sicht eine
ausgewogene Lösung dar. Die Richtlinie gewährleistet
den Rahmen für eine sichere, hochwertige und effiziente
grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in der
Europäischen Union. Sie sorgt für ein höheres Maß an
Rechtssicherheit für die Patienten, die eine grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen wollen. Die Krankenkassen werden grundsätzlich
verpflichtet, die Kosten für Behandlungen im EU-Ausland in der Höhe zu erstatten, wie sie auch im Inland angefallen wären.
Bereits jetzt gibt es Regelungen für Notfallbehandlungen im EU-Ausland. Auch gibt es bereits Regelungen für
Personen, die zwar in einem EU-Mitgliedstaat versichert sind, jedoch in einem anderen Mitgliedstaat leben
und dessen Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen. Dies stellt die Mehrzahl der Fälle der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung dar. Die vorliegende Richtlinie betrifft daher nur die Fälle, in denen
sich Patienten zielgerichtet für eine Behandlung im Ausland entscheiden. Damit ergänzt sie sinnvoll den bestehenden EU-Rechtsrahmen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit.
Ihre Grundlage hat die Richtlinie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die dieser seit
1998 zur Dienstleistungsfreiheit der Patienten entwickelt hat. Er hat seitdem in ständiger Rechtsprechung
das Recht der Patienten anerkannt, für eine Behandlung
im Ausland bei seiner heimischen Krankenversicherung
Kostenerstattung bis zu der Höhe verlangen zu können,
wie für eine vergleichbare Behandlung im Inland angefallen wäre.
Allerdings ergeben sich aus der Richtlinie für
Deutschland in dieser Hinsicht keine grundlegenden
Veränderungen. Denn wir halten uns schon lange an die
Vorgaben der EU-Rechtsprechung und haben diese bereits im Jahr 2004 mit dem GKV-Modernisierungsgesetz
in § 13 Abs. 4 und 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch in
nationales Recht umgesetzt. Die deutschen Versicherten
können daher seit Jahren ambulante Leistungen und
- bei vorheriger Genehmigung - auch Krankenhausbehandlungen im EU-Ausland auf Basis von Kostenerstattung in Anspruch nehmen.
Leider haben viele andere Mitgliedstaaten die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzureichend
oder gar nicht berücksichtigt. Deshalb bestand dringender Handlungsbedarf im Interesse der Patientinnen und
Patienten der Europäischen Union. Denn es ist unzumutbar, den einzelnen Patienten notfalls auf den Klageweg zu verweisen. Gerade für schwer kranke Patienten
stellt dies keine echte Alternative dar. Im Extremfall
könnte der Patient verstorben sein, bevor das Urteil gesprochen wurde. Deshalb war unstreitig, die Ausgestaltung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
nicht länger der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu überlassen. Die Richtlinie stärkt die Rechte
der Patientinnen und Patienten bei der grenzüberschreitenden Versorgung. Das ist aus deutscher Sicht ausdrücklich zu begrüßen.
Hervorzuheben ist, dass die Richtlinie nicht zu einer
Aushöhlung der nationalstaatlichen Kompetenzen im
Gesundheitsbereich geführt hat. In den ersten Entwürfen
wollte die EU-Kommission nämlich hier ihre Kompetenzen ausweiten. Deutschland wollte dies nicht. Die deutsche Gesundheitsversorgung ist eine der besten in der
Welt. Deshalb war es von Anfang an breiter Konsens in
diesem Hohen Haus, dass es hier keiner Vergemeinschaftung bedarf. Der Deutsche Bundestag hat deshalb
seine Kritik in einem Entschließungsantrag vom November 2008 deutlich gemacht und die Bundesregierung gebeten, die autonome Zuständigkeit der Mitgliedstaaten
für ihre Gesundheitssysteme in den Verhandlungen zu
erhalten. Nicht zuletzt hat die christlich-liberale Koalition diesen Standpunkt auch in einem Gespräch des Gesundheitsausschusses mit dem EU-Kommissar für Gesundheit, John Dalli, am 4. Oktober 2010 nochmals
betont. Dabei haben wir herausgestellt, dass die nationale Kompetenz von der Kommission unangetastet bleiben muss. Dies ist uns letztlich auch gelungen. Daher
bedanke ich mich auch an dieser Stelle ausdrücklich bei
unserem Gesundheitsminister Dr. Rösler und seinem Ministerium für das beachtliche Engagement in dieser Hinsicht.
Weitere Forderungen aus dem Entschließungsantrag
wurden ebenfalls durchgesetzt. So werden Leistungen der
Pflegeversicherung rechtsklar aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen und die Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten für die Festlegung von QualitätsStephan Stracke
und Sicherheitsstandards ausdrücklich festgeschrieben.
Außerdem werden die Vorschriften zur Kostenerstattung
strikt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgerichtet. Bürokratische Regelungen sind
zudem auf das sachlich Notwendige beschränkt.
Vorteile und Rechtssicherheit für die Patienten ergeben sich aus den folgenden Regelungen der Richtlinie:
Die Leistungen der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung werden gemäß den Rechtsvorschriften
und den Qualitätsstandards des Staates erbracht, in dem
die Behandlung stattfindet. Der Staat, in dem der Patient
versichert ist, hat diesem auf Anfrage Informationen
über seine Rechte, sich im Ausland behandeln zu lassen,
zur Verfügung zu stellen. Besondere Bedeutung haben
hierfür die nationalen Kontaktstellen, die jeder Mitgliedstaat einrichten muss. Sie sind Anlaufstelle für Patienten und stellen diesen alle wichtigen Informationen
über die Behandlung im Ausland zur Verfügung.
Die Kosten für die Behandlung im ausländischen
Staat werden bis zu der Höhe erstattet, die die Behandlung in dem Staat gekostet hätte, in dem der Patient versichert ist. Es werden jedoch nur Behandlungen bezahlt,
die auch im Heimatstaat im Leistungskatalog der Krankenkassen enthalten sind. Darüber hinausgehende Behandlungen und Kosten muss der Patient selbst bezahlen.
Für bestimmte Behandlungen können die Mitgliedstaaten ein System der Vorabgenehmigungen einführen.
Dies ist ein Schutzinstrument insbesondere zugunsten
der solidarisch finanzierten Krankenversicherungssysteme, da dieses vor allem bei hochspezialisierten und
kostenintensiven medizinischen Behandlungen gilt. Umgekehrt wird auch der Patient geschützt, da eine Genehmigung verweigert werden kann, wenn der Patient einem zu großen Risiko ausgesetzt sein würde.
Ebenso nimmt die Richtlinie auch Rücksicht auf ethische Fragen. So entscheiden die Mitgliedstaaten selbst,
welche Behandlungen sie aus ethischen Gründen nicht
erlauben wollen. Behandlungen, die in dem Heimatstaat
des Versicherten aus ethischen Gründen nicht erlaubt
und damit auch nicht erstattungsfähig sind, müssen von
diesem auch dann nicht erstattet werden, wenn sie im
Ausland vorgenommen werden. Als ein Beispiel ist hier
die Präimplantationsdiagnostik zu nennen.
Ganz praktisch bedeutet dies alles aus Sicht der Patienten:
Für Personen, die auf einer Warteliste stehen, kann
sich die Zeit bis zur Behandlung wesentlich verkürzen.
In Großbritannien gibt es zum Beispiel lange Listen für
Hüftoperationen. Diese können nun durch Behandlungen in Deutschland schneller abgearbeitet werden.
Ebenso können vornehmlich Patienten profitieren, die in
Grenzgebieten wohnen oder die sich aus privaten Gründen, zum Beispiel weil Familienangehörige dort wohnen, in einem anderen Mitgliedstaat behandeln lassen
wollen. Besondere Vorteile ergeben sich auch für Patienten, die beispielsweise wegen einer seltenen Erkrankung einer hochspezialisierten Behandlung bedürfen,
die aber nicht in jedem Land angeboten wird.
Nicht zuletzt bietet die Richtlinie große Chancen für
die deutschen Leistungserbringer. Nach Schätzungen
betrifft das europaweite Volumen an grenzüberschreitender medizinischer Versorgung jährlich rund 10 Milliarden Euro. Da unser Gesundheitssystem international
einen hervorragenden Ruf hat, ist mit einer erhöhten
Nachfrage durch ausländische Patienten zu rechnen.
Diese Entwicklung sollten wir aktiv begleiten. Die Argumente, mit der die Linke ihren vorliegenden Antrag zu
begründen versucht, verfangen allesamt nicht.
Die befürchtete europaweite Zwei-Klassen-Medizin
ist abwegig. Im Gegenteil: Die Richtlinie führt zur Stärkung der Rechte aller Patienten in der grenzüberschreitenden Versorgung, und zwar unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Das sieht auch das Europäische
Parlament so. Denn die Richtlinie soll den Patienten zugutekommen, die die Versorgung benötigen, und nicht
bloß den Patienten, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Genau dieser Zielsetzung wird die
Richtlinie gerecht.
Auch die beschworene Gefahr, dass in ärmeren EUMitgliedstaaten Wohlhabende aus reicheren EU-Mitgliedstaaten bevorzugt behandelt werden, ist absurd.
Hier würde alleine ein Blick in die Richtlinie zur Erkenntnis beitragen. Denn Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie
schreibt ausdrücklich vor, dass alle Patienten mit den
gleichen inländischen Gebührensätzen abzurechnen
sind. Der von der Linken wieder einmal an die Wand gemalte Klassenkampf wird in der Realität nicht stattfinden.
Wenn die Linken davon sprechen, dass es ein „Prinzip
des gleichen Zugangs für alle grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistungen“ gebe, dann wird klar, was mit
dem Antrag eigentlich bezweckt wird, nämlich ein EUweit vereinheitlichtes Gesundheitssystem. Wer wie die
Linke sozialisieren will, der wird die medizinische Versorgung der Menschen in Deutschland nicht verbessern,
sondern deutlich verschlechtern. Denn eine Vereinheitlichung wäre nur deutlich unterhalb des deutschen Standards möglich. Das wird die christlich-liberale Koalition
niemals tun. Wir stehen dazu, dass jeder Mitgliedstaat
für die Gesundheitsversorgung seiner Bürgerinnen und
Bürger selbst verantwortlich bleiben soll. Unser Gesundheitssystem ist spitze und soll auch spitze bleiben. Und
natürlich polemisiert die Linke wieder einmal gegen jede
Art von Wettbewerb. Wer Wettbewerb nicht will, will offenbar Staatsmedizin. Die geschichtliche Erfahrung gerade in Deutschland hat jedoch gezeigt, dass dies nicht
der richtige Weg ist. Wettbewerb stellt auch Qualität im
Gesundheitsbereich sicher. Wer Wettbewerb nicht will, ist
ein Qualitätsrisiko für die Patientinnen und Patienten in
Deutschland. Und genau das ist die linke Opposition.
Zum Schluss bekräftige ich noch einmal: Die Richtlinie gibt den Patientinnen und Patienten ebenso wie den
Leistungserbringern in der Europäischen Union Rechtsklarheit und Rechtssicherheit über die Voraussetzungen
der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Den
Patientinnen und Patienten wird ein individuelles Entscheidungsrecht an die Hand gegeben, ob sie sich im EUAusland behandeln lassen möchten oder nicht. Dieses
Zu Protokoll gegebene Reden
Stephan Stracke
Recht wollen wir und werden wir nicht verweigern. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt daher den Antrag
der Linken ab. Wir werden ihm nicht zustimmen.
Zu später Stunde kommen wir heute aufgrund eines
Antrags der Linken zu einer EU-Vorlage zusammen und
beschäftigen uns mit der europäischen Gesundheitspolitik. Die infrage stehende Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Europäischen Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden
Gesundheitsversorgung hat eine längere Geschichte,
und ich begrüße ausdrücklich, dass wir nun endlich auf
dem Weg sind, Verbesserungen für die Menschen in
Europa zu erreichen. Versicherte müssen den Zugang zu
der gesundheitlichen Versorgung erhalten, egal wo in
Europa sie sich gerade befinden. Dies ist ja auch eine
Forderung des Europäischen Gerichtshofes, die nun
endlich umgesetzt werden muss.
Wir sind uns hier alle einig, dass wir die grenzüberschreitende Patientenmobilität brauchen. Differenzen
gibt es allerdings um die Frage, wie wir diese regeln
wollen. Die unterschiedlichen Vorstellungen über die
Umsetzung waren ja bereits der Grund dafür, dass sich
der Umsetzungsprozess so lange verzögert hat. Die
Richtlinie ist für uns politisch von einiger Bedeutung,
zum einen weil einige von uns Nutznießer dieser Regelung sein werden und andererseits weil unsere europäischen Nachbarn leichter als bisher unsere Kliniken und
Behandlungsmöglichkeiten aufsuchen können.
Die Linksfraktion versucht mit ihrem Antrag den Eindruck zu erwecken, diese Richtlinie öffne Tür und Tor für
eine Verschärfung der Zweiklassenmedizin. Ich verkenne die Gefahr nicht, dass unterschiedliche Preisgefüge innerhalb der EU auch im medizinischen Bereich
dazu führen können, dass Menschen aus reichen Ländern sich Gesundheitsdienstleistungen in Niedrigpreisländern kaufen können und andere Menschen aus ärmeren Ländern sich nicht so frei in Europa bewegen
werden. Das ist bereits jetzt so. Trotzdem kann ich der
pessimistischen Sichtweise der Linken nur bedingt folgen.
Wenn man die Richtlinie liest, wird sehr schnell deutlich, dass das Europäische Parlament und der Europäische Rat auf die jeweiligen Situationen in den jeweiligen
Ländern eingehen mussten und den Ländern keine Vorschriften machen, die den Patienten konkret schlechter
stellen. Denn machen wir uns doch nichts vor: Bereits
jetzt ist es doch so, dass de facto nur Menschen, die über
ein entsprechendes Einkommen verfügen und nicht
durch Sprachbarrieren davon abgehalten werden, ins
Ausland gehen, um sich dort gesundheitliche Dienstleistungen zu kaufen. Die Richtlinie versucht lediglich, diesen Sachstand aufzugreifen und für gewisse Mindeststandards bei der Kostenübernahme und bei den
Vorabgenehmigungen zu erreichen, und lässt den Ländern hier weiterhin freie Hand.
Sie haben ja recht, dass mit der unsozialen schwarzgelben Gesundheitspolitik das Sachleistungsprinzip in
Gefahr ist, aber für die europäische Politik sind die von
Ihnen aufgestellten Prinzipienforderungen und Schlussfolgerungen vollkommen untauglich oder realitätsfern.
Was Sie mit „Bestimmungslandprinzip“ meinen, bleibt
in Bezug auf die Finanzierung nebulös und würde unter
anderem zur Folge haben, dass die gesundheitlichen
Einrichtungen in Deutschland auf Kosten sitzen bleiben
oder die Versichertengemeinschaft die Kosten übernehmen müsste.
Wenn Sie wollen, dass die Versicherten des jeweiligen
Landes, dessen Infrastruktur genutzt wird, die Differenz
bezahlen, müssen Sie das auch so offen sagen! Wenn die
gute Versorgungsstruktur in Deutschland für alle EUBürger gelten soll, aber die deutschen Versicherten die
Differenz zahlen müssen, dann würden die jüngst von
der schwarz-gelben Bundesregierung erhöhten Krankenversicherungsbeiträge in Deutschland weiter steigen. Dann sagen Sie das bitte auch direkt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit kleinem Einkommen
sowie den Rentnerinnen und Rentner, die ja, wenn es
nach Schwarz-Gelb geht, die zukünftig steigenden Kosten übernehmen sollen. Oder alternativ wird eben im
Gesundheitssystem an Leistungen oder auch Löhnen von
zum Beispiel Krankenhauspersonal gespart, um die zusätzlichen Kosten zu stemmen. Sie machen es sich zu
leicht, wenn Sie sich mit den finanziellen Folgen Ihrer
Forderungen nicht beschäftigen.
Auch die Frage, inwiefern mit Ihren Forderungen ein
Gesundheitstourismus und damit vielleicht auch eine
Überforderung der Gesundheitssysteme der EU-Länder
mit hoher medizinischer Versorgungsqualität verbunden
ist oder der Kurtourismus ins Ausland zulasten der GKV
und hiesiger Einrichtungen geht, blenden Sie aus. Zu all
dem sagen sie nichts. Es ist notwendig, die Patientenmobilität in Europa auszubauen. Es ist aber auch notwendig, hierbei sicherzustellen, dass keine finanzielle Überforderung der jeweiligen Gesundheitssysteme erfolgt
und keine ungelenkten Versichertenströme entstehen, die
zu Engpässen in manchen Ländern führen werden. Sie
denken nicht zu Ende, aber wir kennen es nicht anders
bei der Linksfraktion.
