Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 18 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({2}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1943 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
- Drucksachen 17/4402, 17/4561 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt
- Bericht des Haushaltsauschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/4562 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Zu dieser Beschlussempfehlung liegt je eine Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen.
Ich weise schon jetzt darauf hin, dass unmittelbar
nach dieser namentlichen Abstimmung die Wahl des
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik mit Stimmkarte und Wahlausweis stattfinden
wird.
Für die Aussprache zum gerade aufgerufenen Tagesordnungspunkt sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung eineinviertel Stunden vorgesehen. - Dazu sehe
ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Lage in Afghanistan von außen betrachtet
- oft genug wird sie gerade auch hier nur oberflächlich
betrachtet -, dann sieht man häufig nur die Probleme
und den Anstieg von Sicherheitsvorfällen in den letzten
Jahren. Man sieht eben nur wenig die Fortschritte und
auch nicht, dass das damit zu tun hat, dass wir in Afghanistan zwischenzeitlich eben nicht nur punktuell arbeiten, sondern in der Fläche vertreten sind.
({0})
Wer sich allerdings genauer damit beschäftigt, der kann
erkennen, dass der Strategiewechsel erfolgt ist. Das ist
das Zentrale.
Ich war im letzten Oktober zum wiederholten Mal in
Afghanistan und habe vor Ort die Erfahrung gemacht,
dass es in der Tat deutlich erkennbare Fortschritte gibt,
unter anderem bei der Verantwortungsübernahme durch
die afghanische Polizei und die afghanische Armee, die
sehr viele Fortschritte gemacht haben. Daneben gab es
aber eben auch Fortschritte beim Wiederaufbau, die hier
nur wenig zur Kenntnis genommen, vor Ort aber bestätigt werden, und zwar nicht nur im Verantwortungsbereich der Bundeswehr im Norden, sondern in ganz
Redetext
Afghanistan. Das hat auch General Petraeus kürzlich
noch einmal bestätigt, als er hier in Deutschland war.
({1})
Wir haben im letzten Dezember erstmals einen Fortschrittsbericht von der Bundesregierung bekommen. Ich
glaube, das ist ein wichtiges Dokument, weil darin eine
ungeschminkte Bestandsaufnahme erfolgt und der Stand
des Engagements realistisch beurteilt wird. Es werden
Fortschritte aufgezeigt, aber es wird auch aufgezeigt, wo
es noch Defizite gibt und wo Aufgaben noch erkennbar
sind.
Diese Fortschritte sind auch im Mandat erkennbar.
Der Schwerpunkt dieses Mandats ist die Unterstützung
bei der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die
Afghanen. Hier ist im Jahre 2010 Erhebliches erreicht
worden. Auf den Konferenzen in London, in Kabul und
in Lissabon hat die internationale Gemeinschaft einen
Fahrplan für die Übergabe der Verantwortung erarbeitet.
Wir werden dieses Jahr in Provinzen und Distrikten, also
zunächst in kleinen Bereichen, mit der Übergabe der
Verantwortung beginnen.
Ziel ist es, dass die nationalen Sicherheitskräfte in
Afghanistan bis Ende 2014 die Verantwortung für alle
Provinzen übernehmen und die Sicherheitsoperationen
dort durchführen. Dieser Fahrplan ist international abgestimmt. Er entspricht dem Fahrplan der afghanischen
Regierung und den Vorstellungen von Präsident Karzai.
Dass es gelungen ist, diesen Fahrplan festzulegen, ist ein
großer Erfolg.
({2})
Voraussetzung für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung ist vor allem, dass wir die afghanischen Sicherheitskräfte selbst in die Lage versetzen, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Deshalb ist es wichtig, dass
wir einen Strategiewechsel geschafft haben.
Wir haben Anfang 2010 klare Ziele definiert. Das ist
die Grundvoraussetzung, um kontrollieren zu können, ob
sie tatsächlich erreicht werden. Wir haben das Mandat
klar auf die Erreichung dieser Ziele ausgerichtet.
Die deutsche Anstrengung ist deutlich erkennbar. Wir
haben zwischenzeitlich bei der afghanischen Armee und
Polizei erreicht, dass der Aufwuchs der Sicherheitskräfte
weiter vorangeschritten ist, als es für das Jahr 2010 festgelegt war. Das heißt, die Ziele sind übererfüllt worden.
Dass das erreichbar ist, hätte Anfang des Jahres 2010
niemand gedacht. Das ist ein zentraler Fortschritt. Denn
diese Schwerpunktsetzung schafft erst die Voraussetzung für eine Abzugsperspektive.
({3})
Wenn wir heute über dieses Mandat entscheiden,
dann steht wieder der Beitrag der Bundeswehr im Mittelpunkt. Deshalb ist es gut, dass in der letzten Woche in einer Regierungserklärung von Bundesminister Niebel
erstmals der zivile Wiederaufbau im Mittelpunkt gestanden hat. Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird mit
Leben erfüllt. Wir haben die Hilfe beim zivilen Wiederaufbau verdoppelt.
Wir haben erhebliche Fortschritte erreicht. Mit unserer Unterstützung werden beispielsweise Haushalte mit
besserem Trinkwasser versorgt. Wir haben 12 000 Afghanen in unserem Verantwortungsbereich weitergebildet. 42 000 Personen konnten von Mikrokrediten der
deutsch-afghanischen Entwicklungszusammenarbeit
profitieren. All diese Maßnahmen versetzen Menschen
in die Lage, für sich und ihre Familie Verantwortung zu
übernehmen. Wir geben ihnen eine großartige Unterstützung, und wir dürfen sie auch in Zukunft nicht alleine
lassen.
({4})
Dass das erreicht werden konnte, ist vor allen Dingen
für diejenigen ein Erfolg, die bereit sind, an dieser Stelle
Verantwortung zu übernehmen und vor Ort ihr Leben
aufs Spiel zu setzen, um Erfolge zu erzielen. Deshalb
möchte ich an dieser Stelle allen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, aber auch allen Polizisten, die vor Ort in
der Ausbildung tätig sind, und allen zivilen Helferinnen
und Helfern, die vor Ort Großartiges leisten, ein herzliches Dankeschön sagen.
({5})
2011 wird ein entscheidendes Jahr für dieses Engagement. Wer Afghanistan stabilisieren will, der schafft das
nicht allein mit militärischen Mitteln. Deshalb ist es so
wichtig, dass wir den Ansatz der vernetzten Sicherheit,
den zivilen Wiederaufbau und die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen in den Mittelpunkt gestellt haben.
Vor allen Dingen ist es auch wichtig, dass wir an einer
politischen Lösung weiterarbeiten. Deshalb ist es wichtig, dass die politischen Initiativen, die die Bundesregierung ergriffen hat, weiter vorangetrieben werden. Sie
müssen im Jahr 2011 im Mittelpunkt der Bemühungen
stehen, um eine Stabilisierung der Region zu erreichen.
({6})
In der heutigen Abstimmung werden sich die Grünen
erneut der Verantwortung entziehen. Was die Linken machen, indem sie auch in der Kommunikation nach außen
den Einsatz mit Terrorismus gleichstellen, wie insbesondere Frau Lötzsch, ist unverantwortlich.
Deshalb sind wir froh, dass wir in intensiven Diskussionen hier in den Fraktionen des Deutschen Bundestages eine verantwortliche Entscheidung treffen. Ich danke
vor allen Dingen der SPD, dass sie sich mehrheitlich dafür entschieden hat, diesem Mandat zuzustimmen. Es ist
wichtig, dass die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
wissen, dass sie die breite Rückendeckung des Deutschen Bundestages haben. Deshalb ist es gut, dass es
eine breite Mehrheit auch am heutigen Tage für dieses
Mandat geben wird.
({7})
Wenn wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen, dann
- davon bin ich überzeugt - ist es ein weiter Weg, und es
wird noch ein schwieriger Weg sein. Aber es ist ein Weg
für eine gute Zukunft für die Menschen in Afghanistan,
und es ist ein Weg zur Stabilisierung dieses Landes, das
auch für die Sicherheit unseres Landes entscheidend ist.
Wir werden auch nach 2014 noch langfristig die Aufgabe haben, dieses Land zu unterstützen. Aber ich
glaube, es ist ein großer Erfolg, dass Fortschritte erzielt
worden sind und dass es erstmals überhaupt eine Abzugsperspektive gibt. Das ist ein Erfolg auch für diese
Koalition und für diese Bundesregierung. Ich denke,
dass wir gemeinsam auf diesem Weg weitergehen sollten.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag
entscheidet heute erneut über die Entsendung unserer
Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan. Im zehnten
Jahr des Einsatzes ist das wohl die schwierigste Aufgabe, die Abgeordnete hier wahrnehmen müssen. Viel zu
viele haben inzwischen ihr Leben verloren oder kehren
traumatisiert oder verletzt zurück. Die Tragödien in den
betroffenen Familien können wir wohl höchstens erahnen. Es ist richtig, sich heute für den Mut und die Tapferkeit all derjenigen zu bedanken, die sich in Afghanistan
für ein Ende des Terrors, ein Ende der Gewalt und eine
bessere Zukunft einsetzen. Wir Sozialdemokraten tun
dies ausdrücklich.
({0})
Aber wir, die den Einsatz in der Vergangenheit mitverantwortet haben und auch heute mitverantworten
wollen, empfinden auch eine Mitverantwortung für die
Tragödien in den vom Tod betroffenen Familien, egal ob
sie in Deutschland leben oder in Afghanistan. Ob uns die
betroffenen Familien immer vergeben können, weiß ich
nicht. Aber darum bitten und unsere Mitverantwortung
und Trauer eingestehen, das dürfen und das müssen wir,
selbst dann, wenn wir von der Notwendigkeit des internationalen Einsatzes in Afghanistan überzeugt sind.
Wir Sozialdemokraten und die übergroße Mehrheit
der SPD-Bundestagsfraktion werden nach reiflicher
Überlegung und Debatte auch in diesem Jahr dem Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des Einsatzes der Vereinten Nationen zustimmen. Für uns ist klar: Die Begründung der Vereinten Nationen für den internationalen
Einsatz in Afghanistan gilt auch heute noch. Der Einsatz
in Afghanistan hat aus Sicht der Vereinten Nationen
nach wie vor das Ziel, eine von dort ausgehende Gefahr
für den Weltfrieden dauerhaft zu beseitigen. Das Land
soll nie wieder zur Basis für den internationalen Terrorismus werden können und auch nicht Ausgangspunkt
für eine zunehmende Unsicherheit und Instabilität der
gesamten Region bleiben.
({1})
Wir würden durch einen Abbruch des Einsatzes nicht
nur die Chance auf eine friedliche Zukunft Afghanistans
gefährden, wir würden nicht nur Hunderttausende Familien und Millionen Menschen ihrer Hoffnung auf eine
bessere Zukunft und ein freieres und menschenwürdigeres Leben berauben, wir würden auch uns und die Menschen in Deutschland erneut den größeren Gefahren aussetzen, die von einem instabilen Afghanistan und einer
destabilisierten Region in diesem Teil der Welt ausgehen. Ja, wir wollen Menschen in Afghanistan schützen,
wir wollen auch Brunnen bohren, Schulen bauen und
Frauen- und Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen. Aber wir wollen auch uns selbst und die Sicherheit
der internationalen Staatengemeinschaft schützen. Das
ist nach wie vor der Kern der Begründung für diesen
Einsatz. Diese Begründung müssen wir auch heute unserer zweifelnden Bevölkerung gegenüber deutlich machen.
Es ist notwendig, viele Fehleinschätzungen der Vergangenheit zu korrigieren, nicht zuletzt die Realitätsverweigerung im Umgang mit den Bürgerkriegsparteien in
Afghanistan. Ich erinnere mich noch gut daran, was für
Kommentare laut wurden, als der damalige Vorsitzende
der SPD, Kurt Beck, nach einer Reise nach Afghanistan
zurückkam und sagte: Wir müssen auch mit den Talibanführern reden, die zu einem Versöhnungsgespräch bereit
sind. - Wir sind verhöhnt und verlacht worden. Heute ist
klar: Ohne einen solchen Versöhnungsprozess wird Stabilität in Afghanistan nie zu erreichen sein.
({2})
Seit etwa einem Jahr sind aus den Fehlern des Afghanistan-Einsatzes in der Vergangenheit endlich Konsequenzen gezogen worden, und es hat einen Strategiewechsel
der internationalen Staatengemeinschaft gegeben. Heute
können wir feststellen: Der Strategiewechsel war nicht
nur dringend notwendig, sondern er hat sich auch durchgesetzt, weil die afghanische Regierung selbst und viele
andere Nationen zu den gleichen Schlussfolgerungen gekommen sind.
Am wichtigsten ist: Ein gutes Jahr danach können wir
erkennen, dass der Strategiewechsel beim internationalen Einsatz sowohl auf der militärischen als auch auf der
zivilen Seite bei den Vereinten Nationen in Afghanistan
offenbar erste Erfolge zeitigt. Erstmals in der nunmehr
zehnjährigen Geschichte des Einsatzes besteht eine realistische Chance auf eine Trendwende in Afghanistan.
Wir Sozialdemokraten haben seit längerer Zeit für
diesen Strategiewechsel gekämpft. Es war der damalige
Außenminister der Großen Koalition, Frank-Walter
Steinmeier, der in seinem Zehnpunkteplan diesen Strategiewechsel gefordert hat, lange bevor er Realität wurde.
Als die SPD diese neue Strategie in Deutschland und in
der internationalen Staatengemeinschaft im Afghanistan-Konflikt forderte, hat es wieder öffentliche Kritik
gehagelt. Wie schon bei der Forderung von Kurt Beck
nach einer Einbeziehung der verhandlungsbereiten Taliban in eine politische Lösung wurde auch unsere Forderung nach einer Beendigung der internationalen Kampfhandlungen und damit auch der Beteiligung der
Bundeswehr an Kampfhandlungen im Jahr 2014 insbesondere von CDU und CSU in Bausch und Bogen verworfen.
({3})
Es war Ihr Verteidigungsminister, der damals erklärt
hat - ich zitiere -:
Wir brauchen … kein Enddatum.
Die Bundeskanzlerin meinte seinerzeit:
Ich fände es falsch, wenn wir jetzt ein konkretes
Abzugsdatum nennen.
Das ist das Zitat desjenigen, der heute öffentlich erklärt, dass er dieses Enddatum richtig finde, sonst würde
er dem Mandat wohl kaum zustimmen.
Sie werden verstehen, dass wir Sozialdemokraten
froh darüber sind, dass unsere Beurteilung der Situation
in Afghanistan und des damit verbundenen Strategiewechsels offenbar deutlich realistischer und klarer war
als manches, was aus der Regierung damals zu hören
war.
({4})
Es ist schade, dass die Bundeskanzlerin bei dieser Debatte und Entscheidung nicht dabei sein kann.
({5})
- Ich höre, sie kommt gleich. - Teile Ihrer Regierung haben aus der Entwicklung des letzten Jahres noch immer
nichts gelernt. Alle Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft sind sich einig, dass es für die Realisierung
dieser neuen Strategie absolut unerlässlich ist, schrittweise mit der Übergabe von Sicherheitsverantwortung
an die afghanische Armee und Polizei in einzelnen Distrikten, Provinzen und Städten im Jahr 2011 zu beginnen
und damit auch die Reduzierung von internationalen
Streitkräften zu verbinden. Der amerikanische Präsident
Obama hat das in dieser Woche in seiner Rede an die
Nation noch einmal bekräftigt und gesagt: Ab Juli dieses
Jahres beginnt der Rückzug amerikanischer Truppen aus
Afghanistan. - Der Druck dieses Zeitplans, beginnend
2011, soll dazu beitragen, dass auch die unterschiedlichen Gruppen und Ethnien außerhalb der Aufständischen in Afghanistan besser zusammenarbeiten.
Es darf kein Verlassen auf eine dauerhafte militärische Präsenz der internationalen Streitkräfte in Afghanistan geben. Wer 2011 nicht anfängt, der wird 2014
nicht draußen sein. Alle haben das verstanden, auch der
Außenminister der Bundesregierung, nur einer offenbar
nicht, nämlich der Verteidigungsminister. Wie anders ist
sein Satz sonst zu verstehen, es sei ihm „völlig wurscht,
ob man das Jahr 2004 oder 2013, 2010 oder 2011 oder
2012 nennt“. Völlig wurscht sei ihm das. Von mir aus
kann Ihr Verteidigungsminister Ihren Außenminister und
auch Ihre Bundeskanzlerin ignorieren; aber wenn Ihrem
Verteidigungsminister die Strategie der internationalen
Staatengemeinschaft „völlig wurscht“ ist, dann ist er
schlicht und ergreifend fehl auf seinem Platz, nichts anderes.
({6})
Wir jedenfalls stimmen heute der Mandatsverlängerung mit großer Mehrheit zu, weil wir den Strategiewechsel in Afghanistan für richtig und erfolgversprechend halten und nicht weil wir etwa die regierungsinternen
Kompromissformulierungen im Mandatstext richtig finden. Uns ist es egal, welche kabinettsinternen Verrenkungen Sie da machen mussten, um Ihren Minister auf
Linie zu bekommen. Wir stimmen zu, weil wir sicher
sind, dass die Truppenreduzierung im Rahmen dieses
Strategiewechsels im Jahr 2011 beginnen kann und wird
und weil wir 2014 mit unserer Bundeswehr nicht mehr
an Kampfhandlungen in Afghanistan beteiligt sein wollen.
({7})
Um eines müssen wir die Bundeskanzlerin auch in ihrer Abwesenheit schon bitten: Bitte, bringen Sie Ihrem
Verteidigungsminister bei, dass es nur eine Institution
gibt, die über den Einsatz, den Verbleib und den Rückzug der Bundeswehr entscheidet, und das ist nicht der
Verteidigungsminister. In seinen Kreisen müsste sich
nach 90 Jahren herumgesprochen haben, dass in
Deutschland nur ein demokratisch legitimiertes Parlament über die Bundeswehr entscheidet und nicht ein
Minister einer Regierung.
({8})
Mit seinen Bemerkungen zum Rückzugstermin offenbart der Minister eine seltsame Distanz und auch einen
mangelnden Respekt gegenüber zwei Verfassungsinstitutionen: gegenüber der eigenen Bundesregierung und
gegenüber diesem Parlament. Die Bundeskanzlerin kann
das gerne weiter schleifen lassen - das ist uns notfalls
egal -; aber als Abgeordnete des Deutschen Bundestages
werden wir uns das nicht gefallen lassen. Das ist jedenfalls ganz sicher.
({9})
Es ist gut, dass wir es uns mit den Einsätzen der Bundeswehr in diesem Haus immer schwer machen.
Deutschland braucht keine schneidigen Entscheidungen
über die Einsätze der Bundeswehr, und wir brauchen übrigens auch keine Bundeswehr, in der nur der ein richtiger Soldat oder ein Held ist, der sozusagen unter Feuer
gestanden hat. Ich will jedenfalls nicht, dass am Ende
nur noch die Unterscheidung zwischen traumatisierten
und glorifizierten Soldatinnen und Soldaten existiert.
({10})
Der Friede bleibt der Ernstfall, und die Bundeswehr
bleibt eine demokratische und in ihrer Inneren Führung
zivile Parlamentsarmee und keine auf Abruf bereitstehende Interventionstruppe.
({11})
Darauf haben wir gerade jetzt zu achten, wenn es an die
größte Reform der Bundeswehr in ihrer eigenen Geschichte geht.
Die Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, eine deutsche, weil die Soldatinnen und Soldaten der Bundesrepublik erstmals in der
Geschichte unseres Landes nie in Gefahr waren, einen
Staat im Staate zu bilden, sondern weil sie Staatsbürger
in Uniform sind. Sie ist eine europäische Erfolgsgeschichte, weil niemand, kein Nachbar in Europa oder
sonst irgendwer auf der Welt - von England bis Skandinavien, von Griechenland bis Frankreich, von Polen bis
nach Russland -, vor dieser Bundeswehr Angst haben
muss. Im Gegenteil: Unsere europäischen Nachbarn und
unsere internationalen Verbündeten können sich auf die
Bundeswehr als verlässlichen Partner bei der Friedensund Freiheitssicherung verlassen. Das ist eine riesige Erfolgsgeschichte unseres Landes.
({12})
Der Grund für diese Erfolgsgeschichte sind gerade
die innere Zivilität, die Innere Führung und das Bild des
Staatsbürgers in Uniform. Umso sorgfältiger müssen wir
heute mit dieser Erfolgsgeschichte umgehen. Wir werden die Bundeswehr mit dem Abschied von der Wehrpflicht völlig verändern. Wir dürfen nicht schon gleich
am Anfang die falschen Signale setzen. So war es eben
von Anfang an falsch, die Bundeswehrreform als Sparoperation anzulegen. Vieles wird mehr kosten und nicht
weniger.
({13})
Deshalb zerplatzen jetzt die vollmundigen Sparankündigungen des Verteidigungsministers wie Seifenblasen.
Die Bundeswehr muss eben nicht nur effizient, sondern
vor allen Dingen effektiv sein. Sie ist etwas anderes als
ein zu verschlankendes Unternehmen.
Die Fehlsteuerung der Bundeswehrreform bekommen
gerade auch die im Einsatz in Afghanistan befindlichen
Soldatinnen und Soldaten zu spüren. So müssen viele
von ihnen ausreichende Schutzkleidung und Ausstattung
mit über 1 000 Euro privat selbst bezahlen. Als wäre das
nicht schon schlimm genug, legt der Verteidigungsminister auch hier im Bundestag partei- und fraktionsübergreifend geforderte Verbesserungen bei den Leistungen an die Hinterbliebenen von getöteten Soldaten
ebenso auf Eis wie die geforderten Verbesserungen für
die berufliche Weiterverwendung der Soldaten nach dem
Einsatz. Das haben wir hier gemeinsam gefordert. Die
Bundesregierung und der Verteidigungsminister setzen
es nicht um.
Der Bundeskanzlerin und ihrem Finanzminister müssen wir doch einmal klar sagen, dass es dann, wenn ihr
Verteidigungsminister offensichtlich mit anderen Aufgaben zu tun hat, ihre Aufgabe und ihre Pflicht ist, diese
Forderungen des Parlaments zu erfüllen. Schließlich ist
es die Armee des Parlaments, und wir tragen die Verantwortung. Die Bundesregierung hat das umzusetzen, was
der Deutsche Bundestag für seine Parlamentsarmee entschieden hat.
({14})
Sie können hier nicht die Verlängerung der Einsätze
beantragen, aber bei der Einsatzversorgung auf der
Bremse stehen.
Es wäre auch verantwortungslos, wenn wir im Zusammenhang mit der Mandatsverlängerung heute nicht
auch auf die Ereignisse der letzten Wochen und Monate
zu sprechen kämen. Unsere Debatte steht aufgrund der
Feldpostaffäre, aber noch viel mehr durch die beiden getöteten jungen Soldaten in Kunduz und auf der „Gorch
Fock“ in einem besonderen Licht.
Jeder Verteidigungsminister hat wohl das Risiko, dass
es 365 Tage im Jahr gibt, an denen er in Bedrängnis
kommen kann und öffentliche Erklärungen abgeben
muss. Es ist gewiss nicht sinnvoll, aus jedem der denkbaren Vorfälle gleich einen Skandal zu machen oder eine
Rücktrittsforderung anzuschließen. Gewiss ist es ebenso
richtig, wenn zuerst die Sachverhalte aufgeklärt und Verantwortlichkeiten geklärt werden, bevor über denkbare
Konsequenzen öffentlich verhandelt wird. Ich habe deswegen die Einlassungen des Verteidigungsministers hier
im Deutschen Bundestag in der letzten Woche ganz gut
nachvollziehen können; das kann ich hier offen zugeben.
Bis heute versteht aber niemand, warum eigentlich
zwischen dem Tod einer Seekadettin auf der „Gorch
Fock“ und der Entsendung eines Ermittlungsteams auf
dieses Schiff mehr als zwei Monate vergehen müssen.
Und warum wird eigentlich weder die Öffentlichkeit
noch das Parlament über Wochen über den zweiten Todesfall, den Tod des Soldaten in Kunduz, korrekt unterrichtet? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder der
Minister hat es gewusst und selbst die Öffentlichkeit und
das Parlament nicht angemessen informiert, oder er
wurde durch sein Ministerium nicht vernünftig informiert. Nur diese beiden Möglichkeiten gibt es.
Beide Alternativen müssten Gründe für die Kanzlerin
sein, dort einzugreifen. Sie kann weder dulden, dass einer ihrer Minister das Parlament und die Öffentlichkeit
bewusst hinters Licht führt, noch dass sie einen Minister
beruft, der sein Ministerium offensichtlich nicht im Griff
hat und schwerwiegenden Vorfällen nicht von selbst
nachgeht.
({15})
Bei der Aufklärung des Bombardements in Kunduz
konnte der Verteidigungsminister noch sagen, ihm seien
die Unterlagen und vor allem die Feldjägerberichte nicht
vollständig vorgelegt worden. Wenn schon im Verteidigungsministerium bei ungeklärten Todesfällen von Soldaten nicht generell eine Information des Ministers angeordnet ist - spätestens nach diesen damaligen Vorwürfen
und der schwierigen Aufklärung muss doch ein wacher
Minister bei ungeklärten Todesfällen die entsprechende
umfassende Berichterstattung, zum Beispiel einschließ9886
lich der Feldjägerberichte, selbst anfordern. Das ist seine
originäre Aufgabe.
({16})
Dort genau hinschauen zu wollen und genau wissen
zu wollen, was eigentlich passiert ist, ist nicht nur die
Pflicht eines Ministers, sondern auch eine Frage des Interesses am Schicksal der eigenen Soldaten sowie eine
Frage der Mitmenschlichkeit.
({17})
Stattdessen erleben wir zum wiederholten Mal, wie
schon beim Bombardement in Kunduz, dass der Verteidigungsminister seine Aktivitäten nach den Regeln des
deutschen Medienbetriebes ausrichtet. Erst wird abgewiegelt und erklärt, alles sei in Ordnung.
({18})
- Nein. Sie werden aber zugeben, dass er darin besonders gut ist.
({19})
Das kritisieren Sie ja selber gelegentlich. Ich verstehe
schon, dass Sie das so lange gut finden, wie er nicht in
Probleme kommt. Wenn der Medienwind sich dann
dreht, wird aber das genaue Gegenteil gesagt und scheinbar hart durchgegriffen.
Nicht alleine wir kritisieren das. Ich zitiere einmal aus
einem der vielen Berichte in der Zeit. Dort heißt es: „Ein
Muster wird sichtbar.“ Das Muster ist die rasche Schuldzuweisung. Ob Kunduz, geöffnete Briefe, ungeklärte
Todesfälle oder jetzt bei der Finanzierung der Bundeswehr, die Muster ähneln sich tatsächlich frappierend.
Immer heißt es am Anfang: Erstens. Natürlich werden
bei uns Fehler gemacht. Zweitens. Aber nicht ich, sondern andere sind schuld. - Danach werden die Betroffenen kurzerhand entlassen. Eine Zeitung hat dies „das
Prinzip Guttenberg“ genannt. Ich sage Ihnen: Mit Prinzipien hat dies nichts zu tun, aber mit der „Methode
Guttenberg“ hat das eine ganze Menge zu tun.
({20})
Wie sagt der Herr Verteidigungsminister treffend?
Wir brauchen „eine Bundeswehr, die das Verantwortungsprinzip auch bei jedem einzelnen Beteiligten lebt
und trägt“. Nur für sich selbst möchte er dieses Verantwortungsprinzip möglichst nicht gelten lassen. Es sind
immer andere, die ihren Kopf hinhalten müssen: Oberst
Klein, General Schneiderhan, Staatssekretär Wichert und
jetzt Kapitän Schatz. Nach etwas mehr als einem Jahr
Amtszeit gibt es schon verdammt viele politische Opfer
dieses Ministers in seinem Betrieb.
({21})
Natürlich muss das immer markig klingen. Jetzt wird
gleich eine Generalinspektion der Bundeswehr angekündigt. Das liegt ziemlich nahe am Generalverdacht. Für
eine solche Unterstellung gegenüber der Bundeswehr
gibt es keine Grundlage. Trotzdem ist das die Botschaft,
die in die Bundeswehr hineingesandt wird.
({22})
Moderne Führung sieht jedenfalls anders aus. Eine
moderne Führung aber braucht die Bundeswehr heute
mehr denn je. Der Erfolg der Bundeswehr in der Vergangenheit und noch mehr in der Zukunft basiert auf ihrer
inneren Zivilität. Darauf wollen sich Menschen verlassen, die zur Bundeswehr gehen. Dazu gehören nicht zuletzt das Recht auf Anhörung und auf rechtliches Gehör
sowie der Schutz vor Willkür. Das gilt für Mannschaften, Unteroffiziere, Seekadetten ebenso wie für Offiziere
und Kommandeure. Wer dieses Recht verletzt, verstößt
eklatant gegen die Prinzipien der Inneren Führung der
Bundeswehr und des Staatsbürgers in Uniform, wie sie
die Sozialdemokraten Georg Leber und Helmut Schmidt
tief in der Bundeswehr verankert haben. Wir werden
nicht zulassen, dass diese Erfolgsgeschichte durch Ihre
Regierung kaputt gemacht wird.
({23})
Herr Kollege Gabriel, Sie berücksichtigen bitte die
Zeit.
Das geschieht alles nur, weil sich der Minister inzwischen fernsteuern lässt. Wie die Frankfurter Allgemeine
Zeitung treffend schreibt, gibt es eine strategische Verbindung, eine strategische Partnerschaft zwischen der
Bild-Zeitung und dem Minister. Der Bild-Zeitung ist
nichts vorzuwerfen. Sie will eine gute Auflage.
({0})
Der Minister aber verkauft dafür seine Mitarbeiter und
Soldaten. Das ist der Kern des Vorwurfs, den wir Ihnen
machen müssen.
({1})
Damit wir uns richtig verstehen: In Afghanistan und
auch sonst wo braucht die Bundeswehr einen ruhigen
Regisseur, aber nicht einen schillernden Darsteller. Das
ist das Letzte, was wir brauchen. Von einem ruhigen Regisseur aber ist Ihr Verteidigungsminister derzeit weit
entfernt. Sorgen Sie dafür, dass sich das ändert! Sonst
gefährden Sie nicht nur die Einsätze der Bundeswehr,
sondern auch die Zukunft dieser Armee; denn sie
braucht eine ruhige Hand und nicht jemanden, der sich
von öffentlicher Berichterstattung fernsteuern lässt.
({2})
Das ist das Ergebnis von etwas mehr als einem Jahr. Das
werden wir nicht hinnehmen.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sie haben wohl heute Morgen die Presseberichte
über die Aktuelle Stunde vorgestern gelesen, Herr
Gabriel. Darin ist nachzulesen, dass Ihre Fraktion bei der
Debatte über die Vorfälle in der Bundeswehr wirklich
ein sehr schwaches Bild abgegeben hat.
({0})
Ich kann deshalb nachvollziehen, dass Sie mit Ihrem
ganzen Gewicht heute,
({1})
wo es um einen ganz anderen Tagesordnungspunkt geht,
diesen Eindruck korrigieren wollen. Ich kann Ihnen sagen: Zu diesem Thema, Herr Gabriel, ist zwar nicht in
der Person, wohl aber nach dem Inhalt Ihrer Rede der
Eindruck noch dünner geworden.
({2})
Dr. Sima Samar, die Vorsitzende der unabhängigen
Menschenrechtskommission in Afghanistan, ist insbesondere für ihren unermüdlichen Einsatz für die Rechte
der Frauen in ihrem Land bekannt. Ich traf sie vor zwei
Wochen in Kabul und war beeindruckt von ihrem Mut,
sich bei ihrer Arbeit auch von Morddrohungen nicht einschüchtern zu lassen. Frau Samar äußerte sich äußerst
kritisch gegenüber der Regierung Karzai. Auf meine
Frage, wie sie die Zukunft unseres zivil-militärischen
Engagements in Afghanistan bewertet, machte sie mir
unmissverständlich klar, dass wir Afghanistan nicht verlassen dürften, bevor es nachhaltig stabilisiert sei; sonst
drohe die Rückkehr der menschenverachtenden Herrschaft der Taliban. Das wirft die Fragen auf: Wo stehen
wir in Afghanistan, und wie lange bleiben wir noch in
Afghanistan?
Man spürt, dass der Strategiewechsel, den wir vergangenes Jahr vollzogen haben, sowohl militärisch als auch
beim zivilen Aufbau greift. Deshalb muss der zivil-militärische vernetzte Ansatz unbedingt weiterverfolgt werden. Es ist richtig: Rein militärisch können wir die Lage
in Afghanistan nicht erfolgreich verändern. Unsere öffentliche Expertenanhörung im Auswärtigen Ausschuss
Ende November hat aber auch ergeben, dass es ohne militärische Absicherung keine nachhaltige Entwicklungshilfe in Afghanistan geben und dass für die Menschen
eine Verbesserung ihrer Lage nicht dauerhaft erfahrbar
werden kann. Dies haben Vertreter von in Afghanistan
tätigen Nichtregierungsorganisationen auch beim Kongress der CDU/CSU-Fraktion zur zivil-militärischen Zusammenarbeit im Dezember bestätigt. Es ist deshalb gut,
dass die von den Vereinten Nationen mandatierten ISAFTruppen und die afghanischen Sicherheitskräfte gegenüber den regierungsfeindlichen Kräften in Afghanistan
die Initiative zurückgewonnen haben. Die Aufständischen sind - ich sage das aufgrund der wechselnden Erfahrungen mit aller Vorsicht - spürbar in der Defensive,
militärisch und politisch. Die Bevölkerung kehrt wieder
in Gebiete zurück, die von den Aufständischen kontrolliert waren, und arbeitet immer enger mit den ISAFTruppen zusammen. Gleichzeitig setzen die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung ihre vor einem Jahr in London gemachten Zusagen für den zivilen
Aufbau zügig um und verzeichnen erste Erfolge.
Die Kolleginnen und Kollegen, die Afghanistan in
jüngster Zeit besucht haben, konnten sich selbst davon
überzeugen, dass der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte, Armee und Polizei, jetzt zügig vorankommt,
auch aufgrund der Ausweitung der deutschen Trainingskapazitäten. Die gesetzten quantitativen Ziele wurden
vorzeitig erreicht. Deutschland arbeitet mit seinen Ausbildungsprogrammen mit Nachdruck daran, dass afghanische Kräfte so schnell wie möglich selbst für Sicherheit sorgen können. Dies soll vollständig 2014 in ganz
Afghanistan möglich sein, ist momentan aber noch nicht
der Fall. Deshalb müssen die internationalen Kräfte, also
auch die Bundeswehr, derzeit noch diese Aufgabe wahrnehmen. Nur auf dieser Grundlage kann Entwicklungshilfe nachhaltige Erfolge erzielen und die lokale Regierungsführung verbessert werden.
Die Strategie der Übergabe in Verantwortung ist der
richtige Weg. Meines Erachtens ist heute die Zuversicht
berechtigt, dass wir 2011 den Prozess der Übergabe in
afghanische Verantwortung beginnen können. Im Zuge
dieses Prozesses wollen wir auch die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren. Niemand möchte länger als unbedingt notwendig Kampftruppen in Afghanistan belassen. Deshalb tun unsere Soldatinnen und
Soldaten und unsere zivilen Mitarbeiter alles für eine
Lageentwicklung, die eine Reduzierung unserer militärischen Präsenz so schnell wie möglich Realität werden
lässt.
Herr Gabriel, ich möchte Ihnen gern unsere Verfassung und das Parlamentsbeteiligungsgesetz erläutern.
Sie haben hier gesagt: Nicht der Verteidigungsminister
zieht Soldaten zurück, sondern wir im Parlament ziehen
Soldaten zurück. - Herr Gabriel, wir stimmen heute über
eine Obergrenze ab. Wenn Sie den Verteidigungsminister darauf festlegen wollen, dass er bis zum letzten Tag
dieses Mandates diese Obergrenze zu 100 Prozent ausschöpft, dann ist dies Ihre Position. Die Position der
Koalition ist, dass die Bundesregierung innerhalb der gesetzten Obergrenze jede Möglichkeit nutzt, sobald es die
Sicherheit und die Nachhaltigkeit zulassen, auch vor
Ende des Ablaufs dieses Mandats mit der Reduzierung
der Truppenstärke zu beginnen.
({3})
Unser Dank gilt den Männern und Frauen, die vor Ort
unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen hart
für die Stabilität und Entwicklung Afghanistans arbeiten. Verantwortbare Übergabe hat - auch das gehört
dazu - Vorrang vor angestrebten Zeitplänen. Die Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und Soldaten
muss sich an konkreten Fortschritten vor Ort bemessen.
Es darf auf keinen Fall ein Sicherheitsvakuum entstehen,
das das Erreichte oder die noch in Afghanistan tätigen
Soldaten und zivilen Kräfte gefährdet. In dem Maße, in
dem Afghanen die Lage sicher und nachhaltig kontrollieren, können und wollen wir Kampftruppen zurückziehen.
({4})
Um unser Ziel einer völligen Übergabe der Verantwortung bis 2014 zu erreichen, sind meines Erachtens
insbesondere fünf Dinge notwendig.
Erstens müssen die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte weiter verbessert werden. Daran wird mit
Nachdruck gearbeitet.
Zweitens muss die afghanische Seite mit uns an einem Strang ziehen und ihren bei der Kabuler Konferenz
eingegangenen Verpflichtungen - gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, Aufbau einer unabhängigen Justiz - konsequent und ambitioniert nachkommen.
Drittens muss der Versöhnungsprozess funktionieren
und zu Ergebnissen führen. Eine politische Lösung, also
ein Prozess der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit verschiedenen Gruppen der Aufständischen,
ist zwingend notwendig, wenn wir ein hinreichend stabiles Afghanistan schaffen wollen, von dessen Boden
keine Gefahr für die Region und die Staatengemeinschaft mehr ausgeht. Herr Gabriel, auch in diesem Zusammenhang muss ich Ihnen sagen: Wir haben nie etwas
anderes behauptet.
({5})
Tatsache ist, dass die Taliban zu einer solchen Versöhnung bisher nicht bereit waren. Im Jahr 2010 sind aber
erste Schritte in Richtung einer politischen Konfliktbewältigung eingeleitet worden. Herr Gabriel, das hat auch
etwas damit zu tun, dass die ISAF die Initiative zurückgewonnen und die Taliban deutlich in die Defensive gedrängt hat, und zwar sowohl militärisch als auch politisch. Auch das hat dazu geführt, dass jetzt dieser
Prozess der Versöhnung und des Ausgleichs möglich geworden ist. Dafür müssen die Spielräume natürlich genutzt werden.
