Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/28/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 18 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({1}) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 ({2}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 ({3}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksachen 17/4402, 17/4561 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Dr. Rolf Mützenich Dr. Rainer Stinner Wolfgang Gehrcke Dr. Frithjof Schmidt - Bericht des Haushaltsauschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/4562 Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaus Brandner Dr. h. c. Jürgen Koppelin Michael Leutert Sven-Christian Kindler Zu dieser Beschlussempfehlung liegt je eine Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen. Ich weise schon jetzt darauf hin, dass unmittelbar nach dieser namentlichen Abstimmung die Wahl des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik mit Stimmkarte und Wahlausweis stattfinden wird. Für die Aussprache zum gerade aufgerufenen Tagesordnungspunkt sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung eineinviertel Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion. ({5})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Lage in Afghanistan von außen betrachtet - oft genug wird sie gerade auch hier nur oberflächlich betrachtet -, dann sieht man häufig nur die Probleme und den Anstieg von Sicherheitsvorfällen in den letzten Jahren. Man sieht eben nur wenig die Fortschritte und auch nicht, dass das damit zu tun hat, dass wir in Afghanistan zwischenzeitlich eben nicht nur punktuell arbeiten, sondern in der Fläche vertreten sind. ({0}) Wer sich allerdings genauer damit beschäftigt, der kann erkennen, dass der Strategiewechsel erfolgt ist. Das ist das Zentrale. Ich war im letzten Oktober zum wiederholten Mal in Afghanistan und habe vor Ort die Erfahrung gemacht, dass es in der Tat deutlich erkennbare Fortschritte gibt, unter anderem bei der Verantwortungsübernahme durch die afghanische Polizei und die afghanische Armee, die sehr viele Fortschritte gemacht haben. Daneben gab es aber eben auch Fortschritte beim Wiederaufbau, die hier nur wenig zur Kenntnis genommen, vor Ort aber bestätigt werden, und zwar nicht nur im Verantwortungsbereich der Bundeswehr im Norden, sondern in ganz Redetext Afghanistan. Das hat auch General Petraeus kürzlich noch einmal bestätigt, als er hier in Deutschland war. ({1}) Wir haben im letzten Dezember erstmals einen Fortschrittsbericht von der Bundesregierung bekommen. Ich glaube, das ist ein wichtiges Dokument, weil darin eine ungeschminkte Bestandsaufnahme erfolgt und der Stand des Engagements realistisch beurteilt wird. Es werden Fortschritte aufgezeigt, aber es wird auch aufgezeigt, wo es noch Defizite gibt und wo Aufgaben noch erkennbar sind. Diese Fortschritte sind auch im Mandat erkennbar. Der Schwerpunkt dieses Mandats ist die Unterstützung bei der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen. Hier ist im Jahre 2010 Erhebliches erreicht worden. Auf den Konferenzen in London, in Kabul und in Lissabon hat die internationale Gemeinschaft einen Fahrplan für die Übergabe der Verantwortung erarbeitet. Wir werden dieses Jahr in Provinzen und Distrikten, also zunächst in kleinen Bereichen, mit der Übergabe der Verantwortung beginnen. Ziel ist es, dass die nationalen Sicherheitskräfte in Afghanistan bis Ende 2014 die Verantwortung für alle Provinzen übernehmen und die Sicherheitsoperationen dort durchführen. Dieser Fahrplan ist international abgestimmt. Er entspricht dem Fahrplan der afghanischen Regierung und den Vorstellungen von Präsident Karzai. Dass es gelungen ist, diesen Fahrplan festzulegen, ist ein großer Erfolg. ({2}) Voraussetzung für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung ist vor allem, dass wir die afghanischen Sicherheitskräfte selbst in die Lage versetzen, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Deshalb ist es wichtig, dass wir einen Strategiewechsel geschafft haben. Wir haben Anfang 2010 klare Ziele definiert. Das ist die Grundvoraussetzung, um kontrollieren zu können, ob sie tatsächlich erreicht werden. Wir haben das Mandat klar auf die Erreichung dieser Ziele ausgerichtet. Die deutsche Anstrengung ist deutlich erkennbar. Wir haben zwischenzeitlich bei der afghanischen Armee und Polizei erreicht, dass der Aufwuchs der Sicherheitskräfte weiter vorangeschritten ist, als es für das Jahr 2010 festgelegt war. Das heißt, die Ziele sind übererfüllt worden. Dass das erreichbar ist, hätte Anfang des Jahres 2010 niemand gedacht. Das ist ein zentraler Fortschritt. Denn diese Schwerpunktsetzung schafft erst die Voraussetzung für eine Abzugsperspektive. ({3}) Wenn wir heute über dieses Mandat entscheiden, dann steht wieder der Beitrag der Bundeswehr im Mittelpunkt. Deshalb ist es gut, dass in der letzten Woche in einer Regierungserklärung von Bundesminister Niebel erstmals der zivile Wiederaufbau im Mittelpunkt gestanden hat. Das Konzept der vernetzten Sicherheit wird mit Leben erfüllt. Wir haben die Hilfe beim zivilen Wiederaufbau verdoppelt. Wir haben erhebliche Fortschritte erreicht. Mit unserer Unterstützung werden beispielsweise Haushalte mit besserem Trinkwasser versorgt. Wir haben 12 000 Afghanen in unserem Verantwortungsbereich weitergebildet. 42 000 Personen konnten von Mikrokrediten der deutsch-afghanischen Entwicklungszusammenarbeit profitieren. All diese Maßnahmen versetzen Menschen in die Lage, für sich und ihre Familie Verantwortung zu übernehmen. Wir geben ihnen eine großartige Unterstützung, und wir dürfen sie auch in Zukunft nicht alleine lassen. ({4}) Dass das erreicht werden konnte, ist vor allen Dingen für diejenigen ein Erfolg, die bereit sind, an dieser Stelle Verantwortung zu übernehmen und vor Ort ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Erfolge zu erzielen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, aber auch allen Polizisten, die vor Ort in der Ausbildung tätig sind, und allen zivilen Helferinnen und Helfern, die vor Ort Großartiges leisten, ein herzliches Dankeschön sagen. ({5}) 2011 wird ein entscheidendes Jahr für dieses Engagement. Wer Afghanistan stabilisieren will, der schafft das nicht allein mit militärischen Mitteln. Deshalb ist es so wichtig, dass wir den Ansatz der vernetzten Sicherheit, den zivilen Wiederaufbau und die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen in den Mittelpunkt gestellt haben. Vor allen Dingen ist es auch wichtig, dass wir an einer politischen Lösung weiterarbeiten. Deshalb ist es wichtig, dass die politischen Initiativen, die die Bundesregierung ergriffen hat, weiter vorangetrieben werden. Sie müssen im Jahr 2011 im Mittelpunkt der Bemühungen stehen, um eine Stabilisierung der Region zu erreichen. ({6}) In der heutigen Abstimmung werden sich die Grünen erneut der Verantwortung entziehen. Was die Linken machen, indem sie auch in der Kommunikation nach außen den Einsatz mit Terrorismus gleichstellen, wie insbesondere Frau Lötzsch, ist unverantwortlich. Deshalb sind wir froh, dass wir in intensiven Diskussionen hier in den Fraktionen des Deutschen Bundestages eine verantwortliche Entscheidung treffen. Ich danke vor allen Dingen der SPD, dass sie sich mehrheitlich dafür entschieden hat, diesem Mandat zuzustimmen. Es ist wichtig, dass die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz wissen, dass sie die breite Rückendeckung des Deutschen Bundestages haben. Deshalb ist es gut, dass es eine breite Mehrheit auch am heutigen Tage für dieses Mandat geben wird. ({7}) Wenn wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen, dann - davon bin ich überzeugt - ist es ein weiter Weg, und es wird noch ein schwieriger Weg sein. Aber es ist ein Weg für eine gute Zukunft für die Menschen in Afghanistan, und es ist ein Weg zur Stabilisierung dieses Landes, das auch für die Sicherheit unseres Landes entscheidend ist. Wir werden auch nach 2014 noch langfristig die Aufgabe haben, dieses Land zu unterstützen. Aber ich glaube, es ist ein großer Erfolg, dass Fortschritte erzielt worden sind und dass es erstmals überhaupt eine Abzugsperspektive gibt. Das ist ein Erfolg auch für diese Koalition und für diese Bundesregierung. Ich denke, dass wir gemeinsam auf diesem Weg weitergehen sollten. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. ({0})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag entscheidet heute erneut über die Entsendung unserer Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan. Im zehnten Jahr des Einsatzes ist das wohl die schwierigste Aufgabe, die Abgeordnete hier wahrnehmen müssen. Viel zu viele haben inzwischen ihr Leben verloren oder kehren traumatisiert oder verletzt zurück. Die Tragödien in den betroffenen Familien können wir wohl höchstens erahnen. Es ist richtig, sich heute für den Mut und die Tapferkeit all derjenigen zu bedanken, die sich in Afghanistan für ein Ende des Terrors, ein Ende der Gewalt und eine bessere Zukunft einsetzen. Wir Sozialdemokraten tun dies ausdrücklich. ({0}) Aber wir, die den Einsatz in der Vergangenheit mitverantwortet haben und auch heute mitverantworten wollen, empfinden auch eine Mitverantwortung für die Tragödien in den vom Tod betroffenen Familien, egal ob sie in Deutschland leben oder in Afghanistan. Ob uns die betroffenen Familien immer vergeben können, weiß ich nicht. Aber darum bitten und unsere Mitverantwortung und Trauer eingestehen, das dürfen und das müssen wir, selbst dann, wenn wir von der Notwendigkeit des internationalen Einsatzes in Afghanistan überzeugt sind. Wir Sozialdemokraten und die übergroße Mehrheit der SPD-Bundestagsfraktion werden nach reiflicher Überlegung und Debatte auch in diesem Jahr dem Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des Einsatzes der Vereinten Nationen zustimmen. Für uns ist klar: Die Begründung der Vereinten Nationen für den internationalen Einsatz in Afghanistan gilt auch heute noch. Der Einsatz in Afghanistan hat aus Sicht der Vereinten Nationen nach wie vor das Ziel, eine von dort ausgehende Gefahr für den Weltfrieden dauerhaft zu beseitigen. Das Land soll nie wieder zur Basis für den internationalen Terrorismus werden können und auch nicht Ausgangspunkt für eine zunehmende Unsicherheit und Instabilität der gesamten Region bleiben. ({1}) Wir würden durch einen Abbruch des Einsatzes nicht nur die Chance auf eine friedliche Zukunft Afghanistans gefährden, wir würden nicht nur Hunderttausende Familien und Millionen Menschen ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft und ein freieres und menschenwürdigeres Leben berauben, wir würden auch uns und die Menschen in Deutschland erneut den größeren Gefahren aussetzen, die von einem instabilen Afghanistan und einer destabilisierten Region in diesem Teil der Welt ausgehen. Ja, wir wollen Menschen in Afghanistan schützen, wir wollen auch Brunnen bohren, Schulen bauen und Frauen- und Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen. Aber wir wollen auch uns selbst und die Sicherheit der internationalen Staatengemeinschaft schützen. Das ist nach wie vor der Kern der Begründung für diesen Einsatz. Diese Begründung müssen wir auch heute unserer zweifelnden Bevölkerung gegenüber deutlich machen. Es ist notwendig, viele Fehleinschätzungen der Vergangenheit zu korrigieren, nicht zuletzt die Realitätsverweigerung im Umgang mit den Bürgerkriegsparteien in Afghanistan. Ich erinnere mich noch gut daran, was für Kommentare laut wurden, als der damalige Vorsitzende der SPD, Kurt Beck, nach einer Reise nach Afghanistan zurückkam und sagte: Wir müssen auch mit den Talibanführern