Transparenz, Bürgernähe und Rechtsicherheit: Keiner wird an diesen Begriffen und den sie füllenden Eigenschaften etwas kritisieren können. Es sind die Ziele
der EU-Kommission, welche sie mit ihrer Richtlinie zur
Patientenmobilität verfolgt. Künftig können Gesundheitsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in
Anspruch genommen werden, ohne dass die eigene
Krankenkasse vorher um Erlaubnis gefragt werden
muss. Der EU-Bürger ist frei, zu reisen, und er solle es
auch dann sein, wenn es darum geht, sich im europäischen Ausland ambulant behandeln zu lassen. Die Menschen in der EU können das zentrale Recht auf Freizügigkeit nun auch in der Gesundheitsversorgung
einfacher in Anspruch nehmen. Klare Regeln schenken
den Bürgerinnen und Bürgern mehr Freiheit und stärken
den wichtigen Wert der Freizügigkeit. Transparenz, Bürgernähe, Rechtsicherheit und eben Freiheit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Doch wenn ich eingangs - natürlich rhetorisch - die
Vermutung geäußert habe, dass diesen Zielen niemand
etwas entgegenzusetzen haben kann, dann habe ich die
Rechnung ohne die Linke gemacht. Denn wir beraten
heute den Antrag dieser Fraktion, dass die Bundesregierung der genannten Richtlinie im Rat nicht zustimmen
solle. Leider zeigt sich mit diesem Antrag wieder einmal,
dass die Linke Freiheit als Ungleichheit begreift. Es
wird leider wieder einmal deutlich, dass die Linke Freizügigkeit als Gefahr verkennt.
Das mag auf den ersten Eindruck vielleicht nicht verwunderlich sein. Ist doch die Linke in weiten Teilen die
Nachfolgerin jener Staatspartei, die alle gleichmachen
wollte und der Masse Freiheit vorenthielt. Freizügigkeit
war schließlich eine Gefahr, und in der Doktrin der SED
mussten die eigenen Bürger ja auch durch die Mauer geschützt werden. Zum Glück ist die Zeit des Stacheldrahts
auf deutschem Boden vorbei. Zum Glück sterben keine
Menschen mehr aus politischen Gründen, nur weil sie
von einem Ort an einen anderen möchten. Die Wende hat
den Menschen schließlich diese neuen Freiheiten geschenkt, sie hat sie dabei doch nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern ganz Europa mit eingeschlossen. Und so ist das größte Glück für die Europäer heute
Freiheit. Davon machen die Bürgerinnen und Bürger
Gebrauch, sie bewegen sich zu Recht frei innerhalb der
EU.
Doch die Menschen werden eben auch leicht zu Patienten - in der Heimat, wie im Ausland. Dann ist es wichtig, dass sie unbürokratisch und direkt die nötige medizinische Hilfe bekommen und einen Arzt ihrer Wahl
aufsuchen können - hier, wie in anderen Staaten der EU.
Im Notfall ist dies ja schon heute möglich; Reisende sind
hier schon länger über ihre Europäische Krankenversicherungskarte geschützt.
Mit der Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung wird nun eine Lücke geschlossen, um medizinische
Versorgung nicht ausschließlich in Notfällen zu ermöglichen, ohne dass die Krankenkasse dies genehmigen
müsste. Die Linke wittert nun aber bei mehr Freiheitsrechten Gefahr. Wenn man sich aber die Begründung ansieht, wird hier wahrscheinlich eher ein historischer Reflex bedient: Da taucht im Antrag wieder das Mantra
einer Zwei-Klassen-Medizin auf, die dadurch drohe. Ja,
Sie haben richtig gehört: Mehr Freiheitsrechte führen zu
einer Zwei-Klassen-Medizin, sagen die Linken. Das Argument lautet, dass nur Menschen, die über ein ausreichendes Einkommen verfügten, von der Richtlinie profitieren würden. Gut, es ist natürlich klar, dass all jene,
die sich irgendwo innerhalb der EU behandeln lassen
wollen, auch zunächst dorthin reisen müssen. Klar, das
kostet auch Geld. Doch wer wird denn extra Geld für
eine Reise als Patient drauflegen, um beispielsweise in
Rumänien eine Wurzelbehandlung durchführen zu lassen, welche die Leistungen nicht übersteigen darf, die
auch die heimische Krankenkasse übernimmt? Es wird
auch mit dieser Richtlinie nur das von den Kassen erstattet, was im Heimatland erstattungsfähig ist. Nicht
mehr und nicht weniger. Hier geht es um die ambulante
Versorgung im EU-Ausland und nicht um besondere
Herzoperationsangebote für Reiche in Luxuskliniken
von Bahrein und Co. Nochmals: Wer gesetzlich versichert ist, bekommt die Kosten für die gleichen Arzttermine nun auch in anderen EU-Ländern erstattet. Insofern wird kein Bürger, der nach Paris zum Arzt geht,
besser dastehen, als einer, der nach Magdeburg geht mit der Ausnahme, dass er sich natürlich nach Genesung noch den Eiffelturm ansehen kann.
Umgekehrt haben wir in Deutschland ein Gesundheitssystem, um das uns andere Länder beneiden. Die
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst eine sehr gute medizinische Versorgung, die höher
liegt als in den meisten EU-Mitgliedstaaten. Wir verfügen hier über hochqualifizierte Ärzte, wir müssen nicht
zwingend unser Land für einen Arzttermin verlassen.
Aber wir können es künftig tun. Davon werden die Menschen profitieren - im Urlaub, wie aber auch all jene,
die im Grenzgebiet zu anderen Staaten wohnen. Deren
Auswahl wird steigen, deren Aussichten, einen Termin zu
erhalten, vielleicht sogar wachsen.
Diese Richtlinie eröffnet zunächst mehr Chancen,
aber sie verringert doch keine. Eine Zwei-Klassen-Medizin ist ausgeschlossen, da der Umfang der ambulanten
Leistungen durch diese Richtlinie nicht über jene im
Heimatland hinausgeht. Würde man die Linken-Argumentation übernehmen, dann sind generell Reisen ungerecht, da sich einige mehr leisten können als andere.
Dann ist der Geburtsort eine soziale Frechheit, da in einem Dorf vielleicht ein Bäcker ist und im anderen nicht.
Im Übrigen hat die Mauer, die ja auch einige von den
Linken direkt oder indirekt verteidigt haben, nicht zu einer klassenlosen Gesellschaft geführt.
Aber aus vergangenen Diskussionen wissen wir ja
leidvoll, dass die Linken zur Vereinfachung neigen.
Doch die Tage der Spruchbänder sind zum Glück gezählt. Denn, meine Damen und Herren von der Linksfraktion: Unsere Welt ist komplexer, als Sie denken. Gute
Politik erfordert Differenzierung. Sachverhalte müssen
erkannt und richtig eingeordnet werden. Das gelingt Ihnen mit diesem Argument nicht.
Weiter: Menschen werden auf hohen Kosten sitzen
bleiben, schreiben Sie. Dies ergebe sich dadurch, dass
sich Patienten nicht vorab ambulante Leistungen genehmigen lassen müssen. Auch hier verweise ich gern wieder auf den Anfang meines Beitrags. Da war von Rechtssicherheit die Rede, da die Bürgerinnen und Bürger das
erstattet bekommen, was auch im Heimatland Kassenleistung ist. Da bleibt man nicht auf den Kosten sitzen.
Natürlich ist es sinnvoll, sich vorher zu informieren, was
Kassenleistung ist. Gut, aber wir müssen ja hier nicht
über wesentliche Grundzüge gesellschaftlichen Zusammenlebens diskutieren. Oder ist es etwa so, Kolleginnen
und Kollegen von der Linken, dass Sie in einem Restaurant erst einmal fröhlich die gesamte Speisekarte rauf
und runter essen und dann nach den Preisen fragen? Ist
es etwa so, dass Sie einen Mietvertrag unterzeichnen
und dann nach den monatlichen Kosten fragen? Sich informieren ist ein wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens. Ich kann jedem nur empfehlen, immer
Zu Protokoll gegebene Reden
Dinge zu hinterfragen - erst recht bei diesen Argumenten der Linken zu dem Thema.
Die Richtlinie, welche die Patientenrechte stärkt, ihre
Mobilität leichter ermöglicht, lässt Europa mehr und
stärker zusammenwachsen. Was Adenauer und Monet
begonnen haben, was Genscher und Horn weitergeführt
haben, ist die europäische Einheit. Wir sind froh, nicht
mehr durch Kriege und Mauern getrennt zu sein. Wir
wollen dieses Europa der Menschen und Freiheiten. Wir
wollen Rechtsicherheit für die Menschen - auch und gerade, wenn sie als Patienten Gast in unserer Heimat
sind. Diese Richtlinie leistet so einen wichtigen Beitrag
und ist ein Geschenk für die Freiheit aller Europäer. Das
ist wahrer Internationalismus, den die Linke verkennt,
den die Linke schlechtredet. Wir wollen keine neuen
Mauern aufbauen. Wir wollen den Menschen Chancen
geben und unterstützen ganz klar die Richtline über die
Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Die Kolleginnen und
Kollegen der Linken sollten wenigstens heute die
Chance wahrnehmen und helfen, endlich einmal Mauern einzureißen. Dieser Antrag ist leider ein Beispiel
großer ideologischer Scheuklappen, der an der Wirklichkeit weit vorbeigeht. Diesen Antrag lehnen wir ab,
da wir die Freiheit wollen!
Eine übergroße Mehrheit von etwa 80 Prozent der Bevölkerung will, dass bei der Gesundheitsversorgung Reiche solidarisch mit Armen sind. Die Qualität der Gesundheitsversorgung soll nicht vom Geldbeutel
abhängen. Das will die Bevölkerung, das will die Linke
und das wollen, zumindest verbal, auch alle anderen im
Deutschen Bundestag vertretenen Parteien.
Doch genau das Gegenteil möchte die Bundesregierung nun im Europäischen Rat beschließen. Diese Einschätzung will ich Ihnen gerne begründen: „EU-Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der
grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ - um
diese Richtlinie geht es im Rat; klingt bürokratisch bis
nett. Schließlich hat niemand etwas gegen Patientenrechte, und auch die Linke will, dass eine Gesundheitsversorgung in anderen EU-Staaten stattfindet - zum
Nutzen der Patientinnen und Patienten. Das ist aber
auch jetzt schon möglich. Nach der geplanten Richtlinie
sollen in der EU Versicherte das Recht haben, sich in anderen Staaten gegen Vorkasse versorgen zu lassen, und
die Krankenversicherung zu Hause zahlt dem Versicherten das zurück, was sie auch im Herkunftsland erstattet
hätte. Das ist eine höchst problematische Regelung.
Denn wer profitiert davon? Es profitieren fast ausschließlich Versicherte in wohlhabenden EU-Ländern;
die Menschen in den armen Ländern Europas gehen leer
aus. Beispiel Rumänien: Bei den niedrigen Erstattungssätzen, die dort existieren, wird kaum ein Rumäne zukünftig eine Behandlung in Deutschland attraktiv finden. Umgekehrt aber könnten viele Deutsche sich in
Osteuropa behandeln lassen, weil die Kostenerstattung
der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung dort
eine Luxusbehandlung ermöglicht. Die osteuropäischen
Patienten haben das Nachsehen, weil die dort ansässigen Ärzte und Zahnärzte zunehmend Versicherte aus den
westeuropäischen Ländern behandeln und für die einheimische Bevölkerung nicht mehr oder nur gegen Aufpreis zur Verfügung stehen. So wird in den ärmeren Ländern die Versorgung gestört. Umgekehrt können die
Menschen aus den ärmeren Ländern jedoch auch nicht
die Ärzte in Westeuropa in Anspruch nehmen, weil dafür
das Geld fehlt. Wie war das? Die Starken stehen für die
Schwachen ein? Genau das Gegenteil passiert mit dieser Richtlinie.
Auch innerhalb eines Mitgliedstaates das gleiche
Bild: Nur die Wohlhabenden profitieren von dieser Regelung. Nur Menschen mit ausreichendem Vermögen
oder Einkommen können es sich leisten, die Fahrt,
Übernachtung und die Behandlung im Ausland samt Beratung vorzufinanzieren. Nur diejenigen mit dem nötigen Know-how wissen überhaupt von diesen Möglichkeiten. Nur wer über ausreichende Sprachkenntnisse
verfügt und obendrein noch gesund genug ist, um zu seiner Behandlung zu fahren, wird diese neuen Möglichkeiten nutzen können. Und wer aus einem armen Mitgliedsstaat kommt, der kaum etwas erstattet, muss dafür umso
reicher sein. Ein kranker Geringverdiener aus Deutschland oder ein Hartz-IV-Betroffener wird nicht die billige
Zahnbehandlung am Balaton mitsamt Urlaub vorfinanzieren können. Das Nachsehen haben die akut Kranken
und die Armen. Solidarität der Starken mit den Schwachen? Die steht hier noch nicht einmal auf dem Papier.
Weshalb aber wird dieses Projekt der Gesundheitsrichtlinie, die aus der Bolkestein-Richtlinie erwachsen
ist, dann so von der Mehrheit des Europäischen Parlaments der Kommission und auch der europäischen Regierungen gefördert? „It’s the economy, stupid!“ könnte
man darauf antworten. Nach dem festen Willen der vorherrschenden marktliberalen Kräfte in der EU und ihrer
Mitgliedstaaten soll die Gesundheitsversorgung vermarktlicht werden. Die „Gesundheitswirtschaft“, das
liebste Kind nicht zuletzt auch unseres Gesundheitsministers, soll gefördert werden. Herr Rösler hält zum Beispiel die deutschen Krankenhäuser für sehr gut aufgestellt in dem sich abzeichnenden Wettbewerb und
begrüßt daher die neue Freiheit des Gesundheitsmarktes.
Diese Richtlinie will den liberalisierten Gesundheitsmarkt. Falls sich diese Ideologie durchsetzt, dann haben
diejenigen Krankenhäuser und Ärzte gute Chancen auf
dem Gesundheitsmarkt, die sich möglichst nicht an den
Kranken, sondern am Geld orientieren. Die Linke will
keine gewinnsüchtigen Gesundheitsdienstleister im
Wettbewerb um die europaweit lukrativsten Patientinnen
und Patienten, sondern eine gute medizinische Versorgung von allen Menschen in Europa unabhängig von
Einkommen und Vermögen. Die Richtlinie, wie sie vorliegt, schafft also eine Menge Probleme und ist unsozial.
Sie ist aber auch unnötig: Alle Fragen der Übernahme
von Behandlungskosten in der EU-weiten Patientenmobilität können und sollten im Rahmen der bestehenden
EU-Verordnung zur Koordinierung der Sozialschutzsysteme gelöst werden. Hier gelten das Bestimmungslandund das Sachleistungsprinzip. Patientinnen und Patienten aus dem EU-Ausland werden nach den gleichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Leistungs- und Qualitätsstandards behandelt wie inländische, ohne in Vorkasse gehen zu müssen. Die Abrechnung erfolgt zwischen den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten. Die Linke begrüßt die europäische
Integration. Wir wollen sie in Richtung einer europäischen Sozialunion befördern und setzen uns für ein demokratisches, soziales, ökologisches und friedliches Europa mit guten Lebenschancen für alle ein. Wir wollen,
dass alle in Europa lebenden Menschen eine Gesundheitsversorgung auf dem Stand der Wissenschaft erhalten. Wir wollen nicht, dass der Füllstand des Portemonnaies den Ausschlag dafür gibt, welche Versorgung man
bekommt. Deshalb fordern wir die Bundesregierung mit
dem vorliegenden Antrag auf, die Gesundheitsrichtlinie
im Europäischen Rat abzulehnen. Das wäre ein Signal
gegen den Markt und für die Patientinnen und Patienten.
Der Antrag der Linken spricht eine wichtige Frage
an, schießt dabei aber über das Ziel hinaus. In der Tat
kann man das Verhalten der schwarz-gelben Bundesregierung in den abschließenden Verhandlungen zur EUPatientenrichtlinie kritisieren. Wie so oft hat sie nicht
nach der Lösung gesucht, die für die Patienten am besten ist, sondern nach der, die die Interessen bestimmter
Berufsgruppen oder Branchen bedient. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass sich ein FDP-geführtes Gesundheitsministerium ernsthaft gegen das Prinzip der Kostenerstattung gewehrt hat. Im Gegenteil: Der Vorschlag
kam Ihnen wahrscheinlich ganz gelegen.