Viertens müssen wir einen regionalen Lösungsansatz
weiter mit Nachdruck verfolgen. Die Kabuler Konferenz
vom letzten Jahr hat hier wegweisende Fortschritte gebracht. Die Beziehungen zwischen Islamabad und Kabul
haben sich in letzter Zeit erfreulicherweise kontinuierlich verbessert. Pakistan fühlt sich jedoch - aus seiner
Sicht - von einem wachsenden indischen Einfluss in
Afghanistan bedroht. Deshalb brauchen wir auch einen
pakistanisch-indischen Dialog über Afghanistan.
Fünftens müssen wir den Afghanen die Gewissheit
geben, dass wir sie 2014 nicht im Stich lassen. Wir müssen unsere Unterstützung beim Wiederaufbau und im
Bereich der Sicherheit fortsetzen. Dabei wird sich unser
Engagement in Afghanistan qualitativ verändern. Es ist
und bleibt aber langfristig. Die für Ende des Jahres geplante Afghanistan-Konferenz in Bonn ist für die Strukturierung des weiteren Vorgehens eine wichtige Wegmarke.
Herr Gabriel, Sie haben eine breite Zustimmung der
SPD angekündigt. Sie waren gerade in Afghanistan und
konnten sich vor Ort davon überzeugen, dass die jetzt
eingeschlagene Strategie richtig ist. Herr Gabriel, Sie haben in einem FAZ-Interview gesagt, dass Sie das Stimmverhalten der meisten Grünen nicht nachvollziehen können. Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Im Gegensatz zu
den meisten Grünen vergisst die Mehrheit der Sozialdemokraten nicht, dass es die rot-grüne Regierung mit Außenminister Fischer war, die den Einsatz mit dieser Intensität begonnen hat.
({6})
Frau Künast und Frau Roth, wie der SPD-Vorsitzende
und die übergroße Mehrheit der SPD-Fraktion sollten
auch die Grünen anerkennen: Wir sind jetzt auf einem
guten Weg, diesen Einsatz zu einem guten Ende zu führen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
Bombardierung Belgrads, einem völkerrechtswidrigen
Krieg, bildete sich in Deutschland eine Kriegskoalition
aus Union, SPD, FDP und Grünen.
({0})
Sie stand auch beim Krieg in Afghanistan, der inzwischen über neun Jahre dauert. Die Linksfraktion beginnt
heute mit einer Afghanistan-Konferenz unter dem Titel
„Das andere Afghanistan“. Ich begrüße ausdrücklich
neun Afghaninnen und Afghanen, die aus dem Land des
Krieges kommen und auf der Tribüne Platz genommen
haben. Auch um ihr Schicksal geht es.
({1})
Ihre Gegner sind die Taliban, die Warlords, aber auch die
NATO.
Es gibt eine repräsentative Emnid-Umfrage von Beginn 2010 und von Beginn 2011 zur Ablehnung bzw. Zustimmung der Bevölkerung betreffend den AfghanistanKrieg. Dabei wurden die Vokabeln der Regierung und
nicht etwa unsere verwendet. Es gab drei AntwortmögDr. Gregor Gysi
lichkeiten. Die erste mögliche Antwort war: Ich bin für
die militärische Unterstützung der Aufbauhilfe. - Das,
was wir Krieg nennen, ist - ganz im Sinne der Regierung so umschrieben worden. Die zweite mögliche Antwort
war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr und für die
Leistung von Aufbauhilfe. Die dritte mögliche Antwort
war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr, aber ohne
künftige Aufbauhilfe. - 28 Prozent unterstützten zu Beginn des Jahres 2010 die Regierungspolitik. Heute sind
es nur noch 15 Prozent. Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, wen Sie hier repräsentieren.
({2})
2010 waren 50 Prozent für den Abzug der Bundeswehr
und für Aufbauhilfe; heute sind es 53 Prozent. Aber es
gibt eine erschreckende Zahl: Vor einem Jahr wollten
18 Prozent keine Bundeswehr, aber auch keine Aufbauhilfe mehr; heute wollen dies 26 Prozent. Denken Sie
einmal darüber nach, weshalb immer mehr Menschen
keine Aufbauhilfe wollen! Das liegt an Ihrer Art der
Politik. Die Leute glauben nicht mehr daran; sie sehen
darin keinen Sinn.
({3})
Bei der Umfrage kommt heraus, dass 79 Prozent für den
Abzug der Bundeswehr sind. Nur im Bundestag sind die
Verhältnisse exakt umgekehrt.
({4})
Meine Partei war von Anfang an gegen den Krieg.
Terrorismus kann man nicht mit der höchsten Form des
Terrorismus, mit Krieg, bekämpfen.
({5})
Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Struck sagte:
Am Hindukusch wird unsere Freiheit verteidigt. - Wenn
ich die schwerbewaffneten Polizisten rund um den Bundestag sehe, habe ich den Eindruck, dass am Hindukusch
unsere Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Wir
sind eine potenzielle Adresse für Terrorakte geworden.
({6})
Lassen Sie mich noch etwas zu Krieg und Terror sagen. Die Terrororganisation al-Qaida sitzt nicht mehr in
Afghanistan, sondern in Pakistan. Sie wird ausschließlich aus Saudi-Arabien bezahlt. Die USA haben beste
Beziehungen zu Saudi-Arabien. Das nenne ich verlogen.
({7})
Sie kommen nicht darum herum. Sie wollten von Anfang an den Krieg gewinnen, wir den Frieden.
({8})
Inzwischen sagt auch der Fortschrittsbericht der Bundesregierung von Dezember 2010, dass der Konflikt militärisch nicht zu lösen sei. Die Schlussfolgerung der NATO
ist aber: mehr Soldaten, mehr Kriegsgerät. Außerdem
heißt es, dass man den Krieg afghanisieren will, so wie
die USA den Krieg im Irak irakisieren. Auch die Bundeswehr plant für das nächste Jahr eine weitere Verlegung von schwerem Kriegsgerät, von Panzern, Artillerie
und Tigerkampfhubschraubern.
Das Ganze läuft auf eine Eskalation des Krieges hinaus. Eine Eskalation des Krieges bedeutet immer auch
eine Eskalation der Opfer des Krieges. Im ersten Halbjahr 2010 stieg laut UN-Report die Zahl der toten und
verletzten Zivilisten in Afghanistan um ein Drittel auf
3 268.
({9})
Durch die Eskalation des Krieges gibt es auch eine höhere Zahl von Todesopfern unter den Soldatinnen und
Soldaten. Seit Beginn des Krieges sind über 2 300 Soldatinnen und Soldaten umgekommen, darunter 46 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Auffallend ist,
dass die Zahl der getöteten Soldatinnen und Soldaten
jährlich steigt; im letzten Jahr waren es schon 711. Die
Zahl von Bundeswehrsoldaten mit seelischen Verletzungen hat sich gegenüber 2006 verzwölffacht. Waren es
damals 55, sind es heute 655. Hinzu kommen noch
333 Soldaten mit anderen psychischen Erkrankungen.
2010 wurden also über 1 000 Soldaten stille Opfer des
Krieges, und das sind nur die Soldatinnen und Soldaten,
die sich gemeldet haben. Die Dunkelziffer ist viel höher.
Man braucht keinen Tatort, um zu begreifen, dass wir
nicht nur Afghanistan schaden, sondern auch unser Land
negativ verändern.
({10})
Wenn man aus einer Landesverteidigungsarmee eine Interventionsarmee macht und Kriege führt, verändert man
zuerst die Armee und dann die Gesellschaft.
Es gibt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die besagt: Bis Ende 2010 haben wir
insgesamt 25 Milliarden Euro für diesen Krieg ausgegeben. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie viel besser Afghanistan dastünde, wenn wir nur die Hälfte dieses Geldes in den zivilen Aufbau des Landes gesteckt hätten!
({11})
Jetzt werde ich Ihnen etwas zu den Folgen des Krieges sagen, und daran kommen Sie nicht vorbei. Die erste
Folge des Krieges: Das Ansehen der Taliban ist nicht gesunken, sondern hat wieder zugenommen.
({12})
Das ist das Gegenteil von dem, was Sie erreichen wollten.
Zweitens. Die Warlords sind mächtiger als zu Beginn
des Krieges.
Drittens. In Armut leben nicht mehr 33 Prozent, sondern 42 Prozent der Bevölkerung.
({13})
- Ich bitte Sie! Das sind UNO-Zahlen. Die können Sie
nicht als Quatsch abtun. Nehmen Sie sie einfach mal zur
Kenntnis.
({14})
Viertens. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent,
sondern 39 Prozent der Bevölkerung.
Fünftens. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen,
sondern 4,5 Millionen Menschen.
Sechstens. Den Zugang zu sanitären Einrichtungen
haben nicht mehr 12 Prozent, sondern nur noch
5,2 Prozent der Bevölkerung.
Siebentens. Die Mohnfelder für den Rauschgiftanbau
der Warlords umfassen nicht mehr 131 000, sondern
193 000 Hektar.
Wofür führen Sie eigentlich diesen Krieg? Was soll in
den nächsten Jahren anderes passieren, außer dass sich
dies verschlimmert?
({15})
Ihr Ansatz ist völlig falsch, verfangen in der Logik des
Krieges und im Denken des Primats des Krieges.
Die Bundesregierung täuscht jetzt aber auch die Öffentlichkeit. Ich muss sagen, dass der Streit zwischen
Bundesminister Westerwelle und Bundesminister zu
Guttenberg um die Frage, ob man einen Termin für den
beginnenden Abzug der Soldaten nennt, peinlich ist.
({16})
Herausgekommen ist Folgendes: Man sagt, dass der Abzug Ende 2011 beginnt, wenn es die Lage erlaubt. - Für
die Bevölkerung übersetzt, heißt dies: Es beginnt kein
Abzug. Aber ich sage Ihnen eines: Jetzt hat Präsident
Obama Sie blamiert. Er hat gestern erklärt: Ab Juli werden amerikanische Soldaten abgezogen. - Sie denken
noch nicht einmal daran, dies zu realisieren.
({17})
Nur die Linke war und ist konsequent für die sofortige Beendigung des Krieges und den schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Wir wollen keine Verlängerung des Kriegsmandats, sondern
endlich die Erteilung eines Abzugsmandats.
({18})
Wir wollen statt der Fortsetzung des Krieges eine zivile
Konfliktlösung stärken. Wir schlagen eine Beendigung
des Krieges durch Deutschland und eine Aufbauhilfe für
Afghanistan in drei Schritten vor.
Erstens wollen wir die Bundeswehr abziehen. Die
Kampfverbände könnten bis spätestens Ende Mai 2011
abgezogen sein, und den letzten Bundeswehrsoldaten
könnten wir bis spätestens Ende September 2011 abgezogen haben.
({19})
Zweitens fordern wir eine massive Unterstützung der
zivilen Strukturen. Es geht um die Bekämpfung von Armut, die Förderung von Bildung, die Gleichstellung von
Frauen und andere wichtige Menschenrechte.
Drittens schlagen wir Maßnahmen und eine neue und
andere Petersberger Konferenz zum Wiederaufbau Afghanistans nach dem Krieg vor.
({20})
Meine Forderung lautet ganz einfach - und ich will
mich nur an SPD und Grüne wenden -: Liebe Mitglieder
der Fraktionen von SPD und Grünen, treten Sie endlich
und für immer aus der Kriegskoalition aus!
({21})
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi,
ich habe auch vor der Position, die Sie hier formuliert
haben, Respekt. Aber eines kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen: Sie können sich nicht im Deutschen Bundestag hinstellen und sagen, die Menschen in Afghanistan seien von den Taliban genauso bedroht wie von der
NATO. Wer einen Einsatz der NATO und einer Reihe
weiterer Staaten - darunter viele muslimische Staaten auf der Basis eines Mandates der Vereinten Nationen in
eins setzt mit Terroristen und Verbrechern, der hat den
Schuss nun wirklich nicht gehört.
({0})
Wir entscheiden heute über ein Mandat in einer geänderten strategischen Lage. Es geht schon lange nicht
mehr um die Frage: War es richtig oder falsch? Es geht
heute in Afghanistan um die Frage der Übergabe in Verantwortung an die Afghaninnen und Afghanen selber. Es
geht nicht mehr um die Frage eines militärischen Sieges
über die Taliban; es geht um die Bedingungen, unter denen man in diesem Land einen Kompromiss findet. Ihre
Aufregung ist gar nicht mehr zeitgemäß; denn es geht
nicht mehr um das Ob eines Abzuges von Kampftruppen;
({1})
es geht darum, dass wir dort noch lange, auch über 2014
hinaus, im zivilen Einsatz sein werden. Es geht um die
Frage, wie - nicht ob - wir einen Abzug der Truppen gestalten,
({2})
ohne einen neuen Bürgerkrieg heraufzubeschwören und
eine ganze Region erneut zu destabilisieren. Das ist die
Frage, der sich der Deutsche Bundestag hier zu stellen
hat.
({3})
Deswegen müssen heute auch diejenigen für eine befristete internationale Präsenz sein, die die Entsendung nicht
befürwortet haben. Diejenigen, die die Entsendung befürwortet haben, müssen sich heute mit der Frage befassen, wie man einen Abzug verantwortlich organisiert;
genau darum geht es.
({4})
Zum Mandat der Bundesregierung kann ich nur sagen: Sie haben sich erfolgreich um den Titel „König des
Konjunktivs“ beworben.
({5})
Sie konnten bis heute keinen im Hinblick auf Aufbau,
Zeit und materielle Ziele konkretisierten Plan vorlegen.
Ihre Formulierung besagt, dass es vielleicht zum Abzug
kommt, vielleicht auch nicht. Damit ermöglichen Sie
Spekulationen und Wetten - übrigens auch bei den Konfliktparteien in Afghanistan -, dass man vielleicht doch
ein bisschen länger bleibe und man sich deswegen im
Friedensprozess nicht so sehr anstrengen müsse, schnell
zu einer politischen Lösung zu kommen.
Ich verstehe es nicht, Herr Westerwelle, Herr zu
Guttenberg - Sie legen sonst Wert auf Schneidigkeit und
Eindeutigkeit -: Wieso sind Sie nicht zu einer so klaren
Sprache in der Lage wie der amerikanische Präsident? Er
hat in seiner Rede zur Lage der Nation gesagt:
And this July, we will begin to bring our troops
home.
Punkt! Kein Konjunktiv, kein „if”, gar nichts! Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie hier ein Mandat
mit dieser Klarheit und Eindeutigkeit vorlegt, nicht ein
Mandat mit Tausend Hintertüren, wie Sie es heute vorgelegt haben.
({6})
Sie wissen sehr wohl, dass es NATO-Partner gibt, die
sehr konkrete Abzugsdaten vorgelegt haben; das gilt für
verschiedene unserer Nachbarn. Ich frage Sie: Was können die, was Sie nicht können?
Es gibt einen zweiten Punkt. Die Bemühungen um
eine Stabilisierung und das Finden einer politischen Lösung, eines Kompromisses dürfen sich nicht gegenseitig
konterkarieren. Aber die Strategie, auf der einen Seite
darauf zu setzen, mit den Taliban und anderen Aufständischen einen Kompromiss zu finden, und auf der anderen Seite ein „Capture or Kill“ zu praktizieren, ist in sich
widersprüchlich. Sie konterkariert sich und muss beendet werden.
({7})
Auch dazu finde ich in dem Mandat nichts.
Ja, wir müssen den zivilen Aufbau voranbringen. Wir
müssen einen politischen Kompromiss finden. Aber,
meine Damen und Herren, eine Verhandlungslösung
kann nicht losgelöst von Kriterien gefunden werden. Es
muss auch bei einem so schwierigen politischen Kompromiss rote Linien geben, was Rechtsstaatlichkeit,
Menschen- und Frauenrechte angeht.
({8})
Es kann nicht sein, dass man einen Friedensprozess um
jeden Preis durchführt, und am Ende zahlen den Preis
die afghanischen Frauen. Das kann nicht sein.
({9})
Auch dazu findet sich in diesem Mandat nur Allgemeines.
Ich sage Ihnen: Wir streiten nicht darüber, dass ein
Sofortabzug nicht geht. Wir streiten nicht darüber, dass
es richtig ist, dass Soldatinnen und Soldaten unter großen Gefahren weiterhin im Auftrag der Vereinten Nationen dort präsent sind; das ist nicht der Streit, den wir haben. Wir streiten darüber, dass Sie in Ihrem Mandat nicht
definieren, was Sie in welchem Zeitraum in Afghanistan
erreichen wollen und wie lange diejenigen, die dort in
äußerster Gefahr ihren Kopf hinhalten müssen, dieses
noch tun müssen.
Herr Bundesverteidigungsminister, das kann Ihnen als
oberstem Dienstherrn doch nicht wirklich, wie Sie gesagt haben, wurst sein.
({10})
Es ist nicht wurscht, wenn man dort täglich seinen
Dienst verrichten muss. Es ist nicht wurscht, wenn man
unter diesen Gefahren dort tätig sein muss. Aber wenn
man das tut, weil man das für einen ernsten Auftrag hält
und seinen Job ernst nimmt, dann hat die politische Führung in diesem Land die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, denjenigen, die dort im Dienst sind, eine klare
zeitliche Perspektive zu geben.
({11})
Das ist verantwortliche Führung und nicht Wurschtigkeit
im adeligen Sinne.
Meine Damen und Herren, Sie haben hier keinen Aufbau- und keinen Abzugsplan vorgelegt. Sie haben im
Kern keinen Plan. Sie laufen der Entwicklung einfach irgendwie hinterher. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie
denjenigen, die dort als zivile Aufbauhelfer, als Polizeiausbilder, als Soldatinnen und Soldaten tätig sind, Klarheit über die Perspektive geben. Wir erwarten auch, dass
Sie den Menschen klar sagen, dass dies keine Perspektive ist, die mit dem Abzug und der Beendigung der militärischen Kampfhandlungen 2014 endet, sondern dass
es eine internationale zivile Präsenz in Afghanistan auch
über 2014 hinaus geben wird und wir nicht den Fehler
wiederholen werden, an dieser Stelle zu sagen: Dieses
Land ist uns jetzt egal geworden.
({12})
Das erwarten wir von Ihnen. Aber diese Klarheit finden
wir in Ihrem Mandat nicht
({13})
Deswegen sagt die Mehrheit meiner Fraktion zwar
nicht Nein zur Präsenz der Soldatinnen und Soldaten
dort. Aber wir können Ihrem schwammigen Mandat der
Konjunktive nicht zustimmen.
({14})
Das Wort erhält der Kollege Henning Otte für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der
Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des ISAFMandats in Afghanistan ist ein richtiger, ein notwendiger
und für unsere Soldaten ein gefährlicher Einsatz. Die
heutige Entscheidung zur Verlängerung des Mandates
macht sich niemand von uns leicht. Es ist notwendig,
den von Rot-Grün im Jahre 2001 begonnenen Weg, das
Land Afghanistan vom Terrorismus zu befreien und zivile friedliche Strukturen zu etablieren, fortzusetzen, um
ihn zu einem Erfolg zu führen. Das Ziel dieses Einsatzes
ist, das Land Afghanistan zu stabilisieren und damit
auch die Sicherheit Deutschlands zu stärken.
Die afghanische Regierung hat sich verpflichtet, ab
2014 eine selbsttragende Sicherheit zu erreichen. Dazu
wollen wir mit der Verlängerung dieses Mandates einen
Beitrag leisten. Es ist ehrlich, zu sagen, dass sich der
Einsatz weitaus schwieriger gestaltet, als dies zu Beginn
im Jahr 2001 von Rot-Grün vermutet wurde. Die Intensität der Einsätze ist vielleicht sogar unterschätzt worden,
die politischen Ziele sind bestimmt überschätzt worden.
Jetzt, über neun Jahre später, sind ein klarer Blick,
eine ehrliche Beurteilung der Lage vor Ort und eine realistische Betrachtung der Perspektiven gefragt. Die
Lage in Afghanistan ist nicht zufriedenstellend. Aber
vieles hat sich in Afghanistan bisher verbessert: Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung, das zivile Leben, insbesondere für Frauen und für Kinder. Wer das
verneint, war noch nicht in diesem Land oder ignoriert
diesen Fortschritt. Herr Gysi, wenn Sie von Herrn Trittin
zurechtgewiesen werden, dann müssen Sie sich schon
einmal selbst fragen, wie verwirrt Sie in Ihrer Vorstellung sind.
({0})
Wer jetzt einen sofortigen oder voreiligen Abzug fordert, der gefährdet die erreichten, ja erkämpften Erfolge
und gefährdet Menschenleben und eine friedliche Perspektive. Daher muss dieser Einsatz fortgesetzt werden,
nicht auf Dauer, sondern mit einer realistischen Abzugsperspektive,
({1})
weiterhin engagiert und weiterhin mit einem klaren Konzept. Die christlich-liberale Bundesregierung hat dieses
klare Konzept, und sie hat bei der Londoner Konferenz
Einfluss gewonnen. Der Schutz der afghanischen Bevölkerung steht ebenso im Vordergrund wie die Ausbildung
der afghanischen Sicherheitskräfte unter dem Leitmotiv
„Übergabe in Verantwortung“. Diese Übergabe in Verantwortung muss von der afghanischen Regierung aber
meines Erachtens noch viel stärker als Übernahme der
Eigenverantwortung verinnerlicht werden. Dazu ist es
notwendig, den Druck auf die Karzai-Regierung zu erhöhen, Korruptionsbekämpfung oder den Aufbau einer
unabhängigen Justiz voranzubringen.
({2})
Ich bin unserer Bundesregierung sehr dankbar dafür,
dass sie im vorliegenden Antrag deutlich den Willen
zum Ausdruck bringt, jeden sicherheitspolitisch verantwortbaren Spielraum nutzen zu wollen, um möglichst ab
2011 mit dem Abzug zu beginnen. Aber, Herr Trittin, es
ist genauso richtig, dass deutlich wird, dass eine solche
Reduzierung nicht zu einer Gefährdung der bisherigen
Erfolge, nicht zu einer Gefährdung der hilfsbedürftigen
Menschen vor Ort und nicht zu einer Gefährdung der Sicherheit unserer Soldaten führen darf.
Hier gibt es einen offenen Dissens in diesem Haus.
CDU/CSU, FDP und SPD stehen zu dieser Verantwortung. Die Grünen, Herr Trittin, wollen mit ihrem Entschließungsantrag einen für die Taliban nachvollziehbaren Plan des Abzugs haben. Wer - wie die Grünen - ein
bisschen zustimmt, sich ein bisschen enthält, aber meistens dagegen stimmt, der erweckt den Eindruck, er laufe
Umfragewerten nach, schadet dem Ansehen Deutschlands in der Welt und gefährdet die Sicherheit unserer
Soldatinnen und Soldaten.
({3})
Herr Kollege Otte, einen Augenblick. - Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
({0})
Nein. Herr Ströbele sollte erst einmal versuchen, in
der eigenen Fraktion zu Wort zu kommen.
({0})
Meine Damen und Herren, es sind unsere Soldatinnen
und Soldaten, die einen gefährlichen Auftrag für unser
Land erfüllen müssen. Sie verdienen für ihren tapferen
Einsatz im Kampf in diesem Krieg in Afghanistan unsere volle Rückendeckung. Sie brauchen das notwendige
Gerät, die richtige Ausbildung sowie eine angemessene
und richtige Versorgung im Einsatz und nach dem EinHenning Otte
satz. Die CDU/CSU-Arbeitsgruppe hat hierzu einen Antrag zur Verbesserung der Einsatzversorgung auf den
Weg gebracht.
Auch Soldatinnen und Soldaten aus meinem Bundesland, nämlich Angehörige der 1. Panzerdivision, sind in
Afghanistan. Ich bin unserem Verteidigungsminister,
Herrn zu Guttenberg, auch dafür sehr dankbar, dass er
auf Einladung unseres Ministerpräsidenten David
McAllister diese Kameradinnen und Kameraden in einer
Feierstunde in den Einsatz entsandt hat und damit wieder
einmal ein deutliches Zeichen der Verbundenheit zum
Ausdruck gebracht hat.
Lieber Herr Gabriel, wer meint, in einer solchen Debatte um eine Mandatsverlängerung hier im Plenum aktuelle Vorwürfe in die Diskussion einbringen zu sollen,
sollte bedenken, dass man solche Äußerungen nicht mit
Kalkül, sondern mit Bedacht tätigen sollte. Ich hielt es
nicht für angemessen, dass Sie uns heute diese Diskussion um aktuelle Vorwürfe aufzwingen wollten. Es ist,
wie ich finde, vielmehr wichtiger, dass wir unseren Soldaten mit dem zur Entscheidung stehenden Parlamentsauftrag eine klare Rückendeckung geben und ihnen das
volle Vertrauen für ihren schweren Auftrag aussprechen.
Sie stehen ein für unser Land. Sie verdienen unsere Unterstützung. Deswegen stimmt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dieser Mandatsverlängerung zu.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Djir-Sarai für die
FDP-Fraktion. Bevor ich Ihnen, Herr Djir-Sarai, allerdings das Wort gebe, darf ich Sie einen Augenblick um
Geduld bitten. Der Kollege Ströbele hatte unmittelbar im
Anschluss an die Rede des Kollegen Otte um die Möglichkeit einer Kurzintervention gebeten. Das sollten wir
dann auch sofort abwickeln.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben leider meine Zwischenfrage
nicht zugelassen, nachdem Sie davon gesprochen haben,
dass das, was wir wollen, die Soldaten in Afghanistan in
Gefahr bringt.
Ich stelle fest, dass Sie hier und heute einem Mandat
zustimmen wollen, was für Afghanistan bedeutet, dass
der Krieg ein Jahr fortgesetzt wird - mit einer sicheren
Option für weitere drei Jahre. Im letzten Jahr, im Jahr
2010, hat dieser Krieg weit über 10 000 Opfer in Afghanistan gekostet; weit über 10 000 Menschen wurden in
diesem Krieg getötet. Wenn Sie diesen Krieg jetzt zunächst um ein Jahr und danach noch einmal um drei
Jahre verlängern, nehmen Sie billigend in Kauf, dass
weitere Zehntausende von Menschen in Afghanistan im
Krieg umkommen. Da frage ich Sie und auch alle anderen, die jetzt zustimmen wollen: Wollen Sie das wirklich
in Kauf nehmen, und wollen Sie weiter behaupten, dass
eine Beendigung des Krieges in der Form, dass in allen
Teilen des Landes, in denen das heute schon möglich ist,
ein Waffenstillstand verkündet und eingehalten wird,
({0})
die Soldaten der Bundeswehr mehr in Gefahr bringt als
die Fortführung des Krieges?
Ich habe vorgestern im Auswärtigen Ausschuss den
Außenminister gefragt, wie er zu der Zuversicht kommt,
dass die Sicherheitssituation in Afghanistan in einem
Jahr besser sein wird und dass in vier Jahren die Situation in Afghanistan gut sein wird. Er hat mir darauf
keine Antwort gegeben.
({1})
Die Erfahrungen der letzten Jahre, in denen die Sicherheitssituation in Afghanistan Jahr für Jahr schlechter geworden ist, zeigen doch, dass diese Zuversicht überhaupt
nicht gerechtfertigt ist und es dafür keine entsprechenden Fakten gibt. Deshalb konnte der Außenminister auch
keine nennen.
Ich appelliere heute an Sie, den Krieg nicht fortzusetzen. Deutschland ist zu einer kriegführenden Nation geworden,
({2})
und diese Bundesregierung führt Krieg in Afghanistan.
Das heißt, wir haben eine kriegführende Kanzlerin und
einen kriegführenden Verteidigungsminister, also einen
Kriegsminister.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Djir-Sarai für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seitdem dieses Haus vor fast zehn Jahren das erste
Mal das ISAF-Mandat beschlossen hat, hat sich vieles in
Afghanistan verändert: Mehr als 13 000 Kilometer Straßen wurden gebaut, es wurde in die Infrastruktur investiert, es wurden Schulen gebaut, die medizinische Versorgung und die Energieversorgung wurden verbessert.
Dies alles sind Erfolge für die Menschen in Afghanistan.
Durch den tagtäglichen Einsatz der Bundeswehr und der
Entwicklungsexperten am Hindukusch ist vieles besser
geworden.
Ein wesentlicher Pfeiler unserer Strategie ist und
bleibt daher der zivile Aufbau. Minister Niebel hat in
seiner Regierungserklärung die Erfolge speziell auf diesem Gebiet deutlich herausgestellt. Es ist ein großer Erfolg, dass sich die Situation für die Bevölkerung in Afghanistan, speziell für Frauen und Kinder, deutlich
verbessert hat. Das alles ist erst durch den internationalen Einsatz möglich geworden.
({0})
Während dieses Einsatzes waren und sind wir uns zu
jeder Zeit unserer Verantwortung bewusst: der Verantwortung gegenüber unseren fleißigen und tapferen Soldaten, der Verantwortung gegenüber den Menschen in
Afghanistan und gegenüber der deutschen Bevölkerung.
Wir als Parlamentarier haben mehrheitlich immer verantwortungsvoll auf die Entwicklungen in Afghanistan
reagiert. Wir haben uns ausführlich mit unseren internationalen Verbündeten und mit den Afghanen beraten, sei
es in London, in Kabul oder in Lissabon. Dabei haben
wir wichtige Strategien zur Stabilisierung Afghanistans
und zur globalen Sicherheit entwickelt.
Uns ist eines besonders wichtig: In Afghanistan werden wir keinen Erfolg haben, wenn wir nur einen militärischen Ansatz verfolgen. Neben dem zivilen Aufbau ist
es deshalb ganz besonders wichtig, den Einsatz politisch
zu begleiten, also politische Lösungen zu entwickeln.
Politische Lösungen bedeuten vor allem Gespräche und
Verhandlungen, und zwar auch unter der konsequenten
Einbindung der Nachbarländer Afghanistans. Eine Stabilisierung Afghanistans ist ohne den Dialog mit der gesamten Region nicht möglich. Je besser die politische,
wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektive der Region ist, desto besser sind die Aussichten auf nachhaltige
Stabilität in Afghanistan.
({1})
Weil wir das wollen, arbeiten wir daran, die notwendigen politischen Voraussetzungen dafür zu schaffen.
Bei der heutigen Entscheidung geht es nicht um eine
Einsatzverlängerung, wie wir sie in den letzten Jahren
beschlossen haben. Das muss ganz deutlich herausgestellt werden. Dieses Mal entscheidet dieses Haus über
ein Mandat mit einer klaren Abzugsperspektive und vor
allem mit einer klaren Perspektive für die Zeit nach
2014. Ich begrüße die Einschätzung der Bundesregierung, dass schon Ende 2011 mit der Reduzierung der
Kampftruppen begonnen werden kann, wenn die Sicherheitslage dies zulässt. Diese Perspektive hat die Bundesregierung entwickelt.
({2})
Klar ist aber auch, dass zunächst weiteres militärisches
Engagement benötigt wird, um den zivilen Aufbau weiter abzusichern und um in Afghanistan kein Vakuum zu
hinterlassen. Das ist wichtig für die afghanische Bevölkerung und für unsere Soldaten im Einsatz.
Wir haben ein klares Ziel, wir haben die Sicherheitslage fest im Blick, und wir haben eine gute Perspektive.
Für mich ist daher klar: Die Voraussetzungen für eine
breite Zustimmung zu diesem Mandat sind gegeben.
Herzlichen Dank.
({3})
Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf die
Linke: Es ist schon erstaunlich, dass hier nicht der kommunistische Wolf gesprochen hat, sondern der Schafspelz.
({0})
Ich möchte einige außenpolitische Aspekte beleuchten und klarstellen, warum wir von der Union das Mandat auch aus außenpolitischer Sicht in vollem Umfang
unterstützen.
Die Kollegen Schockenhoff und Ruck und ich waren
vor zwei Wochen in Afghanistan und Pakistan. Wir haben in beiden Ländern mit Parlamentariern und Parlamentspräsidenten gesprochen. Sie haben uns gegenüber
große Erwartungen, aber auch Befürchtungen geäußert.
In beiden Ländern wurde die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass wir bis 2014 komplett abziehen könnten.
Wir haben deutlich gemacht: Wir werden vielleicht
- hoffentlich! - mit den Kampftruppen bis 2014 aus
Afghanistan abgezogen sein; aber keiner weiß, wie sich
das entwickelt. Vor einem Jahr wussten wir auch noch
nicht, wie gut unsere neue Strategie innerhalb eines Jahres greifen würde. Deshalb gilt es, nicht einen Abzugsplan zu erarbeiten, sondern, auch nach Afghanistan und
Pakistan, verbindliche Zeichen zu geben: Wir arbeiten
daran; wir lassen euch und die Region nicht im Stich.
({1})
Ein wichtiger Aspekt ist, dass - auch das ist ein hoffnungsfrohes Zeichen - die zivil-militärische Zusammenarbeit im Norden, in Masar-i-Scharif und in Kunduz, in
beeindruckender Weise funktioniert. Das wurde uns von
den Beteiligten, auch von den Nichtregierungsorganisationen, in umfassender Weise bestätigt. Das ist gut, und
es zeigt, wie konstruktiv sich die Zusammenarbeit entwickelt hat und wie eng wir mit der afghanischen Seite
zusammenarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht mir um zwei
wichtige Punkte: zum einen um die innerafghanische
Perspektive, zum anderen um einen regionalen Aspekt.
Zur innerafghanischen Perspektive. Die Übergabe in
Verantwortung ist ein von Afghanistan selbstbestimmter
Prozess. Wir können Afghanistan nur ermutigen und die
Rahmenbedingungen schaffen. Es ist ein hoffnungsfrohes Zeichen, dass die Afghanen die Agenda für die Bonner Konferenz selbst erarbeiten.
Wie die Afghanen den innerafghanischen Dialog gestalten, ist ihre Sache. Sicherlich gelten dabei aus unserer Sicht rote Linien, zum Beispiel Anerkennung der afRoderich Kiesewetter
ghanischen Verfassung, Gewaltverzicht, Abschwören
der al-Qaida, aber auch Schutz der Frauen und Minderheiten. Den Verlauf des innerafghanischen Prozesses
aber müssen die Afghanen selbst gestalten; wir können
sie nur unterstützen.
({2})
Wir müssen auch darauf achten, dass sich die Taliban
nicht weiter radikalisieren. Dass wir an dieser Stelle mithelfen, ist ganz entscheidend. Wichtig ist, dass unser
Mandat das Zeichen gibt: Die Übergabe in Verantwortung muss unumkehrbar und durchhaltefähig sein.
Der zweite wichtige Punkt, den ich hier ansprechen
möchte, ist die regionale Perspektive. Die Abgeordneten
in Pakistan haben parteiübergreifend berichtet, dass sie
bilaterale Gespräche mit den indischen und den afghanischen Parlamentariern führen. Wir, insbesondere
Dr. Schockenhoff, hat sie ermutigt, einen trilateralen
Dialog zu beginnen. Die Pakistanis wollen das aufgreifen. Was könnte ein schöneres Zeichen sein, als dass aus
der Region heraus ein trilateraler Dialog entsteht und
vielleicht so etwas wie eine regionale Kooperation über
die Parlamente geschaffen wird? Jedenfalls sollten wir
hier die deutsch-pakistanische Freundschaftsgruppe des
pakistanischen Parlaments, die das will, intensiv unterstützen.
({3})
Allein schon deshalb, weil wir diesen regionalen Dialog fördern wollen, dürfen wir nicht abziehen. Wir müssen vielleicht unseren Ansatz ändern und den zivilen
Aufbau stärken. Wir müssen auch Bedingungen dafür
schaffen, dass mehr zivile Aufbauhelfer tätig werden
können; dazu werden wir heute in der Debatte über zivile Krisenprävention noch etwas hören. Aber an all die
Skeptiker in Bezug auf den Einsatz und die Verlängerung appelliere ich: Denken Sie darüber nach, dass wir
mit unserem Einsatz die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der innerstaatliche Dialog in Afghanistan und
der regionale Dialog gestärkt werden!
Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für die Kontaktgruppe brechen. Dank unserem Botschafter Steiner
ist jetzt auch Iran Mitglied der Kontaktgruppe. Damit
sind es nun insgesamt bereits 14 islamische Staaten. Das
nächste Treffen wird in der islamischen Welt, nämlich in
Dschidda, stattfinden. Das ist ermutigend, weil es ein
Zeichen dafür ist, dass sich die islamische Welt an dem
Dialog beteiligt.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal die Kernbotschaften unserer Fraktion darstellen:
Erstens. Wir wollen kein Machtvakuum und kein Sicherheitsvakuum, das bei einem vorschnellen Ende des
Engagements entstehen würde.
Zweitens. Wir wollen die Übergabe in Verantwortung, wie sie international abgestimmt ist, zu einem erfolgreichen Ende führen.
Drittens. Wir wollen uns nicht an Zeitplänen orientieren, sondern an den verantwortbaren Schritten der Übergabe. Hier müssen wir die Afghanen ermutigen und bestärken, aber auch darauf achten, dass Punkte wie
Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung noch
mehr im Fokus der afghanischen Politik stehen.
({4})
Viertens. Das zivil-militärische Engagement muss gestärkt werden. Die Bundeswehr sichert das ab.
Die afghanische Regierung muss ihre Verpflichtungen erfüllen. Darauf müssen wir auch immer wieder
drängen. Wir sind nicht zum Selbstzweck da, sondern
wir sind da, weil die afghanische Regierung das
wünscht, und wir sind so lange da, bis die afghanische
Regierung es alleine kann. Deshalb müssen wir auch die
innerstaatliche Aussöhnung beflügeln und den trilateralen Dialog mit Pakistan und Indien fördern. Ich appelliere an dieser Stelle auch an Indien, dass es gegenüber
Pakistan seine Beziehungen zu Afghanistan wesentlich
transparenter darstellt, um auch dort mehr Vertrauen zu
schaffen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Ziel
ist die selbstverantwortete Sicherheit möglichst ab 2014.
Wenn uns das gelingt, ist das ein Riesenerfolg. Wir können heute aber noch nicht absehen, wie sich die Lage bis
2014 entwickeln wird. Was wir im letzten Jahr erlebt haben, ist ermutigend. Wir müssen so weitermachen und
unserer Bevölkerung das Zeichen geben, dass wir gemeinsam daran arbeiten. Das wissen dann auch unsere
Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfer im Einsatz
zu schätzen.
