Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie herzlich, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten,
möchte ich unserem Alterspräsidenten Heinz
Riesenhuber zu seinem 74. Geburtstag gratulieren, den
er am Dienstag dieser Woche begangen hat, und dazu
alle guten Wünsche des ganzen Hauses übermitteln.
({0})
Gemäß § 93 b Abs. 8 unserer Geschäftsordnung sind
auf Vorschlag der Fraktionen deutsche Mitglieder des
Europäischen Parlaments zu berufen, die an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union teilnehmen können. Anzahl und Verteilung dieser Sitze sind in unserer Geschäftsordnung nicht
festgelegt und müssen folglich nach Wahlen zum Europaparlament oder zum Deutschen Bundestag neu festgelegt werden. Die Fraktionen haben sich auf insgesamt
16 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europäischen
Parlaments verständigt. Davon entfallen auf die CDU/
CSU sieben, auf die SPD vier, auf die FDP und auf
Bündnis 90/Die Grünen jeweils zwei sowie auf Die
Linke ein Mitglied. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist offenkundig der Fall. Dann können wir so verfahren.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchwinken des SWIFT-Abkommens durch
die Bundesregierung und Umgehung des Europäischen Parlaments
({1})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung ({2}), Marie-Luise Dött, Dr. Christian
Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Harald
Leibrecht, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für ein wirksames und faires globales Klimaschutzabkommen in Kopenhagen
- Drucksache 17/100 ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD
Bildungsproteste nicht aussitzen - Hochschulgipfel vorziehen
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz, Katja Mast, Olaf Scholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Durch Vorrang für Anerkennung Integration
stärken - Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen
- Drucksache 17/108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 4 a, 5 b und 17 werden abgesetzt.
Darf ich zu diesen Veränderungen Einvernehmen
feststellen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 sowie die Tagesordnungspunkte 4 b bis 4 d auf:
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung ({4}), Marie-Luise Dött, Dr. Christian
Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Michael Kauch, Harald
Leibrecht, Horst Meierhofer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Für ein wirksames und faires globales Klima-
schutzabkommen in Kopenhagen
- Drucksache 17/100 -
4 b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Klimakonferenz in Kopenhagen zum Er-
folg führen - Deutschlands und Europas Vor-
reiterrolle nutzen und stärken
- Drucksache 17/105 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Dorothee
Menzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kehrtwende beim globalen Klimaschutz auf
UN-Gipfel in Kopenhagen
- Drucksache 17/115 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kopenhagen mit verbindlichen und ambitionierten Klimaschutzzielen zum Auftakt einer
globalen ökologischen Modernisierung machen
- Drucksache 17/120 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache neunzig Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Umwelt, Dr. Norbert
Röttgen.
({5})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute sind es nur noch wenige Tage bis zur Weltklimakonferenz in Kopenhagen, auf der die Weichen für
die nächsten Jahrzehnte gestellt werden. Es geht bei den
Beratungen auf der Konferenz um unsere Art, zu leben.
Es geht um Überleben. Es geht um unsere Art, zu wirtschaften. Es geht um Technologie und Wohlstandssicherung. Es geht auch um Sicherheit. Weil es um all diese
Güter, um all diese Lebensziele geht, bin ich davon überzeugt - ich möchte dieses auch hier wiederholen -, dass
es zum Erfolg dieser Konferenz aus der Sache heraus
keine Alternative gibt. Wir alle sind verpflichtet, dieser
Konferenz zum Erfolg zu verhelfen.
({0})
Für Meldungen oder Meinungsbekundungen, in denen von einem Scheitern der Konferenz die Rede ist und
in denen die Überlegung „Es muss ja nicht klappen; wir
können es auch vertagen oder später fortsetzen“ geäußert
wird, hatte und habe ich kein Verständnis. Ich freue mich
darüber, dass inzwischen die Verhandlungen eine gewisse Dynamik entwickelt haben und der Erfolgswille
aller Verhandlungspartner sichtbar ist. Diese Entwicklung kann man im Zeitraum zwischen der Debatte zur
Regierungserklärung, die wir hier geführt haben, und der
Diskussion, die wir heute, wenige Tage vor Konferenzbeginn, führen, feststellen. Wir Deutsche, wir Europäer
ließen uns von Diskussionen über das Scheitern der
Konferenz sowieso nicht anstecken, sondern Deutschland und Europa sind im Hinblick auf diese internationale Entwicklung und Politikgestaltung Vorreiter.
Da wir gestern auch im Europaausschuss eine Debatte
dazu geführt haben, was mich sehr gefreut hat, möchte
ich diese Gelegenheit zu folgender Randbemerkung nutzen: Im Bereich des Klimaschutzes zeigen wir Europäer,
was wir leisten können, wenn wir eine gemeinsame Gestaltungsidee haben und nach außen geschlossen dafür
eintreten. Europa kann sehr viel. Es ist sehr schön, dass
Europa auch zeigt, was es kann, gerade beim Klimaschutz.
({1})
Inzwischen haben alle Weltregionen und großen Länder ihre Zahlen auf den Tisch gelegt. Brasilien, Korea,
Japan und Südafrika haben durchaus ambitionierte Klimaziele formuliert. Daran wird deutlich, dass Europa
nicht mehr die einzige Region der Welt ist, die ambitioniert ist und etwas erreichen will, sondern dass die Treiber dieser Entwicklung aus allen Weltregionen kommen
und dass sich diese Entwicklung zunehmend zu einem
globalen Prozess und Trend verdichtet.
Auch China und die USA haben ihre Zahlen auf den
Tisch gelegt. Die USA haben angekündigt, ihren CO2Ausstoß im Vergleich zum Jahr 2005 um 17 Prozent zu
reduzieren. Das internationale Referenzjahr ist 1990.
Wenn man die Ankündigung der USA, eine Reduzierung
des CO2-Ausstoßes in Höhe von 17 Prozent im Vergleich
zu 2005 vorzunehmen, mit der entsprechenden Zahl im
Referenzjahr 1990 ins Verhältnis setzt, dann schmelzen
die genannten 17 Prozent auf 4 Prozent zusammen. Das
ist ein wichtiger Bestandteil unserer Bewertung. Man
muss allerdings auch die andere Seite der Medaille betrachten:
Erstens muss man, so glaube ich, akzeptieren, dass
die amerikanische Regierung nicht acht Jahre einer Administration, in der der Klimaschutz keine Rolle gespielt
hat, rückgängig machen kann. Die USA starten später.
Wir sind schon länger dabei; nebenbei bemerkt: auch zu
unserem Vorteil.
Zweitens muss man zur Kenntnis nehmen, dass die
USA in den letzten Jahren unser Tempo der Reduzierung
des CO2-Ausstoßes schon erreicht haben und sich vorgenommen haben, in den Jahren nach 2020 sogar schneller
zu werden als wir, um am Ende auch die gleichen Ziele
wie wir zu erreichen.
Damit will ich nicht beschönigen, dass in den USA
nach der bisherigen Ankündigung immer noch weniger
geleistet wird, als bis zum Jahre 2020 notwendig wäre.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass auch in den USA
eine Trendumkehr stattgefunden hat. Es wird dort nicht
mehr über eine Ausweitung oder Beibehaltung des StaBundesminister Dr. Norbert Röttgen
tus quo, sondern es wird erstmalig über eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes gesprochen. Dass es dazu kommen wird, dass die USA, wenn sie ein paar Jahre Zeit
gewonnen haben, massiv Energietechnologie und sonstige Technologie für den Klimaschutz einsetzen werden,
darüber sollten wir uns im Klaren sein. Diesen Trend
sollten wir zur Kenntnis nehmen, sowohl als Herausforderung für uns als auch als Zeichen der Entschlossenheit
der USA.
Ähnliches gilt für China, das Klimaziele vorgelegt
hat, bei denen sie ganz sicher noch etwas drauflegen
können, auch drauflegen müssen. Die chinesische Innenpolitik sieht allerdings Klimaschutz, CO2-Reduzierung,
ja sogar eine gewisse Entkopplung von Wachstum - zu
diesem Ziel bekennt sich China weiterhin nachdrücklich und Energie- und Ressourcenverbrauch ausdrücklich
vor. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen,
dass dies ein Teil der wirtschaftspolitischen Strategie im
nächsten Fünfjahresplan der Chinesen sein wird, dass sie
also klarmachen werden, wohin die Reise in China geht,
und dass sie dies mit den Mitteln einer autoritären Regierungsform per Kommando durchsetzen werden.
Ich betone das, um zu zeigen, wie der globale Entwicklungstrend läuft, dass er noch nicht am Ziel ist, dass
es Dynamik gibt, aber auch, dass der Prozess kein
Selbstläufer ist. Ich schildere diesen Prozess, um eine
kritische Frage, die in diesem Zusammenhang immer
wieder eine Rolle spielt und die ich in meinen ersten
Wochen als Umweltminister immer wieder gehört habe,
hier ausdrücklich zu benennen. Sie lautet: Können wir es
uns als Industrieland Deutschland leisten, konsequenten
ambitionierten Klimaschutz zu betreiben? Mit dieser
Frage bin ich immer wieder konfrontiert worden, und
darum möchte ich sie hier beantworten, und zwar, indem
ich sage, dass ich schon die Fragestellung für falsch
halte. Ich möchte an die Stelle dieser Frage die aus meiner Sicht richtige Frage stellen. Sie lautet: Könnten wir
es uns überhaupt leisten, auf konsequenten ambitionierten Klimaschutz zu verzichten? Die Antwort auf diese
Frage ist: Nein, wir können es uns nicht leisten, auf Klimaschutz zu verzichten.
({2})
Dafür gibt es mehrere Begründungen. Ich möchte
mich auf einen Begründungspfeiler, von dem ich glaube,
dass wir ihn auch in der Vermittlung und Kommunikation neben anderen Begründungspfeilern noch ausbauen
müssen, stützen. Der Begründungspfeiler für meine
These, dass wir es uns nicht leisten können, auf Klimaschutz zu verzichten, besteht darin, dass es sich beim
Klimaschutz um ein ökonomisches und technologisches Wettrennen handelt. Warum ist der Klimaschutz
ökonomisch wie technologisch ein Wettrennen, ein
Wettbewerb? Das ist deshalb so, weil bis 2050 - das ist
der Zeithorizont, über den wir reden - auf der Welt über
2 Milliarden Menschen mehr leben werden. All diese
Menschen erstreben und ersehnen, so zu leben, wie Nordamerikaner und Westeuropäer heute leben. Mit diesem
Bevölkerungswachstum und der Entwicklungsrichtung,
die diese Menschen für sich persönlich haben, ist zwingend ein enormer Anstieg der Nachfrage nach Energie
und knappen Ressourcen verbunden. Mit einer solchen
enormen Nachfragesteigerung nach den endlichen,
knappen Gütern Energie und Ressourcen würde zwingend verbunden sein, dass die Preise ebenso wie unsere
Abhängigkeit bei der Ressourcenbeschaffung immer
weiter steigen würden.
Auf den Zusammenhang von immer weiter steigender
Nachfrage nach Energie und Ressourcen und der
Knappheit und Endlichkeit von Energie und Ressourcen gibt es zwei falsche Antworten und eine richtige.
Die einen sagen: Augen zu! Wir können es uns nicht
leisten, diesen Langfristhorizont zugrunde zu legen. Ich halte das für verantwortungslos.
Die anderen sagen: Wenn das die Entwicklung ist,
dann müssen wir uns zurückentwickeln, dann müssen
wir Verzicht üben, dann müssen wir sozusagen vorindustriell leben, wenn wir vorindustrielle Temperaturen wieder erreichen wollen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass beide
Antworten falsch sind. Ich glaube, der Schlüssel zur
richtigen Antwort liegt in der Technologie. Energietechnologie ist das, was wir brauchen. Der Schlüssel zur
richtigen Antwort lautet: Ökonomische Modernisierung und technologische Innovation sind der Weg, wie
wir Wohlstand erreichen, wie wir Wachstum erreichen
und gleichzeitig ressourcenschonend wirtschaften und
leben. Das ist der Zusammenhang, den wir wollen.
({3})
Damit ist ausdrücklich verbunden, zu sagen: Wir wollen
Wachstum. Beim Klimaschutz geht es um die Sicherung
des Wohlstands. Wir wollen Industrieland bleiben, wir
wollen nicht deindustrialisieren. Das sind unsere Ziele.
Weil das unsere Ziele sind, müssen wir die Wege beschreiben, wie wir unsere Vorstellung von Wachstum unter den Bedingungen des Klimaschutzes erreichen wollen und können.
Ich glaube, dass die Vorstellung von Wachstum, die
wir im 21. Jahrhundert haben müssen, nicht mehr die
Vorstellung von Wachstum der 70er-Jahre des letzten
Jahrhunderts sein kann. Es geht nicht um das Wachstum
von Zahlen, um quantitatives Wachstum, sondern die
Aufgabe liegt darin, dass wir das von uns gewollte
Wachstum von steigendem Energie- und Ressourcenverbrauch entkoppeln, sodass wir auf der einen Seite zählbares Wachstum und auf der anderen Seite einen sinkenden Energie- und Ressourcenverbrauch haben. Die
Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energie- und Ressourcenverbrauch ist die Bedingung dafür, dass wir in einer Zeit von 9 Milliarden Menschen,
die auf uns zukommt, unser eigenes Wachstum überhaupt erleben, ja, sogar überleben. Also Entkopplung
von Wachstum und Ressourcenverbrauch!
({4})
Der Weg, ein solches Wachstum zu erreichen, ist der
Einsatz von Energietechnologie. Durch die ökonomische Modernisierung, die mit Klimaschutz einhergeht
und die wir mit Klimaschutz offensiv angehen, und
durch den Einsatz von Technologien erzeugen wir neue
Märkte. Diejenigen, die dies anbieten, werden die Exportweltmeister der Zukunft sein. Diejenigen, die darin
investieren, werden die Technologieführer der Zukunft
sein. Dort entstehen Märkte - schon heute. Dort entsteht
Beschäftigung - schon heute. Dort gibt es Wachstumsraten wie in kaum einem anderen Bereich - schon heute.
Und all dies erst recht in der Zukunft! Weil das so ist, ist
das Projekt Klimaschutz kein gegen die Wirtschaft gerichtetes Projekt, sondern es ist mit einem Strukturwandel und einem wirtschaftlichen Modernisierungsprozess
verbunden, im Zuge dessen darüber entschieden wird, ob
wir unser Leben auch in Zukunft noch mit Lebensqualität und in Wohlstand bestreiten können. Es ist kein Gegensatz, sondern die ökologische und die ökonomische
Herausforderung fallen zusammen. Die Klimakonferenz in Kopenhagen ist in diesem Sinne zugleich auch
die wichtigste Wirtschaftskonferenz unserer Zeit, weil es
genau darum geht.
({5})
Es geht um Rettung, es geht um Abwehr katastrophaler
Folgen, wie wir sie in der Kapital- und Finanzmarktkrise
erlebt haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte für mich hier
bekunden, dass ich im Bewusstsein nach Kopenhagen
reise, dass es um diese Rettung geht, und dass uns allen
klar ist, dass wir viel zu verlieren haben. Ich bin aber
noch mehr überzeugt davon, dass wir, wenn wir diesen
Prozess erfolgreich offensiv angehen, viel zu gewinnen
haben, nämlich eine lebenswerte Zukunft für unsere
Kinder. Darum geht es. Ich glaube, das verbindet uns,
und darum sollten wir uns alle wechselseitig Erfolg in
Kopenhagen wünschen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Welt schaut in der Tat in diesen Tagen nach
Kopenhagen - zu Recht. Dort geht es nämlich nicht nur
um Konferenzen und Kommuniqués, sondern dort geht
es auch um Überlebensfragen der Menschheit. Insofern
haben Sie recht, Herr Röttgen.
Gerade deshalb wird in Kopenhagen auch sehr darauf
geschaut werden, was wir in Deutschland tun. Wir sind
nämlich in Kopenhagen nicht irgendwer. Auch unsere
klimapolitische Glaubwürdigkeit steht dort auf dem
Spiel. Diese Glaubwürdigkeit dürfen wir in Kopenhagen
nicht verspielen.
({0})
Viele freuen sich - Sie haben das gesagt, Herr
Röttgen -, manche ärgert das auch, aber wir, Deutschland, sind in der Tat Vorreiter beim Klimaschutz. Das
ist das Ergebnis - das will ich auch offen sagen - einer
Klima- und Umweltpolitik, für die viele in diesem Hohen Haus jahrelang gestritten haben,
({1})
die aber von der jetzigen Regierungskoalition und von
vielen, die ihr angehören, erbittert bekämpft worden ist.
Ich erinnere an die Stichworte Atomausstieg, Ökosteuer,
({2})
Erneuerbare-Energien-Gesetz, Energieeinsparverordnung und Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung. Das alles
wurde bekämpft, und zwar überwiegend von Union und
FDP.
({3})
Meine Damen und Herren, niemandem ist es verboten, über die Jahre klüger zu werden. Im Gegenteil,
wenn das passiert, freue ich mich darüber, ist das gut.
({4})
Wir vergessen aber nicht - und auch die Öffentlichkeit
wird das nicht vergessen -, dass viele von Ihnen alle vorhin genannten Instrumente über viele Jahre hinweg bekämpft haben und dass es der Sozialdemokratie in der
Großen Koalition geschuldet gewesen ist, dass die Kanzlerin während unserer EU-Präsidentschaft als Klimakanzlerin nach Europa fahren konnte.
({5})
Wir sind nicht nachtragend. Auch das gehört dazu.
Ich freue mich, dass Herr Röttgen als Nachfolger von
Herrn Gabriel sogar seine Sprache benutzt. Vor kurzem
habe ich gelesen, dass er vom Klimaschutz als Impulsgeber für ökonomische Modernisierung gesprochen hat.
Das kam uns bekannt vor.
Schön wäre es aber auch - das will ich Ihnen ganz
gerne sagen -, wenn Sie nach den vielen Jahren, in denen wir über den richtigen Klimaschutz und über die
richtige Energiepolitik gestritten haben, erstens sagen
würden, dass Sie auf dem falschen Dampfer gewesen
sind, und wenn Sie zweitens - auch das habe ich in der
Rede von Herrn Röttgen vermisst - endlich konkret werden würden; denn die Wahrheit ist konkret, auch im Klimaschutz.
({6})
Noch schöner wäre es, wenn sich die konkrete Wahrheit auch im Koalitionsvertrag niedergeschlagen hätte.
Die 1 Milliarde Euro, die Sie mindestens brauchen, um
den Hoteliers ein bisschen entgegenzukommen, hätten
Sie besser für die Energieforschung ausgegeben. Das
hätte Wachstum generiert. Das wäre Vorsorge für die Zukunft gewesen, aber nicht diese lächerlichen Steuersenkungen für Hoteliers. Das ist eine Verschwendung von
Haushaltsmitteln. Das nutzt nichts.
({7})
Am allerschönsten wäre es natürlich, wenn Ihre Politik nicht nur einen grünen Anstrich hätte, sondern wenn
sie auch in der Substanz grün wäre; denn das allein bestimmt Glaubwürdigkeit. Was heißt es denn, wenn Sie
jetzt den Atomausstieg infrage stellen und den Ausstieg
aus dem Atomausstieg planen? Sie wissen doch genauso
gut wie wir und beobachten es genauso wie wir - es findet
ja jetzt schon statt -, dass sich in den Vorstandsetagen
der deutschen Energieversorger der eine oder andere
schon wieder zurücklehnt. Durch die Diskussion über
die Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken
verlieren wir wertvolle Zeit, die wir zum Ausbau der erneuerbaren Energien benötigen. Damit setzen wir unseren technologischen Vorsprung aufs Spiel. Das ist der
falsche Weg. Das ist energiepolitisch, das ist klimaschutzpolitisch der Holzweg. Diesen Weg werden wir
nicht mitgehen, meine Damen und Herren.
({8})
Wie steht es weiter um die Glaubwürdigkeit der Koalition, wenn sie - wie ich gelesen habe - im Vergaberecht ökologische Standards als vergabefremd tilgen
will, wenn dies sozusagen dem Bürokratieabbau geopfert werden soll? Die Möglichkeit, staatliche Nachfrage
in Höhe von 50 Milliarden Euro im Jahr ökologisch einzusetzen und damit auch klimaschutzpolitisch vieles zu
bewegen, fällt auf diese Weise weg. Diese Spielräume
hat die Politik dann nicht mehr. Mit dem, was Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, bewegen Sie am Ende
nichts.
({9})
Ich rede über Glaubwürdigkeit und werfe einen Blick
auf das von Union und FDP regierte Nordrhein-Westfalen, das jetzt gerade im Landesentwicklungsplan offenbar sämtliche Klimaschutzauflagen tilgt. In Ihrer Koalitionsvereinbarung heißt es - ich zitiere, weil wir das
richtig finden -:
Der Klimaschutz ist weltweit die herausragende
umweltpolitische Herausforderung unserer Zeit.
Ja, richtig. Aber das gilt offensichtlich nicht in Nordrhein-Westfalen, wo CDU und FDP regieren. Dort fallen
Handeln und Reden offenbar weit auseinander, und das
schadet unserer Glaubwürdigkeit. Denn auch das wird in
Kopenhagen beobachtet.
({10})
Am Ende bleibt es dabei: Der Erfolg von Kopenhagen
- damit haben Sie recht, Herr Röttgen - steht und fällt mit
der Bereitschaft vor allen Dingen der Industrienationen,
ihren angemessenen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen zu leisten, und zwar nicht nur mit
fernen Versprechungen für 2050, sondern vor allen Dingen auch mit konkreten Vereinbarungen bezogen auf
2020.
Die Europäische Union ist gut beraten, an ihrem Ziel
einer 30-prozentigen Reduzierung der Treibhausgasemissionen festzuhalten, und wir sind gut beraten, die
von uns auf nationaler Ebene angestrebten 40 Prozent
beizubehalten. Dafür hat Sigmar Gabriel seinerzeit als
Umweltminister das Programm und die entsprechenden
Gesetzgebungsvorhaben vorgelegt. Aber jenseits der
30 Prozent auf europäischer und der 40 Prozent auf nationaler Ebene besteht die Aufgabe der internationalen
Staatengemeinschaft jetzt vor allen Dingen darin, Ländern wie den Vereinigten Staaten, Japan und Kanada
deutlich zu machen, dass sie sich aus ihrer Verpflichtung
nicht verabschieden können.
Es ist richtig: Obama ist im Vergleich zu seinen Vorgängern einen sehr mutigen Schritt gegangen: 17 Prozent Reduktion. So etwas haben wir von der Bush-Regierung in den früheren Jahren in der Tat nicht gehört.
Wir wissen aber alle miteinander, dass das am Ende
nicht ausreichen wird, um in Kopenhagen eine anspruchsvolle Gesamtvereinbarung zustande zu bringen.
Deshalb müssen die Vereinigten Staaten auf dem Weg
nach Kopenhagen mutiger werden und sich auch in Kopenhagen noch ein Stück bewegen. Unsere Rolle gegenüber den USA muss die des Ermutigers sein, Frau Bundeskanzlerin, Herr Röttgen. Das erwarten wir von Ihnen.
({11})
Die Welt wartet auf ein verbindliches Abkommen in
Kopenhagen. Sie erwartet keine Rote-Teppiche-Show und
keine leeren Worthülsen. Das kann nur gelingen - damit
kommen wir zum entscheidenden Punkt -, wenn wir in
Kopenhagen viel über das Klima reden, aber auch über
Geld, und zwar vor allen Dingen - das betone ich - über
zusätzliches Geld für die Entwicklungsländer. Wenn
ich „zusätzlich“ sage, dann meine ich das auch so.
({12})
Nehmen wir das ernst! Die Entwicklungsländer müssen
sich doch betrogen fühlen, wenn die Industriestaaten auf
der einen Seite Mittel für den internationalen Klimaschutz anbieten, aber auf der anderen Seite ankündigen,
im Gegenzug weniger für die Armutsbekämpfung, die
Bekämpfung von Krankheiten wie Aids und anderes
mehr tun zu können. Das Ausspielen von Armut auf der
einen Seite gegen Klimaschutz auf der anderen Seite
darf es nicht geben. Dafür darf Deutschland nicht die
Hand reichen.
({13})
Das hat nationale Folgen. Es bedeutet, dass wir die
Einnahmen aus dem Emissionshandel nicht irgendwo
im Haushalt zur allgemeinen Haushaltsdeckung verschwinden lassen dürfen. Wir haben in unserer Regierungszeit - auch in der Großen Koalition - dafür gesorgt, dass die Einnahmen aus dem Emissionshandel
ausschließlich dem Klimaschutz zugutekommen. Das
galt bisher. Wir - aber nicht nur wir, sondern auch die
Öffentlichkeit - werden Sie, die Bundesregierung, daran
messen, ob Sie diese Standards halten.
({14})
Auf die Folgen der Steuerpolitik werde ich jetzt
nicht eingehen. Dazu besteht diese Woche im Deutschen Bundestag noch viel Gelegenheit. Aber diese
Steuerpolitik - insbesondere der mit dieser Steuersenkungspolitik einhergehende staatliche Einnahmeverzicht - hat auch Folgen für die Möglichkeiten im Klimaschutz. Denn wir müssen uns fragen - und wir werden
alle miteinander gefragt werden -, woher die Milliarden
für den internationalen Waldschutz und für die Entwicklungsländer kommen sollen. Die Menschen ahnen doch:
Aus Steuersenkungen kann das jedenfalls nicht finanziert werden. Über eine höhere Neuverschuldung werden Sie das sicherlich auch nicht finanzieren wollen.
Ich will damit sagen: Man kann diese Fragen nicht
beantworten, ohne ein klares und deutliches Wort zu den
internationalen Finanzierungsinstrumenten zu sagen. Das war der Grund dafür, weshalb ich bereits im
März gemeinsam mit Peer Steinbrück gesagt habe: Wir
brauchen internationale Finanzierungsinstrumente. Wir
brauchen eine internationale Finanzmarktsteuer.
({15})
Wir haben zu Recht Milliarden in die Stabilisierung der
internationalen Finanzmärkte gesteckt. Es gab viel öffentliche Kritik. Aber das war notwendig, um nicht noch
mehr zusammenbrechen zu lassen. Wenn das richtig war,
dann ist es genauso richtig, dass die internationalen Finanzmärkte jetzt ihren Beitrag zur Finanzierung der Zukunftsaufgaben leisten müssen. Die Finanzmärkte profitieren wie kaum ein anderer von der Globalisierung.
Deshalb: Sorgen wir dafür - an die Regierung gerichtet:
Sorgen Sie dafür -, dass sich die Finanzmärkte dieser
Verantwortung nicht entziehen. Auch wenn es scheinbar
nicht hier hingehört, weil es in den G-20-Rahmen passt;
wir werden Sie unterstützen, Frau Merkel, dass aus dem
Prüfauftrag der G 20 zur Einführung einer internationalen Finanzmarktsteuer endlich ein Beschluss der G 20
wird. Ohne den, befürchte ich, hängen viele anspruchsvolle Ziele, die in Kopenhagen vereinbart werden, in der
Luft. Das darf nicht das Ergebnis von Kopenhagen sein.
Im Übrigen haben Sie, Frau Merkel und Herr Röttgen,
für anspruchsvolle Ziele die Unterstützung der SPDFraktion.
Vielen Dank.
({16})
Michael Kauch ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Klimaschutz kostet Geld. Kein Klimaschutz kostet mehr Geld.
Künftige Generationen werden uns daran messen, welche ökologische und ökonomische Erblast wir ihnen hinterlassen. Aus Verantwortung für kommende Generationen macht diese Koalition, macht die FDP Ernst mit
einer ambitionierten Klimaschutzpolitik. 80 bis 95 Prozent CO2-Einsparung bis 2050 in den Industriestaaten
und ohne Wenn und Aber 40 Prozent bis 2020 in
Deutschland, das ist ein klares Signal für Kopenhagen.
Das ist mehr als jemals eine Regierung in Deutschland
beschlossen hat.
({0})
Die Wirtschaftskrise ist kein Argument für weniger Klimaschutz. Sie ist ein Argument für besseren Klimaschutz, für einen Klimaschutz, der ökologische Ziele zu
möglichst niedrigen Kosten erreicht. Deshalb will die
FDP, deshalb will diese Koalition mehr marktwirtschaftliche Instrumente im Klimaschutz nutzen. Deshalb stehen wir zum Emissionshandel als zentralem Instrument des Klimaschutzes. Wir wollen ihn zu einem
globalen Kohlenstoffmarkt ausbauen.
({1})
Klimaschutz ist auch ein Weg heraus aus der Wirtschaftskrise; denn er ist Motor für neue Technologien.
Wir Liberale und diese Koalition wollen eine Innovationsstrategie für unsere Energieversorgung. Wir werden
den Weg in das Zeitalter erneuerbarer Energien beschreiten. Deshalb, Herr Steinbrück, Entschuldigung, Herr
Steinmeier - ich habe mich versprochen, weil man das,
was Herr Steinmeier gesagt hat, an dem messen muss,
was Herr Steinbrück als Finanzminister gemacht hat -,
({2})
werden wir morgen im Deutschen Bundestag im Wachstumsbeschleunigungsgesetz zwei Maßnahmen zurücknehmen, die Ihr Finanzminister initiiert hat, nämlich immer höhere Steuern für die Biokraftstoffe und immer
mehr Eingriffe in die Investitionsbedingungen für erneuerbare Energien. Die Fraktion eines ehemaligen Bundesfinanzministers, der die Abwrackprämie zu verantworten hat, sollte sich hier nicht hinstellen und die neue
Regierung im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit ihrer
ökologischen Politik angreifen.
({3})
Klimaschutz funktioniert nur global, und er ist nur
wirksam, wenn die wichtigsten Wirtschaftsnationen dieser Erde mehr abliefern als bisher. Auch im Hinblick auf
Herrn Obama muss man deutlich sagen: Wer Führung im
Klimaschutz, wer Führung in der globalen Politik verlangt und einfordert, der muss selbst vorangehen. Das,
was die USA auf den Tisch legen, ist bemerkenswert und
deutlich mehr als das, was die Vorgängerregierung immer zugestanden hat; aber es reicht bei Weitem nicht
aus. Deshalb sind wir erfreut, dass die USA den Weg gemeinsam mit uns gehen wollen, aber wir denken, dass
die USA mehr leisten können.
({4})
Deutschland bekennt sich zum Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung. Die Schwellenländer tragen immer noch weniger Verantwortung
für die Erwärmung dieser Welt, aber sie werden in Zukunft immer mehr Verantwortung tragen, und deshalb
werden auch sie mehr Beiträge zum Klimaschutzabkommen in Kopenhagen leisten müssen. Deshalb ist es eine
schlechte Nachricht, dass China, Brasilien, Indien und
Südafrika gestern eine Erklärung abgegeben haben, dass
sie nicht zum 2-Grad-Ziel stehen. Das steht im Widerspruch zu dem, was wir auch auf der Ebene der G 20
vereinbart haben. Das muss die deutsche Bundesregierung gemeinsam mit der Europäischen Union angehen.
Wir brauchen eine faire Lastenverteilung im Interesse
der Wettbewerbsgleichheit in der Welt, aber auch im
Blick auf die Enkelgenerationen der Länder, die sich
heute noch als Entwicklungsländer bezeichnen.
Der Antrag, den CDU/CSU und FDP heute vorgelegt
haben, gibt ein starkes Signal für internationale Verantwortung und internationale Solidarität. Wir bekennen
uns klar dazu, dass wir längerfristig eine Angleichung
der Pro-Kopf-Emissionen in der Welt brauchen. Mehr
als 2 Tonnen pro Jahr und Kopf der Weltbevölkerung
hält dieser Planet im Jahr 2050 nicht aus. Der Clean-Development-Mechanismus ist einer der Schlüssel, dieses
Ziel zu erreichen. Er ermöglicht es uns, Klimaschutzziele kostengünstiger zu erreichen. Dieser Ansatz ist einer der wesentlichen Unterschiede in den Klimaschutzanträgen, die heute hier in diesem Haus vorliegen. Ich
sage ganz klar: Wenn die Linken beispielsweise auf Auslandsinvestitionen in den Klimaschutz nach 2012 komplett verzichten wollen, dann haben sie den globalen
Charakter des Klimaschutzproblems nicht erkannt.
({5})
Wir, FDP und Union, wollen nicht weniger, sondern wir
wollen mehr Auslandsprojekte für den Klimaschutz.
Aber klar ist dabei auch: Das darf nicht zu Klimadumping führen. Deshalb muss sichergestellt werden, dass
diese Projekte immer nur zusätzlich zu dem erfolgen,
was die Schwellen- und Entwicklungsländer als Eigenbeiträge in Kopenhagen vereinbaren werden. Für die Zukunft muss auch Missbrauch ausgeschlossen werden.
Deshalb müssen diese Projekte besser geprüft werden.
Wir haben in der letzten Wahlperiode fraktionsübergreifend dazu Vorschläge für die Verhandlungen in Kopenhagen gemacht. Wir freuen uns, dass die Bundesregierung zugesagt hat, genau diese Punkte in die
Verhandlungen einzubringen.
({6})
Die Koalition bekennt sich zur internationalen Verantwortung, und dazu gehört die Finanzierung von
Waldschutz, von Technologietransfer und von Anpassungsmaßnahmen in den Entwicklungsländern. Um es
möglichen Kritikern deutlich zu sagen: Das kostet viel
Geld, aber es liegt im nationalen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, dass wir die Schwellen- und Entwicklungsländer ins Boot bekommen. Wenn wir alles
das, was in den Entwicklungsländern gemacht werden
soll, national machen wollten, dann würde es viel teurer.
Deshalb hat diese Koalition im Koalitionsvertrag vereinbart - Herr Steinmeier, ich empfehle Ihnen, das einmal
nachzulesen -, dass wir 50 Prozent der Versteigerungserlöse aus dem Emissionshandel nach 2013 vorrangig für
internationale Projekte einsetzen wollen. Damit hat die
Koalition Vorsorge für die Vereinbarungen getroffen, die
wir in Kopenhagen treffen werden. Das ist seriöse und
vorausschauende Finanzpolitik.
({7})
Ich freue mich, dass diese Koalition einen großen
Wert auf den Schutz der internationalen Regenwälder
legt. Das ist ein bisher völlig vernachlässigtes Feld der
Klimaschutzpolitik,
({8})
und deshalb freue ich mich, dass insbesondere der neue
Entwicklungsminister Dirk Niebel einen ganz klaren
Akzent setzen wird.
({9})
Ich glaube, dass die Klimaschutzpolitik stärker als bisher
als Querschnittsaufgabe dieser Regierung verstanden
wird.
Vielen Dank.
({10})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter ist die nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wissen es: Das Eis der Arktis ist dünner als je zuvor. Die
Gletscher schmelzen immer schneller. In Afrika gehen
ganze Ernten verloren, weil nach der Aussaat der Regen
ausbleibt. Der Klimawandel ist nicht mehr nur Zukunft,
sondern längst Realität, und sie wird noch grausamer,
wenn wir nicht endlich handeln.
({0})
Noch mehr Flüchtlingsströme und neue Konflikte,
etwa um Boden oder Wasser, stehen vor der Tür. 42 In596
selstaaten sind gar vom völligen Untergang bedroht. All
das wissen wir, und trotzdem reagieren die maßgeblich
Verantwortlichen in einer merkwürdigen Mischung aus
Trägheit, Opportunismus und Klientelpolitik, wehren
sich die Energie- und Automobilkonzerne mit Händen
und Füßen dagegen, zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln; es könnte ja sein, dass ihre Profite kurzfristig zusammensacken.
Derweil läuft uns die Zeit davon. Um das 2-GradZiel wenigstens mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei
Dritteln zu erreichen, muss nach neuesten Studien der
Peak, also der Höhepunkt der globalen Treibhausgasemissionen, bis 2011 überwunden werden. Dann müssten sie allerdings um 3,7 Prozent pro Jahr sinken. Das ist
sehr ambitioniert, aber nicht undenkbar, wenn die Sache
erst einmal Fahrt aufgenommen hat.
Schafft die Weltgemeinschaft die Wende dagegen erst
2020, so wie es die Koalition in ihrem Antrag anvisiert,
so müssten die Emissionen global jährlich um gigantische 9 Prozent vermindert werden. Das scheint jedoch
nach allen Erfahrungen der Wirtschaftsgeschichte kaum
machbar. Für Deutschland liegt die Rate im Schnitt der
letzten Jahre unter 1 Prozent. Der Zeitfaktor wird im
Kampf gegen die Erderwärmung also immer mehr zur
zentralen Herausforderung. Diese kann allerdings gemeistert werden, wenn der politische Wille da ist. Sowohl die technisch-technologischen als auch die finanziellen Mittel dafür sind heute schon vorhanden.
Nehmen wir die aktuelle Studie der Universität Stanford, nach der eine praktisch emissionsfreie Energieversorgung weltweit bereits 2030 möglich wäre, und zwar
zu bezahlbaren Preisen. Herr Fell hat gestern im Ausschuss einen schönen Vergleich aus dieser Arbeit zitiert:
Windkraft würde nach der Fotovoltaik Platz zwei bei der
Versorgung einnehmen. Dafür wären 3,8 Millionen
Windkrafträder notwendig. Das klingt natürlich viel, ist
aber wenig; denn jährlich werden weltweit fast 20-mal
so viele Autos hergestellt, nämlich 72 Millionen.
Nicht nur angesichts dessen sind die Ziele der EU
und auch Deutschlands deutlich zu niedrig. Das Stockholm Environment Institute kommt in einer Studie im
Auftrag des BUND zum Ergebnis, die EU könnte bis
2020 gegenüber 1990 ihren Treibhausgasausstoß um
40 Prozent reduzieren, bis 2050 um 90 Prozent. Jetzt
kommt’s: das alles ohne die unverantwortliche Atomenergie oder die fragwürdige Verpressung von CO2 im
Untergrund.
({1})
Diese Werte decken sich mit den Forderungen der
Linken. Für Deutschland muss bis 2020 unserer Auffassung nach eine Halbierung möglich sein; denn wir haben
die „Wallfall-Profits“ eingefahren, sprich: die geschenkten Emissionsminderungen durch die Deindustrialisierung der DDR.
Es geht mir hier nicht um einen Wettbewerb darum,
wer sich die höchsten Ziele setzt. Wir haben uns einfach
zu viel Zeit gelassen. Das gilt für viele Industriestaaten,
an der Spitze die USA, aber auch Deutschland, jedenfalls wenn man zugrunde legt, was möglich gewesen
wäre. Die verschiedenen Bundesregierungen haben hierzulande viel zu lange eine Politik pro Kohle, pro Auto
und pro Großkonzerne betrieben, und sie betreiben sie
weiter.
Die Erfolgsstory der erneuerbaren Energien kann das
nur zum Teil wettmachen. Würde man die Menge an
Kohlendioxid, die noch halbwegs klimaverträglich emittiert werden darf, gerecht auf die Menschen dieser Welt
verteilen - das wurde schon angesprochen -, so dürften
die Deutschen nur noch zehn Jahre so weiterwirtschaften. Dann wäre unser Budget aufgebraucht.
Deshalb müssen wir schnell aus der Kohle heraus.
Hierzulande dürfen natürlich auch keine neuen Kohlekraftwerke gebaut werden.
({2})
Zudem brauchen wir eine neue Mobilität jenseits des beherrschenden Autos.
Das alles muss kommen; denn mit der Physik kann
man keine Kompromisse schließen. Es geht um nicht
weniger als um die vollständige Dekarbonisierung, also
Nullemissionen, unserer Volkswirtschaft bis zur Mitte
des Jahrhunderts.
Die vielleicht 5 Prozent Treibhausgase, die dann noch
gegenüber dem heutigen Ausstoß übrig bleiben dürfen,
können wir für unser Energiesystem getrost vergessen.
Diese brauchen wir für industrielle Anwendungen, in denen Emissionen unvermeidlich sind.
Fassen wir kurz zusammen:
Erstens. Praktisch keinerlei Treibhausgasemissionen
mehr in wenigen Jahrzehnten.
Zweitens. Verlieren wir global noch mehr als fünf
Jahre Zeit, haben wir das Erdklima verzockt.
Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich alle begriffen
haben, die an wichtigen Stellschrauben sitzen. Das sogenannte Liberale Institut der FDP-nahen FriedrichNaumann-Stiftung hat ja sogar für morgen die Speerspitzen der deutschen und internationalen Klimawandelleugner nach Berlin eingeladen. Dort dürfen sich die
Teilnehmer dann von Fred Singer aus den USA anhören,
warum der Klimawandel nicht vom Menschen gemacht
ist. Zuvor hat der Mann der Welt schon erklärt, warum
FCKWs ungefährlich für die Ozonschicht sind und auch
warum Passivrauchen kein Problem für die Lunge ist.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden beim
Kampf gegen die Erderwärmung von einer technologischen Revolution, die der Einführung der Dampfmaschine oder der Mikroelektronik in nichts nachsteht. Genau wie damals wird dieser Prozess gravierende
Auswirkungen auf die Ökonomie und auf soziale Prozesse haben. Denn es wird Gewinner- und VerliererbranEva Bulling-Schröter
chen geben. Dahinter stehen jeweils Zehntausende von
Beschäftigten, und die erwarten natürlich etwas, die wollen nicht arbeitslos werden.
In diesem Zusammenhang ist es allerdings eine Illusion, zu glauben, Arbeitsplätze entstehen immer am gleichen Ort und annähernd zeitgleich dort, wo andere wegfallen. Es geht also um eine soziale Abfederung des
ökologischen Umbaus, um Qualifikation und anderes
mehr. Das ist dringend notwendig.
({4})
Für all das brauchen wir Geld, Geld, das die Bundesregierung gerade verschenkt, weil sie beispielsweise den
Energieversorgern die Emissionszertifikate kostenlos
überlässt. Sie hat es auch verschleudert, als sie mit der
Abwrackprämie für 3 Milliarden Euro Autos gefördert
hat, die nicht nur nicht wettbewerbsfähig, sondern die
schlicht auch nicht zukunftsfähig sind. Sie haben das ja
nicht einmal an den CO2-Ausstoß gebunden. Das wäre ja
das Mindeste gewesen.
({5})
Sozial und ökologisch dagegen wäre gewesen, den
Nahverkehr und die Bahn auszubauen. Schließlich sind
die CO2-Emissionen des Verkehrs in den 27 EU-Staaten
zwischen 1990 und 2005 um sage und schreibe 33 Prozent gestiegen, allerdings nicht durch die Bahn, die sinkende Emissionen hat, sondern durch den Straßen-,
Flug- und Seeverkehr.
Jetzt zurück zu Kopenhagen. Einig sind wir uns hier
im Hause darin, dass die Konferenz am besten mit einem
Abkommen, nach Lage der Dinge aber mindestens mit
einem verbindlichen Beschluss zu Ende gehen muss.
Spätestens bis zum Sommer muss dann der ratifizierungsfähige Rechtstext stehen. Auf der Grundlage des
2-Grad-Zieles müssen in Kopenhagen Beschlüsse über
die Emissionsziele für Industriestaaten und Schwellenländer gefasst werden.
Es muss verbindliche Zusagen in Bezug auf den
Technologie- und Finanztransfer aus den Industriestaaten in die Entwicklungsländer geben. Es geht hierbei
um einen globalen Deal: Der Norden muss den Süden
dafür bezahlen, dass dieser weniger ausstößt, als bei ungebremster Entwicklung wahrscheinlich wäre. Dafür gewinnen wir hier im Norden, die wir in den letzten
100 Jahren die Atmosphäre mit Klimakillern vollgepumpt haben, etwas Zeit, um den Strukturwandel sozial
abfedern zu können. Es geht also nicht um Almosen an
die Entwicklungsländer. Schließlich bläst Texas noch
heute so viel Treibhausgase in die Luft wie ganz Afrika.
Auch Europa ist nicht viel besser.
({6})
Es geht vielmehr um eine gerechte Lastenverteilung und
darum, dass Entwicklungsländer mithilfe der Industriestaaten die fossile Phase in ihrem Energiesystem überspringen oder wenigstens schnell hinter sich lassen können.
Da der Klimawandel bereits voranschreitet, müssten
wir den Ländern im Süden auch jene Anpassungskosten
erstatten, die den Menschen durch Überflutung, Versalzung der Böden usw. entstehen. Es muss unser Eigeninteresse sein, Anreize dafür zu schaffen, dass die letzten
großen Wälder dieser Erde nicht für immer verschwinden, allerdings nicht durch den Emissionshandel - hier
sind wir uns mit Herrn Minister Röttgen einig -, sondern
über internationale Fonds. Denn sonst bedeutet ein vor
Abholzung bewahrter Wald in Brasilien oder Indonesien
automatisch ein Kohlekraftwerk mehr in Deutschland
oder Italien.
Für all dies fordern die großen Umwelt- und Entwicklungsorganisationen von den Industrieländern bis 2020
ansteigend rund 110 Milliarden Euro jährlich. Das unterstützen wir. Wir wollen im Gegensatz zur Koalition, dass
dieses Geld zusätzlich zur Verfügung gestellt wird. Die
EU und die Bundesregierung wollen, dass etwa ein Drittel dieses Geldes vom Süden selbst aufgebracht wird. Ich
sage Ihnen: Das ist zynisch! Zudem soll ein weiteres
Drittel aus der Ausweitung der Kohlenstoffmärkte kommen - Stichwort: CDM, vermeintliche Klimaschutzprojekte in den Entwicklungsländern, für die sich der Norden CO2-Zertifikate gutschreiben lässt. Wir wissen, dass
hier mit faulen Zertifikaten getrickst wird. Momentan
sind weltweit so viele Zertifikate angemeldet, dass man
damit in Deutschland die achtfache Menge CO2 ausstoßen dürfte. Wir sind gegen diesen Missbrauch; wir lehnen das ab.
({7})
Der CDM soll 2012 auslaufen. Der Technologietransfer
soll über Fonds finanziert werden.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Letzter Satz. - Die Linke fordert: Realer Umwelt- und
Klimaschutz zu Hause
({0})
und kein windiges Freikaufen irgendwo in der Welt!
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Umweltminister, ich will mir einmal ein Lob abringen.
({0})
- Man soll ja ungewöhnlich beginnen. - Zu Ihrer Rede
möchte ich sagen: Sie haben hier heute schön gesprochen.
({1})
Jetzt bin ich mit dem Lob schon fertig und muss zum
nächsten Teil kommen. Ihre Rede hatte zwischen den
Zeilen leider kein Fleisch an den Knochen.
({2})
Eines muss man klar sagen: Eine erfolgreiche Konferenz
in Kopenhagen wird es nur geben, wenn die historischen
Verursacher des Klimawandels sich bewegen und in Vorleistung treten, wenn sie jetzt zum Beispiel ohne Vorbedingung konkrete Zusagen für die Finanzierung der Entwicklungsländer machen. An dieser Stelle hat Sie der
Mut verlassen. Wir brauchen aber keine Philosophen,
sondern Menschen, die wirklich bereit sind, etwas zu
verändern.
({3})
Ihre Rede blieb immer noch in der miserablen Strategie des Taktierens. Man nennt das Verhandlungsmikado,
nach dem Motto: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.
Dieses Mikadoverhalten, Herr Röttgen, passt nicht dazu,
dass Sie mit Ihrer Rede das große Ziel des Klimaschutzes beschwören wollten. Wie ist es mit den konkreten Finanzzusagen, dass ab 2020 110 Milliarden Euro von der
internationalen Gemeinschaft und 35 Milliarden von der
EU bereitgestellt werden? Warum haben Sie hier nicht
gesagt: „Deutschland ist ohne Wenn und Aber bereit,
dieses Verhandlungsmikado zu durchbrechen und tatsächlich Vorleistungen für die Entwicklungsländer, angefangen bei 7 Milliarden Euro und sich steigernd auf
10 Milliarden Euro, zu erbringen“? Dazu gab es von Ihnen kein Wort.
Es gab heute auch kein Wort von Ihnen dazu, ob Europa ohne Vorbedingungen zu einer Reduktion der CO2Emissionen um 30 Prozent und Deutschland um
40 Prozent bereit sind. Kein Wort von Ihnen dazu, ob Sie
entsprechende Zusagen machen wollen. Kein Wort von
Ihnen dazu, ob zusätzliche Mittel vielleicht einfach
trickreich in der Entwicklungshilfe untergebracht werden. Kein Wort von Ihnen dazu, dass es die Bereitschaft
gibt, klimaschädliche Subventionen abzubauen.
({4})
Kein Wort von Ihnen dazu, dass zusätzliche Mittel beispielsweise zum Schutz der Tropenwälder zur Verfügung gestellt werden. - Was Sie gesagt haben, waren alles schöne Worte, aber keine konkrete Antwort auf die
Frage: Wie können wir eigentlich die Ziele erreichen, die
wir uns für 2020 oder 2050 vorgenommen haben?
Sie haben wohlklingende Worte über die ökologische
Modernisierung dieses Landes gesprochen. Sie haben
über nachhaltiges Wirtschaften und Wachstum geredet.
Aber bei genauem Lesen Ihrer Texte, Herr Röttgen, fällt
mir eines auf: Sie wollen zwar kein Wachstum wie früher, aber Sie erklären nicht, dass Sie dafür sorgen wollen, dass wir in Zukunft anders leben, anders wohnen,
anders produzieren und anders transportieren. Sie begreifen Klimaschutztechnologie nur als Zusatz nach dem
Motto: Da China, Indien und die USA in diesen Bereich
investieren und daher auf diesem Feld wachsen, machen
wir da auch etwas. Wir wollen uns im Wettbewerb nicht
überholen lassen. - Aber das ist zu wenig. Wer wirklich
dem Klimawandel entgegenwirken will, muss für eine
andere Wirtschaftsweise sorgen und kann nicht an die
alte Wachstumsphilosophie andocken. Man muss die
CO2-freie Gesellschaft auch bauen wollen, Herr Röttgen.
({5})
- Ja, so ist der Fachausdruck, Herr Vaatz. - Man muss
diese Gesellschaft bauen wollen und darf nicht daran
hängen, die alten Strukturen zu erhalten.
Wenn ich mich frage, ob Sie eigentlich glaubwürdig
sind, dann fällt mir als Erstes Herr Hennenhöfer ein.
Herr Hennenhöfer ist das beste Beispiel für das Verhältnis von Ihren wohlklingenden Worten zu Ihren Taten.
Anstatt jemanden auf diese Stelle zu setzen, der einmal
etwas anderes will, werden jetzt AKW-Betreiber zur
Atomaufsicht gemacht. Ansonsten machen Sie jede Art
von Klientelpolitik. Anstatt ökologisch zu modernisieren, machen Sie faktisch business as usual.
({6})
Das ist immer noch die klassische Industriepolitik, und
diese finanzieren Sie.
Fragen wir doch mal ab, wo tatsächlich die Neuausrichtung der Energiepolitik auf erneuerbare Energien
und Effizienz zu finden ist. Sie können gerne darüber
diskutieren, was da zusätzlich gemacht werden kann.
Aber ich bitte Sie, einmal ganz klar zu sagen: Wir bauen
keine neuen Kohlekraftwerke, keine CO2-Schleudern
mit miserabler alter Technik, sondern wir geben jetzt erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und -einsparungen den Vorrang. - Das haben Sie hier nicht gemacht.
({7})
Wenn Sie die Gesellschaft wirklich umbauen und anders wirtschaften wollen, dann sorgen Sie doch dafür,
dass wir einen aussagekräftigen Energieausweis für den
Gebäudebestand bekommen. Sorgen Sie doch dafür,
dass für technische Geräte wie Kühlschränke die A++Kennzeichnungen aussagekräftig sind und nicht ein Label auf dem Gerät klebt, das vor zwei Jahren mit alter
Technologie erlangt wurde. Dann sorgen Sie dafür, dass
CO2 eingespart wird, indem wir ein Tempolimit auf der
Autobahn implementieren und indem wir dem Bahnverkehr als ökologischem Verkehr einer integrierten Mobilität den absoluten Vorrang geben.
({8})
Das wäre der Weg zu einem ganz anders definierten
Wachstum. Da reicht mir nicht, dass hier und da über
Elektromobilität gesprochen wird und der Bundesverkehrsminister ein paar Modellregionen einrichtet.
Angesichts der Rede von Herrn Röttgen stelle ich mir
die Frage: Wie sollen wir denn zu den Zielen kommen,
die Sie beschrieben haben? Herr Röttgen macht den
Guru der grünen Marktwirtschaft, Herr Brüderle ist der
Wächter der alten Deutschland AG. Daran schließt sich
für mich die Frage an: Herr Röttgen, sind Sie nur dazu
da, schöne Reden zu halten, oder sind Sie dazu da, wirklich etwas zu verändern? Die Frage, die nicht nur mich
in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigt: Sind
Sie derjenige, der Sie vorgeben zu sein, oder sind Sie am
Ende nur ein Frühstücksdirektor, wobei die Entscheidungen andere auf der Basis der guten alten Industriepolitik
und gegen den Klimaschutz treffen?
({9})
Herr Röttgen, wir brauchen keine erneute Absichtserklärung. Wir wollen keine Verlängerung der Absichtserklärung von Rio. Wir wollen auch keine Wiederholung
der Vereinbarungen von Heiligendamm. Methode
Merkel ist: zuerst die Erwartungen kleinreden, dann den
Minimalkonsens schlucken und schließlich das Ergebnis
als grandiosen Erfolg verkaufen. Jetzt ist die Zeit reif für
Taten, Herr Röttgen. Sie selber haben gesagt, man fahre
zwecks Rettung nach Kopenhagen. Ich sage Ihnen: Kopenhagen ist heute und hier. Ihre Rede war zwar schön;
aber Sie hatten weder den Mut noch hat Sie die Emphase
gepackt, tatsächlich mit der Rettung zu beginnen. Es war
eine dünne Rede. Sie sind nicht in Vorleistung getreten.
So werden wir weder unsere Wirtschaft modernisieren
und ökologisieren noch das Weltklima retten. Das war zu
dünn.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Christian Ruck
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der
letzten Woche haben die Potsdamer Klimaforscher die
neuesten Ergebnisse präsentiert. Diese lassen die Klimaproblematik noch viel dramatischer erscheinen. Die
Treibhausgasemissionen nehmen plötzlich stärker zu.
Gletscher, Eiskappen, Eisdecke - all das schmilzt
schneller. Der Anstieg der Meeresspiegel wurde bisher
unterschätzt. Vor diesem Hintergrund wird die Konferenz in Kopenhagen sicher zu einem historischen Datum, verbunden mit der Frage: Haben wir Menschen die
Fähigkeit und auch die politischen Strukturen, um in absehbarer Zeit den ökologisch bedingten Zusammenbruch
von Zivilisationen in weiten Teilen der Welt zu verhindern?
Auch wenn wir in Kopenhagen vielleicht kein völkerrechtsverbindliches Abkommen zustande bekommen,
muss es zu einem politischen Durchbruch mit entscheidenden Eckpunkten kommen. Diese Eckpunkte lauten:
erstens internationale Anerkennung des 2-Grad-Zieles,
zweitens ausreichende Minderungsziele für die Industrieländer, drittens ausreichende Beiträge der Entwicklungsländer und der Schwellenländer, viertens konkrete
Hilfszusagen der Industrieländer und schließlich ein
transparentes, effizientes Umsetzungs- und Überwachungssystem. Das muss das Ziel der Konferenz von
Kopenhagen sein.
({0})
Die Union steht zu dem ehrgeizigen Angebot der EU.
Sie steht zu dem ehrgeizigen Angebot der Bundesregierung, bis 2020 eine CO2-Reduktion um 40 Prozent herbeizuführen. Wir stehen hinter der Verhandlungsdelegation der Bundesregierung und hinter Bundeskanzlerin
Merkel. Es wäre gut, wenn auch das gesamte Haus der
Delegation Rückendeckung aussprechen würde, statt
sich im kleinkarierten Hü und Hott zu verlieren.
({1})
Herr Steinmeier, Sie haben gefragt: Wo bleibt das
Konkrete? Ich möchte Sie herzlich bitten, sich unseren
sehr detaillierten Antrag anzuschauen. Ich finde es traurig, dass Sie das nicht vorher getan haben. Dann hätten
Sie das, was Sie gesagt haben, nicht sagen können. Erst
unter dem Lichte dessen, was Sie gesagt haben, wird mir
klar, warum Schröder bei Gazprom und Fischer bei
RWE gelandet sind. Das ist für mich der Marsch durch
die Instanzen für eine bessere Klimapolitik. Anders können sie das nicht gemeint haben.
({2})
Ich möchte vier konkrete Punkte nennen, die im Rahmen der Jahrhundertaufgabe, die im Hinblick auf die
Konferenz in Kopenhagen und die Zeit danach vor uns
steht, für mich wichtig sind.
Erstens. Der Bundesumweltminister hat völlig zu
Recht ausgeführt, dass wir nicht nur über die Kosten
dessen, was wir zu schultern haben, reden müssen, sondern dass es darum geht, die Chance zu erkennen und zu
nutzen und unsere exportabhängige Volkswirtschaft zu
modernisieren. Die Programme zur Gebäudesanierung
führen nicht nur zur Einsparung von CO2, sondern sie
schaffen auch Arbeitsplätze und machen uns weniger
importabhängig. Neue Technologien im Bereich der erneuerbaren Energien, der CO2-Abscheidung, der Elektromobilität und der Solarkraftwerke lassen uns nicht nur
die CO2-Ziele erreichen, sondern sind auch ein Quantensprung für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft. Dabei geht es, liebe Frau Künast, auch um
das, was die Grünen immer propagiert haben: um qualitatives Wachstum, und zwar nicht als Randerscheinung,
sondern als tiefgreifende Modernisierung unserer Volkswirtschaft.
Dazu aber - das sage ich ausdrücklich an Sie gerichtet müssen auch die Grünen zu irgendeiner Art von Infrastruktur bereit sein. Man kann nicht sagen, man wolle
die Volkswirtschaft modernisieren, und zugleich auf jede
Pipeline und neue Kraftwerke verzichten. In diesem
Punkt müssen Sie sich bewegen. Wir werden diese Auseinandersetzung in den Diskussionen der kommenden
Jahre führen, Frau Künast. Welche Pipelines dürfen wir
Ihrer Meinung nach denn bauen?
({3})
Zweitens. Die Zusammenarbeit mit den Entwicklungs- und Schwellenländern ist in der Tat von entscheidender Bedeutung. Das Desaster des Klimawandels
spielt sich vor allem in den Entwicklungsländern ab, mit
unabsehbaren Folgen auch für unsere Wirtschaft und für
unsere Sicherheit. Deswegen ist es nicht nur ein Akt der
humanitären Verantwortung, wenn wir diesen Ländern
helfen; es geht auch um unsere Verantwortung gegenüber den eigenen Bürgern. Wir haben hier alle Möglichkeiten dieser Welt: beim Technologietransfer mit dem
Ziel der Abkoppelung von Wirtschaftswachstum und
Energieverbrauch, beim Aufbau eigener wissenschaftlicher Kapazitäten und eigener nachhaltiger Produktionsstätten, durch eine vernünftigere Landnutzung und ein
besseres Landnutzungsmanagement, aber auch - in diesem Punkt warne ich vor Blauäugigkeit - beim Einfordern sozialer, wirtschaftlicher und politischer Reformen.
Drittens. Das gilt auch für den Waldschutz. Herr
Trittin, wir haben in Den Haag bitter darüber gestritten,
ob und wie wir den Waldschutz honorieren sollten. Seit
dieser Zeit ist der Tropenwald weiter geschrumpft und
damit die als CO2-Senke anrechenbare Fläche, die wir
dringend benötigen, aber auch die tropische Schatzkammer der Welt. Dank Angela Merkel sind wir Vorreiter im
Tropenwaldschutz, aber wir brauchen mehr Verbündete,
die auch gegenüber den Menschen in den Entwicklungsländern die Leistungen des Waldes für die Welt besser
honorieren. Das ist die einzige Chance, diese Schatzkammern und damit auch die CO2-Senken über die Zeit
zu retten.
Herr Kollege, ich mache beim Stichwort „Zeit“ darauf aufmerksam, dass die Zeit leider auch für die Bewirtschaftung unserer Redezeiten ein gewisses Maß an
Verbindlichkeit beansprucht.
Deswegen komme ich zum berühmten letzten Satz.
({0})
- Lesen Sie bitte unseren Antrag.
({1})
Es ist unbedingt notwendig, dass die internationale
Unterstützung auch ankommt und dass die Mittel effizient eingesetzt werden. Wir brauchen keine neue UNSuperbürokratie und auch keine Blankoschecks. Wir
brauchen aber die Beteiligung beispielsweise unserer bewährten NGOs und unserer Durchführungsorganisationen bei der Verteilung der Mittel. Die finanziellen
Mittel, die wir generieren müssen, müssen wirklich da
ankommen, wo sie gebraucht und effizient eingesetzt
werden; sonst werden wir das Problem, vor dem wir stehen, nicht lösen können.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Kelber ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kern des Problems, über das wir sprechen, ist
so einfach wie erschreckend: Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels halten nicht Schritt mit der
Erkenntnis über die Gefahren der globalen Erwärmung.
Die Industriestaaten belauern sich gegenseitig. Man
hat Angst, bei den Verhandlungen seine Ausgangsposition zu verschlechtern, wenn man konkrete Maßnahmen
beschließt, sich zu konkreten Minderungszielen verpflichtet oder - eine kleine Ausnahme ist hier die Europäische Union - konkrete Finanzierungszusagen macht.
Die Schwellenländer beobachten dies und nehmen immer mehr zur Kenntnis, dass sie Angst haben müssen,
dass ihnen die gleiche Entwicklung wie in den Industrieländern verwehrt wird, was teilweise als ein Trick der Industrieländer angesehen wird. Die Entwicklungsländer
stehen daneben und staunen: Sie, die nichts zum Klimawandel beigetragen haben, sollen jetzt verpflichtet werden, das Problem mit zu lösen, unter dem sie als Erste
leiden. Dann lesen sie auch noch, dass die Mittel für den
Klimaschutz die Mittel für Armutsbekämpfung begrenzen sollen.
Wir erleben, dass Lobbyisten weiter ihr Geld mit Geschäftspraktiken verdienen wollen, die dem Klima schaden, und damit doppelt rücksichtslos vorgehen: zum einen rücksichtslos gegenüber kommenden Generationen,
die weniger an Lebensqualität haben werden und die
Kosten für das zu tragen haben, was schon heute an
Schäden vorhanden ist, und zum anderen rücksichtslos
gegenüber anderen Weltregionen. Vorhin ist das Beispiel
von Texas und Afrika genannt worden. Leider ist das
Beispiel auch für Deutschland passend: 1 Milliarde Afrikaner verursacht weniger Treibhausgasemissionen als
80 Millionen Deutsche. - Das zeigt die Dimension, über
die wir uns unterhalten.
Die Stärke Deutschlands in der internationalen Klimaschutzdiplomatie lag darin, dass wir in diesem Parlament mehr und mehr zu einem gleichen Problembewusstsein gefunden haben und dass wir mehr und mehr
zu einer gemeinsamen Erkenntnis über die Zielsetzungen, die notwendig sind, um das Problem in den Griff zu
bekommen, gekommen sind. Diese breiten Mehrheiten
gab es nicht von Anfang an. Aber dass wir jetzt als Ziel
festgelegt haben, die CO2-Emissionen um 40 Prozent zu
senken, zeigt die Stärke Deutschlands. Das würde auch
anderen Ländern guttun.
Wir haben trotz des Streits über die unterschiedlichen
Sichtweisen erste Maßnahmen ergriffen und erste internationale Finanzverpflichtungen übernommen. Ergebnisse dessen waren der Technologievorsprung - das war
gut für uns - und die Glaubwürdigkeit in der internationalen Klimaschutzdiplomatie. Das hat es ermöglicht, mit
den Entwicklungs- und Schwellenländern zu sprechen.
Genau diese beiden Dinge aber, Technologievorsprung
und Glaubwürdigkeit, sind jetzt in Gefahr. Das sagt Ihnen nicht nur die Opposition im Bundestag. Das hat im
letzten Monat der Rat für Nachhaltigkeit der Bundesregierung konstatiert.
Ich will das an dem Beispiel der technologischen
Führerschaft deutlich machen. Wir hatten in einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie vereinbart, die deutsche
Energieproduktivität, die Energieeffizienz und die -einsparung jährlich um 3 Prozent zu steigern. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie vereinbart, von diesem Ziel abzurücken und sich mit dem zu begnügen, was uns die EU
als Minimum vorschreibt. Das ist der Punkt: Sie stutzen
Deutschlands Technologieführerschaft an dieser Stelle
auf Mittelmaß. Das verspielt Glaubwürdigkeit.
({0})
Schlimmer ist aber, was mit der Zusage von internationalen Finanzmitteln zur Bekämpfung von Armut und
zur Bekämpfung des Klimawandels passiert. Das muss
man hier öffentlich sagen. Wir haben einen Minister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit, der dieses Ministerium eigentlich abschaffen wollte. Dann ist er aber Minister dieses Ministeriums geworden. Seine erste Maßnahme war, überschriftenheischend zu sagen: Die
technische Zusammenarbeit mit den Schwellenländern,
mit denen ich in Kopenhagen ein Abkommen schließen
will, kündige ich auf.
({1})
Gestern zieht er den Antrag der Koalition mit zurück und
präsentiert einen neuen, und zwar, wie wir gehört haben,
mit seiner Handschrift - das ist vorhin von Rednern der
Koalition gesagt worden -, in dem steht, dass die Mittel
für den Klimaschutz bei der Bekämpfung der Armut den
ärmsten Ländern abgezogen werden. Nichts anderes
heißt das, wenn die Mittel für den Klimaschutz der
ODA-Quote zugerechnet werden. Dieses Geld nehmen
Sie den Ärmsten weg. Das macht der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das ist eine Schande für
Deutschland.
({2})
Schade, dass die Bundeskanzlerin nicht mehr da ist.
Sie hat am 30. Januar 2009 in einer Rede das Gegenteil
versprochen. Sie hat gesagt: Wir wollen diese Zusagen
einhalten. Wir wollen Enttäuschungen in den Ländern
vermeiden, „denen wir mit unseren Millenniumszielen
viele Versprechungen und Zusagen gemacht haben“.
Diese Zusage wird heute, wenn dieser Antrag eine
Mehrheit bekommt, gebrochen.
Sie haben etwas anderes versprochen. Sie haben im
Kioto-Protokoll zugesagt, neue und zusätzliche Mittel
für den Klimaschutz zur Verfügung zu stellen, und zwar
nicht durch Abzug von Mitteln aus der Entwicklungszusammenarbeit. In diesem konkreten Teil handeln Sie
falsch, Herr Minister Röttgen. Da hat Ihnen Herr Niebel
die klimapolitischen Hosen heruntergezogen.
({3})
Das ist ein gefährliches Signal für Kopenhagen. Das
ist ein klarer Bruch des Versprechens gegenüber den
Ärmsten dieser Welt. Ich fordere Sie auf, heute wenigstens diesen Punkt aus Ihrem Antrag zu streichen. Sie
verabschieden sich von dem Konsens, der in diesem Parlament und in der deutschen Gesellschaft über viele
Jahre galt. Sie brechen Ihre Versprechen, die Sie noch
vor wenigen Monaten der ganzen Welt laut verkündet
haben.
({4})
Das Wort erhält nun der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk
Niebel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kelber, vielen Dank für die nette
Vorlage. Ich kann Ihnen versichern, dass das gesamte
Kabinett die Hosen anlassen wird.
Wir alle wissen, dass der Klimaschutz eine globale
Herausforderung ist, und wir wissen vor allen Dingen
auch, dass insbesondere die Entwicklungsländer betroffen sind. Klimaschutz und Entwicklungszusammenarbeit sind überhaupt nicht voneinander zu trennen.
({0})
Beides sind integrale Bestandteile der Aufgaben, die
diese Bundesregierung zu leisten hat.
({1})
Die Entwicklungsländer sind mehrfach betroffen,
weil sie am meisten unter dem Klimawandel zu leiden
haben, obwohl sie am wenigsten dazu beigetragen haben, und weil von heute bis zum Jahr 2050 90 Prozent
der zusätzlichen Emissionen in Entwicklungs- und
Schwellenländern ausgestoßen werden. Deswegen ist
die Entwicklungszusammenarbeit eine Frage der Zukunft der Weltbevölkerung. Ich glaube, dass man zur
Kenntnis nehmen muss, dass selbst die komplette Reduktion der Treibhausgasemissionen in den Industriestaaten nicht dazu führen würde, das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Aus diesem Grund ist ein eigener Anteil der
Entwicklungs- und Schwellenländer zur Reduktion
von Treibhausgasen zwingend notwendig und muss in
Kopenhagen eingefordert werden.
({2})
Klimaschutz ist integraler Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit. Deswegen bin ich froh, dass der
Koalitionsvertrag hierzu klar und eindeutig formuliert
ist. Dort steht, dass Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz zu den Schlüsselsektoren der Entwicklungszusammenarbeit zählen. Darüber hinaus hat sich die neue
Bundesregierung im Koalitionsvertrag freiwillig, ohne
irgendeine Verpflichtung dazu zu haben, zu einem Reduktionsziel von 40 Prozent bis zum Jahr 2020 bekannt.
({3})
Das ist ein wegweisender Beschluss. Es ist auch ein Signal für unsere europäischen Partner, uns das möglichst
nachzutun.
({4})
- Herr Kelber, Sie könnten zumindest Ihre eigenen CO2Emissionen dadurch minimieren, dass Sie meine kurze
Rede einfach still ertragen. Über die einzelnen Punkte
können wir in den weiteren Debatten diskutieren.
({5})
Wenn man die Anpassung an den Klimawandel als
integralen Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit versteht, führt das dazu, dass zukünftige Entwicklungsprojekte klimafest gestaltet werden müssen. Wenn
aufgrund des Klimawandels zum Beispiel ein Staudamm
an einem Wasserkraftwerk einen Meter höher gebaut
werden muss, als das früher der Fall war, dann ist diese
Klimaschutzmaßnahme ein Bestandteil des Entwicklungsprojektes. So müssen wir die Entwicklungszusammenarbeit in diesem Themenfeld in Zukunft betrachten.
Das eigentliche Klimaministerium in der Bundesrepublik Deutschland ist übrigens das Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
mit über 1 Milliarde Euro im laufenden Etat für Klimaschutzmaßnahmen.
({6})
Man muss deutlich sagen, dass die Stärkung dieses Ministeriums durch die Übernahme durch die FDP dazu
führt, dass der Klimawandel intensiver bekämpft wird,
als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.
({7})
Wir sind für einen fairen Interessenausgleich zwischen Nord und Süd. Das wird der Schlüssel zum Erfolg
der Klimaverhandlungen in Kopenhagen sein. Die Entwicklungsländer werden nur dann bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und ihre CO2-Emissionen zu
mindern, wenn sie verlässliche und planbare Unterstützung durch die Industrieländer bekommen. Gerade die
Bundesrepublik Deutschland steht durch ihr bisheriges
Regierungshandeln in der Pflicht, weiterhin Vorreiter zu
sein. Aus diesem Grund ist der Antrag der Regierungsfraktionen, der heute zur Entscheidung ansteht, ein guter
Antrag, der wegweisende Punkte beinhaltet.
Die Bundesregierung beteiligt sich mit einem fairen
und angemessenen Anteil an der Emissionsminderung
und an der Anpassung an den Klimawandel. Aber wir
sagen auch: Das ist ein Bestandteil des 0,7-Prozent-Ziels
im Rahmen der Entwicklungsfinanzierung. Es geht
nicht, Klimaschutz und Armutsbekämpfung von der Opposition gegeneinander ausspielen zu lassen; denn ein
richtig verstandener Klimaschutz ist ausdrücklich auch
ein Beitrag zur Armutsbekämpfung.
({8})
Entwicklungsländer und Schwellenländer nutzen oftmals die teuersten und umweltschädlichsten Energieträger.
({9})
Deswegen wird mit moderner Technologie und mit erneuerbaren Energien ein Synergieeffekt im Sinne der Armutsbekämpfung erzielt.
Diese Bundesregierung wird auf ihrer Agenda den
Schutz der Regenwälder mit einem hohen Stellenwert
versehen. Der Waldschutz ist mit Sicherheit eines der
kostengünstigsten und nachhaltigsten Klimaschutzinstrumente. Aus diesem Grund wird dies einer der
Schwerpunkte der neuen Bundesregierung in der Entwicklungszusammenarbeit sein.
({10})
Klimaschutz kostet Geld, kein Klimaschutz kostet
mehr Geld; das hat Michael Kauch vorhin völlig zu
Recht gesagt. Deswegen setzen wir auf den Emissionszertifikatehandel als wesentliches, als marktwirtschaftlich organisiertes Finanzierungsinstrument beim Klimaschutz. Dass wir den Waldschutz hier noch nicht
einbeziehen können, hat zwei ganz klar nachvollziehbare Gründe: Es würde zu einem Preisverfall bei den
Emissionszertifikaten führen und dadurch die Finanzierungsgrundlage vieler Projekte vernichten. Außerdem
müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die CO2-Absorptionsfähigkeit noch nicht vollständig messbar ist, wir
also derzeit keine Grundlage haben, um Waldschutzprojekte in den Zertifikatehandel einzubeziehen.
Bei allem Engagement dieser Bundesregierung fordern wir natürlich konkrete und nachprüfbare Mindestbeiträge unserer Partner, auch der Entwicklungs- und
Schwellenländer. Wir müssen gemeinsam handeln. Das
heißt, wir müssen gemeinsame Vereinbarungen finden,
zumindest die politischen Ziele definieren und einen
Zeitpunkt festsetzen, bis zu dem ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag geschlossen sein muss. Unter diesen
Voraussetzungen kann und wird die Konferenz in Kopenhagen zu einem Erfolg werden.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Hermann Ott für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Kollege Röttgen, dies ist
meine erste Rede in diesem Haus. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um Ihnen meine Glückwünsche zu Ihrer
Ernennung auszusprechen. Sie haben als Umweltminister die Chance, in den nächsten Jahren einige wichtige
Weichen zu stellen, Weichen für die Zukunft Deutschlands, aber auch für die Zukunft aller anderen Menschen
auf diesem Planeten. Dies ist eine wunderbare Aufgabe.
Dafür wünsche ich Ihnen viel Glück.
({0})
Ich beneide Sie allerdings nicht um die Regierungsmannschaft, mit der Sie diese schwierige Aufgabe bewältigen müssen.
({1})
Eines ist doch völlig klar: Wenn Sie das, was Sie hier im
Plenum und in der Presse in den letzten Wochen gesagt
haben, ernst meinen, dann sind die wirklichen Gegner
Ihrer Politik nicht die Damen und Herren auf den harten
Oppositionsbänken, nein, dann sind die Gegner Ihrer
Politik auf der Regierungsbank.
({2})
Ich will jetzt gar nicht auf die Auslassungen einzelner
Ihrer Kolleginnen und Kollegen eingehen; das wäre
langwierig und langweilig. Aber es ist zumindest ein Indiz, dass das Liberale Institut der Friedrich-NaumannStiftung
({3})
morgen, wenige Tage vor der Konferenz in Kopenhagen,
eine Klimakonferenz veranstaltet, in der nicht ein einziger ernstzunehmender Klimawissenschaftler sitzt, sondern nur Klimawandelleugner und Klimaskeptiker. Das
ist degoutant und einer politischen Stiftung in dieser
Bundesrepublik nicht würdig.
({4})
Gott sei Dank gehören die grundsätzlichen Positionen
zur Klimapolitik zumindest rhetorisch mittlerweile zur
Staatsräson der Bundesrepublik. Es gibt heute einen
ziemlich breiten Konsens darüber, dass der Klimawandel eine Bedrohung unserer Spezies darstellt und dass
entschlossen gehandelt werden muss. Leider hapert es
bei dem Antrag der Regierungskoalition an dieser Entschlossenheit. Denn was bedeutet schon das Bekenntnis
zum 2-Grad-Ziel, was bedeutet das Bekenntnis zur 50prozentigen Reduktion der Emissionen bis zum Jahr
2050, wenn der Emissionshandel zum vorrangigen Instrument des Klimaschutzes erklärt wird? Der Emissionshandel kann das allein strukturell gar nicht leisten. Was bedeutet das Eingeständnis, dass die Entwicklungsländer
viel Geld für Klimaschutzmaßnahmen brauchen, wenn
sich die Regierungsfraktionen gleichzeitig in gefühlten
50 Prozent ihres Antrags damit beschäftigen, wie der
deutsche Anteil möglichst gering gehalten werden kann?