reden, die zu einem Versöhnungsgespräch bereit sind. - Wir sind verhöhnt und verlacht worden. Heute ist klar: Ohne einen solchen Versöhnungsprozess wird Stabilität in Afghanistan nie zu erreichen sein. ({2}) Seit etwa einem Jahr sind aus den Fehlern des Afghanistan-Einsatzes in der Vergangenheit endlich Konsequenzen gezogen worden, und es hat einen Strategiewechsel der internationalen Staatengemeinschaft gegeben. Heute können wir feststellen: Der Strategiewechsel war nicht nur dringend notwendig, sondern er hat sich auch durchgesetzt, weil die afghanische Regierung selbst und viele andere Nationen zu den gleichen Schlussfolgerungen gekommen sind. Am wichtigsten ist: Ein gutes Jahr danach können wir erkennen, dass der Strategiewechsel beim internationalen Einsatz sowohl auf der militärischen als auch auf der zivilen Seite bei den Vereinten Nationen in Afghanistan offenbar erste Erfolge zeitigt. Erstmals in der nunmehr zehnjährigen Geschichte des Einsatzes besteht eine realistische Chance auf eine Trendwende in Afghanistan. Wir Sozialdemokraten haben seit längerer Zeit für diesen Strategiewechsel gekämpft. Es war der damalige Außenminister der Großen Koalition, Frank-Walter Steinmeier, der in seinem Zehnpunkteplan diesen Strategiewechsel gefordert hat, lange bevor er Realität wurde. Als die SPD diese neue Strategie in Deutschland und in der internationalen Staatengemeinschaft im Afghanistan-Konflikt forderte, hat es wieder öffentliche Kritik gehagelt. Wie schon bei der Forderung von Kurt Beck nach einer Einbeziehung der verhandlungsbereiten Taliban in eine politische Lösung wurde auch unsere Forderung nach einer Beendigung der internationalen Kampfhandlungen und damit auch der Beteiligung der Bundeswehr an Kampfhandlungen im Jahr 2014 insbesondere von CDU und CSU in Bausch und Bogen verworfen. ({3}) Es war Ihr Verteidigungsminister, der damals erklärt hat - ich zitiere -: Wir brauchen … kein Enddatum. Die Bundeskanzlerin meinte seinerzeit: Ich fände es falsch, wenn wir jetzt ein konkretes Abzugsdatum nennen. Das ist das Zitat desjenigen, der heute öffentlich erklärt, dass er dieses Enddatum richtig finde, sonst würde er dem Mandat wohl kaum zustimmen. Sie werden verstehen, dass wir Sozialdemokraten froh darüber sind, dass unsere Beurteilung der Situation in Afghanistan und des damit verbundenen Strategiewechsels offenbar deutlich realistischer und klarer war als manches, was aus der Regierung damals zu hören war. ({4}) Es ist schade, dass die Bundeskanzlerin bei dieser Debatte und Entscheidung nicht dabei sein kann. ({5}) - Ich höre, sie kommt gleich. - Teile Ihrer Regierung haben aus der Entwicklung des letzten Jahres noch immer nichts gelernt. Alle Vertreter der internationalen Staatengemeinschaft sind sich einig, dass es für die Realisierung dieser neuen Strategie absolut unerlässlich ist, schrittweise mit der Übergabe von Sicherheitsverantwortung an die afghanische Armee und Polizei in einzelnen Distrikten, Provinzen und Städten im Jahr 2011 zu beginnen und damit auch die Reduzierung von internationalen Streitkräften zu verbinden. Der amerikanische Präsident Obama hat das in dieser Woche in seiner Rede an die Nation noch einmal bekräftigt und gesagt: Ab Juli dieses Jahres beginnt der Rückzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan. - Der Druck dieses Zeitplans, beginnend 2011, soll dazu beitragen, dass auch die unterschiedlichen Gruppen und Ethnien außerhalb der Aufständischen in Afghanistan besser zusammenarbeiten. Es darf kein Verlassen auf eine dauerhafte militärische Präsenz der internationalen Streitkräfte in Afghanistan geben. Wer 2011 nicht anfängt, der wird 2014 nicht draußen sein. Alle haben das verstanden, auch der Außenminister der Bundesregierung, nur einer offenbar nicht, nämlich der Verteidigungsminister. Wie anders ist sein Satz sonst zu verstehen, es sei ihm „völlig wurscht, ob man das Jahr 2004 oder 2013, 2010 oder 2011 oder 2012 nennt“. Völlig wurscht sei ihm das. Von mir aus kann Ihr Verteidigungsminister Ihren Außenminister und auch Ihre Bundeskanzlerin ignorieren; aber wenn Ihrem Verteidigungsminister die Strategie der internationalen Staatengemeinschaft „völlig wurscht“ ist, dann ist er schlicht und ergreifend fehl auf seinem Platz, nichts anderes. ({6}) Wir jedenfalls stimmen heute der Mandatsverlängerung mit großer Mehrheit zu, weil wir den Strategiewechsel in Afghanistan für richtig und erfolgversprechend halten und nicht weil wir etwa die regierungsinternen Kompromissformulierungen im Mandatstext richtig finden. Uns ist es egal, welche kabinettsinternen Verrenkungen Sie da machen mussten, um Ihren Minister auf Linie zu bekommen. Wir stimmen zu, weil wir sicher sind, dass die Truppenreduzierung im Rahmen dieses Strategiewechsels im Jahr 2011 beginnen kann und wird und weil wir 2014 mit unserer Bundeswehr nicht mehr an Kampfhandlungen in Afghanistan beteiligt sein wollen. ({7}) Um eines müssen wir die Bundeskanzlerin auch in ihrer Abwesenheit schon bitten: Bitte, bringen Sie Ihrem Verteidigungsminister bei, dass es nur eine Institution gibt, die über den Einsatz, den Verbleib und den Rückzug der Bundeswehr entscheidet, und das ist nicht der Verteidigungsminister. In seinen Kreisen müsste sich nach 90 Jahren herumgesprochen haben, dass in Deutschland nur ein demokratisch legitimiertes Parlament über die Bundeswehr entscheidet und nicht ein Minister einer Regierung. ({8}) Mit seinen Bemerkungen zum Rückzugstermin offenbart der Minister eine seltsame Distanz und auch einen mangelnden Respekt gegenüber zwei Verfassungsinstitutionen: gegenüber der eigenen Bundesregierung und gegenüber diesem Parlament. Die Bundeskanzlerin kann das gerne weiter schleifen lassen - das ist uns notfalls egal -; aber als Abgeordnete des Deutschen Bundestages werden wir uns das nicht gefallen lassen. Das ist jedenfalls ganz sicher. ({9}) Es ist gut, dass wir es uns mit den Einsätzen der Bundeswehr in diesem Haus immer schwer machen. Deutschland braucht keine schneidigen Entscheidungen über die Einsätze der Bundeswehr, und wir brauchen übrigens auch keine Bundeswehr, in der nur der ein richtiger Soldat oder ein Held ist, der sozusagen unter Feuer gestanden hat. Ich will jedenfalls nicht, dass am Ende nur noch die Unterscheidung zwischen traumatisierten und glorifizierten Soldatinnen und Soldaten existiert. ({10}) Der Friede bleibt der Ernstfall, und die Bundeswehr bleibt eine demokratische und in ihrer Inneren Führung zivile Parlamentsarmee und keine auf Abruf bereitstehende Interventionstruppe. ({11}) Darauf haben wir gerade jetzt zu achten, wenn es an die größte Reform der Bundeswehr in ihrer eigenen Geschichte geht. Die Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, eine deutsche, weil die Soldatinnen und Soldaten der Bundesrepublik erstmals in der Geschichte unseres Landes nie in Gefahr waren, einen Staat im Staate zu bilden, sondern weil sie Staatsbürger in Uniform sind. Sie ist eine europäische Erfolgsgeschichte, weil niemand, kein Nachbar in Europa oder sonst irgendwer auf der Welt - von England bis Skandinavien, von Griechenland bis Frankreich, von Polen bis nach Russland -, vor dieser Bundeswehr Angst haben muss. Im Gegenteil: Unsere europäischen Nachbarn und unsere internationalen Verbündeten können sich auf die Bundeswehr als verlässlichen Partner bei der Friedensund Freiheitssicherung verlassen. Das ist eine riesige Erfolgsgeschichte unseres Landes. ({12}) Der Grund für diese Erfolgsgeschichte sind gerade die innere Zivilität, die Innere Führung und das Bild des Staatsbürgers in Uniform. Umso sorgfältiger müssen wir heute mit dieser Erfolgsgeschichte umgehen. Wir werden die Bundeswehr mit dem Abschied von der Wehrpflicht völlig verändern. Wir dürfen nicht schon gleich am Anfang die falschen Signale setzen. So war es eben von Anfang an falsch, die Bundeswehrreform als Sparoperation anzulegen. Vieles wird mehr kosten und nicht weniger. ({13}) Deshalb zerplatzen jetzt die vollmundigen Sparankündigungen des Verteidigungsministers wie Seifenblasen. Die Bundeswehr muss eben nicht nur effizient, sondern vor allen Dingen effektiv sein. Sie ist etwas anderes als ein zu verschlankendes Unternehmen. Die Fehlsteuerung der Bundeswehrreform bekommen gerade auch die im Einsatz in Afghanistan befindlichen Soldatinnen und Soldaten zu spüren. So müssen viele von ihnen ausreichende Schutzkleidung und Ausstattung mit über 1 000 Euro privat selbst bezahlen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, legt der Verteidigungsminister auch hier im Bundestag partei- und fraktionsübergreifend geforderte Verbesserungen bei den Leistungen an die Hinterbliebenen von getöteten Soldaten ebenso auf Eis wie die geforderten Verbesserungen für die berufliche Weiterverwendung der Soldaten nach dem Einsatz. Das haben wir hier gemeinsam gefordert. Die Bundesregierung und der Verteidigungsminister setzen es nicht um. Der Bundeskanzlerin und ihrem Finanzminister müssen wir doch einmal klar sagen, dass es dann, wenn ihr Verteidigungsminister offensichtlich mit anderen Aufgaben zu tun hat, ihre Aufgabe und ihre Pflicht ist, diese Forderungen des Parlaments zu erfüllen. Schließlich ist es die Armee des Parlaments, und wir tragen die Verantwortung. Die Bundesregierung hat das umzusetzen, was der Deutsche Bundestag für seine Parlamentsarmee entschieden hat. ({14}) Sie können hier nicht die Verlängerung der Einsätze beantragen, aber bei der Einsatzversorgung auf der Bremse stehen. Es wäre auch verantwortungslos, wenn wir im Zusammenhang mit der Mandatsverlängerung heute nicht auch auf die Ereignisse der letzten Wochen und Monate zu sprechen kämen. Unsere Debatte steht aufgrund der Feldpostaffäre, aber noch viel mehr durch die beiden getöteten jungen Soldaten in Kunduz und auf der „Gorch Fock“ in einem besonderen Licht. Jeder Verteidigungsminister hat wohl das Risiko, dass es 365 Tage im Jahr gibt, an denen er in Bedrängnis kommen kann und öffentliche Erklärungen abgeben muss. Es ist gewiss nicht sinnvoll, aus jedem der denkbaren Vorfälle gleich einen Skandal zu machen oder eine Rücktrittsforderung anzuschließen. Gewiss ist es ebenso richtig, wenn zuerst die Sachverhalte aufgeklärt und Verantwortlichkeiten geklärt werden, bevor über denkbare Konsequenzen öffentlich verhandelt wird. Ich habe deswegen die Einlassungen des Verteidigungsministers hier im Deutschen Bundestag in der letzten Woche ganz gut nachvollziehen können; das kann ich hier offen zugeben. Bis heute versteht aber niemand, warum eigentlich zwischen dem Tod einer Seekadettin auf der „Gorch Fock“ und der Entsendung eines Ermittlungsteams auf dieses Schiff mehr als zwei Monate vergehen müssen. Und warum wird eigentlich weder die Öffentlichkeit noch das Parlament über Wochen über den zweiten Todesfall, den Tod des Soldaten in Kunduz, korrekt unterrichtet? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Minister hat es gewusst und selbst die Öffentlichkeit und das Parlament nicht angemessen informiert, oder er wurde durch sein Ministerium nicht vernünftig informiert. Nur diese beiden Möglichkeiten gibt es. Beide Alternativen müssten Gründe für die Kanzlerin sein, dort einzugreifen. Sie kann weder dulden, dass einer ihrer Minister das Parlament und die Öffentlichkeit bewusst hinters Licht führt, noch dass sie einen Minister beruft, der sein Ministerium offensichtlich nicht im Griff hat und schwerwiegenden Vorfällen nicht von selbst nachgeht. ({15}) Bei der Aufklärung des Bombardements in Kunduz konnte der Verteidigungsminister noch sagen, ihm seien die Unterlagen und vor allem die Feldjägerberichte nicht vollständig vorgelegt worden. Wenn schon im Verteidigungsministerium bei ungeklärten Todesfällen von Soldaten nicht generell eine Information des Ministers angeordnet ist - spätestens nach diesen damaligen Vorwürfen und der schwierigen Aufklärung muss doch ein wacher Minister bei ungeklärten Todesfällen die entsprechende umfassende Berichterstattung, zum Beispiel einschließ9886 lich der Feldjägerberichte, selbst anfordern. Das ist seine originäre Aufgabe. ({16}) Dort genau hinschauen zu wollen und genau wissen zu wollen, was eigentlich passiert ist, ist nicht nur die Pflicht eines Ministers, sondern auch eine Frage des Interesses am Schicksal der eigenen Soldaten sowie eine Frage der Mitmenschlichkeit. ({17}) Stattdessen erleben wir zum wiederholten Mal, wie schon beim Bombardement in Kunduz, dass der Verteidigungsminister seine Aktivitäten nach den Regeln des deutschen Medienbetriebes ausrichtet. Erst wird abgewiegelt und erklärt, alles sei in Ordnung. ({18}) - Nein. Sie werden aber zugeben, dass er darin besonders gut ist. ({19}) Das kritisieren Sie ja selber gelegentlich. Ich verstehe schon, dass Sie das so lange gut finden, wie er nicht in Probleme kommt. Wenn der Medienwind sich dann dreht, wird aber das genaue Gegenteil gesagt und scheinbar hart durchgegriffen. Nicht alleine wir kritisieren das. Ich zitiere einmal aus einem der vielen Berichte in der Zeit. Dort heißt es: „Ein Muster wird sichtbar.“ Das Muster ist die rasche Schuldzuweisung. Ob Kunduz, geöffnete Briefe, ungeklärte Todesfälle oder jetzt bei der Finanzierung der Bundeswehr, die Muster ähneln sich tatsächlich frappierend. Immer heißt es am Anfang: Erstens. Natürlich werden bei uns Fehler gemacht. Zweitens. Aber nicht ich, sondern andere sind schuld. - Danach werden die Betroffenen kurzerhand entlassen. Eine Zeitung hat dies „das Prinzip Guttenberg“ genannt. Ich sage Ihnen: Mit Prinzipien hat dies nichts zu tun, aber mit der „Methode Guttenberg“ hat das eine ganze Menge zu tun. ({20}) Wie sagt der Herr Verteidigungsminister treffend? Wir brauchen „eine Bundeswehr, die das Verantwortungsprinzip auch bei jedem einzelnen Beteiligten lebt und trägt“. Nur für sich selbst möchte er dieses Verantwortungsprinzip möglichst nicht gelten lassen. Es sind immer andere, die ihren Kopf hinhalten müssen: Oberst Klein, General Schneiderhan, Staatssekretär Wichert und jetzt Kapitän Schatz. Nach etwas mehr als einem Jahr Amtszeit gibt es schon verdammt viele politische Opfer dieses Ministers in seinem Betrieb. ({21}) Natürlich muss das immer markig klingen. Jetzt wird gleich eine Generalinspektion der Bundeswehr angekündigt. Das liegt ziemlich nahe am Generalverdacht. Für eine solche Unterstellung gegenüber der Bundeswehr gibt es keine Grundlage. Trotzdem ist das die Botschaft, die in die Bundeswehr hineingesandt wird. ({22}) Moderne Führung sieht jedenfalls anders aus. Eine moderne Führung aber braucht die Bundeswehr heute mehr denn je. Der Erfolg der Bundeswehr in der Vergangenheit und noch mehr in der Zukunft basiert auf ihrer inneren Zivilität. Darauf wollen sich Menschen verlassen, die zur Bundeswehr gehen. Dazu gehören nicht zuletzt das Recht auf Anhörung und auf rechtliches Gehör sowie der Schutz vor Willkür. Das gilt für Mannschaften, Unteroffiziere, Seekadetten ebenso wie für Offiziere und Kommandeure. Wer dieses Recht verletzt, verstößt eklatant gegen die Prinzipien der Inneren Führung der Bundeswehr und des Staatsbürgers in Uniform, wie sie die Sozialdemokraten Georg Leber und Helmut Schmidt tief in der Bundeswehr verankert haben. Wir werden nicht zulassen, dass diese Erfolgsgeschichte durch Ihre Regierung kaputt gemacht wird. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Gabriel, Sie berücksichtigen bitte die Zeit.

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das geschieht alles nur, weil sich der Minister inzwischen fernsteuern lässt. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung treffend schreibt, gibt es eine strategische Verbindung, eine strategische Partnerschaft zwischen der Bild-Zeitung und dem Minister. Der Bild-Zeitung ist nichts vorzuwerfen. Sie will eine gute Auflage. ({0}) Der Minister aber verkauft dafür seine Mitarbeiter und Soldaten. Das ist der Kern des Vorwurfs, den wir Ihnen machen müssen. ({1}) Damit wir uns richtig verstehen: In Afghanistan und auch sonst wo braucht die Bundeswehr einen ruhigen Regisseur, aber nicht einen schillernden Darsteller. Das ist das Letzte, was wir brauchen. Von einem ruhigen Regisseur aber ist Ihr Verteidigungsminister derzeit weit entfernt. Sorgen Sie dafür, dass sich das ändert! Sonst gefährden Sie nicht nur die Einsätze der Bundeswehr, sondern auch die Zukunft dieser Armee; denn sie braucht eine ruhige Hand und nicht jemanden, der sich von öffentlicher Berichterstattung fernsteuern lässt. ({2}) Das ist das Ergebnis von etwas mehr als einem Jahr. Das werden wir nicht hinnehmen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sie haben wohl heute Morgen die Presseberichte über die Aktuelle Stunde vorgestern gelesen, Herr Gabriel. Darin ist nachzulesen, dass Ihre Fraktion bei der Debatte über die Vorfälle in der Bundeswehr wirklich ein sehr schwaches Bild abgegeben hat. ({0}) Ich kann deshalb nachvollziehen, dass Sie mit Ihrem ganzen Gewicht heute, ({1}) wo es um einen ganz anderen Tagesordnungspunkt geht, diesen Eindruck korrigieren wollen. Ich kann Ihnen sagen: Zu diesem Thema, Herr Gabriel, ist zwar nicht in der Person, wohl aber nach dem Inhalt Ihrer Rede der Eindruck noch dünner geworden. ({2}) Dr. Sima Samar, die Vorsitzende der unabhängigen Menschenrechtskommission in Afghanistan, ist insbesondere für ihren unermüdlichen Einsatz für die Rechte der Frauen in ihrem Land bekannt. Ich traf sie vor zwei Wochen in Kabul und war beeindruckt von ihrem Mut, sich bei ihrer Arbeit auch von Morddrohungen nicht einschüchtern zu lassen. Frau Samar äußerte sich äußerst kritisch gegenüber der Regierung Karzai. Auf meine Frage, wie sie die Zukunft unseres zivil-militärischen Engagements in Afghanistan bewertet, machte sie mir unmissverständlich klar, dass wir Afghanistan nicht verlassen dürften, bevor es nachhaltig stabilisiert sei; sonst drohe die Rückkehr der menschenverachtenden Herrschaft der Taliban. Das wirft die Fragen auf: Wo stehen wir in Afghanistan, und wie lange bleiben wir noch in Afghanistan? Man spürt, dass der Strategiewechsel, den wir vergangenes Jahr vollzogen haben, sowohl militärisch als auch beim zivilen Aufbau greift. Deshalb muss der zivil-militärische vernetzte Ansatz unbedingt weiterverfolgt werden. Es ist richtig: Rein militärisch können wir die Lage in Afghanistan nicht erfolgreich verändern. Unsere öffentliche Expertenanhörung im Auswärtigen Ausschuss Ende November hat aber auch ergeben, dass es ohne militärische Absicherung keine nachhaltige Entwicklungshilfe in Afghanistan geben und dass für die Menschen eine Verbesserung ihrer Lage nicht dauerhaft erfahrbar werden kann. Dies haben Vertreter von in Afghanistan tätigen Nichtregierungsorganisationen auch beim Kongress der CDU/CSU-Fraktion zur zivil-militärischen Zusammenarbeit im Dezember bestätigt. Es ist deshalb gut, dass die von den Vereinten Nationen mandatierten ISAFTruppen und die afghanischen Sicherheitskräfte gegenüber den regierungsfeindlichen Kräften in Afghanistan die Initiative zurückgewonnen haben. Die Aufständischen sind - ich sage das aufgrund der wechselnden Erfahrungen mit aller Vorsicht - spürbar in der Defensive, militärisch und politisch. Die Bevölkerung kehrt wieder in Gebiete zurück, die von den Aufständischen kontrolliert waren, und arbeitet immer enger mit den ISAFTruppen zusammen. Gleichzeitig setzen die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung ihre vor einem Jahr in London gemachten Zusagen für den zivilen Aufbau zügig um und verzeichnen erste Erfolge. Die Kolleginnen und Kollegen, die Afghanistan in jüngster Zeit besucht haben, konnten sich selbst davon überzeugen, dass der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte, Armee und Polizei, jetzt zügig vorankommt, auch aufgrund der Ausweitung der deutschen Trainingskapazitäten. Die gesetzten quantitativen Ziele wurden vorzeitig erreicht. Deutschland arbeitet mit seinen Ausbildungsprogrammen mit Nachdruck daran, dass afghanische Kräfte so schnell wie möglich selbst für Sicherheit sorgen können. Dies soll vollständig 2014 in ganz Afghanistan möglich sein, ist momentan aber noch nicht der Fall. Deshalb müssen die internationalen Kräfte, also auch die Bundeswehr, derzeit noch diese Aufgabe wahrnehmen. Nur auf dieser Grundlage kann Entwicklungshilfe nachhaltige Erfolge erzielen und die lokale Regierungsführung verbessert werden. Die Strategie der Übergabe in Verantwortung ist der richtige Weg. Meines Erachtens ist heute die Zuversicht berechtigt, dass wir 2011 den Prozess der Übergabe in afghanische Verantwortung beginnen können. Im Zuge dieses Prozesses wollen wir auch die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren. Niemand möchte länger als unbedingt notwendig Kampftruppen in Afghanistan belassen. Deshalb tun unsere Soldatinnen und Soldaten und unsere zivilen Mitarbeiter alles für eine Lageentwicklung, die eine Reduzierung unserer militärischen Präsenz so schnell wie möglich Realität werden lässt. Herr Gabriel, ich möchte Ihnen gern unsere Verfassung und das Parlamentsbeteiligungsgesetz erläutern. Sie haben hier gesagt: Nicht der Verteidigungsminister zieht Soldaten zurück, sondern wir im Parlament ziehen Soldaten zurück. - Herr Gabriel, wir stimmen heute über eine Obergrenze ab. Wenn Sie den Verteidigungsminister darauf festlegen wollen, dass er bis zum letzten Tag dieses Mandates diese Obergrenze zu 100 Prozent ausschöpft, dann ist dies Ihre Position. Die Position der Koalition ist, dass die Bundesregierung innerhalb der gesetzten Obergrenze jede Möglichkeit nutzt, sobald es die Sicherheit und die Nachhaltigkeit zulassen, auch vor Ende des Ablaufs dieses Mandats mit der Reduzierung der Truppenstärke zu beginnen. ({3}) Unser Dank gilt den Männern und Frauen, die vor Ort unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen hart für die Stabilität und Entwicklung Afghanistans arbeiten. Verantwortbare Übergabe hat - auch das gehört dazu - Vorrang vor angestrebten Zeitplänen. Die Abzugsperspektive für unsere Soldatinnen und Soldaten muss sich an konkreten Fortschritten vor Ort bemessen. Es darf auf keinen Fall ein Sicherheitsvakuum entstehen, das das Erreichte oder die noch in Afghanistan tätigen Soldaten und zivilen Kräfte gefährdet. In dem Maße, in dem Afghanen die Lage sicher und nachhaltig kontrollieren, können und wollen wir Kampftruppen zurückziehen. ({4}) Um unser Ziel einer völligen Übergabe der Verantwortung bis 2014 zu erreichen, sind meines Erachtens insbesondere fünf Dinge notwendig. Erstens müssen die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte weiter verbessert werden. Daran wird mit Nachdruck gearbeitet. Zweitens muss die afghanische Seite mit uns an einem Strang ziehen und ihren bei der Kabuler Konferenz eingegangenen Verpflichtungen - gute Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung, Aufbau einer unabhängigen Justiz - konsequent und ambitioniert nachkommen. Drittens muss der Versöhnungsprozess funktionieren und zu Ergebnissen führen. Eine politische Lösung, also ein Prozess der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit verschiedenen Gruppen der Aufständischen, ist zwingend notwendig, wenn wir ein hinreichend stabiles Afghanistan schaffen wollen, von dessen Boden keine Gefahr für die Region und die Staatengemeinschaft mehr ausgeht. Herr Gabriel, auch in diesem Zusammenhang muss ich Ihnen