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Letzter Redner ist der Kollege Florian Hahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir absolut unverständlich,
dass in Talkshows, in Diskussionsrunden und auch von
einem kleinen Teil hier in diesem Hohen Hause immer
wieder behauptet wird, dass die afghanische Bevölkerung den sofortigen Abzug der internationalen Truppen
möchte. Diese Behauptung ist entweder naiv oder vorsätzlich falsch.
({0}): Oder richtig!)
Ich weiß nicht, mit wem diese Leute gesprochen haben, aber ich weiß aus vielen Gesprächen, die ich geführt
habe und führe, beispielsweise mit einem jungen Afghanen, der in Kunduz bei den Parlamentswahlen kandidiert
hat und mit dem ich in einem regen Austausch stehe,
dass die Afghanen vor allem Angst vor einem haben,
nämlich davor, dass sie den Schutz der internationalen
Gemeinschaft von heute auf morgen verlieren und am
Ende wieder völligem Chaos, Terror und Unterdrückung
ausgesetzt sind.
Ich glaube nicht, dass jemand ernsthaft der Meinung
sein kann, dass sich die Frauen, die unter den Taliban
komplett entrechtet waren, diese wieder zurückwünschen. Ich glaube auch nicht, dass die Afghanen wollen,
dass ihre Schulen wieder geschlossen werden. Sie wollen Bildung, sie wollen natürlich eine Gesundheitsversorgung, Wasser- und Stromversorgung, und sie wollen
am Ende des Tages Frieden und Freiheit und in ihrer
Kultur dieses leben.
Es gibt viele Beispiele dafür, wie sich die Situation
der Bevölkerung in Afghanistan durch diesen Einsatz in
den letzten Jahren verbessert hat. Wir haben hier ausführlich darüber gesprochen. Diese Erfolge wollen wir
in keinem Fall preisgeben, sondern stabilisieren und ausbauen. Gelingen kann uns dies derzeit aber nur durch unsere militärische Absicherung. Ohne diese würde das Erreichte schnell wieder in sich zusammenfallen, und die
Aufständischen würden wieder die Oberhand gewinnen.
({1})
Dennoch muss unser Ziel die schrittweise Übergabe
in Verantwortung sein. Dies machen wir im Mandat
deutlich.
Für den zivilen Aufbau verwenden wir viel Geld - bis
zu 430 Millionen Euro jedes Jahr. Diese Mittel müssen
zielgerichtet und nachhaltig eingesetzt werden. Nachhaltigkeit bedeutet hier für mich Hilfe zur Selbsthilfe in
Afghanistan. Bei den geförderten Projekten muss es primär darum gehen, die afghanische Bevölkerung in die
Lage zu versetzen, ihr Land selbst aufzubauen und das
jeweilige Projekt mittelfristig selbstständig zu führen.
Die Menschen müssen ein Interesse daran haben, das,
was sie selbst aufgebaut haben, auch dauerhaft zu erhalten. Hier müssen wir noch mehr Anreize schaffen.
Nehmen wir hier einmal das Beispiel Sicherheitskräfte und stellen wir uns die Frage: Wie können wir
personelle Fluktuation und Korruption in diesem Bereich eindämmen? Meines Erachtens sollten wir weg
von der rein monetären Entlohnung der Sicherheitskräfte
und mehr hin zu einem nachhaltigen Leistungspaket
kommen. Damit meine ich, dass neben pünktlicher
Lohnzahlung weitere Anreize geschaffen werden, beispielsweise durch die Bereitstellung von Wohnraum mit
Wasser- und Stromversorgung und durch den Zugang zu
Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen für die ganze
Familie in einem sicheren Umfeld.
Ist ein Polizist in einem solchen System korrupt, dann
verliert er diesen Status und diese Privilegien. Dies ist
wesentlich schmerzhafter als nur der Verlust eines Monatsgehalts, das er sich im Zweifel dann woanders besorgt. Dieser Ansatz ist in zweierlei Hinsicht nachhaltig
und sinnvoll. Auf der einen Seite entstehen Loyalitäten
zum Staat. Auf der anderen Seite wird wichtige Infrastruktur aufgebaut.
Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan ist steinig.
Wir können nicht hundertprozentig voraussagen, ob wir
das Ziel erreichen werden. Aber eines ist für mich völlig
klar: Der jetzige Weg des vernetzten Ansatzes ist der
einzig gangbare. Ein zu schneller und unüberlegter Abzug würde das bisher Erreichte wieder zunichtemachen.
Das ist weder im Interesse der afghanischen Bürger noch
in unserem Interesse. Denn von Afghanistan darf keine
Gefahr mehr für uns und die internationale Gemeinschaft ausgehen. Das wollen wir mit dem Einsatz am
Hindukusch für uns erreichen.
({2})
Das Engagement, das alle militärischen und zivilen
Kräfte tagtäglich zeigen, hat unsere vollste Wertschätzung und breite Unterstützung verdient. Mir ist dabei im
Zweifel die entrüstete Zustimmung der SPD, wie es der
Kollege Stinner letzte Woche trefflich formuliert hat, lieber als die zustimmende Ablehnung oder Enthaltung der
meisten Grünen.
Sie haben vorhin mehr Klarheit gefordert, Herr
Trittin. Ihre Haltung bzw. die Haltung Ihrer Partei zur
Mandatsverlängerung ist nicht klar. Viele enthalten sich,
die einen sagen Nein, die anderen Ja. Was ist denn mit
der klaren Haltung der Grünen? Nicht zuletzt die Soldaten wollen auch wissen, wie Ihre klare Haltung aussieht.
({3})
Sie fordern einen genauen Plan für die zukünftige
Entwicklung in Afghanistan. Wo war denn der genaue,
klare Plan für den Abzug, als Sie in den Einsatz gegangen sind? Sie sind doch in diesen Einsatz gegangen.
Wir haben jetzt einen klaren Plan, zum Beispiel für
den Aufbau der Sicherheitskräfte in Afghanistan. Wenn
wir diese Meilensteine erreichen, dann können wir auch
Schritt für Schritt die Verantwortung übergeben und
ebenfalls Schritt für Schritt aus Afghanistan abziehen.
Für unsere Soldaten im Einsatz ist es wichtig, dass
wir ihnen die notwendige und verdiente Rückendeckung
geben. Stimmen Sie für diese Mandatsverlängerung! Unseren Soldatinnen und Soldaten und allen Einsatzkräften
wünsche ich bei ihrem Tun Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Heike
Hänsel das Wort.
Danke schön, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr
Kollege Hahn, Sie haben wie sämtliche Vorredner einschließlich Herrn Trittins gesagt, die NATO würde die
Lebenssituation der Menschen in Afghanistan verbessern. Deshalb frage ich Sie: Würden Sie erstens zur
Kenntnis nehmen, dass der Einsatz von Streubomben,
von weißem Phosphor, dass gezielte Tötungen, EntfühHeike Hänsel
rungen und die Vorfälle in Abu Ghureib keine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen darstellen, sondern dass sie das als Terror wahrnehmen? Würden Sie
zweitens zur Kenntnis nehmen, dass Sie in Afghanistan
ein Warlord-System mit Kriegsverbrechern in wichtigen
Funktionen aufbauen, die jahrzehntelang das Land terrorisiert haben
({0})
und die Menschen genauso bedrohen wie zuvor die Taliban,
({1})
und dass sie sich deswegen gegen dieses System wehren,
das Sie dort installieren? Mohammed Atta, der Gouverneur von Masar-i-Scharif und der Gouverneur von Kunduz: All das sind Kriegsverbrecher. Die Menschen in
Afghanistan wissen, wie sie mit ihnen umgegangen sind
und was sie zu verantworten haben. Dass Sie zu denen
beste Beziehungen pflegen, können sie doch nicht gutheißen.
({2})
Wir haben eine afghanische Delegation von zehn Personen eingeladen. Sie sollten einmal hören, was diese
Menschen zu berichten haben. - Ich komme zum
Schluss. - Ich habe gestern den Auswärtigen Ausschuss,
den Entwicklungsausschuss und den Menschenrechtsausschuss eingeladen, sich anzuhören, was die Afghaninnen und Afghanen zu sagen haben. Es ist bis auf den
Kollegen Leibrecht niemand gekommen. Das empfinde
ich wirklich als beschämend. Sie haben kein Interesse an
der Lebenssituation der afghanischen Bevölkerung.
({3})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich
schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der
Drucksache 17/4561 zum Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO. Zur Beschlussempfehlung des Ausschusses
liegen mir zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung nach
§ 31 der Geschäftsordnung vor, die wir dem Protokoll
dieser Debatte beifügen.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung, den Antrag auf Drucksache 17/4402 anzunehmen.
Über diese Beschlussempfehlung stimmen wir jetzt
namentlich ab. Ich darf darum bitten, dass Sie darauf
achten, ob die Stimmkarten, die Sie verwenden, auch tat-
sächlich Ihren Namen tragen. Darf ich die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer bitten, mir ein Signal zu geben,
1) Anlagen 2 bis 8
wenn die Urnen besetzt sind? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Gibt es noch eine Kollegin oder einen Kollegen, die
bzw. der ihre bzw. seine Stimmkarte nicht abgegeben
hat? - Das ist nicht erkennbar. Dann schließe ich die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis
der Abstimmung geben wir Ihnen später bekannt.2)
Ich darf Sie nun bitten, wieder Platz zu nehmen, weil
wir eine Reihe weiterer Abstimmungen und anschließend, wie Sie wissen, einen Wahlgang durchzuführen
haben. - Könnten Sie, Herr Kollege Solms, mir vielleicht behilflich sein, den Fanclub, der sich um Sie herum versammelt hat, und Sie, Frau Kollegin Ernstberger,
auch Ihren Freundeskreis auf die noch hinreichend vorhandenen Sitzplätze zu verteilen? - Herr Kollege
Kauder, können wir jetzt mit den Abstimmungen fortfahren?
({0})
- Ich bedanke mich.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Ich rufe zunächst den Entschließungsantrag der SPD-
Fraktion auf der Drucksache 17/4563 auf. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf der Drucksache 17/4564 auf. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag
ebenfalls mit Mehrheit abgelehnt.
Ich komme zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/4585.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthal-
ten? - Auch dieser Entschließungsantrag hat keine
Mehrheit gefunden.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Wahl des Bundesbeauftragten für die Unterla-
gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemali-
gen Deutschen Demokratischen Republik
Bevor ich den Wahlgang aufrufe, bitte ich einen Au-
genblick um Aufmerksamkeit für einige Bemerkungen
zu diesem Anlass und insbesondere zur amtierenden Be-
auftragten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf den Tag
genau vor 24 Jahren, am 28. Januar 1987, forderte
Michail Gorbatschow in seiner Rede „Über die Umge-
staltung und die Kaderpolitik der Partei“ auf dem Ple-
num des Zentralkomitees der KPdSU tiefgreifende poli-
tische Reformen. Perestroika und Glasnost begannen die
Welt zu verändern. In der DDR ließ das SED-Politbüro-
mitglied und damalige Chefideologe Kurt Hager darauf-
2) Ergebnis Seite 9902 D
Präsident Dr. Norbert Lammert
hin verlautbaren - Zitat -: „Würden Sie, … wenn Ihr
Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet
fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Jedes Land wähle seine Lösung. - Er hat recht behalten,
wenn auch anders als erwartet.
Auf den Tage genau drei Jahre nach Gorbatschows
Rede, am 28. Januar 1990, tagte in Ostberlin der Zentrale Runde Tisch und beschloss die Vorverlegung der
Wahl zur ersten freien Volkskammer auf den 18. März
1990, deren Ergebnis uns schließlich als demokratisch
gewähltes gesamtdeutsches Parlament zusammengeführt
hat.
Sehr geehrte Frau Birthler, nach der Wahl des neuen
Beauftragten endet im März nach über zehn Jahren Ihre
Amtszeit als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des
Ministeriums der Staatssicherheit der ehemaligen DDR.
Die Stasi-Unterlagen-Behörde trägt heute ebenso selbstverständlich Ihren Namen wie dies vor einem Jahrzehnt
der Name Ihres Vorgängers war. Die verdienstvolle Arbeit der Behörde verdankt sich vielen engagierten Mitarbeitern, deren Einsatz ich aus Anlass des Wechsels an
der Spitze ausdrücklich würdigen möchte.
({1})
Die Behörde braucht wie jede andere - manche meinen vielleicht auch, wie keine andere sonst - einen Kopf,
der dem Thema in der Öffentlichkeit zu der Aufmerksamkeit verhilft, die es verdient. Ihnen, Frau Birthler, ist
das im vergangenen Jahrzehnt vorbildlich gelungen, mit
großer Empathie für die Opfer der SED-Diktatur, die ihr
eigenes Schicksal rekonstruieren wollen, und mit der gebotenen Konsequenz in der Sache, wenn es darum ging,
Geschichts- und Lebenslügen zu widerlegen.
„Es geht nicht nur um das Schicksal von 17 Millionen
DDR-Bürgern“, haben Sie immer wieder gesagt, „sondern es geht mit diesem gesamteuropäischen Thema
auch um den prinzipiellen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie“. Der prinzipielle Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, das ist immer Ihr
Thema gewesen. Als ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin
haben Sie großen Wert darauf gelegt, dass in den Stasiakten nicht nur die Rede davon ist, was Menschen einander antun, sondern auch davon, wie großartig sich Menschen selbst unter den Bedingungen einer Diktatur
verhalten können, dass man es eben nicht nur mit Quellen der Kontrolle und der Repression zu tun hat, sondern
auch mit Zeugnissen der Nichtanpassung, des Mutes und
der Zivilcourage. Dies ist ein Aspekt, der als Zukunftsressource unserer Zivilgesellschaft noch weit mehr Beachtung verdient als bisher.
Sie, liebe Frau Birthler, haben sich um dieses Anliegen große Verdienste erworben. Wir sind Ihnen dazu zu
großem Dank verpflichtet. Für Ihren weiteren Lebensweg wünsche ich Ihnen alles Gute.
({2})
Ich rufe nun den Wahlgang auf.
Die Bundesregierung hat zum Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema-
ligen Deutschen Demokratischen Republik Herrn
Roland Jahn vorgeschlagen.
Ich gebe Ihnen einige Hinweise zum Wahlverfahren.
Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird
der Bundesbeauftragte auf Vorschlag der Bundesregie-
rung vom Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfte
der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt. Zu sei-
ner Wahl sind also mindestens 312 Stimmen erforder-
lich.
Die blauen Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt.
Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt
noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten
zu erhalten.
Außerdem benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis
aus Ihrem Stimmkartenfach. Bitte achten Sie unbedingt
darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Na-
men trägt.
Die Wahl findet offen statt. Sie können die Stimmkar-
ten also an Ihrem Platz ankreuzen. Stimmkarten, die
mehr als ein Kreuz oder kein Kreuz, andere Namen oder
Zusätze enthalten, sind ungültig.
Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen wer-
fen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einer der
Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer an den
Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl
kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht
werden.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, da-
rauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe tatsächlich der
Wahlausweis übergeben wird.
Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, die vorgegebenen Plätze einzunehmen und mir zu
signalisieren, wenn alle Wahlurnen besetzt sind. - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich den Wahl-
gang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit-
glied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht
abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe
ich den Wahlgang. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Wahl geben wir Ihnen später bekannt.1)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
1) Ergebnis Seite 9905 A
Präsident Dr. Norbert Lammert
Kopfpauschale in der Pflege verhindern - Humane und solidarische Pflegeabsicherung gewährleisten
- Drucksache 17/4425 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Inge
Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Umsetzung des neuen Pflegebegriffs ({4})
- Drucksachen 17/2219, 17/3012 Zu der Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Frau Senger-Schäfer für die Fraktion
Die Linke.
({5})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
sage Ihnen: So geht das nicht! Wer gute Pflege benötigt,
muss in jedem Fall, egal ob arm oder reich, sehr gute
Qualität erhalten.
({0})
Das sieht die Mehrheit der Menschen in diesem Land
übrigens genauso. Aber der Bundesregierung ist das anscheinend egal; denn sie schweigt und ergeht sich grundsätzlich in Floskeln. Daher möchte ich Sie auffordern:
Erklären Sie das mal den Pflegebedürftigen und ihren
Angehörigen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, ich sage es noch einmal: So geht das nicht!
Die Menschen haben ein Recht darauf, von der Regierung zu erfahren, wohin ihre Reise geht.
({1})
Dies gilt besonders für einen so sensiblen Bereich wie
die Pflege.
Stellen Sie sich einmal vor: Die eigene Mutter,
87 Jahre alt, muss ins Krankenhaus, weil sie auf dem
Glatteis ausgerutscht ist. Nach erfolgreicher Operation
steht jetzt die Entlassung an. Was vorher schon vermutet
wurde, ist nun bittere Realität - jetzt besteht Gewissheit -:
Entlassungsdiagnose Demenz. Schnell wird klar: Die
Mutter kann ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen.
Sie braucht Pflege und Betreuung. Die Angehörigen sind
fast immer überfordert; denn die Mutter läuft nachts verwirrt allein über die befahrene Straße, um zum Beispiel
einkaufen zu gehen. Wer, werte Kolleginnen und Kollegen, traut sich denn zu, seine Angehörigen in einer solchen Situation rund um die Uhr zu versorgen? Genau darum geht es.
In solchen Fällen zahlt die Pflegeversicherung fast
nichts. Grund ist der enge Pflegebegriff, der allein auf
körperliche Verrichtung abstellt. Ob Pflegebedürftigkeit
gegeben ist, richtet sich allein nach der Minutenzahl, die
nötig ist für die alltäglichen Verrichtungen wie zum Beispiel Nahrungsaufnahme, das An- und Auskleiden und
das Waschen.
Es geht hierbei nicht um den speziellen Betreuungsbedarf eines Menschen, der nachts in seiner Verwirrtheit
sogar zu seiner eigenen Bedrohung wird. Spätestens an
diesem Punkt müsste die Bundesregierung doch einsehen, dass die bestehenden Regelungen völlig unzureichend sind.
({2})
Die Linke wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen
das Prinzip „Still, satt und sauber“.
({3})
Die jetzige Pflegeversicherung grenzt Menschen von
Leistungen aus. Damit muss jetzt endlich Schluss sein.
({4})
Aber Sie schauen weg und suchen auch aus wahltaktischen Gründen nach immer neuen Ausreden. Die Linke
will, dass dieses Thema endlich auf die Tagesordnung
kommt. Ihre ausweichenden Antworten auf unsere Frage
lassen nun verschiedene Schlussfolgerungen zu.
Erstens. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat gar
keine Ahnung, wie sie den neuen Pflegebegriff umsetzen
will.
Zweitens. Vielleicht haben Sie gar kein Interesse daran, diesen neuen Pflegebegriff umzusetzen.
Drittens. Sie wollen möglichst eine kostenneutrale
Schmalspurversion des Pflegebegriffs.
Die Bundesregierung agiert damit nach dem Prinzip:
von der linken Tasche in die rechte Tasche. Es gibt faktisch nicht mehr Geld. Dann muss, wenn zum Beispiel
für Menschen mit Demenz zu Recht mehr ausgegeben
wird, bei anderen Pflegebedürftigen zu Unrecht gekürzt
werden.
({5})
Das nehmen wir so nicht hin.
({6})
Wenn Abgeordnete der Union meinen, den Himmel
auf Erden könne es in der Pflege nicht geben, dann darf
das nicht bedeuten, dass wir Missstände nicht sofort beenden, wenn wir sie erkennen. Das kann doch nicht sein.
({7})
Was heißt das in der Praxis? Sie wollen die Kopfpauschale in der Pflegeversicherung. Bislang heißt das
Monster in Ihren Worten verpflichtende, individualisierte und generationsgerechte Pflegezusatzversicherung. Heute lesen wir in den Zeitungen, dass Sie sich
auch darüber schon nicht mehr einig sind und dabei auch
nicht wissen, welchen Weg Sie gemeinsam als Regierungskoalition gehen wollen.
({8})
Klären Sie uns doch einmal auf - dazu haben Sie dann
Zeit -, und schenken Sie uns bitte reinen Wein ein.
({9})
Wenn sich aber diese Wahnsinnspläne von den Kolleginnen und Kollegen der Union und der FDP durchsetzen, dann gibt es kein Zurück mehr; denn dann entstehen
Ansprüche und Anwartschaften aufgrund privater Verträge, die nicht so einfach rückgängig zu machen sind.
Wie immer belasten Sie damit allein die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen und die Hartz-IV-Beziehenden. Die
Arbeitgeber bleiben wieder einmal außen vor.
({10})
Die Linke ist in diesem Fall völlig anderer Meinung.
Wir brauchen einen umfassenden neuen Pflegebegriff.
Der Vorschlag liegt seit 2009 auf dem Tisch. Jetzt
kommt es auf den politischen Willen an. Statt „Still, satt
und sauber“ heißt es für uns: Teilhabe und Selbstbestimmung.
({11})
Die Begutachtung muss sich am individuellen Bedarf
ausrichten. Pflegeleistungen müssen finanziell angemessen ausgestattet sein. Deshalb tritt die Linke für die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung auch in
der Pflege ein.
({12})
Nur so können wir die vielen Probleme, die sich im
Pflegebereich und in anderen Bereichen stellen, mit den
pflegebedürftigen Menschen, den Angehörigen und den
Beschäftigten lösen. Menschen, die im Alter Pflege
brauchen, gehören selbstverständlich zu unserer Gesellschaft.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Das sind meine letzten beiden Sätze. - Wie human
eine Gesellschaft ist, sieht man daran, wie man mit den
Schwächsten umgeht. Darüber, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Regierung, sollten Sie nachdenken.
Danke.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege
Johannes Singhammer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Weil wir hier über einen Antrag der Linken debattieren, sage ich: Die Pflegeversicherung ist nicht auf der
Suche nach dem Weg zum Kommunismus gefunden
worden,
({0})
sondern die Pflegeversicherung ist die Frucht der sozialen Marktwirtschaft.
({1})
Die Fundamente der Pflegeversicherung sind von CDU/
CSU und FDP gelegt worden.
Die Pflegeversicherung hat folgende Grundlagen:
praktizierte Nächstenliebe für Menschen, denen es
schwerfällt, sich selbst zu helfen, Wertschätzung und
Respekt für die Älteren, Einstehen der Gesunden und
Leistungsfähigeren für Kranke und Schwächere. Dieses
Fundament trägt nach wie vor.
Weil die Nachfrage groß ist, müssen wir das Gebäude
Pflegeversicherung erweitern. Die drei zusätzlichen
Stockwerke sind:
Erstens: Leistungsanpassung. Wer fachkundige Menschen mit Herzensbildung für die Pflege gewinnen will,
muss sie ordentlich, gut und entsprechend ihrer Leistung
bezahlen.
({2})
Zweitens. Wir brauchen eine Neuinterpretation des
Begriffs „Pflegebedürftigkeit“, um vor allem mehr Demenzkranke gut und besser versorgen zu können.
Drittens. Wir brauchen den Aufbau eines Kapitalstocks, um vor allem den Jüngeren Leistungen garantieren zu können, wenn sie im Alter selbst auf Unterstützung hoffen.
({3})
Gleichzeitig stehen wir vor großen demografischen
Herausforderungen. Während in Deutschland heute rund
2 Millionen Pflegebedürftige umsorgt werden, werden
es nach aller Voraussicht im Jahr 2020 schon fast
3 Millionen Menschen sein, und in den folgenden Jahren
werden es auch nicht weniger werden. Diese Entwicklung vollzieht sich bei einer gleichzeitig schrumpfenden
Bevölkerungszahl, die uns ohnehin zunehmend vor
große Herausforderungen stellt.
Union und FDP haben im Koalitionsvertrag eine klare
Perspektive für den Ausbau der Pflegeversicherung entwickelt, die wir in diesem Jahr in Gesetzesform gießen
wollen. Dabei gelten folgende Leitlinien: Im Mittelpunkt
steht derjenige, der Pflege braucht. Das kann - das
macht die Bedeutung dieser Debatte aus - im Laufe eines Menschenlebens fast jeder sein. Um den Stürmen
der Demografie trotzen zu können, brauchen wir eine
Erweiterung - das Haus „Pflegeversicherung“ braucht
dieses zusätzliche Geschoss -: Erstmals müssen auch in
der gesetzlichen Pflegeversicherung Reserven gebildet,
muss Geld auf die hohe Kante gelegt werden. Wir brauchen einen Kapitalstock. Im Koalitionsvertrag heißt es:
generationengerecht, obligatorisch und individuell. Das
gilt genau so, wie wir es im Koalitionsvertrag festgelegt
haben.
({4})
- Passen Sie auf! Ganz ruhig!
Damit ziehen wir die Konsequenzen daraus, dass eine
rein umlagefinanzierte, lohnabhängige Pflegeversicherung an ihre Grenzen stoßen wird. In diesem und in den
nächsten Jahren ist die Pflegeversicherung solide finanziert. Aber wir müssen - das zeichnet kluge Politik aus auch für den Zeitraum vorsorgen, in dem sehr viele
Menschen pflegebedürftig werden können. Deswegen
werden wir einen Kapitalstock aufbauen. Wir werden
ihn so ausgestalten, dass vier Ziele erreicht werden:
Erstens müssen die Mittel sozial gerecht aufgebracht
werden. Niemand darf dabei überfordert werden. Deshalb müssen wir insbesondere darauf achten, dass ein
solcher Kapitalstock auch für sozial Schwächere finanzierbar ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ferner?
Ich gestatte die Zwischenfrage gern, schlage aber vor:
Hören Sie sich erst einmal meine vier Punkte an
({0})
und fragen Sie dann nach.
({1})
Zweitens wollen wir eine unbürokratische Lösung.
Wir wollen nicht allzu viel bürokratischen Aufwand bei
der Erhebung und Verwaltung der Mittel.
({2})
Der bürokratische Aufwand muss in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag stehen. Es würde wenig Sinn
machen, wenn wir einen erheblichen Anteil der Mittel
für die Bürokratie aufwenden müssten.
Drittens ist es, denke ich, angesichts der Haushaltslage realistisch, mit nicht allzu großen Zuschüssen aus
dem Bundeshaushalt zu kalkulieren.
Viertens - das ist ganz wichtig - muss die Kapitalreserve zukunftsfest gestaltet werden. Sie muss - das ist
vor allem für die Jüngeren ganz entscheidend - vor allen
Zugriffen des Staates geschützt sein, sie muss sozusagen
in einem Tresor eingeschlossen sein.
({3})
Es steht allerdings nirgendwo, dass eine solche Rücklage vererbt werden kann oder dass sie bei Nichtnotwendigkeit eines Pflegebedarfs zurückgezahlt wird. Das ist
im Übrigen auch das Prinzip der privaten Vorsorge, der
privaten Krankenversicherung. Auch da gibt es kein
Recht auf Vererbung. Wichtig ist, dass dieser Kapitalstock sicher bleibt, und zwar genau für den Zweck, für
den er angelegt worden ist. - So, Frau Ferner.
Frau Kollegin, bitte schön.
Sie haben, wie den Tickermeldungen heute zu entnehmen ist, gestern gesagt, dass Sie quasi eine kollektive
Reserve aufbauen wollen. Das beißt sich ein bisschen
damit, Herr Singhammer, dass Sie zunächst gesagt haben, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag weiterhin Bestand haben. Vielleicht kann Herr Lanfermann,
der ja schon dagegen geschossen hat, das gleich in seiner
Rede aufklären. Würden Sie, Herr Singhammer, der
Öffentlichkeit sagen, dass der Aufbau einer Kapitalreserve, in welcher Form auch immer, bedeutet, dass es
jetzt eine Beitragsanhebung gibt, um in Zukunft eine
Beitragsanhebung zu vermeiden?
({0})
Können Sie der staunenden Öffentlichkeit auch erzählen,
wie stark die Beiträge erhöht werden und ob die Beiträge
abhängig vom Einkommen erhoben werden oder ob Sie
auch da eine Kopfpauschale einführen wollen?
Liebe Frau Kollegin Ferner, ich habe Ihnen gerade die
Grundsätze unseres Kapitalstocks beschrieben. Dieser
Kapitalstock wird - auch das kann ich Ihnen ankündigen gemeinsam von der Koalition beschlossen werden; wir
werden gemeinsam zu Lösungen kommen. Wir werden
die Lösungen so gestalten, dass sie sozial gerecht sind,
({0})
dass sie finanzierbar sind und vor allem dass sie genau
das erreichen, was die Jüngeren erwarten, nämlich dass
für sie im Alter vorgesorgt wird. Ich sage noch etwas
dazu: Wir werden das in diesem Jahr regeln. Wir werden
nicht warten wie Sie in den vergangenen Jahren, als Sie
an der Regierung waren. Wir werden das jetzt machen,
weil wir wissen: Je länger wir warten, desto schwieriger
wird es, eine Lösung zu finden.
({1})
Unabhängig vom Kapitalstock müssen die Pflegeleistungen regelmäßig an die Kostenentwicklung angepasst
werden; ansonsten verlieren die Leistungen der Pflegeversicherung immer wieder an Wert. Das werden wir
tun. Es ist in der bisherigen Gesetzeslage so angelegt.
Den Grundsatz „Stationär bzw. Reha vor Pflege“ - dieser ist uns wichtig - wollen wir konsequent durchsetzen.
Für ältere Menschen sind gerade diese Leistungen besonders wichtig.
Der heute geltende Begriff der Pflegebedürftigkeit
trägt der Situation von Menschen mit eingeschränkter
Bewegungs- und Selbstversorgungsmöglichkeit nur unzureichend Rechnung und belastet immer mehr die Angehörigen. Deshalb müssen wir insbesondere die Zeitkontingente so regeln, dass eine menschliche Pflege,
dass auch Zuwendung bei der Pflege möglich ist. Wir
wollen zu einer Kultur des Vertrauens kommen, gerade
auch was das Verhältnis zwischen Pflegekräften und den
zu Pflegenden betrifft, und wir müssen von dem immer
wieder aufkommenden Misstrauen, das diese Beziehung
und die Pflege belastet, Abschied nehmen.
Ich sage hier aber auch: Dies alles gibt es nicht zum
Nulltarif. Es muss bezahlt werden, aber auch bezahlbar
sein. Wenn man die Vorschläge, die Sie von den Linken
hier machen, betrachtet, kann man nur sagen: Sie versprechen das Blaue vom Himmel.
({2})
Was wollen Sie alles? Den Pflegebedürftigen, den Angehörigen und dem Pflegepersonal wird alles Mögliche
versprochen, insbesondere eine 25-prozentige Anhebung
der Sachleistungsbeträge und eine individuelle Pflegeassistenz. Zu der Frage, wer das bezahlen soll, schweigen
Sie sich aus.
({3})
Allein diese Forderung - von den anderen habe ich noch
gar nicht gesprochen - bedeutet, dass die Beitragssätze
um mindestens 0,3 Prozentpunkte angehoben werden
müssten.
({4})
- Wahrscheinlich, Herr Kollege Lanfermann, wesentlich
mehr.
Wenn wir auch die anderen Vorschläge, die Sie machen, umsetzen würden, dann betrieben wir eine Politik
nach dem Motto „Nächste Ausfahrt Griechenland“. Das
wollen wir nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({5})
Wir wollen auch nicht, dass irgendwelche Pläne diskutiert werden, die auf Rücklagen zurückgreifen, die in der
privaten Pflegeversicherung in der Tat und auch zu
Recht vorbildlich angehäuft worden sind. Denn dort
funktioniert das Prinzip der Rücklagenbildung.
({6})
Sie jedoch haben vor, dort in die Kasse zu greifen. Das
geht allerdings nicht. Denn durch Art. 14 Grundgesetz
sind die Rücklagen geschützt.
Alles in allem sind die Rechnungen, die Sie vorschlagen, Rechnungen, die Sie gar nicht bezahlen können.
Wir hingegen wecken keine Erwartungen, die wir nicht
auch erfüllen können.
({7})
Wir machen mit einer durchgerechneten Finanzierung,
einem klaren Plan und vor allem einem entschlossenen
Anpacken seriöse Politik.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf die Debatte
für einen Moment unterbrechen und Ihnen die Ergebnisse der namentlichen Abstimmung und der Wahl mitteilen.
Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan“ bekannt:
abgegebene Stimmen 579. Mit Ja haben gestimmt 420,
mit Nein 116, Enthaltungen gab es 43. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 579;
davon
ja: 420
nein: 116
enthalten: 43
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({4})
Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Nadine Schön ({10})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Ludwig
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({17})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({18})
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({21})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({22})
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Martin Gerster
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({23})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Hubertus Heil ({24})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Frank Hofmann ({25})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({26})
Steffen-Claudio Lemme
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Petra Merkel ({27})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({28})
Michael Roth ({29})
Marlene Rupprecht
({30})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({31})
Ulla Schmidt ({32})
Silvia Schmidt ({33})
Carsten Schneider ({34})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ottmar Schreiner
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({35})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({36})
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({37})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({38})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({39})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({40})
Cornelia Pieper
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Serkan Tören
({41})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({42})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({43})
Cornelia Behm
Hans-Josef Fell
Priska Hinz ({44})
Tom Koenigs
Omid Nouripour
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Daniela Wagner
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({45})
Dr. Peter Gauweiler
Manfred Kolbe
Norbert Schindler
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Dr. Peter Danckert
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({46})
Daniela Kolbe ({47})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Gerold Reichenbach
Sönke Rix
Werner Schieder ({48})
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Kerstin Tack
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff
({49})
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({50})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Monika Lazar
Agnes Malczak
Ingrid Nestle
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Enthalten
SPD
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Swen Schulz ({51})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
FDP
Joachim Günther ({52})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({53})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Ulrike Höfken
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Oliver Krischer
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({54})
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({55})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({56})
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
({57})
Ich gebe Ihnen nun das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl des
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher-
heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik bekannt: Mitgliederzahl 622, abgegebene
Stimmen 579, gültige Stimmen 577. Mit Ja haben ge-
stimmt 535 Abgeordnete,1)
({58})
mit Nein haben gestimmt 21 Abgeordnete, Enthaltungen 21.
Herr Roland Jahn hat damit die erforderliche absolute
Mehrheit der Stimmen erreicht. Er ist damit zum Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gewählt.
Lieber Roland Jahn, ich gratuliere Ihnen dazu außerordentlich herzlich und wünsche Ihnen alles Gute, Vernunft und Augenmaß für dieses so wichtige, notwendige
und sensibel zu führende Amt. Alles Gute!
({59})
Wir setzen damit die Debatte zu unserem jetzigen Tagesordnungspunkt fort, und ich erteile Kollegin Hilde
Mattheis für die SPD-Fraktion das Wort.
({60})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hätte gerne damit begonnen, Herr Singhammer, Sie zu
loben.
({0})
Aber nach Ihren Ausführungen bleibt mir nur, Sie zu fra-
gen: Haben Sie den Mut, das, was Sie richtigerweise
denken, in Ihrer Fraktion und Ihrer Koalition auch
durchzusetzen? Eine Individualisierung des Risikos ist
nämlich nicht mit dem zu vereinbaren, was Sie vorgetra-
gen haben. Es geht darum, Menschen zu unterstützen,
die unserer Hilfe bedürfen. Also, haben Sie den Mut, das
durchzusetzen?
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 9
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich in
meinen Ausführungen vor allen Dingen auf den Pflegebedürftigkeitsbegriff konzentrieren. Das ist ein Punkt,
der uns von der SPD immer am Herzen lag, und wir meinen, dass dieser nach der Reform des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes als Nächstes einer Reform bedarf.
Denn dieser Begriff wird seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 diskutiert, und zwar zu Recht: Er
gilt als viel zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch ausgerichtet. Hauptkritikpunkt ist dabei,
dass wichtige Aspekte der sozialen Teilhabe unberücksichtigt bleiben.
Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla
Schmidt hat schon 2006 gesagt, dass wir daran arbeiten
wollen, und hat einen Beirat einberufen, der schon 2009
die ersten sehr konkreten Ergebnisse vorgelegt hat,
orientiert am Teilhabeanspruch pflegebedürftiger Menschen. Wir alle hier im Hohen Hause waren uns einig,
dass das ein richtiger, wichtiger Schritt ist, der unsere
Unterstützung verdient. In der Vergangenheit hat sich
die gesamte Fachwelt wie wir im Ausschuss - ich sage
es noch einmal - für diese Verbesserung der Definition
des Pflegebedürftigkeitsbegriffes eingesetzt und sie als
nächsten wichtigen Reformschritt benannt. SchwarzGelb hat im Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009
formuliert, dass es zu den Reformschritten gehört, „eine
neue, differenziertere Definition der Pflegebedürftigkeit“ zu finden, will aber die Auswirkungen neuer Ansätze nur „überprüfen“. Da sage ich Ihnen: Das ist uns
viel zu wenig.
({2})
Der Minister lädt zu Gesprächsrunden zum Bürokratieabbau und zu anderen wichtigen Themen ein. Herr
Minister, ich glaube aber, dass Gesprächsrunden alleine
nicht reichen. Die Menschen wollen, dass Taten folgen.
Es geht nicht darum, nur zu diskutieren, sondern auch
darum, zu entscheiden.
({3})
Wir wollen eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, weg von der Minutenpflege, hin zu einem neuen
Begutachtungssystem, das bei der Teilhabe ansetzt und
vor allen Dingen - das ist der nächste wichtige Schritt die speziellen Bedürfnisse von Kindern, insbesondere
geistig behinderter Kinder, und von Menschen mit psy9906
chischen und kognitiven Beeinträchtigungen berücksichtigt. Das ist für uns wichtig.
Wir wollen deshalb von Ihnen wissen, wie weit die im
Koalitionsvertrag angekündigte Überprüfung durch das
Ministerium vorangeschritten ist und welche weiteren
Bausteine die Regierung bei der Unterstützung von Pflegebedürftigen und Pflegenden auf der Grundlage des
wichtigen Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes vorsieht.
An dieser Stelle sage ich: Herzlichen Dank an den
Beirat für seine Arbeit. Wir brauchen diese Unterstützung. Es ist gut, dass sich die Fachwelt einig ist und wir
im politischen Prozess, auch hier im Parlament, das umsetzen können, worüber die Fachwelt unstreitig diskutiert.
({4})
Wir brauchen ein ganzheitliches Konzept zur Pflege.