Und die Union hat dies leider auch nicht getan. Wir
hätten es begrüßt, wenn sie zumindest die Idee ihres
Unionskollegen Dr. Peter Liese aus dem Europäischen
Parlament aufgegriffen hätten. Er hatte vorgeschlagen,
dass Krankenkassen planbare Behandlungen im Ausland, für die sie eine Vorabgenehmigung erteilen müssen, über ein Gutscheinsystem direkt mit den Leistungserbringern abrechnen. Damit hätte man zumindest bei
sehr aufwendigen und entsprechend teuren Behandlungen verhindern können, dass Patienten in Vorleistung
gehen müssen. Die Bundesregierung hat bislang noch
nicht klar gesagt, warum sie diesen Vorschlag abgelehnt
hat. Natürlich kann man immer argumentieren: Wir wollen ja gar nicht, dass Patienten abwandern. Wir wollen
auch im Interesse der grenznahen strukturschwachen
Regionen die Patientinnen und Patienten möglichst im
Land halten, damit dort die Versorgungsstrukturen nicht
noch mehr ausgedünnt werden. Das ist auch grundsätzlich nachvollziehbar. Nur gehe ich angesichts Ihrer zögerlichen Herangehensweise bei der Verbesserung der
Versorgungsstrukturen im Inland kaum davon aus, dass
dieser Aspekt für Sie handlungsleitend war.
Eine Befragung von Patienten durch die Techniker
Krankenkasse hat ergeben, dass es in erster Linie Rentner und Personen mit kleinen Einkommen sind, die eine
Behandlung im EU-Ausland in Anspruch nehmen - und
dies oft, um auf diese Weise Zuzahlungen und andere
privat zu tragende Kosten zu vermeiden. Diese Menschen können oft keine hohen Vorauszahlungen leisten.
Gerade diese Menschen könnten zukünftig von ihren
Krankenkassen unter Druck gesetzt werden, sich bei
aufwendigen Therapien in Nachbarländern behandeln
zu lassen. Denn auch Krankenkassen haben mitunter ein
Interesse daran, auf diesem Wege Geld zu sparen. Ich
hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung diese
Gefahr in der Debatte angesprochen und entsprechende
Schutzmechanismen eingezogen hätte, damit eine Auslandsbehandlung wirklich immer einer autonomen Entscheidung des Patienten entspringt.
Das geringe Interesse der Bundesregierung an den
Bedürfnissen der Patienten sieht man auch bei einem
anderen Punkt: Wer sich im EU-Ausland behandeln lassen will, wird hierzulande weiterhin kaum Möglichkeiten
haben, sich über diese Behandlung genauer zu informieren. Die nach der Richtlinie einzurichtende nationale
Kontaktstelle soll auch nach Ihrem Willen nur Informationen über Versorgungsangebote im Inland bereitstellen. Wer eine Beratung über Behandlungsmöglichkeiten,
Qualitätsstandards oder rechtliche Fragen wie etwa
Schadensersatzansprüche in einem anderen Mitgliedstaat sucht, bleibt weiterhin auf die dortigen Kontaktstellen verwiesen. Diese Kontaktstellen sind allerdings
nur verpflichtet, Informationen in ihrer jeweiligen Landessprache zur Verfügung zu stellen. Ein zusätzliches Informationsangebot, beispielsweise in Englisch, wurde
durch den Rat abgelehnt. Daher wird absehbar sein,
dass eine umfassende Aufklärung von Patienten vor Antritt oder im Nachgang einer Behandlung kaum gewährleistet ist.
Genauso wenig Unterstützung erhalten gesetzlich
versicherte Patientinnen und Patienten, wenn sie wissen
wollen, bis zu welchem Betrag ihnen die Behandlungskosten von ihrer Krankenversicherung erstattet werden
und ob sie gegebenenfalls einen Anteil privat zu tragen
haben. Auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion konnte
die Bundesregierung nicht sagen, wie diese Information
zukünftig sichergestellt werden soll.
Es gibt also weitere drängende Fragen, die wir im
Zusammenhang mit der Richtlinie diskutieren sollten.
Der Antrag der Linken scheint mir da eher wie ein
Schuss ins Blaue zu sein. Wir wissen nicht, wie sich die
Gesundheitsversorgung in den kommenden Jahren in
Europa entwickeln wird. Ich gehe nicht davon aus, dass,
wie die Linke behauptet, die Richtlinie dazu führt, dass
sich die Gesundheitsversorgung in einigen EU-Staaten
dadurch verschlechtern wird, dass vorrangig ausländische Patienten behandelt werden. Aber die Gefahr eines
Türöffners für ökonomische Erwägungen, hinter denen
die Interessen der Patienten zurückstehen müssen, besteht.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4717. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die
Linke, Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und
Ablehnung durch die anderen Fraktionen abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothea Steiner, Stephan Kühn, Undine Kurth ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elberaum entwickeln - Nachhaltig, zukunftsfähig und naturverträglich
- Drucksache 17/4554 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Flüsse sind Lebensadern für Kultur, Wirtschaft und
Natur. Sie müssen deshalb viele Funktionen gleichzeitig
erfüllen. Als Wasserstraßen ermöglichen sie den effizienten und umweltfreundlichen Transport von Massengütern. Naturbelassene Flusslandschaften wie das
Elbsandsteingebirge, Kulturlandschaften wie das Weltkulturerbe Wörlitzer Gartenreich oder Kunst- und Kulturmetropolen wie Dresden locken Tausende von Touristen an und schaffen gerade in wirtschaftsschwachen
Regionen Arbeitsplätze im Gastgewerbe und Tourismus.
Zugleich gehören Flüsse und naturnahe Auen zu den artenreichsten Naturräumen in unserer Heimat.
Als Koalition bekennen wir uns ausdrücklich zur Natürlichkeit der Flüsse und Flusslandschaften, nicht nur
auf Bundesebene, sondern auch in den Bundesländern,
in denen wir Verantwortung tragen. Ich möchte Ihnen
das an zwei Beispielen belegen: erstens am Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP im Bund. Hier
heißt es: „Frei fließende Flüsse haben einen hohen ökologischen Wert. Die Durchgängigkeit der Flüsse für
wandernde Fische muss wiederhergestellt werden. Für
den Natur- und Hochwasserschutz sollen natürliche
Auen reaktiviert und Flusstäler, wo immer möglich, renaturiert werden.“ Zweitens. Im Koalitionsvertrag zwischen der sächsischen CDU und der FDP ist folgende
eindeutige Formulierung enthalten: „Wir bekennen uns
zur Bewahrung der Natürlichkeit der Elbe. Wir wollen
keinen Ausbau der Elbe beispielsweise mit Staustufen“.
Eine zukunftsfähige nachhaltige Entwicklung der großen deutschen Flusslandschaften - nicht nur an der
Elbe, sondern auch an Donau und Rhein - setzt voraus,
dass eine tragfähige Balance zwischen wirtschaftlichen,
sozialen und ökologischen Werten und Interessen geschaffen wird. An der Elbe stehen wir vor einer besonderen Herausforderung. Unser Nachbarland Tschechien
plant in Decin kurz hinter der deutschen Grenze den
Ausbau der Elbe mit einer Staustufe, die uns große Sorge
bereitet. Am 28. Februar läuft die Einspruchsfrist beim
tschechischen Umweltministerium ab. Der sächsische
Staatsminister Frank Kupfer, CDU, wird fristgerecht
eine Stellungnahme übergeben. Der Inhalt der Stellungnahme wird Gegenstand einer Pressekonferenz von
Staatsminister Kupfer am 1. März 2011 sein. Dieser Stellungnahme möchte ich an dieser Stelle nicht vorgreifen.
Unabhängig davon setzt der Freistaat Sachsen gemeinsam mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf die Aufnahme von bilateralen Konsultationen mit Tschechien.
Nach meinem aktuellen Kenntnisstand kann anhand
der vorgelegten Umweltverträglichkeitsprüfungsunterlagen für die tschechische Staustufe nicht zweifelsfrei
belegt werden, dass im Falle der Realisierung des Projektes die Ziele der europäischen Wasserrahmenrichtlinie für die Elbe auf deutschem Gebiet erreicht werden
können. Dies betrifft insbesondere den „guten Zustand“
nach der Wasserrahmenrichtlinie. Obwohl die einzelnen
Elemente des ökologischen und chemischen Gewässerzustands in den vorliegenden Unterlagen betrachtet
wurden, wurde von tschechischer Seite zu den Zielsetzungen der Wasserrahmenrichtlinie nicht explizit Stellung genommen. Die Vereinbarkeit der geplanten Maßnahmen mit den Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie
ist eine wesentliche Zulassungsvoraussetzung. Ohne die
Einbeziehung deutscher Natura-2000-Gebiete entsprechend dem europarechtlichen Verfahren gemäß Art. 6
FFH-Richtlinie ist von der Möglichkeit von Beeinträchtigungen dieser Gebiete und somit dem mangelnden
Nachweis der europarechtlichen Zulässigkeit dieses
Vorhabens auszugehen.
Neben den wasserwirtschaftlichen bestehen erhebliche naturschutzfachliche Bedenken gegen die Staustufe
bei Decin: Es ist zum Beispiel von der Gefährdung der
geschützten Fischotterpopulationen auf sächsischer
Seite auszugehen. Neben der fehlenden Durchgängigkeit
für Wanderfische und dem Verlust natürlicher Laichund Aufwuchshabitate schafft eine Staustufe in Tschechien ein zweites ganz wesentliches Problem für die
Elbe auf der deutschen Seite: Die Notwendigkeit der Geschiebebewirtschaftung. Durch die Staustufe wird der
natürliche Transport von Schutt und Geröll auf der
Flusssohle unterbrochen. Dieses fehlende Geschiebe
führt zur weiteren Eintiefung der Elbe mit allen bekannten negativen Folgen für die Grundwasserhaltung und
die Landwirtschaft. Hintergrund für den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen ist die Ablehnung der Staustufe
in Decin.
Als Mitglied der Parlamentarischen Gruppe Frei fließende Flüsse befürworte ich eine ganze Reihe von Positionen aus dem Antrag. Es ist sinnvoll, der Elbe durch
die Förderung von Ufer- und Auenrenaturierung, Flutrinnen- und Altarmanbindung mehr Raum zu geben. Solche Maßnahmen schaffen einen wertvollen Beitrag zum
Schutz der biologischen Vielfalt, denn Auen gehören zu
den gefährdetsten Naturräumen.
Deichrückverlegungen schaffen mehr Raum für die
dynamische Entwicklung des Flusslaufes und sind der
beste natürliche Hochwasserschutz. Ich unterstütze ausdrücklich die Förderung einer flussangepassten Binnenschifffahrt. Die Entwicklung hin zur Containerschifffahrt benötigt weit geringere Ausbautiefen als bisher.
Auf Staustufen kann verzichtet werden.
Einige der Forderungen aus dem Antrag halte ich im
Sinne einer Balance zwischen Wirtschaft, Ökologie und
sozialen Aspekten nicht für konsensfähig. Auch eine
flussangepasste Binnenschifffahrt braucht Unterhaltsmaßnahmen am Fluss. Sollte die Staustufe in Tschechien
realisiert werden, wird man an zusätzlichen flussbaulichen Unterhaltsmaßnahmen und einer Geschiebebewirtschaftung kaum vorbeikommen. Ich sehe keine akute
Gefahr für den Lebensraum Elbe und halte es nicht für
erforderlich, die grundsätzliche Einstellung des Bundes
zu verändern. Insgesamt sind wir an der Elbe im Vergleich zu den anderen großen Flussgebieten in Deutschland wie Rhein und Donau im Bezug auf nachhaltige
Entwicklung auf einem sehr guten Weg.
Wenn der vorliegende Antrag einen Zweck haben soll,
dann kann es nur Wahlpropaganda im Vorfeld der Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt sein. Er konstruiert einen
künstlichen Gegensatz zwischen Schifffahrt und Naturschutz, der so in der Praxis nicht existiert. Dazu bedient
er sich leider falscher Unterstellungen und unrichtiger
Behauptungen, und gerade das hat die Elbe nicht verdient.
Schon der erste Satz des Antrages ist nachweislich
falsch. Es wird behauptet:
Die Ober- und Mittelelbe bis Geesthacht ist für einen verlässlichen Gütertransport nach Fahrplan
nicht geeignet.
Nur ein Blick ins Internet hätte zum Beweis des Gegenteils gereicht. Am 1. März 1995 startete die erste regelmäßige Elbe-Container-Linie als Kooperationsprojekt der Elbehäfen Magdeburg, Aken, Riesa, Dresden,
Decin und Usti. Wir feierten deren 15-jähriges Bestehen
und konnten in der vorigen Woche erfreut feststellen,
dass die Linie zwischen Hamburg und Riesa nicht mehr
nur zweimal, sondern dreimal in der Woche, also mit
drei Berg- und drei Talfahrten, verkehrt. Wenn Sie dann
eine flexible Transportkette im Elberaum fordern, haben
sie verpennt, dass es die mit „Albatros“ längst gibt.
Dann behaupten Sie:
Alle bisherigen Versuche, eine ganzjährige Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter … zu garantieren, sind
gescheitert.
Wenn Ihr glorreicher Umweltminister Trittin nach
dem Hochwasser 2002 an der Elbe nicht die Weiterführung der Unterhaltungsarbeiten gestoppt hätte und sogar die Beseitigung der Hochwasserschäden an den
Flussbauwerken verboten hätte, wäre es wohl möglich,
den Unterhaltungsstand so zu verbessern, dass solche
Schadstrecken wie bei Coswig, Anhalt, ohne Behinderung passiert werden könnten. Doch auch ohne Abschluss dieser Unterhaltungsmaßnahmen war im Jahr
2010 nur an 21 Tagen die Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter unterschritten. Wenn Sie sich der Mühe unterziehen
würden, einmal nachzurechnen: Das Unterhaltungsziel
von 1,60 Meter Fahrrinnentiefe an 345 Tagen war damit
so gut wie erreicht. Im Gegenteil, auf der Strecke Hamburg-Dresden war in der Hälfte des Jahres eine Fahrrinnentiefe von mehr als 2,50 Meter vorhanden.
Wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem kanalartigem Ausbau mit einer Kette von Staustufen sprechen,
so ist das die bewusste Unwahrheit, die Sie seit 1990 wie
eine Monstranz vor sich hertragen. Im Sommer 1991
war ich gemeinsam mit dem letzten Verkehrsminister der
DDR und späteren Bundestagskollegen Horst Gibtner in
der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost. Bereits zu
diesem Zeitpunkt war klar, dass auf dem deutschen Elbabschnitt keine einzige Staustufe gebaut würde und die
schon damals angepeilte Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter sich mit der Rekonstruktion der vorhandenen, aber
teilweise stark schadhaften Flussbauwerke erreichen
lassen würde. Ausbau, Kanalisierung, Staustufen, das
sind alles Gespenster, mit denen Sie friedliche Bürger
schrecken und für sich mobilisieren wollen. Diesen Unsinn lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Sie behaupten, dass mit fortschreitendem Klimawandel die Pegelstände keinen wirtschaftlichen Güterverkehr zulassen. Die Niederschläge des Jahres 2010 haben das Grundwasser gerade auch in der Elbregion so
ansteigen lassen, dass das Landesamt für Hochwasserschutz des Landes Sachsen-Anhalt damit rechnet, dass
wir noch bis zum Jahr 2013 mit dem Abfluss dieses
Grundwassers zu tun haben werden. Wir werden allein
durch die Niederschläge des Jahres 2010 noch in den
nächsten Jahren höhere Wasserstände als normal und
dadurch bessere Schifffahrtsbedingungen haben. Außerdem ist für die Wirtschaftlichkeit der Schifffahrt längst
nicht mehr die Tonnage und damit die Abladetiefe das
Entscheidende. Sehen Sie sich die Transporte im Hafen
Aken an! Der Maschinenbaustandort Erfurt ist von Aken
abhängig, weil er dort große sperrige Anlagenteile verladen und sicher nach Hamburg zum Überseehafen
transportieren kann. ENERCON in Magdeburg verlädt
die Rotorblätter großer Windkraftanlagen für den Export längst auf das Binnenschiff. Die Containerumschlagszahlen haben sich vom Jahr 2009 auf das Jahr
2010 in Torgau/Riesa/Dresden um 35 Prozent und in
Roßlau/Aken um 54 Prozent gesteigert. Vielleicht registrieren Sie auch: Im Winter 2010/2011 war die Elbschifffahrt eindeutig zuverlässiger als die Bahn, und die Elbe
war schiffbar, als auf den Kanälen schon längst nichts
mehr lief. Die eingesetzten flachgehenden Schubeinheiten haben auch andere Tauchtiefen.