sagen: Wir haben nie etwas anderes behauptet. ({5}) Tatsache ist, dass die Taliban zu einer solchen Versöhnung bisher nicht bereit waren. Im Jahr 2010 sind aber erste Schritte in Richtung einer politischen Konfliktbewältigung eingeleitet worden. Herr Gabriel, das hat auch etwas damit zu tun, dass die ISAF die Initiative zurückgewonnen und die Taliban deutlich in die Defensive gedrängt hat, und zwar sowohl militärisch als auch politisch. Auch das hat dazu geführt, dass jetzt dieser Prozess der Versöhnung und des Ausgleichs möglich geworden ist. Dafür müssen die Spielräume natürlich genutzt werden. Viertens müssen wir einen regionalen Lösungsansatz weiter mit Nachdruck verfolgen. Die Kabuler Konferenz vom letzten Jahr hat hier wegweisende Fortschritte gebracht. Die Beziehungen zwischen Islamabad und Kabul haben sich in letzter Zeit erfreulicherweise kontinuierlich verbessert. Pakistan fühlt sich jedoch - aus seiner Sicht - von einem wachsenden indischen Einfluss in Afghanistan bedroht. Deshalb brauchen wir auch einen pakistanisch-indischen Dialog über Afghanistan. Fünftens müssen wir den Afghanen die Gewissheit geben, dass wir sie 2014 nicht im Stich lassen. Wir müssen unsere Unterstützung beim Wiederaufbau und im Bereich der Sicherheit fortsetzen. Dabei wird sich unser Engagement in Afghanistan qualitativ verändern. Es ist und bleibt aber langfristig. Die für Ende des Jahres geplante Afghanistan-Konferenz in Bonn ist für die Strukturierung des weiteren Vorgehens eine wichtige Wegmarke. Herr Gabriel, Sie haben eine breite Zustimmung der SPD angekündigt. Sie waren gerade in Afghanistan und konnten sich vor Ort davon überzeugen, dass die jetzt eingeschlagene Strategie richtig ist. Herr Gabriel, Sie haben in einem FAZ-Interview gesagt, dass Sie das Stimmverhalten der meisten Grünen nicht nachvollziehen können. Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Im Gegensatz zu den meisten Grünen vergisst die Mehrheit der Sozialdemokraten nicht, dass es die rot-grüne Regierung mit Außenminister Fischer war, die den Einsatz mit dieser Intensität begonnen hat. ({6}) Frau Künast und Frau Roth, wie der SPD-Vorsitzende und die übergroße Mehrheit der SPD-Fraktion sollten auch die Grünen anerkennen: Wir sind jetzt auf einem guten Weg, diesen Einsatz zu einem guten Ende zu führen. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Bombardierung Belgrads, einem völkerrechtswidrigen Krieg, bildete sich in Deutschland eine Kriegskoalition aus Union, SPD, FDP und Grünen. ({0}) Sie stand auch beim Krieg in Afghanistan, der inzwischen über neun Jahre dauert. Die Linksfraktion beginnt heute mit einer Afghanistan-Konferenz unter dem Titel „Das andere Afghanistan“. Ich begrüße ausdrücklich neun Afghaninnen und Afghanen, die aus dem Land des Krieges kommen und auf der Tribüne Platz genommen haben. Auch um ihr Schicksal geht es. ({1}) Ihre Gegner sind die Taliban, die Warlords, aber auch die NATO. Es gibt eine repräsentative Emnid-Umfrage von Beginn 2010 und von Beginn 2011 zur Ablehnung bzw. Zustimmung der Bevölkerung betreffend den AfghanistanKrieg. Dabei wurden die Vokabeln der Regierung und nicht etwa unsere verwendet. Es gab drei AntwortmögDr. Gregor Gysi lichkeiten. Die erste mögliche Antwort war: Ich bin für die militärische Unterstützung der Aufbauhilfe. - Das, was wir Krieg nennen, ist - ganz im Sinne der Regierung so umschrieben worden. Die zweite mögliche Antwort war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr und für die Leistung von Aufbauhilfe. Die dritte mögliche Antwort war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr, aber ohne künftige Aufbauhilfe. - 28 Prozent unterstützten zu Beginn des Jahres 2010 die Regierungspolitik. Heute sind es nur noch 15 Prozent. Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, wen Sie hier repräsentieren. ({2}) 2010 waren 50 Prozent für den Abzug der Bundeswehr und für Aufbauhilfe; heute sind es 53 Prozent. Aber es gibt eine erschreckende Zahl: Vor einem Jahr wollten 18 Prozent keine Bundeswehr, aber auch keine Aufbauhilfe mehr; heute wollen dies 26 Prozent. Denken Sie einmal darüber nach, weshalb immer mehr Menschen keine Aufbauhilfe wollen! Das liegt an Ihrer Art der Politik. Die Leute glauben nicht mehr daran; sie sehen darin keinen Sinn. ({3}) Bei der Umfrage kommt heraus, dass 79 Prozent für den Abzug der Bundeswehr sind. Nur im Bundestag sind die Verhältnisse exakt umgekehrt. ({4}) Meine Partei war von Anfang an gegen den Krieg. Terrorismus kann man nicht mit der höchsten Form des Terrorismus, mit Krieg, bekämpfen. ({5}) Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Struck sagte: Am Hindukusch wird unsere Freiheit verteidigt. - Wenn ich die schwerbewaffneten Polizisten rund um den Bundestag sehe, habe ich den Eindruck, dass am Hindukusch unsere Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Wir sind eine potenzielle Adresse für Terrorakte geworden. ({6}) Lassen Sie mich noch etwas zu Krieg und Terror sagen. Die Terrororganisation al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan, sondern in Pakistan. Sie wird ausschließlich aus Saudi-Arabien bezahlt. Die USA haben beste Beziehungen zu Saudi-Arabien. Das nenne ich verlogen. ({7}) Sie kommen nicht darum herum. Sie wollten von Anfang an den Krieg gewinnen, wir den Frieden. ({8}) Inzwischen sagt auch der Fortschrittsbericht der Bundesregierung von Dezember 2010, dass der Konflikt militärisch nicht zu lösen sei. Die Schlussfolgerung der NATO ist aber: mehr Soldaten, mehr Kriegsgerät. Außerdem heißt es, dass man den Krieg afghanisieren will, so wie die USA den Krieg im Irak irakisieren. Auch die Bundeswehr plant für das nächste Jahr eine weitere Verlegung von schwerem Kriegsgerät, von Panzern, Artillerie und Tigerkampfhubschraubern. Das Ganze läuft auf eine Eskalation des Krieges hinaus. Eine Eskalation des Krieges bedeutet immer auch eine Eskalation der Opfer des Krieges. Im ersten Halbjahr 2010 stieg laut UN-Report die Zahl der toten und verletzten Zivilisten in Afghanistan um ein Drittel auf 3 268. ({9}) Durch die Eskalation des Krieges gibt es auch eine höhere Zahl von Todesopfern unter den Soldatinnen und Soldaten. Seit Beginn des Krieges sind über 2 300 Soldatinnen und Soldaten umgekommen, darunter 46 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Auffallend ist, dass die Zahl der getöteten Soldatinnen und Soldaten jährlich steigt; im letzten Jahr waren es schon 711. Die Zahl von Bundeswehrsoldaten mit seelischen Verletzungen hat sich gegenüber 2006 verzwölffacht. Waren es damals 55, sind es heute 655. Hinzu kommen noch 333 Soldaten mit anderen psychischen Erkrankungen. 2010 wurden also über 1 000 Soldaten stille Opfer des Krieges, und das sind nur die Soldatinnen und Soldaten, die sich gemeldet haben. Die Dunkelziffer ist viel höher. Man braucht keinen Tatort, um zu begreifen, dass wir nicht nur Afghanistan schaden, sondern auch unser Land negativ verändern. ({10}) Wenn man aus einer Landesverteidigungsarmee eine Interventionsarmee macht und Kriege führt, verändert man zuerst die Armee und dann die Gesellschaft. Es gibt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die besagt: Bis Ende 2010 haben wir insgesamt 25 Milliarden Euro für diesen Krieg ausgegeben. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie viel besser Afghanistan dastünde, wenn wir nur die Hälfte dieses Geldes in den zivilen Aufbau des Landes gesteckt hätten! ({11}) Jetzt werde ich Ihnen etwas zu den Folgen des Krieges sagen, und daran kommen Sie nicht vorbei. Die erste Folge des Krieges: Das Ansehen der Taliban ist nicht gesunken, sondern hat wieder zugenommen. ({12}) Das ist das Gegenteil von dem, was Sie erreichen wollten. Zweitens. Die Warlords sind mächtiger als zu Beginn des Krieges. Drittens. In Armut leben nicht mehr 33 Prozent, sondern 42 Prozent der Bevölkerung. ({13}) - Ich bitte Sie! Das sind UNO-Zahlen. Die können Sie nicht als Quatsch abtun. Nehmen Sie sie einfach mal zur Kenntnis. ({14}) Viertens. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der Bevölkerung. Fünftens. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen Menschen. Sechstens. Den Zugang zu sanitären Einrichtungen haben nicht mehr 12 Prozent, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. Siebentens. Die Mohnfelder für den Rauschgiftanbau der Warlords umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar. Wofür führen Sie eigentlich diesen Krieg? Was soll in den nächsten Jahren anderes passieren, außer dass sich dies verschlimmert? ({15}) Ihr Ansatz ist völlig falsch, verfangen in der Logik des Krieges und im Denken des Primats des Krieges. Die Bundesregierung täuscht jetzt aber auch die Öffentlichkeit. Ich muss sagen, dass der Streit zwischen Bundesminister Westerwelle und Bundesminister zu Guttenberg um die Frage, ob man einen Termin für den beginnenden Abzug der Soldaten nennt, peinlich ist. ({16}) Herausgekommen ist Folgendes: Man sagt, dass der Abzug Ende 2011 beginnt, wenn es die Lage erlaubt. - Für die Bevölkerung übersetzt, heißt dies: Es beginnt kein Abzug. Aber ich sage Ihnen eines: Jetzt hat Präsident Obama Sie blamiert. Er hat gestern erklärt: Ab Juli werden amerikanische Soldaten abgezogen. - Sie denken noch nicht einmal daran, dies zu realisieren. ({17}) Nur die Linke war und ist konsequent für die sofortige Beendigung des Krieges und den schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Wir wollen keine Verlängerung des Kriegsmandats, sondern endlich die Erteilung eines Abzugsmandats. ({18}) Wir wollen statt der Fortsetzung des Krieges eine zivile Konfliktlösung stärken. Wir schlagen eine Beendigung des Krieges durch Deutschland und eine Aufbauhilfe für Afghanistan in drei Schritten vor. Erstens wollen wir die Bundeswehr abziehen. Die Kampfverbände könnten bis spätestens Ende Mai 2011 abgezogen sein, und den letzten Bundeswehrsoldaten könnten wir bis spätestens Ende September 2011 abgezogen haben. ({19}) Zweitens fordern wir eine massive Unterstützung der zivilen Strukturen. Es geht um die Bekämpfung von Armut, die Förderung von Bildung, die Gleichstellung von Frauen und andere wichtige Menschenrechte. Drittens schlagen wir Maßnahmen und eine neue und andere Petersberger Konferenz zum Wiederaufbau Afghanistans nach dem Krieg vor. ({20}) Meine Forderung lautet ganz einfach - und ich will mich nur an SPD und Grüne wenden -: Liebe Mitglieder der Fraktionen von SPD und Grünen, treten Sie endlich und für immer aus der Kriegskoalition aus! ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, ich habe auch vor der Position, die Sie hier formuliert haben, Respekt. Aber eines kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen: Sie können sich nicht im Deutschen Bundestag hinstellen und sagen, die Menschen in Afghanistan seien von den Taliban genauso bedroht wie von der NATO. Wer einen Einsatz der NATO und einer Reihe weiterer Staaten - darunter viele muslimische Staaten auf der Basis eines Mandates der Vereinten Nationen in eins setzt mit Terroristen und Verbrechern, der hat den Schuss nun wirklich nicht gehört. ({0}) Wir entscheiden heute über ein Mandat in einer geänderten strategischen Lage. Es geht schon lange nicht mehr um die Frage: War es richtig oder falsch? Es geht heute in Afghanistan um die Frage der Übergabe in Verantwortung an die Afghaninnen und Afghanen selber. Es geht nicht mehr um die Frage eines militärischen Sieges über die Taliban; es geht um die Bedingungen, unter denen man in diesem Land einen Kompromiss findet. Ihre Aufregung ist gar nicht mehr zeitgemäß; denn es geht nicht mehr um das Ob eines Abzuges von Kampftruppen; ({1}) es geht darum, dass wir dort noch lange, auch über 2014 hinaus, im zivilen Einsatz sein werden. Es geht um die Frage, wie - nicht ob - wir einen Abzug der Truppen gestalten, ({2}) ohne einen neuen Bürgerkrieg heraufzubeschwören und eine ganze Region erneut zu destabilisieren. Das ist die Frage, der sich der Deutsche Bundestag hier zu stellen hat. ({3}) Deswegen müssen heute auch diejenigen für eine befristete internationale Präsenz sein, die die Entsendung nicht befürwortet haben. Diejenigen, die die Entsendung befürwortet haben, müssen sich heute mit der Frage befassen, wie man einen Abzug verantwortlich organisiert; genau darum geht es. ({4}) Zum Mandat der Bundesregierung kann ich nur sagen: Sie haben sich erfolgreich um den Titel „König des Konjunktivs“ beworben. ({5}) Sie konnten bis heute keinen im Hinblick auf Aufbau, Zeit und materielle Ziele konkretisierten Plan vorlegen. Ihre Formulierung besagt, dass es vielleicht zum Abzug kommt, vielleicht auch nicht. Damit ermöglichen Sie Spekulationen und Wetten - übrigens auch bei den Konfliktparteien in Afghanistan -, dass man vielleicht doch ein bisschen länger bleibe und man sich deswegen im Friedensprozess nicht so sehr anstrengen müsse, schnell zu einer politischen Lösung zu kommen. Ich verstehe es nicht, Herr Westerwelle, Herr zu Guttenberg - Sie legen sonst Wert auf Schneidigkeit und Eindeutigkeit -: Wieso sind Sie nicht zu einer so klaren Sprache in der Lage wie der amerikanische Präsident? Er hat in seiner Rede zur Lage der Nation gesagt: And this July, we will begin to bring our troops home. Punkt! Kein Konjunktiv, kein „if”, gar nichts! Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie hier ein Mandat mit dieser Klarheit und Eindeutigkeit vorlegt, nicht ein Mandat mit Tausend Hintertüren, wie Sie es heute vorgelegt haben. ({6}) Sie wissen sehr wohl, dass es NATO-Partner gibt, die sehr konkrete Abzugsdaten vorgelegt haben; das gilt für verschiedene unserer Nachbarn. Ich frage Sie: Was können die, was Sie nicht können? Es gibt einen zweiten Punkt. Die Bemühungen um eine Stabilisierung und das Finden einer politischen Lösung, eines Kompromisses dürfen sich nicht gegenseitig konterkarieren. Aber die Strategie, auf der einen Seite darauf zu setzen, mit den Taliban und anderen Aufständischen einen Kompromiss zu finden, und auf der anderen Seite ein „Capture or Kill“ zu praktizieren, ist in sich widersprüchlich. Sie konterkariert sich und muss beendet werden. ({7}) Auch dazu finde ich in dem Mandat nichts. Ja, wir müssen den zivilen Aufbau voranbringen. Wir müssen einen politischen Kompromiss finden. Aber, meine Damen und Herren, eine Verhandlungslösung kann nicht losgelöst von Kriterien gefunden werden. Es muss auch bei einem so schwierigen politischen Kompromiss rote Linien geben, was Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Frauenrechte angeht. ({8}) Es kann nicht sein, dass man einen Friedensprozess um jeden Preis durchführt, und am Ende zahlen den Preis die afghanischen Frauen. Das kann nicht sein. ({9}) Auch dazu findet sich in diesem Mandat nur Allgemeines. Ich sage Ihnen: Wir streiten nicht darüber, dass ein Sofortabzug nicht geht. Wir streiten nicht darüber, dass es richtig ist, dass Soldatinnen und Soldaten unter großen Gefahren weiterhin im Auftrag der Vereinten Nationen dort präsent sind; das ist nicht der Streit, den wir haben. Wir streiten darüber, dass Sie in Ihrem Mandat nicht definieren, was Sie in welchem Zeitraum in Afghanistan erreichen wollen und wie lange diejenigen, die dort in äußerster Gefahr ihren Kopf hinhalten müssen, dieses noch tun müssen. Herr Bundesverteidigungsminister, das kann Ihnen als oberstem Dienstherrn doch nicht wirklich, wie Sie gesagt haben, wurst sein. ({10}) Es ist nicht wurscht, wenn man dort täglich seinen Dienst verrichten muss. Es ist nicht wurscht, wenn man unter diesen Gefahren dort tätig sein muss. Aber wenn man das tut, weil man das für einen ernsten Auftrag hält und seinen Job ernst nimmt, dann hat die politische Führung in diesem Land die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, denjenigen, die dort im Dienst sind, eine klare zeitliche Perspektive zu geben. ({11}) Das ist verantwortliche Führung und nicht Wurschtigkeit im adeligen Sinne. Meine Damen und Herren, Sie haben hier keinen Aufbau- und keinen Abzugsplan vorgelegt. Sie haben im Kern keinen Plan. Sie laufen der Entwicklung einfach irgendwie hinterher. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie denjenigen, die dort als zivile Aufbauhelfer, als Polizeiausbilder, als Soldatinnen und Soldaten tätig sind, Klarheit über die Perspektive geben. Wir erwarten auch, dass Sie den Menschen klar sagen, dass dies keine Perspektive ist, die mit dem Abzug und der Beendigung der militärischen Kampfhandlungen 2014 endet, sondern dass es eine internationale zivile Präsenz in Afghanistan auch über 2014 hinaus geben wird und wir nicht den Fehler wiederholen werden, an dieser Stelle zu sagen: Dieses Land ist uns jetzt egal geworden. ({12}) Das erwarten wir von Ihnen. Aber diese Klarheit finden wir in Ihrem Mandat nicht ({13}) Deswegen sagt die Mehrheit meiner Fraktion zwar nicht Nein zur Präsenz der Soldatinnen und Soldaten dort. Aber wir können Ihrem schwammigen Mandat der Konjunktive nicht zustimmen. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung des ISAFMandats in Afghanistan ist ein richtiger, ein notwendiger und für unsere Soldaten ein gefährlicher Einsatz. Die heutige Entscheidung zur Verlängerung des Mandates macht sich niemand von uns leicht. Es ist notwendig, den von Rot-Grün im Jahre 2001 begonnenen Weg, das Land Afghanistan vom Terrorismus zu befreien und zivile friedliche Strukturen zu etablieren, fortzusetzen, um ihn zu einem Erfolg zu führen. Das Ziel dieses Einsatzes ist, das Land Afghanistan zu stabilisieren und damit auch die Sicherheit Deutschlands zu stärken. Die afghanische Regierung hat sich verpflichtet, ab 2014 eine selbsttragende Sicherheit zu erreichen. Dazu wollen wir mit der Verlängerung dieses Mandates einen Beitrag leisten. Es ist ehrlich, zu sagen, dass sich der Einsatz weitaus schwieriger gestaltet, als dies zu Beginn im Jahr 2001 von Rot-Grün vermutet wurde. Die Intensität der Einsätze ist vielleicht sogar unterschätzt worden, die politischen Ziele sind bestimmt überschätzt worden. Jetzt, über neun Jahre später, sind ein klarer Blick, eine ehrliche Beurteilung der Lage vor Ort und eine realistische Betrachtung der Perspektiven gefragt. Die Lage in Afghanistan ist nicht zufriedenstellend. Aber vieles hat sich in Afghanistan bisher verbessert: Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung, das zivile Leben, insbesondere für Frauen und für Kinder. Wer das verneint, war noch nicht in diesem Land oder ignoriert diesen Fortschritt. Herr Gysi, wenn Sie von Herrn Trittin zurechtgewiesen werden, dann müssen Sie sich schon einmal selbst fragen, wie verwirrt Sie in Ihrer Vorstellung sind. ({0}) Wer jetzt einen sofortigen oder voreiligen Abzug fordert, der gefährdet die erreichten, ja erkämpften Erfolge und gefährdet Menschenleben und eine friedliche Perspektive. Daher muss dieser Einsatz fortgesetzt werden, nicht auf Dauer, sondern mit einer realistischen Abzugsperspektive, ({1}) weiterhin engagiert und weiterhin mit einem klaren Konzept. Die christlich-liberale Bundesregierung hat dieses klare Konzept, und sie hat bei der Londoner Konferenz Einfluss gewonnen. Der Schutz der afghanischen Bevölkerung steht ebenso im Vordergrund wie die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte unter dem Leitmotiv „Übergabe in Verantwortung“. Diese Übergabe in Verantwortung muss von der afghanischen Regierung aber meines Erachtens noch viel stärker als Übernahme der Eigenverantwortung verinnerlicht werden. Dazu ist es notwendig, den Druck auf die Karzai-Regierung zu erhöhen, Korruptionsbekämpfung oder den Aufbau einer unabhängigen Justiz voranzubringen. ({2}) Ich bin unserer Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass sie im vorliegenden Antrag deutlich den Willen zum Ausdruck bringt, jeden sicherheitspolitisch verantwortbaren Spielraum nutzen zu wollen, um möglichst ab 2011 mit dem Abzug zu beginnen. Aber, Herr Trittin, es ist genauso richtig, dass deutlich wird, dass eine solche Reduzierung nicht zu einer Gefährdung der bisherigen Erfolge, nicht zu einer Gefährdung der hilfsbedürftigen Menschen vor Ort und nicht zu einer Gefährdung der Sicherheit unserer Soldaten führen darf. Hier gibt es einen offenen Dissens in diesem Haus. CDU/CSU, FDP und SPD stehen zu dieser Verantwortung. Die Grünen, Herr Trittin, wollen mit ihrem Entschließungsantrag einen für die Taliban nachvollziehbaren Plan des Abzugs haben. Wer - wie die Grünen - ein bisschen zustimmt, sich ein bisschen enthält, aber meistens dagegen stimmt, der erweckt den Eindruck, er laufe Umfragewerten nach, schadet dem Ansehen Deutschlands in der Welt und gefährdet die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Otte, einen Augenblick. - Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Herr Ströbele sollte erst einmal versuchen, in der eigenen Fraktion zu Wort zu kommen. ({0}) Meine Damen und Herren, es sind unsere Soldatinnen und Soldaten, die einen gefährlichen Auftrag für unser Land erfüllen müssen. Sie verdienen für ihren tapferen Einsatz im Kampf in diesem Krieg in Afghanistan unsere volle Rückendeckung. Sie brauchen das notwendige Gerät, die richtige Ausbildung sowie eine angemessene und richtige Versorgung im Einsatz und nach dem EinHenning Otte satz. Die CDU/CSU-Arbeitsgruppe hat hierzu einen Antrag zur Verbesserung der Einsatzversorgung auf den Weg gebracht. Auch Soldatinnen und Soldaten aus meinem Bundesland, nämlich Angehörige der 1. Panzerdivision, sind in Afghanistan. Ich bin unserem Verteidigungsminister, Herrn zu Guttenberg, auch dafür sehr dankbar, dass er auf Einladung unseres Ministerpräsidenten David McAllister diese Kameradinnen und Kameraden in einer Feierstunde in den Einsatz entsandt hat und damit wieder einmal ein deutliches Zeichen der Verbundenheit zum Ausdruck gebracht hat. Lieber Herr Gabriel, wer meint, in einer solchen Debatte um eine Mandatsverlängerung hier im Plenum aktuelle Vorwürfe in die Diskussion einbringen zu sollen, sollte bedenken, dass man solche Äußerungen nicht mit Kalkül, sondern mit Bedacht tätigen sollte. Ich hielt es nicht für angemessen, dass Sie uns heute diese Diskussion um aktuelle Vorwürfe aufzwingen wollten. Es ist, wie ich finde, vielmehr wichtiger, dass wir unseren Soldaten mit dem zur Entscheidung stehenden Parlamentsauftrag eine klare Rückendeckung geben und ihnen das volle Vertrauen für ihren schweren Auftrag aussprechen. Sie stehen ein für unser Land. Sie verdienen unsere Unterstützung. Deswegen stimmt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dieser Mandatsverlängerung zu. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Djir-Sarai für die FDP-Fraktion. Bevor ich Ihnen, Herr Djir-Sarai, allerdings das Wort gebe, darf ich Sie einen Augenblick um Geduld bitten. Der Kollege Ströbele hatte unmittelbar im Anschluss an die Rede des Kollegen Otte um die Möglichkeit einer Kurzintervention gebeten. Das sollten wir dann auch sofort abwickeln. Bitte schön.