Deshalb frage ich Sie, Herr Rösler: Was macht die Bundesregierung, um die Situation der häuslichen Pflege zu
verbessern? Was macht die Bundesregierung, um die Situation bei den Arbeitsplätzen und der Ausbildung in der
Pflege zu verbessern? Was macht die Bundesregierung,
um die Prävention, die Reha und das Versorgungsmanagement zu verbessern? Was macht die Bundesregierung, damit die Kommunen die nötige Infrastruktur
aufbauen können?
({5})
Zuletzt: Was will die Bundesregierung tun, damit Pflege
finanzierbar ist?
Herr Singhammer, es muss unser gemeinsames Interesse sein, dass Starke für die Schwachen da sind. Das ist
ein sehr christlicher Ansatz. Ich habe die CSU öfter einmal so verstanden, dass das ihr Grundsatz ist. Ich hoffe
doch sehr, dass Sie bei diesem Anliegen den Worten Taten folgen lassen.
Herr Rösler, es ist Zeit, dass etwas passiert. Die Pflegepolitik ist kein Bereich, in dem es um Eitelkeiten geht.
Es geht vielmehr darum: Wie kann man den Menschen
helfen? Ich fordere Sie auf: Greifen Sie die Empfehlungen des Beirates auf. Wehren Sie sich gegen die Versuche der Einführung eines Pflegebegriffs light. Seien Sie
so souverän, zu sagen: Meine Vorgängerin Ulla Schmidt
hat bei der Pflege Gutes getan; wir knüpfen daran an.
({6})
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDPFraktion.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier über insgesamt zwei Vorlagen der Linksfraktion. Ich muss Ihnen
ganz ehrlich sagen: Nachdem Sie vorhin in diesem
Hause so eindrucksvoll bewiesen haben, dass Sie mit der
Bewältigung der eigenen Vergangenheit nicht zurechtkommen,
({0})
zeigen Sie mit diesen Vorlagen, dass Sie auch nicht zur
Bewältigung der Probleme der Gesellschaft in der Zukunft in der Lage sind.
({1})
Sie verlangen in Ihrem Antrag zunächst einmal eine
25-prozentige Steigerung aller Leistungen. Wenn alles
um 25 Prozent teurer wird, heißt das, dass der Beitragssatz nicht mehr 2 Prozent, sondern 2,5 Prozent beträgt;
so weit werden Sie mir sicherlich noch folgen können.
Dass Sie darüber hinaus noch sechs Wochen bezahlte
Pflegezeit und einen erheblichen Ausbau der Infrastruktur fordern, macht die Sache noch teurer.
({2})
Ganz am Ende Ihres Antrages betrügen Sie auch noch
die Rentner;
({3})
man kann sich nur noch aussuchen, ob die heutigen oder
die zukünftigen. Sie wollen, dass Rentner in der Pflegeversicherung nur noch den halben Beitragssatz zahlen
und der Rest von der Rentenversicherung getragen wird.
Was glauben Sie eigentlich, wer die Rentenversicherung
ist, die das bezahlen soll?
({4})
Wer so vorgeht, muss entweder die Renten kürzen oder
die Beitragssätze erhöhen; so viel zur freien Auswahl.
Minister Rösler hat das Jahr 2011 aus guten Gründen
zum Jahr der Pflege ausgerufen. Wir in der Koalition
wollen gemeinsam in der Tat viele Dinge angehen. Es
gibt eine Reihe von Themen oder, wie man so sagt, Baustellen. Alles ist dem Ziel untergeordnet, auch in Zukunft - „Zukunft“ ist das entscheidende Wort -, und
zwar auch in ferner Zukunft, zu gewährleisten, dass alle
Menschen, die Hilfe und Pflege brauchen, in den Genuss
einer guten Pflege kommen und eine gute Versorgung erhalten.
Sie werden ja wohl nicht kritisieren, dass der Minister
jetzt viele Gespräche führt; das tun natürlich auch die
Fraktionen. Aber es geht immer der Reihe nach: erst reden, dann denken und prüfen, dann entscheiden und
dann handeln.
({5})
So viel Geduld, zu warten, bis wir in dieser natürlichen
Reihenfolge vorgegangen sind, müssen Sie schon haben.
({6})
Natürlich gehört dazu auch die Neudefinition des Begriffes „Pflegebedürftigkeit“; das ist richtig. Ihre längeren Ausführungen dazu, Frau Kollegin Mattheis, waren
eigentlich gar nicht nötig. Wir alle waren uns in diesem
Hause einig, dass das in die richtige Richtung geht und
ein guter Ansatz ist. Wir alle haben dem Beirat schon
mehrfach gedankt. Nur, eine Expertise, auch eine gute,
ist noch kein Gesetzentwurf. Dazwischen muss noch ein
bisschen Arbeit geleistet werden. Auch hier muss man
prüfen: Was kann man umsetzen? Wie viel kostet es?
Was die Kosten betrifft, will ich Ihnen sagen, Frau
Kollegin: Sie haben ausgeführt, man brauche ein ganzheitliches Konzept. Ich sage Ihnen: Das braucht nicht
nur ein Minister und nicht nur eine Koalition, sondern
auch eine Opposition, die ernst genommen werden will.
Auch Sie müssen ganzheitlich denken und vortragen.
Dazu gehört auch der Aspekt der Finanzierbarkeit.
({7})
Denn die Pflege ist der gesellschaftliche Bereich, in dem
sich der demografische Wandel am deutlichsten bemerkbar macht.
({8})
Der demografische Wandel führt dazu, dass wir immer weniger Jüngere - damit auch immer weniger Beitragszahler -, aber immer mehr Ältere in unserem System haben. Je älter ein Mensch wird, desto größer ist das
Risiko, pflegebedürftig zu werden. Dieses Risiko steigt
nicht etwa linear, sondern exponentiell. Deswegen muss
man sich mit den zukünftigen Herausforderungen befassen, und deswegen machen wir uns so viele Gedanken
über die Frage: Wie soll es weitergehen, auch im Hinblick auf die Finanzierung?
In den Jahren, in denen ich mich mit der Pflegepolitik
und der Pflegeversicherung beschäftigt habe, habe ich
gelernt, dass jedes Wort, das ein bisschen anders klingt,
und jede Überlegung, wie man mit den Problemen fertig
werden kann, sehr schnell zu Missverständnissen führen.
Das liegt insbesondere daran, dass Sie von der Opposition Ihre politische Arbeit leider zu wenig darauf konzentrieren, uns fertige Konzepte vorzulegen; das haben
Sie schon im letzten Jahr beim GKV-Finanzierungsgesetz eindrucksvoll bewiesen. Sie legen uns immer nur
Fragmente und Bruchstücke vor. Dies gilt auch mit Blick
auf das beliebte Stichwort „Bürgerversicherung“. Zu
diesem Thema haben Sie uns bisher nur Häppchen vorgelegt, immer verbunden mit dem Versprechen, irgendwann komme ein ganzheitliches Konzept.
Nein, Sie verbringen einen Großteil Ihrer Zeit und Ihrer Medienarbeit damit, immer wieder Spekulationen in
die Welt zu setzen. Sie haben zum Beispiel bei der Gesundheitsfinanzierung als Beitrag, den die Bürger demnächst zahlen müssten, jeden Betrag zwischen 18 und
30 oder 50 und 180 Euro in die Diskussion geworfen.
Nichts davon stimmte. Gestern wurde uns sogar vorgehalten, das hätte die Koalition gemacht und damit alle
verwirrt. So weit ist es mit der Verwirrung in Ihren Köpfen schon gekommen. Nein, nein, es war die Opposition,
die dauernd irgendwelche Zahlen erfunden hat, die nie
eine Substanz hatten. Der Minister hat zwar dauernd gesagt: „Es stimmt nicht; es ist wesentlich geringer und
auch im Konzept ganz anders vorgesehen“, aber Sie
wollten es nicht glauben. Ähnlich wird es bei der Pflegeversicherung sein.
Da will ich doch noch einmal auf eines hinweisen:
Wenn Sie wirklich den Anspruch erheben wollen, dieses
Zukunftsproblem bewältigen zu können, dann bitte ich
Sie, eines zu bedenken: Es gibt - Kollege Singhammer
hat schon einige Zahlen genannt - ungefähr 2,3 Millionen Pflegebedürftige. In 20 Jahren wird die Zahl um die
Hälfte höher sein; in 40 Jahren werden es doppelt so
viele sein, nämlich ungefähr 4,6 Millionen.
Da der durchschnittliche Pflegefall dann nicht weniger Geld kosten wird, müssen Sie zumindest in einem
ersten Ansatz davon ausgehen, dass die Kosten in
40 Jahren doppelt so hoch sein werden. Wenn der durchschnittliche Beitragssatz heute bei ungefähr 2 Prozent
liegt, dann wird er allein aus diesem Grund schon 4 Prozent betragen.
Wir wollen ja den Pflegebedürftigkeitsbegriff ernst
nehmen. In diesem Zusammenhang hat der Beirat gesagt: Es gibt vier verschiedene Szenarien, und das teuerste davon kostet 3,6 Milliarden Euro. - Ich sage Ihnen
aufgrund meiner Lebenserfahrung, dass es da auch ungefähr landen wird. Nimmt man also 3 Milliarden Euro
hinzu, bedeutet das 0,3 Beitragspunkte mehr. Das heißt,
der Beitragssatz läge, wenn wir jetzt nur die Demenz
und sonst nichts berücksichtigen, bei 2,3 Prozent. In
40 Jahren läge er, wenn wir bei dem jetzigen Umlagesystem blieben, bei 4,6 Prozent.
Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, der leider auch
ins Geld geht. Wir wissen aufgrund der Schätzung ungefähr, wie viele Menschen Leistungsempfänger sein werden und wie viel das kosten wird. Wir wissen leider
auch, dass es nicht bei der gleichen Zahl von Beitragszahlern bleiben wird, sondern dass diese Zahl aufgrund
der demografischen Entwicklung zurückgehen wird.
({9})
- Passen Sie auf; das ist wichtig. - Wenn eine kleinere
Zahl von Menschen eine gleich hohe Summe aufbringen
muss, die einen bestimmten Prozentsatz vom Lohn beträgt, dann steigt der Prozentsatz. Das heißt, der Beitragssatz liegt dann nicht nur bei 4,6 Prozent, sondern ist
noch höher. Dem Problem müssen Sie sich stellen.
({10})
Die Menschen, die heute 20 bis 50 Jahre alt sind, sind
im Jahre 2051 60 bis 90 Jahre alt. So weit können Sie sicherlich alle folgen. Das heißt, wenn Sie für die Altersgruppe der heute 20- bis 50-Jährigen - ich greife jetzt
nur einmal diese heraus; Sie können auch noch ein paar
hinzunehmen; das spielt nicht die entscheidende Rolle etwas machen wollen, dann müssen Sie berücksichtigen,
dass es dann, wenn sie 60 bis 90 sind, noch weniger
junge Beitragszahler gibt, die das in einem Umlagesystem bewältigen könnten.
Dies ist übrigens auch bei einer Bürgerversicherung
so; denn bei einer Bürgerversicherung geht es ja darum,
einen Teil der Einnahmen nicht aus dem Lohneinkommen, sondern auch aus dem sonstigen Einkommen zu erhalten. Man behält aber das Umlageprinzip bei, dessen
Problem ja ist, dass weniger Menschen einzahlen und
viele Menschen etwas herausbekommen wollen. Das
muss ja finanziert werden. Das Umlagesystem ist auf
Dauer nicht geeignet, diese Lasten zu schultern, jedenfalls nicht alleine. Deswegen brauchen wir das Kapitaldeckungsprinzip, das besagt, dass etwas angespart wird.
Das war ja bei Ihrer Zwischenfrage interessant. Natürlich kostet Sparen, damit man später mehr hat, erst einmal Geld. Ich dachte eigentlich, das wäre selbstverständlich. Das kann man doch nicht kritisieren.
Wir müssen heute den jüngeren und mittleren Jahrgängen sagen: Wir brauchen diese zusätzliche Säule der
Pflegeversicherung mit Kapitaldeckungsprinzip, mit
Geld, das man anlegt. - Dass das angelegte Geld sicher
ist, dafür sorgen bei uns Gesetze und die Aufsicht.
({11})
- Die Anlagen sind doch in der Wirtschaftskrise nicht
verloren gegangen. Sie müssen doch einmal den Wirtschaftsteil der Zeitung lesen.
({12})
Ich kann Ihnen nur versprechen: Diese Jahrgänge
werden dann auch für sich selber sorgen können. Das ist
auch nötig, weil es dann nämlich jüngere Jahrgänge in
ausreichender Zahl, die für sie sorgen können, nicht
mehr gibt. Das ist Vorsorge. Es ist vorausschauende
Politik, auch einmal auf vierzig Jahre zu achten und
nicht nur bis zum nächsten Wahltag zu schauen, wie wir
es von Ihnen hier vorgeführt bekommen.
({13})
Selbstverständlich hat der Kollege Singhammer recht,
dass man eine solche Lösung so unbürokratisch wie
möglich ausgestaltet - das ist auch gar kein Problem; das
werden wir Ihnen anbieten - und dass man sie zukunftsfest macht.
({14})
Übrigens ist das nicht mit der Riester-Rente vergleichbar. Bei Riester sparen Sie nämlich Geld an, damit Sie
im Alter für eine bestimmte Zeit etwas ausgezahlt bekommen, das Sie verbrauchen können. Das geht bei der
Pflegeversicherung prinzipiell nicht, weil Sie gar nicht
wissen, ob Sie irgendwann im Alter pflegebedürftig werden. Deshalb müssen Sie also sozusagen auf einen Versicherungsfall hinarbeiten.
({15})
Warum es sinnvoll ist, dass man die individuelle Vorsorge an die Person bindet, ist bereits erklärt worden:
Das hat mit Art. 14 des Grundgesetzes zu tun und damit,
dass man misstrauisch sein muss, ob Politiker nicht Erspartes auch einmal für etwas anderes verwenden. Das
wollen wir verhindern.
({16})
Und wir müssen es verhindern, weil es Politiker gibt, die
auf fremdes Geld zugreifen wollen. Das erleben wir bei
Ihren Versuchen - Stichwort: Bürgerversicherung -, an
die Rücklagen derjenigen zu kommen, die in der privaten Kranken- und Pflegeversicherung Geld angespart haben.
({17})
Sie schielen ja immer darauf und überlegen sich, wie Sie
es vereinnahmen können.
Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Es war leider keine Punktlandung. Der Kollege hatte
schon deutlich überzogen.
({0})
Nunmehr hat Kollegin Elisabeth Scharfenberg für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, was ist denn da los? Ich dachte
schon, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Da
wurde ich heute Morgen mit der Meldung geweckt, dass
die Koalition endlich auf den Pfad der Vernunft zurückkehre
({0})
und sich von der privaten Zusatzversicherung in der
Pflege verabschiede.
({1})
Vor ein paar Minuten aber flattert eine Erklärung aus
Ihrem Haus, Herr Minister, auf unseren Schreibtisch mit
dem Inhalt, das sei noch gar nicht geklärt. Dafür waren
die Meldungen in den Zeitungen aber sehr eindeutig.
({2})
Weiter heißt es: Es hätten noch keine politischen Beratungen dazu stattgefunden. Noch nicht einmal Beratungen! Das müssen wir uns wirklich auf der Zunge zergehen lassen.
({3})
Herr Singhammer, ich frage Sie: In welchem Paralleluniversum waren Sie da unterwegs?
({4})
Die Meldungen heute waren sehr deutlich und sehr klar,
und sie gab es nicht nur in einem Medium, sondern in etlichen.
Meine Damen und Herren, was wird das hier? Wissen
Sie von der Koalition nun, was Sie wollen,
({5})
oder wissen Sie es nicht? Ich bin wirklich fassungslos
angesichts dieses unwürdigen Theaters, das Sie der Bevölkerung und auch diesem Hause hier vorspielen. So
einfach geht es nicht!
Als Sie im Jahr 2009 Ihren Koalitionsvertrag verhandelten, da konnten Sie vor lauter Kraft kaum laufen.
Ganz besoffen waren Sie von Ihren Fantasien von Kapitaldeckung und Individualisierung. Und jetzt, mit einem nüchternen Blick und einem ordentlichen schwarzgelben Kater, haben Sie endlich verstanden, was Sie sich
da eingebrockt haben.
({6})
Sie haben endlich verstanden, dass eine private Zusatzversicherung - anders gesagt: eine Kopfpauschale - sozial ungerecht ist. Sie haben endlich verstanden, dass das
Ganze mehr Bürokratie verursacht als alles andere.
({7})
Und Sie haben endlich verstanden, dass der Sozialausgleich mit Steuern, von dem Sie immer so gerne erzählt
haben, nicht finanzierbar ist und auch nicht funktionieren würde.
({8})
Oder - das frage ich mich jetzt - haben Sie es doch
nicht verstanden? Wenn Sie nämlich bei dem bleiben,
worauf Sie sich im Koalitionsvertrag geeinigt haben,
dann profitiert davon ausschließlich die private Versicherungsindustrie, die sich ja schon seit Unterzeichnung
des Koalitionsvertrages angesichts der satten Gewinne,
die schon für sie bereitstehen, feixend die Hände reibt.
Ich richte daher den dringenden Appell an Sie: Verkaufen Sie sich und die Pflegebedürftigen in unserem Land
nicht so billig! Bekennen Sie sich hier und jetzt eindeutig dazu, dass Sie sich von diesem Unsinn im Koalitionsvertrag ein für allemal verabschieden! Ich hätte auch
gern die Bestätigung des Herrn Ministers. Die Aussage
von Herrn Singhammer ist ja schön und gut, aber eine
offizielle Bestätigung des Ministers gegenüber der Bevölkerung und diesem Hause fände ich mehr als angemessen, um keine weitere Verunsicherung zu schaffen.
({9})
Meine Verblüffung geht noch weiter. Dass jetzt sogar
Herr Singhammer das Konzept von uns Grünen übernehmen will, finde ich gut.
({10})
Angeblich - man weiß ja nicht, was man glauben soll will die Koalition eine kollektive Kapitalreserve aufbauen. Es ist bekannt, dass wir Grüne bereits seit vielen
Jahren für dieses Modell eintreten. Wir nennen sie solidarische Demografiereserve. Wenn Sie das anders nennen möchten, soll uns das recht sein; Hauptsache ist, Sie
verstehen das Prinzip und setzen es dann auch um.
({11})
Die Idee ist, im bestehenden System einer solidarischen Pflegeversicherung einen Teil der Beitragsmittel,
die die Versicherten je nach Leistungskraft einzahlen,
beiseitezulegen.
({12})
Aus dieser Rücklage, die von der Versichertengemeinschaft gemeinsam und solidarisch aufgebaut wird, können die steigenden Pflegekosten in einer alternden Gesellschaft abgefedert werden. All das geschieht dann
eben nicht nach dem Motto „Jeder für sich“, sondern solidarisch. Das ist sozial gerecht. Das ist gerechter gegenüber den Beitragszahlern der Zukunft, die wir mit den
Kosten der Zukunft, die auch wir verursachen werden,
nicht alleinlassen wollen.
Sie sollten Ihrem Herzen einen Stoß geben und den
letzten Schritt machen! Sie wissen so gut wie wir, dass
die Trennung von sozialer und privater Pflegeversicherung ungerecht und darüber hinaus nicht begründbar ist.
Es kann nicht sein, dass sich weiterhin 10 Prozent der
Bevölkerung in diesem Land aus der Solidarität in die
private Pflegeversicherung verabschieden können. Die
10 Prozent haben nicht nur im Durchschnitt mehr Einkommen und mehr Wohlstand, sondern sie tragen auch
ein geringeres Risiko, im Alter pflegebedürftig zu werden.
Die beiden Systeme müssen zusammengeführt werden. Solidarität bedeutet, dass sich alle Bürgerinnen und
Bürger daran beteiligen müssen.
({13})
Deswegen brauchen wir eine Pflegebürgerversicherung.
In dieser Bürgerversicherung brauchen wir eine solidarische Demografiereserve, wie ich sie gerade beschrieben
habe.
Zumindest einige von Ihnen haben den Mut gezeigt,
sich von den unsinnigen Einigungen im Koalitionsvertrag zu verabschieden. Bringen Sie nun auch den Mut
auf, diesen Weg konsequent weiter und auch bis zum
Ende zu gehen! Ich hoffe - und warne Sie eindringlich
davor -, dass dieser gute und richtige Kurswechsel nicht
nur ein Täuschungsmanöver ist. Sie werden doch wohl
nicht vorhaben, den Wählerinnen und Wählern vor den
diversen Landtagswahlen, die in den nächsten Wochen
auf uns zukommen, ein bisschen Wohlfühlpolitik anzukündigen und dann am Ende alles wieder ganz anders zu
machen.
({14})
Ankündigungen haben wir von Ihnen für den Bereich
der Pflegepolitik wahrlich genug gehört in den letzten
Wochen. Diese Schlafwagenpolitik muss endlich aufhören.
Die Kolleginnen und Kollegen der Linken haben mit
einigen Punkten in ihrem Entschließungsantrag, bei dem
wir uns übrigens enthalten werden, völlig recht. Wir
warten dringend auf die Einlösung Ihres Versprechens,
die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes umzusetzen. Die wissenschaftlichen Empfehlungen für diese elementar wichtige Reform liegen seit nunmehr zwei Jahren auf dem Schreibtisch. Dort verstauben sie jetzt. Auch
diese elementare Reform muss jetzt endlich angepackt
werden.
Wir warten weiterhin auf die Familienpflegezeit, mit
der die Ministerin Schröder seit gut einem Jahr hausieren
geht. Bis heute liegt uns kein Gesetzentwurf vor.
({15})
Dass wir von diesem Konzept nicht viel halten, damit
haben wir nicht hinter dem Berg gehalten. Trotzdem
wäre es schön, wenn Sie uns endlich etwas Handfestes
auf den Tisch legen würden, damit die Politik der Ankündigung zu einer Reform führt.
({16})
Wir warten ferner auf die Reform der Pflegeausbildung, die Sie, Herr Rösler, uns seit Monaten ankündigen. Wir warten auch weiterhin auf die Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in der Pflege; auch das
kündigen Sie uns seit Monaten an, Herr Minister.
({17})
Kurzum: Sagen Sie jetzt klar, verbindlich und unmissverständlich, was Sache ist, und eiern Sie nicht herum! So sehr uns Ihr Kurswechsel bestätigt und auch
freut,
({18})
so sehr beharren wir darauf, dass Ihre Ankündigungsund Verunsicherungspolitik in der Pflege endlich beendet wird.
({19})
Klar ist: Einen falschen Plan in den Papierkorb zu werfen, heißt noch lange nicht, dass der Schreibtisch aufgeräumt ist.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit der Finanzierungsreform
der gesetzlichen Krankenversicherung hat diese Koalition bereits bewiesen, dass sie Probleme anpacken und
vernünftige Lösungen finden kann. Wenn Sie unseren
Koalitionsvertrag in der Öffentlichkeit ständig missinterpretieren - ich könnte auch sagen: manipulieren -, dann
ist das Ihr Problem.
({0})
Da können wir Ihnen nicht helfen. Ich weiß auch nicht,
auf welchem Boot und mit welchem Kurs Sie heute fahren. Unser Kurs ist klar: Wir werden auch in diesem Jahr
vernünftige Lösungen in Bezug auf die Finanzierung
bzw. die Reform der Pflegeversicherung und vor allen
Dingen für die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen und menschenwürdigen Pflege vorlegen.
({1})
All das, was Sie beschreiben, sind Ihre Interpretationen
und hat nichts mit dem zu tun, was wir wollen. Wir haben nie Kopfpauschalen für die Pflege gefordert. Eine
Kollegin hat hier angesprochen, wir hätten eine Individualisierung des Pflegerisikos geplant. Ich weiß nicht,
was Sie lesen; in unserem Koalitionsvertrag finden Sie
das jedenfalls nicht.
({2})
Sollten die Prognosen recht behalten, dann wird die
Zahl der Menschen, die - aus unterschiedlichen Gründen pflegebedürftig sind, bis zum Jahr 2050 auf rund 4 Millionen gestiegen sein. Ein großer Teil dieser Menschen
wird an Demenzerkrankungen leiden. Fachleute rechnen
damit, dass jede zweite Frau und jeder dritte Mann irgendwann im Laufe seines Lebens von einer Demenz betroffen sein wird.
Gerade deshalb ist es für uns sehr wichtig, zu prüfen,
ob unser heutiges Pflegewesen in den zentralen Punkten
zukunftsfest ist. Zentrale Punkte sind die Ausbildung
und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte in unserem
Land, die Betreuungssituation pflegebedürftiger Menschen sowohl in den Heimen als auch im familiären, im
häuslichen Umfeld und die Sicherstellung der Finanzierung. Wir wollen und müssen dieses System zukunftsfest
gestalten und werden die dazu notwendigen Änderungen
im System vornehmen. Wir haben heute die Chance, das
im Sinne eines soliden und zukunftsorientierten Pflegewesens zu tun; denn wer heute handelt, wird die sich abzeichnenden Entwicklungen positiv beeinflussen können.
Wir haben uns in den vergangenen Wochen intensiv
mit der Lebenssituation pflegebedürftiger Menschen beschäftigt und werden das in diesem Jahr auch weiterhin
tun. Wir hinterfragen die Ausbildungs- und Arbeitssituation unserer Pflegekräfte, wir werden die häusliche
Pflege stärker unter die Lupe nehmen, und wir werden
uns der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
widmen.
({3})
Last, but not least geht es auch um eine solide Finanzierung. Diese könnte mit dem, was die Linksfraktion
uns heute vorgelegt hat, überhaupt nicht gewährleistet
werden. Herr Lanfermann, in dem Paket ist noch mehr
enthalten, als Sie erwähnt haben; die Linke will nämlich
die Teilabsicherung zu einer Vollabsicherung machen. In
dem Fall könnte man die Kosten und Ausgaben multiplizieren. Das zeigt, wie unrealistisch Teile dieses Parlaments an dieses Thema herangehen.
({4})
Wir wollen eine Reform mit Langzeitwirkung. Das
gelingt uns nur gemeinsam mit den Menschen, für die
dieses System bestimmt ist. Deshalb werden wir auch
nicht mit der Finanzierungsdebatte beginnen, sondern
zunächst mit den Menschen reden, die Pflege betrifft.
Das sind alle pflegebedürftigen Menschen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte. Ihnen hören wir zu, und dann
handeln wir. Das ist eine sinnvolle Vorgehensweise.
Deshalb hat Minister Dr. Rösler auch im Dezember letzten Jahres damit begonnen, den Pflegedialog mit den Beteiligten zu führen.
Mit den Expertinnen und Experten und mit den Betroffenen haben wir zunächst über den Fachkräftemangel
gesprochen. Denn wir alle wissen doch, was eine gute
Pflege ausmacht und dass sie mit gut ausgebildeten
Fachkräften und entsprechend verfügbaren Betreuungskräften steht und fällt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert?
Ja.
Frau Staatssekretärin, habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass Sie die Ergebnisse der Gohde-Kommission, die ja jahrelang getagt hat und von Ihrer Regierung
eingesetzt wurde, im Grunde genommen wegschmeißen
und jetzt von vorne anfangen, um herauszukriegen, was
ein vernünftiger Pflegebegriff ist? Wenn das der Fall
sein sollte, dann haben Sie die Menschen, die das wirklich brauchen, bitter enttäuscht.
Herr Seifert, ich weiß nicht, ob Sie mir in den letzten
Minuten richtig zugehört haben.
({0})
Ich habe zum Begriff der Pflegebedürftigkeit gesagt,
dass wir das angehen und daran arbeiten, dies umzusetzen.
({1})
- Entschuldigung, jetzt bin ich dran.
Ich will und kann Sie hier ganz beruhigen. Der Minister hat den ehemaligen Vorsitzenden des Beirats und die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Mitglieder
des Beirats bereits wieder eingeladen, um genau die
Schwierigkeiten bei der Umsetzung zu besprechen und
nach Lösungen zu suchen; denn es reicht nicht, auf ein
Papier zu verweisen, aber den Übergang in die Realität
zu vernachlässigen. Wir arbeiten intensiv daran, und
zwar gemeinsam mit den Expertinnen und Experten, die
diese gute Grundlage geschaffen haben.
({2})
Wir wollen dafür sorgen, dass die Pflegeberufe endlich die Anerkennung erhalten, die sie verdienen.
({3})
Dazu gehört vor allen Dingen auch, dass die Berufsausbildung in der Pflege moderner und attraktiver gestaltet
wird. Wir wollen die Qualifikation in den Pflegeberufen
breiter anlegen. Das ist gerade für die Motivation in der
Pflege und für eine Lebensperspektive in diesem Beruf
wichtig. Daran wollen wir arbeiten.
({4})
Wir haben dies im Koalitionsvertrag beschlossen und
wollen das im Rahmen eines neuen Pflegeberufsgesetzes
angehen, in dem die Ausbildungsinhalte für die Pflegeberufe neu definiert werden. Geplant ist, die Ausbildung
in der Altenpflege, in der Gesundheits- und Krankenpflege und in der Kinderkrankenpflege zusammenzuführen. Damit geben wir gerade den Absolventinnen und
Absolventen dieses Ausbildungsfeldes mehr berufliche
Entwicklungsmöglichkeiten an die Hand.
({5})
Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese wird bis März dieses Jahres Eckpunkte
und damit eine Grundlage für das Gesetz erarbeiten.
Wir halten die Zusammenführung der Ausbildung in
den Pflegeberufen zu einem gemeinsamen Ausbildungsstrang deshalb für erforderlich, weil wir heute die Kernkompetenzen für die Pflege älterer Menschen ja nicht
nur in Pflegeheimen oder bei der häuslichen Pflege, sondern genauso in Krankenhäusern und anderen, neuen
Wohnformen benötigen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die umfassende und zeitgemäße Ausbildung unserer Nachwuchskräfte ist ein wichtiger Bereich, aber hier dürfen wir mit
unseren Anstrengungen nicht aufhören. Genauso wichtig
ist es, dass wir eine gute Bezahlung für die Pflegekräfte
erreichen. Wir haben mit dem Mindestlohn für die Pflegehilfskräfte begonnen. Das ist eine Absicherung nach
unten.
({6})
Es kann und muss aber auch einen angemessenen Anstieg nach oben geben.
({7})
Gerade die Einrichtungen wissen nur zu gut, wie wichtig
genau diese Arbeitsbedingungen sind, um qualifizierte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an sich zu binden; denn
sie suchen händeringend nach entsprechenden Fachkräften.
Der Bedarf wird weiter zunehmen. Die Gründe dafür
liegen auf der Hand. Die meisten Menschen wollen so
lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung, in ihrem gewohnten Umfeld, versorgt werden. Deshalb ist
gerade die häusliche Betreuung auch ein zentraler Punkt
für eine zukunftsgerichtete Pflege. Wir wissen aber, dass
das traditionelle Familienbild, in dem der Spruch gilt:
„Gepflegt wird zu Hause“, aufgrund der unterschiedlichsten Entwicklungen in der Gesellschaft und hinsichtlich der familiären Strukturen von vielen Menschen
heute nicht mehr so gelebt werden kann, wie sie das vielleicht gerne tun würden. So werden wir zwar immer älter, gleichzeitig ist die Zahl der Kinder rückläufig, und
es gibt mehr Singlehaushalte als früher.
Deshalb hat die Bundesregierung gehandelt, und wir
handeln weiter. Wir haben die Beschäftigungsordnung
geändert. Damit haben wir dafür gesorgt, dass auch ausländische Haushaltshilfen pflegerische Alltagsverrichtungen und die Betreuung bei uns legal durchführen können. Das ist ein klares Beispiel dafür, dass wir uns mit
unseren Vorstellungen hinsichtlich einer guten Pflege an
den Wünschen der Betroffenen ausrichten.
Diese Wünsche erfährt man, indem man vor Ort und
mit den Betroffenen im Gespräch ist. Deshalb werden
wir diesen Pflegedialog auch fortsetzen. Minister Rösler
hat für Februar zum zweiten Pflegedialog eingeladen.
Ich finde es ausgesprochen wichtig und richtig, dass
auch die pflegenden Angehörigen als diejenigen, die die
Hauptlast physisch und psychisch aushalten müssen, in
den Pflegedialog mit einbezogen werden.
({8})
Diese Menschen pflegen, trösten und schenken Zeit und
Liebe, oft bis zur eigenen Erschöpfung. Genau diesen
Menschen wollen wir helfen. Wir wollen sie in ihrem
Engagement unterstützen und gemeinsam mit ihnen
überlegen, wie passende Hilfsangebote für sie aussehen
können, damit sie nicht nur auf dem Papier bestehen,
sondern auch von ihnen angenommen werden.
({9})
Auch andere Initiativen sind unterstützenswert. Sie
haben das Thema Familienzeit angesprochen. Ich verweise zum Beispiel auf das hervorragende Modell der
Zeitspende. Damit können sozial verantwortliche Unternehmen ihren Beschäftigten anbieten, sich zeitweise um
die Betreuung und Unterstützung von pflegebedürftigen
Menschen zu kümmern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rawert?
Ja, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben davon gesprochen,
dass ausländische Haushaltshilfen nun auch pflegerische
Grundtätigkeiten ausüben dürfen. Sind Sie der Meinung,
dass die gesetzlichen Grundlagen im Hinblick auf die
Arbeitnehmerfreizügigkeit, die für die neuen EU-Beitrittsländer am 1. Mai in Kraft tritt, ausreichen?
Ich habe eine zweite Frage. Die Bundesregierung hat
den Ersten Gleichstellungsbericht überreicht bekommen,
der eine Frauenquote, die Einführung des Mindestlohns
und die Aufhebung des Ehegattensplittings empfiehlt.
Welche Bedeutung hat der Gleichstellungsbericht für
den Bereich Pflege, insbesondere für die Situation pflegender Angehöriger?
Zunächst zur Freizügigkeit, Frau Kollegin Rawert.
Die Freizügigkeit ab dem Frühjahr wird noch mehr
Möglichkeiten bieten, dass auch ausländische Pflegekräfte, Hilfskräfte und Betreuungskräfte in Deutschland
tätig sein können. Die rechtlichen Bedingungen für eine
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind gegeben.
Wir wissen, dass viele Menschen, die derzeit teilweise auch illegal Menschen aus dem europäischen Ausland beschäftigen, ein großes Bedürfnis nach Hilfestellung haben. Deshalb sind diese Themen Bestandteil der
Pflegedialoge.
Wir wollen mit den im Inland Beschäftigten, den Organisationen, den Pflegeverbänden, aber auch mit den
Angehörigen nach Problemlösungen suchen, damit wir
dem Bedarf an Unterstützung im Haushalt - oft ist Verfügbarkeit rund um die Uhr notwendig - stärker Rechnung tragen können. Diese Fragen beraten wir zurzeit.
Wenn wir gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen,
dann werden wir sicherlich dem Parlament in diesem
Jahr entsprechende Lösungen unterbreiten.
Zu Ihrer zweiten Frage, welche Bedeutung die Gleichstellung in der Pflege hat. Pflege ist weiblich. Nicht nur
die Beschäftigten, sondern auch die Betroffenen sind
aufgrund der höheren Lebenserwartung in der Regel
Frauen. Ich habe das vorhin insbesondere für den Bereich der Demenz ausgeführt.
Wir wissen, dass auch die pflegenden Angehörigen
häufig Frauen sind. Es geht uns darum, die Strukturen
und Bedingungen insgesamt zu verbessern, damit die
Hauptlast nicht bei den Frauen liegt. Aber wir müssen
die Ursachen angehen.
Deshalb müssen wir entsprechende Einstufungen vornehmen und den allgemeinen Betreuungsbedarf stärker
berücksichtigen. Es geht um die Vernetzung der Angebote gerade auch in den verschiedenen Wohnformen, damit den Anliegen der Betroffenen stärker Rechnung getragen werden kann.
Was die pflegenden Frauen zu Hause angeht, ist es
sehr wichtig, dass sie auch ihre Erfahrungen im Alltag
verarbeiten können und Hilfe und Unterstützung erhalten, um mit dieser verantwortungsvollen, befriedigenden, aber auch sehr schwierigen Aufgabe fertigzuwerden. In diesem Sinne verlaufen die Gespräche. Wir
werden Ihnen im Parlament von den Ergebnissen berichten und entsprechende Maßnahmen einleiten.
Dass uns die Qualität sehr wichtig ist, damit die gute
Pflege auch weiterhin gesichert wird, sehen Sie daran,
dass wir uns nicht mit der Situation im Zusammenhang
mit der Pflege-Transparenzvereinbarung abfinden. Wir
werden dem Parlament gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen einen Vorschlag unterbreiten, damit das geltende Recht, das noch von der Vorgängerregierung unter
der Großen Koalition verabschiedet wurde, möglichst
schnell geändert wird, damit wir zu Entscheidungen
kommen, die für mehr Transparenz und letzten Endes
mehr Qualität in der Pflege sorgen können.
Ich habe zu dem Themenkomplex der Demenz und
der Herausforderungen für die entsprechenden betreuerischen Fähigkeiten, aber auch für die Einbeziehung von
Unterstützung gerade dann, wenn es sich nicht um Verrichtungen dreht, sondern wenn es um die Betreuung
und Begleitung geht, gesprochen, und deshalb wird sich
die Diskussion der kommenden Wochen und Monate
sehr stark auf die Entwicklung sachgerechter Strukturen
und Angebote richten; denn wir wollen dem Anspruch,
den Menschen in dieser besonderen Lebenssituation zu
helfen, gerecht werden.
Versorgungsforschung, also die Frage, wie Versorgung für Menschen mit Demenz aussehen muss, ist uns
ganz wichtig; denn hier sind große Defizite vorhanden.
Der Leuchtturm, den die Bundesregierung mit einem
großen Forschungsprojekt unterstützt hat, bietet auch
hier gute Grundlagen für die Entwicklung neuer Angebotsformen. Wir werden diese Auswertung zur Grundlage nehmen, um unsere Entscheidungen sachgerecht
voranzubringen.
Um all dies gewährleisten zu können, brauchen wir
eine solide Finanzierung. Kollege Lanfermann hat das
Prinzip der Kapitaldeckung erläutert. Es ist ein Sparen in
guten Zeiten für die Zeiten, in denen ein größerer Bedarf
vorhanden ist. Das ist etwas, was Sinn macht, was nottut
und was unserer Gesellschaft guttut. Wir werden auch in
diesem Punkt den Koalitionsvertrag erfüllen und Ihnen
die Vorschläge unterbreiten. Aber auch hier gilt: Sorgfalt
vor Schnelligkeit. Die Pflegeversicherung ist in ihrem
Bestand bis zum Jahr 2014 finanziert. Deshalb werden
wir uns dieses Jahr nehmen, um gute Ergebnisse für die
Menschen in unserem Land zu erreichen. Wir nehmen
die Herausforderungen im Dialog mit den Menschen an.