Das, meine Damen und Herren, ist Feigheit.
({5})
Das ist Feigheit, weil sich die Bundesregierung weigert,
den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Die Tatsachen sind ganz leicht zu beschreiben: Ungefähr 50 Prozent der Emissionen kommen heute aus Industriestaaten, die anderen 50 Prozent - mit steigender
Tendenz - aus Entwicklungsländern. Wenn wissenschaftlich belegt ist, dass wir die globalen Emissionen
bis 2050 um 50 Prozent reduzieren müssen, dann muss
man nicht Mathematik studiert haben, um zu wissen,
dass dieses Ziel nicht von einer Seite alleine erreicht
werden kann. Dies ist eine klassische Pattsituation, aus
der nur ein Ausweg möglich ist: die andere Seite als
gleichberechtigt zu betrachten.
Den Entwicklungs- und Schwellenländern muss ein
faires und konkretes Angebot unterbreitet werden.
({6})
Dieses Angebot muss substanzielle finanzielle Zusagen
enthalten, und zwar zusätzlich zur zugesagten Entwicklungshilfe in Höhe von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und nicht, wie Sie in Ihrem Antrag nachträglich formuliert haben, als Teil der Entwicklungshilfe.
Die Entwicklungsländer verstehen nicht, warum Sie das
machen. Das ist kein echtes Angebot. Damit kommen
Sie nicht weiter.
({7})
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank,
Ihre Politik ist finsterstes 20. Jahrhundert
({8})
und in keiner Weise geeignet, den Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
({9})
Es geht nicht mehr darum, anderen etwas wegzunehmen,
um selbst mehr zu haben. Nein, Politik im 21. Jahrhundert bedeutet, gemeinsam für die Zukunft der Menschheit zu kämpfen.
Lieber Herr Kollege Röttgen, die Konferenz in Kopenhagen wird schwierig. Es wird darauf ankommen,
mit klarem Verstand und Fingerspitzengefühl vorzugehen. Eine Verständigung mit den Entwicklungsländern
ist möglich. Ich verspreche Ihnen Unterstützung für eine
wahrhaft zukunftsorientierte und ökologische Politik;
ich glaube, an dieser Stelle kann ich für meine gesamte
Fraktion sprechen.
Ich wünsche uns allen, dass wir in Kopenhagen einen
Erfolg feiern können, damit auf dieser Erde auch weiterhin menschengerechtes Leben möglich ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Lieber Kollege Ott, ich gratuliere Ihnen herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden
mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Nun erhält der Kollege Andreas Jung für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Konferenz von Kopenhagen darf nicht scheitern. Trotz
der Finanz- und Wirtschaftskrise bin ich überzeugt, dass
der Klimawandel die größte globale Herausforderung in
unserem Jahrhundert bleibt. Wenn es nicht gelingt, den
Klimawandel aufzuhalten, dann wird unsere Erde ärmer
werden: ärmer an Lebensgrundlagen für Menschen mit
allen Konsequenzen wie humanitären Notlagen, sozialen
Spannungen, ethnischen Konflikten und ungekannten
Migrationsbewegungen, ärmer an immateriellen Werten
wie dem Reichtum der Natur und der Vielfalt der Tierund Pflanzenwelt, wegen unabsehbarer Klimaschäden
und einer Häufung von Naturkatastrophen aber auch ärmer an materiellen Werten.
({0})
Ich bin überzeugt, dass am Ende nichts gewonnen wäre,
wenn wir die Finanzkrise gelöst und das Wirtschaftssystem gerettet haben, das Ökosystem uns aber um die Ohren fliegt. In Kopenhagen geht es darum, dies zu verhindern. Deshalb kämpfen wir für den Erfolg dieser
Konferenz.
({1})
Bundesumweltminister Norbert Röttgen und die gesamte Bundesregierung unter Führung der Bundeskanzlerin haben bei ihren Verhandlungen die volle Unterstützung der Unionsfraktion. Sie haben ein
Verhandlungsmandat, mit dem die Vorreiterrolle der
Bundesrepublik Deutschland fortgeschrieben wird. Es
schreibt das fort, was Konsens in der Großen Koalition
war,
({2})
und geht, Herr Kollege Kelber, in entscheidenden Punkten sogar darüber hinaus.
({3})
Ich will zwei Punkte nennen. Sie haben gesagt: Es
geht auch um das, was man innenpolitisch in die Waagschale zu werfen bereit ist. Zum ersten Mal bekennen
wir uns zu dem Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2020 gegenüber 1990 um 40 Prozent zu reduzieren, und zwar bedingungslos, also ohne den Vorbehalt, unter den das Ganze
in den letzten Jahren gestellt wurde: dass die anderen Industriestaaten vergleichbare Leistungen erbringen. Das
ist ein wesentlicher Fortschritt gegenüber dem Status
quo.
({4})
Zum ersten Mal bekennen wir uns auch zu der Langfristperspektive, die wir im Auge behalten müssen: dass
die Industrieländer die CO2-Emissionen bis zum Jahr
2050 nicht nur um 80 Prozent, sondern um bis zu 95 Prozent reduzieren. Wir zeigen damit auf, vor welchem radikalen Wandel bei uns Industrie, Energie, Mobilität und
Privathaushalte stehen. Auch das ist ein Punkt, bei dem
wir über das hinausgehen, was bisher Konsens war.
({5})
- Wir als Bundesrepublik Deutschland. - Deshalb kann
man mit guten Gründen behaupten, dass die Vorreiterrolle Deutschlands fortgeschrieben wird.
Nachdem ich Ihre Rede, Herr Kollege Kelber, aber
auch die von Herrn Steinmeier gehört habe, muss ich,
mit Verlaub, sagen, dass mich das schon überrascht hat.
Ich habe es in den letzten Jahren als ausgesprochen
Andreas Jung ({6})
wohltuend und gewinnbringend empfunden, dass wir,
obwohl wir uns innenpolitisch gestritten haben, dann,
wenn es um die großen Fragen, um die Klimakonferenzen ging, einig hinter dem jeweiligen Minister - in der
letzten Legislaturperiode hinter dem SPD-Minister - gestanden haben.
({7})
Diesen Gipfel zu nutzen für eine generelle Aussprache
bis hin zu der Frage der Mehrwertsteuerermäßigung für
Hotels, das, Herr Kollege Steinmeier, mögen Sie parteitaktisch für geschickt halten. Ich halte es mit Blick auf
Kopenhagen und die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, schlicht für unangemessen.
({8})
Lieber Herr Kollege Jung, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?
Ja.
Herr Kollege Jung, Sie haben gerade von der Notwendigkeit eines radikalen Wandels der Industriegesellschaft
gesprochen. Ich glaube, Sie stimmen mit mir darin überein, dass dieser Wandel vor allem das Energiesystem betreffen wird.
Frau Kollegin Bulling-Schröter hat gerade berichtet,
dass wir im Umweltausschuss über einen Plan amerikanischer Wissenschaftler von der Stanford-Universität gesprochen haben. Sie haben einen Plan für diese Welt vorgestellt, wonach bis 2030 das gesamte konventionelle
Energiesystem auf erneuerbare Energien umgestellt werden kann. Dieser Plan sei technologisch machbar, wirtschaftspolitisch richtig und auch finanzierbar. Eine einzige Voraussetzung sei noch nicht erfüllt: Die führenden
Regierenden der Welt hätten noch nicht die erforderliche
Motivation; sie müssten noch davon überzeugt werden,
dass dies geht.
Deswegen meine Frage an Sie: Werden Sie - die
Unionsfraktion und andere - sich dafür einsetzen, dass
dieser Plan in Kopenhagen auf die Tagesordnung kommt
und die Bundesregierung diesen Plan dort vorstellt, um
die größte Chance, das konventionelle Energiesystem
vollständig, zu 100 Prozent, auf erneuerbare Energien
umzustellen, was machbar ist, zu nutzen?
({0})
Herr Kollege Fell, Sie kennen den Koalitionsvertrag.
Sie wissen, dass darin das ausdrückliche Bekenntnis enthalten ist, die Tür zu einem regenerativen Zeitalter aufzustoßen. Gerade diese Bundesregierung bekennt sich
dazu, das weiterzuführen, was unter anderen Regierungen angestoßen und unter der rot-grünen Regierung
- das kann man ja sagen - fortgeführt und verbessert
wurde.
Wir wollen unsere Anstrengungen verstärken. Unser
Ziel ist, so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien
umzustellen. Selbstverständlich ist das einer der Punkte,
die wir auf der Konferenz von Kopenhagen einbringen.
Es macht ein Stück weit unsere Glaubwürdigkeit aus,
dass andere sehen, dass wir entschlossen sind, für die erneuerbaren Energien einzutreten. Insofern wird das in
Kopenhagen selbstverständlich eine Rolle spielen.
Ich möchte abschließend uns alle auffordern, in Kopenhagen gemeinsam für den Erfolg zu werben, dafür zu
werben, die Partner, gerade die USA, ins Boot zu holen,
gemeinsam deutlich zu machen, dass die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union erwarten,
dass, wenn ein Staat sich als Führungsnation versteht, er
gerade bei diesem wichtigen Thema nicht zurückbleiben
darf.
Eines macht mir hier ein Stück weit Hoffnung. Ich erinnere mich an eine Szene zum Ende der Konferenz von
Bali. Als die USA den Durchbruch zum Bali-Aktionsplan blockierten, stand der Delegierte von Papua-Neuguinea auf und sagte: In meiner Heimat gibt es ein
Sprichwort. Dieses Sprichwort heißt: Führe, aber wenn
du nicht führen kannst, dann trete auf die Seite. Und das
sage ich jetzt zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Nach diesen Sätzen sprangen die Menschen im ganzen
Saal auf, sie haben gejubelt und applaudiert. Unter dem
Eindruck dieses Jubels, der in die ganze Welt übertragen
wurde, ist die Verhandlungsführerin der USA aufgestanden, und sie hat gesagt: Wir nehmen unser Veto zurück.
Ich glaube, wir können berechtigte Hoffnungen haben, dass es auch bei dieser Konferenz wieder eine solche Dynamik geben und es dadurch bei dieser Konferenz
zu entscheidenden Schritten kommen wird. Die Bundesregierung wird ihren Beitrag dazu jedenfalls leisten. Dabei hat sie die volle Unterstützung der Union.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kelber
das Wort.
Herr Kollege Jung, Sie haben es kurz angesprochen
und haben eingefordert, wie früher einen Konsens bei
den Beschlüssen zu Klimakonferenzen zu erreichen. Dabei haben Sie mich persönlich angesprochen.
Bis gestern Vormittag lag ein Antragsentwurf der Koalition vor, bei dem es der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion möglich gewesen wäre, nicht dagegen
zustimmen. Ich denke einmal, dass er auch aus Ihrer Feder als Berichterstatter war. Dieser Antragsentwurf ist
gestern Morgen zurückgezogen und gestern Nachmittag
in veränderter Form neu vorgelegt worden. Er enthält
einen wichtigen geänderten Punkt - neben vielen anderen -, nämlich die Reduzierung der Mittel für die Armutsbekämpfung verbunden mit einer Verrechnung der
Mittel für den Klimaschutz, damit Herr Niebel in der
Statistik besser dasteht, ohne für die Menschen und die
Sache wirklich etwas erreicht zu haben.
({0})
Dafür werden Sie unsere Stimme nicht bekommen.
({1})
Zur Erwiderung, bitte schön, Kollege Jung.
Herr Kollege Kelber, ich möchte nur darauf hinweisen, dass der Antrag zwar ergänzt wurde, dass aber alle
wesentlichen Punkte, durch die das Verhandlungsmandat
der Bundesregierung bestimmt wird und in denen es um
die Position der Bundesregierung bei dieser Konferenz
geht, in keiner Weise aufgeweicht oder abgeschwächt
worden sind. Es wurden weitere Punkte ergänzt, die gerade die Entwicklungshilfe betreffen, ohne in der Sache
und hinsichtlich der Bedeutung etwas zurückzunehmen.
({0})
Nun möchte der Kollege Kauch zu einer Kurzintervention das Wort erhalten. Bitte schön.
Lieber Kollege Jung, ich hätte mich gefreut, wenn Sie
noch einen Aspekt in Ihre Antwort auf die Kurzintervention aufgenommen hätten.
Der Kollege Kelber sagte, hier sei eine Kürzung der
Mittel vorgesehen. Ich frage Sie: Hat es Ihre Bundesregierung in den elf Jahren unter der Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul jemals erreicht, dass die Entwicklungshilfe 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts beträgt?
Nein. Sie haben das Haus mit einem Anteil von
0,38 Prozent übergeben. Hier gibt es noch ganz viel Luft
zu den 0,7 Prozent. Dementsprechend sollten Sie hier
nicht behaupten, es sei eine Kürzung der Mittel für die
Armutsbekämpfung.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
sind nur noch wenige Tage bis zur Klimakonferenz in
Kopenhagen. Der Herr Bundesumweltminister hat in
den letzten Wochen die Dramatik der Situation in den
Medien und auch im Parlament mehrfach beschrieben.
Ich will für die SPD ausdrücklich sagen: Wir sind uns
sehr wohl der Rolle bewusst, die wir in Kopenhagen haben. Wir sind uns aber auch der Rolle bewusst, die wir
als Opposition hier im Deutschen Bundestag haben.
Wir haben mehrere Reden zu bewerten, insbesondere
zwei Reden, die Bundesminister hier gehalten haben. Zu
der Rede des Bundesumweltministers sage ich: Die Kür
war nicht grandios, aber eigentlich ganz okay, die Pflicht
hat allerdings vollständig gefehlt. Beim Bundesminister
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
hat beides gefehlt; das will ich ganz deutlich sagen.
Es geht darum, welche Rolle Deutschland spielt. Die
nationale Vorreiterrolle wird immer wieder beschrieben und beschworen. Sie besteht aus zwei Aspekten. Zum einen besteht sie darin, national engagiert Klimaschutz zu betreiben. Dabei fehlt eigentlich alles. Das
40-Prozent-Ziel ist schön. Sie wissen, wer in den vergangenen Jahren dafür gekämpft hat und warum es an mancher Stelle nicht funktioniert hat.
Sie muss zum anderen mit nationalen Maßnahmen
unterlegt werden. Das tun Sie jedoch nicht. Sie vertagen
Entscheidungen bis zum Oktober des nächsten Jahres.
Wir brauchen Verbindlichkeit bei den nationalen Maßnahmen. Der WWF hat einen Vorschlag für ein Klimaschutzgesetz unterbreitet. Dies sollten wir in den nächsten Wochen und Monaten miteinander diskutieren.
({0})
Auf internationaler Ebene sind zwei Dinge notwendig. Wir sind in der Pflicht, Zahlen vorzulegen, aber
nicht in der Pflicht, schöne Reden zu halten. Europa
bzw. Deutschland muss sagen, in welcher Höhe es eine
Reduktionsverpflichtung eingehen will. Wir müssen außerdem sagen, wie hoch die Finanztransfers in Entwicklungsländer sein sollen, die wir leisten wollen; denn
ohne Finanztransfers wird es nicht gehen.
Die sozialdemokratische Fraktion steht zu den Zahlen
30-30. Wir wollen eine 30-prozentige Reduzierung der
Treibhausgase in Europa, und zwar eigenständig und unkonditioniert, also unabhängig davon, was die anderen
machen. Außerdem wollen wir einen Finanztransfer von
30 Milliarden Euro im Jahr 2020 vonseiten der Europäischen Union.
Ich verstehe überhaupt nicht, wieso Sie nicht bereit
sind, diese Zahlen auf den Tisch zu legen und die Dynamik, die in den vergangenen Wochen eingetreten ist, zu
unterstützen.
Wenn Klimaschutz eine Menschheitsaufgabe ist, wie
es beschrieben wurde, wenn Klimaschutz ein Wachstumsmotor ist, wie es beschrieben wurde, wenn es keinen Plan B für Kopenhagen gibt, wie es beschrieben
wurde, wenn Deutschland mittlerweile ein unkonditioniertes Ziel von 40 Prozent verfolgt und wenn wir wisFrank Schwabe
sen, dass der Spielraum für CO2-Senkungen infolge der
Wirtschaftskrise größer geworden ist, warum kann
Europa bzw. Deutschland dann nicht für eine CO2-Reduzierung von 30 Prozent bis zum Jahr 2020 eintreten, unabhängig davon, was der Rest der Welt macht? Ich
glaube, das ist notwendig, und das müssen Sie noch vor
dem Klimagipfel in Kopenhagen vorlegen.
({1})
Das eine betrifft die Frage der CO2-Reduktion, und
das andere betrifft die Frage der Finanztransfers.
In Grafiken, die die Verantwortung für den CO2-Ausstoß darstellen, zeigen sich drei große Kreise, nämlich
um Europa, die USA und China. Die Auswirkungen davon treffen vor allem die Entwicklungsländer in Afrika
und anderswo. Deshalb müssen wir hinsichtlich der
Finanztransfers jetzt etwas auf den Tisch legen. Ivo de
Boer hat die Europäische Union aufgefordert, Zahlen zu
nennen. Das Europäische Parlament hat eine Unterstützung in Höhe von 30 Milliarden Euro beschlossen. Es
liegt in der Verantwortung Deutschlands, Europa zu dieser Position im Vorfeld des Klimagipfels in Kopenhagen
zu drängen.
Herr Kelber hat gerade dazu gesprochen. Das Ganze
ist wirklich peinlich; das kann man nicht anders sagen.
Bis gestern Mittag gab es einen Antrag der Koalition,
bei dem zwar einiges fehlte. Dieser Antrag war aber hinsichtlich der Beschreibung der Ziele und Maßnahmen im
Prinzip recht anständig. Das hat sich geändert; Herr
Niebel oder andere werden interveniert haben. Mit dem
nun vorliegenden Antrag können Sie sich bei den Entwicklungsländern nicht mehr blicken lassen. Wenn Sie
die 0,7 Prozent nicht mehr eigenständig erreichen wollen, sondern die Entwicklungshilfemittel mit denen für
Klimaschutzmaßnahmen verrechnen wollen, wenn Sie
also die Mittel für den aufgrund des gestiegenen Meeresspiegels notwendigen Dammbau in Afrika mit den Mitteln für die Aidsbekämpfung verrechnen wollen, dann ist
das peinlich und der Vorreiterrolle Deutschlands in Kopenhagen überhaupt nicht angemessen.
({2})
Ich kann Sie nur noch einmal auffordern. Die Zeit des
Zögerns, des Zauderns und auch des Pokerns ist vorbei.
Das ist der Situation nicht angemessen. Neben Ihren guten Reden müssen Sie nun endlich Zahlen und Daten auf
den Tisch legen. Sie müssen sich frühzeitig zu Maßnahmen verpflichten, um die Dynamik im Hinblick auf Kopenhagen weiter zu verstärken.
({3})
Nächster Redner ist Herr Kollege Dr. Thomas
Gebhart, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Klimawandel und damit ganz eng verbunden die Fragen der
Energieversorgung gehören ohne jeden Zweifel zu den
größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Folgen eines ungebremsten Klimawandels wären am Ende enorm.
Deshalb ist klar: Wir müssen dem Klimawandel entgegentreten. Dies ist auf der einen Seite eine ethische
Pflicht. Es ist aber auf der anderen Seite auch eine Frage
der politischen und ökonomischen Vernunft.
Daher heißt unser Ziel, den Klimawandel auf ein verantwortbares Maß zu begrenzen. Wie erreichen wir dieses Ziel? Die Klimaveränderungen sind ein klassisches
globales Problem. Deutschland allein und Europa allein
werden das Klima nicht retten können. Wir brauchen
also eine internationale Antwort. Notwendig ist, dass die
Welt kooperiert. Deswegen ist der Weltklimagipfel in
Kopenhagen so wichtig, und deswegen muss Kopenhagen ein Erfolg werden. Wir werden alles dazu beitragen,
dass Kopenhagen gelingt.
({0})
Wir allein retten das Klima nicht. Aber wir Deutschen
müssen unseren Beitrag leisten. Deswegen bekennen wir
uns ausdrücklich zu dem ambitionierten Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Deutschland ist damit Vorreiter. Unser Leitbild
heißt dabei, eine nachhaltige Entwicklung, Umwelt,
Wirtschaft und soziale Aspekte in Einklang zu bringen.
Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen.
Es ist aber zugleich auch eine große Zukunftschance für
unser Land.
({1})
Denn es ist völlig klar: Je effizienter wir künftig mit
knappen Ressourcen umgehen und je besser wir uns als
Spitzenreiter bei sauberen, umweltfreundlichen Technologien behaupten, desto mehr Arbeitsplätze schaffen und
sichern wir langfristig in unserem Land.
Nachhaltiges Wirtschaften entscheidet mehr und
mehr über die Wettbewerbsfähigkeit, und nachhaltiges
Wirtschaften wird mehr und mehr zu einem Erfolgsfaktor für Unternehmen. Deswegen ist es in diesem Zusammenhang besonders wichtig, zu sehen, dass wir insbesondere eine nachhaltige Energieversorgung brauchen,
die langfristig sicher, verlässlich und ökologisch wie
ökonomisch vernünftig ist.
Ich will an dieser Stelle vier wichtige Eckpunkte nennen.
Erstens. Wir müssen verstärkt auf Energieeffizienz
und Energieeinsparung setzen. Wir haben in unserem
Land noch große Potenziale, Stichwort „energetische
Gebäudesanierung“.
Zweitens. Wir müssen vor allem auf Forschung und
Entwicklung, Innovationen und neue Technologien setzen. Sie sind, wie der Minister gesagt hat, vermutlich der
Schlüssel zur Lösung der Probleme überhaupt. Lassen
Sie uns daher Umwelt- und Klimaschutz nicht im Sinne
von Verzicht rückwärtsgewandt diskutieren, sondern
nach vorne gerichtet als etwas, das neue Möglichkeiten
schafft, als Strategie zur Modernisierung dieses Landes.
({2})
Drittens. Wir brauchen mehr erneuerbare Energien als
Teil des Energiemixes. Aber auch hier gilt es, mit ökonomischem Sachverstand an die Sache heranzugehen und
insbesondere auf effiziente Formen erneuerbarer Energien zu setzen.
Der vierte und letzte Punkt: Es macht keinen Sinn, sichere Kernkraftwerke jetzt abzuschalten und durch Energieimporte oder zusätzliche Kohlekraftwerke zu ersetzen.
({3})
Wir werden übrigens die Klimaschutzziele dann nicht
erreichen können, wenn wir die Kernkraftwerke abschalten. Deshalb sagen wir: Die Kernkraft hat eine Brückenfunktion. Sie ist eine Brücke hin zu den erneuerbaren
Energien.
({4})
Deshalb sollten wir die Laufzeiten unter bestimmten Bedingungen verlängern und gleichzeitig einen Teil der zusätzlichen Erlöse in die erneuerbaren Energien investieren. Wir könnten den Weg hin zu den erneuerbaren
Energien schneller gehen.
({5})
Das ist insgesamt ein vernünftiger Weg. Es ist ein
Weg zu einer nachhaltigen Energieversorgung und insgesamt zu einer nachhaltigen Politik.
({6})
Kurzum: Tragen wir dazu bei, dass Kopenhagen ein Erfolg wird, und nutzen wir die Chance einer nachhaltigen
Entwicklung!
Danke schön.
({7})
Auch Ihnen, lieber Kollege Gebhart, gratuliere ich
herzlich zur ersten Rede im Deutschen Bundestag und
wünsche Ihnen viel Erfolg bei der weiteren parlamentarischen Arbeit.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als letzter Redner hat man die Chance, auf all
das einzugehen, was in den letzten eineinhalb Stunden
gesagt worden ist.
Aber in vier Minuten, Herr Kollege.
({0})
Ich versuche es, Herr Präsident.
Ich möchte zuerst auf die vier vorliegenden Anträge
eingehen. Wir spüren: Eigentlich sind wir in den Zielen
gar nicht so weit voneinander entfernt. Die Ziele ziehen
sich wie ein roter Faden durch alle vier Anträge. In manchen Punkten ist die Opposition etwas ambitionierter.
Das ist nun einmal das Vorrecht derjenigen, die die Verantwortung nicht tragen müssen. Aber in einem Punkt
unterscheiden wir uns in ganz besonderer Weise. Sie
sind gegen neue Kohlekraftwerke, obwohl Sie genau
wissen, dass die neuen Kohlekraftwerke einen wesentlich besseren Nutzungsgrad haben als die alten.
({0})
Sie stehen für den sofortigen Ausstieg aus der Kernkraft
in Europa. Sie stehen der CCS-Technologie skeptisch
gegenüber. Ihre Politik steht in all diesen Punkten eher
für mehr CO2 als für weniger.
({1})
So sieht für mich keine glaubwürdige Klima- und Energiepolitik aus.
Wir haben hohe Erwartungen an den Klimagipfel. Da
wir in Europa und ganz besonders in Deutschland eine
große Verantwortung haben, wollen und werden wir eine
Vorreiterrolle einnehmen; meine Kollegen haben dazu
schon einiges gesagt. Klar ist aber auch: Alle Anstrengungen werden nur erfolgreich sein, wenn alle Länder an
einem Strang ziehen.
({2})
China und die USA emittieren über 40 Prozent des
weltweiten CO2-Ausstoßes. Ein Abkommen, bei dem
diese beiden Länder nicht dabei wären, wäre kein Schritt
nach vorn. Deshalb ist es gut, dass sowohl der US-Präsident als auch der chinesische Präsident dabei sind und
konkrete Ziele ins Auge gefasst haben. Diese mögen für
uns zwar noch etwas unambitioniert sein. Aber allein die
Tatsache, dass sie Ziele haben, stellt für mich einen
großartigen Erfolg und einen wesentlichen Schritt nach
vorn im Vergleich zu dem dar, was wir vor zwölf Jahren
in Kioto vereinbart haben.
Meine Damen und Herren, Klimaschutz ist eine globale Herausforderung. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Wir brauchen ein funktionsfähiges Instrument, um
weltweit zu gestalten und notfalls zu sanktionieren. Deshalb muss in Kopenhagen die Ausweitung des Emissionshandels für alle beteiligten Staaten an erster Stelle der
Agenda stehen. Der Emissionshandel ist und bleibt - daThomas Bareiß
von bin ich zutiefst überzeugt - das international wichtigste Instrument einer fairen und marktorientierten Klimapolitik. Es bringt nichts, wenn wir in Europa ein
strenges Emissionshandelssystem betreiben, solange andere Teile der Welt nicht einbezogen werden. Gerade für
Deutschland ist das enorm wichtig; denn wir haben einen Industrieanteil an unserer Wertschöpfung von über
26 Prozent. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier nach
fairen Spielregeln spielen dürfen.
Klima- und Umweltschutz dürfen nicht als isolierte
Politikbereiche betrachtet werden. Klima- und Umweltpolitik müssen immer Hand in Hand mit der Wirtschaftsund der Energiepolitik gehen. Dann wird der Klimaschutz auch eine nachhaltige und selbsttragende Jobmaschine für Deutschland sein. Dann wird in Zukunft die
Klimapolitik in jeglicher Hinsicht für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung in Deutschland sorgen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben in Kopenhagen
eine einmalige Chance. Wir sollten sie nutzen. Ich wünsche der Kanzlerin Angela Merkel und Norbert Röttgen
viel Erfolg dabei.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Zusatzpunkt 2. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf der Drucksache 17/100 mit dem Titel „Für ein wirk-
sames und faires globales Klimaschutzabkommen in Ko-
penhagen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Antrag
ist mit der Mehrheit der Stimmen der Koalition ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 4 b. Hier geht es um die Abstim-
mung über den Antrag der SPD-Fraktion auf
Drucksache 17/105 mit dem neuen Titel „Die Klimakon-
ferenz in Kopenhagen zum Erfolg führen - Deutschlands
und Europas Vorreiterrolle nutzen und stärken“. Wer
stimmt diesem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Dieser Antrag ist mehrheit-
lich abgelehnt.
Unter dem Tagesordnungspunkt 4 c stimmen wir ab
über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/115 mit dem neuen Titel „Kehrtwende beim
globalen Klimaschutz auf UN-Gipfel in Kopenhagen“.
Wer will diesem Antrag zustimmen? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Antrag ist mehr-
heitlich abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 4 d. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/120 mit dem neuen Titel „Kopenhagen mit ver-
bindlichen und ambitionierten Klimaschutzzielen zum
Auftakt einer globalen ökologischen Modernisierung
machen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Antrag
hat keine Mehrheit gefunden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 c auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Datenschutz im Beschäftigungsverhältnis ({0})
- Drucksache 17/69 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Federführung strittig
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Dr. Konstantin von Notz,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter
sichern - Datenschutz am Arbeitsplatz stärken
- Drucksache 17/121 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung 90 Minuten vorgesehen. - Ganz
offenkundig findet das Zustimmung. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Olaf Scholz für die SPD-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Skandal
für Skandal hat uns in den letzten Jahren gelehrt: Wir
brauchen einen Beschäftigtendatenschutz. Das ist eine
Erfahrung, die wir alle gemeinsam in Deutschland gemacht haben. Die Geschichte des Datenschutzes für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist so wie die vieler
rechtlicher Regelungen für Arbeitnehmer: Der Datenschutz kommt zu spät - das muss man offen sagen -, er
kommt erst allmählich, und er stand am Anfang nicht
fest. Das erinnert an die Geschichte zum Beispiel des
bürgerlichen Rechts in Deutschland. Auch dort gab es
das Arbeitsverhältnis ganz lange gar nicht. Obwohl es
immer eine Lebenstatsache für Millionen Bürgerinnen
und Bürger gewesen ist, hat es dort keinen Niederschlag
gefunden. Erst heute finden sich solche Vorschriften.
Dementsprechend müssen wir auch jetzt vorgehen. Wir
brauchen nach all den Skandalen, die fast eine Liste der
bekanntesten Unternehmen Deutschlands darstellen,
endlich einen Beschäftigtendatenschutz, der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland besser
absichert.
({0})
Ich sage ausdrücklich: Wir brauchen ihn auch deshalb, weil die Situation der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer ganz anders ist als die vieler anderer, die
ebenfalls betroffen sind und die Probleme mit der Datensicherheit und der Verwendung ihrer Daten haben. Man
kann eben als Arbeitnehmer nicht so frei wählen, bei
welchem Anbieter man Daten hinterlässt und mit wem
man Kontakt aufnimmt. Man ist von anderen abhängig,
und die Abhängigkeitsstrukturen des Arbeitsverhältnisses machen einen ganz besonderen Schutz notwendig.
Deshalb bin ich der festen Überzeugung: Wir brauchen
ein eigenes Beschäftigtendatenschutzgesetz und keine
Regelung, die irgendwo anders mit unterkommt.
({1})
Nun hat man dazugelernt. In der letzten Koalition, in
der letzten Regierung hat es zwei Vereinbarungen gegeben. Diese sind interessant, wenn wir über das weitere
Vorgehen reden. Die erste war: Wir wollen eine Generalklausel im Bundesdatenschutzgesetz für die Beschäftigten
unterbringen. Die zweite war: Wir werden in der Regierung bis zum August dieses Jahres ein Eckpunktepapier,
möglicherweise einen Gesetzentwurf zum Beschäftigtendatenschutz einvernehmlich zustande bringen. Das
waren zwei Verabredungen, die die alte Koalition getroffen hatte.
Das mit der Generalklausel war schon eine eigene
Geschichte. Ich glaube, dass ich nicht allzu viel ausplaudere, wenn ich sage, dass es zwischen dem Innenminister, der Justizministerin und dem Arbeitsminister mehrfach Einigungen gegeben hat, dass diese Einigungen
aber immer nach Telefonanrufen von Wirtschaftsverbänden im Wirtschaftsministerium nicht für die ganze Regierung gegolten haben. Erst am Ende und in allergrößter Not ist es zu der heutigen Generalklausel gekommen,
weil der Lobbyismus massiv interveniert hat. Immer
dann, wenn es einen Skandal gab, haben alle gesagt:
„Man muss etwas tun“; aber wenn es konkret wurde, waren viele nicht mehr dabei. Das war schon bemerkenswert.
Ich habe mich nicht gefreut, dass die Vereinbarung,
dass es bis zum August eine Verständigung über einen
Beschäftigtendatenschutz geben sollte, nicht umgesetzt
worden ist. Ich habe mich darüber aber nicht gewundert.
Das war nach der Vorgeschichte mit der Generalklausel
im Bundesdatenschutzgesetz nicht anders zu erwarten.
Es hat massive Widerstände gegen eine Verständigung
über konkrete Ziele gegeben. Das muss ein Ende haben.
Wir brauchen deshalb jetzt eine solche Gesetzgebung in
Deutschland.
({2})
Was da passiert, das kann man nur ahnen. Jedenfalls
ist der Koalitionsvertrag keine gute Botschaft; denn darin steht nicht, dass es ein Beschäftigtendatenschutzgesetz geben sollte. Vielmehr heißt es dort, man wolle im
Bundesdatenschutzgesetz eine Regelung für die Arbeitnehmer treffen. Nun kann man sagen: Es ist egal, wo die
entsprechende Regelung steht. Ehrlicherweise muss ich
sagen: Wenn die Inhalte stimmen, ist es wirklich egal.
Die Frage ist aber: Warum ist das passiert?
({3})
Die vorherige Forderung anderer, zum Beispiel von der
FDP, war die nach einem eigenen Gesetz,
({4})
und die Union hat dazu schon einmal Ja gesagt. Ich will
dazu ausdrücklich sagen: Dass das jetzt so geregelt werden soll, macht misstrauisch. Misstrauen muss nicht bestätigt werden. Als Bürger dieses Landes, als jemand,
der sich für den Datenschutz von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern einsetzt, wünsche ich mir, dass dabei
etwas Gutes herauskommt.
Ich werde einen Gesetzentwurf, der noch gar nicht
vorliegt, nicht kritisieren. Das ist die Methode anderer;
die mache ich nicht mit. Ich betone: Das, was darin steht,
kann man messen. Mit der Verabschiedung des hier vorliegenden Gesetzentwurfs kann man ganz deutlich feststellen, ob das, was vorgeschlagen wird, mehr oder weniger ist. Weniger als das, was in dem jetzt vorgelegten
Gesetz zum Beschäftigtendatenschutz stehen soll, sollte
keine gesetzliche Regelung umfassen.
({5})
Es gilt in diesem Deutschen Bundestag: Hic Rhodus,
hic salta. Das ist ganz wichtig. Hier im Bundestag wird
das Gesetz beschlossen. Allgemeine Reden zu diesem
Thema sind völlig überflüssig. Eine angemessene Behandlung, das ist etwas, was die Bürgerinnen und Bürger
verdient haben. Denn sie kennen die Methode der Auseinandersetzung mit dem Datenschutz für Beschäftigte
sehr genau: Immer wenn ein Skandal bekannt wird,
meldet sich eine große Zahl von Politikerinnen und Politikern zu Wort und fordert: Ein Beschäftigtendatenschutzgesetz muss her! Hinterher stellen sie ihre Aktivitäten komplett ein, bekämpfen ein solches Gesetz sogar
im Einzelnen - wenn sie Minister sind, überlassen sie
das möglicherweise ihren Beamten -, damit nichts wirklich Konkretes herauskommt. Das darf an dieser Stelle
nicht passieren. Dafür ist diese Frage zu sensibel. Wir
müssen jetzt endlich etwas zustande bringen. Das muss
spätestens im nächsten Jahr etwas werden. Mit dem Gesetzentwurf, den wir hier vorlegen, ist das möglich.
({6})
Es gibt nicht nur Interpretationsprobleme. Lange
haben wir alle gesagt - ich will mich da nicht ausschließen -: Wer sich gut auskennt, weiß, dass das meiste, was
in diesen Skandalen passiert ist, schon jetzt verboten ist.
Aber natürlich müssen wir lernen, dass ganz offenbar ein
Teil derjenigen, die Verantwortung in Unternehmen tragen, Gesetze nur befolgen will, wenn sie ihren Inhalt
ganz genau nachlesen können, und deshalb müssen wir
das, was wir wollen, aufschreiben.
Aber es gibt auch ohne Ende Regelungslücken, wie
sich bei der genaueren Beschäftigung mit modernen
technischen Möglichkeiten und mit diesem Gesetzentwurf zeigt. Wir brauchen klare Regelungen, wonach
zum Beispiel bei Einstellungen gefragt werden darf. Wir
brauchen klare Regelungen über die Verwendung und
Nutzung von Daten im Beschäftigungsverhältnis, sodass
zweifelsfrei feststeht: Was man für eine konkrete Tätigkeit in einem Unternehmen nicht braucht, danach darf
weder gefragt noch darf es gewusst oder verwendet werden. Zuwiderhandlung muss verboten sein, und das geschieht mit der Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs.
({7})
Wir müssen natürlich auch den ganzen Missbrauch
bei gesundheitlichen Untersuchungen unterbinden. Ich
denke dabei sowohl an die Frage nach vorliegenden Diagnosen als auch an das, was beim Eintritt in ein Unternehmen häufig gemacht wird. Es ist nicht zulässig - es
darf auch nicht zulässig sein -, die allgemeine Fitness
der Arbeitnehmer abzutesten; das geht nicht. Zulässig
ist, Konkretes zu erfahren, wenn es um einen Arbeitsplatz geht, bei dem bestimmte gesundheitliche Probleme
eintreten können. Aber das ist die einzige Situation, und
die ist ganz selten. Sie auf diese seltenen Fälle zu beschränken, das ist das, was wir jetzt tun müssen.
({8})
Ich will es ausdrücklich ergänzen: Es gibt dann vieles,
was mit den Techniken verbunden ist, zum Beispiel
Fernüberwachung bei Telearbeiten. Wir brauchen eine
Regelung, die das so beschränkt, dass das nicht zu einer
allgemeinen Kontrolle der Arbeitnehmer wird. Wir müssen sicherstellen, dass es keine Videoüberwachung
gibt, die konkret auf Arbeitnehmer bezogen bloß auf
Verdacht hin möglich ist; wenn, dann müssen schon
ganz konkrete Vorwürfe gegen einen konkreten Einzelnen vorliegen. In allen anderen Fällen muss man sicherstellen, dass das, was zur Betriebssicherheit notwendig
ist, auch nur zur Betriebssicherheit dient und nicht dazu,
Beschäftigte zu überwachen.
Das Gleiche gilt für biometrische Daten und all die
Dinge, die dort stattfinden.
Ein wichtiges Thema ist die Verwendung des Telefons im Betrieb. Ich finde, wir sollten eine neue Klarstellung vornehmen, nämlich sicherstellen, dass es erlaubt
ist, das Telefon auch privat zu nutzen, wie es meistens
geschieht, und dann klar erklären: Dann darf die Überwachung, die da heute in Unternehmen stattfindet, nicht
mehr fortgesetzt werden. Auch das muss beendet werden.
({9})
Wir brauchen dieses Gesetz. Wir brauchen eine klare
Verantwortlichkeit des Arbeitgebers. Auch wenn er andere beauftragt, endet die nicht. Er muss das weiter tun.
Wir brauchen Schadensersatzansprüche für die Arbeitnehmer bei Missbrauch von Daten, Unterlassungsansprüche, Korrekturmöglichkeiten. Alles das ist jetzt
möglich. Lassen Sie uns diese Dinge gemeinsam zustande bringen!
Schönen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Frieser von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Der Datenschutz wird zunehmend - aber er ist
es auch schon - zum bestimmenden Thema dieser parlamentarischen Arbeit. Die Unsicherheit im Umgang mit
Daten quält uns fast alle mit einem zunehmenden Unsicherheitsgefühl, und zwar vor allem die Arbeitnehmer,
aber auch die Arbeitgeber.
Dass wir hier eine Regelung finden müssen, das ist,
glaube ich, eine einheitliche Haltung in diesem Haus; da
eint uns der Konsens. Gerade deshalb geht der Koalitionsvertrag - Sie haben ihn ja fast fehlerfrei zitiert,
Herr Kollege Scholz - genau dieses Problem, wie ich
meine, sogar sehr detailliert an.
({0})
Um es noch etwas grundsätzlicher zu fassen: Ohne Sicherheit ist keine Freiheit. Das ist der alte Humboldtsche
Satz, und er ist auch die Grundlage für das Regierungshandeln in dieser Frage. Denn es geht genau darum, dass
der Umgang mit den persönlichen, mit den eigenen Daten auch die Grundlage für eine persönliche Freiheit ist
und bleiben kann. Deshalb bedarf es dieser Regelungen.
Es ist klar - davon geht der Koalitionsvertrag eben
genau aus -, dass es keine Bespitzelung am Arbeitsplatz
geben darf, dass der Arbeitnehmer davor geschützt werden muss. Deshalb ist auch klar, dass nur Daten verarbeitet werden können, die für das Arbeitsverhältnis auch
wirklich erforderlich sind.
({1})
Wir können in der Koalition jedenfalls von einem
ausgehen: dass der Koalitionsvertrag in der Opposition
angekommen ist; er wird dort gelesen, und zwar vermehrt. Es ist nicht das erste, nicht das einzige Thema,
aber es wird uns vermehrt passieren, dass die Themen
ins Parlament hineingejagt werden. Man wird schauen,
dass man mit heraushängender Zunge möglichst der
Erste ist, der dieses Thema draußen noch irgendwie besetzen kann. Aber ich kann nur sagen: Mit solcherlei
Flickwerk, mit solcherlei Unzulänglichkeit lässt sich
auch in dieser Frage kein Staat machen.
({2})
Es wird Sie nicht wundern, dass wir von der CDU/
CSU deshalb - ich nehme an, dass das auch die Kolleginnen und Kollegen von der FDP tun - diesen Entwurf
ablehnen - vielleicht ablehnen müssen -; das gilt aber
natürlich nur den inhaltlichen Vorstellungen des Entwurfs. Es gilt nicht dem Thema des Arbeitnehmerdaten612
schutzes. Insofern glaube ich auch, dass wir das Ganze
zügig regeln müssen.
Es ist in der Tat so: Wir haben immer wieder skandalträchtige Vorkommnisse. Es geht um pauschale
Videobeobachtungen, es geht um Nötigungen mittels
Privatdetektiven, und es geht darum, dass erhobene Daten am Arbeitsplatz tatsächlich auch ein Handlungsprofil
eines Arbeitnehmers erahnen oder nachverfolgen lassen.
Das sind alles Zustände, die wir in der Tat regeln müssen.
Deshalb geht es eben auch darum, dass wir diese
Frage genau, präzise bearbeiten müssen. Nur können wir
das nicht mit den Ungenauigkeiten machen, die der
SPD-Gesetzentwurf beinhaltet.
Es muss die Anmerkung erlaubt sein, Herr Kollege
Scholz, dass der Handlungsdruck, den Sie jetzt hier so
in epischer Breite darstellen, Sie in Ihrer Regierungsverantwortung nicht dazu getrieben hat, an dieser Stelle zu
einem Ergebnis zu kommen.
({3})
Deshalb muss ich ganz ehrlich sagen: Wir dürfen den
wohlgesetzten abwägenden Prozess an dieser Stelle
nicht unterbrechen. Ich kann nicht ganz verstehen, warum dieser unabgestimmte Gesetzentwurf jetzt aus Ihrer
Schublade herauskommt. Wenn Sie uns diese Lade gezeigt hätten, hätten wir früher darüber reden können.
Aber er hätte besser ein Ladenhüter bleiben sollen.
({4})
Sie wissen, dass dieses Thema erstmals am 16. Februar letzten Jahres im Bundesinnenministerium unter
der Verantwortung des damaligen Bundesinnenministers
Schäuble besprochen wurde. Ich glaube, Sie konnten bei
diesem Gespräch nicht anwesend sein, Herr Kollege
Scholz. Aber das macht nichts. Dort wurden zwei Dinge
vereinbart: erstens die Tatsache, dass man dieses Thema
innerhalb des Bundesdatenschutzgesetzes regeln kann,
um Doppelbegrifflichkeiten zu vermeiden und die Einheitlichkeit von Definitionen herzustellen. Das ist eines
der großen Probleme des von Ihnen hier eingebrachten
Gesetzentwurfes. Zweitens sollte eine gründliche Abstimmung mit den Tarifparteien stattfinden, mit den Arbeitnehmervertretern und den Arbeitgebern. Was Sie
heute vorlegen, ist hingegen ein unabgestimmter Entwurf. Deshalb ist er abzulehnen. Wir können an dieser
Stelle so nicht weitermachen.
Dieses Platzieren im September - dafür haben wir ja
alle Verständnis - hat sicherlich nicht von ungefähr kurz
vor der Bundestagswahl stattgefunden. Wir sollten jetzt
vielleicht einen Schritt zurücktreten und versuchen, uns
so abzustimmen, wie es bisher nicht geschehen ist.
({5})
Ich will nicht alle fachlichen Mängel aufzählen; einige habe ich schon genannt. Man muss dem Parlament
die Chance geben, auf einen Entwurf der Regierung zu
reagieren und zu versuchen, die selber für notwendig gehaltene Abstimmung gemeinsam mit den politischen
Meinungsträgern herbeizuführen.
Der Entwurf enthält einige Unzulänglichkeiten und
Ungenauigkeiten. Sie sind bereits definiert und vorgetragen worden.
({6})
Letztendlich muss sogar angezweifelt werden, dass der
jetzt vorgelegte SPD-Entwurf mit der EG-Datenschutzrichtlinie in weiten Zügen zu vereinbaren ist. Da kann
ich nur sagen, werte Kollegen: Auch in der Opposition
muss man präzise formulieren und arbeiten. Es reicht
nicht, alte Entwürfe vorzulegen.
({7})
Ich möchte noch die Frage eines Beauftragten für
den Beschäftigtendatenschutz ansprechen. Den haben
Sie nur ganz am Rande erwähnt, Herr Kollege Scholz.
Dieser soll neben dem Datenschutzbeauftragten tätig
werden, und zwar bereits bei Kleinunternehmern von
fünf Mitarbeitern aufwärts. Dass Sie am Ende Ihres Gesetzentwurfes schreiben, das Gesetz würde keinerlei
Kosten verursachen, halte ich nicht nur für vermessen,
sondern auch für nicht glaubhaft. Insofern ist auch das
ein Punkt, an dem wir noch einiges nacharbeiten müssen.
Sie wussten, dass Sie mit diesem Antrag mit den Grünen etwas konkurrieren. Im ersten Entwurf der Grünen
wurde ebenfalls ein solcher Mitarbeiterdatenschutzbeauftragter gefordert. Diese Forderung ist dann über
Nacht verschwunden. Stattdessen wurde, ebenso plötzlich, die Möglichkeit einer Verbandsklage aufgenommen, zu der ich ehrlich sagen muss: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat meines Erachtens mit
einer Verbandsklage nicht sehr viel zu tun. Vielmehr ist
der Rechtsschutz ausreichend.
({8})
Der Duktus der Sprache des Entwurfes geht - das
will ich einmal deutlich sagen - mit einer Vorverurteilung des Arbeitgebers einher. Die meisten Arbeitgeber
verhalten sich nicht nur gesetzestreu, sondern auch im
Sinne ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine Vorverurteilung und ein An-den-Pranger-Stellen durch den
Sprachduktus halte ich nicht für angebracht.
({9})
Es geht auch darum, die Frage eines fehlenden Schutzinteresses des Mitarbeiters in Einklang mit den Verpflichtungen eines Unternehmens zu bringen. Dabei geht
es um die Fragen der Korruptionsbekämpfung und der
Datenerhebung, die auch etwas mit der wirtschaftlichen
Tätigkeit zu tun haben. Das müssen wir übereinanderbringen, auch gemeinsam mit den entscheidenden VerMichael Frieser
bänden. Das fehlt schon im Denkansatz bei diesem Gesetzentwurf. Schon allein deshalb ist er abzulehnen.
({10})
Wir sollten an dieser Stelle der SPD Zeit zum Überlegen geben. Die Grünen machen es - nicht oft, aber öfter in dieser Frage geschickter. Sie legen zu diesem Thema
keinen eigenen Gesetzentwurf vor, sondern einen Antrag, der aber im Grunde genommen in die ähnliche
Richtung geht: Sie irrlichtern in dieselbe dunkle Ecke.
({11})
Letztendlich will man einen eigenen Gesetzentwurf unbedingt erzwingen. Dieser enthält aber all den Ballast,
den ich schon erwähnt habe.
Ich kann nur sagen, dass es dieses Arbeitsauftrages
nicht bedurfte. Das Innenministerium arbeitet bereits daran. Die politischen Parteien denken an dieser Stelle mit.
Deshalb kann ich nur sagen: Ich hoffe, dass wir zum Ergebnis kommen, dass wir anderthalb Stunden Debattenzeit für diesen Gesetzentwurf nicht gebraucht hätten. Ich
kann Sie nur auffordern, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lehnen Sie mit uns sowohl den SPD-Gesetzentwurf
als auch den Antrag der Grünen ab!
Vielen Dank.
({12})
Herr Kollege Frieser, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag im Namen des
ganzen Hauses sehr herzlich.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der
Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
1986 wird ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz gefordert.
Man kann also heute nicht von einem Schnellschuss
sprechen. Das geht, mit Verlaub, völlig am Thema vorbei. Das möchte ich vorwegsagen.
({0})
Erinnern wir uns: Die Bahn schnüffelte 173 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus. Ein Textildiscounter
spitzelt hinter den Mitarbeitern her, ob sie vielleicht verschuldet sind; denn dann dürfen sie nicht hinter der
Kasse sitzen. In vielen Unternehmen - das können wir
im Wochenrhythmus erfahren - kommt ans Tageslicht,
dass Mails mitgelesen werden, Telefonate abgehört werden und
({1})
dass Gewerkschafter bespitzelt werden. Das muss man
sich einmal vorstellen.
Erinnern wir uns weiter: Bei Lidl ging es sogar so
weit, dass in den Umkleidekabinen der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Supermarktes gefilmt wurde. Man
muss sich darüber im Klaren sein, was hier im Land abgeht. Das ist offensichtlich die Regel und nicht die Ausnahme. Deswegen ist es höchste Eisenbahn, dass der
Staat hier eingreift, um dem Einhalt zu gebieten.
({2})
Wir müssen uns in diesem Hause einig sein, dass die
Bundesregierung und der Bundestag endlich ein deutliches Zeichen setzen müssen, dass die Persönlichkeitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern nicht am Werkstor
und auch nicht in den Umkleidekabinen von Angestellten eines Supermarktes enden.
({3})
Seit 1986 wird ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz
gefordert. In der letzten Wahlperiode gab es zwei gemeinsame Beschlussempfehlungen zum Bericht des
Bundesdatenschutzbeauftragten. Das ist insofern bemerkenswert, als diese gemeinsamen Beschlussempfehlungen von allen gemeinsam, also von der Linken bis zur
CSU, getragen wurden, was nicht alltäglich ist. Das
sollte man hier einmal anmerken. Mehrfach wurde in
diesen Beschlussempfehlungen die Bundesregierung
von allen Fraktionen aufgefordert, endlich ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vorzulegen. Passiert ist aber
nichts. Die Skandale gehen munter weiter, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind geradezu Freiwild in
vielen Unternehmen.
Es ist sicher interessant, was heute vorgelegt wurde.
Darin sind viele wichtige Punkte enthalten. Das ist richtig. Allerdings kann ich Ihnen folgenden Vorwurf nicht
ersparen: Die SPD war elf Jahre in der Bundesregierung.
Wenn es ein zentrales Anliegen der SPD gewesen wäre,
dann hätte man in diesen elf Jahren etwas machen können.
({4})
Unsere Unterstützung hätten Sie dabei gehabt. Passiert
ist aber nichts. Zwei Wochen vor der Wahl haben Sie,
Herr Scholz, als Arbeitsminister angekündigt, Sie würden etwas vorlegen. Danach sind Sie aus der Regierung
geflogen und sind jetzt in der Opposition. Heute legen
Sie nun endlich einen Gesetzentwurf vor. Geschenkt!
Wichtig ist, dass wir diesen Gesetzentwurf gemeinsam
durchbekommen.
Nach den heutigen Redebeiträgen kann man sagen,
dass das Hauptproblem die CDU/CSU ist. Bei der FDP
weiß man, seit sie in der Regierung sitzt, nicht mehr, wie
sie zu den Bürgerrechten steht und ob sie nicht lieber
die Interessen der Wirtschaftskonzerne exekutiert. Deshalb wird das Vorhaben wahrscheinlich nicht erfolgreich
sein.
({5})
- Dass Sie geklatscht haben, hat mich für kurze Zeit
ideologisch irritiert.
({6})
Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, jetzt wirklich eine
gesetzliche Regelung voranzubringen. Sie sollten sich
einmal überlegen, dass Arbeitsverhältnisse, wie es der
Begriff schon ausdrückt, Abhängigkeitsverhältnisse
sind. Hinzu kommt, dass die Zunahme von prekärer Beschäftigung in den letzten Jahren zu einer größeren Abhängigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und vor allem zu sehr viel weniger Mitbestimmung geführt hat. Es ist richtig, dass wir ein allgemeines Arbeitnehmerdatenschutzgesetz voranbringen; denn die prekäre Beschäftigung hat zu weniger Mitbestimmung und
zu einer geringeren Achtung der Persönlichkeitsrechte
geführt.
Gerade in Zeiten der Krise und in Zeiten von mehr
prekärer Beschäftigung wird die Angst der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer größer - deswegen auch das
Aufbegehren und der Widerstand. Die Interessenvertretung ist geschwächt worden. Wenn wir ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz beschließen, das transparent ist, in
dem klare Rechte formuliert werden und das bestimmten
Unternehmenspraktiken klar Einhalt gebietet, dann bedeutet ein solches Arbeitnehmerdatenschutzgesetz für
die einzelne Arbeitnehmerin und den einzelnen Arbeitnehmer ein Mehr an Mitbestimmung, ein Mehr an Demokratie und vor allem ein Mehr an Selbst- und Mitbestimmung. Nach so vielen Jahren müssen wir endlich in
die Puschen kommen.
({7})
Wenn wir über ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz,
über die Skandale in den Unternehmen und darüber, wie
Mitarbeiter ausgeforscht worden sind, diskutieren, dann
sollten wir - der Staat, der Bundestag, die Bundesregierung - innehalten und überlegen, was wir mit den Bürgerrechten und der Demokratie in den letzten Jahren gemacht haben. Man kann es auf einen Punkt bringen: In
vielen Wirtschaftsunternehmen wird das nachgemacht,
was im Bundestag und von der jetzigen und der vorhergehenden Bundesregierung vorgemacht worden ist,
nämlich eine exorbitante Datensammelwut zu veranstalten. Deswegen ist in diesem Zusammenhang auch
der Staat gefragt, endlich einmal innezuhalten und einen
anderen Weg einzuschlagen.
({8})
Eine letzte Anmerkung möchte ich machen. Wenn wir
über ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz diskutieren und
es hoffentlich endlich auf den Weg bringen, dann sollten
wir auch an die Arbeitslosen, an die Hartz-IV-Empfänger denken. Für sie gibt es nämlich de facto überhaupt
keine Datenschutzregeln. Darüber müssen wir miteinander diskutieren; denn nur gemeinsam werden wir es hinbekommen, hier etwas zu ändern. Erinnern Sie sich an
die Skandale, die es in einigen Argen in den letzten Wochen gab. Deswegen ist es richtig, über Arbeitnehmerdatenschutz zu sprechen. Es ist genauso wichtig, auf die
Gruppe der Hartz-IV-Empfänger einzugehen, die sich in
der Arge angesichts der Fragen und dessen, was sie offenlegen müssen, gewissermaßen nackig machen müssen.
Nur zusammen werden wir es hinbekommen, einen
wirklichen Kurswechsel zu bewerkstelligen. Dafür steht
die Linke, dafür werden wir alles tun. Vor allem werden
wir dafür im Parlament und auf der Straße richtig Druck
machen. Es wird Zeit.
Danke.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion, der ich gleichzeitig sehr herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratuliere.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank. Es ist natürlich ein Traum für eine Parlamentarierin, am Geburtstag reden zu dürfen - zumal zu
einem solchen Thema. Aber, Herr Scholz, Sie haben
mich wieder enttäuscht. Das war kein Geburtstagsgeschenk von Ihnen,
({0})
und zwar in zweifacher Hinsicht:
Erstens bin ich enttäuscht, dass jemand, der immerhin
gut zwei Jahre Arbeitsminister gewesen ist,
({1})
sich dafür, keine weiterreichenden Gesetzgebungsverfahren eingeleitet haben zu können, damit entschuldigt
- so nenne ich das einmal freundlich -, dass der Lobbyismus
({2})
- meiner kann es nicht gewesen sein, das muss man ganz
deutlich sagen; denn wir waren in der Opposition; die
unterschiedlichen Rollen sollten Sie noch im Kopf
haben - und der Druck sehr groß waren. Ich verstehe
das, ehrlich gesagt, nicht.
Zweitens hat mich die Tatsache enttäuscht, dass Sie
sich nicht einmal die Mühe gemacht haben, unsere Programmatik genau zu lesen. Denn dann wüssten Sie, dass
wir uns immer dafür eingesetzt haben, ein Arbeitnehmerdatenschutzrecht zu schaffen und nicht unbedingt
ein Gesetz. Sie als Jurist sollten den Unterschied kennen.
({3})
Nur das dazu.
Kollegin Kramme, ich kann mich noch gut erinnern,
dass Sie hier - es war einst im Mai; das verspricht Schönes - versprochen haben, dass es noch in dieser Legislaturperiode ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz geben
wird. Und dann? Eine Sitzungswoche und noch eine Sitzungswoche vergehen, und nichts ist passiert. Dann hat
Herr Scholz drei Wochen vor der Bundestagswahl - es
war in meinem Wahlkreis, in Düsseldorf - einen Gesetzentwurf vorgestellt. Das ist eine Verdummung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber nichts, was uns
in diesem Zusammenhang wirklich weiterbringt.
({4})
Wenn ich das noch sagen darf: Einen Gesetzentwurf
hätten Sie schon vor Jahren vorlegen müssen. Vielleicht
nicht unbedingt diesen, weil dieser Gesetzentwurf - in
dieser Hinsicht teile ich die Einschätzung meines Kollegen von der CDU/CSU - nicht gut ist. Nach jahrelanger
Arbeit hätte ich erwartet, dass er besser ist.
({5})
- Unser Gesetzentwurf wird kommen, und zwar schon
bald.
({6})
Der Unterschied, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, ist: Sie haben elf Jahre lang das Arbeitsministerium unter einer SPD-Flagge geführt. Sie waren elf
Jahre lang nicht in der Lage, etwas vorzulegen, nicht einmal als Regierung.
({7})
Von daher: Wir machen das richtig und gründlich. Darauf können Sie sich verlassen. Sie können rumnörgeln,
wie Sie möchten, aber da müssen Sie sich an Ihre eigene
Nase fassen
({8})
und sich nicht als Heilsarmee für die Bürgerinnen und
Bürger, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufspielen. Wir werden sehen, wer den besseren Entwurf vorlegt.
({9})
- Nein, es geht um Ihren Gesetzentwurf und nicht um
meine Inhalte. Damit müssen Sie leben.
Richtig ist, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schon heute nicht schutzlos sind, wenn der Arbeitgeber Telefon oder E-Mails überwacht.
({10})
Richtig ist auch, dass dieser Schutz leider sehr lückenhaft und damit nicht praxisgerecht ist: mangelnde Praxistauglichkeit, die vor allem Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer davor zurückschrecken lässt, ihre Rechte,
die sie haben, auch durchzusetzen, mangelnde Praxistauglichkeit, die sowohl für Arbeitnehmer als auch für
Arbeitgeber und Unternehmen ein Problem geworden
ist. Klar ist: Wir brauchen eindeutige Regelungen für die
Erhebung und Nutzung von personenbezogenen Daten
am Arbeitsplatz.
Es geht darum, den Spagat zwischen dem Schutz von
Arbeitnehmerdaten und effektiver Korruptionsbekämpfung hinzubekommen. Compliance und Revision ist das
Tagesgeschäft in den Unternehmen. Das kann man nicht
von einem Tag auf den anderen abschaffen, aber wir
brauchen auch keinen gläsernen Bürger, und wir brauchen auch keinen gläsernen Arbeitnehmer. Diesen Spagat werden wir hinbekommen. Da bin ich sicher. Aber
man muss überhaupt erkennen, dass es diesen Spagat
gibt. Wir wollen ein Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist für uns der Ausgangspunkt für das Grundrecht auf Datenschutz.
Wie gesagt, meine Damen und Herren von der SPD:
Wir haben elf Jahre gewartet. Schade, dass nur ein Flickenteppich mit Überflüssigem, mit Unnötigem und aus meiner Sicht mit zum Teil sachfremden Erwägungen herausgekommen ist; denn wo ich die datenschutzrechtliche
Relevanz einer Norm, die die Erstattung von Bewerbungskosten regelt, einordnen soll, das müssen Sie mir
erklären. An anderer Stelle begnügen Sie sich einfach
damit, das Bundesdatenschutzgesetz abzuschreiben. Das
ist ja auch einfach: copy and paste. Aber wenn Sie das
schon machen, dann doch bitte mit Augenmaß und
orientiert am Schutzgedanken der Regelungen.
({11})
Mit reflexartiger Überregelung ist weder dem Arbeitnehmer noch dem Arbeitgeber gedient.
({12})
Wir wissen alle - jeder von uns hat das sicherlich
schon einmal erlebt - um die Problematik der datenschutzrechtlichen Einwilligung im Arbeitsverhältnis.
Das ist ein Über-/Unterordnungsverhältnis. Wenn Ihnen
gesagt wird, Ihre Einwilligung sei freiwillig, dann haben
Sie eine Ahnung davon, wie freiwillig diese Einwilligung wirklich ist. Diese Freiwilligkeit muss jetzt intensiv hinterfragt werden.
Deshalb hat sich aus unserer Sicht im Bereich des Beschäftigtendatenschutzes das Instrument der Betriebsvereinbarung hervorragend etabliert. Auch wenn es an
dieser Stelle Nachholbedarf gibt: Datenschutz ist auch
immer ein Teil von Unternehmenskultur. Wenn es
schiefgeht, dann natürlich nicht; das haben wir oft genug
gesehen. Aber warum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, diese aus meiner Sicht bewährte und
höchstrichterlich bestätigte Praxis einschränken wollen,
bleibt Ihr Geheimnis. Warum Sie den Betrieben und den
Mitarbeitern Macht nehmen wollen, müssen Sie uns erklären.
Vor diesem Hintergrund: Das probate Mittel der betrieblichen Vereinbarung durch Unabdingbarkeitsregeln
zu schwächen, halte ich persönlich für praxisfremd und
wenig durchdacht. Würde Ihre Vorstellung Gesetz, wären über Nacht unzählige Betriebsvereinbarungen hinfällig. Das kann nicht Sinn und Zweck der Übung sein. Ich
freue mich auf die Kommentare der Gewerkschaft an die
SPD.
({13})
Sinn und Zweck dieser Übung kann nach unserer
Auffassung auch nicht sein, neben dem betrieblichen
Datenschutzbeauftragten einen betrieblichen Beauftragten für den Beschäftigtendatenschutz zu etablieren; das
hat auch schon mein Kollege gesagt. Hier sind Überschneidungen und Reibungspunkte vorprogrammiert.
Besser erscheint es uns, die Position des betrieblichen
Datenschutzbeauftragten zu stärken und ein einheitliches
Berufsbild zu entwerfen, das Mindestanforderungen
über die aktuelle Formulierung im Bundesdatenschutzgesetz hinaus verbindlich festlegt. Mal abgesehen davon,
steht aus unserer Sicht der bürokratische Aufwand für
die Unternehmen in keinem Verhältnis zum Erfolg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeitnehmerdatenschutz führte in den zurückliegenden Wahlperioden ein kümmerliches Dasein. Herr Korte, Sie haben
recht, dass wir fraktionsübergreifend hier im Bundestag
alle zwei Jahre gefordert haben, einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen.
({14})
Darin waren wir uns einig. Erste Versuche, wie der zum
Ende der vergangenen Wahlperiode eingeführte § 32 des
Bundesdatenschutzgesetzes, verfehlten das Anliegen, für
mehr Klarheit zu sorgen. Arbeitnehmerdatenschutzrecht
muss vor allem transparent und für den Einzelnen verständlich sein. Das muss unser Ziel sein. Wenn wir das
nicht machen, dann kommen wir leider kein Stück weiter.
Dafür aber benötigen wir kein eigenständiges Gesetz,
das in weiten Teilen einfach nur als Kopie des Bundesdatenschutzgesetzes daherkommt.
({15})
Rechtszersplitterung trägt nie zu einer verbesserten
Handhabung des Rechts bei.
({16})
Deswegen stehen wir dem Antrag der Grünen - zugegeben, in einigen Teilen ist er sehr erfreulich - durchaus
kritisch gegenüber. Wir werden bereits im nächsten Jahr
einen neuen Entwurf vorlegen. Dann werden wir darüber
diskutieren. Ich bin sicher, dass wir es schaffen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr zu bieten, als die
SPD das in der Vergangenheit getan hat.
Herzlichen Dank.
({17})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Olaf Scholz.
Sie haben mich auf den Druck von Lobbyisten angesprochen. Ich habe ihm gut standgehalten. Das hat am
Ende mit dem Bundesdatenschutzgesetz auch geklappt.
Aber es ist schon so gewesen - das wiederhole ich hier -:
Es hat massivste Interventionen gegeben. Wenn es das
Arbeitsministerium nicht gegeben hätte, hätten sie dahin
gehend Erfolg gehabt, dass es zu einer lauen Regelung
gekommen wäre. Diese Lobbyisten haben jedoch Unterstützung in anderen Ministerien der alten Bundesregierung gefunden. Deshalb bin ich hinsichtlich der Zukunft
etwas misstrauisch.
Einen anderen Punkt, den Sie angesprochen haben,
will ich gerne kommentieren. Zu den Vereinbarungen
über die Schaffung der Generalklausel gehörten die Vereinbarung, ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vorzulegen, und die Verständigung, dass es dazu bis zum August ein gemeinsames Papier der Regierung gibt. Das hat
es nicht gegeben, weil der Koalitionspartner das inhaltlich nicht gewollt hatte, weil er, wie es auch hier
durchzuklingen scheint, den Wunsch der Arbeitgeberverbände, möglichst wenig zu regeln, erhört hat. Wir
werden sehen, was jetzt dabei herauskommt.
Sie haben heute Geburtstag. Ich möchte Ihnen dazu
ausdrücklich gratulieren. Ich mag Ihren kämpferischen
Redestil; das will ich klar sagen. Ich wünsche Ihnen zu
Ihrem Geburtstag, dass Sie dann, wenn die Bundesregierung den Gesetzentwurf vorgelegt hat, hier nicht kleinlaut stumm bleiben und schweigen müssen.
({0})
Zur Erwiderung erhält das Wort die Kollegin Gisela
Piltz.
Da ich gut erzogen bin, Herr Scholz, erst einmal herzlichen Dank für den Glückwunsch, auch wenn dieser mit
dem „dumm“ ein bisschen vergiftet ist.
({0})
- Gut, dann ist es bei mir falsch angekommen. Also,
danke schön für den Glückwunsch. Aber ganz ehrlich:
Wenn das, was Sie vorgelegt hatten, oder die Tatsache,
dass Sie nichts getan hatten - das haben Sie so erklärt -,
ein Beweis dafür sein soll, dass Sie dem Lobbyistendruck standgehalten haben, dann finde ich das sehr enttäuschend.
({1})
Sie haben gesagt: Ich habe dem Druck der Lobbyisten
standgehalten, deshalb habe ich nichts getan. So habe ich
das verstanden.
({2})
Ich finde, wenn das so funktioniert, wenn man als Minister versucht, so Politik zu machen, dann bin ich davon
sehr enttäuscht und kann nur hoffen, dass diese Regierung das besser macht, als Sie das gemacht haben.
({3})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Beate
Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Guten Morgen, liebe Sozialdemokraten,
auch ich muss es noch einmal sagen: Sie haben zehn
Jahre im Ministerium für Arbeit und Soziales regiert,
aber erst heute kommen Sie mit einem Gesetzentwurf
zum Beschäftigtenschutz. All die Jahre haben Sie es
nicht geschafft, das Thema angemessen zu bearbeiten,
({0})
und das trotz der vielen Skandale, die in den letzten Jahren durch die Medien gingen. Natürlich ist es richtig,
dass Sie dieses wichtige Thema auf die Agenda des
Deutschen Bundestages setzen. Wir unterstützen das, legen aber einen eigenen Antrag vor; denn Ihre Forderungen gehen uns nicht weit genug.
({1})
Herr Frieser, es ist Realität, dass die Rechte der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in vielen Unternehmen mit Füßen getreten wurden.
({2})
Die Vorfälle sind mir eindrücklich in Erinnerung geblieben, beispielsweise die systematische Überwachung des
Mailverkehrs von weit über 80 000 Beschäftigten bei der
Bahn, die Bespitzelung der Betriebsräte bei der Telekom, das gezielte Erfassen von Krankheitsdaten und die
Videoüberwachung bei Lidl, das heimliche Speichern
von Krankendaten bei Daimler und nicht zuletzt die Vorwürfe der Bespitzelung von Beschäftigten bei Edeka. All
dies sind prominente Beispiele für den Missbrauch von
Daten der Beschäftigten, aber das ist bestimmt nur die
Spitze des Eisbergs. Das ist und bleibt ein Skandal und
muss vom Gesetzgeber unbedingt unterbunden werden.
({3})
Das ist auch die Meinung des Bundesarbeitsgerichts. Auf die Missstände beim Beschäftigtendatenschutz wurde schon mehrfach hingewiesen. Der Sprecher des Gerichts stellte gegenüber dem Tagesspiegel
fest, dass es jede Menge Rechtsunsicherheit gebe. Herr
Frieser und Frau Piltz, die Präsidentin des Gerichts fordert ein eigenständiges Datenschutzgesetz für Beschäftigte. Ein eigenständiges Beschäftigtendatenschutzgesetz haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode
gefordert. Aber wir sind mit dieser Forderung auf taube
Ohren gestoßen. CDU/CSU und SPD haben unseren damaligen Antrag abgelehnt.
Jetzt kann ich nur hoffen, dass CDU/CSU und FDP
endlich begreifen, dass in diesem Bereich erheblicher
Reglungsbedarf besteht. Vor allem appelliere ich an die
Regierungsfraktionen, ihr Vorhaben, den Beschäftigtendatenschutz lediglich in einem Kapitel des Bundesdatenschutzgesetzes zu regeln, aufzugeben.
({4})
Der Datenschutz für Beschäftigte muss klar, eindeutig
und umfassend geregelt werden. Diesem Anspruch wird
man mit einem Kapitel im Bundesdatenschutzgesetz bei
weitem nicht gerecht.
({5})
Wir brauchen vor allem weiter gehende Regelungen;
denn gegenwärtig herrscht ein unter bürgerrechtlichen
Gesichtspunkten unhaltbarer Zustand. Diesbezüglich
geht unser Antrag über den Gesetzentwurf der SPD hinaus:
Erstens. Wir wollen ein Klagerecht für Gewerkschaften, damit auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne betriebliche Interessenvertretung zu ihrem
Recht kommen können.
Zweitens. Wir wollen höhere Bußgelder. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die jetzige Bußgeldregelung
wenig abschreckende Wirkung hat. Wenn die Persönlichkeitsrechte von Beschäftigten verletzt werden, dann
ist das kein Kavaliersdelikt. Das muss endlich deutlich
werden und spürbar bestraft werden.
({6})
Drittens - das ist ganz wichtig - müssen auch die
Arbeitsuchenden bei der Bundesagentur für Arbeit
in den Beschäftigtenschutz einbezogen werden. Dass das
dringend notwendig ist, hat der Skandal bei der Jobbörse
der Bundesagentur für Arbeit gezeigt.
Ich sage es noch einmal: Die Regierungsfraktionen
sollen dieses wichtige Thema endlich aufgreifen. Die
Beschäftigten sind in ihrer Abhängigkeit von den Arbeitgebenden besonders schutzbedürftig. In diesem Sinne
greift der neue § 32 des Bundesdatenschutzgesetzes zu
kurz. Er enthält allenfalls Generalklauseln, die letztendlich keine Rechtssicherheit bieten, weder für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch für die Unternehmen.
Es bleibt also noch viel zu tun, bis die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserer schnelllebigen Informationsgesellschaft geschützt sind. Gerade in
Zeiten, in denen die Arbeitsmarktlage angespannt ist und
die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust bis weit in die
Mitte der Gesellschaft reicht, müssen Beschäftigte wertgeschätzt, fair behandelt und endlich in ihren Rechten
gestärkt werden.
Vielen Dank.
({7})
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag
im Namen des ganzen Hauses. Herzlichen Glückwunsch.
({0})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, seien Sie getrost versichert, das Thema Datenschutz wird für die aktuelle Regierungskoalition eine außerordentlich wichtige
Rolle spielen. Es wird ein Kernthema im Bereich der Innen- und Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode sein.
({0})
Dies gilt insbesondere für den Arbeitnehmerdatenschutz.
Es ist völlig unstreitig: Es gab in der Vergangenheit
gravierende, schwerwiegende und durch nichts zu rechtfertigende Datenschutzskandale. Es gab Skandale in
Großunternehmen, wo Mitarbeiter bespitzelt wurden,
Daten missbräuchlich gespeichert und teilweise weitergegeben wurden. Ich bitte aber um eines, und zwar darum, den Blick für die Realität nicht zu verlieren. Es hat
sich hier um einige wenige Ausnahmefälle gehandelt.
Ich warne dringend davor, die gesamte deutsche Wirtschaft unter Generalverdacht zu stellen.
({1})
Das trifft einfach nicht zu. Der überwiegende Teil der
deutschen Wirtschaft, insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen, verhält sich vollkommen gesetzesund rechtstreu. Dies sollte an dieser Stelle deutlich zum
Ausdruck gebracht werden.
({2})
Ich bedauere es sehr, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der SPD, dass Ihrem Antrag bzw. Ihrem Gesetzentwurf ein grundsätzlicher Argwohn und ein Misstrauen gegenüber der Wirtschaft
innewohnt. Dies ist vollkommen ungerechtfertigt.
({3})
Ich möchte nicht verhehlen, dass es sehr wohl Änderungsbedarf gibt. Es besteht die Notwendigkeit, den
Arbeitnehmerdatenschutz in Deutschland zu verbessern.
Wir werden dies in dieser Legislaturperiode tun; seien
Sie versichert. Ich warne in aller Deutlichkeit davor,
vollkommen überzogene, höchst bürokratische, kostspielige und unverhältnismäßige Regelungen zu schaffen. Dies wäre der Fall, wenn wir sie so schaffen würden, wie sie der Gesetzentwurf der SPD vorsieht.
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass die
Grundinitiative nicht von Ihnen, Herr Scholz, in Ihrem
früheren Amt ausging, sondern vom damaligen Bundesinnenminister, Dr. Wolfgang Schäuble,
({4})
der am 16. Februar dieses Jahres zu einem Spitzentreffen
im Bundesinnenministerium eingeladen hatte. Sie, Herr
Scholz, waren nicht anwesend, aber Vertreter der Arbeitnehmerseite, zum Beispiel der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer. Man hat
sich meines Erachtens dort sehr konsensual und zielgerichtet mit dem Thema „Verbesserung des Arbeitnehmerdatenschutzes“ auseinandergesetzt.
({5})
Ich warne in aller Deutlichkeit davor, jetzt übereilt
und vorschnell Regelungen zu schaffen. Für uns in der
neuen Koalition gilt ganz klar der Grundsatz: Qualität
geht vor Schnelligkeit.
({6})
Wir wollen effiziente und praxistaugliche Regelungen
schaffen.
({7})
Wir wollen aber nichts über das Knie brechen.
({8})
Ich darf an dieser Stelle eines klarstellen, weil Sie,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen
und von der SPD, hier das Gegenteil behaupten: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland sind
heute nicht rechtlos gestellt. Es gibt eine sehr ausdifferenzierte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes
zum Umgang mit personenrelevanten Daten vor Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses und nach Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses. Das heißt
aber nicht, dass wir als Gesetzgeber nichts tun sollten;
das Gegenteil ist der Fall. Ich bin der festen Überzeugung: Wir als Gesetzgeber sind aufgerufen - wir haben
dies im Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und
der FDP ganz deutlich zum Ausdruck gebracht -, den
Arbeitnehmerdatenschutz zu verbessern. Wir werden dafür sorgen, dass Arbeitnehmer in Deutschland vor Bespitzelungsaktionen wirksam geschützt werden.