Sie fordern flachgehende Schiffstypen für den Gütertransport. Die ehemalige grüne sachsen-anhaltische
Umweltministerin Heidecke hatte als Korrespondenz zur
Weltausstellung in Hannover viel Geld ausgegeben für
die Entwicklung eines flach gehenden Elbschiffes. Doch
kaum war der Medienrummel um die EXPO 2000 verflogen, krähte kein Hahn mehr nach diesem Schiff und dem
dafür ausgegebenen Geld. Weder Frau Heidecke noch
Herr Trittin hat jemals wieder danach gefragt. Sie können sich die verstaubten Konstruktionsunterlagen und
das Modell noch gern in der Werft ansehen. Wenn Sie
sich heute scheinheilig Sorgen machen um das Geld,
was für den umweltverträglichen Ausbau der Elbe ausgegeben wird, sollten Sie sich wenigstens selbstkritisch
auch mit der Zeit beschäftigen, wo sie Verantwortung
trugen für das Geld, was Sie in Ihrer Regierungszeit in
der Elbe versenkt haben.
Immer wieder kommen Sie dann auch auf die Frage
der Kosten für die Unterhaltung der Schifffahrt auf der
Elbe. Die Elbe ist ein Strom in einer Kulturlandschaft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ihre Unterhaltung ist allein zur Landschaftspflege und
für den Hochwasserschutz unumgänglich. Was würde
denn passieren, wenn wir die Elbe aus ihrem definierten
Flussbett ausbrechen ließen, wie es in den Jahrhunderten vor uns immer wieder geschehen ist? Wenn Sie jetzt
in Ihrem Antrag die Behauptung aufstellen, dass die seit
20 Jahren laufenden Unterhaltungsmaßnahmen zur Verschlechterung des ökologischen Erhaltungszustandes
und zur Sohleneintiefung geführt hätten, ist das die vorsätzliche Unwahrheit. Die Sohleneintiefung auf der Erosionsstrecke zwischen Torgau und Roßlau hat sich nach
den Begradigungsmaßnahmen um 1900 verschärft und
hält seitdem an.
Die Bundesrepublik ist mit den Unterhaltungsmaßnahmen erstmalig fundiert gegen diese Erosion vorgegangen und führt seit der Wiedervereinigung Geschiebeversuche auf dieser Strecke durch, um damit eine
wissenschaftliche Grundlage für die Sohlenstabilisierung zu haben. Die von Ihnen geforderten Forschungsprojekte laufen also längst. Ihr damaliger Minister Trittin war es, der die Forschung und
Sohlenstabilisierungsarbeiten 2002 einstellen ließ und
damit dem weiteren Eingraben der Elbe Tür und Tor geöffnet hat.
Die Behauptung der Verschlechterung des ökologischen Erhaltungszustandes der Elbe ist bösartig und
spricht den Menschen entlang der Elbe das Ergebnis ihrer 20-jährigen Bemühungen um die Elbe ab. Mit dieser
Behauptung bestreiten Sie, dass das Wasser der Elbe
wieder sauberer geworden ist und Fauna und Flora sich
erholt haben. Viele Menschen haben sich darum bemüht.
Denen sagen sie jetzt: Eure Mühe hat nichts gebracht. Das ist unanständig. Seit einigen Jahren kann man in
der Elbe wieder ohne Angst um die eigene Gesundheit
schwimmen. Fischarten sind zurückgekehrt, sodass jetzt
an einigen Stellen der Kormoran der größte Feind der
Fische ist. Für uns ist es eine Sache der Ehre, den Menschen für ihre Bemühungen zu danken und sie nicht zu
beleidigen.
Wenn Sie den Wasserabfluss durch die Elbe verringern wollen, müssen Sie den Menschen in der Elbniederung dann auch ehrlicherweise sagen, dass bei Verminderung der Abflussverhältnisse an der Elbe sich die
derzeitige Grundwassersituation entlang der Elbe auf
Dauer verfestigen wird. Sie müssen dann den dort lebenden Menschen sagen, dass sie ihre Keller nicht mehr
wasserfrei und die Fundamente ihrer Häuser nicht mehr
trocken kriegen und dass das Ihre politische Absicht ist.
Sie fordern auch, die Bahnstrecken parallel zu Elbe
stärker zu nutzen. Ich weiß nicht, wann das letzte Mal jemand von den Grünen sich nach Bad Schandau in das
Elbtal getraut hat. Wir haben dort allmählich Verhältnisse, die an St. Goar am Mittelrhein erinnern. Mit steigender Wirtschaftsleistung der Tschechischen Republik
nimmt der Bahnverkehr dort stetig zu. Sie sagen jetzt
diesen Menschen: Wir wollen, dass ihr noch mehr Verkehr auf der Schiene durch eure Ortschaften kriegt. Ich glaube nicht, dass Sie sich mit einer solchen Aussage
zu den Menschen nach Bad Schandau trauen. Eine
Ersatzstrecke durch das Erzgebirge - da bin ich mir sicher - würden Sie genauso bekämpfen wie die Eisenbahnstrecke parallel zur A 71 durch den Thüringer
Wald.
Ist den Antragstellern aber auch bewusst, welche
Probleme sie mit ihrem Antrag im Verhältnis zu unserem
Nachbarland Tschechien aufwerfen? Bereits die Überlegungen des Bundesministeriums für Verkehr, die Unterhaltung der Elbe an das Verkehrsaufkommen anzupassen, hat in der tschechischen Regierung für erheblichen
Unmut gesorgt und auf tschechischer Seite die Befürchtung aufkommen lassen, dass Deutschland Tschechien
absichtlich schädigen will. Die Grünen haben in ihrer
Verantwortung im Außen- und Umweltministerium genau das grenzüberschreitende Güterverkehrskonzept
nicht zustande gebracht, was sie jetzt mit großer Pose
einfordern. Nicht Anträge mit Paukenschlag, sondern
ruhige, sachliche internationale Zusammenarbeit ist unsere Sache und wird sicherlich in einem europäischen
Verkehrskonzept zu besseren Ergebnissen führen, als es
mit einem plakativen Antrag möglich ist.
Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, gewässerökologische Belange bei Unterhaltungsmaßnahmen durch die
Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost in deutlich stärkerem Maß zu berücksichtigen, kann ich Ihnen nur zurufen: Auch schon ausgeschlafen?! Seit vielen Jahren ist
mir bekannt, dass die Baudirektoren Finke und Kautz
des Wasser- und Schifffahrtsamtes Dresden regelmäßige
Beratungen mit dem Biosphärenreservat „Flusslandschaft Elbe“ pflegen, dass der NABU in diese Gespräche mit einbezogen wird und dass diese Gespräche
durchaus fruchtbar zu signifikanten Ergebnissen führen.
Ihrem Antrag merkt man an, dass er leider, wie so vieles von Ihnen, am sprichwörtlichen grünen Tisch fernab
der Realität entworfen wurde. Naturschutz und Elbunterhaltung sind heute längst keine Gegensätze mehr. Ein
sinnvolles Miteinander ist schon lange dem Gegeneinander oder dem Nebeneinander gewichen. Ich kann
nur allen die Einbindung in diese Beratungen empfehlen.
Sie sind beispielhaft. Und ich kann hier nur dem Biosphärenreservat unter Leitung von Herrn Puhlmann
danken, dass hier zukunftsweisend gearbeitet wird. Nur
so können sinnvolle Maßnahmen wie Deichrückverlegungen in Bereichen mit wenig Hochwasserstauraum,
Neukonstruktion der Buhnenfüße zur besseren Durchströmung der Buhnenzwischenräume, Schaffung von
ökologisch wertvollen Stillwässern hinter Leitschüttungen oder die Öffnung der Elb-Altarme erreicht werden.
Dieses ist erreicht worden ohne Demonstrationen, ohne
Krawall und ohne Ihr Zutun. Deshalb muss ich Ihren
Antrag in aller Deutlichkeit zurückweisen. Wer solche
Klischees bedient und so schäbig mit der Wahrheit umgeht, schädigt gerade das, wofür er sich einzusetzen vorgibt. Durch den Antrag wird nicht der Naturschutz gestärkt, sondern die wunderbare Elbelandschaft ins
Zwielicht einer Naturzerstörung gerückt, die niemand
beabsichtigt. Für Ihre Wahlpropaganda ist mir meine
Heimat, mein Fluss Elbe zu schade. Wir werden uns damit sicher noch in den Ausschüssen beschäftigen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Elbe, sie gilt als einer der letzten frei fließenden
Flüsse Deutschlands. Sie durchfließt verschiedenartige
Naturräume, die allein aufgrund der geringen Besiedlungsdichte zum Teil einmalige Pflanzen- und Tierwelten
hervorgebracht haben. Tourismus zu Wasser und zu
Lande ist daher ein wichtiger Standortfaktor entlang der
Elbe. Ich selbst lebe nördlich von Magdeburg an der
Elbe und habe seit meiner Kindheit das ökologische Ab
und Auf erlebt, und nicht nur wir Sachsen-Anhaltiner
setzen uns für eine zukunftsfähige Elbe, deren Bedeutung für Ökologie und Tourismus zunehmend steigt, ein.
Dies ist auch der Aspekt, auf den in diesem Antrag abgestellt wird. Gleichzeitig ist die Elbe eine überregional
bedeutende Wasserstraße. Sie ist eine Wasserstraße, in
die viele auch die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung stecken. Politik darf sich aber nicht an Utopien
ausrichten. Die Elbe soll ein natürlicher Fluss bleiben;
niemand wünscht sich einen zweiten Rhein. In SachsenAnhalt hat sich die SPD daher explizit gegen den Bau
des Saale-Seitenkanals ausgesprochen.
Bündnis 90/Die Grünen gehen in ihrem Antrag davon
aus, dass der Versuch, einen wirtschaftlichen Güterverkehr auf der Elbe zu ermöglichen, gescheitert ist. Es
stimmt, die reine Menge der transportierten Güter auf
der Elbe nimmt ab. Gleichzeitig ändert sich aber auch
die Art der Güter, die transportiert werden. Neben Massengüter- und Containerumschlägen nehmen zunehmend hochwertige Transporte von Sperrgütern einen
hohen Stellenwert ein. Turbinen, Transformatoren, Generatoren, Kompressoren, Schiffskörper von Küstenmotorschiffen und Teile für Windkraftanlagen sind als Sondertransporte kaum anders zu bewegen als über den
Verkehrsträger Wasserstraße. Welche Bedeutung die
Elbe hat, erkennt man beispielsweise an den Häfen in
Magdeburg, in Roßlau und Bernburg. Ich sehe es vor allem daran, dass dort Arbeitsplätze entstanden sind. Die
Binnenschifffahrt und die Häfen sind für die Elbe-Region ein Wirtschaftsfaktor, ohne Zweifel.
Das heißt: Auch wenn wir - und da gebe ich Ihnen
recht - über die Ziele der Schiffbarkeit diskutieren müssen: Die gewerbliche Schifffahrt auf der Elbe brauchen
wir weiterhin, dies umso mehr, als wir im Sinne einer
nachhaltigen und umweltschonenden Verkehrspolitik
Transporte so weit wie möglich von der Straße auf
Schiene und Wasserstraßen verlagern müssen. Dazu
müssen die Bundeswasserstraßen eben auch für die gewerbsmäßige Binnenschifffahrt nutzbar bleiben. Es ist
aber auch klar: Der Ausbau der Elbe zur Anpassung an
größere Schiffseinheiten ist nicht notwendig. Das lehnen
wir ab. Wir müssen klar definieren, welche Ziele wir mit
der Binnenschifffahrt auf der Elbe verfolgen und was
möglich ist, wenn wir die Naturlandschaften an der Elbe
erhalten wollen. Wir müssen uns klarmachen, welche Alternativen es gibt, welche Folgen diese Alternativen hätten und wo die Vorteile des Schiffes liegen. Ich will nur
ein Problem anführen: Wir diskutieren oft und heftig
über den Lärmschutz an Bahnstrecken. Die Bahntrassen, die Alternativen zur Binnenschifffahrt auf der Elbe
sein können, verlaufen direkt durch Städte und Dörfer.
Wie gehen wir damit um? Lärm ist gesundheitsschädigend, noch zu wenig im Fokus, aber zunehmend ernsthaft problematisiert.
Es geht aus meiner Sicht darum, die Elbe in einem
Zustand zu sichern, der nicht über ein klar definiertes
Maß an Schiffbarkeit hinausgeht. Dieses müssen wir
klar definieren. Es geht genauso darum, die Naturlandschaften zu erhalten. Es geht darum, die Lebensräume
für die Kraniche, Störche und andere Populationen, die
in Größenordnungen wieder zurückgekehrt sind, zu erhalten. Auch das muss in einer Zieldefinition klar enthalten sein. Ich weiß um den Spagat, der notwendig ist,
die Binnenschifffahrt zu erhalten und gleichermaßen die
Naturlandschaften zu schützen. Seit 1998 versuche ich
mich in dieser Disziplin. Ich weiß, dass es ganz sicher zu
einer Grenze bei der Binnenschifffahrt führen wird. Es
bedeutet auch, dass die erforderlichen wasserbaulichen
Wiederherstellungs- und Unterhaltungsarbeiten zum Erhalt der Schiffbarkeit und für den Hochwasserschutz
nach neuesten ökologisch verträglichen Methoden erfolgen müssen. Dieser Spagat ist nicht einfach. Er ist aber
notwendig und muss von der Mehrheit getragen werden.
Lassen Sie uns im Ausschuss darüber ausführlich diskutieren.
In meiner Funktion als Vorsitzender der parlamentarischen Gruppe „Frei fließende Flüsse“ habe ich große
Sympathie für den Schutz von Flüssen und Auen. Aus
diesem Grund begrüße ich grundsätzlich auch die Initiative der Grünen.
Die Elbe ist in Deutschland einer der ökologisch
wertvollsten Flüsse - und das, obwohl vor 1990 die Elbe
mit der Saale im Wettbewerb um den Titel „dreckigster
Fluss Mitteleuropas“ stand. Mittlerweile bestehen gerade entlang der Mittelelbe wieder zahlreiche Biosphärenreservate, Naturparks oder Naturschutzgebiete. Und
trotzdem: Die Klassifizierung der mittleren Elbe in mäßig und stark veränderte Flussabschnitte zeigt auf, dass
noch viel zu tun ist.
Die Probleme aus Sicht des Umweltschutzes sind da.
Zwischen Saale und Mulde sind viele Altwässer nur unzureichend an das Elbwasser angebunden. In der Folge
droht vielen Feuchtgebieten die Verlandung. Gerade in
den Sommermonaten droht der Sauerstoffgehalt der
Elbe oftmals zu kippen, mit verheerenden Folgen. Ein
weiteres Problem stellte auch die 1960 errichtete Staustufe Geesthacht dar. Die Durchlässigkeit der Staustufe
für Fische war und ist umstritten. Mit der neuen zweite
Fischtreppe, die im September des letzten Jahres fertiggestellt wurde, könnte kann nun theoretisch sogar der
Stör wieder heimisch werden. Erfolgsmeldungen sind allerdings noch verfrüht, wir müssen die weitere Entwicklung sehr genau beobachten.
Wir wollen wie Sie ebenfalls keine weiteren Staustufen in der Elbe. Die FDP hat sich bereits in ihrem Wahlprogramm von 2009 dazu klar geäußert. Auch die geplante Staustufe in Tschechien ist nicht im Interesse
Deutschlands und der Elbe insgesamt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch hinsichtlich des Auenschutzes sind wir ähnlicher Meinung. Dies ist nicht nur im Interesse des Naturschutzes, auch der Schutz der Menschen vor Hochwassern erfordert gezielte Renaturierungsmaßnahmen.
Dazu gehören Deichrückverlegungsmaßnahmen - wohl
wissend, dass dies nur gemeinsam mit den Anwohnern
möglich ist. Sie sehen, in vielen Punkten sind wir uns
nahe.
An einigen Stellen erscheint mir der Forderungskatalog allerdings nicht ganz stimmig. Ihrem Antrag ist zu
entnehmen, dass Sie eine Verbesserung der Schiffbarkeit
generell mit Argwohn verfolgen. Meines Erachtens kann
eine Verbesserung der Schiffbarkeit in engem Rahmen
durchaus ermöglicht werden, allerdings nur durch Unterhaltungsmaßnahmen. Wenn die Schifffahrt sich dem
Fluss anpasst, ist dies begrüßenswert. Der Fluss sollte
sich nur nicht immer der Schifffahrt anpassen müssen.
Die kategorische Kritik an der Schifffahrt ist aus unserer
Sicht übertrieben.
Auch an anderer Stelle möchte ich auf eine Ungenauigkeit hinweisen. Sie sprechen einerseits davon, dass das
Problem Wasserknappheit angegangen werden sollte,
Ihres Erachtens durch den Stopp von Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen. Wasserknappheit ist für die mittlere Elbe ein massives Problem. So weit gestehe ich Ihnen diese Position zu. Nur, was dann?