Dazu wünsche ich uns konstruktive Beratungen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal muss auch ich einräumen, dass
ich Herrn Singhammer heute gerne gratuliert hätte. Aber
es gibt offenbar keinen Anlass. Ich bin mir nicht im Klaren darüber, was gilt. Ich will aber klar sagen: Wenn Ihr
Ansatz der war, dass eine individualisierte Kapitaldeckung unsinnig ist, dann hätten Sie damit recht, ohne
Wenn und Aber. Diese Übung haben wir schon einmal
gehabt. Das ist eine kleine Zusatzversicherung, die einen
hohen bürokratischen Aufwand bringt und bei der die
Abschlusskosten so hoch sind, dass man die ersten
20 Jahre einzahlt, um die Abschlusskosten zu decken,
sodass selbst die private Assekuranz, die privaten Krankenversicherungen, an dieser Versicherung kein Interesse haben. Die ist normalerweise ein sehr maßgeblicher Ratgeber zumindest für die FDP und für Herrn
Rösler. Wenn somit selbst die private Assekuranz das
nicht verfolgt, dann müssten Sie doch sagen: Das räumen wir ab. - Heute wäre eine gute Gelegenheit dazu
gewesen. Jetzt wissen wir wieder nichts. Aber die Argumente sind stabil. Das kann zu nichts führen; das ist Bürokratie pur.
Es ist im Übrigen auch auf der folgenden Grundlage
Unsinn: Wenn der eine eine solche Kapitaldeckung hat,
der andere aber nicht und beide Menschen im selben
Zimmer liegen, dann kann es den Pflegekräften doch
nicht ernsthaft zugemutet werden, dass der eine Patient
anders gepflegt wird als der andere. Eine Zweiklassenpflege, wie sie vielleicht dem einen oder anderen FDPIdeologen noch recht wäre, ist doch dem Personal und
den Menschen nicht zuzumuten. Daher sage ich: Räumen Sie das Ding ab, machen Sie sich sauber, verabschieden Sie sich davon!
({0})
Der Koalitionsvertrag - das hat selbst Frau Merkel
gesagt - war kein großer Wurf. Sie war damals müde.
({1})
Das stand in einem Bericht im Spiegel. Das war nach
den langen Wahlkämpfen, und sie war in einer Phase der
Müdigkeit. Das war nicht das Beste. Somit gibt es im
Koalitionsvertrag, der nicht komplett gelungen ist,
Dinge, die besser sind, und Dinge, die schlechter sind.
Das ist eben ein Murks. Da muss man die Größe haben,
zu sagen: Das ist ein Murks. Das ist uns nicht gelungen.
Das räumen wir jetzt ab. - Dann hätte ich Respekt vor
Ihnen. Herr Singhammer, bleiben Sie am Ball. Ich gehe
davon aus, dass Sie wissen, wovon Sie sprechen. Setzen
Sie sich gegen die Ideologie und die private Assekuranz
durch, Herr Singhammer. Unsere Unterstützung haben
Sie. Das teile ich Ihnen im Namen meiner Fraktion mit.
({2})
Gehen wir jetzt auf die belehrenden Äußerungen des
jungen Wissenschaftlers Lanfermann ein.
({3})
Er hat uns gerade erläutert, die Menschen würden immer
älter, künftig werde es weniger Beitragszahler geben
usw. Das war sehr tiefgreifend. Herr Lanfermann, wir
alle haben zugehört. Aber zwei wichtige Sachen haben
Sie schlicht vergessen. Sie haben gesagt, es wären immer mehr Menschen zu pflegen. Aber das hängt doch
davon ab, wie viele Menschen im Jahr 2050 depressiv
oder demenzerkrankt sind. Das wissen Sie doch heute
noch nicht.
({4})
- Nein, aber ich sage auch nichts dazu. Herr Lanfermann
hingegen macht hier Angaben und rechnet uns vor, wie
es sein wird. - Die Wahrheit ist: Wenn es uns gelingt,
Depressionen und Demenz besser zu behandeln, dann
wird es viel weniger Pflegebedarf geben. Von daher bitte
ich Sie: Langweilen Sie uns nicht mit diesen Ausführungen, sondern sagen Sie, was Wahrheit ist!
({5})
Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt nicht, wie groß der
Bedarf sein wird.
Jetzt zu den Alternativen, die Sie genannt haben. Es
gibt zwei Möglichkeiten, die Kapitaldeckung einzuführen.
Die erste Möglichkeit ist eine kleine Zusatzkopfpauschale, damit man keinen Sozialausgleich braucht. Dann
baut sich das Geld allmählich auf, sodass man, nachdem
die Babyboomer alle tot sind, eine gute Rendite erwirtschaftet. Grob gesprochen: Die Kapitaldeckung muss
dann so klein sein, damit sich das nie lohnt. Es kommt
dann zu spät. Der Ertrag ist so gering, dass es sich
schlicht nicht lohnt. Das ist Bürokratie. Man hat keinen
Sozialausgleich; aber man bekommt auch nichts zusammen. Man läuft sozusagen unter der Messlatte durch.
Die zweite Möglichkeit ist: Man nimmt mehr, eine
größere Kopfpauschale. Dann braucht man aber erneut
einen Sozialausgleich. Das ist dann ein weiterer Minisozialausgleich. In diesem Zusammenhang stellt sich die
Frage: Berücksichtigt man auch andere Einkommen wie
Miet-, Zins- und Kapitalerträge? Wie messe ich das Einkommen? Das ist eine Riesenbürokratie.
Somit sind Sie mit dem Murks im Prinzip wie folgt
gefangen: Entweder die Kapitaldeckung ist zu klein, als
dass es sich lohnt, oder man braucht erneut einen Sozialausgleich. Dann hat man aber eine gigantische Bürokratie. Insofern sind im Prinzip alle Vorschläge, wenn ich
ganz offen sprechen darf, Murks. Sie haben zum jetzigen
Zeitpunkt nicht die Größe, zu sagen, dass sich das nicht
lohnt.
Schauen Sie doch in andere Bereiche. Es gibt Bedarf.
Wir könnten Ihre Arbeit benötigen. Die Staatssekretärin
hat gerade davon gesprochen, was alles gut sei. Tatsache
ist: Zum Thema Bürokratieabbau in den Pflegeeinrichtungen haben wir von Ihnen bisher noch nichts gehört.
Es gibt keinen einzigen Ansatz, die Bürokratie in den
Pflegeeinrichtungen zu beseitigen.
({6})
- Wir haben Ideen. Wenn wir regieren würden, wäre es
schon erledigt.
({7})
Wir werden von Ihnen ständig kritisiert, als wenn wir
keine Vorstellungen hätten. Bringen Sie in Erinnerung:
Im Moment regieren noch Sie. Sie können uns nicht
ständig vorwerfen, wir wären untätig. Wir haben Vorstellungen.
({8})
Von Ihnen kommt nichts.
({9})
Zum Pflege-TÜV: Sie waren noch nicht einmal in der
Lage, den bereits bestehenden Pflege-TÜV in die Fläche
zu bringen. Da sind Sie jetzt auf ein Schiedsverfahren
mit völlig offenem Ausgang angewiesen. Nichts ist gelungen.
Zum Abschluss: Auch zur Vorsorge von Pflegebedürftigkeit ist bisher nichts gekommen.
({10})
Verlassen Sie sich darauf: Wir werden in der Tat die
ersten Gesetze in diesem Bereich machen; denn bis Sie
in die Schuhe kommen, sind Sie abgewählt. Ich verspreche Ihnen: Im ersten Jahr unserer Arbeit legen wir zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen der Grünen
brauchbare Gesetze vor.
({11})
Ich glaube, dass die Regierungsbank hier in der Mitte
des Hauses ist.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Willi Zylajew für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Interessante beim Kollegen Lauterbach ist, dass er
- wohl vom Dozieren her darauf trainiert - immer wieder zu Dingen spricht, die nicht auf der Tagesordnung
stehen. Von den Linken liegen ein Antrag und eine
Große Anfrage zur Beratung vor. Herr Lauterbach, wenn
Sie das im Protokoll nachlesen, werden Sie feststellen,
dass Sie keinen einzigen Satz dazu gesagt haben.
({0})
Da frage ich mich: Was macht es für einen Sinn, wenn
wir hier eine Debatte führen und uns mit Vorlagen auseinandersetzen und dann jemand Redezeit verschleißt,
ohne etwas zur Sache zu sagen?
({1})
Nach meiner Auffassung sind die Vorlagen für eine
sachliche Debatte nicht geeignet; sie sind vielmehr rein
populistisch.
({2})
- Kollege Ilja Seifert, auf Sie komme ich noch zu sprechen. - Diese Debatte sollte aber schon dazu genutzt
werden, dass wir uns mit dem Anliegen auseinandersetzen.
({3})
Wir sind für jeden dankbar, der dazu einen konstruktiven
Beitrag leistet.
Wir als Union und unser Koalitionspartner können sagen: Die Pflegeversicherung ist ordentlich finanziert.
Wir müssen sie für künftige Herausforderungen ertüchtigen. Das werden wir auch tun. Darauf können sich die
Menschen im Land verlassen; das war immer so. 1995
haben wir die Pflegeversicherung eingeführt. Zwischen
1998 und 2005, also größtenteils unter Ministerin
Schmidt, ist nichts passiert. In der letzten Wahlperiode
haben wir den Anstoß gegeben, zu dynamisieren, die
Dementen zu berücksichtigen,
({4})
die ambulante Pflege zu stärken. All das ging auf unsere
Initiative zurück. Von Ihnen ist da gar nichts gekommen.
({5})
Wir laden dieses Jahr die Pflegeaffinen aller Parteien
ein, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Aber, Frau
Senger-Schäfer, so geht es nun wirklich nicht. Sie können nicht einfach sagen: So geht es nicht!
({6})
Das ist schon stark. Sie fordern die Erweiterung von
Leistungen; aber dann kommt nichts mehr. Sie sagen gar
nichts dazu, wer das bezahlen soll.
({7})
Frau Ferner - sie ist leider nicht mehr da - hat durch
ihre Zwischenfrage erfahren wollen, wie der Kapitalstock ausgestaltet sein soll. Darf ich die Kolleginnen und
Kollegen der SPD, die ich, zumindest die fachkompetenten, weit überwiegend schätze, einmal dezent darauf hinweisen, dass in unserem Koalitionsvertrag aus dem Jahre
2005 eine Demografiereserve vereinbart war? Dort
stand: Wir bauen eine Demografiereserve auf. Jetzt soll
das plötzlich etwas Schlimmes, Negatives, Gefährliches,
nicht Zukunftsweisendes sein. Die Halbwertszeit Ihres
Gedächtnisses ist da minimal.
({8})
Frau Mattheis, wir werden die Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs umsetzen. Das war doch das
Ziel. Frau Schmidt hat das als Ministerin geschickt gemacht: zunächst die Reform, erst dann Veränderung des
Begriffs. Sie ist sehr clever vorgegangen. Sie hat nicht
erst den Begriff verändert und dann die Reform durchgeführt. Wir werden das anders machen. Die Menschen
können sich darauf verlassen, dass wir das umsetzen,
was notwendig ist, und das tun, was Sie nicht geschafft
haben.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass hier breit
diskutiert wird. Frau Scharfenberg sucht eine Mehrstimmigkeit. Wir, CDU/CSU und FDP, haben eine kreative
Mehrstimmigkeit, um zu den besten Ergebnissen zu
kommen.
({9})
Sie können sicher sein - die Kollegen Singhammer und
Lanfermann haben das hier in bestem Einvernehmen erklärt -: Wir arbeiten an der besten Lösung, und die wird
auch kommen.
Wir haben noch ein paar andere Dinge zu berücksichtigen - ich will sie schnell ansprechen -: neuer Pflegebegriff, Dynamisierung, Demenzversorgung, neue Wohnformen, Ausbildung. Wenn all das erledigt ist, reden wir
über die Finanzierung. Die Einhaltung dieser Reihenfolge ist wichtig. Sie würden wahrscheinlich zunächst
die Finanzierung sicherstellen und dann fragen: Was machen wir mit dem Geld bzw. dem Defizit? So vorzugehen, ist nicht unsere Art.
Zurück zum Antrag, Drucksache 17/4425. Auf Seite 2,
letzter Absatz - Herr Singhammer hat das angesprochen -,
steht: Das Leistungsniveau der Pflegeversicherung ist
deutlich anzuheben usw. Wenn man sämtliche zusätzlichen Kosten zusammenrechnet - ich habe mir die Mühe
einmal gemacht -, dann brauchen wir etwa 10 bis
20 Milliarden Euro mehr, und das bis zum Jahre 2027,
nicht erst 2040. Sie sagen überhaupt nichts dazu, wie die
Umsetzung Ihrer Forderungen finanziert werden soll.
Das ist unredlich. Das wird auch jeder merken.
({10})
Die Linken erwecken bei mir manchmal den Eindruck: Nachdem sie es nicht geschafft haben, die gute
soziale Marktwirtschaft von außen zu zerstören,
({11})
versuchen sie es jetzt durch überzogene Anträge von innen;
({12})
aber auch das wird nicht funktionieren.
({13})
Ich fasse die Notwendigkeiten noch einmal zusammen.
({14})
Wir brauchen eine ordentlich finanzierte Pflegeversicherung. Wir brauchen eine Vorsorge für die geburtenstarken Jahrgänge. Wenn uns die Jahrgänge 1949 bis 1969
auf der Lastenseite erreichen, muss eine Beitragsreserve
vorhanden sein. Diese Reserve müssen wir heute ansparen. Wir wollen, dass jetzt mehr Menschen wenig mehr
bezahlen, um einen Kapitalstock aufzubauen, damit
nicht später weniger Menschen sehr viel mehr zahlen
müssen, um die Leistungen halbwegs zu erhalten; denn
Letzteres kann nicht der richtige Weg sein. Wir müssen
fair sein gegenüber denen, die als Angehörige auf eine
ordentliche Leistung warten, und denen, die als potenzielle Pflegefälle - das sind auch wir - auf eine Leistung
warten. Wir müssen auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die wir anwerben wollen, deutlich machen,
dass die Pflegeversicherung auf Dauer ordentlich finanziert ist. Wer begibt sich denn in ein so schwieriges Arbeitsfeld, wenn ein paar Linke oder andere immer wieder sagen: „Das ist alles nicht solide finanziert; das ist
nicht in Ordnung; da kann man sich auf nichts verlassen“? Das ist nicht der richtige Weg.
({15})
Frau Senger-Schäfer, ich kann nur feststellen: Ihr Antrag war rein populistisch. Trotzdem haben wir ihn für
eine halbwegs vernünftige Diskussion genutzt. Ich hoffe
sehr, dass Ihr kompetenter Sachverstand für Pflege, Herr
Dr. Seifert, uns deutlich macht, dass es auch bei den Linken noch einige gibt, die das Thema Pflege ordentlich,
sachlich und konstruktiv bearbeiten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat nun Ilja Seifert für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Zylajew, ich weiß nicht, was ich von diesem
Lob halten soll. Sie schaffen es jedenfalls nicht, mich gegen meine Kollegin auszuspielen.
({0})
Wir haben in der Pflege - das weiß jeder, der sich mit
diesem Thema befasst - kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Wir wissen doch, was wir
brauchen. Jeder, der sich ein bisschen damit beschäftigt,
weiß, dass es bald darum gehen wird, Pflege und assistierende Begleitung, die mindestens genauso wichtig ist,
aus den Heimen in die Wohnungen zu verlagern.
({1})
Darüber redet aber fast niemand. Das muss man doch
zumindest einmal erwähnen.
Herr Kollege Zylajew, wir haben auch keinen Bedarf
an einer Demografiereserve. Vielmehr brauchen wir einen Bonus, der sich aus der Produktivitätsentwicklung
ableitet. In die Berechnung muss die Steigerung der Produktivität einbezogen werden und nicht, wie viele Leute
arbeiten.
({2})
Das ist, woraus wir Einnahmen generieren können. Es
geht nicht um die Anzahl der Beschäftigten, die nach der
Demografieprognose immer weniger werden. Es geht
um einen Produktivitätsfaktor.
Lassen Sie uns darüber reden - das ist der zentrale
Punkt -, was wir eigentlich brauchen. Ich freue mich ja,
dass es mit Ihnen, Herr Zöller und Herr Singhammer,
und Ihnen aus Nordrhein-Westfalen, Herr Zylajew, eine
Koalition aus CDU und CSU gegen die FDP gibt; das
finde ich prima.
({3})
Wir machen mit, wenn wir dazu kommen, die Bedürfnisse derer, die jetzt auf Hilfe angewiesen sind, zu decken und nicht immer weiter in die Zukunft zu schauen.
Was im Jahr 2050 sein wird, interessiert heute keinen
Menschen. Wir müssen jetzt den Leuten helfen, die Hilfe
brauchen.
Sie haben die Regierung beauftragt, einen neuen Pflegebegriff zu erarbeiten. Der Beirat zur Überprüfung des
Pflegebedürftigkeitsbegriffs unter Vorsitz von Jürgen
Gohde hat einen sehr guten Vorschlag vorgelegt. Ich
hatte diesen Beirat im Vorhinein kritisiert. Als das Ergebnis auf dem Tisch lag, habe ich mich für meine Kritik
entschuldigt. Ursprünglich dachte ich, dass seine Mitglieder nur ein Gefälligkeitsgutachten erstellen. Sie haben aber richtig ordentliche Arbeit geleistet.
({4})
Sie sagen, dass es nicht um „satt, sauber, trocken“ geht,
sondern um die Ermöglichung von Teilhabe, auch wenn
jemand auf fremde Hilfe angewiesen ist - ob das in jungen Jahren ist, wie bei Menschen mit Behinderung, oder
im Alter.
In jedem Falle wollen die Menschen teilhaben. Jemand, der im Sterben liegt, hat natürlich ein anderes Teilhabebedürfnis als jemand, der noch sein ganzes Leben
vor sich hat, arbeiten geht und seine Freizeit genießen
will. Es ist völlig klar, dass wir das auseinanderhalten
müssen. Es geht, wie gesagt, darum, Teilhabe zu ermöglichen, und nicht darum, die Heime vollzubekommen.
Vor diesem Problem stehen wir zurzeit.
({5})
Es gibt ein Umsetzungsproblem. Frau Staatssekretärin, wir brauchen daher keine Kommission, die sich einen neuen Begriff ausdenkt. Wir müssen vielmehr den
Begriff, der ausgearbeitet worden ist, mit Leben erfüllen.
Dazu hat unser heutiger Antrag, wie ich finde, eine sehr
gute Diskussionsgrundlage geliefert. Lassen Sie uns auf
dem Wege weitermachen. Dann kommen wir auch zu einem Ergebnis, welches den Menschen, die heute Probleme haben, helfen wird.
Danke schön.
({6})
Das Wort als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Kollege Steffen-Claudio Lemme für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Rösler und Frau Staatssekretärin WidmannMauz! Der Grundsatz meiner Fraktion ist: Das Lebensrisiko, pflegebedürftig zu werden, darf nicht privatisiert
werden.
({0})
Aber die jüngste Gesundheitsreform ist gerade erst in
Kraft getreten, da machen sich Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler und seine Gefolgschaft erneut ans
Werk. Rastlos sind sie - das muss man schon sagen -,
haben sie sich doch nicht weniger vorgenommen, als die
gesamte Gesundheitsversorgung radikal wirtschaftlichen
Kriterien zu unterwerfen. Laute Proteste von Bürgerinnen und Bürgern, von Gewerkschaften und Sozialverbänden werden schlichtweg ignoriert oder gar belächelt.
Wes Geistes Kind diese Bundesregierung ist, haben die
Menschen in Deutschland aber mittlerweile erkannt. Sie
haben bei dieser Regierung die berechtigte Furcht vor
dem Damoklesschwert einer weiteren Entsolidarisierung
unserer Sozialsysteme; denn die nächste Angriffswelle
des Rösler’schen Kreuzzuges gegen die Prinzipien des
Miteinanders in unserer Gesellschaft ist in Stellung gebracht - ihr Ziel: die gesetzliche Pflegeversicherung.
Wurde die Opposition im vergangenen Jahr mancherorts noch für ihre Warnungen zu den Konsequenzen der
Gesundheitsreform gescholten, ist die Lage heute doch
eindeutig.
({1})
Die Versicherten tragen die finanzielle Hauptlast. Die
Arbeitgeber werden aus der Parität für immer entlassen,
und die private Krankenversicherung wird kräftig aufgepäppelt. Jetzt betreibt diese Bundesregierung aus CDU/
CSU und FDP die Privatisierung des Pflegerisikos.
({2})
Was Sie jetzt vorhaben, ist Folgendes: erstens die Einführung einer zusätzlichen Kopfpauschale für die Pflege
und damit einer faktischen Mehrbelastung der Versicherten, zweitens die damit verbundene Entsolidarisierung
der Pflegeversicherten durch die Aufgabe des Prinzips
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit des Einzelnen bei der
Beitragserhebung, drittens die Schaffung eines Zusatzgeschäftes für private Versicherungsunternehmen. Hinzu
kommt die perspektivische Verlagerung auf ein reines
Kopfpauschalensystem mit individuellen Kapitalstöcken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, die Versicherten, Pflegebedürftigen und deren
Angehörigen erwarten mehr. Eines muss Ihnen klar sein:
Sie setzen mit Ihren Plänen die hohe Akzeptanz der noch
jungen Pflegeversicherung leichtfertig aufs Spiel.
({3})
Die Menschen wollen keinen radikalen Umbau der Finanzierung. Sie wollen eine passgenaue und an den Bedürfnissen des Einzelnen orientierte Pflege. Die Versicherten erwarten zu Recht ausreichend und gut geschultes
Personal, ein Ende der Pflege im Minutentakt und bessere
Voraussetzungen für die Pflege daheim durch ihre Angehörigen. Kurz: Sie wollen Verbesserungen bei der Qualität der Pflege, insbesondere bei der Pflegeinfrastruktur.
({4})
Ich will an dieser Stelle aber auch noch einige Worte
zum Antrag der Fraktion Die Linke verlieren, der Anlass
dieser Debatte ist. Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass Sie mit Ihrem Antrag wieder einmal nicht
die Debatte in der Sache suchen. Die von Rot-Grün eingeführte freiwillige Riester-Rente wird mit Herrn Röslers Plänen in einen Topf geworfen.
({5})
Da werden die Neuerungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes von 2008 geschmäht. Weiterhin wird der
demografische Wandel, der auch ein maßgeblicher Faktor ist, schlicht ausgeblendet. Ich sage Ihnen: Mit den
Forderungen in Ihrem Antrag nach einer deutlichen Anhebung des Leistungsniveaus wecken Sie bei den Menschen nur falsche Erwartungen. Sie dienen der eigentlichen politischen Auseinandersetzung nicht.
Ich fasse noch einmal zusammen. Wir als SPD sagen
Nein zur Privatisierung der Pflege und auch Nein zu einer Politik der überzogenen Erwartungen. Jetzt muss es
notwendigerweise darauf ankommen, die Pflege im Hinblick auf Qualität und Infrastruktur im Sinne der Betroffenen zu stärken.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4425 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4557. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritter Bericht der Bundesregierung über die
Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“
- Drucksachen 17/2300, 17/2971 Nr. 1.2,
17/4272 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Joachim Spatz
Stefan Liebich
Kerstin Müller ({1})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Lothar Binding ({2}), Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschland braucht dringend eine kohärente
Strategie für die zivile Krisenprävention
- Drucksache 17/4532 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Joachim Spatz
für die FDP-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich fühle mich leider Gottes ein bisschen an meine
Zeit im Bayerischen Landtag erinnert, in dem, als es um
Bildungspolitik ging, viele Kollegen den Saal verlassen
haben, sodass die Kolleginnen und Kollegen des entsprechenden Ausschusses wieder unter sich waren. Das
ist schade,
({0})
weil es sich bei ziviler Krisenprävention und vernetzter
Sicherheit um eines der Zukunftsthemen deutscher Außenpolitik handelt.
({1})
Nach der Neubestimmung der NATO-Strategie, die
maßgeblich unter deutscher Mitwirkung erfolgte, gibt es
zwei weitere große Herausforderungen der strategischen
Ausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren. Zum einen geht es um eine
verstärkte europäische Integration dieser Themen aus
vielen verschiedenen Gründen. Zum anderen geht es um
die Schwerpunktverlagerung weg von militärischen Instrumenten hin zu ziviler Krisenprävention und, falls
eine Krise schon eingetreten ist, natürlich um vernetzte
Sicherheit, also - wenn Sie so wollen - einen Comprehensive Approach, sprich: die Berücksichtigung anderer
Determinanten der Sicherheitsbildung.
Dazu haben wir in den letzten Jahren sowohl in Afghanistan als auch anderswo die Erfahrung machen müssen, dass militärische Mittel an der einen oder anderen
Stelle notwendig sein mögen, aber in den seltensten Fällen ausreichen, um eine stabile Situation in den betroffenen Ländern herzustellen. Good Governance, Aufbau
von Polizei und von Rechtsstaatlichkeit sowie die Schaffung wirtschaftlicher Betätigungsmöglichkeiten für ein
menschenwürdiges Auskommen in den Ländern sind genauso wichtige Themen, wie der Aufbau von Bildungseinrichtungen und der gleichberechtigte Zugang zu Bildung.
Der Bericht, den die Bundesregierung Ihnen vorgelegt hat, gibt einen guten Überblick über den Sachstand
der Weiterentwicklung der deutschen Außenpolitik auf
diesen Gebieten. Außerdem weist er auf Entwicklungsperspektiven hin. Der Unterausschuss schlägt Ihnen vor,
diesen Bericht zur Kenntnis zu nehmen, und fordert Sie
auf, die Form der Berichterstattung durch die Bundesregierung dahin gehend zu ändern, dass nur alle vier
Jahre ein umfassender Bericht vorgelegt wird. In den
drei dazwischen liegenden Jahren sollen Zwischenberichte zu Schwerpunktthemen erstellt werden. Die fehlende Schwerpunktsetzung im Bericht war Teil der Kritik.
In dem Politikansatz manifestiert sich sowohl die
Kontinuität als auch die Weiterentwicklung der deutschen Außenpolitik. Die Kontinuität besteht darin, dass
wir, vor allem was die Instrumente anbetrifft, einen Ansatz der rot-grünen Regierung aufgreifen. Ein Instrument
ist der Ressortkreis, der die Aufgabe hat, die betroffenen
Politikbereiche - Auswärtiges, Verteidigung, Inneres
und wirtschaftliche Zusammenarbeit - zusammenzuführen. Wir nehmen den Beirat „Zivile Krisenprävention“
als Mitgestalter dieser Politik wieder verstärkt in den Fokus, und wir unterstützen das ZIF, das im Rahmen der zivilen Friedensmission eine wichtige Rolle spielt.
Neu ist, dass sich der Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ der Themen, die
hier diskutiert werden, annimmt. Wir kümmern uns sowohl um die konzeptionelle Weiterentwicklung dieses
Feldes als auch um einzelne Länder. Es ist wichtig, zu
wissen, dass es positive Beispiele für die zivile Krisenprävention gibt; am Schluss meiner Ausführungen
komme ich auf ein Beispiel zu sprechen.
Wichtig ist auch, dass wir die Kapazität trotz schwieriger Zeiten weiter ausbauen. Ich weiß, dass uns nachher
wieder vorgeworfen wird, dass wir an der einen oder anderen Stelle gekürzt haben.
({2})
Man muss aber berücksichtigen, dass dem militärischen
Bereich in dieser Zeit ein Abschmelzen der Kapazitäten
in einem nicht unerheblichen Maße zugemutet wird. In
diesem Konzert ist schon das Sichern von Finanzmitteln
ein Erfolg; dessen können wir uns sicher sein.
({3})
Aufgrund unserer Rolle innerhalb der EU, der Vereinten
Nationen, der NATO und im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit unserem Partner in Afrika, der Afrikanischen Union, haben wir noch erhebliche Überzeugungsarbeit zu leisten, was die Umsteuerung hin zu den neuen
Instrumenten anbetrifft. Ich verhehle nicht, dass ich
gerade in den Beziehungen zur Afrikanischen Union ein
Window of Opportunity, wie das so schön heißt, sehe.
Das heißt, ich glaube, dass wir in der Afrikanischen
Union einen Partner haben, der uns hilft, aufkeimenden
Konflikten in diesen Ländern mit niedrigschwelligen
zivilen Mitteln zu begegnen. Dieses Window of Opportunity sollten wir nutzen.
({4})
Das positive Beispiel - lassen Sie mich das zum
Schluss noch sagen - ist der Sudan. Heute Vormittag ist
viel über Afghanistan gesprochen worden. Im Sudan ist
es gelungen, jedenfalls bis jetzt, einen schwierigen Prozess mit den Mitteln der zivilen Krisenprävention zu
meistern. Experten behaupten, dass dieser Konflikt,
wenn er militärisch ausgetragen würde, in den nächsten
zehn Jahren Schäden in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro verursachen würde, von den menschlichen
Verlusten und den tragischen Schicksalen gar nicht zu
reden.
({5})
Ich wünsche mir, dass wir diesem Konflikt auch in Zukunft mit den Mitteln der zivilen Krisenprävention erfolgreich begegnen.
Ich wünsche mir ferner, dass das konstruktive Miteinander, das in unserem Unterausschuss vorherrscht - das
sei hier auch einmal erwähnt -, bestehen bleibt; denn das
ist im Sinne der Sache.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat nun Edelgard Bulmahn für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Willy Brandt prägte vor vielen Jahren den Satz:
Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller
Dinge.
In den letzten drei Wochen konnte die ganze Welt erleben, dass erfolgreiche zivile Krisenprävention möglich
ist. Im Sudan konnte eine drohende Welle der Gewalt,
womöglich sogar ein Bürgerkrieg, durch ein konsequentes ziviles Konfliktmanagement der internationalen Staatengemeinschaft und vor allen Dingen der Afrikanischen
Union verhindert werden. Noch kurz vor Beginn des Referendums über die Unabhängigkeit des Südsudans war
bei vielen die Befürchtung sehr groß, dass es zu einem
Bürgerkrieg kommen könnte. Heute können wir feststellen, dass das Referendum gerade aufgrund des großen
internationalen Engagements friedlich verlaufen ist.
Dies ist ein Modell für eine erfolgreiche Politik, die der
zivilen Krisenprävention und dem zivilen Konfliktmanagement strategischen Vorrang zumisst. Das sollte
für uns Anlass sein, die erfolgreichen präventiven Ansätze von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im
Sudan fortzusetzen und zu intensivieren.
Zehn Jahre ist es jetzt her, dass die damalige rot-grüne
Bundesregierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidie9920
rung“ der zivilen Krisenprävention in der deutschen
Außenpolitik eine herausragende Rolle, eine Vorrangstellung zugewiesen hat. Mit dem Aktionsplan aus dem
Jahre 2004 haben wir die strategische Bedeutung der zivilen Krisenprävention und des zivilen Konfliktmanagements noch einmal unterstrichen. Er war und ist ein
Meilenstein auf dem Weg, die Prävention von Gewaltkonflikten und die zivile Konfliktbearbeitung zu einer
wichtigen politischen Querschnittsaufgabe in Deutschland zu machen.
({0})
Dies hat - ich sage das noch einmal ausdrücklich eindeutig Vorrang gegenüber militärischen Interventionen. Dieser Aktionsplan hat Strukturen und Institutionen
geschaffen, die erfolgreich arbeiten und im Übrigen international hoch angesehen sind. Für viele Nichtregierungsorganisationen hat er den Rahmen geschaffen, in
dem sie ihre wichtige Arbeit durchführen und ausbauen
können.
Der Dritte Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans, über den wir hier heute debattieren, macht jedoch deutlich, dass die jetzige Bundesregierung diese erfolgreiche Arbeit nur halbherzig
fortsetzt.
({1})
Der Umsetzungsbericht, der ja eher ein Kompendium als
ein Bericht ist, zeigt vor allem eines: die Perspektivlosigkeit und das mangelnde Interesse dieser Bundesregierung an präventiven Konfliktlösungen und auch am
zivilen Konfliktmanagement.
({2})
Es ist deshalb erfreulich, dass das Parlament - ich
sage ausdrücklich: das gesamte Parlament - dieses wichtige Thema aufgegriffen hat. Der Unterausschuss hat
sich auf eine veränderte Form des Berichtes verständigt.
Statt einer summarischen und kleinteiligen Aufzählung
aller Aktivitäten, wie sie jetzt vorliegt, müssen in Zukunft die Ziele und Perspektiven deutlicher herausgestellt und die Schwerpunkte und Maßnahmen klar beschrieben und gewichtet werden. Es ist gut und richtig,
dass in Zukunft nicht nur die Bundesregierung, sondern
auch das Parlament Schwerpunktthemen benennen kann.
Allein das Berichtswesen zu ändern, reicht nicht aus.
Deutsche Außenpolitik muss Friedenspolitik sein.
({3})
Deshalb brauchen wir in Deutschland eine kohärente
Strategie für zivile Krisenprävention. Die Zielsetzung
deutscher Außenpolitik, die strategische Umsetzung und
die Priorität der zivilen Krisenprävention müssen dargelegt werden, um davon ausgehend konkrete Handlungsfelder, Maßnahmen und Projekte abzuleiten. Analog
dem Prozess auf europäischer Ebene gilt es, die politischen Ziele aus deutscher Sicht zu formulieren und dabei
die zivilen und krisenpräventiven Zielsetzungen kurz
und prägnant zu beschreiben.
Zusätzlich brauchen wir - darüber haben wir uns im
Unterausschuss immer wieder ausgetauscht - eine interne und eine externe Evaluierung der Fortschritte und
Erfolge, um Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der
zivilen Krisenprävention zu gewinnen und ihre gesellschaftliche und politische Akzeptanz zu erhöhen. Das ist
dringend notwendig. Die Bundesregierung muss der zivilen Krisenprävention ohne Wenn und Aber Vorrang
gegenüber militärischen Aktionen geben.
({4})
Die zivile Krisenprävention muss mehr politisches Gewicht erhalten.
({5})
Deshalb sollte die Ressortkoordinierung künftig nicht
nur in einem Ressortkreis, sondern auch über einen
Staatssekretärsausschuss, der echte Entscheidungskompetenzen - im Übrigen auch finanzielle Entscheidungskompetenzen - besitzt, erfolgen.
Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärtigen Amt, eine wichtige Schnittstelle zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, muss aus seinem
Schattendasein herausgeführt werden. Dass die Bundesregierung in diesem wichtigen Gremium Informationen
nur weitergibt, aber die vielfältigen Kompetenzen, die in
diesem Gremium versammelt sind, nicht umfassender
nutzt, ist schlicht und einfach falsch. Die Warnsignale
für drohende Gewalteskalationen - ein weiterer Punkt sollten frühzeitiger und systematischer zusammengeführt und umgehend in konkrete Maßnahmen umgesetzt
werden. Early Warning und Early Action gehören zusammen, und nur wenn diese beiden Aspekte zusammen
betrachtet werden, können wir erfolgreich sein.
Krisenprävention ist nicht alleine eine nationale Aufgabe. Der nichtständige Sitz im VN-Sicherheitsrat und
der neugeschaffene Europäische Auswärtige Dienst bieten große Chancen, internationale Krisenprävention
auch aus deutscher Sicht entscheidend mitzugestalten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren aus den Koalitionsfraktionen, nutzen Sie diese Chancen.
Zivile Krisenprävention hat heute eine immer größer
werdende Bedeutung bei der Lösung der weltweiten
Konflikte. Dies gilt im Übrigen auch dann, wenn es
schon zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen ist. Auch dann ist ziviles Konfliktmanagement gefragt und notwendig.
Wenn man diese Auffassung hat, Herr Spatz, und
wenn man das teilt - davon gehe ich aus -, dann heißt
das aber auch, dass dafür die notwendigen finanziellen
Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen.
({6})
Insofern - das muss ich ganz klar sagen - kann ich leider
nicht oft genug betonen, wie fatal die Kürzungen im
Haushalt 2011 waren und sind.
({7})
Wir laufen Gefahr, als verlässlicher Partner überhaupt
nicht mehr ernst genommen zu werden. Deshalb müssen
wir im Haushaltsjahr 2012 dringend wieder mehr finanzielle Mittel für die zivile Krisenprävention bereitstellen.
({8})
Gerade die deutschen Nichtregierungsorganisationen,
die seit Jahren eine ganz wichtige und wertvolle Arbeit
leisten, müssen in die Lage versetzt werden, ihre erfolgreiche Arbeit fortzuführen. Genau das ist im Augenblick
gefährdet.
In unserem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen,
haben wir konkrete Vorschläge gemacht, wie wir zu einer kohärenten Strategie für die zivile Krisenprävention
kommen können. Es ist jetzt an uns allen, aber vor allen
Dingen an der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen, die Weichenstellungen vorzunehmen. Sie müssen
unter Beweis stellen, dass Sie es wirklich ernst meinen
und dass Sie wirklich davon überzeugt sind, dass zivile
Krisenprävention Vorrang haben muss. Denn nur so
kann deutsche Außenpolitik im Sinne Willy Brandts
auch weiterhin Friedenspolitik sein. Die SPD-Fraktion
wird daran mitarbeiten.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal haben wir allen Grund, froh zu sein, dass wir seit einem Dreivierteljahr den Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ haben.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle dem Vorsitzenden, Herrn
Spatz, und auch der stellvertretenden Vorsitzenden, Frau
Kerstin Müller, Dank und Anerkennung dafür aussprechen, dass es ihnen gelungen ist, ein übergreifendes
Klima des Austausches und der Verständigung, aber
nicht der Reibereien zu schaffen. Mit diesem Unterausschuss leisten wir - das gilt für alle, die in diesem Unterausschuss mitwirken - spürbar etwas für die Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Mit dem Aktionsplan ist seit dem Jahr 2004 etwas gelungen, was für Deutschland in den letzten Jahren eine
Art Alleinstellungsmerkmal war; inzwischen ist es aber
auch in anderen Ländern in der Europäischen Union relativ weit gediehen. Wir beziehen uns auf die Sicherheitsstrategie der Europäischen Union von 2003.