({9})
Stephan Mayer ({10})
Wir werden in diesem Zusammenhang das Bundesdatenschutzgesetz lesbarer und verständlicher gestalten.
Wir werden es zukunftsfest und technologieneutral ausgestalten.
({11})
Hinsichtlich der Frage, ob wir ein eigenes Beschäftigtendatenschutzgesetz in Deutschland brauchen, bin ich
der Meinung, dass wir das schon vorhandene und bewährte Bundesdatenschutzgesetz
({12})
um ein weiteres Kapitel erweitern sollten. Es gibt zu
viele Gesetze, zum Beispiel das Bundespersonalvertretungsgesetz, das Arbeitssicherheitsgesetz und das Telemediengesetz,
({13})
in denen spezialgesetzliche Regelungen für den Arbeitnehmerdatenschutz erforderlich wären. Ich bin der
Auffassung, es wäre vernünftiger, im Bundesdatenschutzgesetz ein eigenes Kapitel für den Arbeitnehmerdatenschutz zu schaffen.
Ich bitte Sie, eines zur Kenntnis zu nehmen: Beim
Thema Datenschutz geht es nicht nur um den Schutz der
vorhandenen Daten, sondern es geht immer auch darum,
Datensparsamkeit an den Tag zu legen.
({14})
Es ist also immer auch darauf zu achten, dass möglichst
wenige Daten erhoben werden.
({15})
Die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts habe ich schon erwähnt. Das Bundesarbeitsgericht hat die ganz klare Vorgabe gemacht, dass sowohl
vor der Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses
als auch nach Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses nur die personenrelevanten Daten erhoben werden
dürfen, die für die Beantwortung der Frage relevant sind,
ob das Beschäftigungsverhältnis begründet bzw. fortgesetzt oder beendet werden sollte oder muss. Daran werden wir uns orientieren, genauso wie an den festen
Grundsätzen der Freiwilligkeit und der Einwilligung.
Es dürfen nur die Daten gespeichert werden, die vom betroffenen Arbeitnehmer oder Bewerber freiwillig herausgegeben werden.
Die Persönlichkeitsrechte des Bewerbers und insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind bei der Erhebung von Daten stets zu wahren.
Es dürfen insbesondere nur Fragen zu dienstlich relevanten Vorgängen gestellt werden. Dies gilt allerdings schon
heute.
Meine lieben Kollegen von den Grünen, Sie haben in
Ihrem Antrag, der sehr umfangreich ist, viele Allgemeinplätze aufgeführt, die völlig überflüssig sind. Sie sind
deshalb überflüssig, weil sie schon längst geltendes
Recht sind. Die Frage nach einer Schwangerschaft oder
einer geplanten Schwangerschaft ist schon heute arbeitsrechtlich unzulässig.
({16})
Das Gleiche gilt für die Überwachung mit Videokameras;
({17})
hier besteht, um das deutlich zu sagen, Klarstellungsbedarf.
Wir wollen dafür sorgen, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland nicht mit speziellen
Videokameras bespitzelt werden. In manchen Unternehmen ist dies notwendig, um dafür zu sorgen, dass die
Waren gesichert sind und damit dann, wenn Waren gestohlen werden, diesem Diebstahl nachgegangen werden
kann. Wir sind aber der festen Überzeugung, dass es
nicht erforderlich ist und nicht zulässig sein darf, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit speziellen Videokameras zu bespitzeln.
Lieber Kollege Scholz, Sie haben die private Nutzung des Telefons angesprochen und dafür plädiert, dass
es generell zulässig sein sollte, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland das dienstliche Telefon zu privaten Zwecken nutzen. Dies mag in dem einen
oder anderen Fall vielleicht richtig sein. Ich sage aber
ganz offen: Diese Forderung im Sinne einer Generalklausel zu formulieren und sie der Wirtschaft in der jetzigen Situation ins Stammbuch zu schreiben, halte ich
für vollkommen deplatziert und verfehlt.
({18})
Wir werden des Weiteren darauf achten, dass passgenaue, zielgenaue Regelungen getroffen werden und nicht
das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, dass also
nicht vollkommen bürokratische und unverhältnismäßige Regelungen getroffen werden.
Ein Kernanliegen der neuen Regierungskoalition ist,
die Rolle des Bundesdatenschutzbeauftragten zu stärken, stets seine Unabhängigkeit zu wahren und seine
personelle und sächliche Ausstattung zu verbessern. Ich
warne aber davor, im Rahmen eines Arbeitnehmerdatenschutzrechts durch die Hintertür Änderungen am Arbeitsrecht vorzunehmen.
Liebe Kollegen von der SPD, es ist schon erwähnt
worden, dass ein Punkt in Ihrem Gesetzentwurf mit Arbeitnehmerdatenschutz überhaupt nichts zu tun hat. In
§ 6 Abs. 6 Ihres Gesetzentwurfes steht, dass einem Bewerber sämtliche Kosten, zum Beispiel Fahrtkosten, und
Auslagen für ein Bewerbungsgespräch zu erstatten
sind, wenn der Arbeitgeber ihn zur persönlichen Vorstellung auffordert. Diese Regelung hat mit Arbeitnehmerdatenschutz wirklich überhaupt nichts zu tun.
({19})
Stephan Mayer ({20})
Ich warne, wie gesagt, davor, jetzt durch die Hintertür
Regelungen einzuführen, die mit dem Arbeitnehmerdatenschutz überhaupt nichts zu tun haben.
({21})
Des Weiteren müssen wir meines Erachtens unheimlich aufpassen, dass wir dem individuellen Anspruch des
Arbeitnehmers bzw. des Bewerbers gerecht werden, dass
mit seinen personenbezogenen Daten sorgfältig und ordnungsgemäß umgegangen wird. In diesem Zusammenhang halte ich aber überhaupt nichts von der Forderung
der Grünen, ein neues Verbandsklagerecht einzuführen.
({22})
Ich sage ganz offen: Ich stehe dem Institut des Verbandsklagerechts ohnehin sehr skeptisch und distanziert gegenüber.
({23})
Ich persönlich bin nämlich der Auffassung, dass es nicht
in unsere Rechtssystematik passt. Natürlich muss jemand, der sich in seinen Rechten verletzt fühlt, dies individuell gerichtlich geltend machen können. Das heißt
aber nicht, dass wir für Betriebsräte oder für Gewerkschaften eine ausufernde Ausweitung des Rechtsinstitutes des Verbandsklagerechtes schaffen müssten. Dem
müssen wir Einhalt gebieten. Wir brauchen kein neues
Verbandsklagerecht in diesem Bereich.
Seien Sie versichert, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Wir werden uns
mit dem wichtigen Thema, wie wir den Arbeitnehmerdatenschutz verbessern können, in dieser Legislaturperiode
sehr zielgenau, sehr sorgfältig und sehr seriös auseinandersetzen. Der Antrag und der Gesetzentwurf, den die
einzelnen Oppositionsfraktionen eingebracht haben, sind
übereilt und vorschnell eingebracht worden. Gemach,
gemach! Seien Sie versichert: In wenigen Monaten werden wir wesentlich mehr Licht ins Dunkel bringen.
Herzlichen Dank.
({24})
Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren von der Union und
von der FDP, Sie haben recht: Die Opposition sollte präzise arbeiten. Wir werden uns bemühen, diesem Anspruch immer gerecht zu werden.
({0})
Im Gegenzug sollte die Kritik der Regierung Substanz
haben, und die Regierung sollte an der einen oder anderen Stelle auch Vorschläge unterbreiten.
Meine Damen und Herren, was ich von Ihnen höre,
läuft im Prinzip auf eines hinaus: Sie wollen kein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, Sie wollen keine zusätzlichen Regelungen. Ich höre von der FDP, Betriebsvereinbarungen seien so toll. Diese Möglichkeit gibt es
bereits. Und, ist in diesem Lande etwas passiert? Ich
höre von Ihnen, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes sei spitze. Das mag dem Grunde nach zutreffend sein; aber die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes ist Einzelfallrechtsprechung und hilft uns deshalb
überhaupt nicht weiter.
Wir haben eine Unzahl von Skandalen in der Republik. Ich weiß nicht, ob Ihre Einschätzung korrekt ist, dass
es sich um einige wenige Einzelfälle handele. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass wir nur die Spitze des
Eisberges sehen und auf viel mehr gefasst sein müssen.
Es ist richtig: Es gibt einige Spielregeln zum Datenschutz. Es fehlen jedoch Regeln, die den immensen
Stellenwert des Datenschutzes im Arbeitsverhältnis
verdeutlichen. Wir haben im Juli dieses Jahres Neuregelungen vorgenommen; das ist sehr erfreulich. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang Rechtsprechung festgeschrieben worden. Schon der damalige Gesetzgeber hat
aber klar und deutlich gesagt: Ein eigenständiges Arbeitnehmerdatenschutzgesetz ist unentbehrlich.
Beim Arbeitnehmerdatenschutzgesetz geht es um
Menschenwürde. Solch ein Gesetz darf deshalb kein Anhängsel zu irgendeinem anderen Gesetz sein. Natürlich
hat der Arbeitgeber ein Informationsinteresse, und er hat
auch ein Informationsrecht. Entscheidend ist aber: Wo
werden die Grenzen gezogen? Die Grenzziehungen sind
leider sehr unpräzise. Das Bundesdatenschutzgesetz
weist viele Lücken auf, sodass in ganz vielen Fällen auf
das allgemeine Persönlichkeitsrecht zurückgegriffen
werden muss. Wir haben die Problematik, dass Rechtsprechung immer nur Einzelfallrechtsprechung ist. So
gibt es bei der Telefonüberwachung eben keine generelle
Regelung dazu, was der Arbeitgeber darf und was nicht.
Es ist keine leichte Aufgabe, detaillierte Regelungen
zu treffen. Die technischen Möglichkeiten sind weit fortgeschritten; aber wir brauchen vor allen Dingen Regelungen in Bereichen, die altbekannt sind. Wir brauchen
deshalb einen beherzten Gesetzgeber. Der ist an dieser
Stelle leider nicht zu erkennen.
({1})
Leider können Datenschutzregelungen derzeit fast
immer durch eine individuelle Einwilligung des Arbeitnehmers aufgehoben werden. Es ist nicht nachvollziehbar, warum das so sein muss. Warum sind Regelungen
zu Urlaubsansprüchen und viele andere Regelungen im
Arbeitsrecht unabdingbar, die Regelungen zum Datenschutz aber nicht?
({2})
Was ist beispielsweise bei Bewerbungsgesprächen?
Dabei geht es eben nicht um einen Offenbarungseid des
einzelnen Bewerbers oder der einzelnen Bewerberin,
sondern es existieren Rechte und Pflichten. Deshalb
brauchen wir dort klare und präzise Regelungen.
({3})
Es ist leider auch völlig unklar, wann ärztliche Untersuchungen erlaubt sind und wann nicht. Das Bundesarbeitsgericht sagt: Ärztliche Untersuchungen und Psychotests sind nur zulässig, wenn sie unbedingt nötig sind
und nur in entsprechendem Umfang. - Was ist aber nötig, und was ist unnötig?
({4})
Ich sage: Entschuldigung, aber so geht es nicht.
Unentbehrlich sind vor allen Dingen Regelungen zur
Videoüberwachung. Die Videoüberwachung liegt in
der Beliebtheitsskala der Arbeitgeber leider ganz vorne,
und leider haben wir gerade in diesem Bereich eine vollkommene Unklarheit darüber, wann die Videoüberwachung heimlich oder öffentlich erlaubt oder nicht erlaubt
ist. Deshalb geht es darum, auch an dieser Stelle präzise
Regelungen zu haben.
Es gibt eine Spezialvorschrift für öffentliche Räume,
es gibt sehr spezielle Gerichtsentscheidungen, und seit
kurzem gibt es eine Regelung zur Videoüberwachung in
Bezug auf Straftaten, aber nichts Generelles. Deshalb
müssen wir an dieser Stelle ganz klar sagen: Videoüberwachung nicht zur Leistungskontrolle, und Videoüberwachung vor allen Dingen grundsätzlich nicht heimlich!
({5})
Meine Damen und Herren, Neugierde ist sehr
menschlich, und viele von uns wollen mehr über ihre
Mitmenschen wissen. Wenn es aber um die spezifische
Neigung von Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen geht,
dann sollten wir klare Grenzen ziehen und verständliche
Regelungen schaffen. Wir sollten auch eines berücksichtigen: Der loyalste Arbeitnehmer wird demotiviert, wenn
ihm nur Misstrauen entgegenschlägt. Durch Misstrauen
wird man demotiviert.
Ich bin mir ganz sicher: Durch ein Beschäftigungsdatenschutzgesetz würde mehr Wachstum geschaffen als
durch Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz.
In dem Sinne: Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Blumenthal
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Schutz von Arbeitnehmerdaten hat für die FDP einen
Stellenwert, der weit über den des Schutzes von Arbeitnehmerrechten hinausgeht. Persönliche Daten sind für
uns Bestandteile individueller Freiheit.
Durch die Bespitzelungsaktionen von einigen Unternehmen, die uns in der jüngsten Vergangenheit zur
Kenntnis gelangt sind, wird das Erfordernis eines wirksamen Arbeitnehmerdatenschutzes verdeutlicht. Darüber
besteht kein Zweifel.
({0})
Es ist daher dringend erforderlich, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Überwachungen am Arbeitsplatz wirksam geschützt werden. Nur solche Daten sollten verarbeitet werden, die für das Arbeitsverhältnis
erforderlich und insofern für das Unternehmen unverzichtbar sind. Die angestrebten Regelungen müssen dabei für die Bewerber und für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer gleichsam praxisgerecht und verlässlich
sein.
({1})
Insofern ist die Initiative der SPD als Grundlage für
eine zielorientierte Diskussion durchaus begrüßenswert.
Dieser Entwurf ist auch deshalb hilfreich, weil durch ihn
verdeutlicht wird, welche Schwierigkeiten und technischen Probleme in der Diskussion leicht übersehen werden.
So ist in dem Entwurf der SPD unter anderem vorgesehen, dass erstens die Verkehrsdaten der Arbeitnehmer
nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen durch die
Arbeitgeber erhoben und verwendet werden dürfen, zum
Beispiel zur Gewährleistung der Datensicherheit. Zweitens müssen solche Daten nach Ansicht der SPD nach
spätestens sieben Tagen gelöscht werden. Damit sind
Daten nach dem Telekommunikationsgesetz gemeint,
also solche Daten, die durch die Nutzung von Telefon,
E-Mail-Verkehr und Internetverbindungen sowie anderen Telekommunikationsdienstleistungen übertragen und
erzeugt werden.
Damit würde die SPD - das ist die Kehrseite Ihres
Entwurfs - in diesem Fall entgegen ihrer eigentlichen
Absicht aber mehr Unsicherheit für die Beteiligten und
Betroffenen schaffen;
({2})
denn die Forderungen der Sozialdemokraten stehen nicht
nur in einem logischen Widerspruch zu einem anderen
Gesetz, das die SPD selbst eingebracht und verabschiedet hat, sie sind auch rechtlich und technisch überhaupt
nicht damit zu vereinbaren.
Damit komme ich zurück auf ein Gesetz, das in diesem Hause am 9. November 2007 beschlossen worden
ist, nämlich auf das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung. Zentraler Bestandteil
dieses Gesetzes ist die von der FDP entschieden abgelehnte Vorratsdatenspeicherung.
Seit Januar 2008 sind demnach alle Telekommunikationsdienstleister und Internetprovider verpflichtet, die
Verkehrsdaten jeglicher Telekommunikation für sechs
Monate auf Vorrat zu speichern. Konkret heißt das, dass
bei Telefonverbindungen die Rufnummern von Anrufer
und Angerufenem sowie die Anrufzeit gespeichert werden müssen. Bei Verbindungen mit Mobiltelefonen muss
die IMEI-Nummer, also die physikalische Geräte-ID,
zusätzlich mitgespeichert werden. Beim Verbindungsaufbau mit dem Internet ist eine Speicherung der vergebenen IP-Adresse vorgeschrieben. Beim Zugriff auf das
Postfach müssen der Benutzername und die IP-Adresse
gespeichert werden.
Ich führe das technisch etwas dezidierter aus, um Ihnen klarzumachen, in welcher Tiefe wir uns damit
beschäftigen sollten; denn allzu oft war in der Vergangenheit zu erkennen, dass sich die politischen gestalterischen Kräfte offenbar ohne fachliches Grundverständnis
diesem Thema genähert haben. Das möchten wir von der
FDP jetzt ändern.
({3})
Wir betrachten also genau die Daten, die nach dem
Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für den Zeitraum
von sechs Monaten gespeichert werden müssen. Solche
Daten dürfen nach dem vorliegenden Gesetzentwurf der
SPD zum Arbeitnehmerdatenschutz nur in seltenen Ausnahmefällen gespeichert werden und sind dann - Zitat
aus Ihrem Entwurf - „unverzüglich zu löschen“.
In der Telekommunikationsbranche in Deutschland
sind etwa 200 000 Arbeitnehmer beschäftigt. Die allermeisten dieser Mitarbeiter bringen sowohl dienstlich als
auch privat Festnetz, Mobiltelefon, Internet und E-Mail
zum Einsatz.
Wie sollen und müssen sich nun die Arbeitgeber dieser Branche gegenüber ihren Arbeitnehmern verhalten?
Sind sie verpflichtet, die Verkehrsdaten im Rahmen der
Vorratsdatenspeicherung für sechs Monate zu speichern?
Um den Vorgaben des SPD-Entwurfs gerecht werden zu
können, dürfen sie diese Daten aber nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen speichern. Diese müssen
dann nach sieben Tagen wieder gelöscht werden.
Nach SPD-Ansicht muss der Arbeitgeber also Daten
speichern, die er eigentlich gar nicht speichern darf. Also
unabhängig davon, wie es der Arbeitgeber macht, er verhält sich falsch. Sie bringen ihn in Verlegenheit. Das
kann keine Rechtssicherheit schaffen.
({4})
Nach Auffassung der FDP kann dies nicht zielführend
sein. Es fällt ein Widerspruch auf. Weshalb beschließen
Sie von der SPD erst ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, und warum legen Sie uns jetzt einen Entwurf
vor und tun so, als ob es diese gar nicht gäbe? Das kann
nicht funktionieren.
({5})
Insbesondere bei der Vorratsdatenspeicherung müssen
wir - wie auch im Koalitionsvertrag vereinbart - zunächst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
abwarten und diese zur weiteren Klärung und Einarbeitung in einen inhaltlich belastbaren Gesetzentwurf, den
wir von der Koalition noch vorlegen werden, integrieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein Zweifel daran, dass wir uns hierbei einig sind. Darüber können wir uns gern gemeinsam weitergehende Gedanken
machen.
Wichtig ist aus meiner Sicht und aus der Sicht der
FDP-Fraktion, dass wir uns diesem Thema technisch
fundiert nähern und es ganzheitlich betrachten, um allen
Belangen gerecht zu werden. Dabei können wir die Arbeitgeber auch nicht außen vor lassen. Es darf nicht nur
aus einer Sicht betrachtet werden. Das möchten wir
nicht. Insofern freue ich mich auf die gemeinsame Arbeit mit dem Ziel, eine Verbesserung herbeizuführen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Sehr geehrter Herr Kollege Blumenthal, auch Ihnen
gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede
vor dem Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Ernst von der
Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Natürlich ist eine Regelung dringend notwendig. Das müsste eigentlich unbestritten sein. Ich möchte
noch einmal auf einige Vorgänge eingehen.
Bei der Deutschen Bahn wurden systematisch persönliche Daten wie Anschrift, Telefonnummer und Bankverbindung gespeichert. Das gegenüber der Deutschen
Bahn verhängte Bußgeld betrug übrigens 1,1 Millionen
Euro bei einem Jahresumsatz von 33,5 Milliarden Euro.
Das bezahlt die Deutsche Bahn aus der Portokasse. Das
wird sie nicht abschrecken.
Das zweite Beispiel ist Lidl. Zu Lidl will ich ein paar
Sätze mehr sagen. Bei Lidl wurden Detektive gegen die
eigene Belegschaft eingesetzt. Ich möchte zur Kenntnis
geben, welche hervorragenden Erkenntnisse diese Detektive bei Lidl gewonnen haben. Ich trage aus dem Bericht der Detektive vor: Dienstag 16.40 Uhr. „Ich spreche mit Frau T. über Diebstähle, die eventuell durch
Mitarbeiter begangen werden können, und versuche, sie
etwas auszufragen. Frau T. erwähnt einen konkreten Verdacht gegenüber Frau L. Die Vermutung wird hauptsächlich durch die Tatsache begründet, dass Frau L. sehr introvertiert ist.“ - Das sind bemerkenswerte Erkenntnisse.
Ein weiterer Bericht dieses Detektivs: „Sie sitzt zusammen mit Frau L. im Pausenraum. Die Kräfte unterhalten sich über Gehälter, Zuschläge und oft bezahlte
Überstunden. Frau M. hofft ebenfalls, dass ihr Gehalt
bereits heute gutgeschrieben wird, da sie für heute
Abend dringend Geld benötigt ({0}).“
Was waren dort für Schwachmaten am Werk? Warum
wird gefragt, aus welchem Grund die Frau ihr Geld noch
nicht auf ihrem Konto hat? Weil sie offensichtlich in diesem Unternehmen sehr wenig verdient und trotzdem
ausspioniert wird. Das könnte vielleicht eine Erkenntnis
sein.
({1})
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, den Bericht noch an
einer Stelle fortzusetzen. Darin heißt es: „Frau U. schien
mir nicht ganz bei der Sache zu sein. Sie spricht sehr unkonzentriert. Das liegt vielleicht daran, dass sie diese
Woche heiratet. Dann hätte sie allerdings die ganze Woche Urlaub nehmen müssen.“
Wir reden hier über Datenschutz. Wenn wir uns nicht
darauf verständigen, dass das Ausspionieren von Mitarbeitern durch Detektive ein Straftatbestand wird, dann
werden wir daran nichts ändern.
({2})
In der Debatte über den Datenschutz ist von der
Koalition zu hören, wir sollten nicht von Misstrauen gegenüber der Wirtschaft reden. „Gemach, gemach“, hat
Herr Mayer gesagt, „bitte keine übereilten Vorschläge.
Wir sollten nichts übers Knie brechen.“ Meine Damen
und Herren von der Regierung, ich sage Ihnen eines: Mit
jedem Tag, der verstreicht, ohne dass Sie dies regeln,
sind Sie mitverantwortlich dafür, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land ausspioniert
werden und dass sich ihnen gegenüber der Datenmissbrauch häuft.
({3})
- Ja, sie haben elf Jahre nichts gemacht, aber ihr auch
nicht.
({4})
Sie können sich aufregen, wie Sie wollen. Ich verstehe, dass Sie Ihre Klientel in der Wirtschaft nicht mit
einem besonderen Datenschutzgesetz belasten wollen.
({5})
Ich kann Ihnen auch den Grund dafür nennen: Weil Sie
die Spenden aus der Großindustrie bekommen, die bei
diesem Thema ganz besonders belastet ist. Deshalb sind
Sie nicht bereit, ein vernünftiges Gesetz auf den Weg zu
bringen.
({6})
Diese Auswüchse nehmen zu.
({7})
- Wie war das mit Brandenburg? Das ist ja bemerkenswert, dass ausgerechnet Sie mit dem Finger auf Brandenburg und die Stasi zeigen. Wissen Sie, wie der Artikel im Stern überschrieben war? „Die Lidl-Stasi“, und
dagegen unternehmen Sie nichts. Sie blasen sich beim
Thema Brandenburg auf wie ein Frosch, kurz bevor er
platzt, aber wenn es ernst wird, dann laufen Sie weg. Das
ist die Realität.
({8})
Inzwischen geht es so weit, dass Bewerber Bluttests
machen müssen, bevor sie eingestellt werden. Das ist bei
Rundfunkanstalten, bei Daimler und anderen großen Unternehmen üblich. Wissen Sie, was das ist? Das ist moderner Vampirismus.
({9})
Was machen die eigentlich mit unserem Blut? Wer ist
dafür verantwortlich, was dort passiert?
Wenn Sie nicht der Auffassung wären, nichts unternehmen zu müssen und alles beim Alten zu lassen, dann
hätten Sie nicht nur gesagt, dass SPD und Grüne elf
Jahre zu spät dran sind - damit haben Sie recht -, sondern Sie hätten auch selber etwas vorgelegt. Das sind Sie
schuldig, und dass Sie es nicht tun, ist ein Skandal.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konstantin von
Notz vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben gestern intensiv über SWIFT und die datenschutzrechtlichen Folgen diskutiert. Heute führen wir eine
durchaus heftige, aber auch unterhaltsame Diskussion
über ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz. Wir alle sollten uns vor Augen führen, dass in den nächsten Jahren
der Datenschutz eines der ganz zentralen Themen in diesem Haus sein muss.
({0})
Früher war die Bundesrepublik Deutschland beim
Datenschutz weit vorne. Das ist aber lange her; das war
in den 70er-Jahren. Herr Mayer, Sie haben davon gesprochen, dass Sie nichts über das Knie brechen wollen.
Das hört sich für mich so an, als ob das Ganze auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden soll. Frau
Piltz, ich vermute, dass Sie guter Absicht sind. Aber gerade an Ihrem Geburtstag gebe ich Ihnen den Rat: Passen
Sie auf! Ich habe das Gefühl, dass in der Koalition keine
Einigkeit darüber besteht, wie dringend und schnell ein
solches Gesetz kommen muss. Es muss aber jetzt kommen; denn die Skandale passieren jetzt.
({1})
Das Netzzeitalter bzw. die digitale Revolution - das
ist im Grunde die entscheidende Veränderung - zwingt
uns jetzt dazu, endlich zu handeln. Der Datenschutz
muss nach Ansicht der Grünen in das Grundgesetz aufgenommen werden. Er ist ein zentrales Anliegen der
Bürgerinnen und Bürger und bedarf einer entsprechenden Wertschätzung und Berücksichtigung. Wir brauchen
des Weiteren eine Überarbeitung und eine Reform des
- das geben Sie im Koalitionsvertrag offen zu - etwas
vermurksten Bundesdatenschutzgesetzes. Und wir brauchen ein eigenständiges und schlagkräftiges Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, wie es unter anderem auch der
Bundesdatenschutzbeauftragte fordert.
({2})
Herr Scholz, wir freuen uns zwar, dass Sie wieder den
alten Gesetzentwurf aus der Schublade geholt haben. Sie
haben aber leider keinen Federstrich an ihm verändert.
Inzwischen ist viel passiert. Der moderne Vampirismus
in Form von Bluttests, die Herr Ernst eben angesprochen
hat, und vieles mehr muss Berücksichtigung in einem
modernen Arbeitnehmerdatenschutzgesetz finden. Wir
fordern insbesondere die Verbandsklage als zusätzliche
Möglichkeit. Herr Mayer, wie Sie als Rechtsanwalt sicherlich wissen, sind der einzelne Arbeitnehmer und die
einzelne Arbeitnehmerin in einem Machtgefüge, wie es
ein Konzern oder ein großes Unternehmen, das überwacht und bespitzelt - das sind in der Tat Stasimethoden -,
darstellt, ziemlich machtlos und hilflos sowie auch oft in
finanzieller Hinsicht in einer prekären Situation. Deshalb macht eine Verbandsklage durchaus Sinn.
({3})
In einem anderen Punkt fällt der SPD-Gesetzentwurf leider sogar hinter das geltende Bundesdatenschutzgesetz
zurück. Nicht nur die „böse“ Wirtschaft, sondern selbstverständlich auch Behörden müssen sich den angestrebten gesetzlichen Anforderungen unterwerfen. Herr Korte
hat die Skandale völlig zu Recht angesprochen.
Wir warten ganz gespannt darauf, wann der fulminante Aufschlag zur Verbesserung der Situation kommt.
Ich habe zwar Sorge um Lobbyeinflüsse, glaube aber,
dass es in der Koalition grundsätzlich positive Ansätze
gibt. Setzen Sie diese Ansätze durch! Dann haben Sie
unsere Unterstützung. Herr Frieser, Sie haben davon gesprochen, dass es hier keines Arbeitsauftrages bedarf.
Die Sache eilt aber. Wir müssen hier schnell vorankommen; denn der Staat ist - das sage ich im Hinblick auf
die Vorratsdatenspeicherung - kein gutes Vorbild für die
Unternehmen. Wir sollten uns klarmachen, dass der
Staat eine Vorbildfunktion hat.
({4})
Man kann den Unternehmen nicht aufgeben, massenhaft
Daten ohne jeden Tatverdacht zu speichern, und anschließend sagen: Hier läuft vieles falsch.
({5})
- Doch, so ist es leider, Herr Uhl. - Wir sollten uns hier
unserer Vorbildfunktion bewusst werden.
Dieses Land braucht einen Aufbruch im Datenschutz.
Alle, die dafür glaubwürdig und ernsthaft streiten, werden wir, die Bundestagsfraktion der Grünen, tatkräftig
unterstützen. Wir haben als Grüne den Ehrgeiz, dass dieses Land beim Datenschutz wieder weit vorne ist. Dafür
sollten wir gemeinsam streiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In dieser Debatte sind uns nun schon einige zeithistorische Forschungsergebnisse zum Thema Arbeitnehmerdatenschutz präsentiert worden. Der Kollege Olaf
Scholz hat die Debatte eröffnet, indem er über die Zeit
der Großen Koalition gesprochen hat, in der er selber als
Bundesminister Verantwortung getragen hat. Er hätte
auch, weil er schon damals dem Deutschen Bundestag
angehört hat, mit dem Jahr 2002 anfangen können; denn
damals haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen die
zweite Auflage ihrer rot-grünen Koalition begonnen und
in ihrer damaligen Koalitionsvereinbarung festgehalten,
dass der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erstmals in einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz
verankert werden soll. Wie wir alle wissen, ist daraus
nichts geworden. Deswegen mein erster Ratschlag an die
verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten und vom Bündnis 90/Die Grünen, auch an den
neuen Kollegen, der eben gesprochen hat: Ich würde
mich mit der Äußerung „Jetzt muss aber schnell gehandelt werden!“ etwas zurückhalten, wenn man aus der eigenen Koalitionsvereinbarung 2002 zum Thema Arbeitnehmerdatenschutz nichts gemacht hat.
({0})
Herr Kollege Scholz, weil Sie und andere Redner auf die
Bemühungen und Beratungen in der Großen Koalition
gemeinsam mit uns, den Christdemokraten und den
Christlich-Sozialen, zu sprechen gekommen sind,
möchte ich darauf hinweisen, dass in der Kabinettssitzung am 18. Februar das Ergebnis des Spitzengesprächs,
das schon erwähnt worden ist, mit folgendem Ergebnis
thematisiert worden ist - ich zitiere -:
Peter Weiß ({1})
Angesichts der Komplexität eines solchen Vorhabens geht die Bundesregierung aber davon aus, dass
die Arbeiten erst in der nächsten Legislaturperiode
zum Abschluss gebracht werden können.
Das heißt, die Einschätzung, dass wir noch in der vergangenen Legislaturperiode wirklich etwas zustande
bringen, war bereits am 18. Februar im Kabinett zumindest infrage gestellt worden. Deshalb, glaube ich, sollten
wir jetzt einmal langsam die zeithistorischen Erörterungen zum Thema Arbeitnehmerdatenschutz abschließen
und uns der Zukunft zuwenden.
Fakt ist, dass diese neue Koalition aus CDU/CSU und
FDP in ihrem Koalitionsprogramm festgeschrieben hat:
Wir wollen den Arbeitnehmerdatenschutz umfassend regeln, und wir wollen das dadurch tun, dass wir den Arbeitnehmerdatenschutz in einem eigenen Kapitel des
Bundesdatenschutzgesetzes ausgestalten. Nun ist
schon in einigen Debattenbeiträgen bereits vorgetragen
worden, dass man es nur richtig machen könne, wenn
man ein eigenes Gesetz vorlege. Aber ich glaube, der
Hinweis vom Kollegen Scholz in seiner Eingangsrede ist
vollkommen richtig: Es kommt nicht auf den Ort an, es
kommt auf den Inhalt und darauf an, dass wir wirklich
verlässliche, klare, eindeutige Regelungen zum Arbeitnehmerdatenschutz ins Gesetz schreiben. Ob das ein eigenes Gesetz ist oder ein eigenes Kapitel im Bundesdatenschutzgesetz, ist eine zweitrangige Frage. Es ist
vielleicht aber durchaus eine Frage für die praktische
Anwendung.
({2})
Je mehr Einzelgesetze wir haben, desto unübersichtlicher wird es.
({3})
Man soll auch an den normalen Bürger und nicht nur an
den Fachjuristen denken. Der normale Bürger ist froh,
wenn er weiß: Die Vorschriften, die mich betreffen und
meinen Schutz vor Datenschnüffelei finde ich in einem
Gesetz, in dem etwas Qualifiziertes zum Arbeitnehmerdatenschutz steht. - Deswegen ist unser Weg richtig.
({4})
Nun werden im Arbeitsleben in unterschiedlichen Bereichen Daten gesammelt und verwertet, die besonders
schutzwürdig sind. Internet und E-Mail-Verkehr hinterlassen Spuren in den betrieblichen Archivsystemen, Gesundheitsdaten werden von unterschiedlichen Stellen,
manchmal auch im Vorstellungsgespräch, abgefragt, Videoüberwachung von Firmen, Anlagen und Geschäftsräumen ist heute weit verbreitet. Mit elektronischen Betriebs- und Dienstausweisen wird das Kommen und
Gehen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dokumentiert. In sogenannten Skill-Datenbanken werden Kenntnisse, Erfahrungen und Kompetenzen von Mitarbeitern
zum Teil konzernweit verwaltet. Unser erklärtes Ziel ist,
allen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Datenschutzniveau zu sichern und den Missbrauch privater Daten zu
verhindern.
Ein Hinweis, den man in einer solchen Debatte geben
sollte: Bezüglich Datenschutz muss jeder bei sich selbst
anfangen. Es ist erstaunlich, was etliche Mitbürgerinnen
und Mitbürger alles ins Netz stellen. Eine Umfrage des
Verbraucherschutzministeriums hat ergeben, dass das
diejenigen, die Personalentscheidungen treffen, längst
entdeckt haben. Sie lesen nicht nur die schriftlich eingesandten Unterlagen, sondern recherchieren auch im
Netz. Aus dieser Umfrage des Ministeriums ist hervorgegangen, dass ein Viertel der Unternehmen gesagt hat:
Wir haben Bewerber wegen der Daten, die wir im Netz
gefunden haben, nicht genommen. Umgekehrt gilt aber
auch, dass 56 Prozent der Unternehmen erklärt haben:
Wir haben Bewerber gerade deswegen genommen, weil
wir im Netz interessante Informationen über sie gefunden haben. Jeder sollte beim Datenschutz also bei sich
selbst anfangen und sich die Frage stellen: Welche Daten
über mich selbst stelle ich ins Netz?
Das kann natürlich nicht genügen. Der Arbeitnehmerdatenschutz muss - das ist schon mehrmals betont worden - verbessert und gestärkt werden. Die Achtung des
Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollte ebenso
zu den guten und fairen Arbeitsbedingungen gehören
wie gerechte Bezahlung und Chancengleichheit. Ein guter Beschäftigtendatenschutz erhöht zudem die Motivation, trägt und fördert die Arbeitszufriedenheit und bedeutet einen nicht zu unterschätzenden Standortvorteil.
Ich möchte noch einmal, an die Opposition gerichtet,
sagen: Es ist nett, dass Sie, Sozialdemokraten und
Grüne, heute einen Gesetzentwurf und einen Antrag vorlegen. Kaum ist man nicht mehr in Regierungsverantwortung, lässt sich zu diesem Thema offensichtlich sehr
leicht etwas vorlegen.
({5})
- Bei Ihnen ist es vier Jahre her. Bei den Sozialdemokraten ist es erst wenige Wochen her.
({6})
Ich bin zuversichtlich, dass uns der Bundesinnenminister in einem angemessenen Zeitraum einen soliden,
fundierten Entwurf für eine gesetzliche Regelung des
Arbeitnehmerdatenschutzes vorlegen wird. In der Tat ist
die Zeit des Jammerns und Redens vorbei. Wir tun jetzt
etwas.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Als ich 1983 im Audi-Werk in Neckarsulm
zu arbeiten angefangen habe, habe ich in der Personalabteilung als Erstes eine Karteikarte bekommen. Es war
ziemlich eindeutig, zu sehen, was dort über mich gespeichert wird. Diese Karteikarte existiert natürlich nicht
mehr. Wir haben eine enorme technische Entwicklung
hinter uns. Von dieser Entwicklung haben wir viel profitiert. Bei Audi habe ich in der Lackiererei gearbeitet. Ich
hatte einen gesundheitsgefährdenden Arbeitsplatz. Die
Automatisierung hat diese Arbeit menschenfreundlicher
gestaltet. Infolge der technischen Entwicklung werden
auch die Daten der Beschäftigten bei Audi nicht mehr
auf Karteikarten gespeichert, sondern in elektronische
Systeme eingespeist.
Heute gibt es keine Stempelkarten mehr, sondern
elektronische Chipkarten. Das kann bequem sein. Aber
bei der Chipkarte sieht man nicht mehr, was genau darauf gespeichert wird und wer darauf Zugriff hat. Man
sieht nicht, wer was kontrollieren kann. Diese Informationen können, wie wir alle wissen, missbraucht werden.
Wie jeder technische Fortschritt birgt die Automatisierung der Datenverarbeitung auch Risiken. Um diese Risiken einzuschränken, brauchen wir ein wirksames Gesetz für den Arbeitnehmerdatenschutz. Das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung hat in unserem
Land eine bewegte und wichtige Geschichte. Um nicht
weniger als um dieses Grundrecht geht es beim Arbeitnehmerdatenschutz.
({0})
Wir haben heute bereits einiges über all die großen
Konzerne und ihre Skandale gehört. Heute geht es aber
nicht darum, auf die schwarzen Schafe zu zeigen; heute
müssen wir zeigen, warum ein Gesetz aus einem Guss
Vorteile für Arbeitnehmer und Arbeitgeber bietet.
Erstens. Wir müssen die Rechte der Arbeitnehmer
eindeutig definieren. Viele Arbeitnehmer wissen nicht,
welche Daten sie bei ihrem Arbeitgeber angeben müssen
und welche nicht. Viele haben Angst, bei Widerstand ihren Job zu verlieren oder bei der Einstellung durchzufallen. Die Ansprüche der Unternehmer werden immer höher.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nicht zu
nahe treten, aber ich bin mir sicher, dass bei gewissen
Einstellungstests vielleicht nur jeder Zehnte unter uns
hier die Ansprüche manch eines Unternehmens in der
freien Wirtschaft erfüllen würde.
({1})
Deshalb müssen wir den Menschen mit einem klaren
Gesetz diese Angst nehmen.
Zweitens. Für Arbeitgeber muss klargestellt werden,
welche Mitarbeiterdaten erhoben und genutzt werden
dürfen. Wir müssen aus der rechtlichen Grauzone heraus.
Drittens. Sicherlich ist es am besten, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Sinne einer funktionierenden Sozialpartnerschaft in Betriebsvereinbarungen
über ein gemeinsames Vorgehen bezüglich der Daten einigen können. Dies ist bereits nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 des
Betriebsverfassungsgesetzes möglich.
Meine Kolleginnen und Kollegen vom Betriebsrat bei
Audi schließen gerade mit der Arbeitgeberseite eine solche Betriebsvereinbarung zur Informationstechnik ab.
Aber nicht überall haben wir einen starken Betriebsrat,
wenn es überhaupt einen gibt.
({2})
In vielen Bereichen bestehen gesetzliche Lücken, die
eine gute Vereinbarung erschweren. Diese gesetzlichen
Lücken müssen wir schnellstmöglich schließen.
Viertens. Bis heute ist das Verbot heimlicher Kontrollen durch Detektive und Videoüberwachung in keinem
Gesetz festgeschrieben. Es ist unklar, wie mit privaten
E-Mails am Arbeitsplatz umzugehen ist. Die totale Kontrolle, die heute für moralische Empörung sorgt, muss
gesetzlich verboten werden. Für all das reichen keine
kleinteiligen Gesetzesänderungen hier und da.
Kolleginnen und Kollegen, bisher ist der Arbeitnehmerdatenschutz ein Sammelsurium aus vielen Paragrafen in verschiedenen Gesetzen, aus der Rechtsprechung
und aus Rechtsmeinungen. Damit schaffen wir unnötige
Bürokratie. Unternehmen benötigen Rechtsberater, um
die Details in den verschiedenen Gesetzen zu finden, Arbeitnehmervertreter brauchen ebenfalls teure Beratung,
um die Arbeitnehmer und den Arbeitnehmerdatenschutz
zu verteidigen.
Wer hier immer nach Bürokratieabbau ruft, hat heute
die Chance, dabei einen wichtigen Schritt zu machen, indem wir ein klares und eindeutiges Gesetz schaffen.
({3})
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf vereinfachen und verbessern wir den Arbeitnehmerdatenschutz.
Wir machen deutlich, welche Daten erhoben und gespeichert werden dürfen und wozu sie verwendet werden
dürfen. Wir sorgen für Klarheit und schaffen Grauzonen
ab, wir stärken die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im
Bereich des Datenschutzes, und wir schaffen ein klares
Verbot von Totalüberwachung am Arbeitsplatz.
Für meine Kollegen bei Audi bedeutet das, sie wissen
darüber Bescheid, was mit ihrer Chipkarte geschieht,
und es ist für jeden einsehbar, wozu die Daten benutzt
werden und wer darauf Zugriff hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der FDP,
Sie haben im Wahlkampf immer mit dem Schutz der
Grundrechte geworben.
({4})
Sie hatten sich auch den Arbeitnehmerdatenschutz auf
die Fahne geschrieben. Nun weiß ich, dass das mit der
Union nicht so einfach ist. Dennoch erlauben Sie mir
eine Frage: Können Sie und werden Sie dem Innenministerium beim Arbeitnehmerdatenschutz die Stirn bieten, oder fallen Sie wie in dieser Woche beim SWIFTJosip Juratovic
Abkommen um und verhindern damit einen effektiven
Schutz der Grundrechte?
({5})
Kolleginnen und Kollegen, der von uns Sozialdemokraten vorgelegte Gesetzentwurf schafft Klarheit, er gibt
den Arbeitgebern Sicherheit, und er schützt Arbeitnehmer vor skrupellosen Arbeitgebern. Die übrigen Fraktionen in diesem Haus sind gut beraten, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
gebe ich der Kollegin Gitta Connemann von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Geheimdienst am Arbeitsplatz“, „Im Netz der Späher“ oder
„Wenn der Chef Spione schickt“ - so lauten nur einige
der Überschriften rund um die Datenschutzskandale
der letzten Monate.
Die Spitzelvorgänge bei der Bahn oder bei Discounterketten haben uns alle aufgeschreckt, aus gutem
Grund: Privatheit ist der Kern der persönlichen Freiheit. Der Anspruch, persönlich nicht ausgeforscht zu
werden, gilt auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mitarbeiter müssen sich darauf verlassen können
und darauf vertrauen dürfen, aber sie können es nicht
immer. Das zeigt die Bahn: Sie überwachte den E-MailVerkehr ihres Personals und ließ auch Arbeitnehmervertreter beobachten. Dafür musste sie übrigens eine Buße
von 1,1 Millionen Euro zahlen.
Dieses Beispiel zeigt: Es gibt Unternehmen, die Mitarbeiter ausleuchten. Es zeigt auch, dass ein solches Verhalten schon heute rechtlich belangt werden kann. Es
zeigt aber auch, dass die rasante Entwicklung der modernen Kommunikations- und Informationstechnologie uns,
auch als Politiker, vor Herausforderungen stellt, Herausforderungen, die seriös angegangen werden müssen. Seriös haben Sie dies, Herr Kollege Ernst, sicherlich nicht
getan. Denn ich finde es unerträglich, wenn Sie in Ihrer
Rede die sicherlich skandalösen Vorgänge bei einer Discounterkette mit dem Schicksal vergleichen, das Menschen erlitten haben, weil sie von der Stasi bespitzelt
worden sind.
({0})
Dieser Vergleich ist unerträglich und ein Schlag für jeden, der über Jahre in Hohenschönhausen oder Bautzen
eingesessen hat. Ich finde, da wäre eine persönliche Entschuldigung wirklich angemessen.
({1})
Wir stellen uns den Herausforderungen seriös; denn
wir sehen: Private Daten sind en masse zu haben - durch
modernste IT-Anwendungen, die ungeahnte Einsichtsund Kontrollmöglichkeiten schaffen, aber auch durch die
Menschen selbst, die ihre Daten über das Web 2.0 freiwillig preisgeben.
Damit stehen wir als Gesetzgeber vor zwei Kernfragen. Erstens: Welche Daten dürfen Unternehmen von ihren Mitarbeitern erheben? Und vor allem zweitens: Unter welchen Bedingungen dürfen sie es? Dabei sind zwei
unterschiedliche Interessen in Einklang zu bringen, nämlich auf der einen Seite das legitime Interesse von Arbeitnehmern, dass ihre privaten Daten geschützt werden.
Es geht eben den Arbeitgeber nichts an, was der Mitarbeiter in seiner Freizeit macht, mit wem er liiert ist
oder wie sein Gesundheitszustand ist, es sei denn, dieser
Zustand oder das Verhalten wirkt sich auf das Arbeitsverhältnis aus. Auf der anderen Seite hat der Arbeitgeber
wiederum ein berechtigtes Interesse, kontrollieren zu
dürfen, ob interne Regelungen beachtet werden. Auch
die Bekämpfung von Straftaten und Korruption muss
möglich bleiben, denn Korruption schädigt das Gemeinwohl. Eine aktuelle Studie von PricewaterhouseCoopers
beziffert den durch Wirtschaftskriminalität entstehenden Schaden auf 6 Milliarden Euro jährlich - verursacht
durch eigene Mitarbeiter, übrigens auch zulasten der anderen Mitarbeiter; denn ohne Aufklärung geraten diese
immer in Mitverdacht.
Um nicht missverstanden zu werden: Keine Kriminalitätsbekämpfung rechtfertigt einen Rechtsverstoß. Auf
der anderen Seite müssen sich aber auch Unternehmen
vor Korruption schützen können. Das ist eine Gratwanderung, manchmal auch eine Grauzone.
Wir haben schon die einschlägigen Strafgesetze verschärft. Dennoch bestehen Rechtsunsicherheiten. Die
Datenschutzbeauftragten haben das entsprechend angemahnt. In einem ersten Schritt hat der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gemeinsam mit diesem Parlament im Bundesdatenschutzgesetz klargestellt,
dass dieses Gesetz auch für Arbeitsverhältnisse gilt. Die
Schutzrechte wurden erweitert. Aber es besteht weiterer
Handlungsbedarf, immer mit dem Ziel, auf der einen
Seite dem Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer einen ausreichenden Schutz zu geben und auf der anderen
Seite den berechtigten Interessen der Arbeitgeber
Rechnung zu tragen.
Diesen Zielkonflikt löst der Gesetzentwurf der SPD
nicht auf. Er verdient aus meiner Sicht nur eine Beurteilung: unausgewogen, lebensfremd, widersprüchlich und
ein bürokratischer Albtraum.
({2})
Herr Scholz, Ihr Entwurf ist unausgewogen. Denn er
normiert nur die Pflicht des Arbeitgebers, die Beschäftigtendaten vertraulich zu behandeln. Eine Pflicht des
Arbeitnehmers, betriebliche Daten und die Daten anderer Arbeitnehmer zu schützen, wird demgegenüber nicht
begründet. Das ist eine einseitige Zielsetzung zulasten
des Kollektivs, also zulasten der anderen Mitarbeiter.
Daraus spricht ein Generalverdacht gegen Arbeitgeber.
Dieses Zerrbild entspricht nicht der Wirklichkeit. Es ist
in unseren kleinen und mittelständischen Unternehmen
nicht an der Tagesordnung, dass Chefs ihre Mitarbeiter
bespitzeln. Das ist eine Ausnahme, die wir bekämpfen
müssen, aber nicht die Regel. Eine solche Pauschalverurteilung, die Grundlage des Gesetzentwurfs ist, ist unerträglich.
({3})
Ich nenne in diesem Zusammenhang das Thema
Videoüberwachung. Der Kollege Mayer hat vollkommen zutreffend darauf hingewiesen, dass diese per se unzulässig ist. Aber sie muss in Ausnahmefällen möglich
sein, letztendlich auch aus Arbeitsschutzgründen; denn
es gibt Arbeitsplätze mit einem hohen Risiko von Arbeitsunfällen. Das ist beispielsweise bei der Abfüllung
von Chemikalien der Fall. Da dient die Videoüberwachung dazu, Sicherheitskräfte im Notfall sofort alarmieren zu können. Diese Möglichkeit wollen Sie abschaffen.
({4})
Das kann doch nicht Sinn und Zweck eines Gesetzes
sein.
Der Entwurf ist übrigens auch lebensfremd. Ich nenne
ein Beispiel, das die Situation von Bewerbern betrifft.
Auch allgemein zugängliche Daten sollen nur mit Zustimmung des Betroffenen genutzt werden dürfen. Als
Betroffener gilt eben auch der Bewerber. Bei Bewerbungsverfahren ist es heute jedoch absolut üblich, auf
das Internet zurückzugreifen. Soziale Netzwerke, Jobbörsen und Bewerberportale sind gerade darauf ausgerichtet, Informationen für potenzielle Arbeitgeber bereitzustellen. Bewerber wollen mittels dieser Medien auf
sich aufmerksam machen. Der faktische Ausschluss von
Internetrecherchen bei der Einstellung ist unsinnig und
schadet den Bewerbern. Das gilt auch für die Vorschrift,
die Bewerbungsunterlagen spätestens zwei Monate nach
Abschluss des Bewerbungsverfahrens zu vernichten.
Denn das Anlegen von Bewerberpools liegt durchaus im
Interesse von Arbeitsuchenden.
Der Gesetzentwurf ist ein bürokratischer Albtraum,
wenn es um die neu zu schaffende Position eines - man
lasse sich dieses Wort einmal auf der Zunge zergehen Beschäftigtendatenschutzbeauftragten geht. Nach dem
Willen der SPD soll ein solcher Beschäftigtendatenschutzbeauftragter in jedem Betrieb mit mehr als fünf
Arbeitnehmern bestellt werden. Nicht nur, dass die Bezeichnung kaum aussprechbar ist: Dies würde gelten für
jeden Bäcker, jeden Tischler und jeden Kfz-Mechaniker.
Es würde übrigens auch für uns Abgeordnete gelten.
Denn wir beschäftigen in der Regel mehr als fünf Mitarbeiter.
({5})
Das würde für mich bedeuten, dass ich für mein Büro, in
dem praktisch alle in einem Zimmer sitzen, eine
Beschäftigtendatenschutzbeauftragte berufen müsste,
um sicherzustellen, dass keine der Mitarbeiterinnen gegebenenfalls auf Facebook nach den neuesten Fotos ihrer Kolleginnen sucht. Das ist vollkommen absurd.
Noch absurder wird es in den Betrieben, in denen dieser Beschäftigtendatenschutzbeauftragte zusätzlich zu
dem ohnehin schon existierenden betrieblichen Datenschutzbeauftragten bestellt werden soll. Der betriebliche
Datenschutzbeauftragte, den es heute schon gibt, hat
nach dem Datenschutzgesetz bereits heute auch die Aufgabe, über die Rechtmäßigkeit der Verwendung der Daten der Beschäftigten zu wachen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Connemann.
Vor diesem Hintergrund können wir nur sagen: Dieser
Gesetzentwurf ist vollkommen untauglich. Er wird dem
legitimen Anspruch der Arbeitnehmer auf einen ausreichenden Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte ebenso wenig gerecht wie dem berechtigten Anspruch der Arbeitgeber auf eine verlässliche Regelung. Wir werden diese
gemeinsam schaffen.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst.
Frau Connemann, Sie haben gerade eine Entschuldigung von mir verlangt, weil ich die Vorgänge in den Betrieben mit der Stasi verglichen hätte.
({0})
- Sie klatschen zu früh, meine Damen und Herren. Vielleicht ist Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit entgangen, dass der Stern am 27. März 2008 über die Vorgänge
berichtet hat, die ich angesprochen habe. Die Überschrift
dieses Artikels lautet: „Die Lidl-Stasi“. Im Text wird
dann weiter ausgeführt - ich zitiere aus diesem Stern-Artikel -:
Montagmorgen um sechs Uhr kommt die Lidl-Stasi
bei einer Filiale an.
({1})
Der Vergleich zwischen dem, was in der deutschen Industrie vorgeht, und der Stasi ist nicht von mir, sondern
von der deutschen Medienlandschaft.
({2})
Das sollten Sie zum Ersten zur Kenntnis nehmen.
({3})
Zum Zweiten halte ich Folgendes für unerträglich:
Auf der einen Seite nehmen Sie die Beschnüffelung
durch die Stasi, die mir genauso unangenehm ist und die
ich genauso verurteile wie Sie,
({4})
zum Anlass, sich in der Öffentlichkeit wie das MichelinMännchen aufzuplustern. Wenn es aber auf der anderen
Seite konkret wird und Beschnüffelungen zu verhindern
sind, nämlich im Hier und Jetzt und nicht die vor
20 Jahren, dann kneifen Sie, dann verhindern Sie eine
vernünftige gesetzliche Regelung. Das ist Heuchelei; das
zu sagen kann ich Ihnen nicht ersparen.
({5})
Wenn Sie eine Entschuldigung wollen,
({6})
dann gehen Sie zur Redaktion des Stern oder schreiben
Sie einen Leserbrief.
({7})
Zur Erwiderung Frau Kollegin Connemann.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, es ist das eine, was
der Stern titelt. Es ist das andere, was Sie benutzen. Wir
sind hier im Deutschen Bundestag. Es obliegt Ihrer
Wortwahl, ob Sie im Zusammenhang mit Vorgängen bei
Discountern einen vom Stern angestellten Vergleich in
Ihren Mund nehmen.
({0})
Fakt ist, Herr Kollege Ernst, dass Sie das Wort „Stasispitzel“ in diese Debatte eingeführt haben, in der es um
den Schutz der Arbeitnehmerdaten geht, um ein berechtigtes Interesse der Arbeitnehmer an einem ausreichenden Schutz, der aber in keiner Weise damit zu vergleichen ist.
Sie haben gesagt, auch Ihnen sei die Beschnüffelung
durch die Stasi unangenehm. Ich finde es bezeichnend,
dass Sie von unangenehm sprechen.
({1})
Ich finde es unerträglich und halte es für eines der dunkelsten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte, dass
Menschen durch Spitzel ebenjener Stasi in politische
Haft in Gefängnissen wie Hohenschönhausen und
Bautzen gekommen sind und dort über viele Jahre gefangen waren. Nach wie vor bleibt deshalb der von Ihnen in
diese Debatte eingeführte Vergleich der Lidl-Beobachtung mit einem Stasispitzel unerträglich.
({2})
Für den Fall, dass Sie hier weiter solche Vergleiche einführen, würde ich Ihnen sehr raten, sich ein wenig intensiver mit Ihren Kollegen in Brandenburg zu unterhalten,
({3})
deren Vergangenheit, die jetzt ans Tageslicht kommt, die
Zukunft dieses Landes bestimmen soll. Da kann ich
wirklich nur mit Heine sagen:
Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich
um den Schlaf gebracht.
Das gilt insbesondere für Sie, Herr Kollege Ernst.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/69 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Innenausschuss. Die
Fraktion der SPD wünscht die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse deshalb zuerst
über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD
- Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist der Überweisungsvorschlag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Innenausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit der
gleichen Mehrheit angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 c. Die Vorlage auf Drucksache 17/121 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Kerstin Andreae, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Moratorium für Stuttgart 21 - Wirtschaftlichkeit des Großprojektes vor Baubeginn sicherstellen
- Drucksache 17/125 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 17/125 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Bildungsproteste nicht aussitzen - Hochschulgipfel vorziehen
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann
von der SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dieser Aktuellen Stunde möchte die SPD-Bundestagsfraktion ein Anliegen in dieses Parlament einbringen,
das viele Menschen bewegt: Es bewegt Studierende, es
bewegt die Hochschulen, es bewegt die Öffentlichkeit.
Gestern hat der Bundespräsident eine hervorragende
Rede zu diesem Anlass gehalten.
({0})
Deshalb haben wir dieses Thema aufgenommen.
Es ist wichtig, dieses Thema aufzunehmen, weil es
eine lange Vorgeschichte hat. Nicht, dass wir auf der
Fachebene nicht schon 2008 vom Wissenschaftsrat darauf hingewiesen worden wären, dass die Hochschulen
unterfinanziert sind. Wir sollten auch nicht vergessen,
dass schon im Juni dieses Jahres darauf aufmerksam gemacht wurde - nicht erst durch die aktuellen Proteste -,
dass die Studierenden erwarten, für sich ein gutes Studium entwickeln zu können.
Schließlich sollte man daran erinnern, wie mit diesen
Protesten umgegangen worden ist. Ende des Monats November ist es wieder zu entsprechenden Protesten gekommen, weil Studierende und Mitarbeiter von Hochschulen das Gefühl haben, dass zwar getagt wird, aber
auch viel der Schwarze Peter hin- und hergeschoben
wird.
Die Krönung war kürzlich die Ansage der Bundesbildungsministerin, einen Hochschulgipfel, einen BolognaGipfel, einberufen zu wollen. Zunächst denkt man: Donnerwetter, da wird was in die Hand genommen! Wann
soll er stattfinden? Im April nächsten Jahres. Wir, die
Sozialdemokraten, finden das zu spät. Es ist nicht zeitgerecht. Deswegen wollen wir das hier thematisieren.
({1})
Man könnte es - um ein falsches Wort der Bildungsministerin aufzugreifen - auch so sagen: So, wie sie
meinte, die Studentenproteste als gestrig bezeichnen zu
müssen, so kann man sagen, dass sie sich damit, mit diesem Termin zu werben, hart an der Grenze zu vorgestrig
bewegt.
Weshalb? Erstens. Gerade weil wir, nicht zuletzt
durch die Ansprache des Bundespräsidenten, mitbekommen haben, dass Bildung ein gemeinsames Anliegen von
Hochschulen, Bund und Ländern sein muss, ist es wichtig, dass bei dem gemeinsamen Anliegen eine starke
Kraft vorangeht. Deshalb lautet unser Begehren, unser
Wunsch, unsere Forderung, diesen Bologna-Gipfel vorzuziehen und nicht in den April 2010 zu verlagern.
Zweitens. Der Wissenschaftsrat hat mit Bedacht gesagt, dass die Hochschulen trotz aller Anstrengungen
strukturell unterfinanziert sind. Man braucht mehr feste
Stellen, mehr Professorinnen und Professoren, Manpower, Womanpower in der Betreuung, in der Beratung
und auch eine bessere Qualifizierung von Lehrenden.
Der dazu notwendige Betrag wurde mit 1,1 Milliarden
Euro jährlich beziffert. Das zeigt: Wir brauchen ein starkes Zeichen, dass der Bund in seiner Kooperation mit
den Ländern und den Hochschulen bereit ist, die finanziellen Mittel aufzustocken. Deshalb diese Aktualität,
deshalb diese Aktuelle Stunde.
Drittens. Es gibt ein Datum, den 16. Dezember 2009.
An diesem Tag steht nicht nur die Verabschiedung des
Haushaltsplanes 2010 und der mittelfristigen Finanzplanung im Kabinett an, sondern auch der Bildungsgipfel
findet an diesem Tag statt. Man stelle sich vor, was dort
alles festgesetzt wird, um es dann erst im April 2010 gegebenenfalls nacharbeiten zu können. Es ist deshalb ein
Anliegen, eine Forderung, rechtzeitig eine markante
Größe seitens des Bundes anzubieten, damit die Hochschulen, die Länder und der Bund ein entsprechendes
Programm für einen erfolgreichen Bologna-Prozess und
eine erfolgreiche Hochschulreform auf den Weg bringen
können. Ansonsten erleben wir nicht nur fünf verschenkte Monate zwischen November 2009 und April
2010, sondern es wird dann zu einem verschenkten Jahr
oder noch mehr, weil das Fundament fehlt, auf dem der
Bund, die Länder und die Hochschulen, auch materiell
unterlegt, planen können.
Noch einmal das Anliegen: Mit dieser Aktuellen
Stunde wollen wir möglichst geschlossen ein Zeichen
dafür setzen, dass wir im Interesse der Allgemeinheit
Hochschulen stärken wollen. Die Allgemeinheit hat
nämlich inzwischen begriffen, dass die Hochschulen in
der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wir haben
auch gegenüber den Hochschulen selbst das Zeichen zu
setzen, dass es mit dem Schwarzer-Peter-Spiel ein Ende
hat. Ich will ausdrücklich dazusagen: Es muss auch ein
Zeichen an die Studierenden gehen, dass ihre guten und
erfolgreichen Proteste jetzt nicht marginalisiert werden,
sie nicht in die Ecke gedrängt werden und die Erfüllung
ihrer Forderungen nicht auf die lange Bank geschoben
wird. Schließlich würden wir damit auch im Sinne des
Bundespräsidenten handeln, der von uns gute Kooperation gefordert hat.
Schlussbemerkung: Frau Ministerin Schavan, wir
müssen Ihnen vorhalten, dass Ihre Methode allzu häufig
ist, erst etwas plump gegenzuhalten, wie gegenüber den
Studierenden mit der Bemerkung „gestrig“, dann VerDr. Ernst Dieter Rossmann
ständnis zu zeigen, danach etwas lange ruhen zu lassen
und am Ende eher weihevoll, wenn der Prozess zu Ende
ist, die Hand daraufzulegen. Frau Schavan, nehmen Sie
Abschied von dieser Methode des Schavanismus.
({2})
Kommen Sie in die Hufe! Setzen Sie ein Zeichen, und
gehen Sie mutig nach vorne!
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt die Professorin Dr. Monika
Grütters von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Immer mal wieder einen Kalauer, Herr Rossmann:
„Schavanismus“. Ich finde, das Thema ist für so etwas
zu ernst. Gerade vor einer Woche habe ich hier gesagt,
wie toll es ist, dass wir in einem Jahr zweimal über ein
so wichtiges Thema reden. Jetzt toppt das die SPD und
sorgt dafür, dass wir in acht Tagen zweimal über dieses
Thema reden.
({0})
Sie sollten aufpassen, dass das bei Ihnen nicht zum Running Gag wird. Dafür ist das Thema wirklich zu ernst.
({1})
Sie haben gefragt, was in den letzten acht Tagen passiert ist. Die Bundesbildungsministerin Annette Schavan
hat wirklich etwas getan. Im Gegensatz zu Ihnen hat sie
nicht nur geredet, sondern immerhin zu einem BolognaGipfel eingeladen.
({2})
Das haben Sie schließlich nicht getan. Geradezu reflexhaft kommt dann von den Oppositionsbänken die Reaktion: Sie müssen zu einem Bologna-Gipfel einladen.
Weil das nun schon passiert ist, ist die Reaktion: nicht
erst im April, sondern schon jetzt. Da hätte ich von Ihnen ein bisschen mehr Fantasie und mehr andere konkrete Vorschläge erwartet.
({3})
Ähnlich der Kollege Gehring, der gebetsmühlenartig
- wir hören das gleich bestimmt wieder - Bundesaktivitäten fordert, wenn die Länder und die Hochschulen
Missstände verursachen. Aber auch das läuft immer
nach dem Motto: Ich fordere etwas, was du schon tust;
vom Hochschulpakt über den Bildungsgipfel, jetzt die
Bologna-Konferenz, mehr Geld für den Bildungsbereich
bis hin zur Verbesserung der Lage der Studis. Dies wird
von der Regierungsbank bereits umgesetzt und trotzdem
von der Opposition immer wieder eingefordert.
Dabei hat sogar gestern die, was das bürgerliche Milieu angeht, eher unverdächtige Tageszeitung taz getitelt:
Studis, stoppt euren Streik!
({4})
- Ich lese auch die heutige Ausgabe. Darauf komme ich
gleich noch. Sie aber haben hoffentlich auch die von
gestern gelesen.
({5})
Dabei meinen weder die taz noch wir - Sie auch nicht,
das wissen wir, darauf haben wir uns letzte Woche verständigt -, dass die Bildungsproteste nicht berechtigt
wären. Uns geht es aber darum, wie man mit intelligenten Ideen die teilweise wirklich schlimme Situation an
den Unis verbessert; mit Streik jedenfalls nicht. Selbst
die taz rät dazu, bessere Strategien zu entwickeln.
Unsere Strategie ist: Der Bundesetat für Bildung ist in
den vergangenen Jahren so sehr gestiegen wie kein anderer im Bundeshaushalt, und zwar, Herr Gehring und Herr
Rossmann, trotz der Zuständigkeit der Länder. Sie wollten ein finanzielles Zeichen, wir haben es gesetzt.
Zum zweiten Mal wird es im Dezember einen Bildungsgipfel mit der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten geben; denn schließlich haben sie die, wie viele von
uns Bildungsleuten meinen, vertrackte Föderalismusreform beschlossen. Dieser Bildungsgipfel wird nicht deshalb abgehalten, weil Sie etwas verspätet danach rufen,
sondern weil wir schon sehr früh der Meinung waren,
dass er einmal wieder sein muss. Ich kenne keine andere
Kanzlerin, die sich einmal im Jahr mit den Ministerpräsidenten zusammengesetzt hat, um über dieses Thema zu
reden.
({6})
Die Bundesbildungsministerin trifft sich erneut mit
den Bildungsministern der Länder, auch im Rahmen der
KMK. Die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz,
Frau Wintermantel, war es übrigens, die den Zeitpunkt
April vorgegeben hat. Das ist der Grund für diesen Termin und nicht, dass Frau Schavan meint, sich noch fünf
Monate Zeit lassen zu müssen. Unsere Ideen zur Verbesserung der Situation sind bekannt: Mobilitätsfenster,
Studien- und Prüfungsordnungen korrigieren, mehr individuelle Gestaltung, Entschlackung der Lehrpläne, was
übrigens kein Geld, sondern Mut erfordert.
({7})
Das sind keine Dinge, für die wir noch fünf Monate Zeit
brauchen. Damit die Hochschulen uns konkrete Vorschläge machen können, wurde von ihnen der April vorgeschlagen.
Es gibt aber auch Erfolge. Herr Rossmann, ich finde,
wir sind es den Studierenden und der Wirtschaft schul632
dig, auch darauf hinzuweisen. Die Vertreter der Wirtschaftswissenschaften an der Humboldt-Universität haben gesagt, dass sie mit der Umsetzung des Prozesses
beeindruckende Erfolge erzielt haben, dass das schon
seit 2003 wirklich gut läuft. Also: Etwas mehr Besonnenheit und etwas weniger Aktionismus! Dazu rät auch
der eben von Ihnen ins Feld geführte Peter
Strohschneider, der Vorsitzende des Wissenschaftsrates.
Er sagt sogar, dass wir mehr Flexibilität bei den curricularen Strukturen brauchen. Eine Reform der Reform
brauchen wir jedenfalls nicht.
({8})
Der versammelten Linken und den Studis möchte
man - ganz im Geiste der taz - zurufen: Stoppt eure Proteste! Entwickelt gemeinsam Konzepte zur Lösung der
erkannten Probleme! Setzt euch mit den Verantwortlichen zusammen! Das sind in erster Linie die Länder. In
fünf Ländern stellt die SPD übrigens den Bildungsminister. Es wäre interessant, wenn die gemeinsam eine Konferenz abhalten und Ideen für einen vernünftigen Umgang mit den Forderungen entwickeln würden.
({9})
Der Bologna-Prozess ist ein Versuch, die Hochschulen und die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sie stehen, etwas realistischer zu betrachten. Es ist der Versuch,
darauf zu reagieren, dass heute mehr als ein Drittel eines
Abiturjahrgangs einen akademischen Abschluss anstrebt.
KMK-Bildungstreffen am 10. Dezember, Bildungsgipfel mit Merkel am 16. Dezember, ein Bologna-Gipfel
im April, Kommentare der stärksten Figuren dieser Republik, vom Bundespräsidenten, der Kanzlerin und der
Bundesbildungsministerin - so geht man verantwortungsbewusst mit den Protesten um.
({10})
Die ritualisierte Aufregung überlassen wir gerne der Opposition.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Gohlke von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Den Bildungsstreik sollte man nicht überbewerten; solche Proteste sind unter Studenten alle paar
Jahre üblich“, das haben Sie, Frau Bildungsministerin,
am letzten Sonntag bei Anne Will sinngemäß auf die
Frage erklärt, warum die Studierenden protestieren. Solche Äußerungen sind für die Studierenden wirklich
schwer zu ertragen; denn so etwas ist nichts anderes als
absolute Ignoranz und Respektlosigkeit den Streikenden
gegenüber.
({0})
Geld ist nicht alles, ist die nächste Erwiderung von
Politikern der schwarz-gelben Koalition auf die Forderungen der Streikenden. Aber Dozentinnen und Dozenten und Bibliotheken kosten nun einmal Geld, erst recht,
wenn die Hochschulen endlich einmal aufhören, prekäre
Lehrverträge und sogar 1-Euro-Jobs zu vergeben. Ohne
mehr Geld wird es keine neuen Studienplätze und keine
breitere Ausgestaltung der Studiengänge geben.
({1})
Mehr Geld ist vielleicht nicht die alleinige Lösung,
aber in jedem Fall die Voraussetzung für Verbesserungen. Die bisherigen Vorhaben der Regierung reichen keinesfalls aus. Im Gegenteil: Die Steuersenkungspläne der
Bundesregierung sind genau wie die Schuldenbremse
eine Katastrophe für die Bildungspolitik, weil die Haushalte der Länder schon jetzt auf dem letzten Loch pfeifen.
({2})
Frau Schavan, wenn Sie von der Situation der Studierenden irgendetwas verstanden haben, dann müssen Sie
sich jetzt gegen die geplante Steuerreform stellen; sonst
wird entgegen Ihren Bekundungen die Bildung in
Deutschland totgespart.
({3})
Welche Antworten auf die Bildungsmisere kommen
ansonsten von der Bundesregierung? Das Projekt „Bildungssparen“ - davon haben wir jetzt schon einiges gehört - nach dem Vorbild der Riester-Rente, also die Privatisierung der Bildungsförderung. Doch wer soll sich
das leisten können? Für wen ist das gedacht? Ihr Bildungssparen führt unter anderem dazu, dass viele Eltern
in die schlimme Situation kommen werden, entscheiden
zu müssen, wofür sie das wenige Geld, das am Monatsende eventuell übrig ist, sparen und anlegen: für die
Bildung der Kinder oder für die eigene Altersvorsorge.
Wie würden Sie entscheiden, Frau Schavan, wenn Sie in
einer etwas schwierigeren sozialen Situation wären: Zukunft für die Kinder oder ein halbwegs würdevoller Lebensabend? Oder für welches Ihrer Kinder würden Sie
sparen, wenn es für das Studium von zwei oder drei Kindern nicht reicht?
({4})
Dabei können sich diejenigen, die vor solchen Entscheidungen stehen, sogar noch glücklich schätzen.
Hartz-IV-Bezieher und -Bezieherinnen, Alleinerziehende oder die vielen Geringverdiener in unserer Gesellschaft stehen schon gar nicht mehr vor solchen Entscheidungen. Frau Bildungsministerin, nehmen Sie endlich
die Realitäten in diesem Land zur Kenntnis. Durch Ihre
Pläne fördern Sie nur die Kinder aus einkommensstarken
Familien. Diejenigen, die Förderung brauchen, haben
überhaupt nichts davon.
({5})
Statt Bildungssparen brauchen wir einen freien Bildungszugang für alle - unabhängig vom Geldbeutel der
Eltern.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, seit drei Wochen streiken
Schülerinnen und Schüler sowie Studierende für bessere
Bildung. Sie, Frau Ministerin, tun so, als wären Sie auf
ihrer Seite. Die Streikenden erleben jetzt mancherorts,
zum Beispiel letzte Nacht in der Uni Frankfurt, dass die
Hochschulleitung besetzte Hörsäle mit Polizeigewalt, und
zwar dabei auch mit wirklicher Gewalt, räumen lässt - mit
stillschweigender Duldung der Bildungsministerin.
({7})
Frau Schavan, ich fordere Sie auf, Stellung zu beziehen. Ist Polizeigewalt auch Ihre Art, mit den Protesten
umzugehen?
({8})
Polizeigewalt gegen Proteste ist mit Demokratie an den
Hochschulen absolut unvereinbar. Sie muss tabu sein.
Eine demokratische Gesellschaft braucht demokratische
Hochschulen. Die Studierenden verteidigen die Demokratie an den Hochschulen. Sie haben dafür die Unterstützung der Linken.
({9})
Frau Schavan, beziehen Sie Stellung, verurteilen Sie öffentlich dieses Vorgehen der Hochschulleitungen und
der Polizei, und setzen Sie sich dafür ein, dass die Anzeigen gegen die Studierenden zurückgezogen werden!
({10})
Umso mehr Respekt habe ich für diejenigen Studentinnen und Studenten, die sich von diesem Vorgehen
nicht einschüchtern und entmutigen lassen und sich die
Hörsäle wieder zurückerobern, um ihren berechtigten
Protest fortzusetzen.
({11})
Die Politik der Bildungsprivatisierung und der Einsparung öffentlicher Gelder für Bildung hat in den letzten Jahren auch dazu geführt, dass Hörsäle mittlerweile
nach Großkonzernen benannt sind, die die Hochschulen
sponsern; so viel zur vermeintlichen Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft.
({12})
So heißt ein Hörsaal in Würzburg bereits Aldi-Süd-Hörsaal und einer in Nürnberg ausgerechnet easyCreditHörsaal. Dieser Name grenzt angesichts der schwarzgelben Konzepte zur Bildungsfinanzierung wirklich an
Realsatire.
({13})
Es ist ein Armutszeugnis, dass sich die Hochschulen
mit solch absurden und zweifelhaften Finanzierungskonzepten über Wasser halten müssen. Es ist höchste Zeit,
dass sich die Studentinnen und Studenten ihren Raum
zurückholen. In diesem Sinne: Die Hörsäle und die
Hochschulen gehören den Studierenden!
Vielen Dank.
({14})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor
Dr. Martin Neumann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die FDP nimmt die aktuellen Proteste von Schülern und Studierenden ernst und begrüßt das Engagement
zur Verbesserung der Lernbedingungen an Schulen und
Hochschulen. Zehn Jahre nach Beginn der Bologna-Reform zeigt sich, dass die tiefgreifendste Reform in der
deutschen Hochschullandschaft eine Reform ist, die von
den Akteuren die Bereitschaft verlangt, diesen Prozess
weiter allumfassend zu gestalten.
Dabei gibt es deutliche Unterschiede. Aus einer aktuellen Umfrage der Beratungsgesellschaft Ernst & Young
unter 281 Hochschulen geht hervor, dass sich die Hochschulen in NRW unter liberaler Begleitung im Unterschied zu denen im restlichen Bundesgebiet anscheinend
recht wohl fühlen. Von dort kommen überwiegend positive Einschätzungen. Keine einzige sieht ihre Existenz
gefährdet. Die meisten nennen ihre Finanzlage „zufriedenstellend“ oder „sehr gut“. Der lauter werdende Ruf
vieler Unis nach mehr Autonomie wurde von der NRWRegierung schon 2007 erhört. 87 Prozent der staatlichen
Hochschulen in NRW beschreiben sich daher als weitgehend selbstverwaltet - über 30 Prozent mehr als bei der
bundesweiten Umfrage.
Es zeigt sich, dass die Hochschulen ganz genau wissen, dass nur die Qualität der Lehre ihre Attraktivität erhöht. Das bestärkt unsere Annahme, dass Hochschulen
mit einem hohen Autonomiestatus ganz besonders hart
und effektiv für möglichst gute Studienbedingungen arbeiten. Dies ist ein fortwährender Prozess und ein Beleg
dafür, dass es sinnvoll ist, den Hochschulen mehr Freiheit zu geben.