Sie fordern gleichzeitig, eine durchgehende Mindesttiefe von 1,60 Metern zwischen Geesthacht und Dresden
zu erreichen, ohne dafür zur Verfügung stehende Mittel
zu benennen. Hinzu kommen die Deichrückverlegungen
und die Ausweitung der bestehenden Auen.
Was Sie fordern, entspricht in etwa der Quadratur des
Kreises: mehr Wasser in der Elbe, mehr Wasser in den
Auen, den Wasserentzug der umgebenden Flusslandschaft minimieren. Ich halte das alles für wünschenswert, nur an heißen Sommern können wir leider nichts
ändern. Wir müssen uns voraussichtlich darauf einstellen, dass die Elbe nicht dauerhaft einen Mindestwasserstand erreichen wird. Mir fehlt an dieser Stelle die Ehrlichkeit im Antrag, sich einzugestehen, dass nicht alle
gut gemeinten Ziele miteinander vereinbar sind.
Das Bundesverkehrsministerium hat vor wenigen Wochen einen Bericht erstellt, wonach Bundeswasserstraßen nach Kategorien eingeteilt werden und diese nach
ihrem Verkehrsaufkommen bewertet werden. Eine Kanalisierung der Elbe steht demnach ganz sicher nicht an;
und das ist eine gute Nachricht. Die Maßnahmen der
Bundesregierung deuten in die richtige Richtung. Viele
Ihrer Punkte sind oder werden bereits aufgegriffen. Deshalb und angesichts der genannten Unstimmigkeiten
kann ich Ihrem Antrag in dieser Form nicht zustimmen.
Das Anliegen der Antragsteller, die Elbe als letzten
großen, noch relativ wenig verbauten und naturnahen
frei fließenden Fluss in Mitteleuropa zu erhalten, findet
die volle Zustimmung der Linken. In der Tat wäre es eine
sowohl umwelt- als auch wirtschaftspolitische Torheit,
an der Elbe all jene Sünden zu wiederholen, mit denen
im Westen der Republik aus Flüssen tatsächlich Wasserstraßen gemacht worden sind: Straßen für immer größere Schiffe zum Preis immer geraderer Ufer, zum Preis
der unwiederbringlichen Hergabe komplexer großer
Landschaften mit ihrer flusstypischen Flora und Fauna,
unter Preisgabe auch eines sinnvollen naturnahen
Hochwasserausgleiches zur Katastrophenvermeidung
und schließlich unter Preisgabe von Landschaftsschönheit, die nichts anderes ist als die Preisgabe qualitätsvoller Lebenswelten für die Menschen. Wer meint, die
Umwelt müsse nun mal zurückstehen, wenn es um Wirtschaftlichkeit geht, dem muss entgegengehalten werden,
dass erstens längst erwiesen ist, dass das, was aus betriebswirtschaftlichem Einzelinteresse heraus als wirtschaftlich gelten mag, sich unter dem Gesichtspunkt der
volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung oft genug als
höchst ineffizient herausstellt, und dass zweitens alle
Prognosen, die im Zusammenhang mit den verschiedenen auf die Binnenschifffahrt bezogenen Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ über die Entwicklung dieser
Schifffahrt erstellt worden sind, sich als höchst unrealistisch herausgestellt haben.
Also: Alles spricht dagegen, immer und immer wieder
den Versuch zu unternehmen, die Ideen von vorgestern
in den Beton von gestern zu gießen.
Das sage ich als Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt
mit Blick nicht nur auf die Elbe selbst, sondern auch auf
ihren Nebenfluss Saale. Die Pläne zum Ausbau der
Saale gehören ebenso in den Papierkorb wie die zum
Ausbau der Elbe. Niemand braucht einen Saale-Seitenkanal bei Tornitz, niemand braucht weitere überflüssige
Hafenbauten.
Wenn wir von der Linken dennoch dem vorliegenden
Antrag der Grünen nicht vorbehaltlos zustimmen, dann
deshalb, weil wir der Auffassung sind, dass einige Fragen einer weiteren Präzisierung bedürfen. So sehen wir
Diskussionsbedarf in der Frage, wie mit dem Elbe-Abschnitt zwischen Geesthacht und dem 20 Kilometer weiter flussauf liegenden Lauenburg umgegangen werden
soll. Dem Antrag folgend soll dieser Abschnitt nicht für
dauerhafte Schiffbarkeit eingerichtet sein. Er schließt
aber die Abzweigungen zum Elbe-Lübeck- und zum
Elbeseitenkanal ein und besitzt daher für die Aufnahme
von Warenströmen aus dem Hamburger Hafen herausragende Bedeutung.
Diskussionsbedarf sehen wir auch hinsichtlich der
konkreten künftigen Ausgestaltung jener Schiffsverkehre, die heute auf der Elbe bis nach Dresden und Usti
nad Labem hinauf stattfinden. Hier ist Fantasie gefragt:
Fantasie in grenzüberschreitender Zusammenarbeit,
Fantasie der Anrainerkommunen, Fantasie der Schifffahrtsbetriebe. Die Elbe ohne Schiffsverkehr ist für mich
ebenso unvorstellbar wie eine verbetonierte Elbe. Der
Antrag bietet mit seiner Forderung nach Ermöglichung
einer an die natürlichen Wasserstände angepassten Binnenschifffahrt gute Ansätze für die diesbezügliche weitere Debatte, an der wir uns gern mit dem Ziel der Stärkung des Anliegens des Antrages beteiligen wollen.
Im Fazit gilt: Die Entscheidung darüber, wie mit
Flüssen und Flusslandschaften umgegangen wird, wird
Zu Protokoll gegebene Reden
immer ein Prozess der Abwägung zwischen verkehrsund anderen wirtschaftlichen Interessen und Vorhaben
auf der einen sowie ökologischen Interessen und Vorhaben auf der anderen Seite sein. In diesem Abwägungsprozess hat für uns der sozial-ökologische Umbau
oberste Priorität.
Die Elbe ist der letzte große Fluss Europas, der auf
circa 600 Kilometern natürlich fließt. Hier gilt es, verstärkt Maßnahmen zu ergreifen, die die einzigartige Auenlandschaft bewahren. Rückbau- und Renaturierungsmaßnahmen müssen stattfinden, um Lebensräume für
Tiere und Pflanzen zu schaffen und zu bewahren. Die
Elbe stellt ein wunderschönes Naturerlebnis für den
Menschen dar; darauf muss der Tourismus in der Region aufbauen. Seit 20 Jahren laufen Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen, die zu keiner wesentlichen Güterverkehrssteigerung auf der Elbe geführt haben. Aber der
ökologische Zustand der Elbe würde sich bei einem weiteren Ausbau zur Schiffbarmachung erheblich verschlechtern - und das, obwohl die Ober- und Mittelelbe
ein wahres Naturparadies ist.
Der Ausbau der Elbe würde schützenswerte Elbauen,
die wichtige Hotspots der Biodiversität darstellen, gefährden. Eine konstante Mindesttiefe der Elbe könnte
nur mit massiven Eingriffen in das Ökosystem Elbe ermöglicht werden. Die sich seit einigen Jahren ansiedelnde Fischerei würde wieder eingehen, weil die Fischbestände durch Betonierung und Begradigung ihre
Laichplätze verlieren und durch Staustufen an der Wanderung gehindert würden. Der Fischbestand, der seit
der Wende von 12 Arten in der DDR auf 42 Arten heute
angewachsen ist, würde wieder verringert. Um die Binnenschifffahrt auf der Elbe zu gewährleisten, soll die
Elbe eine Fahrrinnentiefe von 1,60 Meter zwischen
Geesthacht und Dresden und von 1,50 Meter oberhalb
von Dresden an mindestens 345 Tagen aufweisen. Die
dazu seit 20 Jahren laufenden Bau- und Unterhaltungsmaßnahmen - 2010 allein 31 Millionen Euro - haben
das Ziel, mehr Verkehr auf die Elbe zu verlagern, nicht
erreicht. Sie führten zur Sohleneintiefung und damit zur
Absenkung der Grundwasserstände.
Wir fordern, durch die Förderung von Ufer- und Auenrenaturierungen mehr Raum für die Elbe zu schaffen
und Maßnahmen zur Deichrückverlegung mit den Ländern zu ergreifen. Eine nationale Biodiversitätsstrategie
entlang der Elbe muss endlich umgesetzt werden. An der
Elbe zeichnen sich gerade zwei gegensätzliche Entwicklungen ab: Auf der tschechischen Seite soll mit EU-Mitteln eine Staustufe bei Decin gebaut werden, auf deutscher Seite hingegen sollen zukünftig keine Investitionen
mehr in Ausbaumaßnahmen fließen.
Die vom Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung angekündigte Strukturreform der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung sieht vor, dass zukünftig die Investitionsmittel bei den Bundeswasserstraßen nur noch
dort eingesetzt werden, wo auch ein hohes Güterverkehrsaufkommen stattfindet. Die Elbe kann diese Vorgaben glücklicherweise nicht erfüllen. Mit unter 1 Million
Tonnen Gütern, die hier jährlich transportiert werden,
ist die Elbe in der Kategorie „Nebennetz“ eingestuft.
Das ist auch gut, denn die Elbe ist nicht für die Güterschifffahrt geeignet. Eine ganzjährige Schiffbarkeit ist
nicht sicherzustellen, denn nicht berechenbare Wasserstände sind typisch für die Elbe. Die benötigten 1,60 Meter Tiefe für die Schifffahrt sind nicht auf der ganzen
Flusslänge herzustellen. Der Bau der Staustufe bei Decin wäre ökonomische Verschwendung und auf deutscher Seite nur durch einen kanalartigen Ausbau mit einer Kette von Staustufen sinnvoll.
Die Stärke der Binnenschifffahrt liegt zweifelsohne
beim kostengünstigen Transport von Massengütern wie
etwa Baustoffe, Erze, Kohle und Stahl; sie dominieren
mit einem Anteil von rund 70 Prozent an der Gesamtmenge nach wie vor das Geschäft der Binnenschifffahrt.
Genau diese Verkehre sind aber grundsätzlich auch verlagerungsfähig auf den Verkehrsträger Bahn. Unternehmen der Grundstoff- und Montanindustrie besitzen auch
Gleisanschlüsse. Die Elbtalstrecke hat nach Angaben
der DB Netz AG eine Kapazität von 144 Zügen pro Tag
und Richtung. An einem Werktag sind derzeit neun Fernverkehrszüge, 36 Nahverkehrszüge und 37 Güterzüge
pro Tag und Richtung unterwegs. Es gibt also noch ausreichend Kapazität für zusätzlichen Güterverkehr.
Bei einem Verkehrsaufkommen von 900 000 Tonnen,
2009, auf der Elbe würde bei unterstellter vollständiger
Verkehrsverlagerung auf die Schiene eine zusätzliche
Belastung von rechnerischen 2,5 Güterzügen pro Tag
auf die Elbtalstrecke zukommen; bei 1,5 Millionen Tonnen wären es 4,1 Güterzüge bei einer angenommenen
Auslastung von 1 000 Nettotonnen je Güterzug. Angesichts der derzeitigen Auslastung der Elbtalstrecke, die
noch erhebliche freie Kapazitäten aufweist, ist eine Verlagerung kapazitiv kein Problem. Einer derartigen Verkehrsverlagerung sind explizit auch keine Infrastrukturinvestitionen zuzurechnen.
Die hochsubventionierten Binnenhäfen sind auch
ohne Ausbau der Elbe gesichert. Häfen sind heute Logistik- oder Güterverkehrszentren und Gewerbestandorte, bei denen nur ein geringer Umschlag über Kai erfolgt.
Der Güterverkehr auf der Mittel- und Oberelbe ist
angesichts der Transportmengen ökonomisch bedeutungslos. Hingegen würde der Tourismus durch den Ausbau des Flusses erheblichen wirtschaftlichen Schaden
nehmen. Der Elberadweg ist seit Jahren Deutschlands
beliebtester Fernradweg. Radtourismus ist eine Chance
für kleine Orte. Jeder Radler gibt im Schnitt 60 Euro pro
Tag aus; 155 000 Fernradler pro Jahr, die im Schnitt
neun Tage auf dem Elberadweg unterwegs sind. Das
Dessau-Wörlitzer Gartenreich mit jährlich 1,1 Millionen Besuchern, 700 festen Arbeitsplätzen und bis zu
900 Saisonkräften braucht Elbewasser. Nach Schätzungen einer Studie der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Professor Dr. Hans-Ulrich Zabel, würden
durch einen kompletten Ausbau der Elbe 20 000 Arbeitsplätze verloren gehen, vor allem im Tourismus, aber
auch in der Land- und Forstwirtschaft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit
den Landesregierungen und den Kommunen ein Konzept
zum Ausbau der wirtschaftlichen Potenziale der Elberegion zu entwickeln. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit der Tschechischen Republik ist notwendig, um die Elbe auf deutscher Seite nicht zu gefährden.
Es ist notwendig, dass mit der Tschechischen Republik
ein gemeinsames Güterverkehrskonzept und auch ein
gemeinsames Tourismuskonzept entwickelt wird. Hier
müssen klare Abstimmungsverfahren geschaffen werden. Die Planungen für den Bau einer Elbestufe bei Decin müssen dringend verhindert werden. Ich fordere die
Bundesregierung ausdrücklich auf, hier tätig zu werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4554 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein wirksames Rückkehrrecht und eine
Stärkung der Rechte der Opfer von Zwangsverheiratungen
- Drucksache 17/4681 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Der Antrag der Fraktion Die Linke zum Rückkehrrecht für Opfer von Zwangsverheiratung ist ein neuerlicher Beleg für Ihre Absicht in der Ausländerpolitik, jeden Hebel zu nutzen, um für eine völlig unkontrollierte
Zuwanderung in unser Land zu sorgen. Sie gefährden
damit die Integration der bei uns lebenden Ausländer
und öffnen im Übrigen auch jede Menge Missbrauchsmöglichkeiten für Schleuser und Schlepper, die sich Ihre
überaus weitgehenden Gesetzesformulierungen zunutze
machen könnten. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben mit dem hier bereits in erster Lesung debattierten Gesetzespaket zur Bekämpfung der
Zwangsheirat und zu anderen Änderungen des Aufenthaltsrechts überzeugende Lösungen vorgelegt, wie
zwangsverheirateten und verschleppten Frauen wirksam geholfen und wie gleichzeitig durch eine Verlängerung der Mindestehebestandszeit Scheinehen wirksam
begegnet werden kann.
Eine Behauptung muss gleich zurückgewiesen werden, die auch durch Wiederholung nicht richtiger wird.
Sie kritisieren, dass mit der Verlängerung der Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre sich die Opfer
von Zwangsheirat länger in ihrer Zwangslange befinden
müssten, um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu erhalten. Woher wissen Sie überhaupt, dass es die Absicht
der Frauen ist, in Deutschland zu bleiben, dem Land, in
das sie in aller Regel gegen ihren Willen verbracht worden sind? Es ist ja wohl lebensnäher, dass die Frauen
zunächst überhaupt erst einmal aus ihrer Zwangslage
befreit werden wollen. Dazu haben wir mit den verpflichtenden Deutschkenntnissen vor dem Ehegattennachzug eine Grundlage geschaffen, indem jetzt alle
Frauen zumindest sprachlich in der Lage sind, sich Hilfe
zu holen, und auch auf das Leben in Deutschland und
die Rechte, die Frauen in unserem Land haben, besser
vorbereitet sind. Es ist gerade Die Linke gewesen, die
gegen diese verpflichtenden Deutschkenntnisse Sturm
gelaufen ist. Insofern ist es die reine Heuchelei, wenn
Sie sich jetzt als Wahrer der Interessen der zwangsverheirateten Frauen profilieren wollen. Das Gegenteil ist
richtig: Sie verweigern den Frauen das menschenrechtliche Rüstzeug, um sich selbst gegen die Zwangslage
wehren zu können.
Außerdem erwähnen Sie selbst in Ihrem Antrag die
Härtefallregelung nach § 31 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes. Das ist der Widerspruch schlechthin. Auch bei einer dreijährigen Mindestehebestandszeit kann einer
Frau zur Vermeidung einer besonderen Härte schon weit
vor dem Ablauf von drei Jahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt werden. Der Schutz des Gesetzgebers verringert sich also in keiner Weise. Dies sei auch
den Wohlfahrtsverbänden ins Stammbuch geschrieben,
die sich mit Briefen in diesen Tagen an uns wenden und
die Frage der Härtefallregelung bei ihrer Kritik völlig
außen vor lassen. Ich will an dieser Stelle schon deutlich
machen, dass es mich wundert, wie falsch die bestehende und künftige Rechtslage von Verbandsvertretern
dargestellt wird, die schließlich auch in der Beratung
von Ausländern tätig sind.
Zu einer integrationspolitisch notwendigen Steuerung der Zuwanderung gehört auch, dass wir effektive
Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen ergreifen.