Ich möchte jetzt nicht weiter auf den Aktionsplan und
den Bericht dazu eingehen, sondern einige Punkte, die
Sie, Frau Bulmahn, angesprochen haben, aufgreifen. Ihr
Antrag enthält viele wichtige Punkte, und insbesondere
Ihre Empfehlungen können wir weitestgehend mittragen. Folgendes kann ich jedoch nicht teilen: Ihre Kritik
am Haushaltsansatz, an den angeblich mangelnden
Strukturen und auch an der Gewichtung der zivilen Krisenprävention in der Arbeit der Bundesregierung.
Mit der Konstituierung des Unterausschusses vollziehen wir geradezu die parlamentarische Vernetzung mit
der politischen Leitungsebene in den Ressorts. Ferner
hat der Ressortkreis im letzten Jahr mit den konzeptionellen Arbeiten zu der Frage begonnen, was vernetzte
Sicherheit ist; sicherlich ist da noch viel zu leisten. Diese
Aufgabe wird aber gemeinsam mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze und der SWP durchgeführt. Ich glaube, hier ist keinerlei Kritik angebracht.
Selbst in unserem Koalitionsvertrag stellen wir politische und diplomatische Mittel an die erste Stelle; sie haben bei der Krisenprävention und -bewältigung Vorrang.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie sagten, dass Sie unsere Kritik am Haushaltsansatz - an der finanziellen
Ausstattung der kommenden Haushalte - nicht teilen.
Hier geht es um die Frage, wie man die zivile Krisenprävention umsetzen kann. Ist Ihnen bekannt, dass sich die
Organisationen, die die zivile Krisenprävention, die Frau
Heidemarie Wieczorek-Zeul sehr erfolgreich eingeführt
und beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angesiedelt hat, durchführen
und in allen Ländern hervorragende Arbeit leisten, zu
Recht auf das Wort der Vorgängerin von Herrn Niebel
verlassen haben, dass die entsprechenden Mittel kontinuierlich gesteigert werden? Es gibt nämlich auf der
ganzen Welt viele Gebiete, in denen die zivile Krisenprävention sinnvoll eingesetzt wird. Ist Ihnen auch bekannt,
dass die Mittel dafür gemäß der finanziellen Vorausschau, der Finanzplanung, eher zurückgefahren als gesteigert werden? Wie verträgt sich das mit Ihrer Aussage, dass finanziell alles zum Besten gestellt sei?
Danke, Herr Kollege. - Das habe ich nicht gesagt. Ich
wollte in meiner Rede genau darauf eingehen. Damit wir
etwas Zeit sparen, möchte ich diesen Teil vorziehen, um
damit auch Ihre Fragen zu beantworten. Ich nenne ein
paar entscheidende Punkte.
Sicherlich ist die zivile Krisenprävention integraler
Bestandteil unseres Politikansatzes. Aber im Hinblick
auf den finanziellen Anteil vergleichen wir hier Äpfel
mit Birnen. Sie selbst haben der Einführung der Schuldenbremse zugestimmt. Wir alle leisten ressortübergreifend unsere Beiträge zur Einhaltung der Schuldenbremse.
({0})
Allerdings - das ist der entscheidende Unterschied - haben wir im Bereich der vernetzten Sicherheit allein für
Afghanistan im letzten Jahr 400 Millionen Euro ausgegeben. Wir planen, in diesem Jahr 180 Millionen Euro
allein für den Bereich der vernetzten Sicherheit in
Afghanistan auszugeben.
({1})
Wir unterstützen das BICC, das Bonner Zentrum für
Konversion, das im Südsudan aktiv ist. Hartwig Fischer
und mir ist es gelungen, viele Hundertausend Euro für
das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze und für
den Verein für Mediation im Kosovo freizumachen. Das
heißt, Hartwig Fischer und ich haben uns intensiv dafür
eingesetzt, dass Mittel freigegeben werden.
({2})
Folgendes ist mir aber wichtiger - das ist ein entscheidender Punkt, auf den wir eingehen müssen -: Die
heutigen finanziellen Ansätze liegen etwa auf der Höhe
des Jahres 2008. Es war ein Verdienst des früheren Außenministers, dass es ihm im Jahr 2007 gelungen ist, die
Mittel für zivile Krisenprävention von 12 Millionen auf
65 Millionen Euro zu erhöhen; heute liegen wir bei
68 Millionen Euro.
({3})
Wir haben die Mittel dafür gekürzt - das ist richtig -;
aber das war im Rahmen des Gesamtansatzes bei der
Haushaltskonsolidierung notwendig.
({4})
- Es sind nicht 30 Prozent, sondern 3 bis 5 Prozent.
Ich möchte Ihnen vortragen, wie sich die Höhe der
Mittel für zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit entwickelt hat - ich wusste, dass Sie darauf eingehen -: 12 Millionen Euro im Jahr 2007, 65 Millionen
Euro im Jahr 2008, 110 Millionen Euro im Jahr 2009,
90 Millionen Euro im letzten Jahr. Jetzt liegen wir wieder auf der Höhe von 2008. Das sind immer noch
50 Prozent mehr, als Rot-Grün zur Verfügung gestellt
hat.
({5})
Nach OECD-Kriterien gibt allein das BMZ 500 Millionen Euro für den Bereich „Frieden und Sicherheit“
aus; das Auswärtige Amt gibt für Krisenprävention in
Afghanistan 180 Millionen Euro aus. Das heißt, wir liegen insgesamt - wir wollen das doch ressortübergreifend
betrachten - bei über 750 Millionen Euro. Also ist es
eine Milchmädchenrechnung, wenn Sie von einer Kürzung um 30 Prozent ausgehen. Die Mittel wurden nur
um etwa 5 Prozent gekürzt.
({6})
Hinzu kommt - auch das sollten wir uns vor Augen führen -, dass bei akuten Krisen immer zusätzliche Mittel
bereitgestellt werden.
Dass unser Haushaltsansatz gut ist, zeigt der Mittelabfluss: Im Jahr 2009 sind 90 Prozent der Mittel abgeflossen, im letzten Jahr 95 Prozent. Das heißt, die Mittel für
die zivile Krisenprävention werden bei uns wirksam eingesetzt.
({7})
Viel wichtiger ist aber, dass wir auch einige Ihrer Ansätze aufgreifen, die Strukturen straffen und wirksamer
machen, dass wir uns auf inhaltliche Arbeit konzentrieren. Dazu enthält Ihr Antrag sehr gute Vorschläge.
Ich möchte zwei Punkte nennen: die Definition von
vernetzter Sicherheit - ein Punkt für unseren Unterausschuss, Herr Spatz - und ein Frühwarnsystem für
Deutschland. Das sind Fragen, die mich ganz intensiv
beschäftigen: Wo siedeln wir ein Frühwarnsystem für
Deutschland an? Im Kanzleramt oder in einem Ministerium? Wer ist dafür verantwortlich?
Außerdem - es klang vorhin auch in Ihrer Rede an,
Frau Bulmahn -: Wir müssen viel mehr Werbung machen: für das, was Deutschland im Bereich ziviler Krisenprävention und vernetzter Sicherheit macht, aber
auch für das, was die Regierung leistet.
({8})
Wir halten uns hier etwas zu weit im Hintergrund. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir das darstellen.
({9})
Ein anderer Punkt, der ganz entscheidend ist: Wir
sollten unsere Mittel auch international sinnvoll einsetzen. Sie dürfen nicht verpuffen. Der Sudan ist ein gutes
Beispiel, wie es funktionieren kann. Wir brauchen mehr
Kohärenz zwischen der Europäischen Union, der NATO
und vor allen Dingen der OSZE, weil diese Organisation
gerade im Rahmen des Korfu-Prozesses in diesem Bereich sehr viel leisten kann.
Ein weiterer Punkt, den ich heute früh in der Afghanistan-Debatte angesprochen habe: Was nützt uns das
viele Geld, das wir für zivile Krisenprävention ausgeben,
wenn wir nicht das Personal, die Fachkräfte in Deutschland gewinnen, die bereit sind, für lange Zeit dorthin zu
gehen?
({10})
Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir dieses Problem gemeinsam lösen können. Ich glaube, es ist ganz
wichtig, dass wir zivile Fachkräfte ins Ausland schicken,
die dort ihre Erfahrungen einbringen, nach Deutschland
zurückkehren und hier Klarheit schaffen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
abschließend sagen: Es nützt nichts, wenn wir Gutes tun;
wir müssen auch darüber reden. Ich möchte das mit dem
Frühwarnsystem verknüpfen: Wir brauchen eine Einrichtung, die Krisen erkennt, die langfristige Trends beobachtet, die eine enge Verbindung zu Thinktanks, der
SWP, anderen Einrichtungen und der Wissenschaft hat,
die in der Lage ist, unsere Einsätze in der Friedensarbeit
weltweit zu begleiten, die im Ausland eine Kommunikationsstrategie verfolgt, die klarmacht, was Deutschland
mit seiner zivilen Krisenprävention im Ausland erreichen will, die aber auch die deutsche Bevölkerung davon
überzeugt. Wir tun viel Gutes. Wir müssen es aber besser
in die Öffentlichkeit bringen. Das sollten wir gemeinsam
anpacken.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kathrin Vogler für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
die Bundesregierung 2004 den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ vorlegte, war ich beim Bund für Soziale Verteidigung beschäftigt; das ist ein Fachverband für gewaltfreie
Politik und konstruktive Konfliktaustragung. Wir sahen
diesen Aktionsplan damals mit gemischten Gefühlen: einerseits mit Erwartungen, weil wir immer gefordert hatten, dass die Politik die zivile Konfliktbearbeitung endlich ernst nimmt, andererseits mit großer Skepsis, weil
auch dieser Aktionsplan nicht frei von militärischer Logik war. Das war auch nicht anders zu erwarten. Wenn
wir uns erinnern: Damals befand sich die Bundeswehr
schon drei Jahre im Krieg in Afghanistan.
Auch unsere Projektpartner im Ausland haben uns
immer wieder völlig zu Recht gefragt: Wie wollt ihr uns
eigentlich im Friedensprozess unterstützen, während
euer Land selbst Krieg führt? Für mich gehört deshalb
beides zusammen: den Krieg zu bekämpfen, auch wenn
er als humanitärer Einsatz oder Krieg gegen den Terror
daherkommt, und gleichzeitig eine Kultur des Friedens,
eine Kultur der Gewaltfreiheit zu entwickeln und umzusetzen.
({0})
Denn Gewalt - das sehen wir heute in Afghanistan - zerstört nicht nur auf der Gegenseite, sondern sie verändert
auch unsere Gesellschaft, und das zum Negativen. Projekte wie der Zivile Friedensdienst haben daher eine
ganz besondere, auch eine politische Dimension. Sie zeigen nämlich reale Alternativen auf, wo andere Krieg für
alternativlos halten.
Ich will aus dem Sudan berichten. Ich war im November letzten Jahres mit einigen Kolleginnen und Kollegen
aus meiner Fraktion dort. Alle haben erwartet, dass es
nach den Jahrzehnten blutigen Bürgerkriegs und nach
dem schwierigen Prozess im Hinblick auf das Unabhängigkeitsreferendum jetzt zu neuen Gewalttaten kommen
würde. Dass das nicht geschah, dafür haben auch die
Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes im Sudan mit
ihren Partnern gesorgt. Wir konnten die Ergebnisse im
November beobachten. Sie haben es tatsächlich geschafft, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen und sogar die verfeindeten Parteien zusammenzubringen und mit allen gemeinsam ein Aktionsprogramm
für ein gewaltfreies Referendum zu erarbeiten - einen
Friedensvertrag von unten, der von allen Beteiligten
dann auch tatsächlich umgesetzt wurde.
({1})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann nur zivile
Konfliktbearbeitung: Die Menschen unterstützen, eigene
friedliche Lösungen zu finden.
Aber die Vermittler können ihren Erfolg nicht mehr
feiern. Ende 2010 wurde der zivile Friedensdienst im
Sudan eingestellt. Die Fachkräfte sind ausgereist, und
die so wichtige Unterstützung, die der DED dort bisher
geleistet hat, unterbleibt. Warum? Das kann uns das zuständige Ministerium, das BMZ, immer noch nicht erklären. Ich frage Sie jetzt: Wie ernst nehmen Sie die zivile Krisenprävention, wenn Sie in so einer kritischen
Situation ein solches Projekt beenden?
({2})
Eine Antwort auf diese Frage liefert der dritte Umsetzungsbericht. Über viele Seiten hinweg beschäftigen
Sie sich da nämlich mit Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte, militärischer Ausbildungshilfe, militärischer Terrorismusbekämpfung, UNO-Militärmissionen, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU und
sogar mit der NATO-Operation in Afghanistan. Ihnen
ist, mit Verlaub, das Zivile tatsächlich völlig abhanden
gekommen. Positive Beispiele wie der zivile Friedensdienst im Sudan kommen dabei unter die Räder. Deswegen ist dieser Bericht eine erschütternde friedenspolitische Bankrotterklärung.
({3})
Meine Fraktion, Die Linke, will einen konsequenten
Ausbau der zivilen Konfliktbearbeitung, aber bitte nicht
als Feigenblatt, sondern als ernsthafte Alternative zum
Militär. Dafür braucht es mehr Ideen, mehr Mittel. Da
unterstütze ich die Forderung von Frau Bulmahn. Wir
brauchen mehr Personal, mehr ausgebildete Fachkräfte.
Vor allem jedoch brauchen wir ein Ende der fatalen
zivil-militärischen Zusammenarbeit, nicht nur in Afghanistan.
({4})
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wohin wir in diesen Tagen auch schauen, ob nach Tunesien oder Ägypten, auf das Referendum im Sudan - das
wurde erwähnt -, auf die Elfenbeinküste oder auch auf
die Krise in Afghanistan, über die wir heute Morgen
sprachen -, alle diese Krisen zeigen: Wirksame Präventionspolitik ist bitter nötig. Wir suchen in all diesen Krisen, zum Teil auch Kriegen, nach Konzepten für einen
dauerhaften Frieden, für einen Friedensaufbau.
Ich gebe Ihnen recht: Das Referendum im Sudan ist,
obwohl wir alle das Schlimmste befürchtet haben, nämlich dass es im Grunde schon während des Referendums
zu einer Eskalation kommt, erst einmal ein gelungenes
Beispiel ziviler Krisenprävention. Ich will das auch klar
anerkennen. Ich glaube, dass wir alle daran mitgearbeitet
haben. Wir haben das ja über den interfraktionellen Antrag gemeinsam, Frau Schuster - jetzt ist sie weg -, auf
den Weg gebracht. Die Bundesregierung hat verschiedene Dinge umgesetzt. Jetzt muss es natürlich auch so
weitergehen. Es bleibt nämlich nur dann bei der Abwesenheit von Gewalt, wenn die internationale Gemeinschaft jetzt entschlossen weiter zivile Krisenprävention
betreibt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vogler?
Gerne.
Frau Kollegin Müller, darf ich Sie, wenn Sie jetzt die
große Gemeinsamkeit beschwören, daran erinnern, dass
die Fraktion Die Linke bei diesem interfraktionellen Antrag zum Sudan wie auch bei allen anderen interfraktionellen Anträgen, die Sie im Bereich der auswärtigen
Politik angestoßen haben, ausgegrenzt worden ist? Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir uns nicht für alles,
was Sie in diesem Antrag als Konzept vorgelegt haben,
so unwidersprochen vereinnahmen lassen wollen; denn
auch in dem Sudan-Konzept spielt die militärische Karte
wieder eine gewisse Rolle.
Ja, ich nehme das zur Kenntnis. Ich will sehr deutlich
sagen: Ich habe ja zu der ersten Runde auch die Linke
eingeladen. Das muss man leider bei der Koalition und,
ich glaube, vor allen Dingen bei der CDU abladen, die es
im Grundsatz der Linken verweigert, gemeinsam über
solche Anträge zu diskutieren. Das finde ich bedauerlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
({0})
- Richtig. - Aber man lässt sie ja aus der Verantwortung.
Wenn wir mit ihnen diskutiert hätten, wäre ja klar geworden, dass sie bestimmte Teile des Antrages nicht teilen. Ich glaube, da müssen Sie noch einmal in sich gehen. Wenn man nämlich möchte, dass Sudan ein gutes
Beispiel ziviler Krisenprävention bleibt, dann darf man
eines nicht tun: sogar Beobachtermissionen, die im Kern
nach Kapitel 6 eingerichtet sind - das ist nämlich die
UNMIS-Mission im Südsudan -, als Kriegseinsatz diffamieren und ablehnen. Das ist nun wirklich keine gelungene Präventionspolitik.
({1})
Ich möchte die Antwort noch ergänzen: Ihr Kollege
van Aken - ich habe sehr gut hingehört - hat in der letzten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses ergänzt, dass
die Linke erwartet, dass man das UNMIS-Mandat fortführt. Wir sind gespannt, ob Sie zustimmen.
Ich komme zurück zum Thema: Der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ steht für eine Grundausrichtung
deutscher Außenpolitik, die zwar unter der rot-grünen
Regierung auf den Weg gebracht wurde, aber auch seinerzeit schon gemeinsam mit fast allen Fraktionen des
Deutschen Bundestages im Bundestag beschlossen
wurde. Das bedeutet: Deutschland will und muss vor allem zivile Friedensmacht in der Welt sein. Das ist der
Anspruch des Aktionsplans.
Ich glaube auch, dass es ein wichtiger weiterer Schritt
war, den neuen Unterausschuss „Zivile Krisenprävention
und vernetzte Sicherheit“ einzurichten. Das hat wieder
Bewegung in die Sache gebracht. Das war auch notwendig. Obwohl es seit Jahren einen zusätzlichen Bedarf an
zivilen Präventionsmaßnahmen gerade bei der UNO gibt
und eigentlich jeder weiß, dass Vorbeugen nicht nur besser als Heilen, sondern auch billiger ist, müssen wir
heute leider feststellen, dass die Regierungen seit 2005
die Umsetzung und die Weiterentwicklung des Aktionsplans sträflich vernachlässigt haben. Es hat zwar eine
Aufstockung der Finanzmittel gegeben, Frau Buhlmann,
aber politisch - das haben wir auch so bilanziert - hat
der Aktionsplan keine wirkliche Rolle mehr gespielt und
der Beirat vor sich hergedümpelt. Auch die Diskussionen im Ressortkreis finden nicht mehr auf Staatssekretärsebene, sondern auf einer ganz anderen Ebene statt.
Das bedeutet eine Abwertung der zivilen Krisenprävention. Wir als Parlament müssen gemeinsam versuchen,
mit diesem neuen Unterausschuss die zivile Krisenprävention zu stärken. Das ist unser Anliegen.
({2})
Meiner Meinung nach sieht man das auch im dritten
Umsetzungsbericht - auch das haben wir ja gemeinsam
Kerstin Müller ({3})
so bilanziert -, in dem erkennbar eher Defizite den roten
Faden bilden: Viel zu viele Einzelmaßnahmen werden
kommentarlos, kritiklos und eher konzeptlos aneinandergereiht. Es fehlen klare Zielvorgaben; es fehlt eine
Wirksamkeitsanalyse der Politik anhand transparenter
Kriterien. Deshalb ist es richtig, dass wir heute hier gemeinsam dieses Berichtswesen ändern. Wir hoffen, dass
es jetzt zu einem Aktionsplan kommt, der klare Zielvorgaben gibt. Nur dann kommen wir in der Krisenprävention weiter.
Ich möchte noch eine Anregung bezüglich eines
Punktes geben, auf den wir uns bisher nicht einigen
konnten. Man sucht immer noch nach einem politischen
Kopf, nach so etwas wie einem „Mr Zivile Krisenprävention“ bzw. einer „Mrs Zivile Krisenprävention“. Wir
alle, die wir hier sitzen, sind schon länger in der Politik
und wissen, dass ein Thema, solange es einen solchen
politischen Kopf nicht hat, auch nicht wirklich wichtig
ist. Die Folge ist, der Ressortkreis steuert die Politik
nicht, sondern begutachtet sie nur, und der Beirat soll beraten, wird aber nicht gehört. Deshalb haben wir eben
keine systematische Frühwarnung. Wir handeln nicht
frühzeitig. Das muss sich ändern.
({4})
Unsere Vorstellung ist, dass der Aktionsplan zu einer
Art Roadmap wird, dass deutsche Friedenspolitik endlich als Querschnittsaufgabe umgesetzt wird. Ich finde
es zum Beispiel sehr gut, dass Minister Niebel hier anwesend ist. Damit zeigt er, dass zivile Krisenprävention
auch für die Entwicklungspolitik ein wichtiger Punkt ist.
Es muss uns allen darum gehen, die zivile Krisenprävention aus der Nische ins Zentrum der Politik zu rücken.
Ein weiterer wichtiger Vorschlag ist dabei - die Europäische Union hat das schon -, dass wir uns endlich ein
ziviles Headline Goal, ein nationales ziviles Planziel setzen, anhand dessen man zeigen kann, wohin die Reise
gehen soll. Man muss dann auch ganz klar beschließen,
dass mehr zivile Fähigkeiten bei der EU und bei der
UNO aufgebaut werden müssen. Dafür muss auch
Deutschland Personalpools zur Verfügung stellen. Das
ist nötig, damit die UNO und die Europäische Union
auch wirklich als zivile Friedensmacht in der Welt auftreten können.
Ich komme zum Schluss. Wenn wir die zivile Krisenprävention jetzt nicht stärken, dann werden wir - ich bezeichne das jetzt einfach einmal so - das AfghanistanTrauma nicht überwinden können. Man wird uns vielleicht irgendwann einmal vorhalten: Wer die Zeichen der
Zeit nicht erkennt, den bestraft das Leben. Ich hoffe,
dass das nicht passiert.
Vielen Dank.
({5})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kollegin Kerstin Müller hat es gesagt: Vorbeugen ist
besser als heilen. Überheben wir uns nicht manchmal ordentlich? Sind wir nicht manchmal eine ganze Portion
anmaßend? Wenn es so einfach wäre, wie Sie behaupten,
wenn es einfach darum ginge, viel Geld zur Verfügung
zu stellen, warum haben wir dann zum Beispiel - ich
nenne Zahlen vom letzten Jahr - mindestens 300 Krisenherde, über 126 bewaffnete Auseinandersetzungen und
mindestens 28 harte, militärische Auseinandersetzungen
gehabt? Machen wir uns nichts vor: Viel Geld hilft nicht
unbedingt viel.
Wir müssen uns überlegen, wo und warum Krisenherde entstehen. Meistens entstehen sie dadurch, dass es
in Entwicklungsländern ethnische Probleme gibt. Hier
bewegen wir uns im Bereich der Kultur und der Traditionen. Ich frage mich: Wie wollen wir kurzfristig Kultur
und Traditionen aufbrechen? Gehen Sie in die Länder
und sagen Sie den Menschen, sie sollten mit ihrer Kultur
und ihrer Tradition brechen, um Frieden zu schaffen.
Das ist ein Bohren dicker Bretter, dass mir angst und
bange wird. Das ist das eine.
Das Zweite ist: Wo entstehen Krisen? Krisen entstehen vor allen Dingen dort, wo die Menschen keine wirtschaftliche Basis haben, wo sie nicht wissen, wie sie die
Arbeitslosigkeit überwinden können, wo sie trotz guter
Ausbildung bis hin zum Hochschulstudium keine Arbeitsplätze haben, wo sie mit einer Arbeitslosigkeit unter
16- bis 30-Jährigen von bis zu 50 Prozent zu kämpfen
haben, wo ihre wirtschaftliche Basis nicht funktioniert
bzw. gar nicht vorhanden ist. Dort entstehen Krisen. Als
aktuelles Beispiel nenne ich Tunesien.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vogler von den Linken?
Schade, ich war gerade so mittendrin. Aber wahrscheinlich finde ich meinen Faden wieder, Frau Kollegin.
({0})
Aber ich weiß nicht, ob ich eine Kurzintervention genehmige.
({0})
Bleiben Sie lieber bei der Zwischenfrage, das geht
schneller.
Herzlichen Dank, Kollegin Pfeiffer. - Sie haben ausgeführt, dass Sie es als Anmaßung empfinden, wenn behauptet wird, dass einfach nur ausreichend Mittel zur
Verfügung gestellt werden müssen. Sicherlich können
wir damit nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Da haben Sie völlig recht. Geld alleine ist nicht alles. Das se9926
hen wir daran, dass zum Beispiel die am höchsten gerüstete Militärmacht, nämlich die USA, die eine Menge für
ihre angebliche Sicherheit ausgibt, trotzdem nicht unangreifbar ist.
Ich möchte auf Ihre Ausführungen eingehen. Sie haben gesagt, zugrunde liegen meist ethnische Konflikte,
und dabei geht es um Kultur und Tradition. Diesem
Punkt möchte ich gerne widersprechen, gerade auch
durch meine Erfahrung im Sudan. Natürlich entbrennen
die Konflikte häufig an ethnischen Grenzen, aber die unterschiedlichen Ethnien werden auch gezielt gegeneinander gehetzt und gezielt instrumentalisiert, weil es um
Macht und Ressourcen geht, weil es um Land oder Wasserreserven oder andere natürliche Reserven geht, die
von Interesse sind. Wir könnten durchaus mehr tun, indem wir dafür sorgen, dass die Menschen in anderen
Ländern die Möglichkeit bekommen, ihre Wirtschaft solide aufzubauen, dass sie nicht von Ausbeutung ihrer
Bodenschätze oder von Landraub betroffen sind, und indem wir eine Klimapolitik machen, die der Versteppung
und Verwüstung großer Teile Afrikas entgegenwirkt.
Stimmen Sie mir zu, dass wir diesen Bereich stärker gewichten sollten und dort viel mehr Mittel zur Verfügung
stellen sollten?
Das habe ich in meiner Rede nicht ausgeschlossen,
oder? Ich habe gesagt: zum Beispiel. Natürlich ist auch
das ein Teil der Friedens- und Konfliktpolitik, die vor
Ort gemacht wird. Insofern sind wir nicht weit voneinander entfernt. Wir würden wahrscheinlich andere Ansätze
wählen, und die Ideologie wäre sicherlich eine andere,
aber im Prinzip bin ich bei Ihnen.
Ich sprach gerade davon, dass es wichtig ist, den
Menschen eine wirtschaftliche Basis zu ermöglichen.
Wir machen in der Entwicklungszusammenarbeit viel in
Sachen Bildung und Ausbildung. Ich glaube, dass wir in
der Entwicklungszusammenarbeit sehr wohl erfolgreich
waren, was die Zahl der jungen Menschen angeht, die
wir ausgebildet und denen wir Weiterbildungsmöglichkeiten eröffnet haben, denen wir berufliche Bildung ermöglicht haben. Das ist ein Teil der Prävention, die wir
anbieten können. Der andere Teil der Prävention ist, Unterstützung zu leisten, wenn es darum geht, kleine und
mittlere Betriebe aufzubauen und ihre Existenz zu sichern. Dabei spielt das Handwerk eine wichtige Rolle. In
Deutschland stellt das Handwerk die gesellschaftliche
Basis dar, aber in den Entwicklungsländern finden wir
kaum Handwerksbetriebe, die Jugendliche ausbilden
und Dienstleistungen anbieten. Insofern haben wir dort
ein breites Betätigungsfeld, auf dem wir unterstützend
tätig sein können.
Ich glaube nicht, dass wir dafür sehr viele Mittel brauchen. Notwendig ist einerseits der politische Wille. Andererseits aber - damit komme ich wieder zum Thema
„anmaßend und überheblich“ - reicht der politische
Wille alleine nicht aus. Entscheidend ist, dass auch unsere Partner vor Ort wollen und mitziehen. Wir können
ihnen nicht etwas aufzwingen, indem wir sagen: Wenn
ihr macht, was wir euch vorschlagen, dann ist alles wunderbar. - Stattdessen sind Überzeugungsarbeit und der
Wille zum Frieden notwendig. Es gibt viele Ursachen,
warum der Wille zum Frieden nicht vorhanden ist, unter
anderem aus den von Ihnen genannten Gründen, Frau
Vogler; da kann ich Ihnen durchaus zustimmen.
Ganz kurz noch zu dem Bericht der Bundesregierung
und dem Antrag der SPD; das ist mir noch wichtig. Auch
viele Berichte helfen nicht viel. Wenn wir das Berichtswesen jetzt verschärfen, ändert das nichts an den Problemen vor Ort. Auch durch eine zusätzliche Staatssekretärsrunde erzielen wir weder einen politischen Mehrwert
noch mehr Informationen, die wir uns unter Umständen
wünschen. Deshalb kommen wir an diesem Punkt nicht
zusammen. Aber ein Großteil des Antrages ist sehr wohl
unterstützenswert, und aus diesem Grunde werden wir
konstruktiv weiter miteinander arbeiten.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Dritten Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile
Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4272 in Kenntnis der
Unterrichtung auf Drucksache 17/2300 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4532 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche
- Drucksachen 17/3173, 17/3733 Berichterstattung:
Abgeordnete Gitta Connemann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Matthias Zimmer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren über ein Thema, das in den Verhandlungen des
Vermittlungsausschusses eine wichtige Rolle spielt. Insofern kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass
es heute weniger um Lösungsansätze für dieses Thema
als vielmehr um eine öffentlich inszenierte Empörung im
Stil der Anklage durch die Opposition geht.
({0})
- Das kann ich verstehen, Frau Mast.
({1})
Ich denke, die Zwischenrufe, die von der linken Seite
des Hauses kommen, bestätigen den Verdacht, den ich
hatte, sehr deutlich.
({2})
Ich darf um Verständnis dafür bitten, dass ich am Beginn der Debatte zunächst einige sehr sachliche Anmerkungen mache.
({3})
Zunächst einmal scheint es einen sehr breiten Konsens darüber zu geben, dass im Bereich der Weiterbildung Handlungsbedarf besteht.
({4})
So hat auch der Staatssekretär Brauksiepe in der Debatte
am 7. Oktober 2010 ausgeführt, dass er die Forderungen
nach einem Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche
im Grundsatz für richtig hält. Das Ministerium hat den
Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines entsprechenden Tarifvertrages dennoch abschlägig beschieden, weil eine zentrale Voraussetzung nicht vorlag, nämlich die Repräsentativität des Tarifvertrages.
({5})
Die Tarifbindung belief sich allenfalls auf 25 Prozent.
({6})
Insofern verstehe ich den Wunsch des Staatssekretärs
Brauksiepe, der in der letzten Debatte gesagt hat:
Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt gefordert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mitglieder zu gewinnen, um so zu einer höheren Tarifbindung in der gesamten Branche zu kommen.
Dabei sind wir, so höre ich, auf einem guten Weg.
Ich möchte aber noch eine etwas grundsätzlichere
Überlegung nachschieben. Es geht um den Begriff des
öffentlichen Interesses, wie er im Tarifvertragsgesetz
vorkommt. Niemand hindert uns ja beispielsweise daran,
das Erfordernis der Repräsentativität im Entsendegesetz
im Wege der Gesetzgebung für den Fall einzuschränken,
dass ein öffentliches Interesse vorliegt. Wir sprechen
hier nämlich über einen Bereich, der durch ein staatliches Nachfragemonopol gekennzeichnet ist. Die Bundesagentur für Arbeit und die Optionskommunen fragen
diese Leistungen exklusiv für die Bereiche des SGB II
und des SGB III nach. Die Aus- und Weiterbildung dient
einem öffentlichen Interesse, nämlich der Reduzierung
der Arbeitslosigkeit. Das öffentliche Interesse ist also
durch die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen umschrieben.
Wir wollen, dass das zur Aus- und Weiterbildung eingesetzte Geld effektiv und nachhaltig eingesetzt wird.
Ob dies dort der Fall ist, wo Dumpinglöhne gezahlt werden, bezweifle ich.
({7})
Die Aus- und Weiterbildung einem ruinösen Lohndumping zu unterwerfen, dient also nicht dem öffentlichen Interesse, eher im Gegenteil: Von Lehrkräften, die
deutlich unter einem angemessenen Einkommen bezahlt
werden, kann ich vermutlich eher keine effektive und
nachhaltige Aus- und Weiterbildungsleistung erwarten,
({8})
durch die arbeitslose Menschen befähigt werden, wieder
in Arbeit zu kommen. Insofern liegt die Unterbindung
einer solchen Abwärtsspirale durchaus im öffentlichen
Interesse.
({9})
Das Geld, das hier nur scheinbar eingespart wird, müssen wir an anderer Stelle vielleicht doppelt und dreifach
ausgeben.
({10})
Nun ist gesagt worden: Selbst wenn wir eine Erstreckung des Tarifvertrages erreichen, gilt das nicht für alle
potenziellen Anbieter. - Das ist richtig. Ich denke aber,
dass man diesem Problem durch eine Änderung in der
Vergabeordnung beikommen kann.
Bildungsträger, die sich um Aufträge der Bundesagentur für Arbeit bemühen, müssen gemäß der Anerkennungs- und Zulassungsverordnung Weiterbildung
zertifiziert sein. Die darin formulierten Anforderungen
an die Träger sind vielfältig. Es geht dort um didaktische
und fachliche Eignungen, um Qualitätssicherung, um
Kenntnisse des Arbeitsmarktes und vieles mehr. Die Erfüllung der Anforderungen ist durch den Träger umfassend nachzuweisen. Warum nimmt man in den Zertifi9928
zierungsprozess nicht auch die Anforderung auf, dass
eine anständige Bezahlung geleistet wird, was in der Regel durch die Mitgliedschaft in einem Tarifverbund
nachgewiesen wird?
({11})
Was spricht dagegen, den Fachkundenachweis durch einen Nachweis solider Betriebsführung zu ergänzen, der
durch tarifliche Bezahlung erbracht wird?
Eines ist doch auch wahr: Solide und nachhaltige Betriebsführung hat auch etwas damit zu tun, Mitarbeiter
zu binden. Dort, wo Dumpinglöhne gezahlt werden, ist
die Fluktuation der Mitarbeiter hoch und die Nachhaltigkeit der Arbeit niedrig. Also könnte es auch hier im öffentlichen Interesse liegen, die Nachhaltigkeit der Arbeit
und die Solidität der Betriebsführung zu fördern.
({12})
Eine letzte Frage: Warum ist der damalige Verordnungsgeber im Jahr 2004 nicht auf den Gedanken gekommen, diesen wichtigen Aspekt zum Bestandteil der
Zertifizierung zu machen?
({13})
Die Debatte über einen Mindestlohn in der Weiterbildung ist mit vielen juristischen Fallstricken behaftet.
Über das Ziel sind wir uns weitgehend einig, anders als
bei der Frage des gesetzlichen Mindestlohns. Ich hoffe
sehr, dass bei den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss genügend juristische und politische Kreativität
zusammenfließt, um dieses Problem einer sauberen,
nachhaltigen und für die Betroffenen vorteilhaften Lösung zuzuführen.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Katja Mast von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Kollege Zimmer, Ihre Rede bietet im Vergleich
zu der Debatte, die wir am 7. Oktober geführt haben, immerhin schon eine Perspektive.
({0})
Sie haben akzeptiert, dass es in der Weiterbildungsbranche ein Problem gibt. Wohlgemerkt, es geht um die
23 000 Beschäftigten dieser Branche, die nur Aufträge
der Bundesagentur für Arbeit ausführen. Sie ringen um
eine Lösung des Problems. Auch das ist ein Mehrwert
der heutigen Debatte.
Ich will aber auch die Unterschiede betonen. Wir, die
SPD, haben einen Antrag vorgelegt, in dem wir vorschlagen, den Mindestlohntarifvertrag der Branche über
das Entsendegesetz für allgemeinverbindlich zu erklären. Das ist unser Weg, um die Würde der Arbeit in der
Weiterbildung zu schützen.
Sie sagen, dass das nicht möglich ist; der Tarifvertrag
sei nicht repräsentativ. Das sei Vorschrift. Im Gesetz gibt
es aber keine solche Vorschrift.
Insofern besteht ein Unterschied im Handeln: Wir
müssen uns nicht hinter juristischen Argumenten verstecken, wie Sie das in den Debatten tun, sondern wir fordern die schwarz-gelbe Regierung auf, zugunsten der
Beschäftigten politisch zu handeln und dadurch etwas zu
erreichen.
({1})
Es geht darum, das, was in Ihrem Koalitionsvertrag
steht, in die Tat umzusetzen. Ich will kurz darauf eingehen. Ihr Koalitionsvertrag trägt die Überschrift „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“. Auf Seite 1, noch in der
Gliederung, findet sich der wichtige zweite Punkt „Bildungsrepublik Deutschland“. Auf Seite 52 findet sich
der folgenschwere Satz:
Qualität in Bildung und Erziehung erfordert besonders gut ausgebildete Fachkräfte.
({2})
Auf Seite 54 findet sich der wichtige Satz:
Lebensbegleitendes Lernen zu stärken ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
wenn Sie diese Sätze ernst nehmen, dann hätten Sie
schon im Oktober unserem Antrag zustimmen können.
Dann hätten Sie mit uns gemeinsam den Weg gehen können, für die 23 000 Beschäftigten in der Weiterbildungsbranche einen Mindestlohn zu vereinbaren. Wohlgemerkt, es geht um einen Stundenlohn von 10,93 Euro für
pädagogische Kräfte in den neuen Bundesländern und
von 12,28 Euro in den alten westdeutschen Bundesländern. Für pädagogische Arbeit, lebensbegleitendes Lernen und die Bildungsrepublik Deutschland ist das nicht
zu viel.
({3})
In Ihrem Koalitionsvertrag finden sich viele warme
Worte. Wir wollen keine kalten Taten, sondern warme
Taten von Ihnen.
({4})
- Wir wollen keine heißen Nadeln. Damit haben Sie
vielleicht den Koalitionsvertrag gestrickt. Ich hatte gestern Abend das Vergnügen, in Ihrem Koalitionsvertrag
nachzulesen, was Sie darin über die Würde der Arbeit
schreiben. Kein Treffer. Was steht über gute Arbeit im
Koalitionsvertrag? Kein Treffer.
In Ihrem gesamten Koalitionsvertrag setzen Sie sich
nicht mit der Kernfrage auseinander, dass Menschen, die
arbeiten gehen und mit ihren Steuermitteln zum Wohlstand dieser Republik beitragen und Bildung und Straßen finanzieren, von ihrer Hände Arbeit leben und in
Würde arbeiten gehen sollten. Das ist der Kernkonflikt
zwischen Ihnen und uns.