Die Studie zeigt aber auch: Die Unis stehen in einem
immer härteren Wettbewerb um Studenten, Lehrkräfte
und Geld. Neun von zehn Hochschulen wollen eine bessere Lehre, um in diesem Wettstreit bestehen zu können.
Übrigens: Höhere Studiengebühren sind in der Regel
kein Thema.
({0})
Dr. Martin Neumann ({1})
83 Prozent der staatlichen Hochschulen gehen von
gleichbleibenden oder fallenden Gebühren aus.
Wir halten im Kern an den Zielen der Bologna-Reform fest und werden tatkräftig unterstützend daran mitwirken, diese Reform zu einem erfolgreichen Abschluss
zu bringen. Gleichzeitig bekennen wir uns zum Ausbau
der europäischen Dimension im Bildungsbereich, sprechen uns entschieden für grenzüberschreitende Mobilität
des Lernens und Lehrens aus. Wir stehen aktiv für einen
europäischen Hochschul- und Wirtschaftsraum.
({2})
Frau Bundesbildungsministerin hat gestern im Ausschuss über den vor uns liegenden Weg informiert und
uns mitgeteilt, welche Termine bis zum 12. April 2010
zu absolvieren sind. Ich meine, wir alle tun gut daran,
genau diesen Weg zu absolvieren, damit der Gipfel ein
Erfolg wird. Für die entsprechenden Lösungen sind in
den Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Hochschulen abgestimmte Maßnahmen notwendig. Ich sage Ihnen
auch, warum. Bei meinen wöchentlichen Treffen mit
Studierenden an einer FH bekomme ich durchaus unterschiedliche Bilder präsentiert. Woran liegt das? An den
erfolgreichen Hochschulen, in denen die Selbstverwaltung ernst genommen wird, und an Hochschulen, in denen eine gute Studienberatung durchgeführt wird, in denen es eine Vielzahl kleiner Tutorien und kleiner
Studiengruppen gibt und in denen die Studierenden gute
Kontakte zu den Hochschullehrern haben, gibt es deutlich weniger Probleme.
({3})
Meine Damen und Herren, wie ist der gegenwärtige
Stand? Im Moment sind etwa 80 Prozent der Studiengänge an den deutschen Universitäten und Fachhochschulen umgestellt. Die Arbeitsmarktakzeptanz der ersten Bachelor-Absolventen ist laut Institut der deutschen
Wirtschaft überwiegend gut. Rund drei Viertel der Unternehmen bewerteten die neuen Abschlüsse schon im
Jahr 2004 als positiv. Auch der DIHK, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, erkennt bei der Anerkennung und Bewertung von Bachelor und Master einen
positiven Trend. Die Zahl der Studienabbrüche geht seit
Einführung von Bachelor und Master signifikant zurück.
Hinzu kommt - das ist, wie ich glaube, an dieser Stelle
auch sehr wichtig -: Der Arbeitsaufwand ist durchaus
vergleichbar. Über das Credit-Point-System sind Transparenz und Qualität steuerbar. Genau dies zu organisieren, ist ein wesentlicher Teil der Hochschulverantwortung.
Die subjektive Zufriedenheit der Studierenden mit der
Situation von Betreuung und Lehre hat sich seit der Beginn der Bologna-Reform deutlich verbessert. Dennoch,
meine Damen und Herren, kommen auf die Hochschulen
weitere wichtige Aufgaben zu. Um in diesem Wettbewerb bestehen zu können und Qualitätsstandards im Bereich der Bildung zu gewährleisten, sind die Hochschulen gezwungen, sich weiterzuentwickeln.
({4})
Meine Damen und Herren, ich denke, dieser Prozess,
den wir unterstützen, sollte im Rahmen des Bildungsgipfels am 12. April nächsten Jahres zu einem erfolgreichen
Abschluss gebracht werden.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die neue Bundesbildungsministerin ist ganz die alte. Ihr
Berufsmotto ist offensichtlich geblieben: zögern, beschwichtigen und aussitzen.
({0})
Nicht einmal der zweite bundesweite Bildungsstreik
macht sie zur dynamischen Anwältin der Studierenden,
so gesehen zum Beispiel bei Anne Will.
({1})
Deshalb gab es gestern eine zutreffende und berechtigte
Standpauke des Bundespräsidenten.
({2})
Ihr Gebot der Stunde müsste lauten: anpacken, handeln
und kämpfen. Kämpfen müsste sie für bessere Studienbedingungen, für eine echte Korrektur der Bologna-Reform und für Bildungsgerechtigkeit statt Bildungsspaltung.
Was bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses
schiefgelaufen ist und noch schiefläuft, gehört mittlerweile zum bildungspolitischen Allgemeinwissen. Über
die Phase der Problemanalyse sind wir längst hinaus;
Frau Grütters, da haben Sie recht. Das ist übrigens auch
ein Erfolg des ersten Bildungsstreiks. Das könnten Sie
den Studierenden durchaus einmal anerkennend sagen.
({3})
Es kann sich niemand mehr hinstellen und sagen, die
Korrekturforderungen seien gestrig oder unberechtigt,
alles sei super gelaufen.
({4})
Die Bologna-Reform muss korrigiert werden. Sich die
Probleme, mit denen die Studierenden tagtäglich zu tun
haben, erst im April auf dem Bologna-Gipfel vortragen
zu lassen, käme viel zu spät. Der Gipfel muss unverzüglich einberufen werden.
({5})
Vom Bologna-Gipfel erwarten wir übrigens mehr als ein
Gruppenbild von Schavan, Pinkwart und Wintermantel.
Wir erwarten konkrete, handfeste Ergebnisse, die bei
den Studierenden in den Hörsälen und in den Seminarräumen tatsächlich ankommen.
({6})
Wir fordern eine Korrektur der vielerorts schlecht umgesetzten Bologna-Reform. Wir wollen eine Entrümpelung
der Studiengänge, durch die endlich wieder Zeitfenster
und Freiräume im Studium geschaffen werden, weniger
Prüfungen, bessere Betreuung und deutlich mehr Master-Studienplätze, damit der Übergang vom Bachelor
zum Master nicht zum Nadelöhr wird, sondern dieser für
viele möglich ist.
({7})
Wir wollen auch eine neue Anerkennungspraxis, eine
neue Anerkennungskultur bei erworbenen Studienleistungen, zum Beispiel durch eine Mobilitätsgarantie für
die Studierenden.
Um diese Korrekturen der Bologna-Reform zu verabreden, müssen sich Bund und Länder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Hochschulen, aber vor allem auch
der Studierenden zügig an einen Tisch setzen. Sie können gleich die Frage beantworten, ob die Studierendengruppen tatsächlich zu dem Bologna-Gipfel eingeladen
werden. Sie sollten auf jeden Fall mit am Tisch sitzen.
({8})
Die erste Verabredung auf diesem Gipfel muss lauten:
Schluss mit Schuldzuweisungen und Schwarzer-PeterSpiel; denn Sie alle tragen in Bund und Ländern Verantwortung für schlechte Studienbedingungen und für heutige und künftige Studierendengenerationen.
({9})
Bei diesem Gipfel muss der Bund auch eigene Beiträge leisten. Ministerin Schavan darf nicht mit leeren
Taschen anreisen und sich in wohlfeilen Appellen, dass
die anderen handeln sollen, erschöpfen, sondern sie
muss tatsächlich etwas mitbringen. Wer wie Sie mit dem
Finger auf die Hochschulen zeigt, sollte wissen, dass
mehrere Finger zurück zeigen.
({10})
Es ist doch so, dass Bund und Länder versäumt haben, die Bologna-Reform gegenzufinanzieren. Man
muss es einmal ganz klar sagen: Wir haben eine 15-prozentige Unterfinanzierung der Bologna-Reform. Pro
Jahr fehlen rund 1,1 Milliarden Euro. Ihre Verantwortung ist es, endlich ein Bologna-Paket zu schnüren, in
dem Qualität und Finanzmittel stecken. Nur so kann die
Unterfinanzierung der Hochschulen endlich überwunden
werden.
({11})
Es gibt übrigens auch eine soziale Dimension der Bologna-Reform. Dazu war von den Bildungspolitikern
von Union und FDP leider wieder kein Wort zu hören.
Das wundert mich nicht. Mit Ihrer Privat-vor-Staat-Ideologie schlagen Sie nämlich Studienberechtigten aus Familien mit einem schmalen Geldbeutel reihenweise die
Hörsaaltür vor der Nase zu.
({12})
Mit Studiengebühren, mit Krediten, mit flächendeckenden NCs und einem eklatanten Studienplatzmangel türmen Sie immer höhere Bildungsblockaden auf, statt
Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten Aufstieg durch Bildung zu eröffnen. Das wäre Ihre Aufgabe;
aber dabei versagen Sie seit Jahren.
({13})
Frau Schavan, motten Sie bitte Ihr vages Stipendienprogramm ein! Sie wissen ja noch gar nicht, wie Sie es
machen wollen. Mit dem Geld, das dafür vorgesehen ist,
könnten Sie das BAföG sofort um 10 Prozent erhöhen.
Das wäre ein richtiger Schritt. Das brächte auf einen
Schlag mehr Bildungsgerechtigkeit. Dafür würde ich Ihnen viel Erfolg wünschen; denn den Finanzminister
müssen Sie davon offensichtlich noch überzeugen.
({14})
Es ist aber so: Schwarz-Gelb manövriert die Bildungsrepublik weiter Richtung Märchenland. Das muss
man so deutlich sagen; denn morgen werden Sie den
Ländern, den Hochschulen und den Kommunen die finanzielle Basis unter den Füßen wegreißen. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat zur Folge, dass allein
dem NRW-Landeshaushalt im nächsten Jahr eine halbe
Milliarde Euro entzogen wird. Diesem Schuldenwachstumsgesetz kann man als verantwortungsbewusster Bildungspolitiker und erst recht als Bildungsministerin am
Kabinettstisch nicht zustimmen. Sie müssen es ablehnen! Mit dem Geld, das Sie den Ländern entziehen,
könnten Sie bundesweit 300 000 Studienplätze schaffen.
Das wäre eine sinnvolle Investition in die Zukunft.
({15})
Wir brauchen keine Steuergeschenke an Besserverdienende
Kollege Gehring, kommen Sie bitte zum Schluss.
- ja, sofort - und keine Subvention deutscher Hotelbetten.
Die Koalition muss dafür sorgen, dass die Studierenden und die Hochschulen nicht länger im Regen stehen
gelassen werden. Sorgen Sie für eine klare Gegenfinanzierung der notwendigen Korrekturen an der BolognaReform und liefern Sie belastbare Ergebnisse auf Ihrem
Gipfel - nicht erst im April, sondern so schnell wie möglich.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Meine sehr geschätzten Kollegen! Wir haben in den letzten Monaten immer wieder
Streiks und Protestaktionen von Studenten erlebt. Die
Anliegen der Studenten, vor allem hinsichtlich der lokalen Umsetzung der Bologna-Reformen an den einzelnen
Hochschulen, sind zu einem guten Teil auch berechtigt.
Es gibt Bachelor-Studiengänge mit zu hoher Stoffdichte, zu vielen Prüfungen oder zu wenigen oder gar
keinen Möglichkeiten, ins Ausland zu gehen. Darunter
leiden die betroffenen Studenten, und die Hochschulen
und die Politik stehen in der Verantwortung, diesen Studenten schnellstmöglich zu helfen
({0})
und Mängel in der Umsetzung der Bologna-Reformen zu
korrigieren.
({1})
Es wäre aber verantwortungslos, aufgrund von einzelnen Mängeln bei der Umsetzung den ganzen Reformprozess infrage zu stellen.
({2})
Durch Parolen wie „Stopp Bologna“ oder die Forderungen nach einer Rückabwicklung der Reformen werden
wir nur aufgehalten. Sie bringen uns nicht weiter, sie
verunsichern die Studenten und helfen ihnen nicht.
({3})
Wir - damit meine ich die Politik, die Hochschulen,
die Wirtschaft und die Studenten - sind gefordert, unsere
Anstrengungen darauf zu konzentrieren und dafür zu
sorgen, dass der Bologna-Prozess in ganz Deutschland
ein Erfolg wird. Dazu gehören die eben angesprochenen
Verbesserungen bei den Studienbedingungen, dazu gehört aber auch die tatsächliche Umsetzung der in den Reformen vorgesehenen Zweistufigkeit mit dem Bachelor
als einem wirklich berufsqualifizierenden Abschluss.
An dieser Stelle - der Kollege von der FDP hat es
eben angesprochen - gibt es auch positive Meldungen zu
verkünden: Der Bachelor wird auf dem Arbeitsmarkt gut
angenommen. Bereits aus den allerersten Gruppen von
Bachelor-Absolventen an den Fachhochschulen aus dem
Abschlussjahr 2006/2007 sind knapp 60 Prozent ohne
Master direkt in den Beruf gegangen. Bei den Bachelors
von den Universitäten waren es auf Anhieb immerhin
um die 20 Prozent. Die Bachelor-Absolventen, die direkt
in den Beruf eingestiegen sind, haben ihre Stelle nach
durchschnittlich 3,2 Monaten gefunden. Auch das ist ein
sehr guter Wert. Die Arbeitslosigkeit bei Bachelor-Absolventen ist mit etwa 3 Prozent genauso hoch oder niedrig wie bei den anderen akademischen Abschlüssen.
Das darf eigentlich nicht verwundern; denn der Abschluss ist ja auch eine Antwort auf die Forderungen der
Wirtschaft nach kürzeren Studienzeiten, nach mehr Praxisnähe und nach einer größeren internationalen Vergleichbarkeit der Abschlüsse. Die Unternehmen und die
Industrie dürfen jetzt nicht nachlassen, attraktive Einstiegsmöglichkeiten für Bachelor-Absolventen zu schaffen, und müssen sich auch aktiv an dem Dialog zur Verbesserung der Studienstrukturen beteiligen. Initiativen
wie „Bachelor Welcome“ oder wie die der Vereinigung
der Bayerischen Wirtschaft gehen genau in die richtige
Richtung.
Wir haben in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern einen hohen fachlichen Standard bei der
Ausbildung. Ich denke hier an den vielzitierten DiplomIngenieur. Die Herausforderung ist nun, diesen hohen
Standard auch auf die gestuften Studiengänge zu übertragen. Einfach stehen zu bleiben, ist keine Lösung. Die
Welt entwickelt sich weiter. Um uns herum haben
mittlerweile über 45 weitere Länder mit dem BolognaProzess begonnen, und in Deutschland selbst haben zu
diesem Wintersemester 43 Prozent des Jahrgangs ein
Studium begonnen. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren waren es noch 31 Prozent. Das ist eine erfreuliche Entwicklung für ein Land, dessen Zukunft in den Händen gut
ausgebildeter Fachkräfte liegt. Nichtsdestotrotz stellt
diese Entwicklung unser gesamtes Bildungssystem vor
große Herausforderungen. Die Koalition hat reagiert und
stellt in dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro
mehr für Bildung und Forschung zur Verfügung.
({4})
Die Politik allein kann es aber nicht richten. Wir brauchen die Unterstützung der Hochschulen und der Wirtschaft, aber auch die der Studenten.
Die Kultusministerkonferenz hat im Oktober viele
Anliegen der Studenten aufgegriffen. Jetzt sind die
Hochschulen am Zug, die notwendigen Korrekturmaßnahmen einzuleiten. Das geht nicht von heute auf morgen. Frau Ministerin Schavan hat aber klug gehandelt
und setzt im April nächsten Jahres mit dem BolognaGipfel einen Meilenstein,
({5})
bei dem die Wirksamkeit der Korrekturen realistisch
überprüft werden kann.
({6})
Ich rufe die protestierenden Studenten dazu auf, sich an
diesem Prozess aktiv zu beteiligen und mitzuarbeiten;
denn nur wer mitarbeitet und sich einbringt, kann auch
etwas bewegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Kollege Brandl, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu recht herzlich und wünsche Ihnen im Namen des gesamten Hauses
viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Willi
Brase.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe persönlich
mit Studierenden in meiner Heimatstadt in Siegen diskutiert und auch die Fragen debattiert, die in Bezug auf
Bachelor und Master sowie bei der Studienreform eine
Rolle gespielt haben. Das war und ist ein Punkt der Debatte der Studierenden.
Der zweite Punkt ist überhaupt noch nicht erwähnt
worden, nämlich die Frage der Chancengleichheit von
jungen Leuten in unserem Land.
({0})
Ich will es einmal ganz deutlich sagen, damit wir es
hier nicht vergessen - das belegen im Übrigen auch alle
Untersuchungen -: Der Geldbeutel der Eltern bzw. der
Erziehungsberechtigten entscheidet darüber, ob ein junger Mensch in unserem Land die Chance hat, nach oben
zu kommen. Das ist ein Zustand, der so nicht mehr bestehen bleiben darf.
({1})
Die Studenten haben sehr deutlich mehr Geld für die
Universitäten gefordert. Ich finde es gut, dass der Bundespräsident kürzlich, wenn man der Presse glauben
darf, klipp und klar kritisiert hat, dass unser Bildungssystem seit mehreren Jahren chronisch unterfinanziert
ist. Außerdem hat er kritisch angemerkt, dass es nicht
ausreicht, nur eine exzellente Forschungslandschaft in
diesem Land zu unterhalten, Frau Schavan, sondern dass
auch eine exzellente Landschaft für die Lehre an unseren
Hochschulen nötig ist. Dazu kann ich nur sagen, dass der
Präsident recht hat. Wir müssen da noch einiges machen
in diesem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wenn dies richtig ist, dann muss man über den Tellerrand schauen und überlegen, wie wir auf diesem Weg ein
Stück weiterkommen. Angesichts der Tatsache, dass wir
mehr Geld brauchen - vorhin wurde von 1,1 Milliarden
Euro zusätzlich für den Bologna-Prozess gesprochen -,
kann ich nur sagen: Liebe Koalitionäre, nehmen Sie
doch ernst, was Ihnen kürzlich bei der Anhörung bezüglich Ihres Wachstumsbeschleunigungsgesetzes gesagt
wurde.
({3})
Was soll dieser Unsinn mit 7 Prozent Mehrwertsteuer für
Hotelunterkünfte? Investieren Sie diese 1 Milliarde lieber in den Hochschulbereich. Damit machen Sie etwas
Gutes in diesem Land für die Menschen.
({4})
Ein weiterer Punkt: Es gibt gute Studien, beispielsweise die vom HIS, die wir kürzlich im Ausschuss bekommen haben und die noch einmal überarbeitet wird.
Außerdem gibt es eine aktuelle Studie von der Bertelsmann Stiftung. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, wie es mit der Finanzlage und mit den Perspektiven
für junge Leute aussieht. Studienberechtigte sind gefragt
worden, was sie hindert, ein Studium aufzunehmen. Als
erstes Argument wird die hohe finanzielle Belastung genannt. Als zweites Argument wird vorgebracht, dass
man Angst davor hat, später die Schulden, die man
macht, wenn man BAföG erhält, abtragen zu müssen.
({5})
- Sie können den Kopf noch zehn Mal schütteln. - Als
drittes Argument kommen die Studiengebühren. Werden
Sie endlich einmal schlau daraus! Herr Müller im Saarland und Herr Koch in Hessen haben begriffen, dass man
mit Studiengebühren nicht viel gewinnen kann. Wir
brauchen keine Studiengebühren; die jungen Menschen
brauchen vielmehr vernünftige Perspektiven. Die Studiengebühren gehören in die Mottenkiste dieses Jahrhunderts.
({6})
Es darf auch nicht vergessen werden - das geschieht
häufig -, dass aufgrund unseres Schulsystems bei uns
nach der vierten, fünften oder sechsten Klasse aussortiert
wird. In diesem Moment entscheidet sich, welche Perspektive junge Menschen haben. Häufig werden an dieser Stelle die Kinder aus bildungsferneren Schichten, aus
Schichten, die materiell nicht so gut gestellt sind und die
kein hohes Einkommen beziehen, zum ersten Mal wegsortiert, indem sie zum Beispiel auf die Hauptschule
kommen.
Für die Kinder, die das Glück haben, aufs Gymnasium zu kommen, gilt das achtjährige Gymnasium G 8.
Wir erleben seit drei bis vier Jahren, dass die beschleunigte Einführung des G 8 alles andere als bessere Chancen für die Kinder mit sich gebracht hat. Es macht die
Eltern verrückt. Sie sitzen teilweise bis abends mit ihren
Kindern an den Schulaufgaben. Die Sportvereine und
andere Vereine beklagen, dass ihnen langsam der Nachwuchs ausgeht, weil die Kinder keine Zeit mehr haben,
weil sie nur noch dabei sind, das zu lernen, was im Rahmen von G 8 durchgepaukt wird. Ich finde, an der Stelle
müssen wir endlich einmal Nein sagen. Wir vergewaltigen doch die Kinder mit dem, was wir ihnen da antun.
({7})
Ich komme zum Schluss und halte fest: Wir brauchen
mehr Geld. Darum werden wir weiter kämpfen. Wir
brauchen das Geld auch an der richtigen Stelle, und zwar
für Brennpunktschulen, für die individuelle Sprachförderung und für die individuelle Förderung von jungen
Leuten. Dann kommen wir auf einen guten Weg.
Wir haben während der rot-grünen Regierungszeit die
Zahl der BAföG-Empfänger von über 500 000 auf
800 000 gesteigert. In der schwarz-roten Regierungszeit
ist die Zahl nach den letzten Schätzungen Ihres Hauses,
Frau Ministerin, auf über 900 000 gestiegen. Es war und
ist richtig, dass wir das BAföG weiterentwickelt haben.
Das BAföG muss erhöht werden. Das ist der richtige
Weg.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel für die FDPFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Offensichtlich befürchtet die SPD, dass
dem Studentenstreik über die Weihnachtsfeiertage die
Puste ausgeht.
({0})
Denn die Zahl der aktiven Protestler ist sogar zu Spitzenzeiten vergleichsweise gering. Nach Ansicht der Neuen
Zürcher Zeitung handelt es sich um eine Minderheit von
weniger als 5 Prozent aller immatrikulierten Studenten.
({1})
Im Fernsehen wurde gestern gezeigt, wie 200 Studierende aus der Mensa der Uni Frankfurt herausgetragen
wurden. Das ist eine der größten Universitäten Deutschlands mit 35 000 Studierenden. Wo waren die eigentlich
alle?
({2})
Die jungen Akademiker hinterließen völlig zerstörte
Räume. Damit haben sie das Geld derjenigen verbrannt,
die Steuern zahlen, damit andere studieren können. Die
Hörsäle gehören nicht in erster Linie den Studierenden,
Frau Gohlke, sondern den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, die dafür auf Geld verzichten.
({3})
Doch auch wenn das Auftreten und Gebaren einiger
Studierender völlig an der Sache vorbeigeht, sollte man
die Sorgen und Nöte der großen Mehrheit der Studierenden nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn während sich einige wenige um die Bekämpfung des Kapitalismus, die Tolerierung von Täuschungsversuchen bei
Prüfungen und Essen im Freien bemühen - das sind alles
Beispiele aus den 95 Forderungen des ReferentInnenRates der Humboldt-Uni -,
({4})
so setzt sich die große Mehrheit der Studierenden völlig
zu Recht für bessere Bedingungen in der Lehre und mehr
Flexibilität im Studienverlauf ein.
({5})
Diesen Einsatz sollte man respektieren, und diesen Einsatz nimmt die neue Bundesregierung auch sehr ernst.
({6})
Dementsprechend begrüßen wir es explizit, dass Bundesministerin Schavan mit Ländern, Hochschulen und
Studierendenvertretern in den Dialog getreten ist. Wir
sehen die Probleme und werden sie gemeinsam lösen.
Angesichts dieser positiven Entwicklung finde ich es
bemerkenswert, wie die SPD nun versucht, das Feuer
des Streiks wieder anzufachen, um sich ihre alten Knochen daran zu wärmen.
({7})
Die Genossen wollen sich unterhaken lassen und hoffen
darauf, so den Protest gegen die neue, frische Regierung
zu instrumentalisieren.
({8})
Das wird nicht gelingen.
({9})
Bei diesem Plan gibt es nämlich eine Schwachstelle. Der
Protest richtet sich in weiten Teilen gegen die BolognaReform. Diese Reform wurde von einer rot-grünen Bundesregierung angeschoben. Daran ist zunächst nichts zu
kritisieren. Doch die notwendigen rechtlichen und finanziellen Flankierungen dieser Beschlüsse blieben damals
aus; das darf man deutlich sagen.
({10})
Bologna wurde zum rot-grünen Sparprogramm, zum bildungspolitischen Steinbruch der Schröder-Ära. Elf Jahre
SPD-Regierungsbeteiligung haben die chronische Unterfinanzierung der Hochschulen auf Bundes- und Länderebene zementiert.
({11})
Ich will Sie nur ganz kurz daran erinnern, dass zum
Beispiel der Wissenschaftssenator Flierl von der Linken
sowie die von der SPD und der Linkspartei getragene
Regierung im Jahre 2004 hier in unserer Hauptstadt
beschlossen haben, rund ein Fünftel der Stellen für
Hochschulprofessoren und 10 000 der Studienplätze zu
streichen. Bildungsabbau, Qualitätsverlust und Mangelverwaltung, so sieht für uns linke Bildungspolitik aus.
({12})
Kein Wunder, dass sich der hochdekorierte und vielfach
ausgezeichnete Präsident der Freien Universität, Herr
Professor Lenzen, mit dem Verweis auf die mangelhaften Rahmenbedingungen in der rot-rot-regierten
Hauptstadt verabschiedet hat. Ich komme aus Hamburg.
Wir Hamburger freuen uns; denn wir sind die Nutznießer.
({13})
Wie anders ist es doch in Nordrhein-Westfalen, wo
der liberale Innovationsminister Pinkwart die Situation
der Hochschulen spürbar verbesserte!
({14})
Er hat die Studienbedingungen mit den Studiengebühren
sichtbar und fühlbar verbessert. Er kann nicht klagen;
denn die Hochschulen in Nordrhein-Westfalen haben so
viele Studienanmeldungen wie noch nie zuvor.
({15})
Wenn sich nun die Bundesbildungsministerin mit den
Studierenden, den Hochschulrektoren und den Wissenschaftsministern treffen will, um über die notwendigen
Nachbesserungen zu diskutieren und Lösungen zu suchen, dann verdient sie unsere volle Unterstützung.
Auch die Studierenden freuen sich darüber. Juliane
Knörr, Koordinatorin der rheinland-pfälzischen JusoHochschulgruppen, hat gegenüber der Welt gesagt, dieser Zeitplan sei angemessen, und es scheint ihr so, dass
heute nur die Linken und die SPD im Grunde genommen
dagegen sind.
Aussitzen ist nichts für Liberale. Die FDP will etwas
bewegen.
({16})
Wir sind nicht immer bequem. Aber das ist notwendig.
Wir maßen uns auch nicht an, den Hochschulen ins
Handwerk zu pfuschen. Wir wollen nicht alles bis ins
Kleinste regeln. Stattdessen wollen wir die Hochschulen
rechtlich und finanziell so ausstatten, dass sie in der
Lage sind, die bestmöglichen Studienbedingungen herbeizuführen. Wir werden die finanzielle Situation der
Studierenden verbessern. Das wird eine gute Bildungspolitik. Genauso wie wir es in den Ländern geschafft haben, werden wir es im Bund schaffen. Herr
Dr. Rossmann, Schavanismus ist mir lieber als blinder
Aktivismus.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat der Kollege Michael Gerdes für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die anhaltenden Proteste an den Unis und auch diese Aktuelle
Stunde machen einmal mehr deutlich: Es geht nicht nur
um Bologna. Es geht tiefer. Bildung ist längst kein
Randthema mehr. Bildung steht seit Jahren im Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Sie ist häufig Gegenstand
politischer Sonntagsreden. Nun frage ich mich, ob die
vielen Reden über den hohen Stellenwert der Bildung
mit der Realität übereinstimmen. Für meinen Geschmack häufen sich die Negativmeldungen über die
deutsche Bildungssituation zu sehr. Bei den anhaltenden
Protesten der Studierenden wegen verschulter Studiengänge ist im Übrigen nicht die Stärke der Beteiligung
ausschlaggebend. Ich will darauf hinweisen, dass auch
die Studierenden nur ein Spiegelbild unserer Gesellschaft sind. Wenn ich mir die Beteiligung in diesem Hohen Hause anschaue, dann stelle ich fest, dass nicht alle
Bundestagsabgeordneten bei jedem Thema anwesend
sind. Daher sollte man nicht an der Anzahl der Studierenden die Qualität des Protestes ablesen.
({0})
Es geht aber noch weiter: Abiturienten, die lieber eine
Ausbildung beginnen, weil sie sich Studiengebühren
nicht leisten können, Warnungen aus der Wirtschaft vor
Fachkräftemangel, unbesetzte Lehrstellen aufgrund fehlender Qualifikationen, besorgte Eltern - wir haben es
gerade gehört -, die ihre Kinder nicht dem Lernstress im
G 8 ausliefern wollen, und immer noch soziale Selektion
im deutschen Bildungssystem. Diese Liste ließe sich
weiter fortsetzen. Ich will mir das heute ersparen.
Im letzten Jahr hat Kanzlerin Merkel die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen, aber in dieser Republik
sind wir längst noch nicht angekommen. Zwar sind wir
uns alle einig, dass Bildung eine wettbewerbsrelevante
Ressource ist, und wir alle sagen: „In der Wissensgesellschaft ist Bildung die Quelle von wirtschaftlichem
Wachstum“, gehandelt wird aber nicht nach dieser Maxime. Sonst würde die schwarz-gelbe Mehrheit morgen
nicht ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschließen,
das wohl eher bremsen wird, als dass es Probleme löst.
({1})
Dieses Gesetz wird Länder und Kommunen dazu zwingen, drastisch einzusparen. Das sind Einsparungen, die
vor allem die Ausgaben für Bildung betreffen. Es drohen
Kürzungen bei Kindergärten, Schulen und Universitäten,
und das, obwohl wir bei den Bildungsausgaben im
OECD-Vergleich sowieso nur im unteren Mittelfeld liegen. Im Klartext: Die schwarz-gelbe Regierung verzichtet auf Steuereinnahmen und riskiert somit sinkende Bildungsausgaben.
({2})
Gute Bildung basiert auf einer soliden Finanzierung. Wir
sollten die Mahnung von Frau Wintermantel ernst nehmen: Die von den Studierenden beklagten Mängel bei
der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge
hängen auch mit der chronischen Unterfinanzierung der
Universitäten zusammen. Dieser Meinung ist nicht nur
die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, sondern auch viele Professoren reklamieren die Geldknappheit ihrer Institute. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die der Staat zu finanzieren hat, egal für
welche Altersgruppe. Ein Staat, der zu wenig Geld für
Bildung ausgibt, verletzt das Recht auf Bildung und gefährdet zudem seine eigene wirtschaftliche Existenz.
Erst letzte Woche hat die Bertelsmann-Stiftung eine Studie über den volkswirtschaftlichen Nutzen guter Bildung
veröffentlicht. Die Schlagzeile lautet: Hohe Zahl von
schlechten Schülern kostet die Gesellschaft viel Geld. Ich füge hinzu: Gleiches gilt auch für unsere Studierenden und Azubis.
({3})
Wer schlechte Lernbedingungen vorfindet, kann später nicht den Bedingungen des Arbeitsmarkts entsprechen. Kinder, Schüler, Azubis und Studierende brauchen
vernünftige, qualitativ hochwertige Bildungsbedingungen und Chancengleichheit. Mit Blick auf die Proteste
der Studierenden frage ich mich: Was nützen uns Absolventen, die ihr Bachelorstudium zwar schnell hinter sich
gebracht haben, aber kein fundiertes akademisches Wissen haben? Wir appellieren an unsere Jugendlichen,
möglichst gute Abschlüsse zu machen, sorgen aber nicht
für ein durchlässiges und gerechtes Bildungssystem. Aus
meinem betrieblichen Alltag kann ich Ihnen berichten,
dass viele Azubis, die das Zeug zum Studieren hätten,
aus Angst vor finanzieller Not nicht an die Hochschule
wollen.
({4})
- Das ist Lebenserfahrung, und das ist eine falsche Entwicklung. - An dieser Stelle fällt mir das Stichwort „Bildungssparen“ ein. Ich finde den Grundgedanken richtig,
Geld für Ausbildung und Studium zur Seite zu legen.
Nur, wenn ich an die vielen Familien mit prekären Beschäftigungsverhältnissen denke, die am Ende des Monats froh sind, ihren Lebensunterhalt so eben bestritten
zu haben, wird eines deutlich: Da ist kein Euro mehr
vorhanden, der gespart werden könnte. Es bleibt dabei:
Wer arm ist, hat es schwer, an Bildung teilzuhaben; wer
reich ist, hat beste Aussichten auf Bildung. Die soziale
Ungerechtigkeit wird auf die nächste Generation übertragen. Das ist die Realität.
({5})
Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Ministerin, lassen Sie die Studierenden und die Universitäten
nicht im Regen stehen! Nehmen Sie die Kritik ernst und
handeln Sie! Ein erster Schritt wäre es, den geforderten
Bologna-Gipfel so schnell wie möglich durchzuführen.
Ein zweiter Schritt wäre es, die Bildung in diesem Land
nicht zusätzlich durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zu gefährden. Streichen Sie es von der Tagesordnung!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Kollege Gerdes, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir gratulieren Ihnen dazu und wünschen Ihnen alles Gute für Ihre Arbeit.
({0})
Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Dr. Annette Schavan.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir hatten gestern im Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung zwei Stunden Zeit für ein Gespräch, auch über das Thema dieser
Aktuellen Stunde. Ich will gern wiederholen, was ich
gestern den Kolleginnen und Kollegen zu erläutern versucht habe.
Ich möchte vorher auf einige Punkte eingehen, die Sie
angesprochen haben.
Erstens. In mehreren Reden, unter anderem in der von
Herrn Gehring und von Herrn Rossmann, kam die Forderung zum Ausdruck, dass der Bologna-Prozess korrigiert werden muss - im Gestus der Selbstverständlichkeit, so als wüssten Sie das lange. Da fragt man sich
dann unwillkürlich: Was ist eigentlich zwischen 1999,
als Frau Bulmahn den Vertrag unterschrieben hat, und
dem Jahr 2005 in der Phase der Einführung, in den ersten sechs Jahren, geschehen?
({0})
- Ich war Kultusministerin, mit Verlaub. Ich war nicht
Wissenschaftsministerin. Wir haben dem Bologna-Prozess immer zugestimmt, und ich habe diese Herausforderung angenommen. - Jetzt fällt Ihnen ein: Es muss
korrigiert werden. Sechs Jahre haben Sie in der rot-grünen Bundesregierung Verantwortung getragen. Das, was
Ihnen heute einfällt, ist Ihnen damals nicht eingefallen.
({1})
Zweitens. Sie sagen: Der Bund muss etwas tun; die
Ministerin darf nicht mit leeren Taschen zum Gipfel gehen. Da haben Sie recht.
({2})
- Jetzt kommen Sie wieder mit Herrn Koch und dem
Bundesverfassungsgericht. Herr Rossmann, man muss
schon so vorgehen, dass es der Verfassung entspricht.
Das ist die Aufgabe einer Bundesregierung bei jeder
Maßnahme, die sie beschließt.
({3})
Sie haben das nicht berücksichtigt. Zwischen 1999 und
2005 ist eben keine gemeinsame Perspektive von Bund
und Ländern entwickelt worden. Für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems, für die Schaffung neuer
Studienplätze ist keine Unterstützung geleistet worden.
({4})
Seit 2005 gibt es einen Hochschulpakt, in der ersten
Phase mit der Schaffung von 90 000 zusätzlichen Studienplätzen, in der zweiten Phase mit der Schaffung von
275 000 zusätzlichen Studienplätzen. Jetzt gibt es in der
Vereinbarung zwischen Bund und Ländern das 10-Prozent-Ziel. Das alles ist nach 2005 geschehen, und nichts
davon ist in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung
passiert.
({5})
Drittens. Sie - ich glaube, es war Herr Gehring sprechen von den immer höheren Blockaden, wenn es
darum geht, in Deutschland gute Bildung zu bekommen
und ein Studium aufzunehmen. Es gibt so viele Untersuchungen, dass man immer streiten kann, wer sich gerade
auf welche bezieht. Wir werden sie einmal alle zusammenführen, um längerfristige Trends aufzuzeigen. Wenn
man nur die Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus
den letzten zehn Jahren nimmt, dann ist augenscheinlich,
dass in der Zeit der rot-grünen Bundesregierung, jedenfalls was die Studienanfängerquote angeht, Stagnation
und Rückgang herrschten. In diesem Jahr haben wir eine
Rekordzahl: Seit 2005, spätestens seit 2007 ist die Stagnation überwunden.
({6})
- Natürlich stimmt es. Das Statistische Bundesamt
spricht von über 43 Prozent eines Jahrgangs, die im Studienjahr 2009 ein Studium aufgenommen haben. So
viele hat es noch nie gegeben. Übrigens gab es da, wo
Studiengebühren erhoben werden, erhebliche Zuwachsraten.
({7})
- Ich weiß, dass Ihnen diese Zahl nicht passt; aber sie
stimmt.
Dann wird gesagt, in Deutschland seien die Blockaden schon deshalb höher, weil Studiengebühren existierten. Wenn Sie die Zahl der Hochschulen mit Studiengebühren in Deutschland zusammenzählen, dann werden
Sie feststellen, dass es an der Mehrheit der Hochschulen
überhaupt keine Studiengebühren gibt.
({8})
- Darauf legen Sie doch wert. - Wer in Deutschland studieren und keine Studiengebühr zahlen möchte, lieber
Herr Brase, kann das.
({9})
- Sehen Sie, bei Studierenden ist es unterschiedlich. Da
gibt es viele, die - das zeigen die HIS-Studien - ihren
Studienort auch mit Blick auf die Qualität wählen.
({10})
Deshalb gibt es hohe Zuwachsraten in Nordrhein-Westfalen, in Bayern, in Baden-Württemberg - da, wo Studiengebühren existieren und sich die Lehre verbessert
hat.
({11})
Frau Gohlke, Sie sprechen von der Gewalt gegenüber
Studierenden. Ich finde es erstaunlich, dass Sie nicht
darüber sprechen, dass Hörsäle zu besetzen, andere am
Studieren zu hindern und die Säle zerstört zurückzulassen, auch Gewalt ist, die nicht akzeptabel ist.
({12})
Deshalb ist die Räumung von Universitäten, in denen
Gewalt ausgeübt wird, richtig.
({13})
Der Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode
sieht ganz klar den Aufwuchs vor - wir haben hier schon
zweimal darüber gesprochen -, er sieht Aufstiegsstipendien vor. Jetzt nenne ich den Zeitplan noch einmal: Natürlich wird am 12. April nicht eine Konferenz stattfinden, auf der wieder analysiert wird. Die Frage, was zu
tun ist, ist im Sommer des vergangenen Jahres besprochen worden. Danach hat es ein Elf-Punkte-Programm
der Kultusministerkonferenz gegeben. Das steht jetzt in
den Ländern zur Umsetzung an. Das Beispiel von Herrn
Pinkwart und von Nordrhein-Westfalen ist genannt worden. Die Hochschulen haben mit ihren Wissenschaftsministern ein Memorandum verabschiedet; sie haben
ganz klar die Schritte zur Konkretisierung aufgeführt, sie
haben deutlich gemacht, was jetzt zu geschehen hat. Das
Wintersemester steht unter dem Vorzeichen der Umsetzung, der Korrektur, der Verbesserung der Qualität von
Lehre.
Dazu findet am 10. Dezember das Gespräch der
Hochschulrektorenkonferenz mit der Kultusministerkonferenz statt. Dazu werden diverse Workshops in den einzelnen Ländern stattfinden. Das Ziel ist, in den 16 Ländern das, was verabredet worden ist, jetzt umzusetzen.
Dann werden wir in der zweiten Märzwoche die internationale Bologna-Konferenz in Wien und in Budapest haben, und vier Wochen später werden wir diesen Prozess
der Umsetzung der Korrekturagenda in Deutschland
durchführen.
({14})
Und das, was in anderen Ländern passiert, der Austausch
auf der internationalen Bologna-Konferenz, wird für die
Frage der Mobilität wichtig sein. Dies alles wird dann
bilanziert. Es werden die Perspektiven entwickelt, auch
die finanzpolitischen Perspektiven.
({15})
Sie wissen, dass das 10-Prozent-Ziel beschlossen worden ist, Sie wissen, dass es am 10. Dezember genau
darum geht, Sie wissen - auch das habe ich gestern gesagt -, dass wir dann überlegen werden, was seitens des
Bundes noch zusätzlich zum Hochschulpakt investiert
werden kann.
({16})
Sie wissen, dass im neuen Hochschulpakt pro Studienplatz mehr Geld für Lehre ausgegeben worden ist.
({17})
Klarer Zeitplan, klarer Fahrplan im Blick auf Taten,
nicht auf weitere allgemeine Debatten. Es wird konkret.
Auch das stinkt Ihnen.
({18})
Ich finde, Sie sollten jetzt einfach die Bemühungen ernst
nehmen, die in den Hochschulen, in den Landesregierungen, in der Bundesregierung geschehen.
Und zum Abschluss, lieber Herr Rossmann: Auf das
Wort „Schavanismus“ haben Sie nicht mal Copyright.
Das gibt es schon seit 15 Jahren, von Ihrem Kollegen
Zeller aus Baden-Württemberg erfunden,
({19})
seines Zeichens SPD-Landtagsabgeordneter. Ich kann
nur sagen: Willkommen! Nun ist der Begriff auch in
Berlin angekommen.
({20})
Das Wort hat der Kollege Swen Schulz für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Grütters, Sie haben danach gefragt, warum wir in dieser
Woche, nachdem wir über das Thema bereits in der letzten Woche diskutiert haben, auf Antrag der SPD erneut
diese Diskussion führen. Ich kann Ihnen das erklären:
Wir lassen die Regierungskoalition nicht in Ruhe, wir
lassen sie nicht aus der Verantwortung.
({0})
Das ist auch notwendig, weil Bundesministerin Schavan
ja ganz offenkundig immer wieder zum Jagen getragen
werden muss.
({1})
Frau Canel, wir instrumentalisieren nicht die Proteste
der Studierenden, aber wir begrüßen, dass die Studierenden Druck machen. Erst nachdem die Studierenden protestiert haben, hat Frau Schavan reagiert und zum Beispiel eine BAföG-Erhöhung angekündigt, und erst nach
der Forderung der HRK-Präsidentin, einen BolognaGipfel durchzuführen, hat Frau Schavan gesagt: Na ja,
okay, kann man im April machen.
Aber man fragt sich schon, wo die eigene Initiative,
der eigene konkrete Beitrag ist.
({2})
Ich habe das letzte Woche schon in der Debatte im Deutschen Bundestag gefragt. Jetzt habe ich der Ministerin
wieder zugehört, und es kam wieder nichts Konkretes,
Swen Schulz ({3})
außer wohlklingenden Worten und Schuldzuweisungen,
Fingerzeigen auf andere; aber es war nichts von einer eigenen Problemlösung zu hören.
Frau Schavan, Sie haben es ja angesprochen. Wir hatten gestern im Ausschuss zwei Stunden Zeit, zu diskutieren. Dabei sind Sie von der Opposition zu vielen verschiedenen Themen konkret befragt worden: Wie stellen
Sie sich die Realisierung des 10-Prozent-Ziels zur Bildungsfinanzierung vor? - Keine konkrete Antwort. Wie
soll es finanziell für die Länder weitergehen, die dann ja
im Wesentlichen die Bildungspolitik finanzieren sollen? Keine Antwort. Wie soll es mit dem Bildungssparen laufen? - Keine Antwort. Wie soll es mit den Bildungsschecks laufen? - Keine Antwort. Wie soll das Stipendiensystem konkret aussehen? - Keine Antwort. Wie
soll die BAföG-Erhöhung ausgestaltet werden? - Wiederum keine Antwort.
({4})
Ich habe mir gedacht: Wenn schon im Ausschuss
nichts Konkretes gesagt wird, wenn hier im Plenum des
Deutschen Bundestages nichts Konkretes gesagt wird,
dann schaue ich doch einmal nach, was schriftlich in
dem berühmten Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU
und FDP festgehalten ist. Es wird ja immer gesagt, das
sei ein Schwerpunkt der Regierungskoalition. Ich habe
einmal nachgeschaut, und tatsächlich: Da gibt es einen
Abschnitt „Qualität für Studium und Hochschule“ - auf
25 Zeilen Allgemeinplätze. So viel zu diesem Schwerpunkt.
({5})
Beim Durchblättern dieses Koalitionsvertrages habe
ich zum Beispiel gefunden, dass dem Abschnitt „Wehrtechnische Industrie und Rüstungskooperation“ 26 Zeilen gewidmet werden,
({6})
und er ist dann auch noch wesentlich konkreter.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie handeln dieses so wichtige Thema
Hochschulpolitik larifari ab, und das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen.
({7})
Es soll also im April einen Hochschulgipfel geben.
Da fragt man sich: Warum eigentlich erst im April? Sie
haben versucht, das zu erklären, aber so richtig einsichtig - tut mir leid - ist es tatsächlich nicht. Ist es deswegen, weil Sie hoffen, dass bis dahin der Druck der Studierendenproteste nachgelassen hat, oder deswegen, weil
Sie hoffen, dass andere für Sie, Frau Schavan, die Hochschulen oder die Bundesländer, die Probleme abgeräumt
haben und Sie dann sozusagen nur noch die Ergebnisse
einsammeln müssen? Hat das etwa mit dem Termin der
NRW-Landtagswahlen im Mai zu tun?
({8})
- Nein, natürlich nicht. - Frau Schavan, ich bitte Sie,
wachen Sie endlich auf! Sie müssen mal etwas auf den
Tisch legen. Sie müssen die Initiative ergreifen. Sie müssen einen Beitrag leisten und die Problemlösung forcieren.
({9})
Und jetzt, Frau Schavan, habe ich auch eine gute
Nachricht für Sie:
({10})
Bei all dem brauchen Sie sich nur an dem zu orientieren,
was die SPD schon vorgearbeitet hat.
({11})
Wir haben einen Antrag „Studienpakt für Qualität und
gute Lehre jetzt durchsetzen“ vorgelegt. Da steht alles
drin, was Sie an Handwerkszeug brauchen: Masterstudium offenhalten, Personaloffensive, Wettbewerb „Gute
Lehre für alle“, Durchlässigkeit des Studiums, Studienpakt von Bund und Ländern - und zwar ordentlich finanziert: 3 Milliarden Euro in den nächsten drei Jahren -,
Vorschläge für die BAföG-Novelle. Frau Schavan, es ist
alles von uns vorgearbeitet. Wenn Sie den Ländern ein
ordentliches Angebot machen würden, tatsächlich einen
klaren Fahrplan vorlegen würden, in welchem Sie sagen,
was der Bund leistet, dann könnte der Gipfel viel früher
stattfinden. Man könnte viel früher zu konkreten Ergebnissen kommen, die dann tatsächlich im nächsten Semester zu Verbesserungen an den Hochschulen für die
Studierenden führen würden. Das wäre wesentlich besser, als das jetzt auf die lange Bank zu schieben.
Sie, Frau Schavan, lehnen die Verantwortung ab. Sie
ruhen sich auf Erfolgen der Vergangenheit, die Sie nur
mit der SPD in der Großen Koalition einfahren konnten,
aus. Ansonsten machen Sie nur noch Klientel- und
Schaufensterpolitik. Und - das ist vielleicht das
Schlimmste - Sie schauen tatenlos zu, wie den Ländern
und Kommunen durch eine irrsinnige Steuerpolitik finanziell die Luft abgedreht wird. Die Länder haben dann
keine Chance mehr auf eine vernünftige Bildungspolitik.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern Sie auf: Beenden Sie diese Larifaripolitik! Werden
Sie endlich aktiv!
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Tankred Schipanski für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Opposition hat anscheinend das Wachstumsbeschleunigungsgesetz nicht richtig verstanden.
({0})
Sie sollten das einmal nacharbeiten.
Hans Zehetmair hat einmal festgestellt: In der Bildungspolitik ist der Jammerton zum Kammerton geworden. - Wenn man Sie heute hört, dann muss man sagen,
dass er völlig recht hat.
({1})
Besuchen Sie einmal die Homepage www.bildungsstreik.net. Sie werden staunen, welche Ziele dort genannt werden: Weg mit dem Schulstress, weg mit dem
Leistungsdruck, kostenlose Fahrt im öffentlichen Personennahverkehr, Abschaffung der Leiharbeit und Zeitarbeit.
({2})
Das sind teilweise absurde Ziele. Als ich die Reden der
Linken gehört habe, wusste ich auch, woher das kommt
und von wem die Studenten da instrumentalisiert werden.
({3})
Ich komme direkt von der TU Ilmenau, einer kleinen
Universität in Thüringen. Als ich dort neulich in der
Mensa war, bekam ich einen Flyer in die Hand, den der
Studentenrat, der weiß Gott nicht unionsnah ist, ausgelegt hatte. Die Studenten dieser Universität fragen sich,
wofür gestreikt wird. Denn in Ilmenau gibt es keine Studiengebühren, aber viele neue Gebäude, ausreichend
Platz in Hörsälen und ein gutes Betreuungsverhältnis.
Die dortigen Studenten finden die Grundidee von Bologna richtig. Das Einzige, was zu konstatieren ist - das
gibt jeder von uns hier zu -, ist, dass es bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses einen Optimierungsbedarf
gibt. Das ist der richtige Ansatzpunkt. Aber man braucht
keinen Streik, um das deutlich zu machen. Das ist doch
der falsche Weg.
({4})
Auch die Polemik der Opposition im Parlament bringt
uns da überhaupt nicht weiter. Wir brauchen ein konstruktives Miteinander von Hochschulleitung, Studierenden und Professoren statt Chaos auf den Straßen und in
den Hörsälen.
({5})
Wichtig ist, dass wir, was die Umsetzung von Bologna angeht, eine Feinjustierung, die aus den neuen Erfahrungswerten resultiert, vornehmen müssen. Da ist die
Bundesregierung auf dem richtigen Weg. Nicht das
Bologna-Konzept ist schlecht, sondern es gibt Probleme
bei der Umsetzung. Das hat zum einen mit der den Deutschen innewohnenden Neigung zur Bürokratie zu tun.
Zum anderen müssen wir uns erst an neue Player wie
Akkreditierungsagenturen gewöhnen und mit denen zurechtkommen. Es ist ein ganz natürlicher Lernprozess,
wenn man die Umstrukturierung von Abschlüssen vorantreibt.
Die Umsetzung von Bologna liegt schwerpunktmäßig
bei den Hochschulen und nicht bei der Bundesregierung.
Die Lehrstühle und Fachgebiete müssen die Lehrinhalte
dem neuen Rahmen anpassen. Das kann ihnen kein
Ministerium abnehmen. Das gehört zur Lehrfreiheit, zur
Verantwortung der Lehrenden für die Studierenden. Ich
komme direkt von einer Universität, an der ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter die Umstellung in einem
Fachgebiet mitgestaltet habe. Das bedeutet für die Lehrenden, die inhaltlichen Schwerpunkte neu zu setzen,
Vorlesungen umzustrukturieren und gegebenenfalls neue
Lehrveranstaltungen anzubieten.
Wir dürfen doch nicht, wie das Teile der Opposition
tun, den gesamten Bologna-Prozess infrage stellen.
Bologna ist der richtige Weg zu einem leistungsorientierten und mobilen Studium: Weg von Sitzscheinen
oder Hörscheinen und hin zu Credit Points. Credit Points
gehören zu einem leistungsbezogenen Bewertungssystem. Vor einer Bewertung mittels Punkten braucht kein
Student Angst zu haben; denn das kennt er aus der
Schule.
Mit einem weiteren Irrglauben, der immer wieder hier
angeführt wird, muss einmal aufgeräumt werden. Bologna bringt keine Verschulung, sondern eine Strukturierung gerade für die Geisteswissenschaften. Bologna ist
also eine Chance für die Geisteswissenschaften, weil
Bologna Lernen mit Richtung und nicht Lernen ohne
Ziel bedeutet. Bologna ist ein Gewinn an Lebenszeit für
uns junge Menschen. Wir können früher ins Berufsleben
einsteigen, und wir können uns bewusster für eine weitere akademische Ausbildung entscheiden.
({6})
Die Rede des Bundespräsidenten war keinesfalls eine
Standpauke für uns. Bundespräsident Köhler hat festgestellt, dass der Umbau des Hochschulsystems notwendig
und ein gemeinsamer europäischer Weg richtig und zukunftsweisend seien. Auf diesem Weg befinden wir uns.
Er hat überladene Studien- und Prüfungsordnungen kritisiert, die jedoch in der Verantwortung jeder einzelnen
Hochschule liegen.
Der Bundespräsident hat mehr Ehrgeiz und mehr Mitmacher gefordert. Das heißt ein stärkeres Einbringen in
die Nachjustierung des Bologna-Prozesses. Das machen
die Hochschulen, indem sie ihre Gestaltungsspielräume
besser als bisher nutzen. Das macht die HRK mit ihren
jüngsten Beschlüssen von Leipzig. Das macht die KMK
mit ihrem Zehnpunktebeschluss. Das macht der Wissenschaftsrat mit seinen Empfehlungen. Das macht unsere
Bundesbildungsministerin, indem sie Koordinierungsaufgaben übernimmt und für April 2010 zu einem
Bologna-Gipfel eingeladen hat.
Dabei geht es um einen realistischen Zeitplan. Wir
müssen den Hochschulen doch erst einmal die Chance
geben, eine Nachjustierung voranzutreiben. Erst dann
kann ein Bologna-Gipfel überhaupt zu konkreten Ergebnissen führen. Eine Evaluation findet doch immer zum
Ende eines Semesters und nicht zu Beginn statt. Das
sollte auch die Opposition wissen.
({7})
In Richtung der Opposition: Zu der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde mit einem recht polemischen
Titel muss gesagt werden: „Bildungsproteste nicht aussitzen“ - Sie müssen nachsitzen, „Hochschulgipfel vorziehen“ - Sie müssen sich in den Bologna-Prozess einbringen, Sie müssen mitziehen. Wir sitzen gar nichts aus,
sondern setzen uns für eine sinnvolle Nachjustierung des
Bologna-Prozesses in einem realistischen Zeitplan ein.
Vielen Dank.
({8})
Kollege Schipanski, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen auch weiterhin
viel Erfolg in Ihrer Arbeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Kaufmann für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn ich mit
den Zielen der friedlich protestierenden Studierenden
teilweise sympathisiere - zum Beispiel mit dem Ziel einer stärkeren Beteiligung an der universitären Selbstverwaltung -, möchte ich Sie bitten, dem Antrag der SPDFraktion nicht zuzustimmen.
({0})
Die Probleme, Sorgen und Nöte der Studierenden sind
uns wichtig und jeden Streit wert. Die Proteste sind uns
nicht etwa lästig. Vielmehr muss die konstruktive Kritik
ein Ansporn sein, die Qualität der Bologna-Reform weiter zu verbessern.
({1})
Der anvisierte Termin für den Bildungsgipfel im
April 2010 nach dem internationalen Bologna-Gipfel ist
hierfür der richtige Zeitpunkt. Er gibt dem Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung genügend Zeit, sich intensiv mit der Thematik auseinanderzusetzen. Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, wollen Sie verhindern, dass sich
das Parlament in angemessener Weise auf diesen Bildungsgipfel vorbereitet.
({2})
Lassen Sie uns, abgesehen von aller Kritik, einen kurzen Blick auf die Ausgangssituation werfen. Im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe hat sich
Deutschland 1999 gemeinsam mit seinen europäischen
Nachbarn die Aufgabe gestellt, einen europäischen
Hochschulraum zu schaffen. Wir haben vor allem in den
letzten Jahren unter Ministerin Schavan und im Rahmen
der größten Hochschulreform seit Jahrzehnten die
Chance genutzt, mehr Beschäftigungsfähigkeit zu vermitteln und die Studiendauer zu verkürzen.
Inzwischen bietet der durch den Bologna-Prozess geschaffene europäische Hochschulraum den Studierenden
konkrete Vorteile, zum Beispiel einen leichteren Wechsel an ausländische Hochschulen. Da die Abschlüsse Bachelor und Master im Ausland wesentlich bekannter sind
als die Abschlüsse Diplom und Magister, ist es inzwischen deutlich leichter, an eine ausländische Hochschule
zu wechseln. Zahlreiche Länder haben in den letzten
Jahren ihre Hochschulsysteme entsprechend aufeinander
abgestimmt. Module und Leistungspunktesystem sowie
Diploma Supplement sorgen für Transparenz und erleichtern die Anerkennung der erbrachten Leistungen
und Abschlüsse unter den Hochschulen.
({3})
Es ist folgerichtig, dass die Kultusministerkonferenz
die Hochschulen jüngst ermuntert hat, den Ausbau strukturierter Austauschprogramme mit ausländischen Partnerhochschulen voranzutreiben. Beispielhaft für die erfolgreiche europäische Dimension der Reform will ich
hier die Universität Mannheim nennen, eine Universität
mit deutschlandweit hervorragendem Ruf. Eine Umfrage
bei den Studierenden des dortigen Bachelor-Studiengangs BWL ergab, dass sich durch die Umstellung die
Mobilität der Studierenden deutlich erhöht hat. Nebenbei bemerkt: Die durchschnittliche Studienzeit hat sich
auf 6,2 Semester und die Studienabbrecherquote auf unter 10 Prozent reduziert.
({4})
Ein weiterer Vorteil für unsere Studierenden ist die leichtere Anerkennung durch ausländische Arbeitgeber.
Vor der Bologna-Reform zeichnete sich die Hochschullandschaft in Europa durch große Vielfalt, aber
auch durch eine verwirrende Unübersichtlichkeit aus.
Der Mangel an Einheitlichkeit und Transparenz der Studiensysteme erschwerte den Vergleich und damit auch
das Studium in anderen Ländern. In einer Zeit zunehmender Internationalisierung war und ist dies nicht mehr
zeitgemäß. Gemeinsam mit den europäischen Partnern
haben wir dies vor allem zum Wohle der Studierenden,
aber auch der Wirtschaft geändert.
Zudem wurden durch die Reformen europaweite
Lernprozesse in Gang gesetzt. Die Staaten überlegen, in
welchen Bereichen sie voneinander profitieren können.
Innerhalb des Bologna-Prozesses kommen Rektoren,
Politiker und Studierende beispielsweise bei den sogenannten Bologna-Seminaren miteinander ins Gespräch
und können so die bestehenden Probleme gemeinsam
angehen.
Wie wichtig und wie weitreichend die Bologna-Reformen gewesen sind, zeigt sich allein am Teilnehmer646
kreis. 46 europäische Staaten kooperieren mittlerweile in
einem für unsere Zukunft zentralen politischen Thema.
Auch das sollten wir nicht vergessen.
({5})
Die Koalition gibt sich mit dem bisher Erreichten jedoch nicht zufrieden; denn wir dürfen die Augen vor den
berechtigten Anliegen der Studierenden und der Hochschulen nicht verschließen. Eine Reform kann nie endgültig abgeschlossen sein. Wir werden die Umsetzung
des Bologna-Prozesses deshalb evaluieren und mit den
notwendigen Anpassungen auf die Forderungen der Studierenden eingehen. Mit dem Bologna-Qualitäts- und
Mobilitätspaket werden wir die internationale Anerkennung von Studienleistungen und Hochschulabschlüssen
weiter verbessern.
Notwendig ist aber auch ein Perspektivwechsel. Der
Bologna-Prozess bietet den Studierenden außerordentliche Chancen der Entwicklung und der Teilnahme im europäischen Hochschulraum. Ich habe zahlreiche Beispiele dafür genannt, warum er ein europäischer Erfolg
ist, der in der Praxis bereits von vielen Studierenden gelebt wird. Eine Abkehr von der Bologna-Reform wäre
eine Sackgasse. Über Korrekturen werden wir im April
beim Bologna-Gipfel beraten. Bis dahin wollen wir alle
Kräfte bündeln und, statt in Aktionismus zu verfallen
und ad hoc einen Gipfel zu veranstalten, den offenen
Dialog mit den Studierenden und den Hochschulen weiterführen.
Vielen Dank.
({6})
Kollege Kaufmann, das gesamte Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede und wünscht Ihnen viel Erfolg
bei der weiteren Arbeit.
({0})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Atomwaffen unverzüglich aus Deutschland abziehen
- Drucksache 17/116 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Malczak, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Deutschland atomwaffenfrei - Bei der Abrüstung der Atomwaffen vorangehen
- Drucksache 17/122 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, man muss sich schon klar darüber sein, dass
man in der atomaren Frage immer wieder in einer Entscheidungssituation steht. Wenn die atomare Rüstung,
was die USA und andere Atommächte angeht, nicht gestoppt wird, dann ist eine Weiterverbreitung von Atomwaffen nicht zu verhindern. Das ist vorgezeichnet. Wenn
Atomwaffen weiter verbreitet werden, ist eine Debatte
über eine atomwaffenfreie Welt zwar angenehm, aber
eine Illusion. Es kommt darauf an, dass es uns jetzt gelingt, atomare Abrüstung praktisch durchzusetzen.
({0})
Daran hängt auch, ob man den Menschen endlich die
Angst nehmen kann; denn atomare Hochrüstung hat bei
vielen Menschen Angst und Protest ausgelöst. Ich finde,
wir könnten stolz darauf sein, sollten wir es durchsetzen,
dass Deutschland tatsächlich atomwaffenfrei gemacht
wird, und zwar hier und jetzt und nicht irgendwann. Die
Chancen dazu sind vorhanden.
({1})
Es ist in unserem Land viel zu wenig bekannt, dass
auch in Deutschland Atomwaffen stationiert sind. In Büchel sind immer noch amerikanische Atomwaffen stationiert. Man spricht von 20, aber so genau weiß das keiner.
Die Bundeswehr befindet sich mit der atomaren Teilhabe
nach wie vor in schlechter Gesellschaft.
Atomwaffen sind nicht nur Waffen des Kalten Krieges; dort waren sie der Kernpunkt. Ich frage mich: Gegen wen sind die Atomwaffen, die in Büchel noch immer stationiert sind, eigentlich gerichtet?
({2})
Zu Zeiten des Kalten Krieges war es relativ klar: Sie waren gegen die Sowjetunion gerichtet. Überlegen Sie einmal: Ist es vernünftig, heute noch Atomwaffen stationiert zu haben, von denen man ausgehen muss, dass sie
gegen Russland gerichtet sind? Das ist eine nicht akzeptable Position in Europa.
({3})
Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen, heißt für mich
gleichzeitig, den Kalten Krieg zu beenden und die atomare Teilhabe aufzukündigen.
Von vier Parteien gab es ein entsprechendes Wahlversprechen. Im Wahlprogramm der FDP steht, dass die
Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden sollen.
Gleiches gilt für die Grünen, die SPD und uns.
({4})
Jetzt liegen ein Antrag der Linken und ein Antrag der
Grünen vor. Ich will hier ausdrücklich erklären: Wenn es
zu einem Gruppenantrag kommen sollte, zumindest von
SPD, Grünen und uns, sind wir bereit, den eigenen Antrag zurückzuziehen. Wir wollen, dass sich eine Mehrheit im Deutschen Bundestag für den Abzug der Atomwaffen einsetzt.
({5})
Ich hätte auch nichts dagegen, wenn die FDP mitmachte.
Auch die Kollegen der CDU sind sehr herzlich eingeladen. Beteiligen Sie sich daran, die Atomwaffen aus
Deutschland zu entfernen.
({6})
Was aber nicht geht, lieber Kollege Stinner, ist, im
Wahlkampf zu versprechen, die Atomwaffen abziehen
zu lassen, und hinterher abzutauchen. Jetzt müssen Sie
ein Stück weit Farbe bekennen. Bleibt es dabei? Wann
soll es so weit sein? Sind Sie bereit, hier mit anderen
Fraktionen im Parlament zusammenzuarbeiten?
({7})
Ich will abschließend ausdrücklich den Menschen in
Büchel und der Friedensinitiative in Büchel danken.
Wenn nicht die Friedensinitiative in Büchel über die
ganzen Jahre hinweg den Abzug der Atomwaffen gefordert hätte, wäre das Thema nicht in der öffentlichen Diskussion. Meines Erachtens hat die Friedensbewegung in
diesem Land sehr viel Positives erreicht. Der Deutsche
Bundestag sollte den Respekt haben, zu sagen: Wir danken den Menschen, die sich schon immer für den Abzug
der amerikanischen Atomwaffen in Deutschland eingesetzt haben, weil sie ein atomwaffenfreies Deutschland
und möglichst auch ein atomwaffenfreies Europa wollen. Das ist unser Ziel. Dabei können wir zusammenarbeiten.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Roderich Kiesewetter.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Nicht mit dem Abzug der Atomwaffen
geht der Kalte Krieg zu Ende, verehrter Herr Kollege,
sondern heute vor 20 Jahren, auf den Tag genau, haben
Gorbatschow und Bush vor Malta das Ende des Kalten
Krieges erklärt. Das ging nur, weil vor 30 Jahren die
Union für Helmut Schmidt hartnäckig den NATO-Doppelbeschluss durchgesetzt hat.
({0})
Ihre Anträge haben aber einen gewissen Charme;
denn der unverzügliche Abzug von Atomwaffen aus unserem Land berührt Grundfragen unserer Sicherheitspolitik. Darum geht es in der Sicherheitspolitik: Beharrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und auch Mut
zu Initiativen.
({1})
Deshalb unterstützen wir von der Koalition die Prager
Vorschläge von US-Präsident Obama, seine neue Abrüstungsinitiative, aber auch seine Vision einer atomwaffenfreien Welt. Das haben wir im Koalitionsvertrag klar
zum Ausdruck gebracht. Obama sagt aber auch, dass wir
dafür lange brauchen werden. Wenn wir diese Vision erfolgreich umsetzen wollen, brauchen wir eine glaubwürdige nukleare Abschreckung - und dafür sorgen die
USA, bis wir dieses Ziel erreicht haben.
Wir werden im nächsten Jahr ein neues strategisches
Konzept der NATO haben. Zurzeit gilt noch die NATOStrategie von 1999. Wir können dem Ergebnis der Diskussion nicht vorgreifen; aber die Rolle der Atomwaffen
wird Teil dieser Diskussion sein. Ich selbst habe dies
über Jahre in Brüssel erlebt. Ich erwähne aber auch: Die
Regierungschefs haben sich beim letzten NATO-Gipfel
mit der Bedeutung nuklearer Mittel auseinandergesetzt.
Die Auffassung, dass nukleare Mittel für unsere Sicherheitsvorsorge bedeutend sind, wird noch von allen gemeinsam vertreten.
Die NATO hat Vorleistungen gebracht. Ich erinnere
daran, dass die NATO bereits im Jahr 2001 eindeutig auf
alle bodengestützten taktischen Nuklearwaffen in Europa verzichtet hat. Die wenigen verbliebenen Atomwaffen, von denen Sie eben sprachen, Herr Gehrcke,
({2})
sind in Staaten Europas stationiert, und zwar nicht nur in
Deutschland. Sie sind bislang als Rückversicherung und
als Beitrag zur Solidarität verstanden worden. Darum
geht es doch: Transatlantische Solidarität und nukleare
Teilhabe bedeuten zunächst Mitverantwortung und Mitgestaltung, aber eben auch Mitsprache. So sehen das im
Übrigen auch unsere NATO-Partner, zum Beispiel unser
Nachbarland Polen.
Wir Deutschen haben aus guten Gründen dauerhaft
auf eigene Nuklearwaffen verzichtet. Im Kalten Krieg
haben wir aber vom nuklearen Schutzschirm der USA
profitiert und waren bereit, durch die Stationierung von
Atomwaffen in Deutschland Verantwortung zu übernehmen. Dies war für uns insbesondere während des OstWest-Konflikts eine lebensnotwendige Rückversicherung.
({3})
Heute ist das Ziel einer nuklearen Abrüstung erreichbar, und es ist erstrebenswert.
({4})
Auch wir wollen den Abzug, wenn die Zeit dafür reif ist.
Wir werden das Ziel erreichen, gemeinsam im Bündnis
und mit klaren Zwischenschritten, wie wir es im Koalitionsvertrag zum Ausdruck gebracht haben. Aber ein sofortiger Abzug ohne vorherige Verhandlungen würde
- und das ist der Punkt - unsere Position als verlässlicher und bedeutender europäischer Partner gravierend
schwächen. Bündnissolidarität ist ein hohes Gut.
({5})
Heute, im Zeitalter von Terrorismus, der Gefahr einer
unkontrollierten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und nuklearer Aufrüstung, ist die Gefahr unberechenbarer geworden.
({6})
Dieser unangenehmen Realität müssen wir uns stellen.
Es gilt, neue Atommächte zu verhindern und entschieden gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen vorzugehen, auch mit Blick auf Nordkorea und Iran.
Russland hat noch taktische Atomwaffen, Kurzstreckenraketen im Gebiet von Königsberg/Kaliningrad.
Hier geht es uns nicht um Bedrohung, sondern um das
erfolgreiche Wegverhandeln der Atomwaffen in Europa.
Das gelingt aber nicht durch einen sofortigen und einseitigen Verzicht auf die bei uns stationierten Waffen. Ein
übereilter Verzicht ohne Ausloten und Aushandeln
macht uns weniger sicher und international weniger
glaubwürdig. Das dürfen wir im Interesse unserer Bevölkerung nicht zulassen, weder auf der Ostalb noch hier in
Berlin. Ich rege deshalb eine gründliche, umfassende
und verantwortungsbewusste Diskussion über deutsche
Sicherheitsinteressen an. Wo sollte diese stattfinden,
wenn nicht hier, im Parlament!
Ich bin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sehr
dankbar dafür, dass ihr Antrag im Vergleich zu dem Antrag der Linken sehr ausführlich und gut begründet ist.
Das ist konstruktiv. Dennoch gilt: Wir gehen keinen
deutschen Sonderweg. Das hat uns in der Vergangenheit
immer geschadet. Wir wollen eine gesamteuropäische
Perspektive. Wir brauchen eine ernsthafte Diskussion
über europäische Sicherheitsinteressen im Bündnis. Es
hilft nichts, erst Fakten zu schaffen und dann darüber zu
diskutieren. Umgekehrt haben wir Einfluss, und darum
geht es doch für unser Land. Im Ziel sind wir uns einig,
aber nicht über den Weg. Deshalb lehnt meine Fraktion
Ihren Antrag, wie er heute formuliert ist, ab.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({7})
Kollege Kiesewetter, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Dazu beglückwünsche ich Sie im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen recht herzlich.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Uta
Zapf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich wollte ich mit der Bemerkung anfangen, dass
ich mich darüber freue, dass ganz offensichtlich alle Parlamentarier, die hier sitzen, für eine atomwaffenfreie
Welt sind.
({0})
So habe ich das im Koalitionsvertrag gelesen.
({1})
Deshalb hat mich die Rede des Kollegen Kiesewetter etwas irritiert; denn er ist ein wenig zurückgerudert.
({2})
Sie haben natürlich recht: Wir müssen dringend über die
Frage der Sicherheitsarchitektur reden.
Ich würde aber gerne erst einmal ein Lob loswerden.
Ich finde, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag
sehr gut gelungen sind. Dort steht: Die Koalitionsparteien unterstützen weitgehende „Abrüstungsinitiativen einschließlich des Zieles einer nuklearwaffenfreien
Welt“.
({3})
Abrüstung und Rüstungskontrolle werden nicht als ein
Verlust von Sicherheit verstanden
({4})
- das wurde ja gelegentlich anders gesehen -,
({5})
sondern man betrachtet Abrüstung und Rüstungskontrolle „als zentralen Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur der Zukunft“. Ich glaube, dass dies ein ganz
wichtiger Befund ist. Das wurde in den vergangenen
Zeiten bei den Parteien, die diesen Koalitionsvertrag
ausgehandelt haben, nicht immer so gesehen. Dem stimmen wir also zu.
Ich bin auch gerne bereit, weiter zu loben, nämlich
die im Koalitionsvertrag stehende Erkenntnis, „dass
auch Zwischenschritte bei der Erreichung des Zieles einer nuklearwaffenfreien Welt wesentliche Zugewinne an
Sicherheit bedeuten können“. Ich glaube, das ist richtig.
Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir uns jetzt nicht nur
über den Abzug dieser einen Kategorie von Waffen in
Büchel verständigen, sondern über den gesamten Prozess für die Zukunft. Da kommen noch andere Aspekte
ins Spiel.
Ich denke, wir müssen im Zusammenhang mit der
Aufgabe des Nuklearschirms und der nuklearen Teilhabe
über die Strategien reden. Das müssen wir in diesem
Haus auf alle Fälle tun; das haben wir bisher verabsäumt. Immer, wenn ich hier gesprochen habe, habe ich
gesagt, dass wir die Strategien bereden müssen; aber das
haben wir in den Ausschüssen und hier in der Debatte
nie fertiggebracht. Nun steht unmittelbar bevor, dass
sich die NATO eine neue Strategie gibt. Dabei geht es im
Wesentlichen darum, welche Rolle Nuklearwaffen in
Zukunft in der Sicherheitspolitik spielen werden.
Kollege Kiesewetter, es kann nicht mehr so sein, dass
die Stationierung von Nuklearwaffen als Rückversicherung und Solidarität gilt, auch als Einflussnahme. Es gibt
einige europäische Länder, die Nuklearwaffen stationiert
hatten und diese jetzt nicht mehr haben, zum Beispiel
Griechenland. Es gibt andere Länder, die es nicht wollen, zum Beispiel Deutschland und Belgien. Ich glaube
nicht, dass diese Länder Angst haben, aus der Solidarität
der Allianz zu fallen und ungeschützt dazustehen.
({6})
Darüber muss man noch einmal nachdenken.
Es ist ganz wichtig, dass wir diese Fragen im Zusammenhang mit der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag sehen; sie steht unmittelbar bevor. Die
Überprüfungskonferenz im Jahre 2010 wird eine Schlüsselrolle spielen, wenn es darum geht, wie wir die anstehenden Fragen bezüglich der Zukunft der Nichtproliferation und der Sicherheitsarchitektur in dieser Welt lösen.
Deshalb greifen sowohl der Antrag der Grünen als auch
der Antrag der Linken zu kurz. Ich kündige hiermit an,
dass wir in der nächsten Woche einen Antrag einbringen
werden, der einen größeren Umfang hat und sich auch
auf den Nichtverbreitungsvertrag bezieht. Ich denke,
dann können wir über alle Ansätze miteinander diskutieren. Lieber Kollege Gehrcke, ob es zu einem gemeinsamen Antrag kommt, werden wir sehen. Wir hatten das
übrigens schon einmal in der Vergangenheit.
Ich würde ganz gerne auf die Frage der Strategie eingehen. Es gibt von den Verteidigungsministern, der Nuklearen Planungsgruppe und anderen aus den Jahren
2007 und 2008 Aussagen, die, wenn es um die zukünftige NATO-Strategie geht, alle darauf rekurrieren, dass
sie großen Wert auf die nuklearen Kräfte, die in Europa
stationiert und der NATO gewidmet sind, legen und dass
diese - das wurde von Ihnen, Herr Kollege Kiesewetter,
angesprochen - ein wesentliches politisches und militärisches Bindeglied zwischen Europa und Nordamerika
sind. Auch im Weißbuch ist davon übrigens noch die
Rede. Der Kollege von Klaeden hat, als er noch außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
war, genau dasselbe gesagt: „Die nukleare Teilhabe
muss Teil der deutschen Sicherheitspolitik bleiben“. Ich glaube, das müssen wir in der Zukunft infrage stellen; darüber müssen wir neu nachdenken.
Außenminister Westerwelle und Kanzlerin Merkel
sind, was ihre kräftigen Aussagen zum Abzug der nuklearen Waffen aus der Bundesrepublik und aus Europa
angeht, schon ein bisschen zurückgerudert. Herr
Westerwelle hat bei seinem Besuch der NATO in Brüssel
deutlich gemacht, dass man die Sache natürlich nur in
Kooperation mit den NATO-Mitgliedern und den Verbündeten angehen wird. Man muss dazusagen: Das wäre
auch gar nicht anders möglich.
Interessant finde ich allerdings, dass NATO-Generalsekretär Rasmussen ihm herzlich gedankt und gesagt
hat, die Sicherheit des Bündnisses stehe auf dem Spiel.