Wir haben das Thema schon bei der ersten Lesung des
Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsrechts eingehend
erörtert. Insofern sage ich es noch einmal: Gerade die
Fraktion Die Linke erwähnt in ihrem Antrag die Zahl
der festgestellten Scheinehen und verweist darauf, dass
die Zahl heute - bei einer zweijährigen Mindestehebestandszeit - niedriger ist als im Jahre 2000, als wir noch
eine vierjährige Mindestehebestandszeit hatten. Es ist
doch wohl einsichtig, dass die Ausländerbehörden mehr
Scheinehen nachweisen können, je länger Zeit sie haben,
entsprechenden Verdachtsmomenten nachzugehen. Insoweit sind die Hinweise der Linken eher ein Plädoyer, zur
alten Rechtslage zurückzukehren.
Richtig wäre Ihre Argumentation dann, wenn uns aus
den Visastellen unserer Auslandsvertretungen, in denen
hochprofessionelle Mitarbeiter tätig sind, die sich seit
Jahren mit dieser Problematik befassen, berichtet
würde, dass es heute signifikant weniger Anzeichen für
eine Scheinehe geben würde als im Jahre 2000. Das Gegenteil ist aber richtig. Mir haben erst im letzten Jahr
Mitarbeiterinnen des Generalkonsulats in Istanbul gesagt, dass sie davon ausgehen, dass es sich bei rund
30 Prozent der Antragsteller um Fälle von Scheinehen
handelt. In Ankara und Izmir dürften wegen der besonReinhard Grindel
deren Gebiete, für die diese Visastellen zuständig sind,
die Zahlen nicht geringer sein, nur um einmal das Land
mit den meisten Fällen von Ehegattennachzug zu erwähnen.
Aus den Visastellen ist gerade die Klage zu hören,
dass die Ausländerbehörden in Deutschland wegen angeblichen Personalmangels nur sehr zögerlich bereit
sind, parallele Anhörungen der Ehegatten vorzunehmen. Insofern bleibt nur die Möglichkeit, nach der Einreise des jeweiligen Ehegatten dem Scheineheverdacht
nachzugehen. Dafür wollen wir eine längere Zeit einräumen.
Außerdem können Sie nicht bestreiten, dass es natürlich die Fälle gibt, bei denen nach Deutschland gezogene Ehegatten unmittelbar nach dem Ablauf von zwei
Jahren sich scheiden lassen und Partner heiraten, mit
denen sie in ihrem Heimatland bereits in erster Ehe verheiratet waren. Natürlich erhoffen wir uns von der Verlängerung der Mindestehebestandszeit auch einen gewissen Abschreckungseffekt, damit es gar nicht erst zu
einer Scheinehe kommt.
Integrationspolitisch abwegig sind auch Ihre Anträge
zum Thema Rückkehrrecht. Wir haben in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung als Koalition dazu eine sehr
sachgerechte Lösung angeboten. Wir lösen vor allem
zwei große Probleme, die der tatsächlichen Inanspruchnahme des Rückkehrrechts bisher im Wege standen. Wir
verlängern die Frist, innerhalb derer zurückgekehrt
werden kann, von bisher sechs Monaten auf bis zu zehn
Jahre, und wir verzichten auf den Nachweis der Unterhaltssicherung. Wie zum Beispiel der Anwaltsverein angesichts dieser weitreichenden Regelung davon sprechen kann, dass das alles ohne praktische Bedeutung
bleibt, ist mir schleierhaft. Da soll starke Polemik die
Schwäche der Argumentation überdecken.
Tatsächlich geht es beim Rückkehrrecht doch darum,
dass unser Rechtsstaat seiner sozialen Verantwortung
einem ausländischen Mitbürger gegenüber gerecht wird,
dessen ursprünglicher Aufenthalt zu einer gewissen Verwurzelung in unserem Land geführt hat, sodass es dem
Ausländer nicht zumutbar ist, in dem ihm fremd gewordenen ursprünglichen Heimatland zu verbleiben. Insofern muss es doch aber einen Unterschied machen, ob
eine junge Frau in Deutschland aufgewachsen ist, hier
zur Schule ging und eine Ausbildung gemacht hat und
dann in den Ferien in der Türkei zwangsverheiratet
wurde oder ob sie sich nur wenige Monate bei uns aufgehalten hat und dann in ihr Heimatland verschleppt
wurde. Insofern ist es integrationspolitisch zwingend,
dass man die Frage, wie lange und unter welchen Bedingungen ein Rückkehrrecht in Anspruch genommen werden kann, von dem Tatbestand abhängig macht, wie
lange sich die betroffene Frau vorher in Deutschland
aufgehalten hat und ob sie in unserem Land verwurzelt
war oder nicht.
Nach dem Antrag der Linken wäre es denkbar, dass
eine Frau mit 18 in die Türkei verschleppt wurde und mit
65 ein Rückkehrrecht geltend macht. Das ist absurd, und
deshalb ist Ihr Antrag absurd. Es liegt auf der Hand,
dass damit dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet ist. Ich
wiederhole es: Sie spielen damit Schleppern und Schleusern in die Hände.
Ebenso absurd ist es, dass Sie auch geduldete Personen in den Schutzbereich des Rückkehrrechts einbeziehen wollen. Wer nie einen legalen Aufenthaltsstatus in
Deutschland gehabt hat, kann nicht in unserem Land
verwurzelt sein und kann deshalb nicht ein Rückkehrrecht beanspruchen. Mit diesem Vorschlag verwirken
Sie den Anspruch, in der ausländerrechtlichen Debatte
noch ernst genommen zu werden.
Nur ein letztes Wort zur Frage des EUGH-Urteils, auf
das Sie in Ihrem Antrag eingehen. Wenn überhaupt,
kann dieses nur auf solche Ehegatten Anwendung finden, die zum Zeitpunkt der Aufhebung der Ehe erwerbstätig waren. Nur weil möglicherweise eine sehr kleine
Gruppe in den Wirkungsbereich der längeren Mindestehebestandszeit nicht einbezogen werden kann, gibt es
keinen Grund, von dieser richtigen Regelung Abstand zu
nehmen.
Vor gut einem Monat haben wir an dieser Stelle anlässlich des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur
Bekämpfung von Zwangsverheiratungen schon einmal
über das Thema eines erweiterten Rückkehrrechtes für
Opfer von Zwangsehen gesprochen. Positiv ist sowohl
bei diesem Antrag als auch bei dem vorliegenden Antrag
der Fraktion Die Linke auf jeden Fall das Grundanliegen, Menschen, die Opfer von Zwangsverheiratung geworden sind, die Möglichkeit zu geben, nach einer Befreiung aus dieser Zwangssituation wieder nach
Deutschland zurückzukehren.
Wir als SPD-Fraktion haben schon unter der Großen
Koalition für ein erweitertes Rückkehrrecht gestritten,
und schon damals wollte die Union einem solchen
Recht, das allein die Opfer schützt und stärkt, nur unter
der Bedingung zustimmen, dass wir im Gegenzug einer
Anhebung der Mindestehebestandszeit von zwei auf vier
Jahre zustimmen. Das wollten und konnten wir nicht und
haben wir auch nicht getan. Heute sind sich im Grunde
alle im Parlament vertretenen Parteien einig: Wir brauchen ein erweitertes Rückkehrrecht für die Opfer von
Zwangsverheiratungen. Auch die Union hat erfreulicherweise eingesehen, dass sie nur so glaubwürdig erscheint in ihrer Kampfansage zur Bekämpfung von
Zwangsehen.
Leider hält sie bislang allerdings an ihrer schon vor
Jahren praktizierten unsittlichen Verknüpfung der Einführung eines erweiterten Rückkehrrechts mit der Anhebung der Mindestehebestandszeit von bisher zwei auf
zukünftig drei Jahre fest. In der Beschreibung der Probleme und des Ziels, dem mit der Anhebung der Mindestehebestandszeit begegnet werden soll, heißt es im
Gesetzentwurf der Bundesregierung, dass durch die im
Jahre 2000 erfolgte Verkürzung der Ehebestandszeit auf
zwei Jahre der Anreiz für ausschließlich zum Zwecke der
Erlangung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte Eheschließungen erhöht worden sei. Einfach so. Ich kenne
keine einzige Erhebung oder Untersuchung, die das belegen könnte. Die Union sagt, sie verfolge mit der AnheZu Protokoll gegebene Reden
bung der Mindestehebestandszeit das Ziel, Scheinehen
zu verhindern. Tatsächlich verdammt sie aber Frauen,
die sich in einer schrecklichen Lage befinden und dies
vielleicht nicht beweisen können, weil sie Beweise wie
Fotos, Zeugen und Ähnliches nicht beibringen können,
dazu, noch ein weiteres Jahr in dieser unerträglichen Situation zu verharren aus Angst, ansonsten auch noch
durch den Verlust des Aufenthaltsrechts gestraft zu werden.
Wie wir lehnt auch die Fraktion Die Linke in ihrem
Antrag eine Anhebung der Mindestehebestandszeit ab.
Das ist richtig! Ebenso wie wir in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf für ein erweitertes Rückkehrrecht ist
auch die Fraktion Die Linke der Meinung, dass ein solches Recht auch dann gewährleistet sein muss, wenn das
Opfer seinen Lebensunterhalt in Deutschland nicht alleine sichern kann. Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten darf die Befreiung aus einer Zwangsehe
nicht an der Lebensunterhaltssicherungspflicht scheitern.
Sehr weitgehend ist allerdings der Vorschlag des vorliegenden Antrags, ein erweitertes Rückkehrrecht auch
für Geduldete und Illegale zu fordern. Ich kann zwar das
Anliegen, ins Ausland verschleppten Geduldeten die
Rückkehr zu ermöglichen, gut nachvollziehen, halte es
aber kaum für systematisch durchsetzbar. Eine Duldung
beruht ja in den meisten Fällen darauf, dass die Einreise
in das Herkunftsland nicht möglich ist. Nach dem Gesetzentwurf sollen Geduldete jedoch gerade vom Ausland her, in das ihre Ausreise eigentlich ja nicht möglich
war/ist, einen Titel für die Wiedereinreise nach Deutschland erhalten.
Und: Die Einführung eines Rückkehrrechts für Illegale würde einer Legalisierung gleichkommen. Auch
das kann ich vom Ansinnen her verstehen, geht es doch
vor allem um den Schutz der Opfer, halte es aber dennoch für zu weitgehend. Zusammenfassend möchte ich
noch einmal betonen, wie gut es vor allem für die Betroffenen ist, dass es nun so aussieht, als würde es demnächst ein erweitertes Rückkehrrecht für Opfer von
Zwangsehen geben. Sie gestatten mir, unseren eigenen
Gesetzentwurf diesbezüglich allerdings am besten zu
finden!
Zu diesem Thema habe ich bereits im Januar ausgeführt, was ich, da sich die Sachlage und unsere Haltung
zu ebendiesem Thema nicht geändert hat, gerne noch
einmal bekräftige: Zwangsheirat ist kein Kavaliersdelikt. Oft hat sie schreckliche Folgen für die Betroffenen.
Die Gleichberechtigung der Frau ist einer der wesentlichen Bestandteile unserer Rechts- und Werteordnung,
deren Vermittlung auch eine der entscheidenden Integrationsaufgaben ist. Integration funktioniert nur bei
Respekt vor dieser Werteordnung. In großfamiliären
Strukturen mit altertümlichen Bräuchen bestehen zusätzliche Zwangslagen für junge Menschen. Falsche
Traditionen oder intolerante kulturelle Konventionen
verhindern eine unabhängige Lebensgestaltung - vielfach lebenslänglich.
Zwangsheiraten sind dabei kein Einzelphänomen auch nicht in Deutschland. Erfahrungen zum Beispiel
aus Berlin, aber auch aus Flächenländern wie BadenWürttemberg zeigen, dass es leider viel zu viele junge
Frauen gibt, die in einer Zwangsehe leben müssen. Der
besondere psychische Druck, der auf Mädchen und jungen Frauen in der Zwickmühle zwischen familiärer Solidarität und eigener Selbstbestimmung lastet, ist hier
sehr groß. Auch wenn die Zwangsheirat bereits jetzt im
Rahmen der Nötigung strafbar ist, ist den betroffenen
Familien meist nicht bewusst, daß die elterliche oder geschwisterliche Vorschrift des Ehepartners in der deutschen Rechtsordnung nicht toleriert wird. Den Eltern
und Familienangehörigen muss ausdrücklich die kriminelle Dimension solchen Tuns klar sein. Die selbstbestimmte Lebensgestaltung, die Freiheit, einen Ehepartner selbst aussuchen zu können, braucht den besonderen
Schutz eines eigenen Straftatbestandes.
Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist allerdings
auch die Verbesserung des Opferschutzes besonders
wichtig. Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen,
sondern auch den Opfern wieder eine Perspektivchance
geben. Es muss ein eigenständiges Wiederkehr- bzw.
Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geben. Gerade die Verschleppung in ein
fremdes Land verschärft diese Zwangslage noch.
Die bisherige Regelung, wonach der Aufenthaltstitel
auch für verschleppte junge Frauen nach sechs Monaten
automatisch erlischt, ermöglichte es, diese Zwangslage
noch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtperspektive zu nehmen. Nachdem das Rückkehrrecht nun
schon sehr lange diskutiert wird und es weder Rot-Grün
noch Rot-Schwarz gelungen ist, dieses Problem anzupacken, ist es der christlich-liberalen Koalition nun zu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die Betroffenen geschaffen zu haben. Jetzt erhalten Opfer von
Zwangsheirat und Verschleppung wieder eine Chance,
sich zu befreien. Dem dient auch die Verlängerung der
Antragsfrist für die Aufhebung der Ehe.
Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr von
ideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik.
Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht ohne Scheuklappen die bestehenden Defizite der Integrationspolitik
an, um die Chancen der Zuwanderung für unser Land
besser zu nutzen. Dazu gehört auch, die Grundwerte unserer Rechtsordnung gegenüber Praktiken aus Herkunftsländern durchzusetzen, die mit deutschem Recht
nicht vereinbar sind.
Im Zuge dieser Verbesserungen haben wir der Verlängerung der Mindestehebestandszeit auf drei Jahre zur
Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels zugestimmt. Das ist auf Kritik bei Opferverbänden, Kirchen
und Nichtregierungsorganisationen gestoßen. Wir nehmen diese Besorgnis sehr ernst und werden auch in Zukunft auf die Wirkung dieser Regelung genau achten.
Leider hat die im Jahre 2000 von Rot-Grün durchgesetzte Absenkung der Ehemindestbestandszeit von vier
auf zwei Jahre die Möglichkeit für Scheinehen erweitert.
Dem will die Koalition entgegensteuern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Opfern von Gewalt, insbesondere auch häuslicher
Gewalt, die es leider in viel zu großer Anzahl gibt und
die als Argument gegen die Anhebung der Ehemindestbestandszeit angeführt werden, kann durch die Härtefallregelung geholfen werden. Dies wird auch nochmals
klargestellt. Wir mahnen die Ausländerbehörden zu einer großzügigen Handhabung im Sinne der Opfer.
Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete und
Asylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbesuch zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancen von
jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen
und sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Die Koalition wird durch Fördern und Fordern die
Chancen der Zuwanderung für unser Land besser erschließen. Ziel bleibt, den Zusammenhalt unserer durch
Zuwanderer bereicherten Gesellschaft zu stärken. Dieses Ziel verliert der Linken-Antrag völlig aus den Augen.
Wir lehnen ihn daher ab.
In der ersten Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung
der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer
von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften gerierte sich die
Regierungskoalition als Vertreter der Frauenrechte. So
würden sie Zwangsverheiratungen, Scheinehen und generell Gewalt gegen Frauen - seien sie nun physischer
oder psychischer Natur - energisch bekämpfen. Doch
wie Frauen aus leidvoller Erfahrung aus den letzten
Jahrzehnten wissen, stehen CDU/CSU und FDP nicht
als frauenpolitische Avantgarde für die Rechte der
Frauen ein, schon gar nicht, wenn es um Migrantinnen
geht. Deshalb überrascht es auch nicht, dass gerade
Frauenorganisationen und Beratungsstellen kein gutes
Haar am Gesetzentwurf der Bundesregierung hinsichtlich der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen lassen.