({5})
Deshalb bringen wir diesen Antrag ein. Ich freue
mich darauf, bei diesem Thema weiterhin den Finger in
die Wunde zu legen. Wenn wir bei den Regelsätzen nicht
gemeinsam weiterkommen - das ist unsere Kernforderung -, dann werden wir wieder einen entsprechenden
Antrag hier im Deutschen Bundestag stellen; denn heute
werden Sie wahrscheinlich nicht den Mut finden, unserem Antrag zuzustimmen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Mast, ich freue mich immer, wenn Sie den
Finger in die Wunde legen wollen. Das ist auch die Aufgabe der Opposition. Sie haben einen ganz konkreten
Weg vorgeschlagen, was Sie machen wollen. Sie müssen
sich schon noch etwas Besseres überlegen, damit der
Finger auch richtig wehtut;
({0})
denn mit dem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, gelingt das, ehrlich gesagt, nicht.
Noch einmal: Die Bundesregierung entscheidet über
die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, nicht
das Parlament. Ich sage das aus einem bestimmten
Grund.
({1})
- Das sind politische Entscheidungen. Ich komme gleich
darauf zurück. Sie werden schon noch merken, warum
ich das sage.
({2})
Es wurde eben schon gesagt: Sogar der Herr Parlamentarische Staatssekretär Brauksiepe hat für das inhaltliche
Anliegen Sympathie erkennen lassen.
({3})
Er hat aber auch klar gesagt: Die Bundesregierung kann
nicht einfach nach Gutdünken entscheiden, sondern sie
muss klare Voraussetzungen zugrunde legen. - Diese
sind eben nicht gegeben. Ich weiß, Frau Kollegin
Müller-Gemmeke wird wahrscheinlich gleich ausführen,
({4})
dass das öffentliche Interesse und die Kriterien, die wir
anführen, natürlich dem Tarifvertragsgesetz entnommen
sind. Aber die Bundesregierung muss klare Kriterien suchen. Dazu kann ich nur sagen: Da liegt es doch sehr
nahe - es ist vernünftig, und es ist unsere politische Auffassung, dass es gut ist -, das Votum des Tarifausschusses heranzuziehen. Da ist mit drei zu drei geurteilt worden.
({5})
Es hat es noch nie in der Bundesrepublik gegeben, dass
ein Tarifvertrag nach Arbeitnehmer-Entsendegesetz für
allgemeinverbindlich erklärt wurde, der keine Mehrheit
im Tarifausschuss hatte. Das ist auch gut so. Das wird es
auch hier nicht geben, weil der Tarifausschuss dafür da
ist, die volkswirtschaftliche Gesamtsicht zu berücksichtigen und die Entscheidung dem politischen Gutdünken
zu entziehen. Deshalb - das ist einer der beiden Gründe - werden wir Ihren Antrag ablehnen, liebe Frau Kollegin.
({6})
Der zweite Grund betrifft die Repräsentativität. Wenn
Sie beide Augen zudrücken, kommen Sie auf einen Repräsentativitätsgrad von maximal 25 Prozent. Das heißt,
25 Prozent der Beschäftigten der Branche sind von dem
Tarifvertrag überhaupt erfasst. Ich sage: Das öffentliche
Interesse hat auch etwas damit zu tun, einen fairen Ausgleich zwischen der Mehrheit und der Minderheit herzustellen. Das heißt aber nicht, dass die Minderheit die
Mehrheit binden kann. Wenn weniger als 25 Prozent der
Beschäftigten allen anderen Arbeitnehmern und Arbeitgebern etwas diktieren können sollen, dann ist das nicht
fair, liebe Kollegin Mast, und ist ein falscher Weg. Das
ist der zweite Grund, warum wir Ihren Vorschlag ablehnen.
({7})
- Oh, das wirft mich ja jetzt geradezu aus dem Konzept. Ich will eine Frage herausarbeiten. Die ist nämlich ganz
spannend, Frau Kollegin Mast. Sie haben eben vom politischen Willen gesprochen. Ich habe schon gesagt, dass
es noch nie geschehen ist, dass ein Tarifvertrag mit einer
so geringen Repräsentativität ohne Mehrheit im Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklärt worden ist.
Wie verhielt es sich denn mit dem Tarifvertrag? Er war
Johannes Vogel ({8})
am 31. August 2009 im Tarifausschuss. Ganz interessant
ist, dass zu diesem Zeitpunkt auch noch ein anderer Tarifvertrag im Tarifausschuss behandelt wurde. Dabei
ging es um das Wach- und Sicherheitsgewerbe. Zwischen den beiden Fällen gibt es erstaunliche Gemeinsamkeiten bzw. Parallelen. Auch die Branche des Wachund Sicherheitsgewerbes steht im Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Es hat einen Antrag gegeben, und es hat einen
Mindestlohntarifvertrag gegeben. Der Tarifausschuss
wurde befasst, und die Repräsentativität war sogar höher. Das Votum war drei zu drei. Seltsamerweise beantragen Sie nicht, dass dieser Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Warum? Vielleicht weil das ein
Tarifvertrag war, bei dem im Tarifausschuss die Arbeitgeberseite für die Allgemeinverbindlichkeit votiert hat,
aber die Arbeitnehmerseite, zumindest die DGB-Vertreter, dagegen war, weil er mit einer christlichen Gewerkschaft ausgehandelt wurde. Es ist legitim, dass die Arbeitnehmerseite das so vertritt, aber das zeigt doch, wie
wichtig es ist, dass wir objektive Kriterien haben und
nicht politisches Gutdünken zugrunde legen. Das ist
nämlich das, was Sie wollen. An dieser Stelle passt es
Ihnen nicht, obwohl dieselben Voraussetzungen vorliegen wie bei der Weiterbildungsbranche. In beiden Fällen
war das Votum drei zu drei im Tarifausschuss. Der Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit passt Ihnen aber politisch nicht, und deshalb sind Sie dagegen.
Das zeigt, dass es sehr richtig ist, dass wir die Allgemeinverbindlichkeit aufgrund klarer und objektiver Kriterien erklären. Wichtig ist das Kriterium der Repräsentativität. Arbeitgeber und Arbeitnehmer - das deutsche
Erfolgsmodell der Tarifautonomie - sollen sich gemeinsam dafür entscheiden, dass der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Wir liefern diese Entscheidung nicht dem politischen Gutdünken aus. Sie, liebe
Frau Kollegin Mast, haben mit der Ungleichbehandlung
des Wach- und Sicherheitsgewerbes und der Weiterbildungsbranche wieder einmal bewiesen, warum das so
richtig ist; denn sonst herrscht politische Willkür. Das ist
übrigens auch der Grund, warum wir gegen den gesetzlichen Mindestlohn sind. Dann wäre die Lohnfindung
nämlich nicht mehr in der Hand der Tarifvertragsparteien, sondern sie wäre der politischen Willkür ausgeliefert. Wir würden dann einen Überbietungswettbewerb
erleben. Das wäre das Ergebnis Ihrer Ungleichbehandlung. Das haben Sie nicht erwähnt und nicht erklärt.
Bei uns ist die Tarifautonomie in guten Händen; denn
wir akzeptieren politisch, dass es die Aufgabe von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist, darüber zu entscheiden, und dass Allgemeinverbindlichkeiten an klare Kriterien geknüpft sein müssen, damit sie im Interesse des
Ganzen und aller Menschen liegen. Deshalb lehnen wir
Ihren Antrag ab.
Neue Argumente - ich habe mich so darauf gefreut habe ich seit der ersten Lesung im Ausschuss von Ihnen
leider nicht gehört. Ich muss Sie enttäuschen: Bei uns hat
es deshalb auch keinen Meinungsumschwung gegeben.
Ihr Antrag ist nichts anderes als eine reine Showveranstaltung. Er ist nicht vernünftig und ist der falsche Weg,
die Qualität in der Weiterbildung zu sichern.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde nicht, dass
das eine Showveranstaltung ist. Ich durfte im Vermittlungsausschuss bislang noch gar nicht mitreden. Von daher fühle ich mich völlig ausgeschlossen. Selbst wenn
Sie alle hier nur meinetwegen säßen, damit ich einmal
mitdiskutieren kann, dann wäre das doch ein Grund.
Herr Zimmer, ich bin nicht dafür da, Herrn
Brauksiepe zu rehabilitieren. Er hat schon vor zwei Jahren in seinem Wahlkreis einen Mindestlohn in der Weiterbildung versprochen. Aber zwei Jahre lang ist nichts
passiert. Auch das Ministerium, in dem er jetzt arbeitet,
hat einen Mindestlohn in der Weiterbildung abgelehnt.
Da er gesagt hat: „Im Grunde bin auch ich für einen
Mindestlohn“, müssen doch die Menschen in seinem
Wahlkreis fragen: Was ist denn aus dem geworden, was
Sie uns vor zwei Jahren versprochen haben? Dass erst
jetzt etwas passiert und dass es so lange dauert, bis Menschen zu ihrem Recht kommen, empfinde ich vom
Grundsatz her als eine absolute Katastrophe.
({0})
Zwei geschlagene Jahre wird daran gearbeitet, und erst
jetzt passiert etwas. Aber nun wird alles hin und her diskutiert. So habe ich mir Politik nicht vorgestellt.
Sie haben ein Plädoyer zugunsten der Tarifpolitik gehalten. Toll! Jeder Tarifpolitiker weiß: Tarifpolitik ist
schneller als der Bundestag. Die Tarifpolitiker kommen
wenigstens zu Ergebnissen.
({1})
Sie reden miteinander, diskutieren und tauschen Argumente aus. Dann gibt es am Ende Tarifverträge. Wenn
das nicht klappt, dann gibt es beispielsweise einen
Streik. Aber man hat ein Ergebnis und schiebt solche
Probleme nicht über Jahre vor sich her.
Ich persönlich empfinde es als eine absolute Katastrophe, dass man ausgerechnet im Bereich der Weiterbildung über dieses Thema reden muss. In der Weiterbildung arbeiten hochqualifizierte Leute. Das sind Leute,
die ein Pädagogikstudium abgeschlossen haben bzw.
Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft studiert haben. Herr Lange, Sie dürfen sich gerne umdrehen und mir zuhören; das fände ich fair.
({2})
- Es ist nett, dass Sie sich umgedreht haben. Vielen
Dank.
({3})
Sich um den Bereich der Weiterbildung nicht zu kümmern und gleichzeitig über Facharbeiterqualifikation zu
reden, das empfinde ich als ein absolutes Vorführen von
Menschen. Es kann nicht sein, dass alle sagen: „Wir
brauchen qualifizierte Fachkräfte“, und dass man denjenigen, die qualifiziert sind und in der Weiterbildung arbeiten, ein vernünftiges Entgelt vorenthält.
Nun zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage, ob die
Tariffähigkeit nachgewiesen ist. Nach Ihren Informationen liegt der Anteil bei nur 25 Prozent.
({4})
Die zuständigen Gewerkschaften haben mir gesagt, es
gebe nicht nur die direkte Tarifbindung. Vielmehr gibt es
noch Haustarifverträge und Anerkennungstarifverträge,
die genau das anerkennen, was die Tarifvertragsparteien
vereinbaren. Addiert man alles, dann kommt man in der
Summe auf weit über 50 Prozent. Das heißt in der Konsequenz: Die Grundlage, von der Sie ausgegangen sind,
nämlich dass es nur 25 Prozent sind, ist nicht richtig. Die
Gewerkschaften selbst vertreten etwas völlig anderes.
Ich kenne auch die Praxis, dass Arbeitgeber manchmal Haustarifverträge und Anerkennungstarifverträge
abschließen, weil sie sich nicht an einen Arbeitgeberverband binden wollen. Das ist die Realität, auch in dieser
Branche. Wenn Sie dies nicht anerkennen, dann haben
Sie haarscharf am Ziel vorbeigeschossen.
Ich hoffe, dass im Vermittlungsausschuss - obwohl
ich nicht dabei bin - etwas Positives für die Menschen
herauskommt. Es geht nicht darum, ob und wie wir hier
über solche Dinge diskutieren und ob es einen Schlagabtausch gibt, sondern darum, dass die Menschen endlich
das bekommen, was sie brauchen; deswegen sind wir
hier. Ich appelliere daher an diejenigen, die am Geschehen viel direkter als ich beteiligt sind: Sorgen Sie für einen Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche! Wenn
Ihnen daran wirklich gelegen ist, dann stimmen Sie dem
Antrag der SPD genauso wie wir zu.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke
von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Dr. Zimmer, ich höre
immer wieder gerne Ihre Reden und Ihre wohlüberlegten
Worte, und ich bin oft Ihrer Meinung. Die Frage ist aber
immer: Welche Unterstützung haben Sie eigentlich in Ihrer eigenen Fraktion, wenn Sie so reden und solche Vorschläge machen? Vor allem frage ich mich: Welche Unterstützung haben Sie bei der FDP? Ich gehe davon aus,
dass sie minimal ist. Das ist die eine Sache.
Das Zweite ist: Ich habe zu meinem Bedauern nicht
gehört, dass Sie handeln werden, wann Sie handeln werden, wie Sie handeln werden, dass es in der Weiterbildungsbranche wirklich vorangeht. Außerdem muss ich
sagen - wir bleiben dabei -: Mindestlöhne sind notwendig; sie müssen bei uns in Deutschland endlich Realität
werden.
({0})
Auch heute muss öffentlich gesagt werden, mit welch
schräger Begründung die Bundesregierung - Herr Vogel,
ich halte daran fest - den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche abgelehnt hat. Sie sagen, es sei kein öffentliches Interesse vorhanden, weil die Tarifbindung
höchstens 25 Prozent betrage,
({1})
während laut Ihrer merkwürdigen Interpretation 50 Prozent notwendig seien. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
kennt aber keine 50-Prozent-Schwelle; die kennt nur das
Tarifvertragsgesetz. Wegen dieses Sachverhalts habe ich
über eine Kleine Anfrage genauer nachgefragt. In der
Antwort der Bundesregierung konnte man sehen, dass
sie kleinlauter geworden ist. Plötzlich wurde nur noch
von einer „gewissen Tarifbindung“ gesprochen, und
zwar mit einem Verweis auf einen Kommentar von Professor Thüsing und Professor Bayreuther.
Natürlich ist eine „gewisse Tarifbindung“ notwendig;
schließlich wollen wir alle nicht, dass irgendein Hungerlohntarifvertrag der vermeintlich christlichen Gewerkschaften für allgemeinverbindlich erklärt wird.
({2})
Dennoch: Was heißt denn nun eine „gewisse Tarifbindung“, bezogen auf die Weiterbildungsbranche? Diese
Antwort ist uns die Bundesregierung schuldig geblieben.
Es reicht auch nicht, einen passenden Kommentar zur
Tarifbindung zu suchen und sich dann bei der Frage nach
den Kriterien, wann ein öffentliches Interesse gegeben
ist, in Schweigen zu hüllen. Die Bundesregierung hätte
einfach einmal den Kommentar von Professor Thüsing
weiterlesen müssen. Zwei Seiten weiter kommentiert er
nämlich das „öffentliche Interesse“. Dort steht, dass
auch im Tarifvertragsgesetz allgemeine sozialpolitische
Zielsetzungen berücksichtigt werden dürfen. Dann heißt
es - jetzt wird es richtig interessant; hören Sie gut zu; ich
zitiere -:
Erst recht wird das im Geltungsbereich des neuen
AEntG gelten müssen, nachdem der Gesetzgeber
… ausdrücklich festgelegt hat, dass das Gesetz faire
und funktionierende Wettbewerbsbedingungen gewährleisten, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erhalten und die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie sichern soll.
Es müssen also nicht eine Tarifbindung von 50 Prozent,
sondern nur eine gewisse Tarifbindung und vor allem sozialpolitische Zielsetzungen laut Arbeitnehmer-Entsendegesetz berücksichtigt werden, und deswegen - ich
bleibe dabei - ist die Begründung für die Ablehnung des
Mindestlohns in der Weiterbildungsbranche schlichtweg
nicht akzeptabel.
({3})
Mein Fazit: Die Bundesregierung interpretiert die Gesetzeslage falsch, und zwar zulasten der Beschäftigten.
Vor allem sind die Bundesregierung und auch Sie, die
Regierungsfraktionen, nicht in der Lage, eine sozialpolitische Vision dafür, was öffentliches Interesse in der Zukunft ist, zu entwickeln. Besonders skandalös und unverständlich finde ich das bei der Weiterbildungsbranche im
Bereich SGB II und III.
Ich appelliere also an die Regierungsfraktionen: Gehen Sie in sich! Lesen Sie nochmals ganz genau die
Kommentare zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz, und
unterstützen Sie den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche! Denn die Beschäftigten haben faire Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne verdient.
Am Schluss muss ich Ihnen auch noch sagen: Seien
Sie doch nicht immer dagegen - insbesondere nicht gegen Mindestlöhne!
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Liebe Kollegen von der SPD, ja, Sie haben erkannt, dass Weiterbildung ein zentraler Aspekt bei
der Erhaltung des Arbeitskräftepotenzials in unserem
Land ist. Ja, wir wollen das dritte arbeitsmarktpolitische
Instrument fortführen. Im Frühjahr letzten Jahres haben
wir uns mit der SPD auf eine Jobcenterreform einigen
können. Im Herbst haben wir versucht, eine Änderung
der Regelsätze auf den Weg zu bringen. Da sind Sie
schon von Bord gegangen, liebe Freunde von der SPD.
({0})
Derzeit laufen - Kollege Zimmer hat soeben darauf hingewiesen - zähe Verhandlungen im Vermittlungsausschuss. Als Nächstes wollen wir uns im Frühjahr der
Flexibilisierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente
zuwenden.
({1})
- Ich würde sie zulassen, wenn der Präsident es erlaubt.
Dann können Sie gerne eine Zwischenfrage stellen,
Frau Mast. Er hat schon erklärt, dass er sie zulassen will. Frau Mast, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident und Herr Kollege
Lehrieder. - Ich habe folgende Frage: Sie rekurrieren bei
den Verhandlungen über die Regelsätze für Arbeitslosengeld-II-Empfänger die ganze Zeit auf den Vermittlungsausschuss. Dort spielt das Thema Mindestlohn
auch eine Rolle. Welche - vor allen Dingen mit den
Bundesländern - abgestimmte Position hat SchwarzGelb denn zum Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche?
Wir haben insbesondere im Hinblick auf den 1. Mai
2011 eine Diskussion über einen Mindestlohn in der
Leiharbeitsbranche geführt. Im Übrigen haben wir, sowohl die Kollegen von der FDP als auch wir von der
CDU/CSU, unsere Verhandlungsführer in den Verhandlungen sitzen. Sie werden Verständnis dafür haben,
({0})
dass man Verhandlungen nicht quasi auf dem Marktplatz
des Plenums des Bundestags führen kann. Das würde Ihnen so passen. Nein, liebe Kollegen, dazu werden Sie
von mir keine Antwort erwarten können.
({1})
Sie haben auch keine Antwort erwartet, wenn Sie ehrlich
sind.
({2})
Ich habe bereits die Flexibilisierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente erwähnt. Die Vorredner haben
bereits auf das staatliche Nachfragemonopol hingewiesen, das gerade in der Weiterbildung natürlich bei der öffentlichen Hand liegt. Meine Damen und Herren von der
SPD, auch die christlich-liberale Koalition erkennt die
zentrale Bedeutung von Weiterbildungsmaßnahmen an.
Allerdings sehen wir einen Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche als nicht zielführend an. In den Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind Löhne für einfache Arbeiten oft so weit angehoben worden, dass sie für
viele Unternehmen schlicht zu teuer wurden. In der Weiterbildung wird hochqualifizierte Arbeit geleistet; das
will ich nicht verhehlen. Oft blieben die niedrigsten Tarifgruppen unbesetzt. In den vergangenen Jahren wurden
in manchen Branchen Arbeitsplätze gestrichen oder ins
Ausland verlagert. Von der Schaffung neuer Stellen
konnte keine Rede sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der
SPD, Sie bewegen sich auf dem falschen arbeitsmarktpolitischen Weg. Das Aushandeln der Löhne muss grundsätzlich die Aufgabe der Sozialpartner sein und auch bleiben; denn eine funktionsfähige Tarifautonomie braucht
starke Arbeitgeberverbände und starke Gewerkschaften.
Ich hätte nie gedacht, dass ich hier im Plenum des Bundestags einmal für starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände plädieren darf. In Art. 9 Abs. 3 des
Grundgesetzes wird die Tarifautonomie den Arbeitgeberund Arbeitnehmervertretern zugewiesen.
({3})
Im vorliegenden Fall gab es im Tarifausschuss ein Votum von 3 : 3. Das heißt, dass keine Mehrheit erreicht
worden ist, weder für das eine noch für das andere.
Herr Kollege Vogel hat bereits darauf hingewiesen,
dass Sie - unter anderen Vorzeichen - keine Mindestlöhne im Bereich des Sicherheitsgewerbes fordern, weil
es dort natürlich nicht ins System passt.
Nur mit einer starken Position können die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände für ihre Mitglieder verbindliche und wirkungsvolle Abmachungen treffen. Es wurde bereits von den Vorrednern, auch von der
Kollegin Müller-Gemmeke, die Frage aufgeworfen: Besteht ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlichkeit, wenn die Tarifbindung schwach ist und beispielsweise bei nur 25 Prozent liegt? Das muss man sehr
kritisch sehen. Es kann nicht sein, dass die Minderheit
die Mehrheit zum Teil dominiert und dass die Minderheit für die Mehrheit Tarifverträge abschließt.
Es ist sicher notwendig, Ausnahmen zu machen und
in einzelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als allgemeinverbindlich zu erklären, wie in der Pflegebranche; das haben wir im Sommer gemacht. Da betrug das
Stimmenverhältnis aber 6 : 0.
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Lehrieder, jetzt muss ich doch
nachfragen. Sie haben gerade gesagt, es gehe nicht, dass
die Minderheit über die Mehrheit bestimmt.
Ja, das sollte nicht sein.
Im Tarifvertragsgesetz hat man eine Schwelle von
50 Prozent festgelegt. Ausschlaggebend dafür ist die Anzahl der Arbeitnehmer, die in Unternehmen, welche in
Arbeitgeberverbänden organisiert sind, beschäftigt sind.
Jetzt gibt es das Problem der Tarifflucht. Das heißt, immer mehr Arbeitgeber entziehen sich ihrer Verantwortung und machen sich sozusagen vom Acker. Das führt
dazu, dass diese Regelung wie ein Zirkelschluss wirkt:
Je mehr Arbeitgeber sich davonmachen, desto geringer
sind die Chancen der Gewerkschaften, die geforderte
Quote zu erreichen. Wenn dieses Problem von der Bundesregierung erkannt wird, dann muss sie doch zu der
Auffassung gelangen, dass man staatlicherseits eingreifen und die Allgemeinverbindlichkeit erklären muss, damit die Arbeitgeber endlich aufhören, Spielchen mit den
Gewerkschaften zu treiben.
Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie wissen
genauso gut wie ich - darüber haben wir bereits in der
letzten Legislaturperiode diskutiert -: Bei einer unzureichenden Tarifbindung kann man im Falle von Verwerfungen über das MiArbG, das Mindestarbeitsbedingungengesetz, versuchen, entsprechende Änderungen zu
erreichen. Aber dazu bedarf es, wie gesagt, der Feststellung von gesellschaftspolitischen Verwerfungen. Nur
wenn diese vorliegen, weil beispielsweise eine Tarifflucht zu beklagen ist und das Ergebnis dementsprechend nicht hinnehmbar ist, kann man auf diese Weise
eingreifen. Eine solche Tarifflucht ist aber in der Weiterbildungsbranche nicht festzustellen. Kollege Zimmer hat
schon an die Arbeitgeber in der Weiterbildungsbranche
appelliert, sich stärker tariflich zu binden. Ansonsten
muss man überprüfen, ob ein anderer Weg möglich ist.
Sie können versichert sein - da bin ich mit dem Kollegen Brauksiepe völlig einer Meinung, der vor einem
halben Jahr Ausführungen dazu gemacht hat -: Wir streben eine Absicherung in der Weiterbildungsbranche an,
um eine qualitativ hochwertige und eine vom Erfolg gekrönte Weiterbildung gerade der Langzeitarbeitslosen
auch in Zukunft gewährleisten zu können. Das heißt, wir
werden die Entwicklung sorgfältig beobachten. Dazu bedarf es, mit Verlaub, keines Antrags der SPD.
Zum Schluss meiner Antwort kurz zusammengefasst:
Bei Verwerfungen ist ein Eingreifen möglich; dies geht
über das MiArbG, aber nicht über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz.
Im Vermittlungsausschuss wird diskutiert, ob die Voraussetzungen auch für die Zeitarbeit gegeben sind. Das
Ergebnis bleibt noch abzuwarten; ich hatte bereits darauf
hingewiesen. Für die Weiterbildungsbranche kann aber
bereits jetzt gesagt werden, dass, wie bereits ausgeführt,
die Voraussetzungen derzeit nicht erfüllt werden. Der
von den Sozialpartnern vorgelegte Mindestlohntarifvertrag ist nicht repräsentativ, da nur eine Bindung von
höchstens 25 Prozent an den Tarifvertrag besteht. Die für
das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erforderliche Tarifbindung beträgt - auch hierauf wurde bereits hingewie9934
sen - mindestens 50 Prozent. Ansonsten würde die Minderheit die Mehrheit dominieren; auch das hatte ich
bereits gesagt.
Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages setzt voraus, dass sie im öffentlichen Interesse
geboten erscheint. Ob nun tatsächlich ein öffentliches
Interesse in dieser Angelegenheit besteht, muss vom
Ministerium noch überprüft werden. Das öffentliche Interesse muss in jedem Fall höher gewichtet werden als
das der Tarifvertragsparteien und deren Mitglieder. Dem
Ministerium ist in dieser Fragestellung ein Beurteilungsspielraum einzuräumen; auch das wurde bereits ausgeführt. Der derzeitige Sachstand belegt aber keinen
Rechtsanspruch auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
Meine Damen und Herren, ich könnte noch ein paar
Sätze dazu sagen. Aber da meine Vorredner bereits kompetent und umfassend dazu ausgeführt haben, möchte
ich an dieser Stelle schließen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche ein schönes Wochenende.
({0})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann von
der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts unserer Auffassung von Bildung ist es uns ein
Bedürfnis, die Unterschiede in der Debatte klarzumachen. Herr Vogel, ich hatte bei Ihnen das Gefühl, Sie hätten über alles reden können. Aber bei Ihnen schien nie
durch, was das eigentlich für ein Skandal in der Weiterbildung ist, was das für betroffene Menschen bedeutet,
welche Auswirkungen das auf die Qualität der Weiterbildung hat, was das perspektivisch bedeutet, wenn Weiterbildung immer wichtiger wird.
({0})
Wir Sozialdemokraten haben im Vermittlungsausschuss
manchmal das Gefühl, zusammen mit Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, gegen die FDP
das durchsetzen zu müssen, was bei Ihnen wenigstens
beim ersten und zweiten Redner durchschimmerte.
({1})
Nehmen Sie es uns bitte nicht übel, dass wir dies mit einer gewissen Verve betonen; denn wir haben erkannt,
dass es so nicht gehen kann.
Sie haben den Begriff der Negativspirale angesprochen. Natürlich ist das so, ähnlich dem, was wir schon
aus der schulischen Bildung kennen. An den Hauptschulen, wo die härteste Arbeit geleistet wird - das ist nicht
diskriminierend gemeint -, ist die Bezahlung am
schlechtesten. Ähnlich ist es vielfach in der beruflichen
Weiterbildung. Dort, wo Berufsorientierung zu leisten
ist, wo Langzeitarbeitslose, die es schon mehrere Male
versucht haben, gebildet werden sollen, haben die Dozenten und die Lehrer oft das Gefühl: Wir gehören zu
denjenigen, um die sich niemand kümmert und für die es
keinen Schutz gibt.
Herr Vogel,
({2})
Sie hätten einige Sätze im Sinne der Menschen, die in
der Weiterbildungsbranche arbeiten, sagen sollen, anstatt
ein Doktorandenseminar über die eine oder andere rechtliche Frage abzuhalten.
({3})
Als Mitglied dieses Parlaments muss man auch die Erlebnisse und die Erwartungen der Betroffenen an die
Politik aufgreifen.
({4})
Dies würde die Debatte nach vorn bringen und vielleicht
auch ermöglichen, gemeinsam einen neuen Anlauf zu
unternehmen. Aus Sicht von Sozialdemokraten, Grünen
und Linken und aufgrund rechtlicher Erwägungen ist ein
Mindestlohntarifvertrag natürlich der Königsweg. Wir
akzeptieren aber auch Umwege, sofern diese zielführend
sind. Ich habe Sie so verstanden, dass wir nicht gleich
den direkten Weg gehen, aber vielleicht über das Verfahrensrecht ein bis zwei Schritte vorankommen können.
Aber auch das Vergaberecht stellt einen Ordnungsrahmen dar. Es ist nichts anderes als ein Ordnungsrahmen
gegen pure Liberalität und die Auffassung: Egal ob Waffengleichheit herrscht und egal wie sich die Gewichte
verschoben haben, das sollen die Tarifparteien allein
ausmachen. Was ist denn Vergaberecht anderes als Ausdruck einer besonderen Verantwortung, die man wahrnimmt, indem man öffentliche Aufträge und öffentliche
Leistungen mit einem öffentlichen Bildungsauftrag verbindet?
({5})
Zumindest diese beiden Punkte wollte ich Ihnen noch sagen.
Herr Kollege Rossmann, darf ich Sie unterbrechen? Der Kollege Schiewerling möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Das darf er; das kann er gern tun.
Bitte schön.
Herr Kollege Rossmann, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass wir diese Debatte im Deutschen Bundestag nur führen, weil es einen Antrag der SPD aus
grauer Vorzeit gibt, über den irgendwann einmal diskutiert werden muss, dass aber längst fraktionsübergreifend
Übereinstimmung besteht, dass wir eine Regelung für
die Weiterbildungsbranche brauchen? Es gibt überhaupt
keinen Dissens zwischen FDP und CDU/CSU in dieser
Frage, sondern lediglich über den Weg.
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
wir Schwierigkeiten haben, dies zu regeln, nicht weil wir
nicht regeln wollen, sondern weil das europäische Recht
uns durch die Ausschreibungsverordnungen dazu
zwingt, Wege zu finden, die den europäischen Vorgaben
gerecht werden, und dass es ein Problem ist, eine sachgerechte Lösung zu finden?
Sind Sie des Weiteren bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass kein einziger Redner grundsätzlich eine Regelung ablehnt?
Das Letztere wollen wir anhand der Ergebnisse bewerten. Wir werben bzw. kämpfen dafür, dass es zu Ergebnissen kommt.
Mit Blick auf das Rüffert-Urteil stelle ich fest, dass
nicht nur auf Länder-, sondern auch auf Bundesebene
wahrgenommen wird, dass dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht zu allgemeinem Stillstand in
Bezug auf das öffentliche Vergaberecht führen darf, sondern dass es aufgrund von Tariftreue und Qualifizierung
der Vergaben auch Chancen eröffnet. Das registrieren
wir sehr wohl.
Die von Ihnen angesprochene Übereinstimmung
muss sich in Verbesserungen niederschlagen. Man sollte
auch denen danken, die für Verbesserungen streiten und
werben.
({0})
Ich finde, dass wir Parlamentarier die Pflicht haben, anzuerkennen und zu betonen, dass es Verdi und der GEW
geschuldet ist, dass dieses Thema immer wieder auf die
Tagesordnung kommt. Bei einer Tagung war auch der
Kollege Schummer anwesend.
({1})
Er war ganz erstaunt, dass das noch nicht geregelt ist,
und hat gesagt, dass eine entsprechende Regelung kommen müsse. Dass dieses Thema immer wieder auf die
Tagesordnung kommt, ist den engagierten Mitarbeitern
und auch manchen Arbeitgebern wie dem Bundesverband der Träger beruflicher Bildung zu verdanken. Das
wollte ich in meinen Schlussworten zum Ausdruck bringen.
In diesem Geist kommt man weiter, im liberalen Ungeist bleibt man stehen.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3733, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/3173 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht
miteinander verheiratete Eltern
- Drucksache 17/3219 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Katja Dörner von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Justizministerin hat einen Kompromissvorschlag zur Neugestaltung des Sorgerechts bei
nicht miteinander verheirateten Eltern vorgelegt. Dieser
Kompromissvorschlag kommt ein halbes Jahr nach dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es den
diskriminierenden Zustand, dass unverheiratete Väter
für das gemeinsame Sorgerecht für ihr Kind zwingend
auf die Zustimmung der Mutter angewiesen sind, endlich beendet hat. Dieser Kompromissvorschlag kommt
mehr als ein Jahr nach dem entsprechenden Urteil des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ich
muss sagen: Er kommt für viele betroffene Väter und
Kinder leider viele Jahre zu spät.
({0})
Das ist ein erster Kompromissvorschlag. Dabei hat die
Ministerin schon im Sommer angekündigt, zeitnah, direkt nach der Sommerpause, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Wir haben ihn immer noch nicht
gesehen. Leider zeigt sich wieder einmal, dass sich die
Koalition auch bei so einem Thema auf nichts Vernünftiges einigen kann.
({1})
Ich sage hier ganz klar: Wir Grünen finden diesen
Kompromissvorschlag der Ministerin vernünftig und
gut. - An dieser Stelle könnte die FDP ruhig einmal applaudieren, aber vielleicht können Sie den Vorschlag Ihrer Ministerin ja noch nicht richtig einschätzen.
({2})
Unsere Einschätzung wird Sie nicht verwundern.
Schließlich haben wir den Antrag, über den wir heute
hier beraten, schon im Herbst vorgelegt, der in den Eckpunkten dem Vorschlag der Ministerin weitgehend entspricht.
In unserem Modell steht das Kindeswohl ganz klar im
Mittelpunkt. Aus der Perspektive des Kindes gibt es keinen Grund, verheiratete und unverheiratete Eltern beim
Sorgerecht grundsätzlich unterschiedlich zu behandeln.
Den Kindern ist der Trauschein ihrer Eltern im Allgemeinen herzlich egal. Wir gehen davon aus, dass das gemeinsame Sorgerecht dem Kindeswohl in der Regel am
meisten entspricht. Deshalb wollen wir einen einfachen
und niedrigschwelligen Weg zum gemeinsamen Sorgerecht auch für unverheiratete Eltern. Ich möchte diesen
Weg ganz kurz skizzieren. Die Väter sollen nach unserem Modell ab der Vaterschaftsanerkennung einen Antrag auf gemeinsames Sorgerecht stellen können. Wenn
die Mutter diesem Antrag innerhalb einer Frist von acht
Wochen - diese Frist zieht auch die Ministerin in Erwägung - nicht widerspricht, wird dem Antrag des Vaters
stattgegeben. Wenn die Mutter dem Antrag widerspricht,
kann der Vater das gemeinsame Sorgerecht beim Familiengericht beantragen. Diesem Antrag soll stattgegeben
werden, wenn das gemeinsame Sorgerecht dem Kindeswohl nicht widerspricht. Die Formulierung „nicht widerspricht“ ist aus unserer Sicht besonders wichtig, weil
dieser Prüfauftrag signalisiert, dass es das gemeinsame
Sorgerecht in der Regel auch bei diesen Elternkonstellationen geben soll.
({3})
Dieses Modell wird aus unserer Sicht den Kindern gerecht; denn die Kinder haben ein Recht auf beide Eltern.
Das sollte auch im Sorgerecht seinen Ausdruck finden.
Das Modell wird den Vätern gerecht, die dann auf einem
einfachen Weg das Sorgerecht bekommen können. Es
wird auch den Müttern gerecht, die Bedenkzeit haben
und deren Vorbehalte im Zweifelsfall geprüft werden.
Jetzt ist es an der Union: Beenden Sie endlich Ihre
Blockadehaltung. Wir brauchen eine Lösung, von der
vor allem die Kinder profitieren. Dass es der Union und
vor allem der CSU tatsächlich immer um die beste Lösung für die Kinder geht,
({4})
müssen wir leider bezweifeln. Ich erinnere mich daran,
dass unsere Kollegin Dorothee Bär - sie ist leider heute
nicht anwesend - im August letzten Jahres anlässlich des
Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts darauf verwiesen hat, das alles sei ein bisschen bedenklich,
schließlich werde die Institution Ehe dadurch geschwächt, sie habe ja dann keine anderen Vorteile mehr
als das Ehegattensplitting und das könne doch nicht sein.
Ich finde, das darf in dieser Diskussion nicht im Fokus stehen. Ich wünsche mir für die Debatten zum Sorgerecht, die wir in den nächsten Monaten sicherlich noch
häufiger führen werden, dass wir davon wegkommen,
uns an der Art des Zusammenlebens oder Nichtzusammenlebens von Eltern zu orientieren, und uns tatsächlich
darauf konzentrieren, die beste Lösung für die betroffenen Kinder zu finden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt weder eine Blockadehaltung der CDU/CSU noch
haben wir Probleme mit der FDP. Es geht uns darum, in
einer so wichtigen Frage eine Lösung zu finden, die den
Interessen der Kinder gerecht wird, und zwar nur der
Kinder, nicht der Mütter, nicht der Väter.
({0})
Wir sind auf einem guten Weg. Ich gehe davon aus, dass
wir in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen können.
Da meine Redezeit heute ausreichend bemessen ist,
möchte ich kurz ausführen. Es geht um die gemeinsame
elterliche Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern.
Es geht nicht um die Alleinsorge - sie ist im Gesetz geregelt -, es geht auch nicht um eine partielle Sorge
- etwa Aufenthaltsbestimmungsrecht, Vermögens- und
Gesundheitssorge -, sondern es geht um das Thema, das
ich eingangs genannt habe. Das ist ein sehr sensibler Bereich. Ich wäre sehr dankbar und froh, wenn wir alle
sachlich und am Interesse des Kindes orientiert darüber
diskutieren könnten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und
das Bundesverfassungsgericht haben - das wurde bereits
erörtert - im Dezember 2009 bzw. im Sommer 2010 entschieden, dass die derzeitige Regelung in Deutschland,
wonach die Väter keine Möglichkeit haben, gegen den
Willen der Mutter eine Mitsorge zu erhalten, verfassungswidrig ist und eine neue Regelung vom Gesetzgeber geschaffen werden muss. Genau daran arbeiten wir
gerade.