Liebe Leute, ist denn die Sicherheit des Bündnisses abhängig von den 20 oder 30 Atomwaffen in Büchel oder
von Atomwaffen, die in der Türkei oder sonst wo stationiert sind? Ist die Sicherheit überhaupt von Nuklearwaffen abhängig? Das ist der Kern des Themas, über den
wir diskutieren müssen. Auch in den USA wird über
diese Fragen diskutiert. Dort führt man gerade eine neue
„Nuclear Posture Review“ durch, die im Frühjahr nächsten Jahres, wahrscheinlich im Februar, veröffentlicht
wird. Auch darin werden solche Überlegungen angestellt.
Jetzt will ich auf einen wunden Punkt der gesamten
Diskussion hinweisen. Wenn zum Beispiel Obama sagt,
Nuklearwaffen müssten in der Sicherheitspolitik eine geringere Rolle spielen - das steht so auch im Bericht der
Perry/Schlesinger-Kommission des Kongresses, die sich
mit der zukünftigen Rolle der Nuklearwaffen beschäftigt -, es aber gleichzeitig heißt, dass man, solange
in der Welt atomare Waffen existieren, an der nuklearen
Abschreckung und an einer entsprechenden Ausrüstung
der eigenen Streitkräfte festhalten wolle, dann ist das ein
Widerspruch, der im Hinblick auf die zukünftige Diskussion über den Nichtverbreitungsvertrag geradezu tödlich
sein kann.
Wir müssen uns auch fragen: Welche Rolle sollen Nuklearwaffen spielen? Welche Aufgabe hat die NATO in
Zukunft überhaupt? Ist es nicht Blödsinn, davon auszugehen, dass man zur Erfüllung dieser Aufgabe Nuklearwaffen benötigt? Wollen wir damit Terroristen jagen,
oder was wollen wir mit ihnen machen? Wollen wir vielleicht in aller Welt mithilfe von Nuklearwaffen Interventionen durchführen? Meine Damen und Herren, das sind
sehr ernste Fragen. Wir sind gut beraten, alles zu tun, um
noch vor der Überprüfungskonferenz eine abgestimmte
Strategie zu entwickeln.
Kollegin Zapf, ich bin ein sehr geduldiger Mensch.
Aber ich bitte Sie, jetzt wirklich auf das Signal zu achten.
Ich bin gleich fertig; nur noch zwei Worte. - Wir müssen uns bemühen, uns in die Verhandlungen in New
York mit einer guten Position einzubringen, damit der
Nichtverbreitungsvertrag stabilisiert wird.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Elke Hoff
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es geht um ein außerordentlich heikles Thema, über
das wir in diesem Hohen Hause schon seit Jahren diskutieren. Ich bin sehr erfreut, dass es in diesem Parlament
überwiegend Konsens ist, dass der Abzug der Nuklearwaffen aus Europa, aus Deutschland ein wichtiges
Thema ist. Ich freue mich, dass es in der Vergangenheit
auch aufgrund der guten Zusammenarbeit zwischen den
verschiedenen Fraktionen immer wieder gelungen ist,
unsere Positionen weitestgehend anzunähern.
Ich möchte an dieser Stelle der Kollegin Zapf sehr
herzlich dafür danken, dass sie ihre Auffassung deutlich
gemacht und anerkannt hat, dass das, was in unserer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben wurde, sicherlich
auch eine Weichenstellung für die Zukunft ist. Man muss
fairerweise sagen, dass dies bei den vorherigen Bundesregierungen nicht in dieser klaren Form zum Ausdruck
gekommen ist.
({0})
Ich bin froh und auch ein Stück weit stolz darauf, dass
uns dies jetzt gelungen ist. Ich glaube, dass wir als Parlament über die Fraktionsgrenzen hinweg gut daran tun,
die Bundesregierung bei diesen Schritten zu unterstützen
und ihr Rückendeckung zu geben. Es wird sicherlich an
der einen oder anderen Stelle in Nuancen Unterschiede
geben; entscheidend ist aber, dass sich Bundesaußenminister Westerwelle in den schwierigen Gesprächen, vor
denen wir stehen, auf einen breiten Konsens im deutschen Parlament berufen kann.
({1})
Die ersten Schritte werden bereits gemacht. Das
Thema steht auch auf der Tagesordnung der NATO-Außenminister. Ich halte das für ein wichtiges Signal. Es
gibt von einer Reihe befreundeter Nationen - Belgien,
Norwegen - Signale, dass sie gemeinsam mit Luxemburg rasch in Konsultationen mit uns eintreten werden,
weil die Zielsetzungen gleich sind. Dieser Dialog ist
wichtig, um am Ende die Bündnispartner zu überzeugen,
dass dieser Schritt richtig ist. Es ist gut, dass wir hier den
Anfang gemacht haben.
Uta Zapf hat zu Recht darauf hingewiesen, dass auch
die Überprüfungskonferenz im nächsten Jahr ein ganz
wichtiges Momentum hat. Je klarer unsere Position im
nächsten Frühjahr ist und je deutlicher wir mit einem
breiten Konsens in diesem Parlament Abrüstungssignale
setzen wollen, desto leichter ist es für die Bundesregierung - desto leichter wäre es auch für die Bundesregierungen der Vergangenheit gewesen -, zu zeigen, dass
von Deutschland spürbare Signale ausgehen.
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die
Nuklearwaffen Relikte des Kalten Krieges sind. Wir
müssen so ehrlich sein, uns damit auseinanderzusetzen,
und den Mut haben, neue Wege zu gehen. Ich halte es
aber auch für richtig, dass dies, wie der Kollege
Kiesewetter klargemacht hat, nur in einem breiten Konsens erfolgen kann. Globale Abrüstung bedeutet immer,
dass man den elementaren Sicherheitsinteressen einzelner Nationen Rechnung tragen muss. Niemand kann allein einen Stein aus der Mauer ziehen; dann droht die
ganze Konstruktion zusammenzufallen. Dem Abzug gegenüber steht das Vertrauen, das aufgebaut werden muss.
Von Europa aus muss ein Signal in die Welt gehen.
Warum soll nicht Europa, warum soll nicht Deutschland
vorneweg marschieren, wenn es darum geht, unsere USamerikanischen und unsere russischen Nachbarn davon
zu überzeugen, dass wir es ernst meinen, wenn wir diesen Schritt gehen wollen, und in dieser Frage bei uns ein
breiter Konsens herrscht?
({2})
Ich hoffe, dass von hier aus, falls es zu einem gemeinsamen Antrag kommt, an dem sich auch die Opposition
beteiligt, die notwendigen Signale ausgehen, dass der
Außenminister bei diesem Thema Rückendeckung hat.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich würde mich
sehr freuen, wenn Sie die Bemühungen der Bundesregierung, dieses Ziel zu erreichen, unterstützen würden. Der
Koalitionsvertrag definiert das Ziel. Was im Moment in
Brüssel bei der NATO-Außenministerkonferenz gemacht wird, ist der erste Schritt dazu. Ich glaube, wenn
wir hier gemeinsam an einem Strang ziehen, werden wir
der deutschen Bevölkerung, der europäischen Bevölkerung und der Weltgemeinschaft zeigen können, dass Abrüstung für uns kein Lippenbekenntnis, sondern ein
ernsthaftes politisches Anliegen ist.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Agnes Malczak das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nukleare Abrüstung scheint ein nettes Thema für SonntagsAgnes Malczak
reden und Lippenbekenntnisse zu sein. Man muss sich
die Augen reiben, wenn man sieht, wer heutzutage alles
für Abrüstung ist. Abrüstung ist aber ein hartes Thema.
Es geht um die Beseitigung und Vernichtung von Waffen, nicht darum, sie wegzureden. Deshalb müssen den
Worten Taten folgen, hier in Deutschland und auf der
ganzen Welt.
Endlich besteht die Chance für einen internationalen
Abrüstungsprozess. Spätestens mit der Verleihung des
Friedensnobelpreises an den US-Präsidenten Obama und
mit seiner historischen Rede in Prag sind einmalige Rahmenbedingungen für eine atomwaffenfreie Welt geschaffen. Die größte Atommacht unterstützt diese Vision und
ist bereit, konkrete Schritte zur Reduzierung ihres Atomwaffenarsenals einzuleiten. Herr Kiesewetter, sich daran
nicht zu beteiligen, wäre ein deutscher Sonderweg und
doch reichlich abstrus;
({0})
denn wir dürfen uns nicht damit bequemen, beifällig auf
die USA zu blicken. Nukleare Abrüstung und sicherheitspolitisches Umdenken beginnen vor der eigenen
Haustür. Nur wer selbst bereit ist, ohne den vermeintlichen Schutz von Atomwaffen zu leben - ich finde, das
ist kein Schutz, sondern ein Sicherheitsrisiko -, kann
von anderen verlangen, dass sie dies auch tun. Deshalb
muss die Bundesregierung endlich den Weg für ein
atomwaffenfreies Deutschland und ein Deutschland
ohne nukleare Teilhabe freimachen.
({1})
Im Koalitionsvertrag habe ich wirklich nur wenig Gutes und Sinnvolles gefunden. Doch ich habe einen Satz
entdeckt, der mich sehr gefreut hat. Ich zitiere aus dem
Koalitionsvertrag:
… im Zuge der Ausarbeitung eines strategischen
Konzeptes der NATO werden wir uns im Bündnis
sowie gegenüber den amerikanischen Verbündeten
dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.
({2})
Daran möchten wir Grüne Sie jetzt freundlich, aber auch
mit Nachdruck, erinnern.
({3})
Es ist auch zu begrüßen, dass der Außenminister mit
Hillary Clinton über dieses Thema gesprochen hat.
Doch nun muss etwas geschehen, insbesondere, da
die USA eine Modernisierung ihrer Atomwaffen beschlossen haben. Im Haushaltsjahr 2010 sollen mindestens 32,5 Millionen US-Dollar investiert werden, um zu
untersuchen, wie atomare Fliegerbomben des Typs B 61
modernisiert werden können. Beim Jagdbombergeschwader 33 der Luftwaffe in Büchel in Rheinland-Pfalz
lagern Waffen genau dieses Typs im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO.
Anfang 2010 wird die US-Regierung den Bericht zur
Zukunftsplanung des US-Nuklearwaffenpotenzials vorlegen, und sie könnte dort nach Ansicht von Experten
bestätigen, dass eine neue Bombe erforderlich ist. Dann
sollen weitere 15 Millionen US-Dollar zur Verfügung
gestellt werden.
Deshalb muss die Bundesregierung nun dringend
Fakten schaffen. Es geht nicht, abzuwarten, bis es zu
spät ist. Die Bundesregierung sollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, um ihr Image und auch das
der vorherigen Bundesregierung, immer nur alles auszusitzen und zu reagieren, wenigstens in diesem Punkt zu
widerlegen.
({4})
Das Motto der Stunde ist daher: Taten statt Warten.
Deshalb muss der Abzug der US-Atomwaffen aus
Deutschland unverzüglich angepackt werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Kollegin Malczak, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu gratulieren wir Ihnen recht herzlich, und ich gratuliere Ihnen auch persönlich für die
erste Rede. Es schaffen nicht viele Kolleginnen und Kollegen, von vornherein in der Redezeit zu bleiben.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Karl
Lamers das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt steht auf der
Agenda vieler Länder, auch auf der der Bundesrepublik
Deutschland.
({0})
Der Konsens darüber erstreckt sich auf alle Fraktionen
dieses Hohen Hauses.
Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat sich in der
Koalitionsvereinbarung zu diesem Ziel ausdrücklich bekannt. Im Zuge der Ausarbeitung - Frau Malczak, hier
stimme ich Ihnen voll zu; Sie haben es richtig zitiert eines neuen strategischen Konzepts der NATO werden
wir uns im Bündnis und gegenüber den amerikanischen
Verbündeten dafür einsetzen, dass die in Deutschland
verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden.
({1})
Dr. Karl A. Lamers ({2})
Hier können Sie ganz beruhigt sein, auch Frau Zapf und
Herr Gehrcke. Genau das, was wir in unserem Vertrag
niedergelegt haben, tun wir.
({3})
Herr Kollege Kiesewetter, wir unterstützen in der Tat
die Vision des amerikanischen Präsidenten Barack
Obama und seine Politik für neue Abrüstungsinitiativen,
wie er sie in seiner Prager Rede beeindruckend dargelegt
hat. Dazu gehört auch das Ziel einer nuklearwaffenfreien
Welt. Wir sind überzeugt, dass auch Zwischenschritte
auf dem Weg dahin einen wesentlichen Zugewinn an Sicherheit bedeuten können.
({4})
Wir wollen verhindern, Frau Zapf, dass neue Nuklearmächte entstehen und neue nukleare Rüstungswettläufe
ausgelöst werden. Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt
bedeutet allerdings, dass niemand Atomwaffen besitzt.
({5})
Wir wissen jedoch, dass es offizielle und inoffizielle
Atomwaffenstaaten gibt. Wir wissen auch, dass weitere
Staaten - zum Beispiel der Iran und Nordkorea - nach
Atomwaffen streben, ohne dass sie bereit sind, dies öffentlich zuzugeben. Sie sind für uns ständiger Anlass zu
Sorge, weil ihre Bemühungen um die Schließung des
Brennstoffkreislaufes weit über das hinausgehen, was
man für die zivile Nutzung der Kernenergie benötigt.
Deutschland hat bereits vor Jahrzehnten auf jegliche
Nuklearbewaffnung verzichtet.
({6})
Die NATO mit ihrer Defensivstrategie hat in der Zeit des
Kalten Krieges Stabilität, Sicherheit und Frieden garantiert. In der Hochzeit des Kalten Krieges gab es nach
öffentlich zugänglichen Informationen circa 7 300 Nuklearwaffen allein in Europa. Bis 1992 sank die Zahl auf
circa 700. In der Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Clinton wurde die Zahl der Nuklearwaffen in Europa
auf 480 reduziert, davon gab es circa 170 in Deutschland. Heute gibt es nur noch eine kleine Zahl von Nuklearwaffen in Rheinland-Pfalz.
Frieden schaffen mit weniger Waffen. Nicht Proteste
und Demonstrationen schaffen dies, sondern eine vernünftige Politik, die wir über Jahre und Jahrzehnte hinweg in Deutschland und im Bündnis gestaltet haben.
({7})
Die Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten
der NATO haben sich beim vergangenen NATO-Gipfel
auf die Fortschreibung des gültigen NATO-Strategiekonzepts geeinigt. Klar ist, dass die Änderungen bzw. Neuregelungen im künftigen strategischen Konzept des Konsenses im Bündnis bedürfen. Auf diesem Wege werden
wir dafür eintreten, die restlichen Nuklearwaffen aus
Deutschland abzuziehen. Wir setzen damit auf eine enge
Abstimmung und auf ein gemeinsames Handeln in der
NATO. Wir sind entschlossen, die Chancen des transatlantischen Bündnisses zu nutzen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verweist darauf,
dass die damalige rot-grüne Koalition seinerzeit beschlossen hat, keine neuen nuklearwaffenfähigen Trägersysteme zu beschaffen. An dieser Entscheidung wird
sich auch unter der jetzigen Koalition nichts ändern. Wir
sind uns einig, in Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten zu erreichen, die sich noch in Deutschland befindlichen wenigen Nuklearwaffen abzuziehen.
Allerdings können wir nicht alles mit unterschreiben,
was die grüne Fraktion sonst noch in ihrem Antrag untergebracht hat. Ich kann zum Beispiel überhaupt nicht
nachvollziehen, warum die Bundesregierung aufgefordert wird, sich dafür einzusetzen, dass die - ich zitiere „Drohung eines Atomwaffeneinsatzes gegen Nichtatomwaffenstaaten“ überwunden wird.
({8})
Ich frage Sie: Wann hat denn die NATO jemals irgendjemanden bedroht?
({9})
Sie hat doch nur für den Fall eines Angriffs auf das
Bündnisgebiet einem potenziellen Aggressor militärische Maßnahmen angekündigt, und zwar unter Inanspruchnahme des Rechts der kollektiven Selbstverteidigung.
({10})
Das ist das legitime Recht aller Staaten und auch von
Verteidigungsbündnissen. Dieses legitime Recht besteht
weiterhin.
({11})
Meine Damen und Herren, für mich steht fest, dass in
Bezug auf die wenigen in Deutschland verbliebenen Nuklearwaffen der NATO eine Lösung herbeigeführt werden muss. Wir sollten und dürfen uns allerdings nicht auf
einen nationalen Alleingang einlassen - Herr Kollege
Kiesewetter, da stimme ich Ihnen vollkommen zu - oder
gar versteifen.
Die NATO-Strategie kann und darf von uns nicht aufgekündigt werden. Das hat sogar die rot-grüne Koalition
seinerzeit eingesehen, als sie vom „perspektivischen
Ende der nuklearen Teilhabe“ sprach. Im Konsens werden wir meiner Überzeugung nach unser Ziel durchaus
erreichen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden. Das ist dann wiederum ein
Schritt auf dem Weg zu unserem gemeinsamen Ziel einer atomwaffenfreien Welt.
Lassen Sie mich enden mit einem Satz von Immanuel
Kant, der einmal gesagt hat:
Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft.
Dr. Karl A. Lamers ({12})
An einem solchen „Meisterstück der Vernunft“ bauen
wir.
({13})
Alles, was in Bezug auf NATO-Strategie, Stabilität und
Sicherheit getan wird, hat ganz direkt mit diesem „Meisterstück“ zu tun.
Ergebnis: Den Anträgen können wir nicht zustimmen.
In der Sache erkennen wir aber durchaus Richtiges.
Ich danke.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/116 und 17/122 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und b sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Petra Hinz ({0}), Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Brain Waste stoppen - Anerkennung ausländischer akademischer und beruflicher Qualifikationen umfassend optimieren
- Drucksache 17/123 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Nicole Gohlke, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine zügige und umfassende Anerkennung
von im Ausland erworbenen Qualifikationen
- Drucksache 17/117 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz, Katja Mast, Olaf Scholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Durch Vorrang für Anerkennung Integration
stärken - Anerkennungsgesetz für ausländische Abschlüsse vorlegen
- Drucksache 17/108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei uns
leben inzwischen fast 3 Millionen Menschen, die einen
im Ausland erworbenen Abschluss haben, darunter circa
800 000 Akademikerinnen und Akademiker. Der größte
Teil von ihnen arbeitet weit unter seinem Qualifikationsniveau. Viele sind völlig vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.
Wir wissen doch längst, dass wir bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse in Deutschland inzwischen unhaltbare Zustände haben und dass wir den Anerkennungswirrwarr endlich überwinden müssen.
({0})
Dieser Wirrwarr ist nicht nur extrem ungerecht gegenüber den Betroffenen, sondern er zeigt auch langjährige
integrationspolitische Versäumnisse.
Mit Blick auf die demografische Entwicklung, den
drohenden Fachkräftemangel, unsere Sozialsysteme und
das Steueraufkommen ist es schlicht ein Gebot der gesamtgesellschaftlichen politischen Vernunft, dass man
hier endlich etwas tut, damit in dieses Anerkennungsdickicht Ordnung hineinkommt.
({1})
Grenzübergreifende Mobilität wird - das wissen wir
alle - in Zukunft eher zunehmen als abnehmen. Denken
Sie nur an die große Anzahl von binationalen Ehen bei
uns. Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
brauchen eine reale Chance, dass sie mit ihren im Ausland erworbenen Abschlüssen bei uns etwas anfangen
können, sondern auch die Wirtschaft hat ein Interesse
daran, dass die bestehenden intransparenten und ineffizienten Verfahren grundlegend geändert werden.
Was muss geschehen? Wir brauchen einen gesetzlichen Rechtsanspruch auf ein schnelles, transparentes
und gerechtes Anerkennungsverfahren. Wenn ich
„schnell“ sage, dann meine ich selbstverständlich nicht
„schnelle Ablehnung“. Denn wir wollen die qualifizierten Menschen tatsächlich integrieren. Dass die Ausbildung im Ausland etwas anders verlaufen ist, heißt noch
lange nicht, dass sie nicht gleichwertig sein kann. In anderen Ländern sind schließlich nicht alle doof, und es ist
auch nicht so, dass nur wir in Deutschland wissen, wie
es geht.
Bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse muss
Schluss damit sein, dass verschiedene Gruppen unterschiedlich behandelt werden.
({2})
Die Unterscheidung zwischen Spätaussiedlern, EU-Bürgern und Drittstaatenangehörigen hat bei diesem Verfahren nichts zu suchen.
({3})
Ein Rechtsanspruch auf ein solches Verfahren muss
auch unabhängig davon gelten, ob es um reglementierte
oder nichtreglementierte Berufe geht. Wichtig ist auch:
Das Ergebnis eines Anerkennungsverfahrens muss bundesweit gelten. Es muss in jedem Bundesland anerkannt
werden. Bei einer Teilanerkennung muss es eine verbindliche Auskunft darüber geben, welche Anschlussqualifizierung zu einer Vollanerkennung führen kann.
Ein solches Verfahren sollte nicht länger als sechs Monate dauern. Es muss auch vom Ausland betrieben werden können; denn wir wollen nicht, dass die Menschen
hier bei uns jahrelang arbeitslos sind.
Wir müssen weg von dem Anlaufstellenwirrwarr. Die
Betroffenen brauchen klare Ansprechpartner und eine
gute Beratung, welche Anschlussqualifizierungen sinnvoll sind. Dabei darf nicht nur von ihren Abschlüssen,
sondern es muss auch von ihren realen Kompetenzen
ausgegangen werden. Wir müssen mehr Angebote schaffen, zum Beispiel fachsprachliche Angebote; denn viele
sind fachlich gut, können sich aber nicht so gut in ihrer
Fachsprache ausdrücken. Eine reale Teilnahme an Anschlussqualifizierungen muss ermöglicht werden. Das
heißt, wir brauchen hier eine Förderung mit Maßnahmen
der Arbeitsmarktintegration und eine Weiterbildungsförderung.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Wahlkampf haben alle Parteien gesagt: Hier muss etwas geschehen. Die Bundesregierung will jetzt ein Eckpunktepapier vorlegen. Ich bin sicher: Auf dem Weg von den Eckpunkten
bis zu guten gesetzlichen Regelungen und besseren Angeboten wird sich noch mancher Stolperstein zeigen.
Deswegen glaube ich, es ist wichtig, dass das Parlament
und die Fachausschüsse diesen Prozess aktiv begleiten.
Wenn wir uns gemeinsam hineinknien, haben wir eine
Chance, im nächsten Jahr endlich etwas Vernünftiges
hinzubekommen.
({5})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei
der Bundesministerin für Bildung und Forschung
Dr. Helge Braun.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Diese Debatte muss nicht zwangsläufig im Dissens verlaufen. Wenn Sie die Historie dieses Themas sehen, dann
stellen Sie fest, dass es schon in der letzten Legislaturperiode zahlreiche Anträge und Anfragen zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse in Deutschland gegeben
hat. Im Mai 2008 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung einen Sachstandsbericht zu diesem
Thema abgegeben.
({0})
Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat darüber hinaus das Thema im Koalitionsvertrag verankert und hat
mit Hinweis auf den zunehmenden Fachkräftemangel in
Deutschland das Ziel formuliert, dass niemand unterhalb
seiner Qualifikation in Deutschland beschäftigt werden
soll.
({1})
Deshalb sprechen wir uns für die Einführung eines gesetzlichen Anspruchs auf ein Bewertungs- und Anerkennungsverfahren aus. Die Koalition ist sich darüber
hinaus über das Ziel einig, die Ergänzungs- und Anpassungsqualifizierungsmaßnahmen in Deutschland auszuweiten, sodass diejenigen, die nicht unmittelbar eine Anerkennung erhalten können, im Wege eines Ergänzungsund Anpassungsqualifizierungsverfahrens eine Anerkennung erreichen können.
Darüber hinaus ist der Ausbau der Datenbestände
wichtig. Im Hinblick auf die von der Opposition eingebrachten Anträge muss ich sagen: So schnell, wie es hier
suggeriert wird, wird es an einigen Stellen nicht gehen.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie
verfügt zwar bereits über Datenbestände betreffend die
berufliche Ausbildung in anderen Ländern. Aber es bedarf eines relativ großen Aufwands, die Curricula fremder Abschlüsse in Deutschland umfangreich zu katalogisieren und so ein gleichwertiges und verlässliches
Anerkennungsverfahren zu ermöglichen.
Die Bundesministerin für Bildung und Forschung
wird in Kürze ein Eckpunktepapier in das Kabinett einbringen, in dem die wesentlichen Ziele eines Anerkennungsverfahrens definiert sind und die wesentlichen
Schritte hin zur Umsetzung respektive Durchführung
dieser Verfahren skizziert sind. Dieses Eckpunktepapier
wird dann Grundlage für die Erarbeitung eines Referentenentwurfs sein. Aber schon die Erfahrungen in der
Europäischen Union zeigen: Die Struktur der beruflichen Qualifikation ist ausgesprochen unterschiedlich.
Deshalb ist die Umsetzung eines solchen Anerkennungsverfahrens in der Praxis alles andere als trivial.
Im Unterschied zu dem vorliegenden Antrag der Linken muss ich deutlich sagen: Beim Anerkennungsverfahren sind der Wunsch und der Wille der Integration
sowie gute Arbeitsmarktchancen für Menschen mit Migrationshintergrund der eine Anspruch, den wir erfüllen
müssen. Der andere betrifft die Sicherung des Qualitätsniveaus der Abschlüsse in Deutschland.
({2})
Die Verfahrensansprüche, die wir hier in ein Gesetz
schreiben wollen, müssen natürlich auch mit Strukturen
unterlegt werden, welche die Chance bieten, dass wir
diese einlösen. Deshalb brauchen wir - davon bin ich
überzeugt - ein umfassendes Anerkennungsmanagement. Das beginnt mit der Information der Migranten,
geht weiter über Beratung und die Anerkennungsbewertung und endet - ich habe es bereits angesprochen - mit
den ergänzenden Weiterbildungsangeboten. Bei jedem
dieser Schritte sind die Fragen zu beantworten: Wer
macht es, wo macht er es, und wie macht er es? Das ist
also ein insgesamt nicht triviales Verfahren.
Deshalb wird die Bundesregierung im Anschluss an
den Beschluss der Eckpunkte den Weg weitergehen, der
im Grunde genommen schon im Oktober 2008 mit der
Qualifizierungsinitiative für Deutschland begonnen
wurde. Seitdem arbeitete eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe intensiv an Empfehlungen. Diese liegen seit September vor und sind in die Eckpunkte des Kabinetts für
die nächste Woche eingegangen. Auf Grundlage dieses
Eckpunktebeschlusses können wir dann dazu übergehen,
einen Konsens zwischen allen beteiligten Akteuren herzustellen. Das sind nicht gerade wenige. Wir brauchen
an dieser Stelle als Partner die Wirtschaft, die Kammern,
die Länder, die Berufsverbände, die Hochschulen und
die Bildungsträger; denn nur wenn alle an einem Strang
ziehen, haben wir am Ende ein Anerkennungsverfahren,
das die hohen Ansprüche, die auch Sie, Frau Sager, eben
definiert haben, tatsächlich erfüllt. Deshalb ist es richtig,
dass wir zunächst den Eckpunktebeschluss des Kabinetts
abwarten und es dann Ende 2010, wenn der zweite Umsetzungsbericht an die Regierungschefs des Bundes und
der Länder ansteht, zu einem Referentenentwurf kommt.
Wir sind uns, denke ich, einig: Niemand soll unterhalb seiner Qualifikation beschäftigt werden. Das ist ein
hohes Ziel. Der Erhalt der hohen Qualität der Abschlüsse in Deutschland ist ein zweites hohes Ziel. Diese
beiden in einem transparenten, einfachen und verlässlichen Verfahren zusammenzuführen, ist das Ziel dieser
Koalition und damit auch das Ziel der Bundesregierung.
Deshalb bitte ich Sie, sich in Gelassenheit an dem parlamentarischen Verfahren zu beteiligen und nicht mit Forderungen, die ein vernünftiges Ergebnis torpedieren, zu
schnell über das Ziel hinauszuschießen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 7 200 Taxen bringen uns in Berlin von A nach B.
Im Gespräch mit den Taxifahrerinnen und Taxifahrern
stellt man oft fest: Das ist ja eine Ärztin aus der Türkei,
ein Ingenieur aus Osteuropa oder ein arabischer Facharbeiter. Was haben diese Taxifahrer aus Berlin mit dem
heutigen Tagesordnungspunkt 7 zu tun? Viel mehr, als
uns allen lieb ist; denn viele Menschen aus anderen Ländern arbeiten hier bei uns in Deutschland in Jobs, die
weit unter ihrer Qualifikation liegen.
Gleichzeitig - jetzt wird es paradox - beklagt sich die
Wirtschaft über Fachkräftemangel, und die Volkswirtschaftler sagen uns klar und deutlich: Je mehr Fachkräfte
wir beschäftigen, desto mehr Jobs haben wir in Deutschland. - Glauben Sie mir: Als Abgeordnete aus BadenWürttemberg kenne ich das sehr gut; denn Fachkräftemangel ist bei uns auch in Zeiten der Krise in aller
Munde.
Deshalb muss der Deutsche Bundestag handeln. Wir
müssen einen Weg finden, um die Abschlüsse aus dem
Ausland schnell und zuverlässig anzuerkennen. Das ist
ein zentraler Schritt, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Es ist aber auch ein wichtiger Schritt hin zu einer gelungenen Integration von in Deutschland lebenden
Migrantinnen und Migranten.
({0})
Die bisherigen Regelungen zur Anerkennung von im
Ausland erworbenen Abschlüssen gehen völlig an der
Realität vorbei. Ein verwirrendes Geflecht aus Zuständigkeiten führt bislang, wenn überhaupt, zu langwierigen Anerkennungsverfahren, die immer - ich betone:
immer - auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen
werden, zu oft aber auch scheitern.
Damit wollen wir, die SPD-Bundestagsfraktion,
durch unseren Antrag Schluss machen. Wir wollen ein
Anerkennungsgesetz, das jedem - übrigens auch Deutschen, die im Ausland eine Qualifikation erworben haben - ein geordnetes Anerkennungsverfahren ermöglicht. Damit einhergehen müssen ein Rechtsanspruch auf
ein solches Verfahren und vor allen Dingen klare Fristen;
nach spätestens sechs Monaten sollte ein solches Verfahren abgeschlossen sein. Ergebnis muss sein, dass von
Freiburg bis Flensburg oder von Flensburg bis Freiburg
einheitliche Regeln bei der Anerkennung der Abschlüsse
gelten, und zwar unabhängig davon, welche Nationalität
im Pass steht.
Wir bleiben mit unserem Antrag unserer Linie treu;
denn der ehemalige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz
hat Anfang dieses Jahres Eckpunkte für ein Anerkennungsgesetz vorgelegt. Die amtierende Bundesregierung
kann auf diese Eckpunkte gerne zurückgreifen. Wenn sie
das täte, wären wir in unserem Verfahren schon einen
Schritt schneller.
Die Opposition hier im Deutschen Bundestag ist sich
im Grundsatz einig; das zeigen die drei Anträge von
heute. Allerdings will die SPD einige Schritte weiter gehen: Wir wollen ein Einstiegs-BAföG, damit Qualifika656
tionen nachträglich erworben werden können, und die
Einbeziehung nichtformaler Qualifikation.
Stimmen wir nicht überein? Fachkräftemangel beseitigen wir besonders klug, wenn wir die in unserem Land
brachliegenden Qualifikationen und auch Lebensleistungen der Menschen anerkennen. Diese Anerkennungskultur ist Wertschätzung. Diese Anerkennungskultur ist
echte Integration. Diese Anerkennungskultur schafft gute
Arbeit. Ich sage selbst jenen, die sich für die derartige Anerkennung nicht erwärmen können: Auch volkswirtschaftlich ist eine solche Politik sinnvoll.
Die Bundesregierung fordere ich auf: Legen Sie uns
ein Anerkennungsgesetz vor. Die Eckpunkte sind bereits
in der politischen Debatte. Dann sind wir gemeinsam auf
der Höhe der Zeit, und Deutschland wird in ganz Europa
Leuchtturm in Sachen Anerkennungskultur.
Vielen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Sibylle
Laurischk das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Thema Integration bleibt weiterhin ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen für uns alle. Integration gelingt besonders dann, wenn Menschen Arbeit haben,
wenn sie an einem Arbeitsplatz ihre Fähigkeiten und ihr
Können einbringen können und sich damit in die deutsche Gesellschaft hineinbewegen. Deswegen ist es für
uns nicht erst seit dem Abschluss des Koalitionsvertrags
ausgesprochen wichtig, dass wir die Anerkennung von
Berufs- und Bildungsabschlüssen, die Menschen im
Ausland erworben haben, voranbringen.
In Deutschland gibt es ein Wirrwarr, eine große Kompetenzunklarheit, gerade aufgrund der unterschiedlichen
Zuständigkeiten der Bundesländer. Ich glaube, wir haben
mit unserem Antrag „Lebensleistung von Migrantinnen
und Migranten würdigen - Anerkennungsverfahren von
Bildungsabschlüssen verbessern“ schon vor einem Jahr
deutlich gemacht, dass dieses Thema nicht länger auf
sich warten lassen kann und dass schon die alte Bundesregierung sehr gefordert war. Ich hätte mir gewünscht,
Frau Mast, dass der damals zuständige Minister so aktiv
geworden wäre, wie Sie es nun empfehlen.
({0})
Insofern freue ich mich natürlich, dass die Opposition, sogar geschlossen, unsere Initiative begleiten will
und ein Anerkennungsgesetz fordert, wie wir es im Koalitionsvertrag umrissen haben. Wir wollen das umsetzen. Ich glaube, wir haben wirklich begriffen, dass diese
Umsetzung dringend notwendig ist und dass es für Menschen, die nach Deutschland kommen, immer wieder
schmerzlich ist, festzustellen, dass sie das, was sie im
Ausland studiert haben und was sie an Fähigkeiten, auch
durch praktische Tätigkeiten, im Ausland erworben haben, hier nicht zur Anwendung bringen können, sodass
sie hier möglicherweise weit unter Qualifikation arbeiten
müssen. So kann das nicht weitergehen. Da haben wir
unsere Zielsetzung ganz klar formuliert.
Wir leisten damit einen ganz wichtigen Beitrag zur
wirtschaftlichen Integration. Wir sollten auch sehen,
dass hier Möglichkeiten zur erfolgreichen, zur positiven
Integration bestehen.
Integration ist nicht nur ein Problemfeld, sondern es
ist wirklich auch ein Feld mit Chancen. Gerade Menschen, die ihre Fähigkeiten einbringen können, sind positiv zu begleiten und zu unterstützen. Wenn wir hier aus
dem Bundestag heraus geschlossen agieren, dann sind
wir, was das Thema Integration angeht, auf einem guten
und richtigen Weg.
Danke.
({1})
Die Kollegin Sevim Dağdelen hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben hier heute in der Aktuellen Stunde
noch einmal vergegenwärtigt bekommen, dass in
Deutschland für den Lebensweg und auch für die Bildungskarriere immer noch der Geldbeutel oder auch die
Herkunft entscheidend ist. Auch deshalb haben wir Linken bereits 2007 als erste Fraktion konkrete Vorschläge
zur erleichterten Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufs- und Bildungsabschlüssen vorgelegt. Alle
anderen Fraktionen dieses Hauses fanden dieses Anliegen wichtig und richtig, nur lösen wollte das Problem
dann doch niemand, außer den Linken.
So wurde unser Antrag noch im Januar dieses Jahres
von Ihnen allen abgelehnt. Doch, siehe da, fünf Monate
nach der Ablehnung unseres Antrages - der Wahlkampf
rückte ja näher - gab es dann ein gemeinsames Eckpunktepapier der zuständigen Bundesministerien. - Die Linke
wirkt also!
({0})
Der Skandal aber ist, dass die Große Koalition mit ihrem gesamten Ministerialapparat innerhalb von vier Jahren nicht mehr geschafft hat als lediglich Eckpunktepapiere.
Spätestens seit dem „Sechsten Bericht über die Lage
der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“ vom
Juni 2005 hätte Ihnen dieses Problem bekannt sein müssen, und man hätte auch erwarten können und dürfen,
dass Sie handeln, aber auch das folgte nicht.
Für die Betroffenen ist es wirklich schon zynisch,
wenn die SPD nun in ihrer Antragsbegründung über die
Zeit ihrer Regierungsverantwortung von „Stagnation“
schreibt. Die Gefahr des sozialen Abstiegs hat sich dadurch für viele Migrantinnen und Migranten in den letzten vier Jahren nicht nur vergrößert, sondern diese Gefahr ist auch Realität geworden. Die Erwerbsbiografien
und auch die Qualifikationen dieser Menschen sind immer weiter entwertet worden. Vier Jahre Dequalifizierung, vier Jahre Diskriminierung und auch vier Jahre
Ablehnung, wie Sie selbst in Ihrem Antrag richtigerweise schreiben. Das haben Sie von der SPD allerdings
leider auch mitzuverantworten.
({1})
Und was noch schlimmer ist: Die bereits bestehenden
gutachterlichen Anerkennungsverfahren durch die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen haben sich
durch die massiven Kürzungen bei den personellen Ressourcen der Länder um bis zu 40 Prozent sogar noch verschlechtert. Das musste die Bundesregierung auf meine
schriftliche Frage hin sogar einräumen. Auch das ist ein
Skandal.
({2})
Nun aber haben sich die CDU, die CSU und die FDP
in ihrem Koalitionsvertrag dieses Anliegen sozusagen
auf ihre Fahne geschrieben. Doch die Linke wird und
will nicht zulassen, dass noch einmal vier Jahre vergehen, bis diese Benachteiligung von rund einer halben
Million Migrantinnen und Migranten endlich beseitigt
wird. Deshalb möchten wir Ihnen mit unserem Antrag
noch einmal Beine machen.
({3})
Denn die Integrationsbeauftragte, Frau Böhmer - sie
ist ja heute anwesend -, hat zwar immer wieder betont,
dass die unzureichende Anerkennung bzw. die Nichtanerkennung von ausländischen Hochschulabschlüssen und
von Qualifikationen ein „Skandal“ sei, der „schnellstmöglich beendet“ werden müsse, aber auch hier folgten
den Worten keine Taten.
Bedauerlich ist auch, dass die zwischenzeitlich vorgesehene Möglichkeit einer Approbation in Heilberufen
für Migrantinnen und Migranten ebenso aus dem Entwurf des Koalitionsvertrages herausgefallen ist wie auch
die Sechsmonatsfrist für das Anerkennungsverfahren.
Das ist sehr bedauerlich.
Deshalb teilen wir das Misstrauen der Grünen, die
ebenfalls ganz offenkundig bei dieser Bundesregierung
nicht auf die Einsicht in das Notwendige warten wollen,
und deshalb erneut unser Antrag mit zwingenden Mindestforderungen für diesen Bereich.
Warum die Grünen allerdings unserem Antrag im
Januar 2009 nicht zugestimmt haben, bleibt ihr Geheimnis. Aber wir freuen uns selbstverständlich, wenn die
Linke auch bei den Grünen hin und wieder wirkt.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat Marcus Weinberg das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kollegin von der Fraktion Die Linke, Sie
wollen mir ja Beine machen; aber wie Sie hoffentlich gesehen haben, habe ich schon welche, und Sie werden in
den nächsten Monaten sehen, wie schnell diese Beine
laufen können.
Ich will ausdrücklich bemerken, dass die Debatte über
dieses Thema, die wir heute nicht zum ersten Mal führen,
({0})
wichtig ist. Sie ist übrigens auch zu diesem Zeitpunkt
wichtig; denn wir werden in den nächsten Tagen erleben,
dass das Kabinett sich mit diesem Thema beschäftigt. Insofern ist es immer richtig, wenn - lex legis - die Legislative vorher klar bekundet, was sie erwartet. Es ist im
laufenden Prozess immer richtig, zunächst Eckpunkte zu
entwickeln und klarzumachen, wo das Parlament steht,
um dann über die Regierung verantwortlich ein Gesetz
zu entwickeln, das dann im Bundestag beschlossen wird.
Denn ich glaube, wir alle - angefangen bei Frau Sager
bis hin zu der Kollegin von der FDP und der Kollegin
von der SPD - sind uns einig,
({1})
dass es nicht hinnehmbar ist, dass das Potenzial und die
Qualifikationen von Zugewanderten der Wissenschaft
und damit auch dem Arbeitsmarkt verloren gehen. Es ist
für uns auch nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die
selbst für ihre Ausbildung und den Erwerb von Berufsqualifikationen gesorgt haben, nicht in diesem Beruf arbeiten können. Sozialpolitisch, gesellschaftspolitisch
und arbeitsmarktpolitisch ist das also nicht tragbar. Ich
teile ausdrücklich eine Bemerkung von Frau Sager von
den Grünen, dass es auch einige integrationspolitische
Versäumnisse gibt. Diese liegen durchaus auf unser aller
Schultern.
Aber jetzt können wir zügig ein Gesetz verabschieden, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass uns die
Entwicklung durch den demografischen Wandel und den
daraus entstehenden Fachkräftemangel dazu zwingen
wird, in den nächsten Jahren gesellschaftlich anders mit
diesem Thema umzugehen. Wir reden immer über sehr
abstrakte Zahlen: Wir reden über 500 000 zugewanderte
Akademiker, die nicht in ihrem Beruf arbeiten können;
insgesamt erfahren über 1 Million Menschen keine angemessene Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikation. Das sind aber alles einzelne Menschen, die in ihrem
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Marcus Weinberg ({2})
persönlichen Fortkommen in dieser Gesellschaft gehindert werden. Das ist ein Integrationshemmnis.
Deswegen ist es richtig, dass wir damals in der Großen Koalition - gemeinsam mit mehreren Ministerien; es
waren übrigens CDU/CSU-geführte Ministerien - angefangen haben, diese Eckpunkte zu entwickeln. Das setzen wir jetzt in der Koalition mit der FDP fort. Es geht
uns dabei um die Frage der Integration von Beschäftigten sowie der Integration im Bildungsbereich, auch mit
der Zielsetzung der Durchlässigkeit. Der Koalitionsvertrag wurde bereits angesprochen. Darin haben wir mit
unserem Regierungspartner vereinbart und uns verpflichtet, Unterschiede in den Bildungsstandards und bei
der Bewertung von Bildungsabschlüssen zu beseitigen.
Das heißt, wir wollen vergleichbare Lernerfolge in
Deutschland und international schaffen.
Es ist nicht so, dass in der Vergangenheit nichts geschehen wäre. Auch das muss man deutlich sagen. Ich
erinnere daran, dass die Zentralstelle für ausländisches
Bildungswesen, die von der KMK eingerichtet wurde
und für die Bewertung und Einstufung ausländischer
Bildungsnachweise zuständig ist, im Frühjahr dieses
Jahres mit der Zeugnisbescheinigung auch für Privatpersonen begonnen hat.
({3})
Man kann lange darüber diskutieren, wie effektiv die
ZAB arbeitet. Sie hat aber eine Reihe von Funktionen,
zum Beispiel die Vorbereitung bilateraler Abkommen
({4})
- ich zähle nur auf, was sich verändert hat - oder dass
Universitäten und Institutionen die ZAB als Berater oder
Dienstleister in Anspruch nehmen können, beispielsweise wenn es um Stipendien geht.
Zweiter Punkt. Mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen oder dem Kreditpunktesystem für die berufliche
Bildung wird ein System der Vergleichbarkeit etabliert.
Vorhin haben viele gelacht, als es um dieses Kreditpunktesystem ging. Ich kann nur sagen: Das ist der Prozess
der Zukunft, und es wäre für das Fortkommen vieler
Menschen, die heute noch keine Anerkennung haben,
gut gewesen, wenn es dieses Kreditpunktesystem bereits
gegeben hätte.
({5})
Bis 2010 wird ein Qualifikationsrahmen entwickelt
werden. Ich stimme ausdrücklich zwei Vorbedingungen
zu.
Herr Kollege, bevor Sie Ihre Vorbedingungen nennen:
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Dağdelen zulassen?
Gerne. Bitte.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr
Kollege Weinberg. - Sie haben von der ZAB, der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen, berichtet. Ich
habe am Ende der vergangenen Legislaturperiode, im
September 2009, die Frage gestellt, wie es mit der Absicht, die Anerkennungsverfahren zu vereinfachen, vereinbar ist, wenn man die Ressourcen der ZAB um
40 Prozent kürzt und somit die Dauer der Verfahren
deutlich erhöht. Ihre Staatsministerin Frau Professor
Dr. Maria Böhmer sagte daraufhin:
Eine angemessene personelle und finanzielle Ausstattung ist aus meiner Sicht Voraussetzung dafür,
dass die ZAB ihre umfassenden Aufgaben als
Gutachter- und Informationsstelle nach der Lissabon-Konvention sowie im Rahmen der Richtlinie
2005/36/EG wahrnehmen kann.
Wie ist das mit Ihren Aussagen vereinbar?
Wahrscheinlich ist es in meinen Aussagen nicht deutlich geworden. Die ZAB ist ein Instrumentarium, das die
Länder, die die Verantwortung haben, über die KMK geschaffen haben, um Defizite abzubauen. Es geht um die
Anerkennung von Ausbildungsgängen von Privatpersonen, um die Vorbereitung bilateraler Übereinkommen
zwischen Deutschland und anderen Ländern und um die
Frage, wie diese Institution der KMK Universitäten unterstützen kann, wenn sie Fragen zu Stipendien oder zu
vergleichbaren Dingen haben. Die ZAB ist also als
Dienstleister tätig geworden.
Aber das ist nicht das Ende der Fahnenstange, sondern erst der Anfang. Am Ende werden die Ressourcen
- auch die finanziellen - zusammengestellt und dann
- das ist der Zweck des Gesetzes - so verknüpft, dass
beim Anerkennungsverfahren gewisse Vorgaben, auf die
ich im Folgenden noch kommen möchte, erfüllt werden
können. Insofern ist die ZAB ein Zwischenschritt.
({0})
Zu den Vorgaben will ich sagen: Völlig richtig ist,
dass wir die Qualität des Ausbildungssystems und auch
die Besonderheiten des deutschen Bildungssystems berücksichtigen müssen. Der Europäische Qualifikationsrahmen ist richtig und wichtig. Aber wir legen auch Wert
darauf, dass unsere Vorgaben beachtet werden.
Jetzt komme ich zu dem zentralen Punkt, den auch
Frau Sager angesprochen hat. Ich hoffe daher, dass es zu
einer mehrere Fraktionen umfassenden Koalition im
nächsten Jahr kommt. Drei Ziele sind für die Menschen
wichtig:
Erstens muss es ein Anerkennungsverfahren geben.
Solche Verfahren können lange dauern. Deshalb muss es
eine verbindliche Regelung geben. Verbindlich heißt für
uns, dass innerhalb einer Frist von sechs Monaten das
Marcus Weinberg ({1})
Anerkennungsverfahren abgeschlossen ist. Es nutzt aber
kein Anerkennungsverfahren, wenn es keine Angebote
gibt, wie man die Defizite ausgleichen kann. Daher muss
es zweitens Angebote für verzahnte Qualifizierungsmaß-
nahmen in Form eines Modulsystems geben, mit denen
man Defizite relativ zügig ausgleichen kann. Da die Ma-
terie so kompliziert ist - es gibt verschiedene Akteure
wie Bund, Länder, Kommunen und Kammern -, muss
drittens durch Clearingstellen transparent gemacht wer-
den, welche Möglichkeiten es gibt. - Dieses sind aus un-
serer Sicht die drei übergeordneten Ziele.
Ich finde es richtig - Herr Dr. Braun hat es bereits er-
wähnt -, dass wir am 9. Dezember den entscheidenden
Schritt gehen und die Eckpunkte ins Kabinett einbrin-
gen, die wir, wie gerade skizziert, als Schwerpunkte an-
sehen. Insgesamt werden drei gesetzliche Ansprüche
verankert: a) Anspruch auf Durchführung eines Aner-
kennungsverfahrens bzw. eines Verfahrens zur Feststel-
lung beruflicher Qualifikationen; b) Anspruch auf
formale Teilanerkennung bzw. Anspruch auf eine gut-
achterliche Stellungnahme oder eine Potenzialanalyse,
mit der ermittelt wird, welche Ausbildungsinhalte mög-
licherweise nachgeholt werden müssen; c) Anspruch auf
Information über entsprechende Maßnahmenangebote.
Ich glaube, dass wir in der Debatte im Deutschen
Bundestag jetzt die entscheidenden Schritte gehen können. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir dieses übergeordnete gesellschaftspolitische, arbeitsmarktpolitische und integrationspolitische Thema gemeinsam
weiter begleiten und zu einem Schwerpunkt in der Bildungsarbeit machen. Ich hoffe, dass wir spätestens in einem Jahr ein Anerkennungsgesetz verabschiedet haben,
das es in dieser Form noch nicht gegeben hat.
Herzlichen Dank.
({2})
Swen Schulz hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Expertenkommission Forschung und Innovation hat in
ihrem Gutachten 2009 einmal mehr das Problem des
Fachkräftemangels in Deutschland angesprochen und
eine aktive Einwanderungspolitik für Hochqualifizierte
gefordert. Das alles ist auch in Ordnung; es ist okay.
Aber zuallererst müssen wir doch wohl die Fähigkeiten
derjenigen, die bereits hier leben, entsprechend nutzen.
({0})
Leider sind wir in Deutschland sehr weit davon entfernt. Es leben hier sehr viele, die im Ausland Qualifikationen erworben haben, deren Anerkennung ihnen vollkommen unnötig schwer gemacht wird. Schätzungen
gehen alleine von 500 000 Menschen aus, deren akademische Qualifikation nicht anerkannt wird. Hinzu kommen viele Meister, Techniker usw. usf. Sie sind nicht
etwa schlecht qualifiziert, müssen aber, wie es dann so
heißt, in nicht ausbildungsangemessenen Tätigkeiten aktiv sein.
Das Problem ist, dass es in Deutschland anders als
zum Beispiel in Dänemark kein ordentliches, geregeltes
Anerkennungsverfahren für im Ausland erworbene Abschlüsse gibt. Da wird nach Berufsgruppen, nach Anerkennungszwecken und danach unterschieden, ob es sich
um Spätaussiedler, um EU-Bürger oder um sogenannte
Drittstaatler handelt. Da gibt es in den einzelnen Bundesländern vollkommen unterschiedliche Verwaltungspraktiken. Am Ende blickt keiner, wenn man einmal ehrlich ist, wirklich durch. Das ist eine vollkommen
inakzeptable Ungleichbehandlung der Bürgerinnen und
Bürger. Das zwingt die Leute nachgerade in die Knie. Es
erschwert Integration, und es ist volkswirtschaftlicher
Irrsinn, weil wir die Fähigkeiten der Menschen, die hier
leben, nicht nutzen. Mit diesem Unfug müssen wir endlich aufhören.
({1})
Nun ist das Problem nicht neu. Dies alles ist schon in
die Diskussion über den Integrationsplan und die Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung eingeflossen.
Leider gibt es da noch keine handfesten Fortschritte. Ich
will den Kolleginnen und Kollegen von der FDP und der
Linksfraktion sagen: In der letzten Legislaturperiode war
es der eigentlich gar nicht zuständige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, der initiativ geworden ist und Punkte
vorgelegt hat.
({2})
Aber in der Großen Koalition gab es auch bremsende
Kräfte. Kollege Weinberg, ich höre gerne, dass wir inzwischen so ziemlich auf einen Nenner kommen.
Wir haben in unserem Antrag, basierend auf der Vorarbeit des früheren Arbeitsministers Olaf Scholz, klare
Punkte formuliert. Wir müssen mit diesem Kuddelmuddel, mit diesem Anerkennungswirrwarr, wie die Kollegin Sager gesagt hat, aufräumen. Wir müssen die Stagnation, die wir seit langem hier sehen, überwinden. Darum
muss der Bund voranschreiten und den Entwurf eines
Anerkennungsgesetzes vorlegen. Darin muss ein Rechtsanspruch für alle auf Durchführung eines Anerkennungsverfahrens enthalten sein.
({3})
Wir brauchen ausreichend viele Anerkennungs- und Beratungsstellen. Das Verfahren darf höchstens sechs Monate dauern, damit alle schnell Klarheit bekommen. Das
Ziel muss eine bundesweit verbindliche Gleichwertigkeitsfeststellung sein. Wo nur Teilanerkennungen ausgesprochen werden können, müssen dann auch Angebote
zur Nach- und Weiterqualifizierung gemacht werden.
Diese Angebote müssen dann auch tatsächlich wahrgenommen werden können, auch in finanzieller Hinsicht.
Swen Schulz ({4})
Wir brauchen entsprechende Förderinstrumente. Wir
schlagen zur Ergänzung dessen, was wir bereits haben,
ein Einstiegs-BAföG zur beruflichen Integration vor.
Das ist ein wichtiger Schritt, um die Integration in den
Beruf tatsächlich zu erleichtern.
({5})
Es geht hier um Respekt. Es geht um das wohlverstandene gemeinsame Interesse, dass sich alle, die hier
leben, einbringen und ihren Beitrag leisten können. In
diesem Sinne ist unsere Forderung an die Bundesregierung: Legen Sie nicht einfach nur Eckpunkte vor - ich
glaube, wir haben lange genug über diese Thematik geredet -, sondern forcieren Sie die Problemlösung! Legen
Sie einen Gesetzentwurf vor! Dann kommen wir schneller zum Ziel.
Herzlichen Dank.
({6})
Serkan Tören spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben jetzt ausführlich gehört, welche Missstände es
bei der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse
gibt und welche Potenziale für unsere Gesellschaft und
unsere Wirtschaft dort brachliegen. Wir haben gehört,
wie frustrierend und beschämend es für die Betroffenen
ist, von Pontius zu Pilatus zu rennen, ohne ihrem Ziel
näherzukommen, in Deutschland ihren gelernten Beruf
ausüben zu dürfen.
Wir sind uns in diesem Hause über die Fraktionen
hinweg einig, dass dies ein Zustand ist, der dringend geändert werden muss. Lassen Sie mich daher konkreter
werden und ein paar Eckpunkte darlegen, die wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner zügig beraten
werden.
Erstens. Das Thema Neuzuwanderer. Wir werden prüfen, inwieweit es möglich ist, bereits vor der Einwanderung mit der Feststellung der Qualifikation beginnen zu
können, um so die Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt zu beschleunigen.
Zweitens. Zur Dauer der Anerkennungsverfahren.
Wir haben immer wieder klar gefordert, dass die Dauer
der Verfahren nicht länger als sechs Monate betragen
soll. Daran wollen wir festhalten. Das muss die Messlatte sein.
({0})
Drittens. Das Thema Teilanerkennung. Das ist durchaus ein schwieriges Thema, aber auch das möchten wir
ermöglichen und gleichzeitig mit Angeboten zur Anpassungsqualifizierung verbinden.
Deutschland ist ein Zuwanderungsland, und Deutschland braucht Zuwanderung. Aber - das wird insbesondere den Damen und den Herren von der Linken nicht
passen - die Eckpunkte und Instrumente, die ich gerade
kurz erläutert habe, müssen sinnvoll eingesetzt und ausgerichtet werden. Das bedeutet: Sie müssen sich an dem
Bedarf unserer Unternehmen und Freiberufler, an dem
Bedarf unserer Wirtschaft orientieren.
({1})
Nur so geben wir den Menschen, die in unser Land kommen, eine echte Perspektive und die Chance auf Selbstverwirklichung und Integration.
({2})
Das ist auch die einzige Möglichkeit, wie wir es in
Deutschland schaffen, dem globalen Wettbewerb um die
besten Köpfe standzuhalten und sie hierher zu bekommen. Das ist die einzige Chance.
({3})
Alle, die sich mit diesem Thema befassen, wissen,
wie komplex und schwierig es ist, flächendeckend zu befriedigenden Lösungen und Verfahren zu kommen. Ich
sage das insbesondere mit Blick auf unsere föderale
Struktur. Daher appelliere ich an dieser Stelle ganz klar
an die Kolleginnen und Kollegen der Länder, hier zu kooperieren, sodass wir schnell zu Ergebnissen kommen.
Wir müssen endlich aufhören, Wachstumschancen zu
verschenken; denn das können wir uns weiß Gott nicht
leisten.
Der Bund hat klare Eckpunkte und ein klares Bekenntnis im Koalitionsvertrag formuliert. Jetzt sind die
Länder in der Pflicht.
Vielen Dank.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/123, 17/117 und 17/108 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die EU-Perspektive der südosteuropäischen
Staaten Albanien, Bosnien und Herzegowina,
Kosovo, Makedonien, Montenegro und Serbien verstärken
- Drucksache 17/106 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren.
Dazu sehe ich keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dietmar Nietan für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor gut vier Wochen haben wir alle mit großer Dankbarkeit den 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer gefeiert. Damals, am 9. November 1989, fiel endlich dieses
schändliche Bauwerk, welches schlechthin das Symbol
für die Teilung Europas war.
Heute möchte ich namens der SPD-Bundestagsfraktion den Antrag „Die EU-Perspektive der südosteuropäischen Staaten … verstärken“ vorstellen. Wir möchten
mit diesem Antrag daran erinnern, dass gerade wir Deutsche eine besondere Verpflichtung haben, uns innerhalb
der Europäischen Union für eine Politik einzusetzen, die
sich dem Ziel der Vereinigung Europas uneingeschränkt
verpflichtet fühlt.
Nach dem traumatischen Versagen der Europäischen
Union während des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens haben wir den über 20 Millionen Menschen in
Albanien, in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo, in
Kroatien, in der ehemaligen jugoslawischen Republik
Mazedonien, in Montenegro und in Serbien nicht erst
auf dem Treffen des Europäischen Rates 2003 in Thessaloniki das Versprechen gegeben, ihnen eine ernsthafte
Chance für einen Beitritt in die EU zu geben. Nun ist
nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon aus
unserer Sicht der richtige Zeitpunkt gekommen, dieses
Versprechen nicht nur als ein Lippenbekenntnis zu erneuern, sondern es durch konkrete politische Initiativen
mit neuem Schwung zu versehen. Wenn sich die Bundesregierung für eine konkrete Verstärkung der EU-Perspektive für die Staaten Südosteuropas auf dem kommenden Europäischen Rat am 10. und 11. Dezember in
Brüssel einsetzen würde, hätte sie dabei sicherlich viele
Unterstützerinnen und Unterstützer.
So konzediert die EU-Kommission in ihrem letzten
Fortschrittsbericht der ehemaligen jugoslawischen
Republik Mazedonien erhebliche Fortschritte bei der
Umsetzung wichtiger Reformen. Aus diesem Grund
empfiehlt die Kommission die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien. Ich hoffe deshalb sehr,
dass die Bundeskanzlerin kommende Woche auf dem
Europäischen Rat in Brüssel die Initiative ergreift, indem sie sich für einen entsprechenden Beschluss zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen einsetzt.
({0})
Die Regierung in Skopje hat sich, sicherlich auch ermutigt durch die positive Empfehlung der EU-Kommission für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, im
Namensstreit mit Griechenland auf Griechenland zubewegt. Die deutsche Bundesregierung könnte jetzt an dieser Stelle, so finde ich, unseren griechischen Freunden
gut zureden, sich in dieser Frage ebenfalls zu bewegen.
Mazedonien die Perspektive eines EU-Beitritts mit Hinweis auf den andauernden Namensstreit zu versagen,
wäre jedenfalls unverantwortlich.
Die guten Fortschritte, insbesondere von Kroatien,
Mazedonien und Serbien, zeigen, dass die EU-Beitrittsperspektive ein ganz entscheidender Punkt im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess der Europäischen
Union mit den Staaten Südosteuropas ist. Der amtierende Erweiterungskommissar Rehn hat noch zuletzt
Ende Oktober vor dem Europäischen Parlament die EUBeitrittsperspektive als das zentrale Instrument für Stabilität auf dem Balkan bezeichnet. Ausdrücklich spricht
sich Olli Rehn für eine Fortsetzung des Erweiterungsprozesses aus. Ich muss Ihnen sagen: Eine solch klare
Aussage, insbesondere auch gegenüber den Staaten in
Südosteuropa, sucht man im Koalitionsvertrag von
CDU/CSU und FDP leider vergeblich.
({1})
Angesichts der Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise, aber auch vor dem Hintergrund eines teilweise in besorgniserregender Weise aufkeimenden Nationalismus in der Balkanregion bedarf es aber genau
jetzt eines deutlichen Signals, dass die EU ihre Anstrengungen verstärkt, um die soziale, wirtschaftliche und politische Stabilisierung der Region voranzubringen.
({2})
Die proeuropäischen, demokratischen Kräfte in den
Staaten Südosteuropas brauchen jetzt unsere Unterstützung. Lob allein ist da zu wenig. Jetzt sind Taten gefragt.
Die Beschlüsse des Europäischen Rats für Justiz und Inneres vom vergangenen Montag, die Visumspflicht für
Mazedonien, Montenegro und Serbien aufzuheben sowie Bosnien-Herzegowina und Serbien entsprechende
Makrofinanzhilfen zu geben, sind ermutigend. Doch entscheidend ist für mich die Frage, ob es weiterhin gerade
auch aus Deutschland das Signal gibt: Wir wollen den
Erweiterungsprozess fortsetzen. Wir wollen euch, die
Staaten Südosteuropas, ernsthaft und aufrichtig bei uns
aufnehmen. Wir würdigen eure Reformschritte und werden alles unterlassen, was auf EU-Seite den Beitrittsprozess unnötig verlängert.
Das gilt nicht nur für Kroatien, wo die Frage von fehlenden Artillerieprotokollen nicht zum alleinigen Maßstab für den Beitrittsfortschritt gemacht werden sollte.
Das gilt für die gesamte Region; denn letztlich muss es
in unser aller Interesse sein, dass die Länder Südosteuropas, inzwischen eine Enklave innerhalb der Europäischen Union, einen neuen und nachhaltigen Impuls für
eine EU-Mitgliedschaft erhalten.
Unser allseits geschätzter früherer Kollege Detlef
Dzembritzki hat in seiner letzten Bundestagsrede hier an
dieser Stelle am 28. Mai dieses Jahres gesagt, er halte es
für sinnvoll, nach der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages zu prüfen, ob man nicht einen weiteren Sondergipfel
für die Region einberufen solle. Damals bekam Detlef
Dzembritzki für diesen Vorschlag in diesem Haus viel
Beifall. Jetzt ist vielleicht die Zeit gekommen, dem Beifall von damals Taten folgen zu lassen. In diesem Sinne
bitte ich Sie alle um Unterstützung für unseren Antrag.
Ich glaube, nicht nur Detlef Dzembritzki, sondern auch
die Reformer in Südosteuropa würden sich darüber sehr
freuen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Peter Beyer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ende des KosovoKrieges, des letzten großen Krieges auf dem Balkan,
liegt jetzt ungefähr zehn Jahre zurück. Seitdem sind in
dem südosteuropäischen Raum erhebliche Fortschritte
zu verzeichnen, allerdings in stark unterschiedlichem
Ausmaß. Zudem hat die Entwicklung leider gezeigt, dass
das einmal Erreichte nicht immer von Dauer ist. Der
Grund hierfür ist nicht nur die im Antrag genannte Wirtschafts- und Finanzkrise, beileibe nicht. Auch nicht
überwundene, stark ausgeprägte ethnische Spannungen
hemmen den wirtschaftlichen Fortschritt in diesen Ländern. Dies ist ein wichtiger Grund, warum der Motor auf
dem Weg Richtung EU-Mitgliedschaft stottert.
Die Europäische Union hat auf ihrem WestbalkanGipfel in Thessaloniki in 2003 die Perspektive einer EUMitgliedschaft für die Westbalkanländer deutlich unterstrichen. Wir stehen dazu. Das kommt beispielsweise in
den Bestrebungen der EU hin zu einer Visaliberalisierung zum Ausdruck. Eine Beitrittsperspektive läuft letztlich immer auch auf Visafreiheit hinaus. Die EU hat dafür Roadmaps mit diesen Staaten festgelegt.
Für viele Menschen auf dem westlichen Balkan ist die
Europäische Union ein wichtiger Hoffnungsträger. Die
EU steht für Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und
für Demokratie. Nicht nur wirtschaftliche Erwägungen
spielen eine Rolle. Gerade wir Deutschen wissen, dass
die EU helfen kann, lang andauernde Konflikte nicht nur
zu überwinden, sondern letztlich auch final zu beenden.
({0})
Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Hoffnungen, die die Menschen mit der EU und einer Mitgliedschaft in der EU verbinden, berechtigt sind. Ich bin deshalb sehr für ehrliche Beitrittsgespräche mit den Ländern
Südosteuropas. Allerdings müssen wir auch klar sehen,
dass die Staaten im Hinblick auf eine mögliche EU-Mitgliedschaft unterschiedlich weit fortgeschritten sind.
Mazedonien hat den Status eines Beitrittskandidaten
erreicht. Montenegro hat im Dezember letzten Jahres ein
EU-Beitrittsgesuch übergeben, Albanien Ende April dieses Jahres. Auch Serbien hat einige Verbesserungen
erreicht, an der einen oder anderen Stelle, beispielsweise
bei der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, hapert es aber noch.
Lassen Sie mich kurz auf die Lage in Bosnien-Herzegowina eingehen. Dieses Land ist durch die kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Zerfall Jugoslawiens ganz besonders gebeutelt. Noch heute kämpft
dieser Staat mit den Folgen. Neben den Schwierigkeiten
im Zusammenhang mit der Beendigung des Mandates
des Hohen Repräsentanten sind ethnische Konflikte in
Bosnien-Herzegowina weiterhin besonders präsent. Das
behindert den Annäherungsprozess an die EU. Gleichzeitig erkennen wir an, dass Bosnien-Herzegowina im
Rahmen der Annäherung an die EU wichtige Schritte
unternommen hat. Letztlich brauchen wir ein demokratisches Bosnien-Herzegowina, das als Staat selbst agieren
kann. Die Stabilität dieses fragilen Staatengebildes ist
von entscheidender Bedeutung für die gesamte südosteuropäische Region.
({1})
Leider stockt derzeit der notwendige Verfassungsreformprozess. Kosovo schließlich kämpft seit der Unabhängigkeit 2008 darum, ein hinreichendes Maß an Stabilität
in dem Staat hinzubekommen.
Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, ergebnisoffene Verhandlungen mit den Staaten in dieser Region
zu führen. Wir brauchen Verhandlungen, die auf die konkrete Situation der einzelnen Beitrittskandidaten zugeschnitten sind. Wir brauchen eine Erweiterungspolitik
mit Augenmaß und sicherlich an der einen oder anderen
Stelle auch mit einem langen Atem. Die strikte Erfüllung
der Beitrittskriterien muss dabei immer bindende Voraussetzung für einen Beitritt sein. Eine Aufweichung
der Beitrittskriterien darf es einfach nicht geben. Schon
gar nicht darf es zu einer Art Automatismus kommen.
Daher wäre die Nennung eines Beitrittsdatums vor Abschluss der Verhandlungen schlicht nicht sinnvoll. An
Termingeschäften hat sich schon so mancher die Finger
verbrannt.
Der künftige Erweiterungsprozess wird auch davon
bestimmt sein, ob es uns gelingt, die EU nicht nur räumlich zu vergrößern. Entscheidend dürfte sein, dass wir
die Verbindungen der Mitgliedstaaten im Innern vertiefen und letztlich das Zusammenwachsen weiter vorantreiben. Daher muss auch immer die Aufnahmefähigkeit
der EU mit in den Blick genommen werden.
Die europäische Einigung ist zweifellos die größte
politische Erfolgsgeschichte unseres Kontinents. Sie garantiert seit Jahrzehnten Sicherheit und Frieden im Innern ebenso wie nach außen. Wir dürfen uns aber nicht
auf dem Erreichten ausruhen. Die Arbeit ist noch nicht
vollständig getan. Für den langfristigen Erfolg der Europäischen Union ist die tagtägliche Akzeptanz der EUBürgerinnen und -Bürger ganz entscheidend. Und dazu
gehört eben auch, dass man sich an die selbstgesetzten
Vorgaben hält. Das schafft Transparenz und Verlässlichkeit. Das wiederum schafft letztlich Vertrauen bei den
Bürgerinnen und Bürgern.
({2})
In diesem Sinne verstehe ich den Antrag der SPDFraktion so, dass eine Aufnahme auch dann geschehen
soll, wenn die tatsächlichen Gegebenheiten dem noch
entgegenstehen. Das lehnen wir ab.
({3})
Klare Beitrittsperspektive ja, aber feste Beitrittsversprechen wird es mit uns nicht geben.
Ich danke Ihnen.
({4})
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus, zu der wir Ihnen gratulieren. Wir wünschen Ihnen
viel Erfolg für Ihre weitere Arbeit hier.
({0})
Der Kollege Dr. Diether Dehm spricht jetzt für die
Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD! Leider zeigt Ihr Antrag, dass Sie noch nicht richtig in der
Opposition angekommen sind. Ich hätte mir gewünscht,
dass Ihr Wahlergebnis dazu führt, dass Sie auch Ihre
Außen- und Europapolitik auf den Prüfstand stellen.
({0})
Schon in der Überschrift Ihres Antrages nennen Sie das
Kosovo einen Staat; aber das ist ein Bruch des Völkerrechts. Willy Brandt stand ohne Wenn und Aber für das
Völkerrecht. Wenn nicht bald aus dem aktuellen SPDKurs wieder sozialdemokratischer Kurs wird, wird das
nichts mit einer gescheiten Opposition und auch nichts
irgendwann wieder mit der Regierung.
({1})
Will die SPD die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo weiterhin positiv sanktionieren? Wollen Sie damit grünes Licht für die Zerschlagung weiterer
Nationalstaaten geben?
({2})
In Ihrem Antrag geben Sie vor, für den Erhalt multinationaler Staaten auf dem Balkan einzutreten. Warum haben Sie denn dann nichts dagegen getan, als das multinationale Jugoslawien zerschlagen wurde?
({3})
Tun Sie nicht so, als ob Sie nicht wüssten, dass mit der
Anerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung
des Kosovo alle Sezessionsbestrebungen in der Region
Auftrieb bekommen, ob in Bosnien oder in Montenegro.
Sie beklagen in Ihrem Antrag zunehmenden Nationalismus. Wo Nationalstaaten aber zerstückelt und gedemütigt werden, nimmt Nationalismus meistens zu.
({4})
Dass Sie jetzt die Folgen der Jugoslawien-Kriege beklagen, ist nicht glaubwürdig. Wer hat denn 1999 Jugoslawien ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats angegriffen? Das war die Regierung von Schröder, Fischer
und Scharping mit schwarz-gelber Billigung.
({5})
Joseph Fischer kümmert sich jetzt um die Verlegung der
Nabucco-Pipeline durch den Balkan. Ihr Antrag ruft
zwar „Haltet den Dieb!“, aber das Diebesgut, die Nabucco-Pipeline, bleibt hier.
({6})
Weder Sie in Ihrem Antrag noch die Bundesregierung
sehen vor, dass die Bevölkerung gefragt wird. Wer die
Erweiterung der EU will, muss die Menschen dabei mitnehmen. Aber zu Volksabstimmungen sagen Sie weiterhin: Nein, danke.
({7})
Wenn Sie Volksabstimmungen in Europa, wie die in Irland, nicht vermeiden können, dann lassen Sie so lange
abstimmen, bis Ihnen das Ergebnis passt.
({8})
- Wer hier Gefangener seiner Ideologie ist bezüglich des
Bruchs des Völkerrechts - ({9})
- Ich weiß nicht, warum Sie hier jetzt „Genosse Dehm“
rufen; wir sind noch nicht so weit, dass wir uns das hier
zurufen müssen, schon gar nicht hier im Parlament.
Die Linke setzt auf ein Europa der Bevölkerungen anstatt auf ein Europa der Eliten, dessen Entstehung jüngst
der zweitoberste Verfassungsrichter, Voßkuhle, befürchtet hat.
Im Europaausschuss wurde ich gefragt, ob wir Linke
jetzt unseren Frieden mit dem Lissabon-Vertrag gemacht
haben. Die Linke achtet geltende Gesetze, so auch den
Lissabon-Vertrag in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, was wir gemeinsam mit dem Kollegen
Gauweiler erstritten haben. Wir achten das Gesetz. Es
freut mich, dass ich den Kollegen hier sitzen sehe. Wir
Linke beachten sogar die autoritären Notstandsgesetze,
die wir bekämpft haben. Aber wir bleiben bei unserer
Kritik am neoliberalen, militaristischen Lissabon-Vertrag.
({10})
Mit ihm kommt die EU nicht in die Herzen und Köpfe
der Völker Europas.
({11})
Wir wollen weiterhin eine friedliche, eine sozialstaatliche, eine ökologische und eine demokratische Verfassung für unser Europa.
({12})
Oliver Luksic hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Beitrittsperspektive der Länder des Westbalkans ist
aus Sicht aller Beteiligten wichtig, sowohl für die Länder des Balkans als auch für die Europäische Union und
Deutschland. Im Gegensatz zur Linken sagen wir als
FDP: Wir stehen zur Thessaloniki-Agenda, und wir stehen zum langfristigen Ziel eines EU-Beitritts der Länder
des Westbalkans. Der Westbalkan darf keine nichteuropäische Insel inmitten von Europa sein.
({0})
Die Erweiterung darf aber kein Selbstzweck sein.
Man muss sich daran orientieren - und zwar nur daran -,
ob ein Beitrittsland die Kopenhagener Kriterien erfüllt.
Der Erweiterungsprozess ist für uns grundsätzlich ein offener Prozess. Er muss mit Augenmaß betrieben werden.
Für uns als FDP-Fraktion sprechen drei Gründe für
die Beitrittsperspektive der Länder des Westbalkans.
Der erste Grund ist die Entwicklung der Länder des
Westbalkans. Sie sind leider immer noch von gesellschaftlicher Instabilität geprägt, die aus historischen
Konflikten und ethnischen Spannungen resultiert. Auch
die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder muss beschleunigt werden. Sie sind von der Wirtschafts- und
Finanzkrise besonders betroffen. Damit sich gerade
diese Länder entwickeln, ist es wichtig, dass es von
Europa ein klares Signal gibt. Europa ist nämlich auch
der Kitt, der diese Länder zusammenhält. Deswegen
muss Europa das Signal senden: Der Balkan ist ein Teil
Europas. Es geht auch darum, die Hoffnungen, die die
Menschen auf dem Balkan mit Europa verbinden, nicht
zu enttäuschen. Daran sollte auch die Linke denken,
wenn sie den vorliegenden Antrag in Bausch und Bogen
verdammt.
({1})
Zweitens. Aus Sicht der Europäischen Union kommt
es darauf an, ob die Ankündigung, die Olli Rehn in seiner Funktion als Erweiterungskommissar gemacht hat,
dass es nach der Vertiefung der Europäischen Union eine
weitere Erweiterung geben soll, umgesetzt wird. Wir als
FDP wollen eine starke Europäische Union. Für uns ist
eine europäische Einheit ohne den Balkan nicht vollständig.
Drittens. Auch aus deutscher Sicht sprechen wirtschaftliche und politische Interessen für eine EU-Perspektive dieser Staaten. Wir haben es mit Ländern zu
tun, die sehr deutschlandfreundlich sind. Es gibt historische Verflechtungen und Verwachsungen, was die Wirtschaft angeht. Gerade der deutsche Mittelstand ist dort
sehr aktiv. Viele Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern sprechen Deutsch. Die deutsche Wirtschaft hat somit die Chance, neue Märkte zu erschließen. Vor allem
aber ist es unser genuines politisches Interesse, sicherzustellen, dass wir direkt vor unserer Haustür einen stabilen Balkan haben. Auch aus deutschem Interesse müssen
wir daher den Staaten des Westbalkans eine Beitrittsperspektive geben.
({2})
Die FDP-Fraktion ist der Meinung, dass Erweiterungspolitik immer mit Augenmaß betrieben werden
muss. Wir können nicht alle Länder des Westbalkans in
einen Topf werfen. Es gibt unterschiedliche Entwicklungsstadien, auf die wir Rücksicht nehmen müssen.
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das wichtige
vierte Kopenhagener Kriterium: die Aufnahmefähigkeit
der Europäischen Union.