Denn es ist unglaubwürdig, wenn die Bundesregierung
vorgibt, vor allem im Interesse der Opfer von Zwangsverheiratungen zu handeln. Ginge es der Bundesregierung tatsächlich um die Opfer von Zwangsverheiratungen, hätte sie bereits vor Jahren Verbesserungen für die
betroffenen Frauen und im geringeren Umfang auch für
betroffene Männer geschaffen. Zur Stärkung der Opfer
von Zwangsheiraten hätte man in Bezug auf flächendeckende, niedrigschwellige Beratungsangebote und Notfallunterbringungen oder in Bezug auf verfahrensrechtliche Änderungen zur Gewährleistung der Sicherheit
und Anonymität der Opfer im Gerichtsverfahren aktiv
werden können und müssen. Die umfassenden Forderungen der Fraktion Die Linke lassen sich in unserem damaligen Antrag mit der Bundestagsdrucksachennummer
16/1564 nachlesen. Entsprechende Vorschläge der
Fraktion Die Linke aus dem Jahr 2006 wurden in der
16. Wahlperiode des Bundestages jedoch von der Großen Koalition abgelehnt. Genauso wurde die Forderung,
ein effektives Rückkehrrecht im Aufenthaltsgesetz zu
schaffen, abgelehnt; abgelehnt, obwohl sich im Rahmen
einer Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend alle Sachverständigen mit einer
Ausnahme hierfür ausgesprochen hatten. Auch dies lässt
sich nachlesen. Und zwar im Ausschussprotokoll 16/13
und in der Ausschussdrucksache 16({0})91g.
Die Linke stand damals an der Seite der Frauenrechtsorganisationen und tut dies auch heute.
Im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung will
sie nun die Mindestehebestandszeit von zwei auf drei
Jahre unter dem Vorwand verlängern, Scheinehen zu bekämpfen. Diese Behauptung ist abwegig, und dieser Behauptung widersprechen eklatant die vorliegenden Daten
zur Zahl polizeilich erfasster Scheinehe-Verdachtsfälle,
die im Jahr 2009 mit 1 698 nicht einmal ein Drittel des
Werts aus dem Jahr 2000 erreichte, und 2000 gab es
noch eine Mindestehebestandszeit von vier Jahren.
Die Erhöhung der Ehebestandszeit ist ein Skandal,
und das weiß auch die Bundesregierung. Sie ist nicht zuletzt deshalb ein Skandal, weil sie auch gegen Europarecht verstößt. Wie die Bundesregierung einräumen
musste, ist die geplante Verlängerung der Mindestbestandszeit einer Ehe für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts von nachgezogenen Ehegatten
bei türkischen Staatsangehörigen aus europarechtlichen
Gründen nur bedingt anwendbar. So hat der Europäische
Gerichtshof mit dem „Toprak“-Urteil vom 9. Dezember
2010 entschieden, dass die geplante Verlängerung der
Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre auf die
größte Gruppe der Migrantinnen und Migranten aus europarechtlichen Gründen nur sehr bedingt anwendbar
ist. Denn das Assoziationsrecht sieht ein Verschlechterungsverbot für türkische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen vor: Einmal
gewährte Erleichterungen im Aufenthalts- und Arbeitsrecht dürfen nicht wieder zurückgenommen werden.
Wider besseres Wissen versucht die Bundesregierung
die Verschlechterungen beim Schutz der Opfer von
Zwangsverheiratungen dadurch zu verschleiern, dass
ein eigenständiger Straftatbestand geschaffen und das
Rückkehrrecht erweitert wird. Ersteres ist lediglich Symbolpolitik und hat mit einer realen Verbesserung nichts
zu tun. Diejenigen, die sich bisher nicht mit dem Strafgesetzbuch beschäftigt bzw. es ignoriert haben, werden es
auch weiterhin tun. Da spielt es keine Rolle, ob Zwangsverheiratung nun in § 240 des Strafgesetzbuches als besonders schwerer Fall der Nötigung oder in einem eigenen § 237 Abs. 4 des Strafgesetzbuches geregelt wird.
Und die einzige wirkliche Verbesserung - nämlich die
Einführung eines Rückkehrrechts - ist entsprechend nur
halbherzig angegangen worden.
Das vorgeschlagene Wiederkehrrecht für Opfer von
Zwangsverheiratungen, die von einer Rückkehr nach
Deutschland abgehalten werden, ist unzureichend. § 37
Abs. 2 a des Aufenthaltsgesetzes ist im Entwurf zunächst
nur als eine bloße Ermessensregelung ausgestaltet. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses Ermessen eine mit
dem Gedanken eines effektiven Opferschutzes unvereinbare Nützlichkeitsprüfung enthält. So ist Bedingung für
eine Rückkehr, dass sich die Betroffenen aufgrund „der
bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die
Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland
einfügen“ können. Ein Regelanspruch auf Rückkehr
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
ohne eine solche Prüfung der „Integrationsfähigkeit“
ist nur nach achtjährigem rechtmäßigem Aufenthalt und
sechsjährigem Schulbesuch in Deutschland vorgesehen.
Die geplante Regelung wird wegen dieser Restriktionen
nach Einschätzung des Deutschen Anwaltvereins nur
„ein plakatives Signal gegen Zwangsehe“ setzen und
wegen seiner unzureichenden Ausgestaltung „wenig
Praxisrelevanz haben“, wie ihrer Stellungnahme zu entnehmen ist. Auch die nur dreimonatige Bedenkzeit
„nach Wegfall der Zwangslage“ zur Stellung eines
Rückkehrantrags wird sich sicher angesichts der besonderen Ausnahmesituation und Belastungen der Betroffenen als viel zu kurz erweisen. Regelungen für verschleppte Personen ohne gefestigten Aufenthaltsstatus
in Deutschland wie zum Beispiel Geduldete fehlen in
dem Gesetzentwurf völlig.
Die Linke fordert deshalb ein wirksames Rückkehrrecht für zwangsverheiratete und verschleppte Personen. Zwangsverheirateten oder von Zwangsverheiratungen bedrohten oder gegen ihren Willen ins Ausland
verschleppte Personen, die rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatten und an einer
Rückkehr nach Deutschland gehindert werden, muss ein
unbeschränktes Recht auf Wiederkehr eingeräumt werden. Grundsätzlich darf der Aufenthaltstitel nicht durch
einen längeren Auslandsaufenthalt erlöschen. Die Frist
des Erlöschens muss vorsorglich auf drei Jahre verlängert werden. Und Die Linke fordert auch, dass für
zwangsverheiratete und ins Ausland verschleppte Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt, aber ohne rechtmäßigen Aufenthaltstitel in Deutschland ein Rückkehrrecht
und Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
aus humanitären Gründen geschaffen wird.
Eine weitere zentrale Forderung der Linken bleibt,
dass auf die geplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit verzichtet wird. Wir brauchen vielmehr eine
Härtefallregelung für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ehegatten. Das muss durch entsprechende
Klarstellungen so ausgestaltet werden, dass sie insbesondere von Opfern von Gewalt und Zwangsheirat ohne
Angst vor einer Abschiebung jederzeit effektiv in Anspruch genommen werden kann. Das wäre dann auch
frauenfreundlich.
Bündnis 90/Die Grünen haben mit ihrer Anhörung
„Zwangsverheiratung ist keine Ehrensache“ im Juli
2003 als erste Fraktion im Deutschen Bundestag auf
diese Menschenrechtsverletzung hingewiesen. Im Jahr
2005 hat die rot-grüne Koalition Zwangsverheiratungen
als einen Fall „besonders schwerer Nötigung“ im Strafgesetzbuch ausdrücklich verankert. Seit dem Ende der
rot-grünen Koalition hat die Bundesregierung keine adäquaten Versuche unternommen, um Migrantinnen, die
von Zwangsverheiratungen bedroht oder betroffen sind,
zu helfen.
Was die Bundesregierung nun in ihrem Gesetzentwurf
zur Bekämpfung von Zwangsheirat und zum besseren
Schutz der Opfer von Zwangsheirat vorlegt, ist schäbig.
Sie ist offenbar nicht gewillt, für adäquaten Schutz der
Betroffenen zu sorgen.
Wir haben daher als Alternative einen eigenen Antrag
„Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen
durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative“ in den Bundestag eingebracht. Unser Antrag sieht einen umfassenden Aktionsplan vor, der von
den Betroffenenverbänden ausdrücklich unterstützt
wird. Kernforderungen unseres Antrags sind die Gewährung eigenständiger Aufenthaltsrechte und wirksamer
Rückkehrrechte für Migrantinnen und Migranten, die
von Zwangsverheiratungen betroffen sind. So soll jungen Ausländerinnen und Ausländern, die seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind, von Amts
wegen und unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhalts eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden.
Die Niederlassungserlaubnis erlischt auch dann nicht,
wenn sich die betreffende Person - zum Beispiel aufgrund einer Zwangsverheiratung - länger als sechs Monate im Ausland aufhält. Des Weiteren wollen wir ins
Ausland verschleppten Opfern von Zwangsverheiratungen ein umfassendes Rückkehrrecht gewähren, und zwar
unabhängig von einer bestimmten Voraufenthaltsdauer
oder der Sicherung des Lebensunterhalts.
Daneben schlagen wir die Gründung einer dauerhaften Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zwangsverheiratungen“ vor, um mit den Ländern verbindliche Regelungen
für das regelmäßig notwendige länderübergreifende
Handeln zu vereinbaren, damit den Opfern von Zwangsverheiratungen schnell, unbürokratisch und langfristig
geholfen werden kann. Frauen, die vor einer Zwangsverheiratung flüchten, befinden sich in einer physischen
und psychischen Extremlage. Für langwierige, bürokratische Zuständigkeitsstreitigkeiten, insbesondere bei
jungen Volljährigen, haben sie keine Zeit.
Die Bund-Länder-AG soll im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung für einen flächendeckenden Ausbau
von niedrigschwelligen Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen sorgen. Daneben soll sie Aufklärungskampagnen entwickeln und finanzieren und hierbei insbesondere darauf hinwirken, dass an Schulen die Themen
Zwangsverheiratung und häusliche Gewalt in die Lehrpläne aufgenommen werden, dass Lehrerinnen und Lehrer entsprechend fortgebildet und sensibilisiert werden
und dass Anlaufstellen geschaffen werden, an die sich
Schülerinnen und Schüler wenden können, wenn sie direkt oder indirekt von Zwangsverheiratungen betroffen
sind.
Schließlich fordern wir Änderungen im Ehe-, Unterhalts- und Erbrecht, um die Aufhebung der Ehe zu erleichtern und die betroffenen Frauen finanziell abzusichern.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist skandalös und ein falsches Signal. Hier möchte ich nur zwei Regelungen hervorheben, die dringend einer Änderung bedürfen, um die Situation der Opfer von Zwangsehen zu
verbessern.
Es ist zwar positiv, dass die Bundesregierung endlich
erkannt hat, dass den betroffenen Frauen ein RückkehrZu Protokoll gegebene Reden
recht gewährt werden muss. Diese Rückkehrmöglichkeit
macht die Bundesregierung allerdings von einer positiven Integrationsprognose abhängig. Sie lässt also
Frauen mit einem niedrigen Bildungsgrad oder solche
ohne finanzielle Absicherung in ihrer prekären Lage im
Stich. Ein unterschiedliches Schutzniveau lässt sich
nicht begründen, insbesondere wenn man immer wieder,
wie die Bundesregierung, zu Recht betont, welch
schwerwiegende Straftat die Zwangsheirat ist. Wir sind
dafür, allen Opfern von Zwangsheirat ein umfassendes
Rückkehrrecht einzuräumen ohne Prüfung der Voraufenthaltsdauer, der Sicherung des Lebensunterhalts oder
anderweitiger Integrationsprognosen.
Die zweite Regelung, von der die Bundesregierung
Abstand nehmen sollte, ist die Verlängerung der Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre für ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht. Anstatt wie vom Gesetzentwurf angeblich vorgesehen, die Opfer von
Zwangsehen besser zu schützen, führt die Verlängerung
der Mindestehebestandszeit zu einer gravierenden Verschlechterung der Situation der Opfer. Schon heute bleiben viele misshandelte Migrantinnen aus Angst vor einer Abschiebung in einer ungewollten und gewalttätigen
Ehe. In Zukunft sollen sie noch ein Jahr länger in dieser
Lebenssituation ausharren. Auch die Härtefallregelung
kann hier nicht ausreichend weiterhelfen, sie entfaltet
aus verschiedenen Gründen in der Praxis leider nicht
die erhoffte Wirkung. Um Mädchen und junge Frauen
stark genug zu machen, um sich aus ihrer Zwangslage
befreien zu können und ihnen die notwendige Unterstützung und den notwendigen Schutz zu bieten, bitte ich um
Zustimmung zu unserem Antrag.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4681 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Tarifverhandlungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst der Länder - Höhere Löhne
absichern
- Drucksache 17/4841 Armin Schuster ({0}) ({1}):
Dies ist eine merkwürdige und in jedem Fall überflüssige Debatte. Ich möchte kurz etwas zur Art und Weise
sagen, wie dieser Antrag eingebracht wurde. Wir kennen
den Tagesordnungspunkt schon seit etwa einer Woche,
allerdings nur seine Überschrift. Den Antragstext selbst
haben wir erst vor zwei Tagen erhalten. Leider stimmen
Überschrift und Inhalt nicht im Mindesten überein. Es
gehört wohl zu den parlamentarischen Gepflogenheiten
der Linken, Texte von Anträgen erst sehr kurzfristig bekannt zu geben, sodass man die innere Widersprüchlichkeit des Antrags erst im letzten Moment erfährt. Gemäß
der Überschrift geht es der Fraktion der Linken um höhere Löhne für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes der Länder. Der Hintergrund ist klar: Es gibt dort
derzeit wieder Tarifverhandlungen, in denen wie immer
hart gerungen wird. Erst im Antragstext offenbart sich
dann das eigentliche Thema: nämlich die Finanzsituation der Länder.
Ich zitiere: „Der Deutsche Bundestag fordert die
Bundesregierung auf: gesetzliche Vorschläge für die
dauerhafte Verbesserung der finanziellen Ausstattung
der Länder vorzulegen, zum Beispiel durch Veränderung
der Aufteilung der Gemeinschaftssteuern. Die Länder
müssen so in die Lage versetzt werden, einen erfolgreichen Tarifabschluss für die Angestellten im öffentlichen
Dienst der Länder zu gewährleisten.“
Ja, die Finanzsituation der Länder ist angespannt.
Allerdings war sie dies auch schon in früheren Tarifrunden. Und es geht auch nicht nur den Ländern so: Der
Bund und die Kommunen müssen ebenso seit Jahren mit
einer angespannten Kassenlage leben, müssen sich der
Aufgabe der Haushaltskonsolidierung stellen. Tatsächlich sind wir mit einer Rekordverschuldung der Länder
konfrontiert, aber auch hier muss man die Lage differenziert betrachten:
Erstens. Es gibt Länder, die durchaus sparsam haushalten und sich mit einer ernsthaften Haushaltskonsolidierung finanzielle Spielräume erarbeiten. Und es gibt
eben Länder, die dies nicht tun, und für die schreien Sie
hier um Hilfe.
Zweitens. Die aktuell angespannte Finanzlage ergibt
sich bekannterweise größtenteils aus der zurückliegenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Auch diese wird von
den Ländern unterschiedlich gut und kompetent bewältigt.
Drittens. Der erkennbare Wirtschaftsaufschwung
wird allen öffentlichen Kassen nutzen: den kommunalen
genauso wie denen in Bund und Ländern. Deutschland
kommt gut aus der Krise, viel besser übrigens als die
meisten anderen EU-Staaten. Aber auch hier gilt: Die
Länder sind ihres eigenen Glückes Schmied. Die einen
nutzen den Aufwind zur strikten Konsolidierung, andere
Länder wie NRW haben nicht nur nicht verstanden, was
jetzt beim Thema Schuldenabbau zu tun ist. Nein, dort
wird noch kräftig draufgepackt. Diese Suppe muss die
Regierung NRW schon alleine auslöffeln. Es kann doch
niemand von uns verlangen, dass wir groben haushalterischen Unfug von hier aus noch unterstützen.
Viertens. Das zurückliegende Finanz- und Wirtschaftskrisenmanagement des Bundes, zum Beispiel in
Form der Kurzarbeiterregelungen und der Qualifizierungsprogramme, war eine Milliardeninvestition und
somit die größte Unterstützungsleistung, die wir den
Kommunen und Ländern angedeihen lassen konnten.
Wir haben Massenarbeitslosigkeit verhindert, wir haben
Jugendarbeitslosigkeit in der Krise reduziert, wir haben
Firmenpleiten abgewendet. Aber auch diese Startvo10650
Armin Schuster ({2})
raussetzungen wurden in den Ländern leider sehr unterschiedlich genutzt.
Nehmen wir zu dieser Krisenbewältigungsleistung
jetzt auch noch die Segnungen des Länderfinanzausgleichs für die Nehmerländer, dann ist Ihre Forderung,
meine sehr verehrten Damen und Herren von den Linken, grotesk. Selbst beim Verhandlungsergebnis um
Hartz IV haben wir auf die finanziellen Belange von
Ländern und Kommunen in besonderem Maße geachtet.