Das Bundesjustizministerium hat ein Gutachten über
die Situation und die Lebenslage der sogenannten nichtUte Granold
ehelichen Eltern und deren Kinder in Deutschland eingeholt. Viele Zahlen sind schon bekannt. Wir haben uns
auf diese Situation einzustellen - hier haben wir alle einen Lernprozess vor uns - und entsprechend darauf zu
reagieren.
Wir haben 1998 durch die Kindschaftsrechtsreform
die Möglichkeit geschaffen, dass eine gemeinsame elterliche Sorge nach einer Scheidung bestehen bleibt; dies
ist der Regelfall. Wir haben auch die gemeinsame elterliche Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern für den
Fall geregelt, dass die Mutter dem zustimmt. Nun wird
reklamiert, dass die Mitsorge nur mit Zustimmung der
Mutter erfolgen kann.
Laut Gutachten ist die Situation mittlerweile so, dass
bei jedem zweiten nichtehelich geborenen Kind eine gemeinsame elterliche Sorge besteht. Bei 50 Prozent dieser
Kinder besteht also keine gemeinsame elterliche Sorge.
Genau an diesem Punkt müssen wir ansetzen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass immer mehr Kinder
nichtehelich geboren werden. Im Durchschnitt sind dies
in Deutschland ein Drittel der Kinder; in den neuen Bundesländern sind es sogar mehr als 50 Prozent. Wir müssen beachten, dass die Väter, Gott sei Dank, inzwischen
sehr engagiert sind bezüglich ihrer Kinder und der Sorge
um die Familie; dies umfasst auch die emotionale Sorge,
die Zeit für die Familie und vieles andere mehr.
({1})
Darauf reagieren wir. Dabei wollen wir die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts, aber auch des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte beachten.
Maßstab ist danach das Kindeswohl. Die gemeinsame
elterliche Sorge - da sind wir einer Meinung - entspricht
in der Regel dem Kindeswohl. Ein Kind braucht Mutter
und Vater zu einer gedeihlichen Entwicklung. Ich denke,
da besteht Konsens in diesem Haus. Die Gerichte haben
ausdrücklich auch gesagt, dass für die Möglichkeit des
Vaters, zu einer gemeinsamen Sorge zu kommen, nicht
zu hohe Hürden bestehen dürfen; das muss niedrigschwellig sein. Die Grünen haben übrigens bereits in der
letzten Wahlperiode einen Antrag zu diesem Thema gestellt.
({2})
Den haben wir auch debattiert, im Juli 2009. Damals hatten wir noch keine neuen Erhebungen.
Sie präferierten damals im Gegensatz zu heute ein
Antragsmodell - heute ist es ein Widerspruchsmodell -,
und Sie haben den Antrag an materielle Voraussetzungen
geknüpft, beispielsweise Erfüllung der Unterhaltspflicht,
Umgang usw. Das ist weit mehr als das, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Insofern würde es dem
Urteil nicht genügen und wäre heute nicht umsetzbar.
({3})
Sie haben Ihren Antrag nun weiterentwickelt - wenn
Sie mir zuhören, werden Sie feststellen, dass ich es weiß;
ich habe es gelesen - und Eckpunkte vorgelegt. Allerdings wäre bei den Eckpunkten das eine oder andere
nachzufragen, beispielsweise zu den Fristen. Was die
Verfahrenshemmung angeht - sechs Wochen vor der Geburt und acht Wochen nach der Geburt -, so wissen wir
nicht, wie das zu werten ist; darüber müssten wir noch
einmal nachdenken.
Eine weitere Voraussetzung ist - das ist der Punkt, der
für uns nicht akzeptabel ist -, dass zusätzlich zu den
Fristen, die eingehalten werden müssen, auch noch - kumulativ! - obligatorisch eine Überprüfung des Kindeswohls durch das Jugendamt durchgeführt werden soll,
wenn die gemeinsame Sorge durch Schweigen zustande
kommt. Das ist für uns nicht hinnehmbar.
({4})
Die Stellung des Jugendamtes in diesem Verfahren ist
uns zu stark. Wir möchten in der Tat eine niedrigschwellige Regelung zugunsten der Väter. Darüber hinaus widerspricht diese Überprüfung des Kindeswohls durch
das Jugendamt dem, was uns der Gesetzgeber mit auf
den Weg gegeben hat.
({5})
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - insofern muss ich dem Einwand, Frau Kollegin,
dass wir so lange brauchen, widersprechen - besteht
schon heute die Möglichkeit, sofort eine gerichtliche
Entscheidung herbeizuführen. Das sollte man der Vollständigkeit halber auch sagen. Ich selbst führe derzeit einige Verfahren für Väter vor Gericht. Diese wollen eine
Entscheidung. Das ist möglich. Die Gerichte nehmen
ihre Anträge an, und sie werden auch bearbeitet. Insofern gibt es keinerlei Rechtsnachteile für die Väter, die
schon heute eine gerichtliche Entscheidung wollen.
Sie haben in Ihrem Antrag weitere Punkte genannt,
die teilweise nicht nachvollziehbar sind. So fordern Sie
die Möglichkeit der alleinigen elterlichen Sorge im Konfliktfall. Bereits heute ist in § 1671 BGB geregelt, dass
jeder Elternteil bei gemeinsamer elterliche Sorge im
Falle des Getrenntlebens beantragen kann, dass ihm das
Familiengericht die elterliche Sorge allein überträgt.
Darüber hinaus fordern Sie, dass bei getrennt lebenden Eltern und der alleinigen elterlichen Sorge der Mutter auch dem Vater die Möglichkeit gegeben sein muss,
die Alleinsorge zu erhalten. Das ist natürlich zwangsläufig der Fall, wenn wir das Gesetz so, wie es von uns angedacht ist, auch ändern. Insofern sind diese Forderungen selbstverständlich.
Eine kostenlose Kinderbetreuung von Geburt an wäre
in Deutschhand wünschenswert, wenn sie finanzierbar
wäre. Wir müssten noch einmal darüber reden, inwieweit die Länder diesbezüglich belastet werden. Diese
Forderung ist schwierig, und wir können sie an anderer
Stelle diskutieren. Sie haben sie in Ihrem Antrag aufgeführt, und das hört sich alles gut an, aber es ist einfach
nicht realisierbar.
({6})
Sie müssten auch darstellen, wie es bezahlt werden
könnte.
Da wir uns bei unserem Gesetzesvorhaben ausdrücklich am Kindeswohl orientieren, möchte ich an dieser
Stelle sagen, dass uns die Gleichstellung von ehelichen
und nichtehelichen Kindern sehr wichtig ist. Die Kinder
werden in eine Situation hineingeboren, für die sie nichts
können. Es ist, wie es ist. Wir haben dokumentiert, dass
es uns damit sehr ernst ist.
Als wir damals die Unterhaltsrechtsreform nach langen Beratungen auf den Weg gebracht haben, war uns
das Kindeswohl ganz wichtig. Deshalb sind alle Kinder
bei den Rangverhältnissen, also bei der Realisierung der
Unterhaltsansprüche in Mangelfällen, im ersten Rang
gleichgestellt. Auch hinsichtlich der Betreuung werden
die nichtehelichen und ehelichen Mütter gleichgestellt.
Denn wir haben das Kind im Fokus. Wir haben also dokumentiert, dass das ein sehr wichtiges Argument für
uns ist.
Wir sagen auch: Der Vater hat ebenso wie die Mutter
ein natürliches Elternrecht, und dem Vater muss niedrigschwellig die Möglichkeit eingeräumt werden, die Mitsorge zu erhalten, sofern dem nicht gravierende, schwerwiegende Gründe entgegenstehen. Deshalb sollte die
gemeinsame elterliche Sorge auch der Regelfall sein.
Da wir uns mit unserem Koalitionspartner zurzeit
noch in der Abstimmung darüber befinden, mit welchem
Verfahren dem Vater die Möglichkeit der Mitsorge einzuräumen ist, möchte ich zum materiellen Recht, das
meines Erachtens viel wichtiger ist, doch noch einige
kurze Ausführungen machen.
Die gemeinsame elterliche Sorge ist der Regelfall.
Das ist die Prämisse. Der Vater erhält mit der Mutter das
gemeinsame Sorgerecht, wenn dieses nicht ausnahmsweise dem Kindeswohl widerspricht. Insofern ist das
Verfahren, wie der Vater an das Sorgerecht kommt,
nachrangig. Es ist festzulegen, aber es ist nachrangig.
Denn wir sagen, dass die gemeinsame elterliche Sorge
der Regelfall ist.
Wenn die Mutter weiß, dass die gemeinsame elterliche Sorge der Regelfall ist, wird sie sich sehr wohl überlegen, ob sie den Gang zum Gericht erzwingt oder ob sie
sich bei Anerkennung bzw. Feststellung der Vaterschaft
und entsprechender Erklärung des Vaters von vornherein
mit der gemeinsamen elterlichen Sorge einverstanden erklärt. Davon sollte man ausgehen. Wenn das nicht der
Fall ist, müssen die Gerichte die erforderlichen Entscheidungen treffen.
In den Fällen, in denen die Mutter widerspricht, also
nicht mit der gemeinsamen Sorge einverstanden ist, liegen Spannungen vor. Das eine oder andere Modell von
Ihnen sieht Folgendes vor: Wenn die Mutter nicht reagiert, kommt es automatisch zur gemeinsamen Sorge. Das wäre nicht der richtige Weg. Wenn die Mutter nicht
reagiert bzw. wenn sie widerspricht, dann soll es ein
niedrigschwelliges Verfahren bei Gericht geben. Damit
soll dem Vater die Möglichkeit gegeben werden, recht
schnell eine inhaltliche Prüfung vornehmen zu lassen.
Ich möchte Ihnen das Modell der Union, unser sogenanntes Optionsmodell, vorstellen. Wir wollen dem Vater, wie es schon heute aufgrund der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts möglich ist, das Recht einräumen, sofort nach Geburt des Kindes bei Gericht einen
Antrag auf gemeinsame elterliche Sorge zu stellen, wenn
er von vornherein weiß, dass die Mutter einer Mitsorge
nicht zustimmen wird. Der Vater soll dieses Recht
schnell erhalten, weil gerade in der frühen Phase nach
der Geburt wesentliche Entscheidungen für das Kind getroffen werden. Der Vater soll hier die Möglichkeit erhalten können, mitzureden. Begleitend soll die Möglichkeit eines Eilverfahrens eingeräumt werden, damit der
Vater sehr schnell eine Entscheidung des Gerichts erhält,
sofern dies bei Fragen des Namensrechts, der Taufe oder
gar einer Operation des Kindes notwendig erscheint.
In anderen Fällen soll der Vater zunächst einmal einen
Antrag beim Jugendamt stellen. Das Jugendamt wird
den Antrag der Mutter zustellen. Es wird eine Karenzzeit
eingeräumt, bevor die Mutter über den Wunsch des Vaters nach Mitsorge entscheiden soll. Wir prüfen noch,
wie lang diese Karenzzeit sein soll. Danach soll die
Möglichkeit gegeben werden, dass man miteinander
spricht, um eine gerichtliche Auseinandersetzung möglichst zu vermeiden. Die Alternative könnte ein Mediationsverfahren sein, wohl wissend, dass diese Verfahren
eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Es geht hier aber
um den familiären Bereich; deswegen ist es uns wichtig,
dass man das Gericht nur dann einschaltet, wenn kein
anderer Weg bleibt.
Frau Kollegin Granold, Frau Kollegin Dörner würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte schön.
Sehr geehrte Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. - Sie haben, wie
Sie gesagt haben, unseren Antrag sehr genau gelesen. Ist
Ihnen dabei aufgefallen, dass wir mitnichten die Vorstellung haben, dass in jedem Einzelfall eine Prüfung durch
das Jugendamt erfolgen soll, inwiefern das Kindeswohl
beeinträchtigt sein könnte? Uns geht es darum, dass das
Jugendamt im Verfahren Kenntnis davon gibt, wenn es
Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung durch den Vater hat.
Ist Ihnen aufgefallen, dass wir zwar einen Rechtsanspruch auf ganztägige Kindertagesbetreuung einfordern,
wir aber in unserem Antrag mitnichten fordern, dass
diese kostenlos erfolgen soll?
Sie haben gerade gesagt, dass der Vater im Prinzip
doch in jedem Einzelfall zum Familiengericht gehen
muss. Inwiefern steht das im Einklang mit Ihrer vorherigen Aussage, dass Sie ein niedrigschwelliges Verfahren
entwickeln wollen?
({0})
Zu Ihrer Frage zum Verfahren. Das Optionsmodell
sieht zwei Möglichkeiten vor:
Erstens. Der Vater kann nach der Geburt des Kindes
direkt zum Gericht gehen und eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen, wenn er davon ausgeht, dass er eine
Zustimmung der Mutter nie erhalten wird. So kommt es
schnell zu einer gerichtlichen Entscheidung. Dabei sollte
man jedoch auf Fristen achten: Wir sehen eine Karenzzeit vor, während sich die Mutter im Mutterschutz befindet. Auch Ihr Antrag sieht Fristen vor. Die FDP will das
ebenfalls. Die Frage ist nur, wie lang diese Fristen sein
sollen.
Zweitens. Der Vater kann einen Antrag beim Jugendamt stellen. Der Antrag des Vaters wird der Mutter zugestellt. Die Frage ist, in welcher Zeit die Mutter auf den
Antrag reagieren muss. Die Frage ist auch, was passiert,
wenn die Mutter schweigt. Schweigen bedeutet nach
dem Modell der Union, dass der Vater eine gerichtliche
Entscheidung herbeiführen soll. Es wäre uns natürlich
sehr recht, wenn in diesem Fall die Möglichkeit bestünde, mit der Mutter zu sprechen, um eine Lösung für
eine gemeinsame Sorge zu finden - unter Mitteilung der
Voraussetzungen dafür. Dann wäre eine gerichtliche Entscheidung nicht erforderlich.
Beide Wege sollen offenstehen. Damit wird dem Vater der Weg zur Mitsorge geebnet, entsprechend den Vorgaben der von mir genannten Gerichte, die beide einen
niedrigschwelligen Zugang zur Mitsorge vorsehen.
Was die Kinderbetreuung angeht, so möchten wir natürlich gerne sicherstellen, dass die Kinder eine Betreuung haben - von der Krippe bis zum Hort -, die finanzierbar bzw. beitragsfrei gestellt ist. Aber das belastet die
Kommunen und die Länder. Einen Rechtsanspruch ab
der Geburt zu gewährleisten - wenn Sie das meinen -,
ist derzeit nicht darstellbar; das wäre sehr schwierig.
Aber darüber möchte ich nicht weiter philosophieren,
weil es heute in Ihrem Antrag nicht darum, sondern um
die gemeinsame Sorge geht, die, wie auch Sie sagen,
zügig, aber ordentlich auf den Weg gebracht werden
sollte. - Ich hoffe, ich habe Ihre Fragen damit beantwortet.
Zusammenfassend kann ich sagen - ich war ja schon
nahezu am Ende meiner Rede -: Unser Anliegen ist, eine
niedrigschwellige Möglichkeit zu schaffen und in das
Gesetz aufzunehmen, sodass die Väter, die sich um die
Sorge für ihre Kinder bemühen, und zwar um die volle
Verantwortung im Rahmen der elterlichen Mitsorge, sehr
schnell und niedrigschwellig die Mitsorge bekommen
können, entweder außergerichtlich, was uns das Liebste
wäre, oder gerichtlich. Es kann nicht sein, dass ein Vater
bei Gericht sehr viel vortragen muss, um zu dokumentieren, dass es richtig ist, ihm die Möglichkeit zu geben, die
Sorge zu begleiten. Wir gehen davon aus: Der Regelfall
ist, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl entspricht. Alles andere müsste dezidiert vorgetragen werden.
Ich möchte nicht - das ganz zum Schluss -, dass den
Jugendämtern die Möglichkeit eingeräumt wird, bei Gericht eine Gefährdung des Kindeswohls vorzutragen,
weil eine negative Stellungnahme eines Jugendamtes da spreche ich aus 30 Jahren Erfahrung als Scheidungsanwältin - bei Gericht nur sehr schwer auszuräumen ist.
Ich meine, eine so wichtige Entscheidung sollte, wenn
die Eltern kein Einvernehmen erzielen, das Gericht vorurteilsfrei treffen können. Eine starke Stellung der Jugendämter sehen wir nicht als den richtigen Weg an.
Ich bedanke mich bereits jetzt dafür, dass wir in der
Lage sind, über dieses Thema sehr sachlich zu sprechen
und einen Weg zu finden. Wir gehen davon aus, dass wir
auch die gesetzliche Regelung in Kürze auf den Weg
bringen können. Nochmals: Rechtsnachteile gibt es für
keinen Vater, weil seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr jeder Vater die Möglichkeit hat - davon wird auch Gebrauch gemacht -, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen, um zu seinem
Recht zu kommen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist eine sehr schwierige Materie, die wir da neu zu regeln
haben; das ist mir heute bei diesen ersten Debattenbeiträgen wieder aufgefallen. An die oberste Stelle müssen wir
setzen, dass die Neuregelung, die wir treffen, für die Betroffenen - nicht für uns Fachleute, sondern für die Betroffenen - verständlich und transparent ist, sodass sie
wissen, was auf sie zukommt, und dann auch zügig umgesetzt werden kann. Ich glaube, wir alle sollten uns für
die anstehenden Beratungen vornehmen, eine Regelung
zu treffen, die gewährleistet, dass sich diejenigen, die in
dieser Situation sind, nicht erst kundig machen müssen
- beim Jugendamt, beim Amtsgericht hier, beim Familiengericht da -, sondern das Prozedere auch von einem
Laien, der betroffen ist - von einem Vater, von einer
Mutter -, nachvollzogen werden kann.
Es ist ausgeführt worden: Sowohl vom Europäischen
Gerichtshof als auch vom Bundesverfassungsgericht
sind wir aufgefordert worden, hier eine Neuregelung zu
treffen. Hintergrund ist natürlich, dass es gesellschaftliche Veränderungen gegeben hat, dass die Zeit nicht mehr
so ist, wie sie vor 1998 oder bei der Kindschaftsrechtsreform 1998 war. Die Welt hat sich verändert, und damit
sind auch gesellschaftliche Veränderungen einhergegangen.
Beziehungen sind heute ganz anders aufgestellt als
vor 20, 30 Jahren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit
von Veränderungen. Wir haben uns an dieser Stelle mit
der Neuregelung der elterlichen Sorge zu beschäftigen.
Vom Bundesverfassungsgericht ist für die Zeit, bis eine
Neuregelung in Kraft getreten ist, die Möglichkeit der
sogenannten Antragslösung eröffnet worden. Das heißt,
Väter, denen bisher das gemeinsame Sorgerecht verweigert wurde, haben jetzt die Möglichkeit, entgegen der
früheren Rechtslage wenigstens dafür zu kämpfen, dass
auch ihnen die elterliche Sorge übertragen wird. Wir haben uns jetzt zu fragen: Wie können wir diese Aufgabe
lösen?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten die
Regelung treffen, dass für alle Paare, die nicht miteinander verheiratet sind und ein gemeinsames Kind haben,
egal in welcher Konstellation sie sich befinden, generell
die gemeinsame elterliche Sorge gilt. Das könnte man
machen. Ich persönlich muss aber sagen: Ich glaube, das
würde einige Probleme aufwerfen, weil dann nicht immer gewährleistet wäre, dass das tatsächlich zum Wohle
des Kindes ist. Das Wohl des Kindes muss aber die
Voraussetzung sein. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist,
dass Eltern quasi zwangsweise ein gemeinsames Sorgerecht ausüben, wenn sie keinen Kontakt mehr miteinander haben, vielleicht auch nicht mehr miteinander haben
wollen.
({0})
Ich finde, „gemeinsam“ bedeutet auch, dass man sich
verständigen kann. Wie gesagt, das sind alles so Facetten, die wir zu beleuchten haben.
Was die Antragslösung angeht, so muss man, glaube
ich, noch einmal differenzieren. All die Paare, die ein
gemeinsames Kind haben und sich verstehen, haben unabhängig davon, ob sie zusammenleben oder nicht,
schon jetzt die Möglichkeit, ohne Jugendamt, ohne Familiengericht, ohne die Zustimmung von irgendwem zu
entscheiden, wie sie das ausgestalten möchten. Sie haben
nach der Vaterschaftsanerkennung die Möglichkeit, zu
sagen: „Jawohl, wir wollen ein gemeinsames Sorgerecht“, und erklären dieses nur. Da muss niemand mehr
entscheiden. Es liegt in ihren Händen.
Wir sollten in diesem Gesetzgebungsverfahren auf jeden Fall dafür sorgen, dass dieser Weg viel häufiger beschritten wird, dass die Menschen diese Verantwortung
auch annehmen. Wenn ein Kind geboren wird, dann sollen sie sich bitte schön auch Gedanken darüber machen,
wie dieses Sorgerecht ausgestaltet werden soll, wer das
wirklich übernehmen soll. Da müssen ja zahlreiche Fragen beantwortet werden, teilweise auch ganz schnell,
etwa wenn Operationen anstehen. Es gibt aber auch andere Fragen, die sehr schwierig sind, etwa Religionszugehörigkeit, medikamentöse Behandlung usw. Eltern
sollen sich durchaus bewusst sein, was das Sorgerecht
bedeutet. Deswegen wäre ich auf jeden Fall dafür, dass
Eltern verpflichtet werden, eine Erklärung abzugeben.
Wie diese aussieht, ist ihre Sache. Aber sie sollten wenigstens sagen, ob sie sich einig sind oder nicht. Zuvor
müssen sie sich wenigstens einmal Gedanken darüber
machen.
Ich erhalte sehr viele Schreiben zu dieser Fragestellung. Die einen wollen es so geregelt haben, die anderen
so. Wenn ich mich mit manchen unterhalte und sie frage,
warum sie das eigentlich nicht geregelt haben, als sie
sich noch verstanden haben, dann sagen sie mir: Darüber
haben wir uns gar keine Gedanken gemacht. - Ich sage:
Das darf nicht weiter so sein. Paare sollen sich, wenn sie
ein Kind bekommen, wenn sie Eltern werden, mit dieser
Fragestellung auseinandersetzen und entscheiden. Wenn
sie sich dann nicht einigen können, dann muss ein Verfahren zur Verfügung stehen, in dem das Ganze dann geregelt wird. Aber Paare sollten sich bitte schön häufiger
selbst einigen und Eigenverantwortung übernehmen und
nicht darauf warten, dass jemand vom Jugendamt oder
vom Familiengericht diese Frage regelt.
({1})
Zwischen diesen beiden Polen, der Antragslösung auf
der einen und der elterlichen Sorge als Regel auf der anderen Seite, wird es sicherlich in irgendeiner Weise eine
Ausgestaltung geben. Ich möchte nicht verhehlen, dass
es bei uns in der SPD-Fraktion unterschiedliche Positionen dazu gibt. Da gibt es die Rechtspolitiker, die sagen,
sie könnten mit einer Antragslösung sehr gut leben. Das
heißt, der Vater hat die Möglichkeit, einen Antrag auf
gemeinsame Sorge zu stellen, wenn die Mutter dem zuvor nicht zugestimmt hat. Dann hat auf der ersten Stufe
das Jugendamt zu entscheiden, und dann kann es weiter
zum Amtsgericht gehen.
Es gibt bei uns aber auch andere Vorstellungen, nach
denen ein gemeinsames Sorgerecht beispielsweise an die
Voraussetzung des Zusammenlebens geknüpft werden
soll. Das ist eine Position, die man sicher einmal zu prüfen hat. Sie bringt meiner Einschätzung nach auch rechtliche Probleme mit sich; denn wann ein Zusammenleben
vorliegt, ist sicherlich nicht so einfach zu definieren. Fallen auch Wochenendbeziehungen darunter? Ist das tatsächlich ein rechtlich bestimmter Begriff?
Sie sehen, es gibt eine Bandbreite. Deswegen sollten
wir uns jetzt endlich dringend und schnell auf den Weg
machen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns hier
quasi eine Notlösung vorgegeben. Ich glaube, es kann
nicht sein, dass wir in dieser Situation einfach so weitermachen, weil wir es als Gesetzgeber nicht hinbekommen, eigenständig eine Lösung zu schaffen. Ich bin auch
sehr optimistisch, dass wir eine Lösung finden werden;
denn wir haben im Familienrecht bisher sehr konstruktiv
und ohne parteipolitische Scheuklappen zusammengearbeitet. Das wird sicherlich auch in diesem Fall wieder
gelingen.
Ich darf jedoch insbesondere Sie von der Regierungskoalition und auch Sie aus dem BMJ, Herr Stadler, auffordern, da bitte nicht länger zu zögern. Ich habe das in
Haushaltsreden schon mehrfach angesprochen. Immer
wieder kam: Wir sind dran. Wir machen etwas in Kürze,
in Bälde, demnächst. - Jetzt wäre es, glaube ich, so langsam mal an der Zeit, dieses Problem tatsächlich konstruktiv anzugehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jedes
Kind hat Anspruch auf beide Elternteile. Beide sind verantwortlich für das Kind, sind dem Kind und seinem
Wohl verpflichtet. Umgekehrt ist die Sorge für das Kind
ein originäres Elternrecht. Eltern haben das Recht, für
ihre Kinder zu sorgen, die Sorge innezuhaben, ohne sich
bewähren zu müssen, ohne darum kämpfen zu müssen mit einer gravierenden Einschränkung im Bürgerlichen
Gesetzbuch: Dann, wenn der Vater mit der Mutter nicht
verheiratet ist, kann der Vater die gemeinschaftliche
Sorge nur dann erhalten, wenn er entweder die Mutter
heiratet oder aber die Mutter der gemeinschaftlichen
Sorge zustimmt.
Der Vater braucht also mindestens einmal ein Jawort
der Mutter: entweder vor dem Traualtar oder beim Jugendamt. Das ist ein nicht einklagbarer Anspruch. Dieses Jawort kann man nach dem BGB nicht vor Gericht
einklagen. Hier hat das Verfassungsgericht mit seiner
Entscheidung vom 21. Juli nun eine kleine Änderung
vorgenommen, zwar nicht mit Blick auf den Traualtar,
({0})
aber es muss die Möglichkeit bestehen, einen Antrag auf
Einräumen der gemeinschaftlichen elterlichen Sorge zu
stellen. Damit gibt es angesichts der momentanen Lage
zwei Probleme.
Das erste Problem ist: Wenn die Mutter nicht zustimmt, herrscht immer gleich Eskalationsstufe rot. Man
muss immer zum Gericht gehen, wenn die Mutter ihr Jawort zur gemeinsamen Sorge nicht gibt. Das Gericht
muss nun ermitteln, was dem Kindeswohl dient. Das ist
oft eine schwierige Frage. In vielen Fällen wird es notwendig sein, ein Gutachten eines Kinder- oder Jugendpsychologen einzuholen. Häufig wird es auch zu eigentlich unnötigen Prozessen kommen. Denn was soll ein
Richter sagen, wenn kurz nach der Geburt noch gar
nichts passiert bzw. eingetreten ist, woran er ermessen
kann, ob das Kindeswohl gefährdet ist? Es wird also
ganz oft zu unnötigen Verfahren kommen.
Das zweite Problem ist, dass der Vater taktisch eigentlich gut beraten ist, möglichst schnell den Antrag bei Gericht zu stellen; denn je früher er den Antrag stellt, desto
weniger wird sich zugetragen haben, woraus der Richter
dann ableiten kann, dass es besser wäre, der Mutter das
Sorgerecht allein zu belassen.
({1})
Das heißt, es gibt keine Schonfrist für die Mutter. Das ist
das Problem bei der momentanen Situation.
Dieses Problem greifen die Grünen in ihrem Antrag
auf. Deshalb bringe ich diesem Vorschlag auch durchaus
Sympathie entgegen. Hier wird nämlich gesagt, dass
man der Mutter eine Bedenkzeit einräumen müsse.
Wenn der Vater eine Sorgeerklärung abgibt, erhält die
Mutter zunächst einmal eine Bedenkzeit; sie muss in
sich gehen und überlegen können, ob sie das Sorgerecht
teilen will. Bei diesem Vorschlag gibt es aber auch einige Probleme, die ich hier nennen möchte.
Ein Problem ist, wie der Vorschlag zu verstehen ist,
dass während des gesetzlichen Mutterschutzes der Lauf
der Achtwochenfrist gehemmt ist. Diese Frist ist dann
gehemmt, wenn die Mutter - so heißt es in Ihrem Antrag „eine entsprechende Mitteilung macht“. Mir ist nicht
ganz klar, wie das zu verstehen ist. Könnte das nicht
dazu führen, dass diese Schutzregelung gerade dann versagt, wenn der Schutz am notwendigsten wäre? Eine Geburt, bei der es zu Komplikationen kommt, oder auch
eine Mehrlingsgeburt sind ja zum Beispiel Fälle, bei denen die Mutter besonders viele Sorgen hat, sodass sie es
vielleicht vergisst oder unterlässt, die entsprechende
Mitteilung zu machen. In diesem Fall wäre der Lauf der
Frist aber nicht gehemmt. Es wäre also zu überlegen, ob
der besondere Schutz, der durch die Möglichkeit gewährleistet werden soll, den Lauf der Frist zu hemmen,
nicht gerade dann zu versagen droht, wenn er besonders
notwendig wäre. Über diesen Vorschlag im Antrag der
Grünen müsste man also noch einmal nachdenken.
Der zweite Punkt, der mir auffällt, wurde schon angesprochen: Es geht um die Rolle, die Sie in Ihrem Antrag
dem Jugendamt zuweisen. In Ihrem Antrag heißt es, dass
das Jugendamt dem Antrag des Vaters dann stattgibt,
wenn die Mutter innerhalb der Achtwochenfrist keinen
Widerspruch einlegt und - jetzt kommt es - „dem Jugendamt keine Erkenntnisse über eine offensichtliche
Kindeswohlgefährdung durch den Vater vorliegen“. In
meinen Augen ist es ein Problem, dem Jugendamt eine
solche Entscheidungsmacht zu geben. Denn wann ist das
Kindeswohl gefährdet? Wann ist es offensichtlich gefährdet? Wie soll das Jugendamt diese Erkenntnisse erhalten? Es ist eigentlich nicht die Aufgabe einer Behörde, sich solche Erkenntnisse zu verschaffen. Sie hat
auch kaum die Möglichkeiten, darüber zu verhandeln
bzw. Parteien oder Sachverständige anzuhören. Das ist
eine originäre Aufgabe der Gerichte. Diesen müsste
diese Aufgabe eigentlich zugewiesen werden.
({2})
Es ist nämlich Aufgabe der Gerichte und nicht der Behörden, zum Beispiel der Jugendämter, Tatsachen zu ermitteln und Rechtsfragen zu beantworten.
({3})
Der dritte Punkt ist eine mir völlig unverständliche
Regelung; auch über diesen Punkt in Ihrem Antrag müssen wir noch einmal reden. Wenn die Mutter die gemeinschaftliche Sorge beantragt, dann - so besagt es Ihr Antrag - kann das Jugendamt dem nur entsprechen, wenn
der Vater innerhalb von acht Wochen zustimmt. Das verstehe ich überhaupt nicht. Was ist, wenn der Vater nun
länger braucht, um seine Zustimmung zu erklären, zum
Beispiel neun oder zwölf Wochen? Wenn er die Zustimmung erst nach Ablauf der Achtwochenfrist erteilt, liegt
ja eine gemeinschaftliche Sorgerechtserklärung vor: Die
Mutter will, der Vater will. Braucht der Vater also länger
als acht Wochen, um Ja zu sagen, dann hat er ja trotzdem, auch wenn er länger, als von Ihnen vorgesehen, gezögert hat, Ja gesagt, und es liegt eine gemeinschaftliche
Sorgerechtserklärung vor. Warum dann das Jugendamt
dazu noch etwas zu sagen hat und gar das gemeinsame
Sorgerecht versagen kann, verstehe ich nicht.
Das sind die Punkte, die ich an Ihrem Antrag bemängele. Deswegen kann ich ihm nicht zustimmen, auch
wenn ich ihm sonst vieles abgewinnen kann und er mir
in vielen Punkten sehr sympathisch ist. Wir werden
trotzdem den Antrag aufmerksam studieren, weil er viele
wertvolle Ansätze enthält. Ich denke, dass wir deutlich
gemacht haben, weshalb wir diesem Antrag in der jetzigen Form nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion
Die Linke.
({0})
Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sorgerecht und Sorgepflicht - das ist ein
hochemotionales Thema, wenn sich die Eltern getrennt
haben. Ich denke, alle, die mit der Thematik befasst waren, haben Schreiben von Vätern, Müttern, Verbänden,
Interessengemeinschaften, AGs und sonstigen Betroffenen in Deutschland bekommen. Die einen wollen es so,
die anderen wollen es so. In der heutigen Debatte wurde
dazu schon viel gesagt.
Denjenigen, die sich mit dem Sorgerecht nicht so gut
auskennen, möchte ich einen kleinen Einblick geben,
wie es sich überhaupt entwickelt hat, um ein Verständnis
dafür zu bekommen, wieso in Bezug auf das Sorgerecht
für gemeinsame Kinder ein Unterschied zwischen Eheleuten und Nichteheleuten besteht.
Ich gehe weit in die Geschichte zurück. Ich muss alles
in vier Minuten pressen, aber ich versuche es. Nehmen
Sie das BGB vom 1. Januar 1900; ich spreche von Eheleuten. Der Vater war der Patriarch der Familie, er allein
hatte Erziehungsrecht, und er war der gesetzliche Vertreter. Die Mutter hatte nichts zu melden. Sie war für persönliche Zuwendung und Versorgung zuständig. Das hat
sich - das muss man sich vorstellen - durch die Kaiserzeit, die Weimarer Republik, Nazideutschland bis in die
Bonner Republik gehalten.
Erst 1953 setzte ein Wandel ein. Die Mutter bekam
ein Miterziehungsrecht, aber der Vater war nach wie vor
gesetzlicher Vertreter und hatte das Letztentscheidungsrecht. Erst 1979, mit Einführung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge, wurde die
Mutter bei der Erziehung gleichberechtigt.
Betrachten wir parallel dazu das Scheidungsrecht. Bis
1977 galt das Schuldprinzip. Das heißt, wenn Eltern sich
scheiden ließen und Kinder vorhanden waren, bekam der
nichtschuldige Teil das Sorgerecht für die Kinder. Das
wurde dann geändert. Es galt nicht mehr das Schuldprinzip, sondern das Zerrüttungsprinzip, aber im Falle einer
Scheidung wurde im Regelfall nach wie vor nur einem
Elternteil das Sorgerecht zugesprochen. 1982 hat das
Bundesverfassungsgericht erklärt, dass dies gegen das
Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG verstößt. Beiden Eltern steht nach wie vor die elterliche Sorge zu. Das
wurde letztlich erst 1998, 16 Jahre später, mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz umgesetzt. In den Köpfen der
Menschen hat sich seither festgesetzt: Wenn Eltern sich
scheiden lassen, tragen beide weiterhin die gemeinsame
Sorge für die Kinder. Das hat sich inzwischen manifestiert.
Bei ledigen Müttern und ledigen Vätern war es ganz
anders. Ich gehe noch einmal zurück. 1. Januar 1900:
Der Vater war noch nicht einmal mit dem Kind verwandt. Hintergrund des Ganzen war das gesellschaftliche Bild. Der Sohn aus gutem Hause hatte etwas mit
dem Kindermädchen oder dem Hausmädchen. Das uneheliche Kind, wie es damals hieß - der Makel der Unehelichkeit -, sollte nicht in die Familie des gutbetuchten
Vaters eindringen. Deswegen waren diese Personen per
Gesetz noch nicht einmal verwandt. Auch diese Sichtweise hat sich über die verschiedenen Staatsformen bis
in die Bonner Republik gehalten. Erst 1970 ist das geändert worden. Hinsichtlich der Verwandtschaft sind wir
gerade dabei, die letzten Hemmnisse zu beseitigen.
Aber inzwischen hat sich die Gesellschaft gewandelt;
es ist schon angesprochen worden. Jedes vierte Kind im
Westen und zwei von drei Kindern in den neuen Bundesländern werden nichtehelich geboren. Nichtehelich ist
heute völlig normal in unserer Gesellschaft. Aber die
rechtlichen Bestimmungen zum Umgangs- und Sorgerecht wurden dieser Entwicklung nicht angepasst. Da
wird unterschieden: Trennen sich Eheleute, behalten
beide das Sorgerecht. Trennen sich Nichteheleute, tauchen die hier beschriebenen Probleme auf. Wenn es
keine Sorgerechtserklärung gibt, hängt es gegenwärtig
vom Goodwill der Mutter ab, ob auch der Vater das Sorgerecht bekommt. Wenn die Mutter nicht zustimmt,
kann der Vater nichts machen.
Das hat das Bundesverfassungsgericht kritisiert und
eine Übergangsregelung geschaffen. Wir müssen nun sehen, wie wir die Rechtslage ändern. Erstens gibt es den
Weg der Antragslösung; das würde bedeuten, die Regelung ist wie bisher, nur mit einer gerichtlichen Überprüfung, wie es auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Übergangslösung vorschreibt. Zweitens gibt es die
Möglichkeit der Widerspruchslösung; das heißt, die
Mutter widerspricht der Erklärung des Vaters, das Sorgerecht gemeinsam mit der Mutter ausüben zu wollen, und
dagegen kann dieser ein gerichtliches Verfahren anstrengen. Drittens gibt es die Möglichkeit der - ich nenne sie
einmal so - großen Lösung; danach hätte der Vater von
Geburt an durch eine Vaterschaftserklärung gemeinsam
mit der Mutter das Sorgerecht; in den anderen Fällen
verbliebe das Sorgerecht bei der Mutter, mit der Möglichkeit der Überprüfung in Zweifelsfällen, ob das für
das Kindeswohl tatsächlich gut ist, analog § 1671 BGB.
Die Positionierung meiner Fraktion in dieser Frage ist
ähnlich wie die der SPD noch nicht abgeschlossen. Im
Februar werden wir einen Antrag dazu vorlegen. Ich
gehe davon aus, dass neben diesem Antrag und dem
dann hoffentlich ebenfalls vorliegenden Gesetzentwurf
der Bundesregierung noch weitere Anträge eingehen und
wir dann im Ausschuss und in den Berichterstattergesprächen die beste, schönste und praktikabelste Lösung im Sinne unserer Kinder finden werden.
Danke schön und schönes Wochenende.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3219 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Februar 2011, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.