Für uns gibt es einen klaren Maßstab, nach dem die
Beitrittsfähigkeit der Länder beurteilt werden muss: die
Kopenhagener Kriterien. Dabei handelt es sich um politische Kriterien wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und
Menschenrechte, wirtschaftliche Kriterien wie soziale
Marktwirtschaft sowie die Umsetzung von EU-Normen,
also die Übernahme des Acquis communautaire.
Die Position der FDP ist ganz klar: Es gibt keine zusätzlichen Kriterien. Religion ist kein Kriterium. Für uns
ist die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob wir Beitrittsverhandlungen mit einem Land aufnehmen. Das steht so
auch explizit im Koalitionsvertrag; das ist gut und richtig.
({3})
Wenn man sich die Situation in den verschiedenen
Ländern des Westbalkans anschaut, stellt man fest, dass
eine Einzelfallbetrachtung notwendig ist. Jedes dieser
Länder hat den Status eines potenziellen Beitrittskandidaten. Mazedonien ist mit Sicherheit am weitesten. Spätestens Anfang 2010, wenn nicht schon jetzt im Dezember in der Ratssitzung in Brüssel, wird dieses Thema
noch einmal auf der Tagesordnung stehen. Für uns ist
klar: Wir wollen, dass Mazedonien und Griechenland
den Namensstreit beilegen. Slowenien und Kroatien haben ein gutes Beispiel dafür geliefert, wie man das maOliver Luksic
chen kann. Sowohl Mazedonien als auch Griechenland
müssen jetzt europäisch denken und europäisch handeln.
({4})
Albanien und Montenegro haben den Antrag auf EUMitgliedschaft gestellt, sind aber noch nicht ganz so
weit. Montenegro ist, was die ökonomischen und die
politischen Kriterien angeht, vielleicht ein Stückchen
weiter als Albanien. Was Albanien betrifft, sind wir
skeptisch, ob die Avis-Aufforderung an die Kommission
seitens des Rats richtig war. Serbien, Bosnien-Herzegowina und das Kosovo müssen die Vergangenheit aufarbeiten und vor allem mit dem Internationalen Strafgerichtshof kooperieren.
Aus Sicht der FDP-Fraktion brauchen wir ganz klar
eine Einzelfallprüfung. Wir dürfen die Länder des Westbalkans nicht alle über einen Kamm scheren. Deswegen
können wir dem Antrag der SPD leider nicht zustimmen.
Das Prinzip des Geleitzuges sehen wir kritisch: Ein Zug,
bei dem alle zusammengefasst werden sollen, fährt spät
ab und kommt langsam zum Ziel, weil der Langsamste
das Tempo bestimmt. Ich glaube, es ist besser, wenn jedes Land allein abfährt. Ich würde das „Regattaprinzip“
nennen. Das ist sachgerechter.
Lassen Sie mich abschließend sagen - ich glaube, das
sehen alle Fraktionen im Europaausschuss ähnlich -,
dass nicht nur, was Mazedonien angeht, sondern auch,
was Island angeht, bevor die Bundesregierung in Brüssel
grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gibt, hier im Deutschen Bundestag darüber debattiert werden muss. Ich glaube, es ist wichtig, dass, bevor
in Brüssel entschieden wird, die deutsche Öffentlichkeit
und wir hier im Bundestag dies diskutieren. Das ist der
Auftrag, den uns der Vertrag von Lissabon gibt, und dafür steht die FDP-Fraktion.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Herr Luksic, auch für Sie war das die erste Rede hier
im Parlament. Wir gratulieren Ihnen dazu und wünschen
für die weitere Arbeit alles Gute.
({0})
Marieluise Beck spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich würde mich in der Tat freuen, wenn dieser Antrag
ein Aufschlag wäre für dieses Haus, in dieser Legislaturperiode mit etwas mehr Verve und Engagement - - Oh,
da muss erst das Gratulieren zu Ende gehen; da ist noch
ein Defilee im Gange.
Das nennt man normalerweise Wandelprozession. Ich
stoppe so lange Ihre Redezeit.
Wunderbar.
So, Frau Beck, bitte.
Herr Kollege, wenn Sie ab jetzt mit dabei sind, ordentlich Dampf zu machen, dass auch in diesem Haus
über Südosteuropa mit mehr Ernsthaftigkeit gestritten
wird, bin ich sehr froh darüber.
Ich glaube, dass der Balkan drohte, in Vergessenheit
zu geraten, weil es in letzter Zeit keine offene Gewalt
gab, weil keine wirklich großen Schwierigkeiten sichtbar waren. Die ganze Region ist deswegen ein wenig in
den Schatten geraten.
Wir haben nicht das Verständnis, dass die Europäische Union ohne Südosteuropa ein Torso wäre. Die Perspektive ist eher: Gut, wenn sie sich bemühen, dann wollen wir sie dabei unterstützen, beizutreten. Wir alle
müssen die Perspektive umkehren: Es liegt in unserem
Interesse, dass Südosteuropa zu einem Teil der Europäischen Union wird.
Daher sollten wir - das fehlt mir in Ihrem Antrag,
liebe Kollegen von der SPD; da ist er mir ein bisschen zu
glatt - schauen, was wir, die Europäische Union, selbst
für Fehler gemacht haben.
Der historische Grund für die Gründung der Europäischen Union ist die Überwindung des Nationalismus gewesen. Dennoch erleben wir, dass der Nationalismus
noch heute und selbst in reifen EU-Ländern in einer
Weise zum Vorschein kommt, wie man es rational kaum
mehr verstehen kann. Ich denke da an den Namensstreit
zwischen Griechenland und Mazedonien. Wie kann es
sein, dass ein reifes EU-Land wie Griechenland, das
durch die EU sehr wohl gute Perspektiven hat und, wie
wir gelernt haben, die weitaus höchsten Nettoeinnahmen
aus dem EU-Haushalt bezieht, ein kleines Nachbarland
wie Mazedonien, bei dem es ja wohl keine Angst haben
muss, dass es von ihm angegriffen werden könnte, dermaßen an der Gurgel hält, dass der Beitritt Mazedoniens
zum Halt gebracht wird? Es ist unglaublich. Weshalb
gibt es nicht genug Kraft innerhalb der Europäischen
Union, diesem Mitglied Griechenland zu bedeuten, dass
diese Art von nationalistischer Politik nicht zum Geist
der Europäischen Union gehört?
({0})
Wir wissen, dass Mazedonien ein fragiles Land ist. Es
hat mit inneren Spannungen zu kämpfen, und es war
großartig, dass verhindert werden konnte, dass dort, anders als in anderen südosteuropäischen Ländern, ein hei666
Marieluise Beck ({1})
ßer Krieg ausgebrochen ist. Auch ein Grenzstreit wie
zwischen Slowenien und Kroatien sollte in EU-Ländern
nationaler geregelt werden.
Wir müssen sehr deutlich machen: Die Aufnahme in
die Europäische Union bedeutet auch die Aufgabe von
Souveränität. Wer in die Europäische Union geht, der
will nicht nur Zugang zu Ressourcen und zu Unterstützung haben, sondern der will sich auch diesem europäischen Projekt verpflichten, und das bedeutet Souveränitätsübertragung. All diese seminationalen Konflikte, die
innerhalb der Länder des Westbalkan schmoren, müssten
zur Seite geschoben werden, wenn wirklich die Überzeugung vorhanden ist, dass man zur EU als eine Wertegemeinschaft gehören will, die sich der Überwindung
des Nationalismus verschrieben hat.
Das ist die Messlatte, die neben dem Acquis
communautaire für die Länder gelten muss, die an die
Tür der EU klopfen, und das muss auch die Messlatte für
uns sein. Wir wollen den Nationalismus überwinden.
Spätestens mit dem Zerfall Jugoslawiens ist es uns noch
einmal vor Augen geführt worden, welch unglaubliches
Gift dies ist und welches Leid durch den Nationalismus
auch über die Menschen in einem modernen Europa gebracht werden kann.
Lassen Sie uns also darauf beharren: Es geht um die
Überwindung des Nationalismus. Wir sollten uns mit aller Kraft darum bemühen, dass diese Gedanken in dieser
Legislaturperiode von diesem Hause aus auch nach Südosteuropa getragen werden.
Schönen Dank.
({2})
Als Nächstes spricht der Kollege Gunther Krichbaum
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir feiern in diesem Jahr 60 Jahre Grundgesetz und
20 Jahre Mauerfall. Für uns ist es eine pure Selbstverständlichkeit, in rechtsstaatlichen Verhältnissen, in Frieden und in Demokratie zu leben. Wir vergessen aber
allzu häufig, dass es keine 20 Jahre her ist, dass wir in
Europa noch ganz andere Verhältnisse und im Herzen
von Europa einen fürchterlichen Krieg hatten, der
schließlich im Zerfall eines ganzen Landes mündete, im
Zerfall des ehemaligen Jugoslawien.
Umso wichtiger ist es, dass die Staaten des ehemaligen Jugoslawien eine Perspektive zum Beitritt in die
Europäische Union erhalten, weil diese Beitrittsperspektive wiederum friedensstiftend, aber auch stabilisierend
wirkt. Wir vertreten diese Beitrittsperspektive nicht erst
seit der Thessaloniki-Agenda, sondern bereits seit dem
Europäischen Rat in Feira im Jahre 2000; der EU-Gipfel
in Thessaloniki war drei Jahre später. Auch Günter
Verheugen selbst hatte diese Beitrittsperspektive als damaliger Erweiterungskommissar nochmals untermauert,
als er dann, wie Sie wissen, das sechsstufige Verfahren
entwickelte. Abermals bekräftigt wurde dies letztes Jahr
auf dem Europäischen Rat.
In dem Antrag der SPD werden deshalb pure Selbstverständlichkeiten betont. Wir alle sind uns einig, dass
diese Länder eine EU-Beitrittsperspektive haben müssen. Deswegen ist die nochmalige Erwähnung in dem
Antrag - milde gesagt - überflüssig.
Seit dieser Zeit sind verschiedene Unterstützungsmaßnahmen ergriffen worden, die heute im sogenannten
IPA-Programm, in den Heranführungsbeihilfen zusammengefasst sind. Wir haben ein Interesse daran, dass
diese Länder fit gemacht werden für die Europäische
Union.
Die Europäische Union hat sich ebenfalls über den
Vertrag von Lissabon fit für künftige Erweiterungen gemacht; denn jetzt sind die institutionellen Voraussetzungen hierfür geschaffen worden, die wir mit dem Vertrag
von Nizza nicht gehabt hätten.
Es gilt - verschiedene Kollegen haben bereits darauf
hingewiesen - das Prinzip der „Own Merits“, also das
Prinzip der eigenen Verdienste. Auch dazu sagt der Antrag der SPD-Fraktion überhaupt gar nichts. Es liegt
nicht nur an der EU und deren Wohlwollen, sondern es
müssen sich auch die Staaten selbst bewegen. Kraft ihrer
eigenen Fortschritte bestimmen sie letztlich das Erweiterungsdatum und haben es deswegen selbst in der Hand.
({0})
Die Richtigkeit dieses Aufeinanderzugehens hat sich
beispielsweise bei der Visafreiheit, die wir für Serbien,
für Montenegro und Mazedonien ab dem 19. Dezember
einführen, bewahrheitet. Ich bin sicher, dass bald auch
Bosnien und Albanien die Voraussetzungen erfüllen und
dazukommen werden.
Das ist wichtig für die jungen Menschen. Frau Beck
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dies noch
einmal betont. Es ist wichtig, dass wir diese jungen
Menschen in die Europäische Union reisen lassen. Nur
das hilft, den Nationalismus zu überwinden.
Ich erinnere an eine Präsidentenwahl in Serbien. Als
sich der nationalistische Nikolic und der pro-europäische
Tadic gegenüberstanden, hat die junge Bevölkerung
nicht Tadic, sondern mehrheitlich Nikolic gewählt. Warum? Weil wir die jungen Menschen nicht haben reisen
lassen. Wir haben sie nicht in die Europäische Union hineingelassen.
({1})
Dieser Anachronismus wird jetzt Gott sei Dank beseitigt.
({2})
Ich möchte keine Ausführungen zu Bosnien-Herzegowina machen, weil Herr Kollege Beyer hierauf schon
eingegangen ist. Es sollten aber noch einige Bemerkungen zu den übrigen Ländern gemacht werden.
Kroatien steht an der Schwelle zur Europäischen
Union. Dennoch bleibt noch viel zu tun, Stichwort Korruptionsbekämfpung. Der EU-Fortschrittsbericht nennt
erhebliche Fortschritte. Es darf aber auch daran erinnert
werden, dass verschiedene Kollegen aus dem Bundestag,
aber auch aus dem Europäischen Parlament durch die
Benennung von fragwürdigen Vorgängen und aufgrund
der nachfolgenden Meldungen bei der Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF dafür gesorgt haben, dass - einhergehend mit einer Medienberichterstattung - Druck in
Richtung Regierung entstanden ist.
Deshalb sind weitere Fortschritte erforderlich; denn
die Korruption betrifft die Ärmsten der Armen. Auch
das sei immer wieder gesagt. Korruptionsbekämpfung
ist kein Selbstzweck; denn Korruption benachteiligt diejenigen, die in den fragwürdigen Überbietungswettbewerb nicht eintreten können und deswegen die eigentlichen Opfer von Korruption sind.
Noch ein klärendes Wort zu Mazedonien und Griechenland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Namensstreit ist bizarr. Was Griechenland angeht, so muss
man sich schon der Sprache der Diplomatie bedienen,
um höflich zu bleiben. Seit dem Jahr 1981, seit dem Beitritt Griechenlands, ist Griechenland der größte Zahlungsempfänger innerhalb der Europäischen Union.
Griechenland hat von diesen finanziellen Transferleistungen immer wieder profitiert und somit auch von der
Solidarität der Europäischen Union.
Als Bleistift und Radiergummi herausgeholt wurden,
um die Maastricht-Kriterien zumindest auf dem Papier
zu erfüllen, blieben andere Konsequenzen aus. Die Geduld innerhalb der Europäischen Union wurde jedoch
damals strapaziert.
({3})
Die Geduld ist aber nicht unendlich. Wir erwarten,
dass bilaterale Streitigkeiten nicht auf die Ebene der EU
hochgehieft werden und damit für Belastungen sorgen.
Deutliche Worte gilt es auch in Richtung Mazedonien zu
sagen. Mazedonien wäre gut beraten, Provokationen in
Richtung seines südlichen Nachbarn zu unterlassen, weil
dies nicht dem Geist Europas entspricht und damit einer
Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht gerade
zuträglich ist.
({4})
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu Serbien.
Serbien belegt in einem Ranking von Transparency International gegenwärtig den 83. Rang, eingerahmt von
Trinidad und Tobago sowie El Salvador. Serbien ist ein
Schlüsselland der Region. Wir wollen, dass Serbien in
die Europäische Union kommt.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Unser Appell zielt deshalb darauf, dass wir auf die
serbische Regierung einwirken, alles in Richtung Korruptionsbekämpfung zu tun.
Abschließend möchte ich noch eine Bemerkung zum
Antrag machen. Es wäre schön gewesen, wenn zwei
Tage nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon
auch einige Worte zur Rolle der nationalen Parlamente
gefunden worden wären. Denn wir haben bei künftigen
Erweiterungen ein entscheidendes Wort mitzusprechen.
Herr Kollege.
In diesem Sinne können wir dem Antrag leider nicht
zustimmen, auch wenn er die richtige Richtung einschlägt.
Danke.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/106 mit dem Titel
„Die EU-Perspektive der südosteuropäischen Staaten
Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Makedonien, Montenegro und Serbien verstärken“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag abgelehnt bei Zustimmung
durch die Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die übrigen Fraktionen haben dagegen gestimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({2}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1890 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
- Drucksachen 17/39, 17/111 ({4}) Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Jan van Aken
Kerstin Müller ({5})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/139 668
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Carsten Schneider ({0})
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven Kindler
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
vor. Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung werden wir, wie Sie wissen, später namentlich abstimmen.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, zu diesem
Tagesordnungspunkt eineinviertel Stunden zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Seit der Einbringung des Antrages
der Bundesregierung in der ersten Beratung hat Präsident Obama die von uns seinerzeit bereits erwartete
Rede gehalten und seine Erwartungen und sein Konzept
vorgestern vorgetragen. Das ist zweifelsohne eine bedeutsame Rede, auch für unsere Entscheidung. Deswegen erlaube ich mir, gegen die üblichen Gewohnheiten
auch in der zweiten bzw. dritten Beratung noch einmal
das Wort zu ergreifen.
Ich werde nicht noch einmal auf das Bezug nehmen,
was wir schon in der ersten Beratung gemeinsam besprochen haben. Die Gründe, warum die Bundesregierung
der Auffassung ist, dass das ISAF-Mandat verlängert
werden sollte und dass unsere Mission in Afghanistan
nicht nur den Menschen in Afghanistan dient, sondern
auch unserer eigenen Sicherheit, sind bereits ausgetauscht worden.
Präsident Obama hat zweifelsohne eine wichtige
Rede gehalten. Er hat sich auch die Zeit genommen,
diese Rede und seine Strategie zu erarbeiten. Ich möchte
hinzufügen: Auch wir werden uns in Deutschland die
Zeit nehmen, das, was in dieser Rede gesagt worden ist,
auszuwerten und selbstverständlich auch mit unseren
Verbündeten zu besprechen.
Ich möchte nach der Diskussion im Auswärtigen Ausschuss noch einmal mit Nachdruck sagen: Wir werden
selbstverständlich nicht nur mit den Verbündeten reden,
sondern auch mit dem Parlament. Wir wollen mit allen
Fraktionen das Gespräch suchen, wie wir es im Auswärtigen Ausschuss verabredet haben. Das versteht sich von
selbst.
({0})
Ich sehe die Haltung, die wir als Bundesregierung
vertreten haben, durch die Rede von Präsident Obama
vor allen Dingen darin bestärkt, dass auch wir uns innerhalb dieser deutschen Legislaturperiode eine Abzugsperspektive erarbeiten wollen. Wir wollen das in den nächsten Jahren. Es deckt sich mit dem Willen von Präsident
Obama, dass durch die richtige Politik eine Abzugsperspektive erarbeitet wird und auch in Sicht kommt.
({1})
Deswegen ist es sehr wichtig, festzuhalten, dass auch unsere Verbündeten dieser Auffassung sind. Das ist ein
Einsatz, der ein Ziel hat, nämlich das Ziel der selbsttragenden Sicherheit in Afghanistan. Es ist kein Einsatz als
Selbstzweck. Wir wollen, dass eine Abzugsperspektive
erarbeitet wird, weil niemand in diesem Hause diesen
Einsatz für die Ewigkeit möchte. Wir wollen, dass das
vor der Abstimmung über die Verlängerung dieses Mandats klar ist.
({2})
Es ist wichtig - auch das hat Präsident Obama in seiner viel beachteten Rede unterstrichen -, dass es keine
militärische Lösung geben wird. Was es geben wird, ist
eine politische Lösung, die militärisch unterstützt wird.
Das ist ein fundamentaler Unterschied zu Teilen der öffentlichen Diskussion.
({3})
Deswegen setzt die Bundesregierung einen Schwerpunkt
beim zivilen Aufbau. Wir sind bereit - das sagen wir
auch unseren Verbündeten -, mehr beim zivilen Aufbau
zu tun. Wer will, dass eine Abzugsperspektive in Sicht
kommt, muss mehr für die selbsttragende Sicherheit tun
und seinen Beitrag dazu leisten, dass Polizei in Afghanistan selbst ausgebildet wird und über eine vernünftige
Arbeitstechnik verfügt. Das ist es, worum es in Afghanistan geht: um eigene Sicherheitsstrukturen in Afghanistan.
({4})
Herr Kollege Trittin, um vorab auf Ihre Einwände zu
antworten: Ich sagte, dass das ein Schwerpunkt wird.
Das ist eine klare Aussage der Bundesregierung. Ich
sage hier nicht ohne Grund, dass wir einen Schwerpunkt
auf diesen Bereich legen möchten. Ich habe oft genug in
früheren Debatten genauso wie Sie auf dieses Thema
hingewiesen.
Es ist aus unserer Sicht aber auch notwendig, dass wir
auf die Afghanistan-Konferenz hinweisen. Sie wird mutmaßlich am 28. Januar nächsten Jahres in London stattfinden. Es wird mutmaßlich weitere Konferenzen geben,
mutmaßlich auch in Kabul. Das entspricht natürlich der
Notwendigkeit und der Erkenntnis, dass wir schließlich
gemeinsam mit Afghanistan eine Lösung erarbeiten wollen. Es ist aber aus Sicht der Bundesregierung auch
wichtig, darauf hinzuweisen, dass es zuallererst um strategische Diskussionen geht und dass die bevorstehende
Afghanistan-Konferenz keine Truppenstellerkonferenz
ist. Diese Afghanistan-Konferenz muss vielmehr Ziele
definieren. Sie muss auch strategische Diskussionen führen und Analysen vornehmen. Dann geht es um alles
Weitere. Zuerst eine Debatte zu führen, in der es nur
noch darum geht, um wie viele Soldaten aufgestockt
werden soll oder nicht, ist die falsche Reihenfolge. Zuerst geht es um Ziele, Konzepte und eine gemeinsame
Strategie.
({5})
Ich möchte Ihnen vor dem Hintergrund, dass heute
Abend das NATO-Außenministertreffen in Brüssel beginnen wird, versichern - es wird nächste Woche fortgesetzt; es gibt verschiedene Debatten am morgigen Tag,
auch im Bündnis; auf Einladung der amerikanischen
Seite wird es mehrere Gespräche am Rande dieser Beratungstage in Brüssel geben -: Mir ist es wichtig - das
sage ich insbesondere an die Adresse der Opposition, die
ein Recht darauf hat, das zu erfahren -, dass Sie sicher
sein können, dass es jetzt zuerst um eine gemeinsame
strategische Erörterung gehen wird. Es wird nicht so
sein, dass wir nach der anstehenden Abstimmung heute
Abend nach Brüssel fahren und dort Zusagen über Kontingente machen. Es gilt, was ich hier gesagt habe. Die
Afghanistan-Konferenz ist nicht ohne Grund von
Deutschland, Frankreich und Großbritannien initiiert
worden. Sie ist für uns der richtige Ort für die strategische Diskussion. Sie können sich darauf verlassen, dass
ich diese Linie im Bündnis heute Abend und morgen
beim NATO-Außenministertreffen verbindlich für unser
Land vertreten werde.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Hans-Ulrich Klose hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Entscheidung, die wir heute zu treffen haben, ist keine Routineentscheidung und darf es auch
nicht sein. Wir müssen uns jedes Mal der Gründe vergewissern, warum wir in Afghanistan sind und bleiben
wollen. Ich wiederhole sie: einmal, weil seinerzeit ein
deutscher Bundeskanzler nach den Anschlägen von 9/11
den Amerikanern uneingeschränkte Solidarität versprochen hat - ich gebe zu, ich habe damals bei dem Adjektiv „uneingeschränkt“ etwas gezuckt, aber ich habe nicht
widersprochen -, zum anderen, weil die deutsche Bundesregierung auf der von ihr organisierten PetersbergKonferenz dem afghanischen Volk Hilfe bei der Stabilisierung und beim Wiederaufbau des Landes versprochen
hat, und weil ich glaube, dass Peter Struck mit seinem
Wort, dass wir am Hindukusch auch unsere Sicherheit
verteidigen, recht hatte; denn jeder weiß: Würden wir
von heute auf morgen von dort abziehen, wären in sechs
Wochen die Taliban wieder dran, und dann wäre Afghanistan wieder ein Safe Haven für Terrorismus. Das wollen wir nicht.
Weil das so ist, wird die sozialdemokratische Fraktion
der Verlängerung des Mandats mit großer Mehrheit zustimmen. Dennoch sind dieses Mal einige Besonderheiten zu bedenken: erstens die Präsidentenwahl in Afghanistan. Dabei hat es Unregelmäßigkeiten gegeben, die
weit über das normale Maß hinausgehen. Karzai ist, vorsichtig formuliert, ein umstrittener Präsident auch in
Afghanistan. Ich möchte nicht so weit gehen, ihn als Teil
des Problems zu bezeichnen, aber von Good Governance
ist Afghanistan weit entfernt. Mangelnde Effizienz und
grassierende Korruption sind die Stichworte, die die
Lage richtig beschreiben.
({0})
Zweitens der Vorfall in Kunduz; denn das Bombardement der Tanklastfahrzeuge in der Nacht vom 3. auf den
4. September hat das Bild der Bundeswehr in Afghanistan, aber auch hier bei uns verändert. Es gibt eine Vielzahl von Fragen, mit denen sich der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss beschäftigen wird.
Sie betreffen nicht nur den Bereich des Verteidigungsministeriums, die Frage also, wann wer von wem informiert worden ist; sie gelten vor allem dem Vorfall selbst,
will sagen: Es geht um die Frage, ob die Bombardierung
ein Fehler war oder doch nötig, gerechtfertigt oder angemessen. Vor allem um diese Fragen muss sich der Untersuchungsausschuss kümmern, weil wir, das deutsche
Parlament, wissen müssen, wie die Parlamentsarmee
Bundeswehr im konkreten Fall in Afghanistan agiert.
Dabei muss auch die Bundeswehr ausreichend zu Wort
kommen, vor allem der Offizier, der den Befehl gegeben
hat. Er steht im Zentrum der Kritik, und deshalb ist es
wichtig, seine Lageeinschätzung und seine Motivation
kennenzulernen. Vorverurteilungen sollten wir tunlichst
unterlassen.
({1})
Drittens. Zu bedenken ist aber auch, was Präsident
Obama am 1. Dezember zur neuen amerikanischen
Afghanistan-Strategie gesagt hat. Es war, wie immer,
eine eindrucksvolle Rede, über die ich, um ehrlich zu
sein, gleichwohl nicht glücklich bin: zum einen, weil ich
das Gefühl habe, die Rede sei mehr der amerikanischen
Innenpolitik geschuldet als der konkreten Lage in
Afghanistan, zum anderen, weil die neue amerikanische
Strategie immer noch zu sehr auf militärische Mittel,
mehr Soldaten setzt, obwohl wir doch alle wissen, dass
der Konflikt in Afghanistan mit militärischen Mitteln allein nicht zu lösen ist. Zugegeben, der Präsident hat auch
über eine zivile Strategie gesprochen, und von Partnerschaft mit Pakistan in diesen Punkten ist die Rede, aber
nach meinem Dafürhalten sehr allgemein und sehr
knapp. Etwas genauer hätte ich es schon ganz gern gehört. Mit welchen militärischen Mitteln will man die
Momentum genannte Wende im Kampf gegen die Taliban denn herbeiführen? Von wem und in welcher Zeit
sollen wie viele afghanische Soldaten und Polizisten
ausgebildet werden, die nach anderthalb Jahren schrittweise die Verantwortung für ihr Land übernehmen sollen? In welcher Weise sollen die regionalen Führer in die
Stabilisierungsbemühungen einbezogen werden? Sie
müssen es! Genügt die Partnerschaft mit Pakistan, oder
müssen auch andere Nachbarländer in die Stabilisierungsbemühungen eingebunden werden? Vielleicht Indien? Ganz sicher Iran und die nördlichen Nachbarn.
Auch Russland und China?
Ich bin nicht glücklich, weil ich finde, die neue Strategie der USA hätte vorher mit den Alliierten besprochen werden müssen, und zwar im NATO-Rat, zumal
der Präsident die NATO-Relevanz seiner Entscheidung
ausdrücklich und mehrfach betont hat.
({2})
Ich weiß, der Präsident hat unter anderem die Bundeskanzlerin einige Stunden vor seiner Rede über deren Inhalt informiert. Das reicht aber nicht aus. Besser wäre es
gewesen, die Verbündeten in diesen Entscheidungsprozess einzubeziehen, damit aus der amerikanischen eine
solidarische NATO-Entscheidung wird. Wer allein entscheidet und dann erwartet, dass die Verbündeten liefern,
mehr Soldaten vor allem, der plädiert in Wahrheit für ein
militärisches Weiter-so in einer Koalition der Willigen.
({3})
Das habe ich immer, auch hier in diesem Hause, kritisiert, und ich kritisiere es auch heute. Antiamerikanische
Motive wird man mir dabei nicht unterstellen.
({4})
Ich bin für amerikanisches Leadership, füge aber
hinzu: Es wäre hilfreich, wenn die Verbündeten gefragt
würden, bevor in Washington über eine neue Strategie
entschieden wird. Weil ich das so sehe, unterstütze ich,
Frau Bundeskanzlerin, ausdrücklich die Position der
Bundesregierung, die ihre Afghanistan betreffenden Entscheidungen erst nach dem 28. Januar 2010, also nach
der Strategiekonferenz in London, treffen will. Ich betone übrigens: Strategiekonferenz, keine Truppenstellerkonferenz.
({5})
Im Übrigen verweise ich auf den Entschließungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion. Ich gehe davon aus,
dass dieser Antrag wie üblich in die Ausschüsse überwiesen wird. Das ist gut so, weil es uns Gelegenheit gibt,
uns um die Details einer verbindlichen Roadmap zu
kümmern und Einfluss zu nehmen auf die erwähnte
Konferenz in London. Das Parlament ist dort nicht vertreten - leider. Die Bundesregierung wäre jedoch gut beraten, auf die Stimmen des Parlamentes, auch die der
Opposition, zu hören.
Zum Schluss. Zwei der drei heutigen Oppositionsfraktionen haben in den vergangenen sieben bzw. elf
Jahren aufseiten der Regierung über wichtige Afghanistan betreffende Fragen mit entschieden. Die SPD-Fraktion steht zu der Verantwortung, die sie dadurch übernommen hat, auch in der Opposition.
({6})
Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff hat das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In Afghanistan ist kein Erfolg allein mit militärischen Mitteln zu erzielen. Das sagen wir in fast jeder
Rede zu diesem Thema. Zu oft wird dabei aber vergessen: In Afghanistan ist auch kein Erfolg ohne militärische Mittel zu erzielen. Wir alle sind uns einig in der
Anerkennung der Tragweite unserer Entscheidung, deutsche Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Wir alle
anerkennen die Verantwortung, die wir damit übernehmen, und wir alle sind uns darin einig, dass wir uns diese
Entscheidung nicht leicht machen dürfen und dass uns
diese Entscheidung durch die Ereignisse und Entwicklungen in Afghanistan alles andere als leicht gemacht
wird.
Ich will mich auch auf die Rede von Präsident Obama
in West Point beziehen. Er hat gesagt: „Afghanistan ist
nicht verloren, aber es hat sich seit einigen Jahren zurückbewegt.“ Eine radikale Allianz aus religiösen Fanatikern, regionalen Aufständischen und Terroristen hat
die Sicherheitslage in vielen Landesteilen verschlechtert.
Korruption und Drogenkriminalität zehren weiter wie
ein Krebsgeschwür am Körper des afghanischen Staates,
und die Umstände der Wiederwahl Präsident Karzais haben diese nicht gerade zu einem Jubelfest der Demokratie gemacht. Ich sage ganz offen: Ich verstehe jeden,
dem unser Engagement in Afghanistan Kopfschmerzen
bereitet. Ich verstehe jeden, der sich fragt, ob wir hier
auf dem richtigen Weg sind, und ich verstehe jeden, der
diesen Einsatz lieber heute als morgen beendet sehen
will. Mir geht es auch so. Aber ich sagte schon, wir sind
uns der Verantwortung bewusst, die wir mit dieser
Mandatserteilung übernehmen, und dazu gehört die Erkenntnis, dass es zu diesem Mandat, zu diesem Einsatz
unserer Soldatinnen und Soldaten, keine vernünftige Alternative gibt. Ich weiß, einige in diesem Haus sehen das
anders.
({0})
- Das stimmt, Herr Ströbele. Aber, Herr Ströbele, Sie
sollten sich fragen: Wer würde die Aufbauhelfer schützen, wenn die Soldaten plötzlich abzögen? Wer würde
dafür sorgen, dass die gebauten Brücken nicht wieder
gesprengt, die neu gebauten Schulen nicht wieder geschlossen würden, die neu erlangten Freiheiten nicht
wieder einkassiert würden? Wer würde das Erreichte absichern, und wer würde künftige Weiterentwicklungen
ermöglichen?
({1})
Die afghanischen Sicherheitskräfte jedenfalls sind dazu
noch nicht in der Lage. Das ist nicht nur unsere Analyse,
so sagt es auch die afghanische Regierung, und es ist vor
allem auch die Auffassung der Mehrheit der Menschen
in Afghanistan.
Ich bin der Kollegin Marieluise Beck dankbar, dass
sie einen Brief afghanischer Frauen an uns alle weitergeleitet hat. In diesem Brief heißt es:
Der Abzug der deutschen Truppen würde einen herben Rückschlag in Bezug auf sämtliche Entwicklungen bedeuten, die stattgefunden haben.
Und weiter:
Deshalb möchten wir die internationale Gemeinschaft und insbesondere die Bundesrepublik
Deutschland ermuntern und um ein langfristiges
Engagement in unserem Land bitten. Auf Ihren
Beitrag - militärisch wie zivil - kommt es an, damit
wir die Chance auf eine friedliche, demokratische
Zukunft erhalten.
- So weit die afghanischen Frauen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben
ein klares politisches Interesse an einer solchen friedlichen, demokratischen Entwicklung in Afghanistan.
({2})
Wir haben ein Interesse daran, dass das afghanische
Volk nicht wieder zur Geißel einer Gewaltherrschaft
wird, die die Gewalt auch nach außen trägt.
Spätestens seit dem 11. September 2001 wissen wir,
dass die Sicherheit und die Stabilität Afghanistans mit
unserer Sicherheit verbunden sind. Wir wissen auch,
dass sich eine Destabilisierung Afghanistans unweigerlich auf dessen Nachbarland Pakistan und damit auf die
ganze Region ausweiten würde.
Stellen wir uns das doch einmal vor: Afghanistan
wird von der internationalen Schutztruppe sich selbst
überlassen, es versinkt erneut im Bürgerkrieg, al-Qaida
und die Taliban erstarken wieder, sie setzen ihre Angriffe gegen den Nachbarstaat Pakistan mit doppelter
Härte und Brutalität fort, Pakistan als Nuklearmacht
stürzt ins Chaos, Indien wird sich gezwungen sehen, einzuschreiten, und der Westen ist von einem erneuten
schrecklichen Terroranschlag bedroht.
Und noch etwas gibt es zu bedenken: Wenn die Mission von 43 Staaten, angeführt von den USA und der
NATO, die unter einem Mandat der Vereinten Nationen
Frieden und Stabilität in ein kleines unterentwickeltes
Land bringen soll, nach fast einem Jahrzehnt eines teuren und aufopferungsvollen Engagements nicht Erfolg
hat, dann steht nicht nur die NATO vor einem Scherbenhaufen, dann können sich auch die Vereinten Nationen,
die diesen Auftrag mandatiert haben, auf Jahrzehnte hinaus von jeder Glaubwürdigkeit ihrer Friedensmissionen,
ja ihres ganzen Auftrags verabschieden. Das alles müssen wir sehen.
Wir übernehmen mit unserer Entscheidung für dieses
Mandat Verantwortung für die Stabilität Afghanistans
und seiner Region, für die Zukunft seiner Menschen, die
sich ein Leben in Frieden wünschen, für die Sicherheit
der Menschen hier bei uns, für das Ansehen der NATO
und für die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen.
Für all diese Ziele müssen wir entschlossen einstehen,
und unsere Beteiligung am ISAF-Einsatz ist dafür ein
unerlässlicher Beitrag.
Meine Damen und Herren, auf der Afghanistan-Konferenz am 28. Januar wollen die ISAF-Partner gemeinsam mit der afghanischen Regierung neue Ziel- und
Zeitvorgaben definieren. Maßgabe dabei wird sein, dass
die Afghanen mehr und mehr die Verantwortung für die
Stabilisierung ihres Landes und seinen Aufbau übernehmen müssen, dass die Afghanisierung des Einsatzes vorangetrieben werden muss. Wir wollen, dass dort konkrete Ziele und überprüfbare Teilschritte vereinbart
werden: für die wirtschaftliche Entwicklung, für die
Ausbildung von Polizei und Armee, für die Bekämpfung
von Korruption, Drogen und Kriminalität, für gute Regierungsführung, für die Achtung von Menschenrechten.
In den nächsten fünf Jahren müssen auf all diesen Feldern deutliche Fortschritte erzielt werden, um den internationalen Truppen zu ermöglichen, sich immer mehr
zurückzuziehen.
Wir wissen noch nicht, was dies für unseren Anteil
am ISAF-Einsatz bedeutet. Das ist der Grund - der Außenminister hat es gesagt -, warum wir das ISAF-Mandat heute zunächst inhaltlich unverändert verabschieden
wollen.
({3})
Wir wollen dem Ergebnis der Konferenz und den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sein werden, in keiner
Weise vorgreifen. Das ist die richtige Reihenfolge.
Eines aber ist klar - auch das hat der Außenminister
noch einmal unterstrichen -: Es geht um die Schaffung
selbsttragender Sicherheit und Stabilität. ISAF und unsere afghanischen Partner müssen in den nächsten Jahren
die Voraussetzungen für eine Übergabe der Verantwortung von ISAF an die afghanischen Sicherheitskräfte
schaffen. Dies ist kein endloser Einsatz.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole es: Ich
habe Respekt und Verständnis für alle Kolleginnen und
Kollegen, die mit diesem Einsatz Schwierigkeiten haben. Dies ist ein schwieriger Einsatz, und die Ereignisse
vom 4. September zeigen, in welch schwierige Situationen er unsere Soldaten führt. Da dürfen wir uns die Entscheidung auch nicht leicht machen. Wir müssen diesen
Einsatz immer wieder neu bewerten.
Das Ergebnis dieser Bewertung fällt für mich heute
aber eindeutig aus: Es gibt keine verantwortbare Alternative zu diesem Einsatz, nicht für Afghanistan und
seine Menschen und auch nicht für unsere Sicherheit.
Vielen Dank.
({4})
Jan van Aken hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie werden gleich dafür stimmen, 4 500 deutsche Soldaten in
den Krieg zu schicken. Sie sagen es nur nicht. Sie reden
hier die ganze Zeit von Mandat, von Abzugsperspektive
- auf das Wort muss man erst einmal kommen -, von
Missionen, von Einsatz, als ob das Ganze eine Feuerwehrübung in Castrop-Rauxel wäre.
({0})
Das ist es aber nicht. Es geht hier um einen Krieg. Die
Entscheidung, die Sie gleich im Bundestag treffen, wird
Menschenleben kosten, und das verschweigen Sie.
({1})
Wie weit dieses Ausblenden einer Kriegsrealität geht,
musste ich vor zwei Tagen in voller Breite und Tiefe erfahren. Da habe ich den Verteidigungsminister zu
Guttenberg gefragt, wie viele zivile Opfer es insgesamt
in den letzten Jahren durch die Bundeswehr in Afghanistan gegeben hat. Er wusste es nicht.
({2})
Auch die ganze Riege der Generäle, die hinter ihm saß,
wusste es nicht. Das interessiert Sie einfach nicht, wenn
in Ihrem Krieg unschuldige Zivilisten zu Tode kommen,
({3})
es sei denn, es steht irgendwann einmal in der Bild-Zeitung.
({4})
Es geht hier auch nicht nur um die Bombenabwürfe in
Kunduz. Die beiden Tanklaster sind doch nur die Spitze
des Eisberges. Darunter liegen viele Tausende Tote. Ich
habe hier nur eine Zahl von den Vereinten Nationen für
Sie: In den letzten zweieinhalb Jahren sind in Afghanistan 4 654 unschuldige Zivilisten bei Kampfhandlungen
getötet worden, ein Drittel davon von afghanischen und
westlichen Truppen.
({5})
Darin sind all die noch nicht eingerechnet, die im Krieg
an Unterernährung und Krankheit gestorben sind.
({6})
Herr zu Guttenberg, es reicht einfach nicht, dass Sie einen Krieg auch einen Krieg nennen. Sie müssen auch sagen, welches Elend und welche Zerstörung dieser Krieg
jeden Tag in Afghanistan bedeutet.
({7})
Ihre Soldaten wissen das ganz genau.
Ich möchte jetzt den Wehrbeauftragten der Bundesregierung zitieren.
({8})
Er hat immer einen sehr engen Kontakt zu den Soldaten.
Er hat neulich in einer Fernsehsendung etwas gesagt,
was mir bis heute keine Ruhe lässt. Er sagte nämlich, bei
seinem letzten Besuch in Afghanistan hätten deutsche
Soldaten ihn bedrängt: Herr Robbe, wenn Sie wieder in
Berlin sind, dann sagen Sie doch bitte, dass im Moment
hier keine Brunnen gebaut werden und auch keine Schulen errichtet werden, sondern dass hier Krieg stattfindet. Das ist die Stimme der deutschen Soldaten in Afghanistan. Ich habe mir kurz überlegt, ob ich diesen Satz heute
nicht immer und immer wieder vorlesen soll: Sagen Sie
doch bitte, dass im Moment hier keine Brunnen gebaut
werden und auch keine Schulen errichtet werden, sondern dass hier Krieg stattfindet.
({9})
Wir müssen endlich aufhören, diesen Krieg als große
Aufbauaktion darzustellen. Wenn ich Ihnen heute hier
zuhöre, dann habe ich das Gefühl, Sie schicken Care-Pakete nach Afghanistan und keine Soldaten. Wenn die
deutschen Soldaten selber sagen, hier werde nichts aufgebaut, dann müssen Sie auch einmal darauf hören.
({10})
Das Gleiche gilt übrigens auch für die Entwicklungshelfer, die tagtäglich vor Ort sind. Sie sagen seit Jahren
das Gleiche: Da, wo das Militär ist, können wir gar
nichts aufbauen. - Erst gestern hat dazu CARE, eine der
größten internationalen Hilfsorganisationen, deutliche
Worte gefunden: In dem Moment, in dem wir gezwungen werden, mit dem Militär zusammenzuarbeiten, werden wir von den Menschen vor Ort nicht mehr akzeptiert. Dieses Risiko können wir nicht eingehen. Deshalb
nehmen wir kein Geld an, das uns zwingen würde, mit
dem Militär zusammenzuarbeiten.
({11})
Nehmen wir doch einmal einen Zeugen aus den Reihen der Bundeswehr. Der ehemalige Bundeswehrarzt
Reinhard Erös baut seit sieben Jahren in Afghanistan
Schulen für Mädchen und Jungen,
({12})
und zwar im Osten, wo die Amerikaner sind, also mitten
im Hauptkampfgebiet, mitten im Taliban-Gebiet. Was
sagt er dazu? Ich habe neulich mit ihm in einer Talkshow
gesessen, in der er gesagt hat: Die Voraussetzung dafür,
dass ich Schulen bauen und betreiben kann, ist, dass sich
das Militär heraushält. Die Amerikaner haben bei uns
die strikte Vorgabe, an die sie sich auch halten: Kommt
unseren Schulen nicht zu nahe, Distanz vier bis fünf Kilometer. - Das hat er militärisch präzise ausgedrückt.
({13})
Herr Erös sagte weiter: Verbindet Schulen nicht mit
westlichen Soldaten. Und das funktioniert mitten im Taliban-Gebiet. - Das sind die Realitäten. Hören Sie endlich auf, hier Krieg als Wohltätigkeitsveranstaltung anzupreisen!
({14})
Eine Frage habe ich die ganze Zeit: Warum überhaupt, warum schicken Sie jetzt wieder 4 500 deutsche
Soldaten in den Krieg? In ihrem Antrag nennt die Bundesregierung dafür genau zwei Gründe. Der erste Grund
ist die Sicherheit Deutschlands, also Terrorbekämpfung.
Dabei wissen doch alle Militärs und auch Sie, Herr zu
Guttenberg, ganz genau, dass sich Terror nicht mit Krieg
bekämpfen lässt.
({15})
Im Gegenteil: Mit jedem einzelnen Bombenabwurf und
mit jedem einzelnen Toten in Afghanistan wächst der
Widerstand dort. Auch die internationalen Terrororganisationen bekommen mehr und mehr Zulauf von jungen
Leuten.
({16})
Der zweite Grund, den Sie nennen, ist die Bündnistreue. Sie schreiben in dem Antrag, dem Sie gleich zustimmen werden, als Begründung für den Kriegseinsatz:
Für die Bundesregierung ist es eine Frage der
Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit als Bündnispartner …
Wenn ich mir vorstelle, dass mir als Soldaten in Afghanistan die Kugeln rechts und links um die Ohren fliegen
und mein oberster Dienstherr mir sagt: „Das machst du,
um die deutsche Bündnistreue zu demonstrieren“, dann
muss ich doch sofort den Dienst quittieren.
({17})
Nehmen Sie sich ein Beispiel an Kanada und Australien, die den Mut hatten, ihre Soldaten aus Afghanistan
abzuziehen. Nehmen Sie sich auch ein Beispiel am niederländischen Parlament, das den Mut hatte, den Abzug
seiner Soldaten zu beschließen.
({18})
Bringen auch Sie endlich den Mut auf, den Abzug der
deutschen Soldaten zu beschließen und jetzt endlich den
Weg zum Frieden einzuschlagen.
Die spannende Frage ist natürlich: Was ist der Weg
zum Frieden? Wie könnte er aussehen? Da muss man
das Rad gar nicht neu erfinden.
({19})
Denn in jedem Krieg ist der allererste Schritt, den man
machen muss, um zum Frieden zu kommen, ein Waffenstillstand.
({20})
Warum redet hier eigentlich niemand über Waffenstillstand?
({21})
Der kann natürlich scheitern. Aber ohne einen Waffenstillstand wird es niemals Frieden geben.
({22})
Das war in jedem Krieg so, und das ist auch im Afghanistan-Krieg so.
Also, Herr Westerwelle, wann fangen die Verhandlungen an? Wissen Sie jetzt schon, mit welchen lokalen
Führern Sie dann zusammenarbeiten wollen?
({23})
Haben Sie den Waffenstillstand schon auf die Tagesordnung der Afghanistan-Konferenz gesetzt?
({24})
Das darf doch keine Truppenstellerkonferenz, sondern
muss eine Friedenskonferenz werden.
({25})
Wir als Linke bleiben dabei: Wir lehnen diesen Krieg
ab. Wir lehnen den Kriegseinsatz der deutschen Soldaten
ab, und wir werden uns weiterhin im Bundestag und auf
der Straße für einen Waffenstillstand, für einen wirklich
zivilen Aufbau in Afghanistan und für einen endgültigen
Frieden einsetzen.
({26})
Vorhin hat ein Abgeordneter der CDU/CSU Immanuel
Kant zitiert:
Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft.
Recht hat er. Aber der Krieg, den Sie jetzt gleich beschließen, ist das Meisterstück der Unvernunft.
({27})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Ob wir nun deutsche Soldaten oder deutsche Waffen in einen Krieg schicken, beides ist falsch. Ich sage Ihnen: Wir werden keine
Ruhe geben, bis beides aufhört.
Ich danke Ihnen.
({28})
Jürgen Trittin hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege van Aken, man kann ja unterschiedlicher
Auffassung über diesen Einsatz sein und darüber so oder
so denken. Eines aber sollten Sie sich klarmachen: Egal
wie sich ein Mitglied dieses Hauses entscheidet, egal ob
er dafürstimmt, dagegenstimmt oder sich enthält, diese
Entscheidung hat so oder so Konsequenzen für das Le674
ben von Soldatinnen und Soldaten, von Entwicklungshelfern sowie von Afghaninnen und Afghanen. Das Dilemma ist, dass es keine Entscheidung gibt, die wirklich
das erzeugt, was wir alle uns wünschen, nämlich dass
niemand in Gefahr kommt.
({0})
Es geht um eine Abwägung und in diesem Sinne um gegenseitigen Respekt.
Wir sollten es uns nicht einfach machen. In Afghanistan geht es um einen Stabilisierungseinsatz im Auftrag
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wir haben
es nicht mit einer imperialistischen Invasion zu tun. Wir
haben es nicht mit dem Überfall der Sowjetunion auf
dieses Land zu tun, sondern mit einem Stabilisierungseinsatz im Auftrag der Vereinten Nationen.
({1})
Es ist das Wesen eines solchen Stabilisierungseinsatzes, dass er nur dann erfolgreich sein kann, wenn man
den Grundgedanken, dass irgendein Problem auf dieser
Welt nur militärisch zu lösen ist, überwindet, aber
gleichzeitig weiß, dass die Stabilisierung von zerfallenden Gesellschaften nur in einem vernünftigen Zusammenwirken von Sicherheit - das beinhaltet auch militärische Sicherheit - und Entwicklung stattfinden kann. Es
geht dabei darum, dies unter dem Primat des Zivilen in
ein vernünftiges, ausgewogenes Verhältnis zu bekommen. So schafft man heute auf diesem Globus, in einer
komplizierteren Welt, Frieden.
({2})
Dazu gehört auch, dass man, wenn etwas schiefgeht,
wenn ein Fehler passiert, über diejenigen, die solche
Entscheidungen in Extremsituationen zu treffen haben,
nicht leichtfertig den Stab bricht; denn solche Fehler
können passieren. In Richtung der Bundesregierung sage
ich aber: Solche Fehler darf man nicht vertuschen; man
muss sie als Fehler benennen.
({3})
Denn nur wenn man solche Angriffe wie den vom
4. September 2009 als Fehler benennt, haben wir gemeinsam die Chance, aus einem solchen Fehler zu lernen und dafür Sorge zu tragen, dass sich solche Fehler
tunlichst nicht wiederholen. Bei Ihnen, Herr Bundesverteidigungsminister, Frau Bundeskanzlerin, vermisse ich,
dass Sie auf dem Stand des Wissens, das Sie heute haben, zugeben, dass es falsch war, wie an dieser Stelle
agiert wurde, und uns erklären, wie man das künftig anders machen will.
({4})
Wir wissen, wie Sie, dass es ein einfaches Weiter-so und
ein Durchwursteln bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
nicht geben wird. Deswegen brauchen wir - der Außenminister hat darauf hingewiesen - eine Abzugsperspektive.
Sie haben sich auf Präsident Obama berufen.
({0})
militärische Aufstockung, mehr zivile Hilfe und ein konkretes Datum, an dem der Abzug beginnt. Das alles haben Sie aber in Ihrem Mandat - und Sie berufen sich auf
Obama - nicht vorgesehen. Sie legen uns ein Mandat
vor, in dem es heißt: Wir machen erst einmal ein Jahr so
weiter und ändern es eventuell im Lichte der Ergebnisse
der Afghanistan-Konferenz, wir sagen aber heute noch
nicht, wie.
({1})
Ich sage Ihnen: Das ist ein Ansinnen an den Deutschen
Bundestag, einen Blankoscheck auszustellen. Ich hätte
mir gewünscht, Herr Westerwelle, dass Sie mit Ihrer
mehrfachen Ankündigung, ein konkretes zivil-militärisches Mandat vorzulegen, ernst gemacht hätten, und
nicht allgemein versprechen, dass Sie für den Polizeiaufbau mehr tun wollen; denn das hören wir seit drei Jahren. Vielmehr hätte ich von Ihnen die verbindliche Zusage erwartet, dass Sie endlich 500 Polizistinnen und
Polizisten nach Afghanistan schicken, weil das die Voraussetzung dafür ist, dass es dort 80 000 Polizistinnen
und Polizisten geben kann.
({2})
Das alles sind Sie uns schuldig geblieben. Sie sind
nicht einmal in der Lage, zu benennen, mit welchen zivilen Vorschlägen und wie viel zusätzlichen Euros an Entwicklungshilfe Sie in diese Afghanistan-Konferenz gehen. Von uns erwarten Sie aber, dass wir für ein Jahr
verlängern. Ich sage Ihnen: Wenn Sie diese Konferenz
ernst nehmen würden, dann hätten Sie diesen Vorschlag
nicht machen dürfen. Dann hätten Sie sagen müssen:
Okay, wir wissen noch nicht, was bei dieser Konferenz
vorgeht. Wir gehen mit verschiedenen Vorschlägen hin
und werden das Mandat im Lichte dieser Konferenz verändern, und weil wir es danach ändern, verlängern wir
das Mandat erst einmal für ein halbes Jahr. In anderen
Fällen haben Sie das auch gekonnt. Sie aber lassen uns
im Unklaren über Ihre Absichten. Sie sagen nicht, wohin
Sie wollen. Sie machen unverbindliche Ankündigungen,
erwarten aber von uns, dass wir zu einem weiteren Jahr
Ja sagen. Ich finde, das ist eine Überforderung.
Wir Grüne stehen zu unserer Verantwortung in
Afghanistan. Es kann und darf keinen Sofortabzug geben, aber am Ende des Tages brauchen wir eine konkrete
Abzugsperspektive und eine Aufbauoffensive. Die bleiben Sie schuldig. Deswegen sagt die große Mehrheit
meiner Fraktion - zu Ihrem Mandat, nicht zu AfghanisJürgen Trittin
tan -: Wir können diesem Mandat nicht zustimmen. Deshalb werden wir uns enthalten.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Polenz.
Herr Kollege Trittin, ich hatte mich zu einer Zwischenfrage gemeldet, die Sie leider nicht zugelassen haben. Deshalb möchte ich mich in dieser Form auf die
letzte Passage Ihres Beitrags beziehen, in der Sie kritisieren, dass die Bundesregierung erneut ein Mandat für
ein Jahr beantragt. Glauben Sie nicht, dass in dieser Situation ein auf ein halbes Jahr verkürztes Mandat dahin gehend weltweit große Kommunikationsprobleme ausgelöst hätte, dass es in der Diskussion im Bündnis so hätte
verstanden werden können, als sei das der Anfang vom
Ende des deutschen Engagements in Afghanistan?
({0})
Herr Trittin, wenn man die Regierung in der Frage der
Kommunikation kritisiert und die eine oder andere Enthaltung in Ihrer Fraktion damit begründen will, muss
man einbeziehen, dass es hier nicht nur eine Binnenkommunikation, sondern auch eine Kommunikation nach
draußen gibt. Sie wissen genauso gut wie ich, dass bereits jetzt - zum Beispiel auch weil die Rede des amerikanischen Präsidenten vergleichsweise spät kam - in der
Region die Sorge besteht, die 43 Länder, die sich jetzt
für die internationale Gemeinschaft in Afghanistan engagieren, könnten vielleicht doch vorzeitig diesem Land
den Rücken kehren und diejenigen im Stich lassen, die
sich jetzt mit uns für den Aufbau ihres Landes engagieren. Die müssen wir im Blick haben, und deshalb glaube
ich, dass der Antrag der Bundesregierung, am Einjahresmandat festzuhalten, genau richtig ist.
({1})
Herr Polenz, das Signal für Ihre Zwischenfrage kam
außerhalb der zugestandenen Redezeit; das konnten Sie
nicht wissen. Jetzt erhält Herr Trittin das Wort für eine
Erwiderung.
Sehr geehrter Herr Kollege Polenz, entschuldigen Sie,
aber ich habe Ihre Meldung nicht gesehen. Ich wollte Ihrer Frage überhaupt nicht ausweichen. Ich finde, Sie haben eine wichtige und richtige Frage angesprochen. Die
Bundesregierung hätte aber Alternativen gehabt. Wir
können als Parlament immer nur Ja oder Nein sagen. Die
Bundesregierung hätte uns heute ihre Vorstellungen, die
sie für ein Mandat hat, auch was die zivile Seite - die
Aufstockung der Entwicklungshilfe und der Polizei - angeht, hier vorlegen können; dann würde über die Sachlage, die Sie angesprochen haben, anders diskutiert.
Die Bundesregierung hätte sich auch entscheiden
können, zu sagen: Wir wissen nicht, wie weit wir gehen.
Bis heute gibt es keine Äußerung der Bundesregierung
zu den Ankündigungen auch aus Ihren Reihen - der Kollege redet nachher noch -, man sei bei der Aufstockung
der Truppen flexibel. Es gibt bis heute keine Antwort auf
die Frage, warum der entsprechende Teil des Haushalts
um 200 Millionen Euro aufgestockt worden ist. All dies
ist unklar.
Deswegen hätten Sie das tun müssen - Sie heben auf
die Binnenkommunikation ab -, was Sie in einem anderen Fall auch getan haben: Sie hätten das Mandat auf ein
halbes Jahr begrenzen müssen. Das können Sie, wie man
am Beispiel UNIFIL sieht. Da sind Sie sogar in der
Lage, das Mandat so sehr zu verkürzen, dass es schon
vor dem nächsten Beschluss des Sicherheitsrates über
ein zusätzliches UNIFIL-Mandat ausläuft; Sie lassen es
zwei Monate vorher enden. Wenn es Ihnen mit den
Signalen an die Verbündeten ernst ist, hätten Sie in diesem Fall zumindest sagen müssen: Wir verlängern bis
August, weil dann der Sicherheitsrat entschieden hat.
Ich sage Ihnen: Heute wäre es richtig gewesen, uns
entweder ein komplettes zivil-militärisches Mandat vorzulegen oder aber das Mandat, wie es in unserem Entschließungsantrag heißt - das wäre logisch gewesen -,
auf ein halbes Jahr zu verkürzen, verbunden mit der
Klarstellung, dass darauf ein neues Mandat folgen wird.
Das haben Sie versäumt; das bringt uns in die Situation,
Ihrem Antrag in der Form nicht zustimmen zu können.
({0})
Der Kollege Dr. Rainer Stinner hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In diesen Tagen schaut die ganze Welt auf Afghanistan.
Wir alle merken, dass unsere heutige Debatte in der
deutschen Öffentlichkeit eine viel größere Resonanz findet als in den vergangenen Jahren. Ich finde das gut;
denn wir nehmen heute wieder einmal eine wichtige
Weichenstellung vor; wir treffen eine wichtige Entscheidung für unser Land und die internationale Gemeinschaft.
Wir von der FDP-Fraktion werden dem Mandatsantrag der Bundesregierung zustimmen. Es ist im deutschen nationalen Interesse, dass Afghanistan nicht wieder zur Brutstätte des internationalen Terrorismus wird.
({0})
Es ist im deutschen nationalen Interesse, dass das Land
stabilisiert wird, dass sich das Land und die Region nicht
zu einem unüberschaubaren Pulverfass entwickeln, das
die Sicherheit der Region und der ganzen Welt gefährdet. Wir können und wollen es auch nicht zulassen, dass
dieses Land wieder in die Steinzeit zurückgebombt wird,
mit unübersehbaren Folgen für die ganze Bevölkerung,
insbesondere für Frauen und Kinder.
({1})
Wer angesichts dieser Tatsache heute hier, im Deutschen Bundestag, öffentlich den sofortigen Abzug deutscher Soldaten fordert, handelt völlig verantwortungslos.
({2})
Wer heute hier den sofortigen Abzug fordert, zeigt ein
weiteres Mal, dass ihm das Schicksal von Millionen von
Menschen völlig egal ist.
({3})
Diejenigen, die das hier und heute tun, stehen damit in
einer Reihe unseliger Fehlentscheidungen, die Sie und
Ihre Vorgänger in den letzten 20, 30 Jahren immer wieder gefällt haben. Ihnen sind die Menschen völlig egal.
({4})
Wir bürden den Soldatinnen und Soldaten, den Polizisten und den Zivilisten, die in Afghanistan sind, eine
schwere Aufgabe auf. Deshalb rufe ich von hier aus den
vielen Soldaten, Polizisten und Zivilisten in Afghanistan, die die heutige Debatte vor Ort live verfolgen, zu:
Unsere Gedanken sind bei Ihnen. Wir unterstützen Sie.
Wir danken Ihnen ganz herzlich für Ihren schweren, freiwilligen Einsatz. Insbesondere sprechen wir Ihnen unsere Anerkennung aus.
({5})
Wir von der FDP-Fraktion sind weit davon entfernt,
uns die Welt in Afghanistan zurechtzubiegen und sie uns
rosig auszumalen. Wir wissen, dass wir schwere Probleme mit dem Mandat haben, dass wir schwere Probleme in Afghanistan haben. Deshalb betrachten wir das
Mandat von Jahr zu Jahr und auch zwischen den Jahren
kritisch, und wir sind dabei auch selbstkritisch.
({6})
- Herr Ströbele, das ist notwendig.
Unsere Kritik und Selbstkritik hat insbesondere zwei
Aspekte zum Inhalt:
Erstens. Was wollen wir eigentlich dort? Was ist die
Strategie? Was ist das Ziel? Eine genaue Definition von
Strategie und Ziel durch die NATO ist nochmals dringend notwendig. Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich,
dass in London eine Afghanistan-Konferenz stattfinden
wird. Werter Herr Trittin, Sie sind kein Hellseher, ich bin
kein Hellseher, und auch Herr Westerwelle ist kein Hellseher. Wir alle wissen nicht, was das Ergebnis dieser
Konferenz sein wird. Deshalb wäre es völlig unseriös,
wenn wir heute die möglichen Ergebnisse der Konferenz, an der wir aktiv teilnehmen wollen, vorwegnehmen
würden. Der folgende Ablauf ist richtig: Erst die Konferenz, erst das Ziel, dann die Strategie, dann die Maßnahmen, und dann entscheiden wir hier, im Deutschen Bundestag, welche Ressourcen wir einsetzen. Das ist die
richtige Reihenfolge.
Ich spreche ausdrücklich von Ressourcen, weil ich
sehr deutlich sagen möchte: Es geht nicht nur darum,
dass wir uns über die Anzahl der Soldaten unterhalten.
Es geht darum, wie wir dem Ziel, das wir gemeinsam haben - ich glaube, darin sind wir uns alle einig -, der Stabilisierung Afghanistans insgesamt, näherkommen können.
Der zweite Aspekt unserer Reflexion ist immer gewesen: Ist die vernetzte Sicherheit eigentlich richtig verankert? Auch diesbezüglich müssen wir sehr selbstkritisch
sein. Ich sage ganz offen und ehrlich: Wir müssen gemeinsam besser werden.
Ich bin sehr froh darüber, dass Minister Niebel in den
ersten Wochen seiner Amtszeit deutliche Impulse für Afghanistan gesetzt hat.
({7})
Ich fordere die Innenpolitiker in Bund und Ländern auf
und bitte darum, dem Thema Afghanistan eine höhere
Priorität beizumessen.
({8})
Wir haben eine schwere Entscheidung zu fällen. Sie
betrifft Soldaten, ihre Familien, Polizisten und Zivilisten. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten bestens ausgerüstet, bestens ausgestattet sind und mit klaren Einsatzregeln ihre Arbeit in
Afghanistan verrichten können.
Meine Damen und Herren, wir treffen heute eine
schwere, eine wichtige, eine bedeutsame Entscheidung.
Wir treffen sie in Verantwortung für unsere Soldaten, in
Verantwortung hinsichtlich der internationalen Kompetenz und Zusammenarbeit Deutschlands. Wir treffen sie
mit gutem Gewissen. Wir treffen sie für Deutschland, für
den Frieden und für Afghanistan.
({9})
Ich danke Ihnen.
({10})
Eine Kurzintervention des Kollegen Gehrcke.
({0})
Ihnen fällt auch nichts Besseres mehr ein! - Kollege
Stinner, ich bin bereit, mir sehr viel vorhalten zu lassen.
Ich bin bereit, mir vorhalten zu lassen, dass ich mich
möglicherweise irre und dass sich möglicherweise meine
Fraktion irrt. Glücklich ist, wer Irrtum für sich selbst
hundertprozentig ausschließen kann, wie Sie es offensichtlich können. Ich bin bereit, mir vorhalten zu lassen,
dass unsere Vorschläge möglicherweise nicht zu dem Ergebnis führen, das wir wünschen, nämlich endlich Frieden in einem Land, in dem seit über 30 Jahren Krieg
herrscht. Ich bin bereit, mir vorhalten zu lassen, dass wir
alle zusammen die Dinge vielleicht noch nicht bis zum
Ende durchdacht haben und vieles nicht berücksichtigt
haben. Ich bin aber nicht bereit, mir von Ihnen vorhalten
zu lassen, dass ich persönlich oder meine Fraktion kein
Interesse am Leben der Menschen in Afghanistan haben.
Das ist eine Unverschämtheit. Eine solche Behauptung
steht Ihnen nicht zu.
({0})
Ich will Ihnen ein weiteres Moment nennen, das für
mich ein doch sehr entsetzliches Déjà-vu-Erlebnis darstellte. Sie haben davon gesprochen, Afghanistan dürfe
nicht in die Steinzeit zurückgebombt werden. Das ist ja
ein Satz, der im Vietnamkrieg eine Rolle gespielt hat.
Aber unterstellen wir das einmal: Steinzeit, Mittelalter.
Sie haben davon gesprochen, wie toll in Afghanistan
dazu beigetragen werde, dass Bildung verbreitet wird,
dass eine andere Art und Weise der Ökonomie durchgesetzt werde, dass ein Land aus dem Mittelalter herausgelöst werde. All diese Argumente habe ich immer benutzt,
um den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan zu
rechtfertigen. Ihre Argumente sind nicht anders und keinen Deut besser, als es damals meine Argumente waren.
Diese waren, wie man inzwischen gesehen hat, falsch.
({1})
Das müssen Sie sich vorhalten lassen. Sie beten alten
Quark nach und das in einer Art und Weise, durch die
eine Verständigung über einen vernünftigen politischen
Prozess schon nicht mehr möglich ist.
Ich habe sehr genau hingehört, welche Bedenken hier
artikuliert und welche neuen Fragen aufgeworfen worden sind. Wenn man in der Art und Weise, wie Sie hier
glauben, Politik machen zu können, nämlich Augen zu
und durch, weiterhin in die Sackgasse rennt, dann wird
man Schaden anrichten - in Afghanistan und auch bei
den Soldaten, die Sie nach Afghanistan schicken. Das ist
Krieg, und aus diesem Krieg muss man heraus. Das war
unser Anliegen.
({2})
Herr Stinner, es gibt noch eine zweite Kurzintervention des Kollegen Ströbele. Diese würde ich gern erst
noch zulassen; dann können Sie im Zusammenhang antworten.
({0})
- Genau. - Herr Ströbele, bitte schön.
Der Kollege Stinner und vorher auch schon der Kollege Polenz haben darauf hingewiesen, dass man berücksichtigen sollte, wie das, was hier gesagt wird, weit draußen in der Welt ankommt. Das ist sicher richtig. Man
sollte aber auch berücksichtigen, wie es hier in Deutschland, hier in Berlin ankommt. Ich spreche hier - Kollege
Mißfelder hat mir ja letztes Mal vorgeworfen, ich wolle
nur meine Meinung sagen und diese hier unterbringen für die Bevölkerung in meinem Wahlkreis in der Mitte
Berlins. Ich maße mir an, für die Mehrheit der deutschen
Bevölkerung zu sprechen,
({0})
nämlich für den Teil der deutschen Bevölkerung - darunter sind auch CDU- und FDP-Wählerinnen und
-Wähler, und zwar nicht zu wenige -,
({1})
der nicht versteht, dass hier immer nur darüber geredet
wird, wie mit mehr Soldaten, mit mehr Krieg in Afghanistan die Situation bewältig werden kann.
({2})
Sie verstehen einfach nicht, dass man sich überhaupt
nicht damit auseinandersetzt, dass die Bundeswehr seit
acht Jahren in Afghanistan ist und dass der Bevölkerung
in Deutschland - übrigens auch der Bundeswehr - seit
fünf Jahren immer wieder versprochen wird: Wir brauchen nur ein paar mehr Soldaten, wir brauchen ein bisschen mehr Militär, dann wird sich das Schicksal da
schon wenden, dann werden wir unserem Ziel näher
kommen.
Sie nehmen - das werfe ich der Bundesregierung und
den Koalitionären vor - die Realitäten in Afghanistan
nicht zur Kenntnis.
({3})
Sie reden nur davon, dass Sie militärische Mittel brauchen. Sie übersehen, dass der zivile Aufbau, der uns allen am Herzen liegt, in weiten Gegenden, beispielsweise
rund um Kunduz, so gut wie gar nicht mehr stattfinden
kann, weil in Afghanistan Krieg herrscht. Wir verlängern diesen Krieg nur, indem wir immer neue Soldaten
nach Afghanistan schicken.
Bitte erklären Sie nicht nur der Weltöffentlichkeit,
sondern auch Ihren und meinen Wählerinnen und Wählern und der gesamten deutschen Bevölkerung, warum
Sie jetzt hoffen, dass sich die Situation in Afghanistan
im nächsten oder übernächsten Jahr verbessert, wenn
man heute die Aufstockung der Zahl der Soldaten und
die Fortsetzung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr mit einem Weiter-so beschließt. Was so in ein oder
zwei Jahren dort passiert sein wird, ist, dass dort weitere
Tausende von Menschen im Krieg getötet, verletzt oder
verstümmelt worden sein werden. Ich bitte Sie, dies zu
bedenken. Darauf sollten Sie eine Antwort geben. Diese
Antwort sind Sie der deutschen Bevölkerung schuldig.
({4})
Herr Kollege Stinner zur Antwort auf die beiden
Kurzinterventionen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Gehrcke, als
Sie sich gemeldet haben, habe ich zunächst gedacht, Sie
wollten sich für die unsägliche Rede Ihres Herrn van
Aken hier entschuldigen.
({0})
Da habe ich mich leider getäuscht.
Lieber Herr Gehrcke, da ich Sie persönlich als durchaus differenziert denkenden Menschen schätze, möchte
ich Ihnen sehr gerne antworten. Ihr Kollege und Ihre
Partei bezeichnen uns hier im Parlament und draußen im
Lande als Kriegstreiber,
({1})
als Leute, die den Krieg willkürlich in fremde Länder
treiben.
({2})
In Anbetracht eines solch gravierenden Vorwurfs muss
ich sagen: Auf diesen groben Klotz gehört eindeutig ein
grober Keil.
({3})
Deshalb stehe ich nicht an, gegenüber Ihrer Partei eine
sehr deutliche Sprache zu sprechen.
Sie und Herr Ströbele wollen heute hier mit Nein
stimmen. Würde die Mandatsverlängerung abgelehnt,
hieße das aber, dass die Soldaten innerhalb von zehn Tagen abgezogen sein müssten.
({4})
Lassen Sie uns jetzt einmal realistisch denken. Sehr geehrter, lieber Herr Gehrcke, sind Sie nicht in der Lage zu
ermessen, was das für die Menschen in Afghanistan bedeuten würde? In dieser Woche hatten wir eine afghanische Delegation zu Besuch, die afghanischen Frauen haben einen Brief geschrieben,
({5})
und vor einiger Zeit haben wir mit 20 afghanischen Parlamentariern eine beeindruckende Diskussion geführt.
Alle haben uns aufgefordert: Verlasst unser Land
nicht! - Herr Gehrcke, Sie glauben doch nicht im Ernst,
dass dann, wenn die NATO ihre Soldaten innerhalb von
14 Tagen abziehen würde, irgendeine Chance bestünde,
dass die Menschen in Afghanistan in Frieden leben.
Nein, nein, nein! Das ist nicht der Fall. Deshalb verlängern wir das Mandat.
({6})
Herr Ströbele, ich bin gerne bereit, bei anderer Gelegenheit ausführlicher mit Ihnen über die Frage, welche
Entwicklung stattgefunden hat, zu sprechen. Jetzt habe
ich allerdings nicht die dafür notwendige Zeit zur Verfügung. Ich frage Sie aber: Sind Sie nicht in der Lage, zu
erkennen, dass es in den letzten Jahren durchaus zu einer
Wandlung der Attitüden der verschiedenen beteiligten
NATO-Staaten gekommen ist?
({7})
Sind Sie nicht in der Lage zu erkennen, dass wir jetzt in
London eine Chance haben, die wir noch niemals hatten,
nämlich die Chance, bezüglich der Strategie in Afghanistan eine Konvergenz der Attitüden der verschiedenen
beteiligten Länder herzustellen? Das ist eine Veränderung.
Außerdem, Herr Ströbele - ich muss das so deutlich
sagen -, bezweifle ich Ihre Fähigkeit, zu hören.
({8})
Der Außenminister, der Kollege Schockenhoff von der
CDU und ich haben eindeutig mehrfach und mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Militär allein nicht die
Lösung ist.
({9})
- Herr Ströbele, hören Sie eigentlich nicht zu? Hören Sie
einfach einmal zu, nehmen Sie das zur Kenntnis und lassen Sie das Gehörte von Ihren Gehörgängen auch in Ihr
Gehirn hineinrauschen.
({10})
Wir haben eindeutig und mehrfach betont: Wir wissen
genau, dass wir einen gemeinsamen, vernetzten Ansatz
- „comprehensive“ oder wie auch immer Sie ihn nennen
wollen - brauchen. Dafür stehen wir. Wir sind doch
selbstkritisch, Herr Ströbele; das habe ich doch gesagt.
({11})
Wir malen uns die Welt nicht rosa.
({12})
Wir glauben, dass wir mit der neuen Bundesregierung
jetzt, wo sich die Möglichkeit bietet, in London eine gemeinsame Kompetenzlinie der NATO zu finden, bessere
Chancen haben als jemals zuvor. Das ist ein Fortschritt.
Den sollten Sie unterstützen, statt hier nicht zuzuhören
und das abzulehnen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
weiß nicht, ob das Geschrei, das die Linken zu diesem
Thema aufführen, der Ernsthaftigkeit der Situation und
der Not der Menschen in Afghanistan wirklich angemessen ist.
({0})
Mein Rat wäre: Bevor Sie der ganzen Welt erklären
wollen, wie es in Afghanistan aussieht, sollten Sie wenigstens Ihren Fraktionsvorsitzenden einmal dorthin
schicken, damit er sich ein eigenes Bild macht und vielleicht herausfindet, wie man was verhindern kann. Hier
sitzt eine Reihe von verantwortungsvollen Politikern aus
allen Fraktionen. Alle machen sich die Mühe, sich in
Afghanistan umzuhören und umzuschauen.
({1})
Dieses Geschäft ist Ihnen schon zu viel. Sie wollen vom
bequemen Schreibtisch aus wissen, wie es geht.
({2})
Die Bundesregierung und alle, die heute geredet haben, haben übereinstimmend gesagt: Ein Weiter-so darf
es in Afghanistan nicht geben. Wir hätten uns allerdings
ein präziseres und aufschlussreicheres Mandat gewünscht, übrigens auch ein kürzeres; das wurde hier
schon diskutiert. Ich glaube nicht, dass es ausreichend
ist, wenn Sie auf die Konferenz am 28. Januar verweisen. Es ist richtig: Auf dieser Konferenz muss über Neuausrichtungen und Veränderungen der Strategie diskutiert und entschieden werden. Wir wünschen uns
allerdings, dass Sie sich nicht hinter dieser Konferenz
verstecken, sondern im Vorfeld mit uns Parlamentariern
darüber reden, mit welchen Ideen und Impulsen Sie dorthin fahren.
({3})
Weil dies wichtig ist, hat unsere Fraktion einen Entschließungsantrag vorgelegt. Dieser Entschließungsantrag ist in vielen Bereichen sehr konkret. Wir sagen
zum Beispiel, dass die Hilfe für Afghanistan nicht unkonditioniert gewährt werden darf, sondern die afghanische Regierung eine Menge Hausaufgaben zu erledigen
hat. Wir sagen natürlich auch, dass ein Versöhnungsprozess initiiert werden muss. Vor allen Dingen sagen wir,
es reicht nicht aus, immer wieder zu fordern, dass die afghanische Polizei ausgebildet wird. Es ist höchste Zeit,
dass der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland
mit seinen Kollegen aus den Ländern Klartext über den
Aufbau der Polizei in Afghanistan redet und sich hier
einmal ausdrücklich dazu bekennt, was er in Zukunft
leisten will, damit der Aufbau der Polizei in Afghanistan
vernünftig vorankommt. Wir wissen doch alle, wie groß
die Defizite vor allen Dingen im Bereich Kunduz sind.
Diese Defizite werden wir nur beheben können, wenn
wir nachhaltig für eine Finanzierung der dort notwendigen zusätzlichen Polizisten sorgen. Zu all dem schweigt
die Regierung; das ist wirklich zu wenig. Darüber muss
diskutiert werden!
({4})
Obamas Rede - darüber wurde schon geredet - hat
nicht wirklich etwas Neues gebracht. Eines hat er mit
seiner Rede aber schon im Vorfeld erreicht: All diejenigen, auch in der Regierung, die in der Vergangenheit immer wieder gesagt haben: „Der Afghanistan-Einsatz
wird erst auf einer langen Zeitschiene gesehen erfolgreich“, merkten, dass das der falsche Ansatz ist. Die
westlichen Demokratien - auch wir - werden diesen
Einsatz weder materiell noch von der Zustimmung in unserer Gesellschaft her 10, 15 Jahre durchhalten.