Gerne führe ich mit Ihnen als baden-württembergischer Abgeordneter auch eine Debatte über Haushaltsdisziplin und den Willen einzelner Landesregierungen zu
großen Sparanstrengungen. Vielleicht können Sie dabei
etwas lernen. Wenn die Linke sich ernsthaft für die Beschäftigten der Länder einsetzen will, dann kann sie es
in den Ländern tun, wo sie politische Verantwortung
trägt. Wie alle im Bundestag vertretenen Parteien ist
auch die Linke zumindest in einigen Landesparlamenten
vertreten und in mehreren Ländern Teil einer Landesregierung. Das wären die richtigen Orte, um die hier formulierten politischen Ziele umzusetzen. So stellt die
Linke beispielsweise in Brandenburg den Finanzminister. Über diesen Weg könnten Sie Einfluss nehmen und
gleichzeitig den Landesparlamenten und der Öffentlichkeit erklären, wie Sie Ihr Ansinnen - oder soll ich sagen:
Ihre sozialen Wunschkonzerte - zu finanzieren gedenken. Auch ich wünsche mir ausreichend Geld für dringende Investitionen, für die finanzielle Anerkennung an
die Beschäftigten, für Bildung und Forschung. Dies
funktioniert aber nur, wenn alle Beteiligten ernsthafte
Anstrengungen unternehmen, um Einnahmen und Ausgaben ins Gleichgewicht zu bringen. Ansonsten gilt: Die
Tarifpartner werden angemessene Ergebnisse herbeiführen. So haben sie es auch in der Vergangenheit gehalten. Und so wie wir es in der Vergangenheit gehalten haben, so wird sich der Bundestag nicht in die
Verhandlungen einmischen. Wir halten an der Tarifautonomie fest.
Dieser Antrag ist also juristisch wie politisch verfehlt
und indiskutabel. Man fragt sich abschließend, ob es ein
eklatanter Mangel an Kenntnissen in Haushalts-, Finanzpolitik und Tarifrecht ist oder lediglich politische
Schaustellerei. Der Antrag ist natürlich abzulehnen.
Der vorliegende reichlich dürre, unvollständige und
dem Problem wirklich nicht angemessene Antrag der
Fraktion Die Linke führt uns wieder einmal eindrucksvoll vor Augen, was der Unterschied zwischen „gut“
und „gut gemeint“ ist: Denn der Bund und damit auch
der Deutsche Bundestag sind weder für die Tarifverhandlungen der Länder noch für die knapp 600 000 tarifbeschäftigten Landesbeschäftigten zuständig. Die
finanzielle Lage vieler Länder erfordert mehr, als nur
mit den Personalkosten zu argumentieren.
Im Übrigen ist es schon mehr als enttäuschend, dass
der Antrag die Kommunen mit keinem Wort erwähnt.
Die Gemeinden und Kreise sind aber von der schädlichen Politik von Schwarz-Gelb genauso betroffen. Neben dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat allein
die Absenkung der Unternehmensbesteuerung bei Funktionsverlagerungen und Finanzierungsdienstleistungen
zu Mindereinnahmen von mindestens 650 Millionen
Euro geführt. Das kann man in diesem Zusammenhang
nicht oft genug erwähnen. Gemeindefinanzreformkommission, Finanzkrise und Staatsverschuldung, Schuldenbremse und Länderfinanzausgleich - nur diese wenigen
Stichwörter genügen, damit klar wird: Das Thema
Finanzverfassung ist und bleibt ein echtes Bohren dicker
Bretter. Der Antrag aber schafft nicht mehr, als auf diesem Brett oberflächtlich herumzukratzen.
Die Fraktion Die Linke hat dem Bundestag einen Antrag vorgelegt, der den Bund auffordert, sich über eine
Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Länder in
die Tarifverhandlungen einzumischen. Mit der Föderalismusreform wurde das öffentliche Dienstrecht in den
Kompetenzbereich der Bundesländer verlagert. Auch
für die Angestellten des öffentlichen Dienstes kam es zu
einer Trennung der Tarifverhandlungen zwischen Bund
und Kommunen auf der einen und den Bundesländern
auf der anderen Seite. Der Vorschlag der Fraktion Die
Linke ist daher aus meiner Sicht ein systemwidriger Eingriff.
Der Bund hat Anfang letzten Jahres die Tarifverhandlungen für die Angestellten des Bundes und der Kommunen geführt. Der Weg zu einer Einigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war steinig und konnte
letztendlich nur über die Einschaltung von Schlichtern
erreicht werden. Am 4. Februar 2011 hat nun die Einkommensrunde für die Bundesländer begonnen. Auch
hier zeichnet sich kein schnelles Übereinkommen ab. Zu
weit liegen die Forderungen der Gewerkschaften und
der Vertreter der Länder auseinander. Verdi oder der
Deutsche Beamtenbund dbb fordern insgesamt rund
5 Prozent mehr Lohn, aufgeteilt auf 50 Euro Sockelbetrag plus 3 Prozent lineare Erhöhung. Die Forderung
nach einer Beteiligung der Arbeitnehmer am Aufschwung ist verständlich. Die angespannte finanzielle
Situation der Länder muss jedoch in den Tarifverhandlungen ebenfalls berücksichtigt werden.
An dieser Stelle sei jedoch auf das Prinzip der Tarifautonomie verwiesen. In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes
ist das Recht vereinbart, Tarifverträge frei von staatlichen Eingriffen zu schließen. Der Bund hat nicht das
Recht, sich in irgendeiner Form in die laufenden Verhandlungen zwischen den Ländern und den Arbeitnehmerorganisationen einzuschalten. Beide Parteien müssen über den Weg der Verhandlungen miteinander zu
einem fairen Tarifabschluss kommen.
Die Fraktion Die Linke erkennt die Unmöglichkeit
der Lohnforderungen aufgrund der finanziellen Situation der Länder an. Sie fordert daher ihre finanzielle
Unterstützung durch den Bund. Ein Blick auf die Situation des Bundes jedoch zeigt, dass auch dieser nicht die
finanziellen Kapazitäten hat. Die Neuverschuldung
konnte dank der günstigen Konjunkturlage Anfang dieses Jahres weiter reduziert werden. Der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble strebt eine Aufnahme
Zu Protokoll gegebene Reden
von Neuschulden in Höhe von rund 40 Milliarden Euro
an. So positiv diese Entwicklung ist, so wichtig ist es jedoch, weiterhin am Abbau von Schulden festzuhalten.
Die im Grundgesetz vorgeschriebene Schuldenbremse,
die eine Begrenzung der Nettokreditaufnahme auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab 2016
vorsieht, kann nur durch intensive Sparbemühungen eingehalten werden. Eine konjunkturelle Komponente ist
übrigens bei der Schuldenbremse bereits integriert. In
konjunkturell schlechteren Zeiten ist zwar eine höhere
Neuverschuldung erlaubt, in konjunkturell besseren und
guten Zeiten wird aber eine stärkere Rückführung der
Neuverschuldung durch verschärfte Sparanstrengungen
oder Mehreinnahmen verlangt.
Als möglichen Weg zu einer finanziellen Besserstellung der Länder fordern die Antragsteller eine veränderte Aufteilung der Gemeinschaftssteuern. Lassen Sie
mich zunächst unterstreichen, dass der Bund mit der
Hartz-IV-Regelung die Kommunen deutlich entlastet
hat. Der Bund nimmt ihnen ab 2012 in drei Schritten die
Kosten für die Grundsicherung im Alter ab, bis sie ab
2014 vollständig beim Bund liegen soll. Damit hat die
schwarz-gelbe Bundesregierung bereits ein deutliches
Zeichen zur finanziellen Entlastung der Kommunen gesetzt.
Eine veränderte Verteilung der Gemeinschaftssteuern
hingegen ist nur möglich, wenn eine strukturelle Veränderung des Verhältnisses zwischen Ein- und Ausgaben
von Bund und Ländern stattfindet. Eine regelmäßig sowohl auf Länder- als auch auf Bundesebene stattfindende Tarifrunde im öffentlichen Dienst erfüllt dieses
Kriterium nicht. Die Tarifverhandlungen sind nicht auf
die Beseitigung struktureller Lohndefizite, sondern im
Wesentlichen auf die Teilhabe am konjunkturellen Aufschwung gerichtet. Außerdem würde eine Veränderung
des Anteils an den Gemeinschaftssteuern das Ergebnis
der Verhandlungsrunde gewissermaßen vorwegnehmen:
Würden aufgrund der zu erwartenden Personalmehrausgaben Veränderungen im Verteilungsschlüssel beschlossen, so entstünde daraus der politische Druck, die
„bereits finanzierten“ Forderungen der Gewerkschaft
entsprechend zu erfüllen. Dies widerspräche aber sowohl der Unabhängigkeit der Tarifpartner in den Verhandlungen als auch der Finanzhoheit der Länder und
ihrer föderalen Unabhängigkeit vom Bund. Den vorliegenden Antrag lehnen wir aus den genannten Gründen
ab.
Der zarte Aufschwung nach der schwersten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren kommt bei der Mehrheit der
Menschen nicht an. Die Bevölkerungsmehrheit hat für
die Krise gezahlt, aber die Beschäftigten haben nichts
vom Aufschwung. Auch die Bundesregierung weiß, dass
dies nicht lange gut gehen kann. Der Export wird die
deutsche Wirtschaft nicht auf Dauer tragen, weil in ganz
Europa Kürzungspakte gegen die Bevölkerungsmehrheit
anstehen. Wenn unsere Handelspartner aber sparen,
werden unsere Unternehmen nicht dauerhaft vom Auslandsgeschäft leben können. Selbst die Bundesregierung
streitet dies nicht länger ab. Der Wirtschaftsminister hat
daher für deutliche Lohnerhöhungen plädiert. Zugleich
betonte er, Lohnerhöhungen lägen in der Verantwortung
der Tarifpartner. Die Bundesregierung weiß natürlich,
dass dies angesichts der Agenda 2010 und der Hartz-IVGesetzgebung ein schlechter Witz ist. Denn diese Gesetze wurden ja zu dem Zweck gemacht, die Löhne zu
drücken. Denn wer Angst vor dem sozialen Abstieg hat,
der streikt nicht. Aber nehmen wir den Wirtschaftsminister dennoch beim Wort: Wenn höhere Löhne in der Verantwortung der Tarifparteien liegen, dann ist bei der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst der Länder die
Politik gefragt. Denn die Politik sitzt nun am Verhandlungstisch als Arbeitgeber.
Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der
Länder sind ein wichtiges Signal für die Lohnforderungen der Beschäftigten in der privaten Wirtschaft. Die
Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert für die Tarifbeschäftigten der Länder 50 Euro Sockelbetrag plus
3 Prozent lineare Erhöhung. Die Laufzeit des neuen Tarifvertrages soll 14 Monate betragen, und das entspricht
einer Anhebung der Bezüge um 5 Prozent. Dies entspricht laut Niedersachsens Finanzminister Hartmut
Möllring, CDU, einem Mehrbedarf der Bundesländer
von 4,5 Milliarden Euro jährlich. Die Bundesregierung
ist daher gefordert, gesetzliche Vorschläge für die dauerhafte Verbesserung der finanziellen Ausstattung der
Länder vorzulegen, zum Beispiel durch Veränderung der
Aufteilung der Gemeinschaftssteuern.
Die Länder müssen so in die Lage versetzt werden, einen erfolgreichen Tarifabschluss für die Angestellten im
öffentlichen Dienst der Länder zu gewährleisten. Das ist
gerecht: Feuerwehrleute, Polizisten, Lehrer und Richter
leisten unverzichtbare und harte Arbeit für unsere Gesellschaft. Sie arbeiten am Anschlag und pfeifen auf dem
letzten Loch. Und es ist finanzierbar: Höhere Löhne sind
machbar, wenn die Bundesregierung ihre unsinnige
Steuerpolitik korrigiert. Durch die Änderungen der Steuergesetze seit 1998 sind für die Länder jährlich Steuereinnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe weggebrochen. Für das letzte Jahr beziffern Steuer- und Finanzexperten die so entstandenen Mindereinnahmen auf
25 Milliarden Euro. Durch die Auswirkungen des sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetzes vom Dezember 2009 sind die Haushalte der Länder mit weiteren
2 Milliarden Euro belastet worden. Deutschland ist in
Europa Schlusslicht beim Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Selbst in den USA liegt er höher. Nur
im kleinen Luxemburg sind es noch weniger öffentliche
Beschäftigte im Vergleich zu allen Beschäftigten. Aber:
In Luxemburg ist die Entlohnung besser.
Diese Entwicklung muss umgekehrt werden, und hier
liegt die Verantwortung der Bundesregierung. Wer den
Aufschwung durch höhere Löhne sichern und gute öffentliche Dienste für die Bevölkerung will, muss die
Lohnforderungen von Verdi unterstützen. Dazu müssen
den Ländern die erforderlichen finanziellen Mittel bereitgestellt werden. Wer es ernst meint mit der Forderung von Herrn Brüderle nach höheren Löhnen, der
sollte den Antrag meiner Fraktion unterstützen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Heute morgen meldete das Statistische Bundesamt
das staatliche Finanzierungsdefizit Deutschlands im
Jahr 2010: 82 Milliarden Euro. Aufgeteilt auf die staatlichen Ebenen betrugen die Defizite des Bundes
57,9 Milliarden Euro, der Länder 17,2 Milliarden Euro
und der Gemeinden 10 Milliarden Euro. Wenn man solche Zahlen betrachtet, dann ist es ausgesprochen unverständlich, wenn aus den Reihen der Koalition schon wieder Steuersenkungspläne für 2013 geäußert werden. Da
wird so lange mit dem Feuer gespielt, bis unser Gemeinwesen vollständig abgebrannt ist. Schon jetzt beträgt die
staatliche Verschuldung fast 2 Billionen Euro.
Daher ist das Anliegen richtig, die finanzielle Ausstattung der Länder zu verbessern. Eine Veränderung
der Aufteilung der Gemeinschaftsteuern halte ich aber
nicht für den richtigen Weg. Wir haben für eine bessere
finanzielle Ausstattung aller staatlichen Ebenen in unserem Haushaltskonzept einen Weg vorgelegt: Durch den
Abbau von Subventionen und durch selektive Steuererhöhungen für diejenigen mit starken Schultern könnten
wir auch Länder und Kommunen entscheidend entlasten.
Mit dem im Vermittlungsausschuss zu den HartzReformen ausgehandelten Kompromiss zur Übernahme
der Kosten für die Grundsicherung im Alter wird auf den
ersten Blick zumindest die Finanzsituation der Kommunen verbessert. Ab 2015 sollen diese Kosten nach dem
vorliegenden Vorschlag ausschließlich vom Bund getragen werden. Grundsätzlich ist es auch nicht verkehrt,
wenn der Bund die Kosten der Grundsicherung im Alter
von den Kommunen übernimmt. Aber der jetzt vereinbarte Kompromiss ist ein Geschäft zulasten Dritter,
nämlich zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch zulasten der Unternehmen, die ja paritätische Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlen.
Derzeit wenden die Kommunen für die Grundsicherung im Alter rund 3,5 Milliarden Euro auf - mit stark
steigender Tendenz. Der Bund beziffert die Entlastung
der Kommunen bis 2015 auf 12,24 Milliarden Euro
netto. Dieser Nettoentlastung steht eine Belastung des
BA-Haushalts in gleicher Höhe gegenüber. Damit wird
die Handlungsfähigkeit dieser zentralen Sozialversicherung infrage gestellt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise
haben wir auf dem Arbeitsmarkt so gut überstanden,
weil die BA eine Rücklage in Höhe von deutlich über
10 Milliarden Euro hatte und so die Kurzarbeit erfolgreich finanziert werden konnte. Jetzt steckt in der BA
schon ein Milliardendefizit, das sich durch diese Entscheidung im Vermittlungsausschuss heftig verschärft.
Die BA selbst rechnet bis 2015 mit einem Defizit von
knapp 10 Milliarden Euro - bei einem unterstellten, konstant guten Konjunkturverlauf.
Wir müssen in der Haushalts- und Finanzpolitik dringend umsteuern. Dies muss sich konkret in der Ausgaben- und Einnahmenstruktur auf allen Ebenen widerspiegeln. Wichtige Zukunftsaufgaben müssen finanziert
werden, gleichzeitig aber müssen die Gesamtausgaben
maßvoll bleiben. Das ist der Anspruch, den die Bürgerinnen und Bürger zu Recht an die Politik stellen. Steuersenkungen sind darauf keine Antwort; sie würden die
bereits dramatische Lage der Staatsfinanzen weiter verschärfen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4841. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller anderen Fraktionen abgelehnt.
({0})
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Februar 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.