Deshalb ist es sicherlich richtig, dass jetzt darüber geredet werden muss: Wo muss man Strategien nachjustieren, und wo muss das als richtig Erkannte endlich konsequenter um- und durchgesetzt werden? Das ist doch das
Hauptproblem in Afghanistan: dass das, was man weiß,
nicht wirklich umgesetzt wird. Deshalb sind wir durchaus dankbar, dass jetzt klar ist, dass in allen Bereichen
- das trifft eben nicht in erster Linie auf das Militärische
zu, sondern vor allen Dingen auf den zivilen Aufbau mehr getan werden muss.
Wir stimmen mit der Regierung überein, wenn sie
sagt, dass die Frage der Truppenstärke nicht am Anfang
stehen darf, sondern am Ende stehen muss. Es ist richtig,
zunächst die Ziele und erst dann den Weg dorthin zu definieren. Es bleibt dabei: Wir Deutschen haben eine besondere Verantwortung im Norden. Bei dieser Verantwortung sollen und müssen wir bleiben. Es muss aber
auch darüber geredet werden: Wo gibt es im Norden stabile Distrikte? Die gibt es. So können Ressourcen frei
werden, die man einsetzen kann, um die Lage im zweifellos problematischen Bereich Kunduz zu stärken. All
dies kann und sollte vorgelegt werden.
Lassen Sie mich am Ende noch ein Thema ansprechen. Frau Bundeskanzlerin, Herr Außenminister, Herr
Verteidigungsminister, Sie machen es uns nicht ganz einfach, zuzustimmen; denn durch die Debatte der letzten
Wochen, die zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses aufgrund Ihrer desaströsen Informationspolitik
geführt hat, wird die Zustimmung natürlich erschwert.
Dadurch ist Vertrauen kaputtgegangen. Dabei geht es
nicht nur um die Frage, wie wir Abgeordneten damit
umgehen, sondern auch darum, wie wir es in Zukunft
schaffen, in der deutschen Gesellschaft Akzeptanz für
Auslandseinsätze zu erreichen. Deshalb ist das ein sehr
wichtiges Thema. Ich wünsche mir, dass ein paar Fragen
wirklich zu Ende debattiert werden.
Herr zu Guttenberg hat, ich glaube, zu Recht darauf
verwiesen, dass es ein bewaffneter nichtinternationaler
Konflikt ist. Herr zu Guttenberg, deshalb ist noch lange
nicht jedes militärische Vorgehen angemessen. Ich
glaube, darin sind wir uns auch einig. Ich will Ihnen das
überhaupt nicht unterstellen. Ich glaube aber, die
Debatte darüber, was in Afghanistan richtig ist und was
die Soldaten tun dürfen, ist nicht damit erledigt, dass die
Soldaten Rechtssicherheit haben. Das ist sicher hilfreich
und notwendig; das unterstützen wir. Aber darüber, wie
die Bundeswehr vorgeht, haben wir offensichtlich einen
politischen Diskurs zu führen.
Wir alle wissen: Das Völkerrecht wird diesen neuen
asymmetrischen Konflikten nicht ausreichend gerecht.
Es ist eben so, dass man zwar keine Zivilisten wissentlich angreifen und töten darf, gleichzeitig besagt das
Völkerrecht aber: Wenn es einen hohen militärischen
Nutzen gibt und es in einem vernünftigen Verhältnis
steht, dann darf man auch hinnehmen, dass Zivilisten zu
Schaden kommen. Ich spitze das einmal zu, weil ich
viele E-Mails dazu erhalte: Viele Bürgerinnen und Bürger ziehen daraus den Schluss, nun ja, wenn man in
einem solchen bewaffneten Einsatz ist, dann ist es fast
normal, dass Zivilisten getötet werden.
({5})
Ich sage Ihnen ausdrücklich: Dahin wollen und dürfen
wir nicht kommen.
({6})
Dafür gibt es viele gute Gründe: Es ist strategisch falsch,
zivile Opfer in Kauf zu nehmen, weil wir wissen: Aufständische werden nur erfolgreich sein, wenn sie in der
Zivilgesellschaft Unterstützung finden. Es ist aber auch
ethisch falsch.
({7})
Wir machen es uns hier nicht einfach. Wir schicken
die Soldaten in den Einsatz, und wir wissen, dass wir
damit Verantwortung dafür übernehmen, was in Afghanistan passiert. Wir denken in solchen Stunden auch an
die getöteten Zivilisten. Das ist die Verantwortung des
Deutschen Bundestages. Ich glaube, wir haben an dieser
Stelle noch einen erheblichen Klärungsbedarf.
Herr zu Guttenberg, Sie könnten uns helfen, wenn Sie
sehr deutlich machen würden, dass für Sie ein militärischer Einsatz mit Abwurf von Bomben eben nicht verhältnismäßig ist und auch nicht, wie Sie es in Washington angedeutet haben, ein Stück Normalität der
deutschen Politik ist, sondern dass wir uns der großen
Verantwortung in Afghanistan bewusst sind. Wenn nämlich alle anderen Mittel - das müssen sich die Linken
auch noch einmal aufschreiben - versagt haben, dann ist
es im Auftrag der Vereinten Nationen legitim und auch
notwendig, den Menschen in Afghanistan Stabilität zu
bringen; denn das liegt nicht nur im deutschen Interesse,
sondern auch im Interesse der ganzen Welt.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin sofort fertig. - Ich sage am Ende noch dazu:
Wir sehen dabei auch unsere Verantwortung als Bündnispartner. Die NATO darf in Afghanistan nicht scheitern.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Paul Schäfer das Wort.
Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Arnold,
ich war als verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke in Afghanistan, und auch mein Kollege
Norman Paech, der außenpolitischer Sprecher war, war
mehrfach in Afghanistan, und zwar nicht nur in Delegationen, in denen man einen ganz bestimmten Ausschnitt
der Realität sieht, aber natürlich auch nur diesen. Sie
werden mir bestimmt zugestehen, dass man auf diese
Weise die Realität dieses Landes nicht erfasst.
Ich habe Bundeswehrsoldaten gesehen und mit ihnen
gesprochen. Sie haben dringend nachgefragt: Was wollen wir da? Wie lange wollen wir da bleiben? Zu welchem Ende wollen wir das Ganze bringen? Ich habe
gesehen, wie sich die Eliten in Afghanistan immer mehr
„verbunkert“ haben - und nicht nur die afghanischen
Eliten. Auch die auswärtigen Verwalter dieses Landes
haben sich von Besuch zu Besuch immer mehr „verbunkert“. Ich habe auf der einen Seite die Armut im Land
gesehen und auf der anderen Seite die herrlichen Villen,
die sehr gut abgesichert sind, von Leuten, die immer reicher geworden sind.
Ich habe natürlich auch Afghanen getroffen, die große
Hoffnungen in die internationale Gemeinschaft projizieren. Diese sagen: Ihr müsst uns weiterhelfen. - Das muss
man sicherlich zur Kenntnis nehmen. Aber sie stellen
auch die Frage, mit welchen Mitteln man dies tut. Diese
Realität kennen wir doch alle, unabhängig davon, ob
man das mit den eigenen Augen gesehen hat oder nicht.
Ich habe hier schon beim letzten Mal vorgetragen
- dem hat niemand widersprochen -, dass in den vergangenen drei bis vier Jahren die Zahl der Soldaten eminent
aufgestockt worden ist und gleichzeitig die Gewalt zugenommen hat. Das ist ein Grundfaktum, das man nicht
aus der Welt schaffen kann, auch wenn man schon zehn
oder zwanzig Mal in Afghanistan war. Daraus muss man
einen Schluss ziehen. Wir haben festgestellt: Je mehr
Krieg dort geführt wird, desto weniger Aufbau findet
statt. Man kann das nicht damit kontern, dass man darauf
verweist, dass vielleicht irgendwo eine Brücke gebaut
worden ist. Insgesamt legen alle Befunde den Schluss
nahe, dass der Aufbau umso mehr ins Stocken gerät, je
stärker der Krieg zunimmt und je weiter die Taliban infolge dieses Krieges ihren Einflussbereich ausdehnen.
Daher bleiben wir bei unserem Nein zu diesem Einsatz.
Deshalb plädieren wir dafür, die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen.
Paul Schäfer ({0})
An dieser Stelle möchte ich eine sehr persönliche Anmerkung machen. Wir alle beschäftigen uns mit diesem
„Vorfall“ in Kunduz. Die Bundeswehr ist zum ersten
Mal seit 1945 zumindest in die Situation verstrickt, dass
eine offensive Operation ausgelöst worden ist, bei der
sehr viele Menschen getötet worden sind.
Herr Kollege Schäfer, kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Dieser Vorfall zeigt, wie sehr wir schon auf die
schiefe Bahn geraten sind. Weil wir als Deutsche eine
besondere historische Verantwortung tragen, bin ich
dagegen, dass wir diesen Weg fortsetzen. Vielmehr bin
ich der Meinung, dass Schluss sein sollte. Wir sollten die
Bundeswehr aus Afghanistan abziehen.
({0})
Zur Erwiderung, Kollege Arnold.
Kollege Schäfer, wir waren ja wiederholt zusammen
in Afghanistan. Ich sage ausdrücklich,
({0})
dass alle Gespräche, die wir dort geführt haben - auch in
der Nachbereitung mit Kollegen Schäfer -, hilfreich und
konstruktiv waren. Wir konnten über den richtigen Weg
für Afghanistan streiten und ringen. Das finde ich in
Ordnung. Wir müssen uns nicht einig sein.
Wenn man aber aus Afghanistan zurückkommt, dann
muss man seiner Fraktion auch differenziert über die
Situation in Afghanistan berichten. Wir stellen fest, dass
es in Kunduz, im Norden unseres Verantwortungsbereiches, Kämpfe gibt. Wir stellen fest, dass die Taliban
stark sind und deshalb die Bundeswehr und andere Verbündete jeden Tag unter Druck stehen. Wir sehen aber
auch, dass in Faizabad ziviles Leben entsteht, dass sich
die Wirtschaft entwickelt, dass es Strom gibt, dass es
Schulen gibt, dass es Krankenhäuser und sichere Straßen
gibt. Wir sehen, dass sich in Masar-i-Scharif, einer
Großstadt, von Halbjahr zu Halbjahr ein richtiges Leben
entwickelt und dies auch für den Laien sichtbar ist.
Warum reden Sie nicht auch über dieses Afghanistan?
Afghanistan ist eben ein Land, in dem es nicht nur Krieg
gibt, wie manche glauben, und in dem es auch nicht nur
Frieden gibt, sondern es gibt beides parallel. Es gehört
zu unserer Verantwortung, dies auch so darzustellen.
Ich habe Ihnen als Verteidigungspolitiker überhaupt
nicht vorgeworfen, dass Sie sich nicht um Afghanistan
kümmern. Sie tun das zweifellos. Ich sage nur: Die beiden Vertreter Ihrer Fraktionsspitze, die die lautesten Reden zu diesem Thema halten, die dabei den oberflächlichsten und billigsten Applaus einheimsen,
({1})
die alles tun, um Anhänger der Friedensbewegung oder
grundsätzliche Pazifisten für sich allein zu vereinnahmen - diese haben allerdings auch in Zukunft in meiner
Partei Platz -, diese beiden waren noch nie in Afghanistan. Es wäre jedoch lehrreich, wenn Herr Lafontaine und
Herr Gysi einmal nach Afghanistan fahren, mit allen
möglichen Menschen dort sprechen, sich umhören und
davon lernen würden. Bei dieser Aufforderung bleibe
ich. Ich habe den Eindruck, das könnte zumindest den
Ton in der Auseinandersetzung ein Stück weit verändern. Das halte ich für notwendig.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. KarlTheodor zu Guttenberg.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann, Herr Kollege Schäfer, mit guten Gründen - ich weiß, dass Sie sich intensiv damit befassen unterschiedliche Linien vertreten. Was die Diskussion
vorhin ausgelöst hat, war der geäußerte Vorwurf, uns
würde es nicht interessieren, wenn Menschen ums Leben
kommen. Dieser Vorwurf ist an Niveaulosigkeit nicht zu
übertreffen. Ich glaube, das gilt für jeden hier in diesem
Raum.
({0})
Wir müssen uns nämlich überlegen, dass eben auch die
Selbstüberlassung Afghanistans Leben kosten kann.
({1})
Ich würde im Umkehrschluss nie behaupten, dass Ihnen
das egal wäre. Das wäre niveaulos. Genau diesen Punkt
sollten wir in Betracht ziehen, wenn wir diese Diskussion substanziell führen und wenn wir uns mit Punkten
beschäftigen, die niemals Routineentscheidungen sein
können und niemals Routineentscheidungen sein dürfen.
Kollege Klose hat darauf hingewiesen.
Auch was sich in Afghanistan täglich abspielt, ist nie
Routine, und das wird es nie sein. Das, was sich in Kunduz am 4. September abgespielt hat, war natürlich nicht
Routine. Gestatten Sie mir, nachdem das Thema heute
angesprochen wurde und ich dem Parlament zugesagt
habe, dass ich eine Neubewertung der Vorfälle in Kun682
duz vornehmen werde, dass ich Ihnen diese meine Neubewertung heute vortrage.
({2})
Meine Damen und Herren, jede Bewertung dieses
Vorfalls hängt in hohem Maße davon ab, ob und inwieweit man die Perspektive des in einer kriegsähnlichen
- ja, kriegsähnlichen -, besonderen Situation stehenden
Kommandeurs einnimmt oder ob man den Vorfall primär
unter dem Blickwinkel möglicher, aber auch tatsächlicher Regelverstöße - Fehler, Herr Trittin - sieht.
Ich darf in aller Klarheit sagen, dass Oberst Klein
mein volles Verständnis dafür hat, dass er angesichts
kriegsähnlicher Zustände um Kunduz, angesichts anhaltender Gefechte, bei denen in diesen Tagen auch deutsche Soldaten verwundet wurden - unter seinem Kommando sind in diesen Monaten auch deutsche Soldaten
gefallen -, subjektiv von der militärischen Angemessenheit seines Handelns ausgegangen ist. Dafür hat er mein
Verständnis. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass
er gehandelt hat, um seine Soldaten zu schützen.
Jeder, der jetzt aus der Distanz leise oder laut Kritik
übt, sollte sich selbst prüfen, wie man in dieser Situation
gehandelt hätte. Wie viel leichter erscheint es jetzt, sich
ein Urteil über die Frage der Angemessenheit zu bilden aus der Distanz, mit auch für mich zahlreichen neuen
Dokumenten und mit neuen Bewertungen, die ich am
6. November dieses Jahres noch nicht hatte. Diese weisen im Gesamtbild gegenüber dem gerade benannten
COMISAF-Bericht deutlicher auf die Erheblichkeit von
Fehlern und insbesondere von Alternativen hin.
Zu dem Gesamtbild zählt auch ein durch das Vorenthalten der Dokumente leider mangelndes Vertrauen gegenüber damaligen Bewertungen. Ich wiederhole: Obgleich Oberst Klein - ich rufe das auch den Offizieren
zu, die heute hier sind - zweifellos nach bestem Wissen
und Gewissen sowie zum Schutz seiner Soldaten gehandelt hat, war es aus heutiger, objektiver Sicht, im Lichte
aller, auch der mir damals vorenthaltenen Dokumente,
militärisch nicht angemessen.
Nachdem ich - ohne juristische Wertung; das ist mir
wichtig - meine Beurteilung diesbezüglich rückblickend
mit Bedauern korrigiere, korrigiere ich meine Beurteilung allerdings nicht betreffend mein Verständnis
bezüglich Oberst Klein. Das ist der Grund - das sage ich
auch an dieser Stelle -, weshalb ich Oberst Klein nicht
fallen lassen werde. Das würde sich nicht gehören.
({3})
In Afghanistan wird auch künftig der Einsatz militärischer Gewalt notwendig sein, leider. Unsere Soldaten
müssen sich schützen und verteidigen können, und sie
müssen ihren schwierigen und fordernden Auftrag in der
ganzen Breite des Spektrums erfüllen. Deshalb ist es
wichtiger denn je - gerade auch in einer solchen Debatte
wie am heutigen Tag -, dass sie sich auf unseren vollen
Rückhalt verlassen können und unser Verständnis für
ihre schwierigen Entscheidungssituationen, in denen sie
immer wieder sein werden, gegeben ist. Gleichzeitig
muss von unserer Seite alles Machbare getan werden,
um vergleichbare Fehler - ich habe auf diese Fehler
schon am 6. November hingewiesen - künftig zu vermeiden. Wir haben diesbezüglich im Übrigen unmittelbar entsprechende Maßnahmen eingeleitet.
Ich habe im Zusammenhang mit dem Vorfall von
Kunduz, aber auch im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Mandat generell dem Parlament größtmögliche
Offenheit und Transparenz zugesagt. So will ich das
weiterhin handhaben, auch mit Blick auf den Untersuchungsausschuss. Auch ich habe ein Interesse an der
Aufdeckung von allem, was sich im Zuge dessen ereignet hat. Ich glaube, das ist eine Form des Umgangs, die
sich gehört. Deswegen habe ich Ihnen heute an dieser
Stelle diese Stellungnahme abgegeben.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Koczy von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Minister zu Guttenberg, ich möchte
Ihnen meinen Respekt dafür ausdrücken, dass Sie so
klare Worte gefunden haben. Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich Ihre Einschätzung zu Oberst Klein teile.
({0})
Ich finde diese Korrektur bemerkenswert; denn wir müssen abwägen - darauf wurde in der Diskussion schon
hingewiesen -, wie wir mit der Situation in Afghanistan
umgehen. Daher ist es sehr dienlich und hilfreich, wenn
wir klare, offene und transparente Worte finden, um Vertrauen, das verloren gegangen ist, wieder entstehen zu
lassen.
Wie wir alle wissen, hat sich die Situation in Afghanistan verschlechtert, und dies allen Anstrengungen zum
Trotz. Wir müssen uns hier im Bundestag fragen, was
falsch gelaufen ist, was jetzt getan werden muss und was
sich ändern muss; denn ein Weiter-so darf es nicht geben. Was aber sagt uns das zur Abstimmung stehende
Mandat zu ISAF dazu?
({1})
Für mich als Entwicklungspolitikerin steht der zivile
Aufbau im Vordergrund. Aus diesem Blickwinkel heraus
sage ich Ihnen: Auch dieses Mal ist es der Bundesregierung leider nicht gelungen, den zivilen Aufbau in den
Mittelpunkt zu rücken. Es bleibt weiterhin bei einer
Schräglage. Wir haben es hier mit einer Militärfixiertheit
zu tun, die immer wieder dazu beiträgt, die eigentlichen
Probleme zu übersehen.
({2})
Wann sehen Sie ein, dass es für Afghanistan wirklich
nur ein Motto geben kann: „Zivil vor Militär“? Für den
Erfolg unseres Engagements ist der Rückhalt in der afghanischen Bevölkerung entscheidend. Dieser Rückhalt
schwindet aber jeden Tag mehr, weil die Versprechen
nicht gehalten worden sind.
Es gibt aber auch Fortschritte. Ich möchte in diesem
Zusammenhang auf die Einlassungen der Linken reagieren. Es gab unter den Taliban kein Gesundheitswesen, es
gab ein hohes Sterberisiko von gebärenden Frauen, deren Rechte nicht anerkannt wurden. Auch das muss man
in dieser Diskussion immer wieder betonen.
({3})
Es gibt einen Aufbau, aber der Rückhalt schwindet trotzdem, weil man zu wenig auf die Bekämpfung von Armut
und Arbeitslosigkeit geachtet hat, weil die Mechanismen
der internationalen Gebergemeinschaft den Bedingungen in Afghanistan nicht angepasst wurden und weil
man die Bedürfnisse der Afghaninnen und Afghanen
nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Die Frage ist: Gibt es jetzt eine Umkehr? Ist diese
Bundesregierung willens und fähig, all diese Fehler
schonungslos zu analysieren und zu bilanzieren? Wird
die Bundesregierung ausgehend von dieser Bilanzierung
einen Richtungswechsel einleiten? Keine dieser Fragen
wurde im Antrag zum Mandat beantwortet. Frau Bundeskanzlerin Merkel, glauben Sie wirklich, dass eine Afghanistan-Konferenz, die mit so heißer Nadel gestrickt
wird, zum Dreh- und Angelpunkt neuer Überlegungen
und erfolgreicher Arbeit für die Entwicklungszusammenarbeit wird? Ich glaube das nicht, aber die Hoffnung
stirbt bekanntlich zuletzt. Nein, dieses Mandat, das Sie
hier vorgelegt haben, bleibt auf dem bekannten, ausgetretenen und bisher leider erfolglosen Pfad. So ist eine
Zustimmung eben nicht möglich.
Ich danke.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst-Reinhard Beck
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte zunächst kurz auf die Erklärung
des Ministers eingehen und zwei seiner Bemerkungen
unterstreichen. Das Erste ist: Ich glaube, dass er hier völlig richtig festgestellt hat, dass Oberst Klein in einer
schwierigen Situation zum Schutz der ihm anvertrauten
Soldaten diese Entscheidung getroffen hat und dass dies
aus seiner Sicht eine verantwortungsvolle Entscheidung
war. Das Zweite ist, dass Oberst Klein nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Es ist für uns alle, die
wir andere Informationen haben, sehr leicht, im Nachhinein Entscheidungen zu kritisieren. Wir müssen aber
anerkennen, dass wir dann, wenn wir Soldaten in diese
schwierige Situation schicken, auch zu Fehlern stehen
müssen, die dort gemacht werden. Ich danke dem Minister ganz ausdrücklich dafür, dass er mit seiner veränderten Bewertung nicht vor die Presse gegangen ist, sondern diese Erklärung hier vor dem Deutschen Bundestag
abgegeben hat. Dies verdient unser aller Respekt.
({0})
- Das war jetzt nicht sehr sachdienlich. Ich habe eigentlich noch gar nicht angefangen.
Wir reden heute über ein Mandat, das inhaltlich unverändert bei 4 500 Soldaten für Afghanistan liegt. Ich
glaube, dass diese Debatte eine Schlagseite hatte; denn
wir sind uns auch darüber im Klaren, dass es zunächst
einmal um drei Dinge geht:
Erstens. Der zivile Aufbau Afghanistans muss erheblich intensiviert werden. Die Grundbedürfnisse der Menschen, wie zum Beispiel die Versorgung mit Wasser und
Energie, Gesundheitsvorsorge, also die Basic Elements,
müssen dabei im Mittelpunkt stehen. Die Menschen
müssen spüren und erleben, dass sich ihre Lage tatsächlich verbessert.
Zweitens. Afghanistan hat immer in einem Kampf
zwischen der Zentralgewalt und dezentralen Gewalten
gestanden. In einem dezentral organisierten Staatswesen
muss die Unterstützung der Zentralregierung auch durch
den regionalen Aufbau und durch regionale Strukturen,
die demokratisch abgesichert sind, erfolgen. Warum
werden zum Beispiel die Gouverneure dort nicht gewählt?
Drittens. Wenn wir über die Erfordernisse des zivilen
Aufbaus Einigkeit erzielt haben, aber erst dann, sollten
wir uns gemeinsam auf zusätzliche militärische Fähigkeiten verständigen.
Die Bundesregierung ist bereit, an diesem kooperativen Ansatz mitzuwirken. Die Bundeskanzlerin hat deshalb gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien den
Generalsekretär der Vereinten Nationen gebeten, möglichst zügig eine internationale Afghanistan-Konferenz
einzuberufen. Diese wird vermutlich am 28. Januar 2010
in London stattfinden.
Es müssen konkrete, realistische Zielmarken entwickelt werden. Es geht nicht darum, in Afghanistan eine
Demokratie westlichen Musters aufzubauen. Wer sich
dieses Ziel setzt, ist zum Scheitern verurteilt. Es geht
vielmehr darum, ein Afghanistan zu schaffen, das seine
Sicherheit selbst gewährleisten kann und rechtsstaatlich,
wirtschaftlich und sozial eine positive Zukunft bekommt. Ausgehend von diesen Zielmarken können dann
Zeitmarken definiert werden, um in einem angemessenen Zeitrahmen ein Ergebnis erreichen zu können. Wir
können nicht weitere acht Jahre warten, bis sich grundle684
Ernst-Reinhard Beck ({1})
gende Erfolge einstellen. Die Regierung Karzai ist aufgerufen, hier ihre Anstrengungen zu verstärken.
({2})
Ziel sollte es sein, noch in dieser Legislaturperiode,
das heißt bis zum Herbst 2013, die Voraussetzungen für
einen Abzug der internationalen Truppen und somit auch
der Bundeswehr zu schaffen. Ich warne aber ausdrücklich davor, heute Abzugstermine zu veröffentlichen oder
zu diskutieren. Dies würde den Gegnern jeder Stabilisierungspolitik nur in die Hände spielen.
Wenn Ziele und Zeitmarken definiert sind, sollte die
Bundesregierung ihren zivilen und militärischen Beitrag
neu justieren. Dies kann bedeuten, für einen überschaubaren Zeitraum eine Verstärkung des bisherigen Engagements vorzunehmen. Dazu müssen wir eine Fähigkeitsund Defizitanalyse durchführen, um Schwachstellen zu
beseitigen und unseren Ansatz zu optimieren. Dies könnte
zum Beispiel - ich glaube, dass dies sogar dringend notwendig ist - eine Verstärkung der Ausbildungskomponente zur Folge haben.
Herr Kollege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Nouripour?
Dem Kollegen Nouripour immer.
Bitte schön, Herr Nouripour.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Beck, teilen Sie vor dem Hintergrund, dass Sie selbst zu
Recht mehrfach angemerkt haben, dass der zivile Aufbau für den Erfolg in Afghanistan lebensnotwendig ist,
meine Einschätzung, dass es nach den beiden Debatten
hier in diesem Hohen Hause - die zweite Debatte geht zu
Ende; nach Ihnen sprechen plangemäß nur noch zwei
Personen -, die intensiv waren und in denen viele Abgeordnete gesprochen haben, mindestens, euphemistisch
gesagt, ein Zeichen von Desinteresse, wenn nicht sogar
von Ignoranz ist, dass in diesem Zusammenhang der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hier nicht spricht?
Lieber Kollege Nouripour, diese Frage müssen Sie
dem Entwicklungsminister stellen. Ich kann dies an dieser Stelle nicht kommentieren. Vielleicht geben wir dem
Minister die Gelegenheit, auf Ihre Frage zu antworten.
({0})
- Ich möchte hinzufügen: Dass in einer Debatte zwei
Minister das Wort ergreifen, lässt sich nur noch dadurch
steigern, dass ein dritter Minister eingreift.
({1})
- Dies ist richtig. Worüber man wenig spricht: Vor Ort
- Kollege Nouripour, auch Sie waren schon vor Ort haben wir die zivilen Erfolge schon sehen und bewerten
können.
Ich möchte ein Nachdenken darüber anregen, ob wir
militärisch richtig aufgestellt sind, ob wir eine angemessene Reaktionsfähigkeit haben, zum Beispiel bei Hubschraubern, zum Beispiel bei der Feldhaubitze, bei der
Panzerhaubitze 2000 oder bei anderen gepanzerten
Fahrzeugen. Stellen Sie sich vor, dass Oberst Klein
möglicherweise eben nur die Alternative zwischen
Handfeuerwaffen und einem Luftschlag hatte; andere
Reaktionsmöglichkeiten gab es eventuell gar nicht. Angesichts dessen muss man sich in Zukunft natürlich
überlegen, ob eine angemessene militärische Reaktion
einer entsprechenden Ausformung, einer entsprechenden
Bewaffnung bedarf.
Bereits heute nehmen die afghanischen Sicherheitskräfte an der Mehrzahl der Operationen teil. Wir sollten
diese Ausbildung massiv verstärken. Wir sollten uns
auch um die Polizeiausbildung kümmern. Natürlich ist
es nicht Aufgabe der Bundeswehr, Polizisten auszubilden; darüber sind wir uns im Klaren. Aber es ist ebenso
völlig klar, dass unsere Feldjäger eine bestehende Lücke
ausgefüllt und wertvolle Ausbildungsarbeit geleistet haben. Ich möchte an dieser Stelle den 45 Feldjägern, die
ständig im Einsatz sind, um Polizisten auszubilden, herzlich danken.
({2})
Ich meine auch, dass wir zukünftig in die Mandate
nicht nur die Zahl der Soldaten und die entsprechenden
militärischen Sachverhalte hineinschreiben sollten, sondern auch die zivilen Komponenten, die hinzukommen
müssen.
Das Bundeswehrkontingent wird weiter in der Nordregion und in Kabul eingesetzt sein. An dieser Stelle,
weil ich oben auf der Tribüne die Kameraden sehe, ein
herzliches Dankeschön an die Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr, die unter schwierigen Umständen ihren
verantwortungsvollen Dienst erfüllen. - Im Namen meiner Fraktion ein aufrichtiges Dankeschön!
({3})
Aus aktuellem Anlass warne ich davor, das Engagement unserer Soldatinnen und Soldaten hier bei uns in
Deutschland durch parteipolitische Profilierung zu belasten. Unsere Kommandeure und Soldaten brauchen in
dieser Phase unser Vertrauen und unseren Rückhalt und
keine Verunsicherung. Dies und nichts anderes ist unsere
gemeinsame Verantwortung in diesem Parlament.
({4})
Herr Kollege Beck, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kollegin Buchholz von der
Fraktion Die Linke?
Ich würde jetzt gern zum Schluss kommen, Herr Präsident, weil ich ja nur noch eine Minute Redezeit habe.
Bundesminister Jung hat mit seinem Rücktritt die
Konsequenzen aus den Informationspannen im Verteidigungsministerium gezogen. Damit hat er sich vor die
Bundeswehr gestellt und weiteren Schaden von der
Truppe ferngehalten. Dafür gebührt ihm der Respekt unserer Fraktion.
Wir werden als CDU/CSU-Fraktion weiterhin alles
dafür tun, Informationsmängel im Zusammenhang mit
dem Vorfall vom 4. September in einem Untersuchungsausschuss aufzudecken und künftig Abhilfe zu schaffen.
Dies ist, meine ich, auch im Interesse des ganzen Hauses. Ich appelliere daher an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam aufklären, aber lassen Sie uns dies in fairer und angemessener Weise tun!
Herr Kollege Klose, ich begrüße es ausdrücklich, dass
sich die SPD zu ihrer Verantwortung bekennt und der
Mandatsverlängerung für ISAF um ein weiteres Jahr zustimmen will. Schließlich haben wir in den letzten vier
Jahren gemeinsam in der Regierungsverantwortung gestanden. Ich möchte auch die Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen ermuntern, die Mandatsverlängerung zu
befürworten. Schließlich haben Sie Ende 2001 in gemeinsamer Regierungsverantwortung mit der SPD den
Grundstein für unser Engagement in Afghanistan gelegt.
Meine Fraktion wird dem vorliegenden Antrag der
Bundesregierung auf Drucksache 17/39 zustimmen. Die
Entschließungsanträge von SPD, vom Bündnis 90/Die
Grünen und von der Linken lehnen wir ab.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Buchholz das Wort.
Herr Kollege Beck, Sie haben ja über das Nachdenken über den Einsatz gesprochen, Sie haben berechtigterweise auch über die Soldatinnen und Soldaten gesprochen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie in Ihre Erwägungen
auch die Meinung der Bevölkerung hier in Deutschland
mit einbeziehen. Wie ja in mehreren Umfragen deutlich
wurde, sind drei Viertel der Bevölkerung gegen diesen
Krieg in Afghanistan. Die Friedensbewegung hat in der
letzten Woche in 69 Städten eine Umfrage auf der Straße
durchgeführt und hat über 17 000 Menschen befragt.
94 Prozent der Menschen waren der Meinung, dass die
Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen werden soll.
({0})
Was sagen Sie dazu? Wie bewerten Sie diese Umfrage in Bezug auf Ihren Antrag?
({1})
Zur Erwiderung, Kollege Beck.
Liebe Frau Kollegin, ich könnte Ihnen ebenfalls eine
Reihe von Umfragen entgegenhalten. Je nachdem, wie
Sie die Frage stellen, bekommen Sie andere Ergebnisse.
Fakt ist in der Tat - da gebe ich Ihnen recht -, dass der
Einsatz in weiten Teilen der Bevölkerung - ich glaube,
nach den letzten Zahlen, die ich habe, liegt das bei
60 Prozent - nicht unterstützt wird, wenn man ihn als
Kriegseinsatz definiert. Dies ist aber de facto gar nicht
der Fall,
({0})
sondern unsere Soldaten - ich sage das noch einmal in
aller Klarheit - sind dort, um einen zivilen Aufbau abzusichern. Ich sage Ihnen auch deutlich: Wenn wir hier
über die zivilen Opfer sprechen - vorhin ist eine Zahl genannt worden -, muss man dazusagen, dass 80 Prozent
Opfer der Taliban und nicht der Bundeswehr sind.
({1})
Wir sind dort, um einen Aufbau abzusichern. Wir haben diesen Aufbau über viele Jahre hinweg geleistet.
Wenn Sie die zivilen Aufbauhelfer vor Ort fragen, was
sie machen würden, wenn die Bundeswehr nicht mehr
dort wäre, sagen sie, dass ihre Arbeit dann, zumindest in
den paschtunischen Gebieten des Nordens, nicht mehr
möglich wäre. Wir würden die Menschen also im Stich
lassen. Das wird mit uns nicht geschehen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Burkhard Lischka von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
eines ganz deutlich sagen - das gilt, glaube ich, für alle
Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, die gleich
zustimmen werden -: Die Verlängerung des ISAF-Mandats und die damit verbundene militärische Präsenz in
Afghanistan sind kein Selbstzweck, für niemanden hier.
Aber sie sind notwendige Grundlage für die Schaffung
eines sicheren Umfeldes, in dem überhaupt so etwas wie
Entwicklung und Stabilisierung in Afghanistan stattfinden kann.
({0})
Aber wahr ist auch: Die Verlängerung des ISAF-Mandates darf nicht ein einfaches Weiter-so bedeuten. Wir
brauchen eine teilweise Neuausrichtung unserer Afghanistan-Politik, eine stärkere Betonung entwicklungspolitischer Ziele. Denn wenn es uns nicht gelingt, unser Engagement mit sichtbaren Perspektiven für die Menschen
in Afghanistan zu verbinden, dann wird dieses Engagement scheitern.
Insofern beschließen wir hier heute nicht nur eine
Verlängerung des ISAF-Mandates, sondern wir vergewissern uns auch dessen, was wir in Zukunft wollen.
Dem dient der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion,
der Ziele und Zwischenetappen enthält. Was wir brauchen, ist ein klarer Zeitplan für die Umsetzung. Wir wollen das nicht irgendwann erreichen, sondern das muss in
dieser Legislaturperiode gelingen. Das muss Ziel unserer
Politik sein.
({1})
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt.
Trotz des internationalen Militäreinsatzes hat sich die Situation in Afghanistan für die Bevölkerung mancherorts
verschlechtert. Die Menschen leiden unter Hunger und
Armut und unter einer sehr prekären Sicherheitslage.
Das Verhältnis von militärischen zu zivilen Ausgaben
beläuft sich derzeit auf vier zu eins. Eine dauerhafte Perspektive wird Afghanistan erst dann bekommen, wenn
es uns gelingt, dieses Verhältnis umzukehren.
({2})
Nur durch eine konsequente, nachhaltige Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung werden wir
erreichen, dass das westliche Engagement von der Bevölkerung in Afghanistan akzeptiert wird.
({3})
Aber ich sage auch: Unserer Verantwortung gerade
gegenüber der Bevölkerung in Afghanistan würden wir
nicht gerecht, Herr Ströbele, wenn wir jetzt in einer
Kurzschlusshandlung Hals über Kopf das Land verlassen,
({4})
uns einen schlanken Fuß machen und die Afghaninnen
und Afghanen mit ihren riesigen Problemen alleine lassen würden.
({5})
Vor allen Dingen müssen wir an den Zielen unserer
Entwicklungszusammenarbeit insgesamt und an der
Durchsetzung der international vereinbarten Steigerungen der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit festhalten. Die Bundesregierung hat sich bekanntlich dazu
verpflichtet, 2010 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur
Verfügung zu stellen. Dass sich ausgerechnet der zuständige Minister, Herr Niebel - jetzt ist er nicht mehr
da -, gleich zu Beginn seiner Amtszeit ganz offiziell
von diesem Ziel verabschiedet hat, ist bitter.
({6})
Das ist bitter für die Menschen, die Hunger leiden, aber
auch für die Entwicklungspolitiker, die sich den Millenniumszielen ernsthaft und nicht nur in Sonntagsreden
verpflichtet fühlen. Entwicklungspolitik muss die Herzen der Menschen erreichen und muss bessere Lebensperspektiven für die Menschen vor Ort eröffnen - gerade
auch in Afghanistan.
Hier hat uns die Bombardierung des Tanklastzugs am
4. September zurückgeworfen. Wenn der von einem
deutschen Oberst befohlene Angriff zivile Opfer fordert
und Sie, Herr Verteidigungsminister zu Guttenberg, diesen Einsatz, wie wir heute wissen, vorschnell als „angemessen“ tituliert haben, dann geht zunächst einmal Vertrauen verloren. Sie haben sich heute darum bemüht, die
Glaubwürdigkeit ein Stück weit wiederherzustellen. Dafür spreche ich Ihnen meinen Respekt aus. Wir brauchen
diese Glaubwürdigkeit für unser Engagement in Afghanistan, aber auch für die Akzeptanz bei uns in Deutschland.
Entwicklung der Infrastruktur, Bildung, Gesundheit,
Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und nicht zuletzt
Korruptionsbekämpfung sind wichtige Ziele. Aber wir
wissen auch: Manche Entwicklungshilfegelder versickern in Afghanistan. Zu viel von dem, was wir eigentlich erreichen könnten, wird nicht erreicht. Deshalb werden wir dafür sorgen müssen, dass den Worten auch
Taten folgen und dass es einen konkreten Fahrplan gibt,
der die weitere Zusammenarbeit mit dem afghanischen
Präsidenten festlegt und der einen Einstieg in den Ausstieg aus dem militärischen Engagement vorzeichnet.
Einen Strategiewechsel darf man nicht nur ankündigen, man muss ihn auch machen. Dem dient der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion. Daran werden wir
auch die künftige Politik der Bundesregierung messen.
({7})
Denn eine vage Hoffnung, dass das alles in Zukunft
schon werden wird, ist uns zu wenig. Das ist zu wenig
für die Entwicklung in Afghanistan. Wir müssen die Perspektiven der Menschen stärken. Da haben wir noch jede
Menge zu tun. Das müssen wir angehen.
Herzlichen Dank.
({8})
Herr Kollege Lischka, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Alles Gute!
({0})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Florian Hahn von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Die Entscheidung, die wir heute im Hohen Haus zu treffen haben, ist keine leichte. Wie die Debatte zeigt, machen wir sie uns auch nicht leicht. Es ist
letztlich ein Beschluss darüber, ob wir deutsche Soldaten
weiterhin 5 000 Kilometer von der Heimat entfernt der
Gefahr für Leib und Leben aussetzen.
Doch warum müssen und sollen wir uns weiter zu
diesem Mandat bekennen? Weil ein stabiles Afghanistan
im ureigenen Interesse Deutschlands liegt. Nur ein
afghanischer Staat, der selbstständig für Sicherheit sorgen kann, wird dauerhaft verhindern können, erneut
Operationsbasis für Terroristen zu werden, die es auf die
Freiheit abgesehen haben,
({0})
die Andersdenkende nicht nur unterdrücken, sondern
auch der Folter und dem Tod preisgeben, jawohl: der
Folter und dem Tod. Da kann ich, Herr van Aken, nur sagen: Das ist wahrlich keine Feuerwehrübung in CastropRauxel.
({1})
Wenn wir heute darüber abstimmen, das ISAF-Mandat zu verlängern, müssen wir uns dabei klar vor Augen
führen, wie wir in Afghanistan den Weg zur Übergabe in
Verantwortung weiter beschreiten wollen. Es geht um
die Schaffung selbsttragender Sicherheitsstrukturen und
anderer funktionstüchtiger Strukturen in Afghanistan.
Hier möchte ich mich meinen Vorrednern anschließen:
Dies ist nur durch einen vernetzten Ansatz von sicherheitspolitischen, diplomatischen und eben auch - das ist
ganz entscheidend - entwicklungspolitischen Maßnahmen zu erzielen.
Durch unser entwicklungspolitisches Engagement
sind in Afghanistan bis heute bereits lebenswichtige
Fortschritte zu verzeichnen: 800 000 Menschen haben
eine bessere Stromversorgung. 500 000 Buben und Mädchen können eine Grundschule besuchen. 600 Kilometer
Straße und viele Brücken wurden neu gebaut. Von
100 000 vergebenen Mikrofinanzkrediten konnten Haushalte, Handwerker, Händler und Dienstleister profitieren. Dies wäre ohne unsere Sicherheitskräfte so nicht
möglich.
Ich brauche Ihnen auch nicht zu erzählen, welche
Rolle die Frauen unter dem Talibanregime hatten. Für
die Rechte der Frauen konnte bis jetzt, auch mit unserer
Hilfe, viel erreicht werden. An dieser Stelle möchte ich
der Kollegin Beck sehr herzlich danken, die uns den Bericht von neun prominenten Frauen in Afghanistan zugeleitet hat, in dem unter anderem die Erfolge im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Frauenrechte dargestellt werden. Diese Frauen bitten uns explizit um eine Verlängerung des Mandats; Herr
Schockenhoff hat bereits ausführlich darauf hingewiesen.
Wenn wir den Einsatz jetzt beenden, haben andere,
nämlich die Taliban, die Chance, wieder an die Macht zu
gelangen und wieder ihr menschenverachtendes Regime
zu installieren. Wir in Deutschland müssen uns als berechenbare Freunde der afghanischen Bürgerinnen und
Bürger erweisen. Unsere zivilen Anstrengungen müssen
noch unmittelbarer bei der Bevölkerung ansetzen. Die
Wirkung unseres Einsatzes soll noch deutlicher sichtbar
werden und direkt bei den Bedürftigen ankommen.
In einem Gespräch mit Vertretern aus Afghanistan
wurde mir gesagt, dass es nicht nur wichtig ist, die Bereiche der Landwirtschaft und der Hochschule zu fördern. Ganz entscheidend ist auch die Schaffung von
Strukturen im Bereich von Handwerk und Mittelstand.
Dies ist mir ein persönliches Anliegen. Denn am Ende
des Tages werden wir unsere Politik daran messen müssen, ob es den Menschen in Afghanistan dann nachhaltig
besser geht als unter der Talibanherrschaft und ob sie
selbstbestimmt die Zukunft ihres Landes gestalten können.
({2})
Dabei können wir aktuell weder auf den Einsatz der
Frauen und Männer der Bundeswehr noch auf den Einsatz der Polizei, des Diplomatischen Dienstes und der zivilen Hilfsorganisationen verzichten. Deren Einsatz gebühren unser aller Respekt und unsere Anerkennung.
Wir wünschen ihnen auch in Zukunft Gottes Segen.
({3})
Genau diese Leistungsträger können zu Recht von
uns erwarten, dass sie nicht zum Gegenstand von parteipolitischem Klein-Klein werden, Herr Nouripour. Sie
brauchen vielmehr unsere volle Rückendeckung, eine
Rückendeckung, die Sie im Ausschuss gegeben haben
und heute nicht mehr geben wollen.
({4})
Zu dieser Rückendeckung gehört ein klares Bekenntnis
- das heißt ein klares Ja oder Nein - eines jeden von uns
hier im Haus zur Verlängerung des ISAF-Mandats. In
diesem Sinne bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
({5})
Herr Kollege Hahn, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede vor dem
Deutschen Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich Ihnen
bekannt, dass wir 23 Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung zu Protokoll nehmen.1)
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
1) Anlagen 2 bis 4
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Drucksache 17/111 ({1}) zu dem Antrag der Bundes-
regierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter
Führung der NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 17/39
anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
Plätze einzunehmen. - Haben die Schriftführer ihre
Plätze an allen Urnen eingenommen? - Das ist offenkun-
dig der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Karte
noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe den Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä-
ter bekannt gegeben.1)
Ich bitte Sie, die Plätze wieder einzunehmen. Wir haben noch einige Abstimmungen durch Handzeichen vorzunehmen. So habe ich keinen Überblick.
({2})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/127? Ich
bitte um Ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag der SPD ist
mehrheitlich abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/128? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist ebenfalls mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/133? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist ebenfalls mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der United Nations
Interim Force in Lebanon ({4}) auf
Grundlage der Resolution 1701 ({5}) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 1884 ({6}) vom 27. August 2009 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/40, 17/112 ({7}) Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({8})
1) Ergebnis siehe Seite 690 C
- Bericht des Haushaltsausschusses ({9})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/140 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Carsten Schneider ({10})
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hellmut Königshaus von der
FDP-Fraktion.
({11})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,
über das UNIFIL-Mandat wird nicht ganz so aufgeregt
diskutiert wie eben über das ISAF-Mandat. Gleichwohl
geht es hier um ein wichtiges und diffiziles Thema; denn
mit diesem Mandat verbinden sich wichtige Ziele.
Unsere Marine soll zur Sicherung friedlicher Verhältnisse in der Region beitragen und Waffenschmuggel
über See verhindern. Dabei berücksichtigt Deutschland
natürlich auch sein besonderes Verhältnis zu Israel und
seine Verantwortung für dieses Land. Wir wollen, dass
Israel und seine Nachbarn in Frieden miteinander leben
können. Dazu wollen wir jeden denkbaren Beitrag leisten.
({0})
Die Stabilisierung des Libanon ist ein wichtiger Eckpfeiler für eine tragfähige und vor allem dauerhafte Friedenslösung. Deutschland hat sich in der Erwartung,
hierzu einen Beitrag leisten zu können, entschieden,
Kräfte der Marine als Teil der maritimen Komponente
des UNIFIL-Einsatzes beizusteuern. Ob dies ein geeigneter Beitrag zur Friedenssicherung war, sei dahingestellt. Sie wissen, dass die FDP hier mehrheitlich
skeptisch war. Die Grünen bezeichnen in ihrem Entschließungsantrag das Problem der ungesicherten
Grenze zu Syrien - nicht das Problem der Seegrenze zu Recht als „größte Herausforderung“. Da sind Schiffe
vor der Küste natürlich keine Hilfe.
Gleichwohl müssen wir an dieser Stelle an die Soldatinnen und Soldaten denken, die an Bord der vielen
Schiffe waren und dort unter zum Teil sehr schwierigen
Umständen ihren Dienst getan haben. Auch ihnen sind
wir Dank schuldig.
({1})
Dessen ungeachtet sieht sich die Koalition - damit
natürlich auch die FDP - in außenpolitischer Kontinuität. Unsere internationalen Verpflichtungen, auch gegenüber den Vereinten Nationen, halten wir selbstverständlich ein. Niemand kann so tun, als gebe es den UNIFILEinsatz nicht bereits; und da er nicht von heute auf morgen beendet werden kann, gibt die FDP heute mehrheitlich ihre Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandats.
Allerdings - auch das muss hier gesagt werden - ist
dieses Mandat zu Recht zeitlich und auch inhaltlich,
sachlich begrenzt.
({2})
Bei jedem Mandat - und gerade bei diesem - muss immer wieder von neuem geprüft werden, ob es fortgesetzt
werden muss oder ob es nunmehr beendet werden kann.
Das ist hier zu bedenken. Ziel des Einsatzes - das wissen
wir - war die Überwachung der Seegrenzen des Libanon, bis dieser selbst dazu in der Lage ist. Durch den
auch mit deutscher Hilfe erreichten Aufbau erweiterter
Fähigkeiten der libanesischen Marine ist das Land jetzt
selbst in der Lage, diese Aufgaben zu übernehmen.
Union und FDP wollen daher im Rahmen der Vereinten
Nationen auf eine schrittweise Reduzierung unseres Beitrages an UNIFIL hinwirken, und zwar, wie es im Koalitionsvertrag ausdrücklich heißt, mit der Perspektive
der Beendigung.
({3})
Herr Trittin, das ist das Signal, das Sie vorhin an anderer
Stelle vermisst haben. Die Perspektive ist die Beendigung des Einsatzes.
({4})
Herr Kollege Königshaus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich von der Fraktion Die
Linke?
Ja.
Bitte schön.
Herr Königshaus, Sie haben gesagt, dass das Mandat
immer wieder inhaltlich zu überprüfen ist und die FDPFraktion es deshalb begrüßt, dass dieser Einsatz auf
sechs Monate begrenzt wird. Wenn dieses Argument
nicht speziell auf UNIFIL bezogen wird, weil die FDP
ihre Position dazu geändert hat, frage ich Sie, warum Sie
das nicht genauso für den OEF- und den ISAF-Einsatz
beschlossen haben.
({0})
Herr Kollege, ich hatte gehofft, dass irgendjemand
diese Frage stellt, damit ich sie hier beantworten kann. In
der Öffentlichkeit werden ja verschiedentlich ulkige Argumente vorgebracht, unter anderem, wie eben von Ihnen, die FDP habe ihren Standpunkt geändert. Das hat
sie nicht. Wir sind heute in einer ganz anderen Situation.
({0})
Wir haben eine andere Entscheidung zu treffen, als das
am Anfang der Fall war, als über die ersten Mandate zu
entscheiden war. Damals ging es schlichtweg um die
Frage, ob das, was angestrebt wurde, auf diesem Weg
wirksam erreicht werden konnte. Damals hatten wir eine
andere Auffassung. Das kann man natürlich auch anders
sehen.
Bei den Folgemandaten ging es darum, ob das von
uns ursprünglich durchaus kritisch gesehene Mandat
unverändert fortgesetzt werden soll. Dazu sahen wir keinen Anlass, insbesondere weil die Perspektive einer Beendigung, die nun ausdrücklich angestrebt wird, nicht
enthalten war. Damals war die Prüfkomponente nicht
enthalten, die Sie völlig zu Recht erwarten und verlangen. Weil diese Prüfkomponente dieses Mal enthalten
ist, können wir diesem Mandat frohen Herzens zustimmen. Ich kann Sie nur auffordern, ebenfalls Ihre Zustimmung zu geben.
({1})
Die vorgesehene Beendigung unserer Beteiligung an
der maritimen Komponente des UNIFIL-Einsatzes folgt
also nicht, wie die Grünen behaupten, sachfremden Motiven, sondern einer klaren Bewertung der Fortschritte,
die wir im Stabilisierungsprozess bereits erreicht haben
und die wir durch eine Fortsetzung des Mandats noch
erreichen können. Alles spricht dafür, das Mandat nun
auslaufen zu lassen. Eine Reduzierung unserer Beteiligung hat im Übrigen bereits die Regierung der Großen
Koalition vorgenommen. Unsere Marine ist jetzt nur
noch mit zwei Patrouillenbooten und einer Unterstützungseinheit vor Ort präsent. Die Reduzierung des Mandats ist eine konsequente Folge.
Wir werden die kommenden sechs Monate, die uns
bleiben, nutzen, um mit den Vereinten Nationen die konkreten Regelungen für die Beendigung des Mandats zu
erörtern. Der VN-Sicherheitsrat hat mit der Resolution
1884 eine Überprüfung des operativen Ansatzes von
UNIFIL gefordert. Diese Evaluierung läuft bereits. Die
Ergebnisse werden voraussichtlich im Frühjahr vorliegen. Dann - und erst dann - wird die Koalition abschließend darüber entscheiden, wie wir das Mandat beenden;
denn wir können dort nicht einfach abziehen.
Die FDP-Fraktion ist sich der Symbolwirkung dieses
Einsatzes gerade auch gegenüber Israel bewusst. Aber
wir müssen auch andere Aspekte im Auge behalten. Unsere Marine ist an vielen Orten der Welt gefordert. Wir
müssen Prioritäten setzen, wenn wir sie nicht überfordern wollen.
Ein weiterer Aspekt darf, glaube ich, nicht übersehen
werden. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass
Mandate, die einmal erteilt wurden, nicht mehr beendet
werden können, selbst dann nicht, wenn sich ihr ursprünglich gewünschter Zweck längst erfüllt hat. Andernfalls wäre es noch schwieriger, für die Mandate, die
wir zu Recht aufrechterhalten wollen, in der Bevölkerung Akzeptanz zu erhalten, insbesondere in Afghanistan und am Horn von Afrika.
Aus diesen Überlegungen zieht die Koalition mit
diesem eingeschränkten Mandat die angemessenen
Schlüsse. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({2})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung des ISAF-Mandats bekannt: abgegebene
Stimmen 594. Mit Ja haben gestimmt 446 Abgeordnete,
mit Nein haben gestimmt 105, Enthaltungen 43. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 594;
davon
ja: 446
nein: 105
enthalten: 43
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Andreas Jung ({6})
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
({8})
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({11})
Nadine Müller ({12})
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Dr. Wolfgang Schäuble
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({17})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({18})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({20})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({21})
Peter Weiß ({22})
Sabine Weiss ({23})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({24})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({25})
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({26})
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({27})
Hubertus Heil ({28})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({29})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Petra Merkel ({31})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({32})
Michael Roth ({33})
Marlene Rupprecht
({34})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({35})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({36})
Werner Schieder ({37})
Ulla Schmidt ({38})
Carsten Schneider ({39})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({40})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({41})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({42})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({43})
Christian Lindner
Michael Link ({44})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabi Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({45})
Burkhardt Müller-Sönksen
({46})
Hans-Joachim Otto
({47})
Cornelia Pieper
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({48})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({49})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({50})
Cornelia Behm
Priska Hinz ({51})
Thomas Koenigs
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({52})
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Schindler
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Klaus Barthel
Marco Bülow
Dr. Peter Danckert
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({53})
Hilde Mattheis
Sönke Rix
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff
({54})
FDP
Joachim Günther ({55})
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({56})
Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Katja Dörner
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven Kindler
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Elisabeth Paus
Dr. Gerhard Schick
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Enthalten
CDU/CSU
Manfred Kolbe
SPD
Daniela Kolbe ({57})
Dr. Wilhelm Priesmeier
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Undine Kurth ({58})
Markus Kurth
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({59})
Ingrid Nestle
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({60})
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
({61})
Wir setzen die Aussprache fort. Als nächster Redner
hat das Wort der Kollege Günter Gloser von der SPDFraktion.
({62})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
deutsche Beteiligung an der Mission UNIFIL war und ist
ein wichtiger Beitrag. Deshalb sollte sie fortgesetzt werden. Deutschland hat mit diesem Einsatz wesentlich zur
Erreichung der Ziele der Resolution 1701 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen beigetragen. Ich
möchte hier ausdrücklich zwei Punkte nennen: erstens
die wirksame Verhinderung von Waffenlieferungen von
Seeseite, die eine Wiederaufnahme des wichtigen zivilen
Seeverkehrs ermöglicht hat, und zweitens die Unterstützung bei der Kontrolle des Waffenstillstands und der
Sicherung der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und
dem Libanon. Dieser erfolgreiche Einsatz deutscher Soldaten und der Einsatzkräfte der weiteren beteiligten Länder verdient unseren Dank und unsere Anerkennung.
Ich sage das auch deshalb so deutlich, damit hier nicht
der Eindruck entsteht, wie es gelegentlich in Feuilletons
zu lesen war, dass es sich bei UNIFIL um einen verzichtbaren „Schönwettereinsatz“ handelt oder dass man
dessen Mandatierung aus verschiedenen innenpolitischen Gründen einer besonderen Befristung unterwirft.
Es wäre aber falsch, aufgrund des guten Verlaufs der
UNIFIL-Mission die Situation in der Region insgesamt
nur positiv zu zeichnen. Durch die Kontrolle des Seeverkehrs wurde der Schmuggel von Waffen leider keineswegs beendet. Die Landgrenze zu Syrien ermöglicht es
der Hisbollah nach wie vor, sich auf diesem Weg neue
Waffen zu besorgen. Die Hisbollah brüstet sich sogar,
jetzt besser ausgerüstet zu sein als vor der letzten
bewaffneten Auseinandersetzung mit Israel im Sommer
2006.
Ich hatte im Oktober 2008 selbst die Gelegenheit, mir
auf dem Landweg von Beirut nach Damaskus einen Eindruck von den dortigen Grenzkontrollen zu verschaffen.
Deshalb kann ich aus eigenem Augenschein bestätigen:
Der Zoll und die Grenztruppen des Libanon brauchen intensive Unterstützung beim Ausbau der Grenzsicherung.
({0})
Das geschieht bereits in Form einer deutschen Unterstützung bei der Ausbildung der Zollmitarbeiter und bei der
wichtigen Vernetzung mit anderen Behörden des Landes.
Dieses deutsche Engagement sollte ebenfalls fortgeführt und ausgeweitet werden; denn nur durch den Aufbau eigener Kapazitäten können die Probleme dauerhaft
gelöst werden. Dieses Prinzip gilt genauso für die Seeseite, wo durch Unterstützung der Ausbildung und Ausrüstung der Marine ebenfalls bereits wertvolle Arbeit geleistet wird.
Die Führung des Libanon ist sich ihrer Verantwortung
bewusst. Bei meinem schon erwähnten Besuch konnte
ich mich selbst davon überzeugen, dass die Regierung
alles in ihrer Macht Stehende tut, um auch an der Grenze
zu Syrien eine effektive Kontrolle zu errichten. Doch die
Möglichkeiten dazu sind selbst beim besten politischen
Willen leider begrenzt. Deshalb muss auch der Nachbar
Syrien einen entsprechenden Beitrag zur Unterbindung
des Schmuggels leisten.
Die Rolle Syriens verdient nicht nur aus diesem
Grund unser besonderes Augenmerk. Überhaupt wird es
im Libanon nur dann eine positive Entwicklung geben,
wenn Syrien eine konstruktive Rolle einnimmt. Ich
finde, in dieser Richtung hat Damaskus bereits erste
Schritte getan, zum Beispiel durch den Austausch von
Botschaftern. Vor allem anderen aber muss Syrien seinen bestehenden Einfluss auf die Hisbollah geltend machen.
Ich kann die Aufforderung des Kollegen Rolf
Mützenich an den Außenminister in der vorangegangenen Debatte nur unterstützen: Bauen Sie die Beziehungen zu Syrien aus! Nutzen Sie diese Beziehungen intensiv, um Syrien in der Region insgesamt zu einer
konstruktiven Haltung zu bewegen! Das ist, wie ich
finde, ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die auch von
Ihnen, Herr Außenminister, immer wieder beschworene
Kontinuität der deutschen Außenpolitik. Wir sollten
diese Initiative ruhig in Angriff nehmen, auch wenn sie
gelegentlich zu koalitionsinternen Dissonanzen führen
wird.
Deutschland hat ein großes Interesse daran, dass die
Spannungen zwischen dem Libanon und Israel abgebaut
und die staatlichen Strukturen im Libanon gestärkt werden. Was wir nicht brauchen, sind ein erneutes militärisches Erstarken der Hisbollah, in der Folge Provokationen gegenüber Israel und daraufhin die berechtigte
Sorge Israels um seine Sicherheit. An diesem Szenario
wird deutlich, dass es neuer Initiativen im Nahen Osten
bedarf, um solch einer möglichen Eskalation frühzeitig
die Grundlage zu entziehen.
Noch ein weiterer Punkt muss betont werden: Die
UNIFIL-Mission geht direkt auf Resolutionen des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zurück. Wir sind
von der UNO nachdrücklich aufgerufen worden, diese
Mission zu unterstützen und zum Erfolg zu führen. Es
geht deshalb nicht nur um unser Interesse an der Sicherheit Israels und einer friedlichen Entwicklung der Region, sondern auch um unseren glaubwürdigen Beitrag
als aktives Mitglied der Völkergemeinschaft. Vor dem
Hintergrund dieser Verantwortung wird die SPD-Bundestagsfraktion der vorgeschlagenen Verlängerung des
Mandats, wie angekündigt, zustimmen.
Es bleibt aber ein Punkt, der mich und uns stört - er
ist bereits erwähnt worden -: In keinem der Redebeiträge, auch nicht in Ihrem, Herr Kollege Königshaus,
wurde vonseiten eines Redners der Regierungskoalition
nachvollziehbar begründet, warum sich die Verlängerung nur bis zum 30. Juni 2010 erstrecken soll. Die Vereinten Nationen haben das UNIFIL-Mandat mit der Resolution 1884 schließlich bis Ende August 2010
verlängert. Diese - ich muss es so sagen - willkürliche
zeitliche Beschränkung des deutschen Beitrags hat auch
nichts mit der angekündigten Überprüfung der Mission
durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen zu
tun, wie verschiedentlich behauptet wurde.
Ich habe den Eindruck, hier geht es eher darum, sicherzustellen, dass die FDP und der neue Außenminister
ihr Gesicht wahren können. Ich finde allerdings, die
deutsche Außenpolitik darf nicht dazu dienen, Fehlentscheidungen der FDP aus ihrer Oppositionszeit jetzt in
Regierungsverantwortung aufleben zu lassen.
({1})
Vielmehr muss es uns darum gehen, in einer insgesamt
schwierigen Situation im Nahen Osten die richtigen Signale auszusenden. Die Beteiligung Deutschlands an der
UNIFIL-Mission ist ein solches richtiges Signal, genauso wie die Unterstützung des Libanon beim Aufbau
einer funktionierenden Grenzsicherung an der Landgrenze zu Syrien. Mit der unnötigen Verkürzung des
Mandats setzt man dagegen das falsche Signal. Bisher
fehlt dafür, wie gesagt, eine schlüssige Begründung.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Henning Otte von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Vor drei Jahren haben wir
erstmals einer Beteiligung deutscher Streitkräfte an der
United Nations Interim Force in Lebanon zugestimmt.
Die Beendigung der Kampfhandlungen zwischen dem
Libanon und Israel war damals erst durch UNIFIL möglich geworden.
Seit 2006 hat der UNIFIL-Flottenverband illegale
Waffenlieferungen über See in den Libanon unterbunden. Seit dieser Zeit wurden zusammen mit den Libanesen mehr als 30 000 Abfragen auf See getätigt und über
390 Schiffe überprüft. Über 21 Monate hat Deutschland
dabei Führungsverantwortung vor Ort übernommen und
diese Arbeit in hervorragender Weise geleistet. Auch in
den letzten drei Monaten hat unsere Nation wieder einmal den aus vier Fregatten, drei Schnellbooten und einem Tender bestehenden Flottenverband unter der
Flagge der Vereinten Nationen befehligt und das Kommando jetzt an Italien übertragen.
Der Beitrag Deutschlands umfasst weit mehr als die
erfolgreiche Verhinderung illegaler Waffenlieferungen.
Mit der Überlassung von zwei Polizeibooten, einem
Wachboot und vor allem einer Küstenradarorganisation
mit insgesamt sechs Radaranlagen sowie weiteren Ausbildungsaktivitäten unterstützt unser Land die libanesischen Streitkräfte auf dem Weg zu einer eigenverantwortlichen Sicherung der seeseitigen Grenze.
Andererseits ist es unverzichtbar, dass illegale Waffenlieferungen an der Grenze von Syrien zum Libanon
ebenfalls unterbunden werden, und zwar von den Libanesen selbst wie auch von Syrien; mein Vorredner hat
das angesprochen.
Insgesamt gesehen hat sich die innen- und außenpolitische Situation des Libanon und der gesamten Region
deutlich verbessert. Libanon und Israel haben beide ein
außerordentlich großes Interesse an einer Fortführung
der Beteiligung Deutschlands an dieser Maritime Task
Force bekundet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine stabile
Lage im Nahen Osten liegt auch im Interesse Deutschlands. Ich selbst konnte mir von der Arbeit unserer Truppen beim UNIFIL-Einsatz ein Bild machen. Ich danke
unseren Soldatinnen und Soldaten, die durch ihren Einsatz einen wesentlichen Beitrag zu dieser positiven Entwicklung geleistet haben.
Der UN-Sicherheitsrat hat mit der Resolution 1884
die UNIFIL-Mission bis zum 31. August 2010 verlängert. Derzeit befinden sich 12 000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Der UN-Generalsekretär hat jüngst
noch einmal das sogenannte doppelte Mandat auf See
betont: in der Form, dass neben der seeseitigen Sicherung der Grenzen die libanesische Marine auch beim
Aufbau von eigenen Fähigkeiten zur Grenzsicherung unterstützt werden soll.
Im kommenden Jahr wird es zu einer Evaluierung
dieser Mission durch die Vereinten Nationen kommen.
Daher ist es richtig, dass wir dieses Mandat bis zum
30. Juni, also um ein halbes Jahr, verlängern. Diese verkürzte Mandatsverlängerung erlaubt es uns, auf die Ergebnisse dieser Evaluation zu reagieren.
Angesichts der erfolgreichen Auftragserfüllung und
der zunehmenden Befähigung der libanesischen Armee
ist eine Absenkung der Obergrenze für die deutsche
Beteiligung von 1 200 auf 800 Soldaten richtig und angemessen. Wir machen damit deutlich, dass sich die
Truppenstärke an der Lage vor Ort orientiert und entsprechend angepasst wird.
UNIFIL ist eine wichtige und erfolgreiche Mission.
Wer jetzt, vor der Evaluierung, für einen Abzug unserer
Soldaten plädiert, der gefährdet die Erfolge dieser Mission und der Arbeit der letzten drei Jahre. Ein klares
Votum für diese Mission ist auch ein Ausdruck der Anerkennung und Wertschätzung der Leistung unserer Soldaten im Einsatz. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung daher zustimmen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Höger von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Soldaten
der Bundeswehr haben im Nahen Osten nichts, aber
auch gar nichts zu suchen.
({0})
Das hat mein Kollege Wolfgang Gehrcke bereits in der
letzten Woche sehr deutlich gemacht.
Formal diskutieren wir heute über die Verlängerung
des Einsatzes deutscher Soldaten vor dem Libanon. Faktisch steht wesentlich mehr auf der Tagesordnung. Es
geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Rolle
der Bundeswehr in der deutschen Außenpolitik. Die Debatte zwischen Herrn Mützenich von der SPD und Verteidigungsminister Jung, äh, Guttenberg in der letzten
Woche war da sehr aufschlussreich.
({1})
- Na ja, wir alle sind froh, dass Herr Guttenberg, äh,
Herr Jung die Verantwortung übernommen hat und gegangen ist.
Die Debatte in der letzten Woche war sehr aufschlussreich. Herr Guttenberg
({2})
forderte, mit der Selbstverständlichkeit von Auslandseinsätzen „unverdruckst“ umzugehen. Herr Mißfelder
erklärte den UNIFIL-Einsatz gar zum „Modell für andere Einsätze in der Zukunft“. Sie alle wissen: Die Linke
wird die Bundeswehr als Armee im globalen Einsatz niemals als Selbstverständlichkeit hinnehmen.
({3})
Die Linke ist die einzige Partei, die konsequent gegen
Auslandseinsätze ist.
Wenn nun Herr Mützenich behauptet, dass Auslandseinsätze für seine Partei nie Normalität werden, dann
fragt man sich, wo er in den letzten elf Jahren war. Immerhin hat die SPD doch verantwortlich dafür gesorgt,
dass Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Normalität
werden konnten.
({4})
Nun zum UNIFIL-Mandat. Deutschland ist für unsägliche Verbrechen gegenüber Jüdinnen und Juden verantwortlich. Deutschland kann in der Region des Nahen
Ostens niemals als neutraler Akteur auftreten.
({5})
Was wäre zum Beispiel, wenn deutsche Schiffe ein israelisches Flugzeug oder Schiff wegen Verstoßes gegen die
UN-Resolution 1701 in ein Gefecht verwickeln und es
dabei zu Opfern kommt?
({6})
Der Wirbel um Oberst Klein wäre im Verhältnis zu dem
Wirbel bei einem solchen Vorfall eine Kleinigkeit.
Dies ist kein hypothetischer Fall. Es kam in den letzten drei Jahren zu mehreren Konfrontationen zwischen
der deutschen und der israelischen Armee. Niemand
kann garantieren, dass vergleichbare Zwischenfälle auch
in der Zukunft glimpflich verlaufen werden. Die deutsche Verantwortung in dieser Region kann und darf sich
nicht militärisch artikulieren.
({7})
Darf ich an den Sommer 2006 erinnern? Damals tobte
der Krieg zwischen israelischen Streitkräften und Hisbollah-Einheiten. Welche Waffen kamen dabei zum Einsatz? Deutsche Waffen, und zwar auf beiden Seiten der
Front. Das darf nie wieder vorkommen.
Waffenlieferungen in den Libanon sollen angeblich
durch UNIFIL kontrolliert und verhindert werden.
Gleichzeitig werden nach wie vor offiziell Waffen aus
Deutschland nach Israel und in andere Länder der Region geliefert. Waffenlieferungen in Krisengebiete sollten grundsätzlich unterbleiben.
({8})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal betonen:
Es darf nicht sein, dass mit dem Einsatz deutscher Soldaten im Nahen Osten eine Enttabuisierung des Einsatzes
der Bundeswehr in aller Welt stattfindet. Ohne einen umfassenden politischen Prozess wird es keinen dauerhaften Frieden und keine Sicherheit im Nahen Osten geben,
weder für die Menschen in Israel noch im Libanon noch
in anderen Staaten der Region. Diesen Prozess sollten
Deutsche nicht durch mehr Waffen und Soldaten erschweren.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Müller von
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Der
deutsche Einsatz im Rahmen der UNIFIL-Mission, über
dessen Verlängerung wir heute abstimmen, ist ein verantwortbarer und erfolgreicher Einsatz, der den Friedensprozess im Libanon gestärkt hat und damit zu einer
Stabilisierung der Gesamtregion beigeträgt. Genau aus
diesem Grund wird er von beiden Konfliktparteien, also
von den Libanesen und den Israelis, Frau Höger, sowie
von der UNO ausdrücklich weiter gewünscht.
({0})
Ihr Hauptargument, über das man nachdenken muss
und das bei der Erteilung des Mandats eine große Rolle
gespielt hat - auch hier in diesem Hause -, ist die Frage:
Dürfen Deutsche in diese Region, und was ist, wenn es
zu einer Konfrontation zwischen Deutschen und Israelis
kommt?
Es ist nicht zu der befürchteten Konfrontation gekommen.
({1})
Vor allem die Israelis sagen ganz klar, dass sie nicht nur
die UNO-Mission wollen. Das ist übrigens die einzige
Mission, bei der die Israelis dafür eintreten, dass die
UNO die entscheidende Rolle spielt. Sie wünschen ausdrücklich auch einen deutschen Beitrag.
Wenn man erkennt, dass ein Argument von der Realität überholt wird, dann muss man in der Lage sein, seine
Position zu revidieren und zu sagen: Dieser Einsatz ist
sinnvoll. Wir werden zustimmen.
({2})
Herr Königshaus, meine Damen und Herren von der
FDP, man könnte meinen, dass Sie Ihre Auffassung revidiert haben. Als Sie noch in der Opposition waren, waren Sie gegen den Einsatz. Ich diffamiere nicht die Argumente. Es gibt Argumente, über die man durchaus
nachdenken muss. Heute waren die Gründe für die Revision aber nicht erkennbar, abgesehen von dem Grund,
Kerstin Müller ({3})
dass Sie heute nicht mehr in der Opposition, sondern in
der Regierung sind.
({4})
Wenn dieser Einsatz im Grundsatz sinnvoll und erforderlich ist, wenn er zum Frieden beiträgt, dann gibt es
heute keinen Grund, dieses Mandat bis Ende Juni nächsten Jahres zu begrenzen.
({5})
Das ist lediglich der Gesichtswahrung der FDP geschuldet. Das ist außenpolitisch aber nicht seriös.
Sie berufen sich auf die Evaluierung durch die UNO.
Das ist meines Erachtens ziemlich fadenscheinig, weil
Sie wissen, dass diese bei vielen Mandaten stattfindet.
Wenn das UNO-Mandat der Hintergrund gewesen wäre,
dann hätten Sie das Mandat wenigstens bis August
nächsten Jahres begrenzen müssen. Das wäre logisch gewesen.
Man muss ganz klar sagen: Die Argumente sind vorgeschoben. Die FDP plant den Einstieg in den Ausstieg.
Das steht leider auch so in Ihrem Koalitionsvertrag. Das
ist angesichts der Lage vor Ort - nur das müssen die Argumente für unsere Entscheidung sein - unverantwortlich.
({6})
Frau Kollegin Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Königshaus?
Ja, gern.
Bitte schön, Herr Königshaus.
Frau Kollegin, gilt das Argument, das der Kollege
Trittin vorhin genannt hat? Er hat nämlich bemängelt,
dass das ISAF-Mandat um ein Jahr verlängert wurde und
nicht nur um ein halbes Jahr. Dabei geht es auch um eine
Evaluierung, nämlich im Rahmen der Afghanistan-Konferenz. Können Sie uns diesen Unterschied erklären?
Wir sind nicht grundsätzlich gegen die Begrenzung
von Mandaten. Bei ISAF ist es aber eine Idee der deutschen Bundeskanzlerin, eine Konferenz zu veranstalten.
Bei UNIFIL hingegen - ich habe das Geschäft auch
lange betrieben - geht es um eine ganz normale routinemäßige Untersuchung bzw. Überprüfung, wie es die
UNO mit all ihren Mandaten macht, damit dem Generalsekretär in New York berichtet werden kann. Das war
für uns noch nie ein Grund, ein Mandat zu begrenzen,
auch nicht bei ISAF und auch nicht bei OEF.
({0})
Ich möchte aus Ihrem Koalitionsvertrag zitieren, weil
ich meine, dass dort der eigentliche Grund dargelegt ist.
Darin heißt es:
Im Rahmen der Vereinten Nationen werden wir auf
eine schrittweise Reduzierung unseres deutschen
Beitrages zur Maritime Task Force UNIFIL mit der
Perspektive der Beendigung hinwirken.
Das ist der Grund dafür, weshalb wir es hier mit einer
Begrenzung zu tun haben. Ich finde, das ist der Sache
nicht angemessen; das sehen auch die Konfliktparteien
so.
({1})
Frau Kollegin Müller, erlauben Sie eine Nachfrage
des Kollegen Königshaus?
Ja.
Bitte schön, Herr Königshaus.
Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass es für die FDP
keine einfachen Mandate gibt und dass wir selbstverständlich nicht routinemäßige Überprüfungen, sondern
immer nur ernst gemeinte Überprüfungen vornehmen?
Genauso ist das in diesem Fall. Das gilt sowohl für die
Afghanistan-Konferenz als auch für das Assessment von
UNIFIL.
Ich möchte jetzt nicht über die Frage des politischen
und des militärischen Nutzens des Mandats sprechen. Es
geht schlichtweg um die Frage, ob ein Mandat, das
schon läuft - das ist ja etwas anderes, als wenn ich über
ein neues Mandat rede -, daraufhin überprüft werden
muss, ob es beendet werden muss bzw. ob es beendet
werden kann. Das ist doch keine Routine.
Nein. Ich bin immer für Überprüfungen. Ich bin der
Meinung, dass auch der Deutsche Bundestag überprüfen
und begrenzen muss, wenn er dies als erforderlich ansieht. Ich kann in diesem Fall aber nicht die wirklichen
Gründe erkennen.
Ich möchte Ihren Koalitionspartner zitieren. Wo ist
denn Herr Staatssekretär Kossendey? - Dort hinten sitzt
er. Er hat am 30. des vergangenen Monats im Libanon
die Übergabe der deutschen Mission an die Italiener vorgenommen. Dabei hat er gesagt - offensichtlich aufgrund seiner Gespräche mit den Israelis und den Libanesen -, dass man sowohl in Israel als auch im Libanon
überrascht und enttäuscht über die Ausstiegspläne der
Koalition war.
Kerstin Müller ({0})
Ich zitiere Sie aus dem Tagesspiegel: „Unser Ausstieg
wäre eine Enttäuschung.“
Das heißt, eine Überprüfung ist okay. Aber Sie wollen
aussteigen, und das finden nicht nur wir politisch falsch,
sondern auch die UNO und die Konfliktparteien. Denn
wir leisten mit diesem Einsatz einen notwendigen Beitrag zur Stabilisierung im Osten. Deshalb finde ich, dass
Sie klar sagen sollten, ob Sie das von der Sache her so
sehen oder nicht, statt herumzueiern und dem Parlament
gegenüber nicht ehrlich zu sein.
({1})
Ich will noch etwas zur Sache sagen. Die Lage im Libanon ist nämlich schwierig. Der Libanon ist die Arena
regionaler Interessen und Konflikte für Syrien, SaudiArabien und den Iran. Es ist völlig klar: Dieses Mandat
ist nur ein einziger Baustein. Erst wenn es gelingt, diese
Konflikte zu entschärfen, kann der Libanon langfristig
stabilisiert werden.
Es ist auf das Problem der Hisbollah hingewiesen
worden; das muss man sehr ernst nehmen. Das ist übrigens, finde ich, der Schwachpunkt dieses Mandates,
Herr Königshaus. Aber es gibt den Auftrag von UNIFIL
nicht, die Landgrenze zu sichern. Nach seriösen Informationen besitzt die Hisbollah jetzt dreimal mehr Waffen als vor dem Krieg. Das ist ein Problem, aber deshalb,
Herr Königshaus, sehen die UNO und alle Experten dies
als einen Konflikt, der schwelt und jederzeit zu einem
heißen Konflikt werden kann. Der UNIFIL-Einsatz sorgt
mit dafür, dass das Ganze nicht zu einem heißen Konflikt wird. Er sorgt dafür, dass der Konflikt zwischen Israelis und Libanesen nicht wieder ausbricht.
Deshalb bin ich ganz klar der Meinung, dass der Einsatz sinnvoll ist und fortgeführt werden sollte. Wir müssen ihn aber auch in eine Gesamtpolitik einbetten. Das
heißt, wir müssen die Öffnung zu den Syrern weiter betreiben, aber wir müssen dabeibleiben, damit die deutsche Stimme im Nahostkonflikt weiter politisches Gewicht behält.
({2})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Wolfgang Götzer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vor gut drei Jahren hat der libanesische Premierminister
die Vereinten Nationen um Hilfe gebeten. Diese haben
sich dann aufgrund der Resolution 1701 auch an die
deutsche Bundesregierung mit der Bitte um Beteiligung
gewandt. Dies führte - Sie erinnern sich - zu großen
kontroversen Diskussionen in unserem Land. Man war
sich sehr wohl bewusst, dass es sich im Falle einer Zustimmung um eine historische Entscheidung handeln
würde. Dabei spielte vor allem unser besonderes Verhältnis zu Israel eine Rolle, das sowohl für als auch gegen eine deutsche Beteiligung ins Feld geführt wurde.
Heute kann man sagen: Alle Bedenken, die man vor
diesem Einsatz hatte, haben sich zum Glück als unbegründet herausgestellt.
({0})
Vor allem der Einwand, man könne im Nahostkonflikt
zur Partei werden, hat sich als unzutreffend erwiesen.
Denn sowohl die israelische als auch die libanesische
Regierung begrüßen das deutsche Engagement und wünschen ausdrücklich die deutsche Beteiligung.
Auch der oft geäußerte Vorwurf der Militarisierung
der Außenpolitik ist haltlos bei einem Einsatz, bei dem
es größtenteils um die Verhinderung von Waffenschmuggel und um Grenzsicherung geht. Zudem hat sich
mit dem Fortschreiten des Einsatzes der Schwerpunkt
immer weiter in Richtung Ausbildung der libanesischen
Marine verlagert.
Der weitere Einwand, der Einsatz sei völkerrechtswidrig, ist ebenfalls nicht stichhaltig. Völkerrechtliche
Grundlage für den UNIFIL-Einsatz sind die Beschlüsse
des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
Es gibt eine ganze Reihe guter Gründe für die Verlängerung des UNIFIL-Mandates und die deutsche Beteiligung daran. Deutschland hat nicht nur wegen seiner besonderen Verantwortung für Israel ein überragendes
Interesse an der Schlichtung des Nahostkonflikts und einer friedlichen Perspektive für die Region. Das UNIFILMandat ist auch von strategischer Bedeutung. Man
spricht vom Nahen Osten, weil er direkt vor den Grenzen Europas liegt.
Die Resolution 1701 der Vereinten Nationen wird
nach wie vor als Grundlage zur Vermeidung erneuter bewaffneter Konflikte akzeptiert. Die Mission hilft dabei,
die Souveränität und politische Stabilität des Libanon zu
stärken. Dies spielt eine entscheidende Rolle für die Sicherheit des Staates Israel, aber auch für die Schaffung
eines eigenen palästinensischen Staates. Beides sind
Grundvoraussetzungen einer dauerhaften Friedenslösung im Nahen Osten.
Der UNIFIL-Flottenverband hat in enger Zusammenarbeit mit der libanesischen Marine den Waffenschmuggel auf dem Seeweg erfolgreich verhindert. Ich möchte
deshalb an dieser Stelle unseren Soldatinnen und Soldaten für diesen Einsatz danken.
({1})
Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, seit Beginn des Einsatzes haben sich die innen- und außenpolitische Lage des Libanon und auch die
Lebensqualität dort verbessert. Der Einsatz hat dazu
beigetragen, den politischen Prozess im Libanon voranzutreiben und demokratische Grundstrukturen aufzu698
bauen. Innenpolitische Auseinandersetzungen wurden
seit Beginn des Einsatzes weitgehend friedlich gelöst.
Allerdings müssen mittelfristig alle Milizen entwaffnet
werden. Wer in diesem Haus hätte vor drei Jahren mit
solch enormen Fortschritten gerechnet?
Wie groß im Übrigen das internationale Interesse an
der UNIFIL-Mission nach wie vor ist, zeigt die Vielzahl
der auch künftig teilnehmenden Staaten. Realistisch gesehen wird es noch einige Zeit dauern, bis der Libanon
den kompletten Seeraum alleine überwachen kann. Deswegen wäre es falsch, sich jetzt zurückzuziehen. Experten der Bundespolizei müssen im Rahmen der UNIFILMission weiterhin die zuständigen libanesischen Behörden in Fragen der Grenzsicherheit beraten. In diesem
Zusammenhang möchte ich vor allem die ungesicherte
Grenze des Libanon zu Syrien ansprechen; das haben
auch schon einige Vorredner getan. So begrüßenswert
der erfolgreiche Einsatz im Rahmen des UNIFIL-Mandats zu Wasser ist: Die libanesisch-syrische Grenze
bleibt eine offene Flanke. Deshalb muss dafür Sorge getragen werden, dass die Waffenlieferungen dort unterbunden werden.
({2})
Ein Abzug zum jetzigen Zeitpunkt wäre auch deshalb
nicht sinnvoll, weil die vollständige Umsetzung der Resolution der Vereinten Nationen, insbesondere die
Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, ein längerfristiger Prozess sein wird, den wir auch im eigenen
Interesse begleiten sollten. Darüber hinaus bedarf es
noch immer humanitärer Hilfe in den zerstörten Flüchtlingslagern. Wenn die humanitäre Lage in diesen problematischen Gebieten des Landes verbessert wird, dann
dient das auch der politischen Stabilisierung und der
wirtschaftlichen Fortentwicklung des Libanon. Auch
dies trägt langfristig zu einem friedlichen Zusammenleben bei. Deshalb soll sich der deutsche Beitrag zukünftig
verstärkt daran ausrichten.
Seit 1990 ist unser Land ein verlässlicher Bündnispartner der Vereinten Nationen. Auf uns soll auch in
Zukunft Verlass sein. Deshalb dürfen wir uns nicht vorzeitig zurückziehen. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des UNIFIL-Mandates.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Ich gebe Ihnen bekannt, dass zu Tagesordnungspunkt 10
eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor-
liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/112 ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
1) Anlage 5
Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/40 anzunehmen. Es ist namentliche Abstimmung
verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Haben an allen Urnen die Schriftführer ihren Platz
eingenommen? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die
Abstimmung.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte in die Urne geworfen? - Das ist der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer mit der Auszählung zu beginnen.
Darf ich Sie bitten, die Plätze einzunehmen, damit ich
mit der Abstimmung fortfahren kann? Wir haben noch
eine Abstimmung mit Handzeichen vorzunehmen, und
ich muss erkennen können, wofür und wogegen Sie
stimmen. Insbesondere rechts außen scheint der Gesprächsbedarf besonders stark entwickelt zu sein.
({1})
Ich bitte, den Volksauflauf rechts außen zu beenden
und die Plätze einzunehmen oder den Saal zu verlassen,
damit ich abstimmen lassen kann.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/134. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ih-
nen später bekannt gegeben.2)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({3}) und 1373
({4}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/38, 17/110 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Stefan Liebich
Kerstin Müller ({5})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/141 -
2) Ergebnis Seite 700 D
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Carsten Schneider ({0})
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor. Über die Beschlussempfehlung werden
wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist kein Geheimnis, dass wir, die FDP-Fraktion, seit geraumer Zeit über die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit des OEF-Mandates in dieser Form diskutieren. Das
ist ein ganz normaler Vorgang, und es ist richtig und
wichtig, dass wir so etwas tun: dass wir laufend die
Mandate und ihre Bedingungen den aktuellen Situationen anpassen. Diesem Prozess stellen wir uns als FDPFraktion.
Zunächst einmal auch hier ein Wort zu den Anwürfen
unserer verehrten Kollegen von der Linksfraktion.
({0})
Sie sind mit Ihrem Antrag auch dieses Mal auf dem falschen Dampfer. Wie oft muss Ihnen das Verfassungsgericht noch bestätigen, dass Sie falsch liegen? Verfassungsrechtlich und völkerrechtlich ist an dem Mandat
OEF nichts auszusetzen.
({1})
Aber viel wichtiger ist doch, dass wir hier in diesem
Hause politisch argumentieren. Selbstverständlich hat
sich politisch, seitdem wir das Mandat erstmals beschlossen haben, einiges geändert. Zunächst einmal haben wir im letzten Jahr erstmals in die Mandatierung der
OEF ausdrücklich die bis dato mandatierten 100 KSKKräfte in Afghanistan nicht mehr hineingenommen. Das
heißt - das müssen wir auch der Öffentlichkeit sehr deutlich sagen -, aus deutscher Sicht hat das Mandat OEF
mit Afghanistan nichts mehr zu tun. Wir sind daran in
Afghanistan nicht mehr beteiligt.
({2})
Es hat sich seit der ersten Mandatierung etwas Weiteres geändert. Es gibt nämlich seit dem letzten Jahr die
Mission Atalanta zur Bekämpfung von Piraterie am
Horn von Afrika. Das heißt, es gibt in dieser Region eine
maritime Mission. Auch dieser Veränderung müssen wir
mit unseren Überlegungen Rechnung tragen.
Die FDP-Fraktion stimmt heute diesem OEF-Mandat
zu. Wir verknüpfen diese Zustimmung aber, sehr verehrter Herr Kollege Gehrcke, mit der Bedingung, dass wir
gemeinsam die Protokollerklärung der Bundesregierung
ernst nehmen, und deshalb lese ich, lieber Herr Gehrcke,
diese Protokollerklärung hier noch einmal laut und deutlich vor:
({3})
Die Bundesregierung wird spätestens bis zum
Sommer 2010 … die Notwendigkeit der weiteren
deutschen Beteiligung an Operation Enduring Freedom am Horn von Afrika und gegebenenfalls eine
Überführung der bisher im Rahmen von OEF am
Horn von Afrika eingesetzten Kräfte in eine gemeinschaftliche Mission zur Pirateriebekämpfung
überprüfen. Die Beteiligung an Operation Active
Endeavour bleibt hiervon unberührt. … Ebenso
selbstverständlich ist, dass die Bundesregierung
den Deutschen Bundestag umgehend über das Ergebnis der Evaluierung unterrichten wird.
Das ist die Protokollerklärung. Diese nehmen wir sehr
ernst.
Uns geht es nicht darum, unseren internationalen Verpflichtungen nicht gerecht zu werden. Wir wissen, dass
insbesondere am Horn von Afrika internationales Engagement wichtig und richtig ist. Wir wissen auch, dass es
bei weitem nicht ausreicht, dorthin Marinekräfte zu schicken, und dass für die Regierung am Horn von Afrika
mittel- und langfristig eine politische Lösung das Gegebene ist. Daran müssen wir weiter entsprechend arbeiten.
({4})
Aber wir wollen mit dem Bezug auf die Protokollerklärung sehr deutlich machen: Wir stehen zu unserer Verantwortung. Wir sagen aber auch sehr deutlich: Wir gehen von ehrlichen Mandaten aus. Was draufsteht, muss
auch drin sein.
Deshalb ist die Zielrichtung meiner Fraktion ganz
klar: Wir wollen, dass OEF in dieser Form ausläuft, und
wir wollen - wie in der Protokollerklärung festgelegt über die Zusammenlegung dieser Mission mit der Mission zur Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika entscheiden. Wir werden das im Laufe der nächsten Monate
tun, spätestens bis zum Sommer des nächsten Jahres.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Groschek
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Kollege, das war eher auf der Linie des Vertagens, des Vernebelns und des Verarbeitskreisens auf
der Grundlage Ihres Koalitionsvertrages. Ich glaube,
dass das nicht die Perspektive der Diskussion hier sein
kann, lieber Kollege.
Ich finde, die Zeit ist reif, die Zeit ist heute reif, zu
entscheiden. Deshalb werden wir auch gleich mit Nein
zur Mandatierung von OEF entscheiden.
({0})
Dieses Nein zu diesem Mandat verbinden wir allerdings mit einem Ja zur Überführung in Atalanta. Dass
das heute nicht in einem Zug stattfinden kann, liegt nicht
an der Opposition, sondern liegt an Ihnen, der Regierung
und der Regierungskoalition.
Wir wollen mit der Entscheidung deutlich machen,
dass wir nicht weniger, sondern mehr wirksame Verantwortung übernehmen wollen, und begründen das mit
zwei Punkten.
Der erste Punkt ist der Logik der Einsatzentwicklung
geschuldet.
Der zweite Punkt ist die aktuelle Bedrohungslage, wie
sie uns immer und immer wieder geschildert wurde.
Zur Einsatzentwicklung muss man sagen: Von einem
ursprünglichen Maximum von 3 900 mandatierten Soldatinnen und Soldaten sollen wir jetzt nach diesem Mandatsvorschlag herunter auf 700.
Wir haben im letzten Jahr mit einer breiten Mehrheit
- auch auf Initiative unserer Fraktion hin - den Ausstieg
aus dem landgestützten Einsatz beschlossen, und wir haben die Reduzierung auf eine Restkomponente von maximal einem seegehenden Einsatzschiff und einem luftgestützten Einsatzobjekt hinbekommen.
Zur Bedrohungslage muss man sagen, dass die Priorität ganz eindeutig bei der Bekämpfung der Piraterie am
Horn von Afrika liegt und nicht beim Kampf gegen den
Terrorismus. Das macht deutlich, dass der Einsatz schon
heute ein Zwitter ist, und das macht deutlich, dass die
Soldatinnen und Soldaten ein ständiges Umflaggen und
einen ständigen Unterstellungswechsel erleben. Das ist
das Gegenteil von Klarheit und Konsequenz. Deshalb
noch einmal: Es wäre besser, wenn wir heute die Überführung in Atalanta beschließen könnten.
({1})
Ich will den Dank an die Soldaten mit einer Erinnerung an die besondere Verpflichtung, die wir haben, verbinden. Jede Mandatierung muss eine Einzelfallentscheidung sein. Die Verlängerung darf nicht zur Routine
verkommen, und wir dürfen einer Kultur des bloßen
Weiter-so! bei der Mandatierung keinen Platz einräumen.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Beschlussvorlage
der Bundesregierung schon als ungenügend zu bezeichnen. Ich will dazu den Staatsminister Hoyer als Kronzeugen bemühen. Vor genau einem Jahr hat er in diesem
Hohen Haus noch in anderer Funktion gerade die Operation Enduring Freedom als klares Übergangsmandat bezeichnet, und die Protokollnotiz, die gerade zitiert
wurde, ist ja nicht etwa ein Lösungsansatz in der Sache,
sondern ist eine Verschlimmbesserung und eine Ausrede, warum Sie heute nicht entscheidungsfähig sind,
was die Überführung des Mandats angeht.
({2})
Ich finde, die Selbstverpflichtung, die Sie sich mit der
Überprüfung bis zum Sommer auferlegt haben, ist doppelt fragwürdig. Entweder hätten Sie diese Überprüfung
mit einer Befristung des Mandats auf ein halbes Jahr verknüpfen müssen - das ist nicht geschehen -, oder aber
der Prüfauftrag, den Sie sich selbst gegeben haben, der
für Sie ja schon seit einem Jahr im Pflichtenheft steht,
hätte bis heute beantwortet sein müssen. Heute hätte
nicht die Frage gestellt werden dürfen, sondern die Antwort gegeben werden müssen. Das wäre korrektes Handeln der Regierung bei der Erarbeitung dieser Vorlage
gewesen.
({3})
Deshalb ist es Ihr Versäumnis. Sie sind dafür zuständig. Sie tragen die Verantwortung für die mangelnde
Sorgfalt im Bemühen um eine gemeinsame Beschlussfassung. Wir hätten gerne in einem breiten Konsens den
Umstieg von OEF auf Atalanta beschlossen. Leider ist
das mit Ihnen nicht möglich.
({4})
Herr Kollege Groschek, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu herzlich, verbunden mit den besten Wünschen.
({0})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 10 und
gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon bekannt. Abgegebene Stimmen: 592. Mit Ja haben
gestimmt 500, mit Nein 82, und es gab 10 Enthaltungen.
Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 592;
davon
ja: 500
nein: 82
enthalten: 10
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
({1})
Manfred Behrens ({2})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({3})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({4})
Dirk Fischer ({5})
Axel E. Fischer ({6})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({7})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Andreas Jung ({8})
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({9})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
({10})
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
({11})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({12})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({13})
Nadine Müller ({14})
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({15})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({16})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({17})
Anita Schäfer ({18})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({19})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({20})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({21})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({22})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({23})
Peter Weiß ({24})
Sabine Weiss ({25})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({26})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({27})
Martin Burkert
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({28})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({29})
Hubertus Heil ({30})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({31})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({32})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({33})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Petra Merkel ({34})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({35})
Michael Roth ({36})
Marlene Rupprecht
({37})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({38})
Marianne Schieder
({39})
Werner Schieder ({40})
Ulla Schmidt ({41})
Carsten Schneider ({42})
Swen Schulz ({43})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({44})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({45})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({46})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({47})
Christian Lindner
Michael Link ({48})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({49})
Burkhardt Müller-Sönksen
({50})
Hans-Joachim Otto
({51})
Cornelia Pieper
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({52})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({53})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({54})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({55})
Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Memet Kilic
Sven Kindler
Maria Klein-Schmeink
Thomas Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Undine Kurth ({56})
Markus Kurth
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({57})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({58})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
SPD
Klaus Barthel
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Marco Bülow
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({59})
Hilde Mattheis
Sönke Rix
Ottmar Schreiner
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
({60})
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({61})
Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Dr. Harald Terpe
Enthalten
SPD
Ewald Schurer
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Sylvia Kotting-Uhl
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Nun erteile ich dem Kollegen Karl-Georg Wellmann
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({62})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
OEF-Mission hat drei Ziele: erstens Versperrung des Zugangs zu den Rückzugsräumen in Ostafrika, zweitens
Unterbindung der Verbindungswege zu den terroristischen Strukturen auf der arabischen Halbinsel, drittens
Schutz der Seepassage vor terroristischen Angriffen.
OEF wird gebraucht, weil der Terror noch virulent ist
und weil die Bewegungsfreiheit von Terroristen und ihren Unterstützern auch weiterhin nachhaltig eingeschränkt werden muss. - Das war übrigens ein Zitat von
Frank-Walter Steinmeier, der das vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt hat. Wie virulent der Terror ist, können
Sie heute in den Meldungen lesen. Es gab heute in Somalia einen Terroranschlag mit 19 Toten. Das ist keine
Spielerei. Das gibt es nach wie vor.
Wir wissen zwar alle, Herr Kollege Groschek, dass
sich der Schwerpunkt in Richtung Pirateriebekämpfung
verschiebt. Das ist klar. Aber es ist auch heute schon
möglich, unsere Einheiten dem Atalanta-Mandat zu unterstellen. Wir wissen sehr gut, dass die Ursache für die
Probleme auch der Zustand Somalias ist. Die EU hat auf
der Tagesordnung ihrer nächsten Ratssitzung - ich
glaube, in der nächsten Woche - ein Programm zur Unterstützung und Kräftigung Somalias. Aber es ist eine Illusion, zu glauben, dass das in kurzer Zeit greift. Wir
brauchen die Missionen am Horn von Afrika vorläufig
noch lange.
Es ist aber vernünftig, darüber nachzudenken, ob man
das Mandat nicht überführen kann. Insofern unterstützen
wir die Bundesregierung. Das geht nicht Knall auf Fall.
Ich finde es positiv, dass bis zum nächsten Sommer evaluiert werden soll, dass das ohne Hektik geprüft werden
kann. Diese Möglichkeit sollten wir der Bundesregierung geben.
Es gibt aber auch eine Kontinuität der Verantwortung
unseres Landes innerhalb der internationalen Missionen.
Es ist ein politisches Signal, dass wir uns aus der Solidarität der internationalen Staatengemeinschaft nicht verabschieden.
Insofern ist es von entscheidender Bedeutung, dass
wir, eingebunden in das Bündnis mit unseren Partnern, zusammenstehen.
Kein Beifall? Das war ein Zitat von Joschka Fischer,
Herr Kollege Trittin, der das an dieser Stelle gesagt hat,
als er noch Außenminister war.
Die SPD hat das in der Vergangenheit immer mitgetragen. Ich kann Ihren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Herrn Erler zitieren: Es ist unumstritten, dass das
OEF-Mandat am Horn von Afrika weiter stabilisierenden Einfluss ausüben muss. - Es ist noch kein Jahr her,
dass Ihre Vertreter das hier gesagt haben.
({0})
Bis vor kurzem waren Sie noch Verfechter der Mission,
und Frank-Walter Steinmeier hat das als Außenminister
hier vertreten. Kaum sind Sie in der Opposition, werfen
Sie Ihre Positionen über Bord
({1})
und machen sich davon. Das trägt nicht zu Ihrer außenpolitischen Glaubwürdigkeit bei. Wir haben den Verdacht, dass dies das erste internationale Mandat ist, bei
dem Sie sich insgesamt davonmachen.
({2})
Sie suchen sich jetzt sozusagen den schwächsten Punkt,
um erstmalig auszusteigen.
({3})
- Ja.
({4})
Sie hatten damals auch nie Probleme mit den Rechtsgrundlagen. Soll ich wirklich noch einmal Steinmeier
oder Erler oder Kolbow zitieren, die hier immer vehement vertreten haben, dass es dafür eine gesicherte
Rechtsgrundlage gibt? Das ist doch eine politische
Frage.
({5})
Da können Sie sich jetzt nicht mit juristischen Spitzfindigkeiten davonstehlen.
({6})
Herr Ströbele, ich darf noch einmal daran erinnern,
dass es sich um ein Mandat handelt, das von Rot-Grün
beschlossen wurde.
({7})
Sie haben sich auf die Wähler Ihres Wahlkreises bezogen. Sagen Sie doch einmal Ihren Wählern, dass Sie damals an diesem Beschluss mitgewirkt haben, 3 900 Soldaten im Zuge des OEF-Mandats einzusetzen.
({8})
Sie, Herr Trittin, haben es damals im Kabinett mit beschlossen.
({9})
Die Anzahl der Soldaten am Horn von Afrika wurde
dann schrittweise reduziert. Diese Bundesregierung
führt eine weitere Reduktion von 700 auf nicht einmal
mehr 300 Soldaten durch.
Die Linke holt jetzt in ihrem Antrag die alten Verschwörungstheorien hervor. Es wird behauptet, dass
OEF nur ein Deckmantel für irgendwelche sinistren,
militaristisch-imperialistischen Machenschaften ist. Wir
wissen ja, dass Sie generell Probleme mit der internationalen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland
haben.
Aber Sie, Herr Gehrcke, haben ein anderes Problem,
nämlich ein Glaubwürdigkeitsproblem. Als Sie noch
stellvertretender DKP-Vorsitzender waren - Sie haben
das vorhin angesprochen -,
({10})
waren Sie ein glühender Verfechter des sowjetischen
Einsatzes in Afghanistan.
({11})
Wie hieß es damals: im Geiste proletarischen Internationalismus. Das können Sie in den Protokollen der
DKP-Parteitage nachlesen. Heute machen Sie uns den
Pazifisten.
({12})
Die Tatsache, dass Sie die internationale Einbindung
der Bundesrepublik ablehnen, ist verantwortungslos.
Wir stehen zu unserer Verantwortung. Deshalb stimmen
wir dem Antrag der Bundesregierung zu.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Gehrcke.
Kleine Sünden werden immer sofort bestraft. Da
muss man nicht so lange warten. Deswegen mache ich
direkt nach der Rede des Kollegen Wellmann eine Kurzintervention.
Ich war leider nicht stellvertretender DKP-Vorsitzender, auch wenn ich es damals gerne gewesen wäre.
({0})
Aber meine Partei wollte es nicht. Deswegen ist daraus
nichts geworden. Dass Sie mich hinterher dazu befördern, ist ausgleichende Gerechtigkeit.
Zur Sache selbst. Ich verstehe nicht, warum man nicht
bereit ist, aus der Geschichte ein Stück weit zu lernen.
({1})
- Da können Sie ruhig lachen und sich ein bisschen aufregen; das ist ganz in Ordnung. - Wer nicht bereit ist, aus
der eigenen Geschichte ein Stück weit zu lernen, dessen
Argumente werden niemals tiefgründig sein.
({2})
Ich habe zu meinen Fehlern, was meine Geschichte
und was Afghanistan angeht, gesprochen. Damals habe
ich bei der Rechtfertigung des Krieges der Sowjetunion
in Afghanistan die gleichen Argumente benutzt, die Sie
hier vorgebracht haben. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich
mich damit kritisch auseinandergesetzt und darüber in
der Öffentlichkeit geredet, während Sie einfach so weitermachen und weitermarschieren. Es geht bei OEF
nicht um Verschwörungstheorien.
Ich möchte endlich einmal wissen, wann der Krieg
gegen den Terror für beendet erklärt wird. Die Beschlusslage der NATO zu dieser Frage ist doch furchtbar.
Als ich damals Gerhard Schröder gefragt habe, habe ich
die Antwort erhalten: Der Krieg ist beendet, wenn es
keinen Terror mehr gibt. - Also am Sankt-NimmerleinsTag.
Meine herzliche Bitte: Beteiligen Sie sich daran, aus
eigenen Fehlern zu lernen! Sie werden klüger, und es tut
der eigenen Seele ganz gut, wenn man dies leistet.
Danke sehr.
({3})
Zur Erwiderung, Herr Kollege Wellmann, bitte.
Herr Kollege Gehrcke, auf Ihrer eigenen Homepage
steht, Sie waren im Präsidium der DKP. Ich will auch
nicht die Tatsache wiederholen, dass Sie längere Zeit auf
der Parteihochschule in Moskau zugebracht haben. Sie
waren DKP-mäßig schon ein richtig schwerer Junge.
({0})
Daran kommen Sie nicht vorbei.
Zu Ihrem zweiten Teil, Herr Kollege Gehrcke. Die
Tatsache, dass Sie die sowjetische Invasion damals in
Afghanistan mit dem heutigen Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft vergleichen, zeigt in der Tat,
wie wenig Sie aus Ihrer eigenen Geschichte gelernt haben.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Stefan Liebich für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es
geht heute weder um die Kaderpolitik der DKP noch um
die Beflaggung von Schiffen, die am Horn von Afrika
fahren. In Wirklichkeit geht es doch heute darum, dass
Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und die SPD das erste
Mal eine von der Bundesregierung vorgeschlagene Militärmission ablehnen.
({0})
Die SPD hat das zwar anders begründet; aber im Ergebnis läuft es genau darauf hinaus. Es handelt sich nicht
um irgendeine Militärmission, sondern um jene - der
Kollege Wellmann hat darauf hingewiesen -, für die
Bundeskanzler Gerhard Schröder die Koalitionsmehrheit
nur deshalb erhalten hat, weil sie mit der Vertrauensfrage
verbunden wurde.
Ich möchte - denn dies war eine durchaus sehr grundsätzliche Frage - auf den Anlass zu sprechen kommen.
Anlass war der Terroranschlag vom 11. September 2001.
Die Ermordung von 2 996 Menschen in Washington und
New York City war ein grauenhaftes Verbrechen. Man
kann über die Ursachen und die befördernden Momente
diskutieren. Ja, aus Armut und Ungerechtigkeit erwächst
der Nährboden zur Unterstützung von Gewalt. Aber der
Terror selbst - es ist mir wichtig, das hier festzuhalten wird von unserer Partei klipp und klar verurteilt; hier
gibt es nichts zu rechtfertigen und nichts zu relativieren.
({1})
„Keine Macht dem Terror - Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika“, das war die Botschaft, die uns
am 14. September 2001 einte, als wir mit
200 000 Berlinerinnen und Berlinern am Brandenburger
Tor der Opfer gedacht haben.
Die Frage, wie Staaten mit der terroristischen Gefahr
umgehen, führt allerdings zu unterschiedlichen Antworten. Ich will an dieser Stelle daran erinnern, dass wir in
der Europäischen Union, in der NATO, in der westlichen
Welt nicht vergessen sollten, dass eine Vielzahl von Anschlägen auch Länder mit großen muslimischen Bevölkerungsteilen betroffen hat. Dies ist also keine Frage des
Kampfs der Kulturen und erst recht keine Frage
westlicher Werte, wie dies die neue Bundesregierung
sieht.
({2})
Die Linke meint, dass Terrorismus eine schlimme
Form von Kriminalität ist, die angesichts der Strukturen
natürlich auch international - aber mit polizeilichen und
Strafverfolgungsmitteln - bekämpft werden muss. Wir
bleiben dabei: Der Kampf gegen den Terrorismus kann
gewonnen werden, ein Krieg dagegen nicht.
({3})
Präsident Bush hat die Chance der internationalen Solidarität seinerzeit nicht genutzt. Er hat seinen War on
Terror allein konzipiert. Er hat die Verbündeten zu Statisten und selbst die NATO zum bloßen Werkzeugkasten
degradiert. Die Ergebnisse waren der Irakkrieg, Folter in
Abu Ghureib, Rechtsstaatsbruch und Menschenrechtsverletzungen in Guantánamo. Auch die massive Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten in unseren
westlichen Gesellschaften war eine Folge. Dieser Weg
war falsch und muss beendet werden.
({4})
Die neue US-Regierung von Barack Obama hat sich derweil selbst vom Begriff des War on Terror stillschweigend verabschiedet. Sie hat die schlimmsten Zuspitzungen zurückgenommen und versucht, Guantánamo zu
überwinden und sich aus dem Irak zurückzuziehen.
Es ist doch absurd, dass wir vor diesem Hintergrund
jetzt, acht Jahre nach 9/11, einem Mandat zustimmen
sollen, das sich auf den Bündnisfall der NATO und das
Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Satzung der
UNO stützt. Keinerlei Informationen lassen dies begründet erscheinen. Dieses Mandat folgt einer alten, überholten und falschen Strategie. Dazu sagen wir Nein.
({5})
Unter der Überschrift „Terrorismusbekämpfung“ einer Blankovollmacht für militärische Einsätze zuzustimmen, werden Sie im Ernst nicht von uns erwarten. Es ist
Zeit, dass nicht nur das deutsche Engagement für die
Operation Enduring Freedom beendet wird, sondern
dass sich die Bundesrepublik Deutschland bzw. die Bundesregierung in der NATO auch für die Aufhebung des
Bündnisfalls einsetzt. Die Protokollerklärung des Außenministers und das, was seitens der FDP dazu gesagt
wurde - weniger von der CDU/CSU -, deuten darauf
hin, dass eine Überprüfung und vielleicht auch Beendigung des Einsatzes auch in der Bundesregierung erwogen werden.
Ich finde, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Man
kann dies jetzt machen; denn es gibt andere Wege. Man
kann das gemeinsame Ziel der Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen der UNO mit rechtsstaatlichen Mitteln und vor allem mit einer umfassenden, auf die Ursachen ausgerichteten Strategie erreichen. Das verlangt
aber eine ehrliche und selbstbewusste Zusammenarbeit
Deutschlands mit seinen Partnern, insbesondere mit der
Obama-Regierung.
Am Anfang steht aber der erste Schritt, nämlich auf
einem Irrweg zu stoppen. Die Oppositionsfraktionen fordern die Bundesregierung heute mit ihrem Abstimmungsverhalten dazu auf.
Vielen Dank.
({6})
Herr Kollege Liebich, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Herzlichen Glückwunsch dazu und alles
Gute.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte zur Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA
zu entscheiden; so die Langbezeichnung für das, was
sich hinter OEF oder Active Endeavour verbirgt. Ich will
Ihnen in der Kürze der Zeit drei Gründe nennen, warum
wir Grüne diesen Antrag ablehnen.
Es stellt sich zunächst einmal die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimität dieser Einsätze. Warum ist
das so wichtig? Ganz einfach: Ohne völkerrechtliche
Grundlage würden diese Einsätze gegen das Grundgesetz verstoßen und wären damit per se nicht zustimmungsfähig. Herr Kollege Stinner, da hilft es auch nicht
viel, wenn man politisch diskutiert.
Die Bundesregierung bezieht sich auf die Resolutionen 1368 und 1373 des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom September 2001. Wer diese Resolutionen
liest, stellt fest, dass dort die Staaten der internationalen
Gemeinschaft nachdrücklich und umfangreich aufgefordert werden, alle erdenklichen strafrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um terroristische Angriffe zu verhindern und zu verfolgen.
Was man dort nicht findet, ist eine Grundlage für irgendwelche konkreten Militäreinsätze außerhalb des
eigenen Staatsgebietes. Deshalb bezieht sich die Bundesregierung weiterhin auf das allgemeine Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 der UN-Charta und den Bündnisfall des Nordatlantikvertrages.
Zweifelsohne sind die USA im September 2001 angegriffen worden und durften sich, auch mit unserer Unterstützung, verteidigen. Dieses Recht besteht aber ausdrücklich nur so lange, bis der Sicherheitsrat
entsprechend tätig geworden ist. In Art. 5 des NATOVertrages heißt es wörtlich:
Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat,
die notwendig sind, …
Mit dem Beschluss über ISAF am 20. Dezember 2001
hat der Sicherheitsrat den Rahmen für diese militärischen Maßnahmen geschaffen und den Umfang festgesetzt. Seit diesem Zeitpunkt kann das Selbstverteidigungsrecht nicht mehr als Rechtfertigung für darüber
hinausgehende Maßnahmen herangezogen werden.
({0})
Schon allein der Widerspruch zum geltenden Völkerrecht wäre ein zwingender Grund, diesen Antrag abzulehnen.
Nun höre ich leider immer wieder Stimmen, die behaupten, es sei doch übertriebene Rechtsförmelei, in Anbetracht von internationalen Krisen ständig auf die Einhaltung von Recht und Gesetz zu pochen. Ich will Ihnen
daher zwei weitere Gründe nennen, warum wir diesen
Antrag ablehnen.
OEF ist nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch
überflüssig und kontraproduktiv.
({1})
Überflüssig ist vor allem die deutsche Beteiligung an
OEF, die sich im Wesentlichen auf die Combined Task
Force am Horn von Afrika beschränkt. Dort besteht bereits ein Mandat zur Bekämpfung von Piraterie im Rahmen von Atalanta. Die Parallelität der Einsätze führt
dazu, dass die Fregatten regelmäßig umflaggen müssen,
je nachdem, ob sie unter NATO-, EU-Atalanta- oder
nationalem Kommando fahren. Von Einsatzklarheit kann
da nicht die Rede sein. Das ständige Umflaggen sollten
wir der Besatzung schlicht ersparen, da Atalanta als
Grundlage für die dortigen Anti-Piraterie-Einsätze völlig
ausreicht.
({2})
Als dritten Grund möchte ich noch festhalten, dass
der War on Terror zu alledem noch kontraproduktiv
wirkt. Besonders deutlich ist das in Afghanistan geworden. Wo der Stabilisierungseinsatz unter ISAF erste Erfolge erzielte und Vertrauen schaffen sollte, wurde dies
durch die rücksichtslose Jagd nach Terroristen und den
damit verbundenen vielfachen Tod von Zivilisten wieder
zunichtegemacht. Dass wir heute in Afghanistan eine
derart kritische Sicherheitslage vorfinden, ist unter anderem der fehlerhaften Strategie von OEF zu verdanken.
({3})
Der Schutz der Zivilbevölkerung ist nämlich gerade
nicht das erklärte Ziel von OEF. Es bleibt zu hoffen, dass
der jetzige Kurswechsel der Amerikaner gerade noch
rechtzeitig kommt. Sicher ist das nicht.
Kontraproduktiv an OEF ist darüber hinaus die globale Botschaft an die internationale Völkergemeinschaft.
Frieden kann es nämlich nur dort geben, wo das Recht
sich durchsetzt.
({4})
Wer aber selbst das Völkerrecht nicht achtet, wird dies
auch nicht glaubhaft von anderen einfordern können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Frau Kollegin Keul, auch für Sie war dies die erste
Rede. Auch Ihnen gilt mein herzlicher Glückwunsch,
verbunden mit den Wünschen für eine erfolgreiche Arbeit.
({0})
Nun hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Thomas Silberhorn.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben uns in diesem Haus über viele Jahre
hinweg um breites Einvernehmen zu unserem Einsatz in
Afghanistan bemüht. Das hat die Union in Zeiten der
Opposition getan; am längsten hat das die FDP in Zeiten
der Opposition getan. Ich höre mit Interesse, dass der
Kollege Klose heute in der Debatte über das ISAF-Mandat gesagt hat:
Die SPD-Fraktion steht zu der Verantwortung, die
sie … übernommen hat, auch in der Opposition.
Ich würde das gerne begrüßen können; aber ich muss
Sie fragen: Warum gilt das nicht für das OEF-Mandat?
Rot-Grün hat nach den Anschlägen vom 11. September
2001 den Bündnisfall mit festgestellt und die Initiative
für eine militärische Bekämpfung der al-Qaida mit ergriffen. Noch bei der Mandatsverlängerung im November letzten Jahres hat die Bundesregierung ausgeführt
- ich zitiere auszugsweise -:
Auch wenn es in Europa und den USA … seit mehreren Jahren keinen Anschlag der al-Qaida mehr
gegeben hat …, bleibt es dennoch dabei: Die Gefahr ist in der Tat nicht gebannt.
Weiter heißt es: Eine breite Zustimmung zu einer Verlängerung des OEF-Mandates
… wäre nicht nur ein politisches Signal, dass wir
uns aus der Solidarität der internationalen Staatengemeinschaft nicht verabschieden; es wäre vor allen Dingen auch ein starkes Zeichen für unsere Soldatinnen und Soldaten, die bei ihrem Einsatz für
unsere Sicherheit Leib und Leben riskieren. Wir
schulden unseren Soldaten dafür nicht nur Dank;
wir schulden ihnen dafür vor allen Dingen unsere
volle Unterstützung.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Arnold?
Ich kläre auf, von wem das Zitat stammt - es wird Ihnen nicht entgangen sein -: Der Redner war der damalige Bundesaußenminister und heutige Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Frank-Walter Steinmeier. Das
Protokoll von damals vermerkt: „Beifall bei der SPD“.
Warum sind Sie heute stumm geblieben?
({0})
Die aktuelle Bedrohungslage am Horn von Afrika hat
sich nicht geändert, allenfalls die Bedrohungslage bei
der SPD. So wie es Sie bei der Bundestagswahl zerbröselt hat, so zerbröselt jetzt die einst unverbrüchliche Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika.
Herr Kollege Silberhorn, darf ich Sie unterbrechen?
Ich würde das gerne ausführen; denn ich habe nicht
allzu viel Redezeit. Sie dürfen mich aber gerne nachher
unterbrechen, um meine Redezeit zu verlängern.
Uns beunruhigt schon, dass Ihr Stimmungsumschwung offenbar nicht durch neue Erkenntnisse motiviert, sondern parteipolitischer Stimmung unterworfen
ist. Sie geben die Kontinuität Ihrer eigenen Außenpolitik
auf und werfen im Übrigen die Frage nach der Autorität
Ihres Fraktionsvorsitzenden auf, die Sie aber selbst beantworten mögen.
Ich will nicht verkennen, dass man ernsthaft über eine
Anpassung dieses Mandats diskutieren kann und muss.
({0})
Dieses Mandat wurde mehrfach angepasst und um zivile
Komponenten ergänzt. OEF ist nur ein Baustein in einem Ansatz vernetzter Sicherheit. Das Mandat wurde
mehrmals personell und geografisch reduziert: Wir
haben die Spezialkräfte des KSK abgezogen, wir sind
nicht mehr unter dem OEF-Mandat in Afghanistan präsent, die Personalobergrenze - es wurde schon angesprochen - wurde von 1 400 auf 800 reduziert.
({1})
Jetzt reduzieren wir die Obergrenze nochmals, und zwar
auf 700.
Das alles zeigt doch: Wir befinden uns in einem Prozess der Mandatsverlängerung. Es geht hier nicht um ein
Weiter-so, sondern um eine kontinuierliche Weiterentwicklung, durchaus mit der Perspektive einer Reduzierung und eines Ausstiegs.
({2})
Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung angekündigt hat, dieses Mandat weiter zu überprüfen und zu
schauen, ob es eine Integration in andere Mandate gestattet.
Dieses Mandat ist bis heute auf die Satzung der Vereinten Nationen und auf Sicherheitsratsresolutionen gestützt, von denen die letzte vom 8. Oktober dieses Jahres
stammt. Es macht keinen Sinn, in Sonntagsreden über
effektiven Multilateralismus zu schwadronieren, wenn
man sich bei erstbester Gelegenheit, ohne irgendeine
Abstimmung in der internationalen Gemeinschaft vorgenommen zu haben, aus einem durch den Sicherheitsrat
legitimierten Einsatz verabschiedet. Das ist nicht glaubwürdig.
Meine Damen und Herren, Sie wissen sehr wohl, dass
dieser Einsatz für die Soldaten, die in Afghanistan unter
unserem Mandat im Einsatz sind, wenn auch nicht unter
OEF-Mandat, nicht ohne Bedeutung ist. Die amerikanischen Kräfte, die unter OEF-Mandat in Afghanistan operieren, sind unseren Soldatinnen und Soldaten in besonderen Bedrohungslagen bereits mehrfach zur Hilfe
geeilt. Diese Schutzkomponente, die wir selbst nicht erfüllen, auf die wir aber angewiesen sind, müssen wir bei
diesem Mandat sehr sorgfältig bedenken. Wir sind diejenigen, die die Bündnissolidarität der amerikanischen
Partner bereits mehrfach in Anspruch nehmen mussten.
Dass ausgerechnet wir uns bei dieser Gelegenheit aus
der Bündnissolidarität verabschieden wollen, kann niemanden überzeugen, schon gar nicht die Soldatinnen
und Soldaten, die für uns in Afghanistan den Kopf hinhalten.
({3})
Deswegen sage ich sehr deutlich: Die Beteiligung an
diesem Mandat liegt nach wie vor im deutschen Interesse. Es geht nicht nur um die Sicherung der Seewege
am Horn von Afrika, sondern auch um den Schutz der
von uns nach Afghanistan entsandten Soldatinnen und
Soldaten. Daher schließe ich mit den Worten, die FrankWalter Steinmeier am 4. November 2008 von dieser
Stelle aus gesagt hat - ich zitiere -:
Ich appelliere deshalb an das Hohe Haus: Bitte geben Sie den Soldatinnen und Soldaten die notwendige politische Rückendeckung!
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
({4})
Zu einer Kurzintervention hat das Wort der Kollege
Arnold.
Kollege Silberhorn, ich habe eine ganz andere Erinnerung an die Debatte vor einem Jahr. Ich erinnere mich
daran, dass wir in der Koalition - die CDU/CSU war unser Koalitionspartner - sehr schwierige Diskussionen
hatten und Ihr Verteidigungsminister und Ihre Fraktion
es letztendlich verhindert haben, dass wir aus dem OEFEinsatz insgesamt ausgestiegen sind.
({0})
Wir waren dem Außenminister sehr dankbar dafür, dass
er es wenigstens erreicht hat, dass wir die Landkomponente des OEF-Einsatzes abgeschlossen haben.
Ein zweiter Hinweis, da Sie das Völkerrecht anführen: Alle Fachleute erkennen übereinstimmend an, dass
das Recht auf Selbstverteidigung nach der UN-Charta
erlischt, wenn die UNO selbst Maßnahmen beschließt,
und Atalanta stellt im Auftrag der UNO am Horn von
Afrika Seesicherheit her. Deshalb endet auf der Zeitschiene irgendwann die Legitimation.
({1})
Zur Erwiderung hat das Wort der Kollege Thomas
Silberhorn.
Sehr geehrter Herr Kollege Arnold, das Sein trübt gelegentlich das Bewusstsein. Wenn Ihre Erinnerung an die
Debatte aus dem letzten Jahr getrübt ist, gebe ich Ihnen
gerne das Protokoll. Ich habe es hier. Darin können Sie
nachlesen und feststellen, dass ich richtig zitiert habe.
Ich will aber auch sehr deutlich sagen: Wir hatten eine
schwierige Debatte, in der insbesondere in Ihren Reihen
gerne zwischen dem OEF- und dem ISAF-Mandat
differenziert worden ist, und zwar mit der durchaus
schwierigen Konnotation, das ISAF-Mandat als hehre
Intervention zum Wiederaufbau der Zivilgesellschaft zu
interpretieren, während auf der anderen Seite das OEFMandat in die Ecke der militärischen Bekämpfung von
Terroristen gestellt wurde, an der man sich die Finger
nicht schmutzig machen möchte. Das spiegelt sich in der
Realität in Afghanistan offenkundig nicht wider.
({0})
- Ich glaube nicht, dass jemand in Afghanistan unterscheiden kann, ob ein Soldat mit dem OEF- oder dem
ISAF-Mandat ausgestattet ist. Ich glaube nicht, dass man
im Einsatz darauf achtet, ob ein Soldat eine OEF- oder
eine ISAF-Flagge am Revers hat. Diese unterschiedliche
Interpretation von ISAF und OEF war die Grundlage für
die schwierige Debatte, die wir damals geführt haben;
sie entbehrt jedoch ihrerseits jeglicher Grundlage. Deswegen ist es richtig, dass wir die Fortsetzung dieses
Mandats beschlossen haben.
Wenn Sie jetzt eine andere völkerrechtliche Bewertung vornehmen wollen, dann weise ich darauf hin, dass
der Einsatz auf Grundlage des Atalanta-Mandats schon
eine ganze Zeit lang läuft. Diese Frage hätten Sie nicht
erst heute, sondern schon vorher stellen müssen. Genau
das kritisiere ich: dass Sie Ihre Auffassung jetzt nach der
Bundestagswahl ändern. Das kann nicht sachlich motiviert sein; das ist parteipolitisch motiviert. Das ist dem
gesamten Einsatz in Afghanistan und auch dem Einsatz
am Horn von Afrika im Rahmen der OEF abträglich.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 17/110 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streit-
kräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion
auf terroristische Angriffe gegen die USA. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/38 an-
zunehmen. Es ist namentliche Abstimmung verlangt.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen mit den Schriftfüh-
rern besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Ab-
stimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Haben jetzt alle abgege-
ben? - Jetzt haben alle ihre Stimme abgegeben.
Ich schließe die Abstimmung. Das Ergebnis wird Ih-
nen später bekannt gegeben. Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, die Stimmen auszuzählen.1)
1) Ergebnis Seite 710 D
Jetzt führen wir noch eine Abstimmung über einen
Entschließungsantrag durch. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte weiter folgen wollen, Platz zu nehmen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/126. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({1})
- Drucksachen 17/74, 17/85 Nr. 2.2, 17/135 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({2})
Michael Kauch
Dorothea Steiner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
und höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, wir alle sind froh, dass wir mit der heutigen
Debatte und der folgenden Abstimmung die Diskussion
über die Novelle der 1. Bundes-Immissionsschutzverordnung zu einem Ende bringen; die Unionsfraktion
meint, zu einem guten Ende.
Diese Novelle beinhaltet drei Botschaften. Die erste
und aus unserer Sicht besonders wichtige Botschaft lautet: Heizen mit Holz hat Zukunft. Es ist wichtig, dass wir
dies in den Mittelpunkt stellen, weil der eine oder andere
Vorschlag, den das Ministerium in der letzten Legislaturperiode in dieser Diskussion gemacht hat, dazu führte,
dass es in der Frage „Ist Holz tatsächlich ein Energieträger mit Zukunft?“ Verunsicherung gab.
Die zweite Botschaft lautet: Wir nehmen die Feinstaubbelastung, die Feinstaubemissionen, die es beim
Verbrennen von Holz gibt, ernst und handeln wirkungsvoll.
Die dritte Botschaft lautet: Wir haben auch die soziale
Dimension dieser Frage im Blick und berücksichtigen
Andreas Jung ({0})
sie bei den Neuregelungen. Wir versuchen, diese drei
Punkte mit dieser Novelle in Einklang zu bringen.
Zunächst einmal vorweg: Warum ist es sinnvoll, mit
Holz zu heizen? Wer mit Holz heizt, der leistet einen
Beitrag zum Klimaschutz, weil dabei nur das an Emissionen abgegeben wird, was zuvor in einem natürlichen
Prozess aufgenommen wurde. Holz ist ein nachwachsender Rohstoff. Wir erhöhen also die Quote der erneuerbaren Energien, wenn wir die Grundlage für das Heizen
mit Holz schaffen bzw. sie mit dieser Novelle möglicherweise sogar verbessern.
Kollege Fell hat in der Debatte heute früh zu Recht
auf die Notwendigkeit hingewiesen, beim Ausbau der
Nutzung erneuerbarer Energien so schnell wie möglich
voranzukommen. Im Bereich der Wärmeerzeugung aus
erneuerbaren Energien ist Holz heute der Energieträger
mit dem größten Anteil. Das sind sicherlich Gesichtspunkte, die uns veranlassen sollten, diesen Energieträger
sehr positiv zu bewerten.
({1})
Der zweite Aspekt ist, dass wir durch die Stärkung
von Holz als Energieträger regionale Wertschöpfungsketten und regionale Kreisläufe stärken. Wir stärken die
Wertschöpfung im ländlichen Raum. Damit tun wir auch
etwas für die Arbeitsplätze im ländlichen Raum, und das
mit einem Zusatznutzen: Wer mit Holz heizt, dessen
Energieträger hat keine langen Transportwege. Durch
kürzere Transportstrecken wird somit ein Zusatznutzen
für die Umwelt erzielt.
Ein dritter Punkt. Wir haben in Deutschland so viele
Kapazitäten an Holzvorräten, dass man mit Fug und
Recht sagen kann: Eine nachhaltige Waldbewirtschaftung ist möglich. Wenn wir Holz nutzen, dann tun wir etwas dafür, dass die erheblichen Holzvorräte, die es in
Deutschland gibt, einer effektiven, sinnvollen Nutzung
zugeführt werden. Es gibt eine neue Studie, die besagt,
dass sich in den letzten vier Jahren 3,6 Milliarden Kubikmeter an Resthölzern in unseren Wäldern angesammelt haben. Auch aus diesem Grund kann man sagen:
Wer mit Holz heizt, tut etwas für nachhaltige Wirtschaft.
({2})
Aus all diesen Gründen ist es richtig, zu sagen: Heizen
mit Holz hat Zukunft.
Auf der anderen Seite ergeben sich angesichts der
Emissionen, die beim Verbrennen von Holz entstehen,
kritische Fragen. An erster Stelle ist die Feinstaubbelastung zu nennen. Daraus ergeben sich Gesundheitsfragen.
Ferner führen Geruchsbelästigungen oftmals zu Problemen in der Nachbarschaft.
Deshalb war es notwendig, zu handeln und mit dieser
Novelle diese beiden Aspekte in Einklang zu bringen.
Die Regelungen, die jetzt gefunden wurden, halten wir
für einen sehr guten Kompromiss. Wir geben auf der einen Seite das klare Signal: Wer sich einen Ofen neu einbaut, muss dafür Sorge tragen, dass es zu diesen negativen Effekten nicht kommt; denn für neue Öfen gelten
ehrgeizige Grenzwerte.
Auf der anderen Seite, in der Frage der Bestandsöfen,
berücksichtigen wir die sozialen Fragen. Das führt hier
wiederum zu zwei unterschiedlichen Regelungen. Zum
einen gilt der Grundsatz, dass es für Bestandsöfen lange
Übergangsfristen gibt, innerhalb derer der Ofen nachgerüstet oder abgeschaltet werden muss.
Eine Kategorie von Öfen nennen wir die Öfen mit sozialem Hintergrund - sie werden unbegrenzten Bestandsschutz genießen, und das halten wir auch für richtig -: Das sind solche Öfen, mit denen zum Beispiel der
Herd betrieben wird, mit denen der Backofen betrieben
wird, mit denen die Waschküche betrieben wird, aber
auch solche, die die einzige Heizung in einem Raum, in
einer Wohnung darstellen und bei denen es für den Betroffenen erhebliche Investitionen hervorrufen würde,
den Ofen auszuwechseln. Dies betrifft im ländlichen
Raum oftmals kleine Wohnungen, kleine Häuser, und ein
Austausch des Ofens würde die Eigentümer vor große
Probleme stellen. Ihnen geben wir die Botschaft, dass es
für ihre Öfen einen unbegrenzten Bestandsschutz gibt.
Das gilt auch für die Kategorie der offenen Kamine und
für die Kategorie der eingemauerten Kachelöfen.
In der Summe ist, meinen wir, eine gute Regelung gefunden worden. Wir glauben, dass damit zwei Dinge erreicht werden, nämlich zum einen eine noch höhere Akzeptanz des Brennstoffs Holz und zum anderen
Planungssicherheit. Ich glaube, alle Beteiligten mit ihren
unterschiedlichen Auffassungen werden mir zustimmen,
dass es nötig ist, dass wir in dieser Debatte einen Punkt
machen und sagen: Die Politik hat jetzt entschieden, und
jeder kann und muss sich auf diese neuen Regelungen
einstellen. Damit herrscht Klarheit darüber, worum es
geht. Ich wiederhole noch einmal die Botschaft vom Anfang: Heizen mit Holz hat Zukunft. Wir stimmen dieser
Verordnung zu.
Herzlichen Dank.
({3})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 11 und
gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen
Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion
auf terroristische Angriffe gegen die USA bekannt: abgegebene Stimmen 588. Mit Ja haben gestimmt 322, mit
Nein 266, Enthaltungen gab es keine. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 588;
davon
ja: 322
nein: 266
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Andreas Jung ({6})
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
({8})
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({11})
Nadine Müller ({12})
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({17})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({18})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({20})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({21})
Peter Weiß ({22})
Sabine Weiss ({23})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({24})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({25})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({26})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({27})
Christian Lindner
Michael Link ({28})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabi Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({29})
Burkhardt Müller-Sönksen
({30})
Hans-Joachim Otto
({31})
Cornelia Pieper
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({32})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({33})
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({34})
Dr. Peter Gauweiler
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({35})
Gerd Bollmann
Bernhard Brinkmann
({36})
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({37})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({38})
Hubertus Heil ({39})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({40})
Frank Hofmann ({41})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({42})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({43})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({44})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({45})
Marlene Rupprecht
({46})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({47})
Marianne Schieder
({48})
Werner Schieder ({49})
Ulla Schmidt ({50})
Carsten Schneider ({51})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({52})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({53})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({54})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({55})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({56})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven Kindler
Maria Klein-Schmeink
Thomas Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Undine Kurth ({57})
Markus Kurth
Monika Lazar
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({58})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Elisabeth Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({59})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Wir setzen die Aussprache fort.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Vogt für die
SPD-Fraktion.
({60})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als wir heute Morgen im Vorfeld der Klimaschutzkonferenz diskutiert haben, herrschte in diesem
Hause große Einigkeit darüber, dass wir diese Konferenz
in Kopenhagen zu einem großen Erfolg führen wollen.
Durch die Historie der Verordnung, die wir heute in diesen Abendstunden hier verhandeln, wird aber gezeigt,
wie schwer sich einige in diesem Hause mit dem Klimaschutz tun, wenn es konkret wird.
({0})
Der Bayerische Bauernverband hat erklärt - Frau Präsidentin, ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis -:
Die vorgeschlagenen Emissionsgrenzwerte des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit werden kategorisch abgelehnt.
({1})
Damals war das Bundesministerium unter der Führung
von Sigmar Gabriel gemeint.
Die CSU hat aus falsch verstandenem Lobbyismus
über Monate hinweg das Inkrafttreten dieser Verordnung
blockiert. Das Wirtschaftsministerium und das Landwirtschaftsministerium unter Ihrer Führung haben verhindert, dass eine vernünftige Verordnung schon sehr
frühzeitig hätte in Kraft treten können.
({2})
Selbst als Industrieverbände und Wirtschaftsvertreter
darauf hingewiesen haben, dass Planungssicherheit für
Investitionen, für die Betriebe und für die Produkte notwendig sind und dass Unsicherheit für die Wirtschaft
schädlich ist, ist das Wirtschaftsministerium am Ende interessanterweise nur der CSU gefolgt. Es hat sich nur
dem unterworfen, was in diesem Falle von Ihnen parteipolitisch gewünscht war, und es hat sich eben nicht den
Interessen der Verbraucher, nicht dem Schutz der Gesundheit durch den Schutz vor Feinstaub und schon gar
nicht den Klimaschutzzielen untergeordnet.
({3})
- Ich sage Ihnen, was herausgekommen ist: Es ist eine
Verordnung herausgekommen, bei der wir uns durchaus
auch weitergehende Regelungen hätten vorstellen können, und Sie wissen, dass der ursprüngliche Entwurf dies
auch vorsah. Dies betrifft zum Beispiel die Grenzwerte,
die man durchaus höher hätte setzen können,
({4})
und dies betrifft auch die langen und zum Teil überlangen Übergangsfristen für die Sanierung oder Stilllegung
vorhandener Anlagen.
({5})
Wir werden dieser Verordnung zustimmen, weil wir
in dieser Sache verhandelt haben und wissen, dass man
bei Kompromissen, die man schließt, zuweilen auch mit
kleinen Erfolgen zufrieden sein muss. Der Erfolg, der
mit dieser Verordnung erreicht wird, ist zumindest, dass
über 4,5 Millionen Anlagen nachgerüstet oder eben stillgelegt bzw. ersetzt werden müssen. Das ist ein wichtiger
Schritt hin zur Reduzierung von Feinstaub; denn dadurch werden die Emissionen begrenzt. Damit ist dies
ein Beitrag, aber eben nur ein Beitrag zur Erreichung der
Klimaschutzziele.
Ich will, dass wir uns in diesem Hause dessen bewusst
sind, dass dieser Schritt, den wir jetzt machen, aufgrund
der technischen Gegebenheiten nur der erste Schritt sein
kann. Man hätte heute schon weiter gehen müssen.
Wenn wir diese Novelle heute verabschieden, dann muss
uns klar sein, dass die nächste Novellierung mit Sicherheit schneller erfolgen muss als diese, weil die Entwicklung der Technik in großen Schritten voranschreitet.
Dies muss sich auch in unserer Gesetzgebung und in unserer Verordnungsgebung widerspiegeln.
Ich wünsche mir, dass die Anforderungen, die wir
heute Vormittag in allgemeiner Form von allen Seiten
gehört haben und die von allen Seiten beschworen wurden, in Zukunft auch dann ernst genommen werden,
wenn es konkret wird, und dass auch die CSU lernt, dass
es nicht darum geht, hier in Deutschland und im Deutschen Bundestag nur die Lobby für einige Holzproduzenten in Bayern zu sein, sondern dass es darum geht,
dass wir die Klimalobby in diesem Hause sind. Das ist
auch die Aufgabe derer, die für solche Umweltverordnungen Verantwortung tragen.
Ich wünsche mir, dass wir in diesem Sinne mehr Gesamtverantwortung zeigen. Vielleicht gelingt das jetzt
nach dem Wahlkampf.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
nicht gedacht, dass diese Debatte an diesem späten
Abend noch Emotionen erregt. Wir besprechen eine Verordnung, die das Parlament schon einmal passiert hat. Es
geht eigentlich nur noch um kleine Änderungen durch
den Bundesrat. Frau Vogt, angesichts dessen, was Sie
gerade abgeliefert haben, habe ich mir die Frage gestellt,
ob Sie diese Verordnung jemals gelesen haben. Liebe
Frau Vogt, in dieser Verordnung geht es nicht um Klimaschutz, sondern es geht um Luftreinhaltung.
({0})
Auf den ersten beiden Seiten werden Grenzwerte für
Staub und Kohlenmonoxid festgelegt, aber nicht für
Kohlendioxid. Naturwissenschaftlich gesehen ist das etwas anders. Auch wenn es schon spät ist, sollten wir uns
die Konzentration erhalten und nicht von Klimaschutz,
sondern von Luftreinhaltung sprechen; denn darum geht
es.
({1})
Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Wir sind sozusagen
von Umweltzonen umzingelt.
Wenn wir über Luftreinhaltung und Feinstaubbekämpfung reden, dann fällt allen immer zuerst der Verkehr ein und dass wir Umweltzonen einrichten müssen.
Das mag an der einen Stelle gut und richtig sein, an der
anderen möglicherweise aber nicht.
Klar ist aber, dass der Beitrag der Kleinfeuerungsanlagen zur Feinstaubbelastung mindestens so groß ist
wie der Beitrag des Verkehrs. Nach der Projektion der
Europäischen Kommission wird der Anteil der Feuerungsanlagen an der Feinstaubbelastung in den nächsten
Jahren sogar deutlich größer sein als der Anteil des Verkehrs an der Feinstaubbelastung.
Wenn wir Umweltschutzpolitik nicht nur als reine
Symbolpolitik betreiben wollen, wenn wir nicht nur alles
beim Verkehr abladen wollen, dann ist es notwendig, die
Grenzwerte für Kleinfeuerungsanlagen zu verschärfen.
Ich bitte jeden um Verständnis, der solch eine Anlage zu
Hause betreibt.
({2})
Meine Damen und Herren, als wir noch in der Opposition waren, haben wir die Frage gestellt, weshalb keine
Anhörung zu dieser Verordnung stattgefunden hat. Wir
hätten gern mehr über die Grenzwertsituation von Experten erfahren. Das war nicht mehr möglich. Deshalb
finde ich es wichtig und richtig, dass der Bundesrat darauf hinweist, dass die Staubgrenzwerte, die für die Zeit
ab 2050 avisiert werden, so ambitioniert sind, dass sie
mit heutiger Technik nicht zu erreichen sind, sondern
weitere technische Entwicklungen notwendig sind. Spätestens im Jahr 2014 muss überprüft werden, ob dies praxistauglich ist, auch mit Blick auf die Anforderungen an
die Nutzung von biogenen Brennstoffen.
Es steht auf der Agenda der neuen Koalition, am Ende
der Legislaturperiode noch einmal auf die Praxistauglichkeit dieser Grenzwerte zu schauen. Das werden wir
auch tun.
({3})
Was wir bei der Verabschiedung dieser Verordnung
erlebt haben, ist übrigens eine Never Ending Story gewesen. Das war ein Hin und Her zwischen Rot und
Schwarz. Insbesondere Bayern spielte dabei eine bestimmte Rolle. Nun liegt aber eine gute Verordnung auf
dem Tisch, die der Bundestag verabschieden kann.
Es ist gut für die Bürgerinnen und Bürger, dass mit
dieser Verordnung beispielsweise die Prüfintervalle der
Schornsteinfeger verlängert werden, sodass ein Bürokratie- und ein Kostenabbau im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger stattfinden.
Ich habe noch zwei Minuten Redezeit. Diese Zeit
werde ich nicht ausschöpfen. Vielmehr hoffe ich, dass
wir die Debatte in kürzerer Zeit als ursprünglich geplant
führen können.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Ralph
Lenkert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Staubbelastungen in den Städten steigen, und die
Zahl der Atemwegserkrankungen und Hautallergien
nimmt zu. Die Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes regelt erstmals die zulässigen Abgas- und Feinstaubwerte für Öfen, Kamine und
Raumheizungen auf Verbrennungsbasis.
Wir begrüßen, dass nun auch Heizgeräte und kleine
Heizanlagen zur Reduzierung der Umweltbelastungen
herangezogen werden. Die vorgesehenen Übergangszeiten bewirken, dass in ländlichen Gebieten und insbesondere in Gebieten mit niedrigem Einkommen und hoher
Arbeitslosigkeit die notwendigen Modernisierungen der
Anlagen ohne soziale Härten durchgeführt werden können.
({0})
Die Regierungskoalition leistet mit dieser Verordnung
einen Beitrag zum sozial verträglichen Umweltschutz.
So weit, so gut. Aber solche konstruktiven Ansätze werden von Fehlern und Tatenlosigkeit auf anderen Gebieten überlagert. Schon jetzt gibt es Überkapazitäten bei
der Müllverbrennung und der thermischen Verwertung
von Reststoffen. Trotzdem werden weitere überflüssige
Müllverbrennungsanlagen und Anlagen für die energetische Verwertung zugelassen und gebaut.
Wer profitiert von diesem Bauwahn? Die Bürgerinnen
und Bürger sicherlich nicht. Klar ist: Diese bezahlen die
Fehlplanung. Viele Kommunen erhöhen erneut die Müllund Abfallgebühren. Wir Bürgerinnen und Bürger, das
Handwerk und die produzierende Industrie müssen den
ineffektiven Betrieb nicht ausgelasteter Anlagen, den
Aufbau von Überkapazitäten sowie den notwendigen
Zukauf von Brennstoff bezahlen. Das ist ökonomischer
und ökologischer Schwachsinn.
({1})
Damit neue Müllverbrennungsanlagen mehr Strom
produzieren, hat man einfach an der Filtertechnik gespart. Deshalb stoßen sie jetzt die vierfache Menge an
Schadstoffen aus. Die Grenzwerte werden zwar gerade
noch so eingehalten, aber die älteren Anlagen haben
deutlich weniger Feinstaub und Umweltgifte ausgeblasen. Hier setzt man für ein paar Kilowatt und ein paar
Euro die Gesundheit Tausender Kinder, Frauen und
Männer aufs Spiel. Hier muss die Regierung im Interesse der Gesundheit die Grenzwerte für Schadstoffe und
Feinstaub deutlich reduzieren.
({2})
Damit die Verbrennungsanlagen laufen können, importiert Deutschland inzwischen Müll aus ganz Europa.
Trotzdem läuft zum Beispiel die Anlage in Suhl in Thüringen nur mit 50 Prozent Auslastung. Wir Bürger müssen für die ressourcenvernichtende Müllverbrennung,
für die zusätzlichen Müllmengen aus Europa und für
eine höhere Schadstoffbelastung in der Umgebung der
Verbrennungsanlagen bezahlen.
Wer profitiert davon? Planungs- und Baufirmen, aber
auch die privaten Betreiber der Anlagen; denn deren
Profite sind vertraglich abgesichert. Das nenne ich einen
Skandal.
({3})
Deshalb werden wir wie in Suhl jede Bürgerinitiative
und jeden Widerstand gegen weitere Müllverbrennungsanlagen und ähnliche Anlagen unterstützen.
({4})
Wenn die Regierung die Fehlentwicklung bei Müllund Reststoffverbrennungsanlagen mit einer vernünftigen Lösung wie der Bundes-Immissionsschutzverordnung beenden will, wird die Fraktion Die Linke ihr gern
helfen. Daher stimmen wir heute der Novellierung der
1. Bundes-Immissionsschutzverordnung als einem Schritt
in die richtige Richtung zu.
Danke.
({5})
Herr Kollege Lenkert, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen herzlich. Alles Gute!“
({0})
Nun hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die
Kollegin Dorothea Steiner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Sie haben es jetzt von fast allen Vorrednerinnen
und Vorrednern gehört: Die vorliegende Verordnung der
Bundesregierung soll die Menschen vor Belastung und
Gefährdung der Gesundheit durch Feinstäube und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe - kurz PAK aus Kleinfeuerungsanlagen schützen. Das hat mit Müllverbrennung und Klimaschutz weniger zu tun. Darin
gebe ich Herrn Kauch tatsächlich Recht.
({0})
Die Novelle zur 1. BImSchV aus dem Jahr 1988 war
längst überfällig. In den Verdichtungsräumen der Städte
tragen häusliche Heizungen sogar zu einer höheren Feinstaubbelastung der Luft bei als der Autoverkehr. Die
Kommunen warten seit Jahren auf eine ambitionierte
Novellierung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, die
aber nicht kommt. Denn sie brauchen ein Instrumentarium, das ihnen die Möglichkeit bietet, umwelt- und gesundheitsschädliche Emissionen wirksam zu reduzieren.
Sonst können viele Städte in Zukunft zulasten der Bür716
gerinnen und Bürger die EU-Feinstaubgrenzwerte in der
Luft nicht mehr einhalten.
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Jetzt kommt die Verordnung zum BImSchG endlich,
nachdem sie unsinnig lange in der Bundesumlaufbahn
gekreist ist. Sie ist zudem mit derartigen Mängeln behaftet, dass ihre Wirksamkeit infrage gestellt ist. Die zahlreichen Ausnahmen durchlöchern die Verordnung so
weit, dass ihre Wirkung schwindet. Kontrollen zur Einhaltung werden erschwert. Stellen Sie sich einmal den
Schornsteinfeger vor, der immer den dicken Ausnahmekatalog unter dem Arm haben muss, wenn er oder sie
Kleinfeuerungsanlagen überprüft! Ich nenne Ihnen ein
paar Beispiele. Ausgenommen sind offene Kamine und
Feuerstellen, Badeöfen, handwerklich gesetzte Kachelöfen sowie „historische“ Holzheizungen. „Historisch“
bedeutet, dass die Anlage vor dem 1. Januar 1950 in Betrieb genommen wurde.
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- Das wäre vielleicht etwas. - Dazu muss man sagen:
Strengere Grenzwerte dürfen nicht nur für neue, sondern
müssen gerade auch für alte Anlagen gelten. Die vorgesehenen Grenzwerte sind zudem zu hoch. Moderne Feuerungsanlagen weisen nur noch ein Drittel des von Ihnen
festgelegten Wertes von 75 Milligramm pro Kubikmeter
auf.
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So bekommen Sie den gewünschten Technologieschub
bei Neuöfen und den Austausch alter Staubschleudern
oder schrottreifer Billigöfen durch die vorliegende Verordnung höchstens unzureichend oder gar nicht hin. Ein
wesentlicher Faktor dabei sind die unerklärlich langen
Übergangsfristen; sie reichen bis 2025.
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Das ist doch, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen sowie von der Linken und der SPD - ich
beziehe Sie ebenfalls ein, weil Sie zustimmen wollen -,
unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes völlig kontraproduktiv.
Es gibt Kommunen, die nun überlegen, wie sie über
diese löcherige Regelung hinausgehen können. Beispiel
Aachen. Dort wird geschaut, wie man durch eine kommunale Satzung das noch hinbekommen kann, was die
Novellierung nicht bringt. Man wollte in Aachen keine
Umweltzone für Autos einrichten und hat sich entschieden, den ÖPNV zu fördern und gleichzeitig den Austausch alter Öfen zu forcieren, weil das eine höhere Minderung von Feinstäuben und PAKs verspricht. Nun sitzt
die Stadt da und überlegt, wie sie wenigstens die Übergangsfristen durch eine kommunale Satzung verkürzen
kann. So geht es vielen Kommunen. In Kenntnis der
konkreten Probleme wollen die Städte mehr machen.
Aber der Bund bremst sie mit seiner Gesetzgebung aus.
Wir, die Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion, haben einen Entschließungsantrag zur Korrektur dieses Bremserverhaltens bereits im Juli sowie noch einmal vorgestern
im Umweltausschuss eingebracht. Er wurde eigenartigerweise von allen anderen Fraktionen im Umweltausschuss abgeschmettert. Ich kann Ihnen nur sagen, werte
Kollegen von der Linken, der SPD, der CDU/CSU und
der FDP: Wem Ausnahmen wichtiger sind als der Schutz
der Menschen vor Feinstäuben und giftigen Aromaten,
der hat den Zusammenhang von Umwelt und Gesundheit
noch nicht wirklich erkannt. Wir als Grüne jedenfalls
werden diese Parodie auf den Immissionsschutz nicht
hinnehmen und lehnen daher die Verordnung ab.
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Auch für Sie, Frau Kollegin Steiner, war das die erste
Rede in diesem Haus. Herzlichen Glückwunsch. Ich
wünsche Ihnen für Ihre Arbeit alles Gute.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Josef Göppel für die CDU/CSU-Fraktion.
Meine verehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Hier kann man mit Fug und Recht sagen: Was lange währt, wird endlich gut.
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Diese Verordnung ist wirklich gut. Sie ist im Übrigen ein
Kind der Großen Koalition; das wollen wir nicht vergessen. Die Tatsache, dass sie heute noch einmal zur Abstimmung steht, ist zwei kleinen Anmerkungen der
Europäischen Kommission geschuldet. Natürlich kann
man sagen: Da wurde viel Rücksicht genommen. - Da
die CSU, wie Sie wissen, näher am Menschen ist,
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waren uns die 30 Millionen Menschen, die solche Einzelraumfeuerungen besitzen, natürlich sehr nahe. Ich
denke, wir haben jetzt wirklich einen guten Kompromiss
gefunden. Es gibt scharfe Grenzwerte für neue Öfen.
Frau Kollegin Steiner, Sie haben in Ihrer ersten Rede
hier gesagt, dass die Stadt Aachen ein eigenes Förderprogramm auflegt. Ich empfehle Ihnen einen Blick in
das Marktanreizprogramm des Bundesumweltministeriums.
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Dort werden Sie nämlich finden, dass ein neuer Scheitholzvergaserkessel mit 1 125 Euro und ein neuer Pelletskessel mit sage und schreibe 2 000 Euro gefördert werden. Das ist die aktuelle Förderung für Bürger, die sich
eine moderne Holzheizung anschaffen wollen.
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- In dem Fall geht es um Zukunft für Holz, Herr Kollege
Kelber, und Holz hat als Heizmaterial eine große Zukunft. - Es haben sich damals einige gefragt, ob das UmJosef Göppel
weltministerium den Verordnungsentwurf aus Jux und
Tollerei vorgelegt hat. Dazu muss man nun doch sagen,
dass es eine große Zahl von Beschwerden von Leuten
gab, denen es aus dem Kamin des Nachbarn zu sehr gequalmt hat. Da geht es in der Tat um das unmittelbare
Wohnumfeld, um die unmittelbare Lebensqualität. Deswegen war es richtig, für die Heizungen zwischen
15 kW und jetzt 4 kW eine solche Verordnung zu erlassen. Wir haben bewusst lange Übergangszeiten festgesetzt, bis zum Jahr - man glaubt es kaum - 2024. Wir
wollten bewusst die Akzeptanz so stark erhöhen, damit
die Leute auf der einen Seite aus eigenem Antrieb in
Verbindung mit der Förderung des Marktanreizprogramms zu einem früheren Zeitpunkt ihre Öfen erneuern
und auf der anderen Seite auch am Brennstoff Holz festhalten.
Frau Kollegin Vogt, Sie haben die Holzerzeuger aus
Bayern karikiert. Das sind 150 000, das sind eine Menge
privater Kleinwaldbesitzer, und es muss doch auch in Ihrem Interesse sein, gerade im Schwabenland dieses
Holz, das sonst nicht verwertbar ist, einer vernünftigen
Verwertung zuzuführen. Die Pelletsproduktion ist tatsächlich eine technische Innovation, die uns hilft, Holz,
das sonst nicht mehr verwertbar wäre, als Heizquelle zu
nutzen. Holz ist natürlich ein nachwachsender Rohstoff
und daher CO2-neutral.
Ich freue mich sehr, dass wir große Zustimmung fast
vom ganzen Hause ernten. Vielleicht überlegen sich die
Grünen doch noch einmal, zuzustimmen, und geben ihrem Herzen einen Stoß; denn selten wurde ein so konkretes Gesetz zur Luftreinhaltung und zur Verbesserung
der Lebensqualität für die Menschen in unserem Land
bei sozialer Akzeptanz entwickelt.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zur Verordnung der Bundesregierung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/135, der Verordnung der
Bundesregierung auf Drucksache 17/74 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Freitag, den 4. Dezember 2009,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen
Abend und schließe die Sitzung.