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie haben leider meine Zwischenfrage nicht zugelassen, nachdem Sie davon gesprochen haben, dass das, was wir wollen, die Soldaten in Afghanistan in Gefahr bringt. Ich stelle fest, dass Sie hier und heute einem Mandat zustimmen wollen, was für Afghanistan bedeutet, dass der Krieg ein Jahr fortgesetzt wird - mit einer sicheren Option für weitere drei Jahre. Im letzten Jahr, im Jahr 2010, hat dieser Krieg weit über 10 000 Opfer in Afghanistan gekostet; weit über 10 000 Menschen wurden in diesem Krieg getötet. Wenn Sie diesen Krieg jetzt zunächst um ein Jahr und danach noch einmal um drei Jahre verlängern, nehmen Sie billigend in Kauf, dass weitere Zehntausende von Menschen in Afghanistan im Krieg umkommen. Da frage ich Sie und auch alle anderen, die jetzt zustimmen wollen: Wollen Sie das wirklich in Kauf nehmen, und wollen Sie weiter behaupten, dass eine Beendigung des Krieges in der Form, dass in allen Teilen des Landes, in denen das heute schon möglich ist, ein Waffenstillstand verkündet und eingehalten wird, ({0}) die Soldaten der Bundeswehr mehr in Gefahr bringt als die Fortführung des Krieges? Ich habe vorgestern im Auswärtigen Ausschuss den Außenminister gefragt, wie er zu der Zuversicht kommt, dass die Sicherheitssituation in Afghanistan in einem Jahr besser sein wird und dass in vier Jahren die Situation in Afghanistan gut sein wird. Er hat mir darauf keine Antwort gegeben. ({1}) Die Erfahrungen der letzten Jahre, in denen die Sicherheitssituation in Afghanistan Jahr für Jahr schlechter geworden ist, zeigen doch, dass diese Zuversicht überhaupt nicht gerechtfertigt ist und es dafür keine entsprechenden Fakten gibt. Deshalb konnte der Außenminister auch keine nennen. Ich appelliere heute an Sie, den Krieg nicht fortzusetzen. Deutschland ist zu einer kriegführenden Nation geworden, ({2}) und diese Bundesregierung führt Krieg in Afghanistan. Das heißt, wir haben eine kriegführende Kanzlerin und einen kriegführenden Verteidigungsminister, also einen Kriegsminister. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Djir-Sarai für die FDPFraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seitdem dieses Haus vor fast zehn Jahren das erste Mal das ISAF-Mandat beschlossen hat, hat sich vieles in Afghanistan verändert: Mehr als 13 000 Kilometer Straßen wurden gebaut, es wurde in die Infrastruktur investiert, es wurden Schulen gebaut, die medizinische Versorgung und die Energieversorgung wurden verbessert. Dies alles sind Erfolge für die Menschen in Afghanistan. Durch den tagtäglichen Einsatz der Bundeswehr und der Entwicklungsexperten am Hindukusch ist vieles besser geworden. Ein wesentlicher Pfeiler unserer Strategie ist und bleibt daher der zivile Aufbau. Minister Niebel hat in seiner Regierungserklärung die Erfolge speziell auf diesem Gebiet deutlich herausgestellt. Es ist ein großer Erfolg, dass sich die Situation für die Bevölkerung in Afghanistan, speziell für Frauen und Kinder, deutlich verbessert hat. Das alles ist erst durch den internationalen Einsatz möglich geworden. ({0}) Während dieses Einsatzes waren und sind wir uns zu jeder Zeit unserer Verantwortung bewusst: der Verantwortung gegenüber unseren fleißigen und tapferen Soldaten, der Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan und gegenüber der deutschen Bevölkerung. Wir als Parlamentarier haben mehrheitlich immer verantwortungsvoll auf die Entwicklungen in Afghanistan reagiert. Wir haben uns ausführlich mit unseren internationalen Verbündeten und mit den Afghanen beraten, sei es in London, in Kabul oder in Lissabon. Dabei haben wir wichtige Strategien zur Stabilisierung Afghanistans und zur globalen Sicherheit entwickelt. Uns ist eines besonders wichtig: In Afghanistan werden wir keinen Erfolg haben, wenn wir nur einen militärischen Ansatz verfolgen. Neben dem zivilen Aufbau ist es deshalb ganz besonders wichtig, den Einsatz politisch zu begleiten, also politische Lösungen zu entwickeln. Politische Lösungen bedeuten vor allem Gespräche und Verhandlungen, und zwar auch unter der konsequenten Einbindung der Nachbarländer Afghanistans. Eine Stabilisierung Afghanistans ist ohne den Dialog mit der gesamten Region nicht möglich. Je besser die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektive der Region ist, desto besser sind die Aussichten auf nachhaltige Stabilität in Afghanistan. ({1}) Weil wir das wollen, arbeiten wir daran, die notwendigen politischen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Bei der heutigen Entscheidung geht es nicht um eine Einsatzverlängerung, wie wir sie in den letzten Jahren beschlossen haben. Das muss ganz deutlich herausgestellt werden. Dieses Mal entscheidet dieses Haus über ein Mandat mit einer klaren Abzugsperspektive und vor allem mit einer klaren Perspektive für die Zeit nach 2014. Ich begrüße die Einschätzung der Bundesregierung, dass schon Ende 2011 mit der Reduzierung der Kampftruppen begonnen werden kann, wenn die Sicherheitslage dies zulässt. Diese Perspektive hat die Bundesregierung entwickelt. ({2}) Klar ist aber auch, dass zunächst weiteres militärisches Engagement benötigt wird, um den zivilen Aufbau weiter abzusichern und um in Afghanistan kein Vakuum zu hinterlassen. Das ist wichtig für die afghanische Bevölkerung und für unsere Soldaten im Einsatz. Wir haben ein klares Ziel, wir haben die Sicherheitslage fest im Blick, und wir haben eine gute Perspektive. Für mich ist daher klar: Die Voraussetzungen für eine breite Zustimmung zu diesem Mandat sind gegeben. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf die Linke: Es ist schon erstaunlich, dass hier nicht der kommunistische Wolf gesprochen hat, sondern der Schafspelz. ({0}) Ich möchte einige außenpolitische Aspekte beleuchten und klarstellen, warum wir von der Union das Mandat auch aus außenpolitischer Sicht in vollem Umfang unterstützen. Die Kollegen Schockenhoff und Ruck und ich waren vor zwei Wochen in Afghanistan und Pakistan. Wir haben in beiden Ländern mit Parlamentariern und Parlamentspräsidenten gesprochen. Sie haben uns gegenüber große Erwartungen, aber auch Befürchtungen geäußert. In beiden Ländern wurde die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass wir bis 2014 komplett abziehen könnten. Wir haben deutlich gemacht: Wir werden vielleicht - hoffentlich! - mit den Kampftruppen bis 2014 aus Afghanistan abgezogen sein; aber keiner weiß, wie sich das entwickelt. Vor einem Jahr wussten wir auch noch nicht, wie gut unsere neue Strategie innerhalb eines Jahres greifen würde. Deshalb gilt es, nicht einen Abzugsplan zu erarbeiten, sondern, auch nach Afghanistan und Pakistan, verbindliche Zeichen zu geben: Wir arbeiten daran; wir lassen euch und die Region nicht im Stich. ({1}) Ein wichtiger Aspekt ist, dass - auch das ist ein hoffnungsfrohes Zeichen - die zivil-militärische Zusammenarbeit im Norden, in Masar-i-Scharif und in Kunduz, in beeindruckender Weise funktioniert. Das wurde uns von den Beteiligten, auch von den Nichtregierungsorganisationen, in umfassender Weise bestätigt. Das ist gut, und es zeigt, wie konstruktiv sich die Zusammenarbeit entwickelt hat und wie eng wir mit der afghanischen Seite zusammenarbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht mir um zwei wichtige Punkte: zum einen um die innerafghanische Perspektive, zum anderen um einen regionalen Aspekt. Zur innerafghanischen Perspektive. Die Übergabe in Verantwortung ist ein von Afghanistan selbstbestimmter Prozess. Wir können Afghanistan nur ermutigen und die Rahmenbedingungen schaffen. Es ist ein hoffnungsfrohes Zeichen, dass die Afghanen die Agenda für die Bonner Konferenz selbst erarbeiten. Wie die Afghanen den innerafghanischen Dialog gestalten, ist ihre Sache. Sicherlich gelten dabei aus unserer Sicht rote Linien, zum Beispiel Anerkennung der afRoderich Kiesewetter ghanischen Verfassung, Gewaltverzicht, Abschwören der al-Qaida, aber auch Schutz der Frauen und Minderheiten. Den Verlauf des innerafghanischen Prozesses aber müssen die Afghanen selbst gestalten; wir können sie nur unterstützen. ({2}) Wir müssen auch darauf achten, dass sich die Taliban nicht weiter radikalisieren. Dass wir an dieser Stelle mithelfen, ist ganz entscheidend. Wichtig ist, dass unser Mandat das Zeichen gibt: Die Übergabe in Verantwortung muss unumkehrbar und durchhaltefähig sein. Der zweite wichtige Punkt, den ich hier ansprechen möchte, ist die regionale Perspektive. Die Abgeordneten in Pakistan haben parteiübergreifend berichtet, dass sie bilaterale Gespräche mit den indischen und den afghanischen Parlamentariern führen. Wir, insbesondere Dr. Schockenhoff, hat sie ermutigt, einen trilateralen Dialog zu beginnen. Die Pakistanis wollen das aufgreifen. Was könnte ein schöneres Zeichen sein, als dass aus der Region heraus ein trilateraler Dialog entsteht und vielleicht so etwas wie eine regionale Kooperation über die Parlamente geschaffen wird? Jedenfalls sollten wir hier die deutsch-pakistanische Freundschaftsgruppe des pakistanischen Parlaments, die das will, intensiv unterstützen. ({3}) Allein schon deshalb, weil wir diesen regionalen Dialog fördern wollen, dürfen wir nicht abziehen. Wir müssen vielleicht unseren Ansatz ändern und den zivilen Aufbau stärken. Wir müssen auch Bedingungen dafür schaffen, dass mehr zivile Aufbauhelfer tätig werden können; dazu werden wir heute in der Debatte über zivile Krisenprävention noch etwas hören. Aber an all die Skeptiker in Bezug auf den Einsatz und die Verlängerung appelliere ich: Denken Sie darüber nach, dass wir mit unserem Einsatz die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der innerstaatliche Dialog in Afghanistan und der regionale Dialog gestärkt werden! Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für die Kontaktgruppe brechen. Dank unserem Botschafter Steiner ist jetzt auch Iran Mitglied der Kontaktgruppe. Damit sind es nun insgesamt bereits 14 islamische Staaten. Das nächste Treffen wird in der islamischen Welt, nämlich in Dschidda, stattfinden. Das ist ermutigend, weil es ein Zeichen dafür ist, dass sich die islamische Welt an dem Dialog beteiligt. Lassen Sie mich abschließend noch einmal die Kernbotschaften unserer Fraktion darstellen: Erstens. Wir wollen kein Machtvakuum und kein Sicherheitsvakuum, das bei einem vorschnellen Ende des Engagements entstehen würde. Zweitens. Wir wollen die Übergabe in Verantwortung, wie sie international abgestimmt ist, zu einem erfolgreichen Ende führen. Drittens. Wir wollen uns nicht an Zeitplänen orientieren, sondern an den verantwortbaren Schritten der Übergabe. Hier müssen wir die Afghanen ermutigen und bestärken, aber auch darauf achten, dass Punkte wie Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung noch mehr im Fokus der afghanischen Politik stehen. ({4}) Viertens. Das zivil-militärische Engagement muss gestärkt werden. Die Bundeswehr sichert das ab. Die afghanische Regierung muss ihre Verpflichtungen erfüllen. Darauf müssen wir auch immer wieder drängen. Wir sind nicht zum Selbstzweck da, sondern wir sind da, weil die afghanische Regierung das wünscht, und wir sind so lange da, bis die afghanische Regierung es alleine kann. Deshalb müssen wir auch die innerstaatliche Aussöhnung beflügeln und den trilateralen Dialog mit Pakistan und Indien fördern. Ich appelliere an dieser Stelle auch an Indien, dass es gegenüber Pakistan seine Beziehungen zu Afghanistan wesentlich transparenter darstellt, um auch dort mehr Vertrauen zu schaffen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Ziel ist die selbstverantwortete Sicherheit möglichst ab 2014. Wenn uns das gelingt, ist das ein Riesenerfolg. Wir können heute aber noch nicht absehen, wie sich die Lage bis 2014 entwickeln wird. Was wir im letzten Jahr erlebt haben, ist ermutigend. Wir müssen so weitermachen und unserer Bevölkerung das Zeichen geben, dass wir gemeinsam daran arbeiten. Das wissen dann auch unsere Soldaten, Polizisten und zivilen Aufbauhelfer im Einsatz zu schätzen. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner ist der Kollege Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir absolut unverständlich, dass in Talkshows, in Diskussionsrunden und auch von einem kleinen Teil hier in diesem Hohen Hause immer wieder behauptet wird, dass die afghanische Bevölkerung den sofortigen Abzug der internationalen Truppen möchte. Diese Behauptung ist entweder naiv oder vorsätzlich falsch. ({0}): Oder richtig!) Ich weiß nicht, mit wem diese Leute gesprochen haben, aber ich weiß aus vielen Gesprächen, die ich geführt habe und führe, beispielsweise mit einem jungen Afghanen, der in Kunduz bei den Parlamentswahlen kandidiert hat und mit dem ich in einem regen Austausch stehe, dass die Afghanen vor allem Angst vor einem haben, nämlich davor, dass sie den Schutz der internationalen Gemeinschaft von heute auf morgen verlieren und am Ende wieder völligem Chaos, Terror und Unterdrückung ausgesetzt sind. Ich glaube nicht, dass jemand ernsthaft der Meinung sein kann, dass sich die Frauen, die unter den Taliban komplett entrechtet waren, diese wieder zurückwünschen. Ich glaube auch nicht, dass die Afghanen wollen, dass ihre Schulen wieder geschlossen werden. Sie wollen Bildung, sie wollen natürlich eine Gesundheitsversorgung, Wasser- und Stromversorgung, und sie wollen am Ende des Tages Frieden und Freiheit und in ihrer Kultur dieses leben. Es gibt viele Beispiele dafür, wie sich die Situation der Bevölkerung in Afghanistan durch diesen Einsatz in den letzten Jahren verbessert hat. Wir haben hier ausführlich darüber gesprochen. Diese Erfolge wollen wir in keinem Fall preisgeben, sondern stabilisieren und ausbauen. Gelingen kann uns dies derzeit aber nur durch unsere militärische Absicherung. Ohne diese würde das Erreichte schnell wieder in sich zusammenfallen, und die Aufständischen würden wieder die Oberhand gewinnen. ({1}) Dennoch muss unser Ziel die schrittweise Übergabe in Verantwortung sein. Dies machen wir im Mandat deutlich. Für den zivilen Aufbau verwenden wir viel Geld - bis zu 430 Millionen Euro jedes Jahr. Diese Mittel müssen zielgerichtet und nachhaltig eingesetzt werden. Nachhaltigkeit bedeutet hier für mich Hilfe zur Selbsthilfe in Afghanistan. Bei den geförderten Projekten muss es primär darum gehen, die afghanische Bevölkerung in die Lage zu versetzen, ihr Land selbst aufzubauen und das jeweilige Projekt mittelfristig selbstständig zu führen. Die Menschen müssen ein Interesse daran haben, das, was sie selbst aufgebaut haben, auch dauerhaft zu erhalten. Hier müssen wir noch mehr Anreize schaffen. Nehmen wir hier einmal das Beispiel Sicherheitskräfte und stellen wir uns die Frage: Wie können wir personelle Fluktuation und Korruption in diesem Bereich eindämmen? Meines Erachtens sollten wir weg von der rein monetären Entlohnung der Sicherheitskräfte und mehr hin zu einem nachhaltigen Leistungspaket kommen. Damit meine ich, dass neben pünktlicher Lohnzahlung weitere Anreize geschaffen werden, beispielsweise durch die Bereitstellung von Wohnraum mit Wasser- und Stromversorgung und durch den Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen für die ganze Familie in einem sicheren Umfeld. Ist ein Polizist in einem solchen System korrupt, dann verliert er diesen Status und diese Privilegien. Dies ist wesentlich schmerzhafter als nur der Verlust eines Monatsgehalts, das er sich im Zweifel dann woanders besorgt. Dieser Ansatz ist in zweierlei Hinsicht nachhaltig und sinnvoll. Auf der einen Seite entstehen Loyalitäten zum Staat. Auf der anderen Seite wird wichtige Infrastruktur aufgebaut. Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan ist steinig. Wir können nicht hundertprozentig voraussagen, ob wir das Ziel erreichen werden. Aber eines ist für mich völlig klar: Der jetzige Weg des vernetzten Ansatzes ist der einzig gangbare. Ein zu schneller und unüberlegter Abzug würde das bisher Erreichte wieder zunichtemachen. Das ist weder im Interesse der afghanischen Bürger noch in unserem Interesse. Denn von Afghanistan darf keine Gefahr mehr für uns und die internationale Gemeinschaft ausgehen. Das wollen wir mit dem Einsatz am Hindukusch für uns erreichen. ({2}) Das Engagement, das alle militärischen und zivilen Kräfte tagtäglich zeigen, hat unsere vollste Wertschätzung und breite Unterstützung verdient. Mir ist dabei im Zweifel die entrüstete Zustimmung der SPD, wie es der Kollege Stinner letzte Woche trefflich formuliert hat, lieber als die zustimmende Ablehnung oder Enthaltung der meisten Grünen. Sie haben vorhin mehr Klarheit gefordert, Herr Trittin. Ihre Haltung bzw. die Haltung Ihrer Partei zur Mandatsverlängerung ist nicht klar. Viele enthalten sich, die einen sagen Nein, die anderen Ja. Was ist denn mit der klaren Haltung der Grünen? Nicht zuletzt die Soldaten wollen auch wissen, wie Ihre klare Haltung aussieht. ({3}) Sie fordern einen genauen Plan für die zukünftige Entwicklung in Afghanistan. Wo war denn der genaue, klare Plan für den Abzug, als Sie in den Einsatz gegangen sind? Sie sind doch in diesen Einsatz gegangen. Wir haben jetzt einen klaren Plan, zum Beispiel für den Aufbau der Sicherheitskräfte in Afghanistan. Wenn wir diese Meilensteine erreichen, dann können wir auch Schritt für Schritt die Verantwortung übergeben und ebenfalls Schritt für Schritt aus Afghanistan abziehen. Für unsere Soldaten im Einsatz ist es wichtig, dass wir ihnen die notwendige und verdiente Rückendeckung geben. Stimmen Sie für diese Mandatsverlängerung! Unseren Soldatinnen und Soldaten und allen Einsatzkräften wünsche ich bei ihrem Tun Gottes Segen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Heike Hänsel das Wort.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Kollege Hahn, Sie haben wie sämtliche Vorredner einschließlich Herrn Trittins gesagt, die NATO würde die Lebenssituation der Menschen in Afghanistan verbessern. Deshalb frage ich Sie: Würden Sie erstens zur Kenntnis nehmen, dass der Einsatz von Streubomben, von weißem Phosphor, dass gezielte Tötungen, EntfühHeike Hänsel rungen und die Vorfälle in Abu Ghureib keine Verbesserung der Lebenssituation der Menschen darstellen, sondern dass sie das als Terror wahrnehmen? Würden Sie zweitens zur Kenntnis nehmen, dass Sie in Afghanistan ein Warlord-System mit Kriegsverbrechern in wichtigen Funktionen aufbauen, die jahrzehntelang das Land terrorisiert haben ({0}) und die Menschen genauso bedrohen wie zuvor die Taliban, ({1}) und dass sie sich deswegen gegen dieses System wehren, das Sie dort installieren? Mohammed Atta, der Gouverneur von Masar-i-Scharif und der Gouverneur von Kunduz: All das sind Kriegsverbrecher. Die Menschen in Afghanistan wissen, wie sie mit ihnen umgegangen sind und was sie zu verantworten haben. Dass Sie zu denen beste Beziehungen pflegen, können sie doch nicht gutheißen. ({2}) Wir haben eine afghanische Delegation von zehn Personen eingeladen. Sie sollten einmal hören, was diese Menschen zu berichten haben. - Ich komme zum Schluss. - Ich habe gestern den Auswärtigen Ausschuss, den Entwicklungsausschuss und den Menschenrechtsausschuss eingeladen, sich anzuhören, was die Afghaninnen und Afghanen zu sagen haben. Es ist bis auf den Kollegen Leibrecht niemand gekommen. Das empfinde ich wirklich als beschämend. Sie haben kein Interesse an der Lebenssituation der afghanischen Bevölkerung. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der Drucksache 17/4561 zum Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher- heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO. Zur Beschlussempfehlung des Ausschusses liegen mir zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir dem Protokoll dieser Debatte beifügen.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung, den Antrag auf Drucksache 17/4402 anzunehmen. Über diese Beschlussempfehlung stimmen wir jetzt namentlich ab. Ich darf darum bitten, dass Sie darauf achten, ob die Stimmkarten, die Sie verwenden, auch tat- sächlich Ihren Namen tragen. Darf ich die Schriftführe- rinnen und Schriftführer bitten, mir ein Signal zu geben, 1) Anlagen 2 bis 8 wenn die Urnen besetzt sind? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Gibt es noch eine Kollegin oder einen Kollegen, die bzw. der ihre bzw. seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht erkennbar. Dann schließe ich die Ab- stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung geben wir Ihnen später bekannt.2) Ich darf Sie nun bitten, wieder Platz zu nehmen, weil wir eine Reihe weiterer Abstimmungen und anschließend, wie Sie wissen, einen Wahlgang durchzuführen haben. - Könnten Sie, Herr Kollege Solms, mir vielleicht behilflich sein, den Fanclub, der sich um Sie herum versammelt hat, und Sie, Frau Kollegin Ernstberger, auch Ihren Freundeskreis auf die noch hinreichend vorhandenen Sitzplätze zu verteilen? - Herr Kollege Kauder, können wir jetzt mit den Abstimmungen fortfahren? ({0}) - Ich bedanke mich. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent- schließungsanträge. Ich rufe zunächst den Entschließungsantrag der SPD- Fraktion auf der Drucksache 17/4563 auf. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/4564 auf. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag ebenfalls mit Mehrheit abgelehnt. Ich komme zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/4585. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthal- ten? - Auch dieser Entschließungsantrag hat keine Mehrheit gefunden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf: Wahl des Bundesbeauftragten für die Unterla- gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemali- gen Deutschen Demokratischen Republik Bevor ich den Wahlgang aufrufe, bitte ich einen Au- genblick um Aufmerksamkeit für einige Bemerkungen zu diesem Anlass und insbesondere zur amtierenden Be- auftragten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf den Tag genau vor 24 Jahren, am 28. Januar 1987, forderte Michail Gorbatschow in seiner Rede „Über die Umge- staltung und die Kaderpolitik der Partei“ auf dem Ple- num des Zentralkomitees der KPdSU tiefgreifende poli- tische Reformen. Perestroika und Glasnost begannen die Welt zu verändern. In der DDR ließ das SED-Politbüro- mitglied und damalige Chefideologe Kurt Hager darauf- 2) Ergebnis Seite 9902 D Präsident Dr. Norbert Lammert hin verlautbaren - Zitat -: „Würden Sie, … wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Jedes Land wähle seine Lösung. - Er hat recht behalten, wenn auch anders als erwartet. Auf den Tage genau drei Jahre nach Gorbatschows Rede, am 28. Januar 1990, tagte in Ostberlin der Zentrale Runde Tisch und beschloss die Vorverlegung der Wahl zur ersten freien Volkskammer auf den 18. März 1990, deren Ergebnis uns schließlich als demokratisch gewähltes gesamtdeutsches Parlament zusammengeführt hat. Sehr geehrte Frau Birthler, nach der Wahl des neuen Beauftragten endet im März nach über zehn Jahren Ihre Amtszeit als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Ministeriums der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Die Stasi-Unterlagen-Behörde trägt heute ebenso selbstverständlich Ihren Namen wie dies vor einem Jahrzehnt der Name Ihres Vorgängers war. Die verdienstvolle Arbeit der Behörde verdankt sich vielen engagierten Mitarbeitern, deren Einsatz ich aus Anlass des Wechsels an der Spitze ausdrücklich würdigen möchte. ({1}) Die Behörde braucht wie jede andere - manche meinen vielleicht auch, wie keine andere sonst - einen Kopf, der dem Thema in der Öffentlichkeit zu der Aufmerksamkeit verhilft, die es verdient. Ihnen, Frau Birthler, ist das im vergangenen Jahrzehnt vorbildlich gelungen, mit großer Empathie für die Opfer der SED-Diktatur, die ihr eigenes Schicksal rekonstruieren wollen, und mit der gebotenen Konsequenz in der Sache, wenn es darum ging, Geschichts- und Lebenslügen zu widerlegen. „Es geht nicht nur um das Schicksal von 17 Millionen DDR-Bürgern“, haben Sie immer wieder gesagt, „sondern es geht mit diesem gesamteuropäischen Thema auch um den prinzipiellen Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie“. Der prinzipielle Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, das ist immer Ihr Thema gewesen. Als ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin haben Sie großen Wert darauf gelegt, dass in den Stasiakten nicht nur die Rede davon ist, was Menschen einander antun, sondern auch davon, wie großartig sich Menschen selbst unter den Bedingungen einer Diktatur verhalten können, dass man es eben nicht nur mit Quellen der Kontrolle und der Repression zu tun hat, sondern auch mit Zeugnissen der Nichtanpassung, des Mutes und der Zivilcourage. Dies ist ein Aspekt, der als Zukunftsressource unserer Zivilgesellschaft noch weit mehr Beachtung verdient als bisher. Sie, liebe Frau Birthler, haben sich um dieses Anliegen große Verdienste erworben. Wir sind Ihnen dazu zu großem Dank verpflichtet. Für Ihren weiteren Lebensweg wünsche ich Ihnen alles Gute. ({2}) Ich rufe nun den Wahlgang auf. Die Bundesregierung hat zum Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema- ligen Deutschen Demokratischen Republik Herrn Roland Jahn vorgeschlagen. Ich gebe Ihnen einige Hinweise zum Wahlverfahren. Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird der Bundesbeauftragte auf Vorschlag der Bundesregie- rung vom Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt. Zu sei- ner Wahl sind also mindestens 312 Stimmen erforder- lich. Die blauen Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Außerdem benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis aus Ihrem Stimmkartenfach. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren Na- men trägt. Die Wahl findet offen statt. Sie können die Stimmkar- ten also an Ihrem Platz ankreuzen. Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz oder kein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten, sind ungültig. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen wer- fen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einer der Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer an den Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, da- rauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe tatsächlich der Wahlausweis übergeben wird. Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, die vorgegebenen Plätze einzunehmen und mir zu signalisieren, wenn alle Wahlurnen besetzt sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann eröffne ich den Wahl- gang. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit- glied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich den Wahlgang. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er- gebnis der Wahl geben wir Ihnen später bekannt.1) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 1) Ergebnis Seite 9905 A Präsident Dr. Norbert Lammert Kopfpauschale in der Pflege verhindern - Humane und solidarische Pflegeabsicherung gewährleisten - Drucksache 17/4425 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({3}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Martina Bunge, Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Umsetzung des neuen Pflegebegriffs ({4}) - Drucksachen 17/2219, 17/3012 Zu der Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Frau Senger-Schäfer für die Fraktion Die Linke. ({5})

Kathrin Senger-Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004154, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich sage Ihnen: So geht das nicht! Wer gute Pflege benötigt, muss in jedem Fall, egal ob arm oder reich, sehr gute Qualität erhalten. ({0}) Das sieht die Mehrheit der Menschen in diesem Land übrigens genauso. Aber der Bundesregierung ist das anscheinend egal; denn sie schweigt und ergeht sich grundsätzlich in Floskeln. Daher möchte ich Sie auffordern: Erklären Sie das mal den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, ich sage es noch einmal: So geht das nicht! Die Menschen haben ein Recht darauf, von der Regierung zu erfahren, wohin ihre Reise geht. ({1}) Dies gilt besonders für einen so sensiblen Bereich wie die Pflege. Stellen Sie sich einmal vor: Die eigene Mutter, 87 Jahre alt, muss ins Krankenhaus, weil sie auf dem Glatteis ausgerutscht ist. Nach erfolgreicher Operation steht jetzt die Entlassung an. Was vorher schon vermutet wurde, ist nun bittere Realität - jetzt besteht Gewissheit -: Entlassungsdiagnose Demenz. Schnell wird klar: Die Mutter kann ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen. Sie braucht Pflege und Betreuung. Die Angehörigen sind fast immer überfordert; denn die Mutter läuft nachts verwirrt allein über die befahrene Straße, um zum Beispiel einkaufen zu gehen. Wer, werte Kolleginnen und Kollegen, traut sich denn zu, seine Angehörigen in einer solchen Situation rund um die Uhr zu versorgen? Genau darum geht es. In solchen Fällen zahlt die Pflegeversicherung fast nichts. Grund ist der enge Pflegebegriff, der allein auf körperliche Verrichtung abstellt. Ob Pflegebedürftigkeit gegeben ist, richtet sich allein nach der Minutenzahl, die nötig ist für die alltäglichen Verrichtungen wie zum Beispiel Nahrungsaufnahme, das An- und Auskleiden und das Waschen. Es geht hierbei nicht um den speziellen Betreuungsbedarf eines Menschen, der nachts in seiner Verwirrtheit sogar zu seiner eigenen Bedrohung wird. Spätestens an diesem Punkt müsste die Bundesregierung doch einsehen, dass die bestehenden Regelungen völlig unzureichend sind. ({2}) Die Linke wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen das Prinzip „Still, satt und sauber“. ({3}) Die jetzige Pflegeversicherung grenzt Menschen von Leistungen aus. Damit muss jetzt endlich Schluss sein. ({4}) Aber Sie schauen weg und suchen auch aus wahltaktischen Gründen nach immer neuen Ausreden. Die Linke will, dass dieses Thema endlich auf die Tagesordnung kommt. Ihre ausweichenden Antworten auf unsere Frage lassen nun verschiedene Schlussfolgerungen zu. Erstens. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat gar keine Ahnung, wie sie den neuen Pflegebegriff umsetzen will. Zweitens. Vielleicht haben Sie gar kein Interesse daran, diesen neuen Pflegebegriff umzusetzen. Drittens. Sie wollen möglichst eine kostenneutrale Schmalspurversion des Pflegebegriffs. Die Bundesregierung agiert damit nach dem Prinzip: von der linken Tasche in die rechte Tasche. Es gibt faktisch nicht mehr Geld. Dann muss, wenn zum Beispiel für Menschen mit Demenz zu Recht mehr ausgegeben wird, bei anderen Pflegebedürftigen zu Unrecht gekürzt werden. ({5}) Das nehmen wir so nicht hin. ({6}) Wenn Abgeordnete der Union meinen, den Himmel auf Erden könne es in der Pflege nicht geben, dann darf das nicht bedeuten, dass wir Missstände nicht sofort beenden, wenn wir sie erkennen. Das kann doch nicht sein. ({7}) Was heißt das in der Praxis? Sie wollen die Kopfpauschale in der Pflegeversicherung. Bislang heißt das Monster in Ihren Worten verpflichtende, individualisierte und generationsgerechte Pflegezusatzversicherung. Heute lesen wir in den Zeitungen, dass Sie sich auch darüber schon nicht mehr einig sind und dabei auch nicht wissen, welchen Weg Sie gemeinsam als Regierungskoalition gehen wollen. ({8}) Klären Sie uns doch einmal auf - dazu haben Sie dann Zeit -, und schenken Sie uns bitte reinen Wein ein. ({9}) Wenn sich aber diese Wahnsinnspläne von den Kolleginnen und Kollegen der Union und der FDP durchsetzen, dann gibt es kein Zurück mehr; denn dann entstehen Ansprüche und Anwartschaften aufgrund privater Verträge, die nicht so einfach rückgängig zu machen sind. Wie immer belasten Sie damit allein die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeitslosen und die Hartz-IV-Beziehenden. Die Arbeitgeber bleiben wieder einmal außen vor. ({10}) Die Linke ist in diesem Fall völlig anderer Meinung. Wir brauchen einen umfassenden neuen Pflegebegriff. Der Vorschlag liegt seit 2009 auf dem Tisch. Jetzt kommt es auf den politischen Willen an. Statt „Still, satt und sauber“ heißt es für uns: Teilhabe und Selbstbestimmung. ({11}) Die Begutachtung muss sich am individuellen Bedarf ausrichten. Pflegeleistungen müssen finanziell angemessen ausgestattet sein. Deshalb tritt die Linke für die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung auch in der Pflege ein. ({12}) Nur so können wir die vielen Probleme, die sich im Pflegebereich und in anderen Bereichen stellen, mit den pflegebedürftigen Menschen, den Angehörigen und den Beschäftigten lösen. Menschen, die im Alter Pflege brauchen, gehören selbstverständlich zu unserer Gesellschaft.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Kathrin Senger-Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004154, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das sind meine letzten beiden Sätze. - Wie human eine Gesellschaft ist, sieht man daran, wie man mit den Schwächsten umgeht. Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierung, sollten Sie nachdenken. Danke. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege Johannes Singhammer das Wort. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Weil wir hier über einen Antrag der Linken debattieren, sage ich: Die Pflegeversicherung ist nicht auf der Suche nach dem Weg zum Kommunismus gefunden worden, ({0}) sondern die Pflegeversicherung ist die Frucht der sozialen Marktwirtschaft. ({1}) Die Fundamente der Pflegeversicherung sind von CDU/ CSU und FDP gelegt worden. Die Pflegeversicherung hat folgende Grundlagen: praktizierte Nächstenliebe für Menschen, denen es schwerfällt, sich selbst zu helfen, Wertschätzung und Respekt für die Älteren, Einstehen der Gesunden und Leistungsfähigeren für Kranke und Schwächere. Dieses Fundament trägt nach wie vor. Weil die Nachfrage groß ist, müssen wir das Gebäude Pflegeversicherung erweitern. Die drei zusätzlichen Stockwerke sind: Erstens: Leistungsanpassung. Wer fachkundige Menschen mit Herzensbildung für die Pflege gewinnen will, muss sie ordentlich, gut und entsprechend ihrer Leistung bezahlen. ({2}) Zweitens. Wir brauchen eine Neuinterpretation des Begriffs „Pflegebedürftigkeit“, um vor allem mehr Demenzkranke gut und besser versorgen zu können. Drittens. Wir brauchen den Aufbau eines Kapitalstocks, um vor allem den Jüngeren Leistungen garantieren zu können, wenn sie im Alter selbst auf Unterstützung hoffen. ({3}) Gleichzeitig stehen wir vor großen demografischen Herausforderungen. Während in Deutschland heute rund 2 Millionen Pflegebedürftige umsorgt werden, werden es nach aller Voraussicht im Jahr 2020 schon fast 3 Millionen Menschen sein, und in den folgenden Jahren werden es auch nicht weniger werden. Diese Entwicklung vollzieht sich bei einer gleichzeitig schrumpfenden Bevölkerungszahl, die uns ohnehin zunehmend vor große Herausforderungen stellt. Union und FDP haben im Koalitionsvertrag eine klare Perspektive für den Ausbau der Pflegeversicherung entwickelt, die wir in diesem Jahr in Gesetzesform gießen wollen. Dabei gelten folgende Leitlinien: Im Mittelpunkt steht derjenige, der Pflege braucht. Das kann - das macht die Bedeutung dieser Debatte aus - im Laufe eines Menschenlebens fast jeder sein. Um den Stürmen der Demografie trotzen zu können, brauchen wir eine Erweiterung - das Haus „Pflegeversicherung“ braucht dieses zusätzliche Geschoss -: Erstmals müssen auch in der gesetzlichen Pflegeversicherung Reserven gebildet, muss Geld auf die hohe Kante gelegt werden. Wir brauchen einen Kapitalstock. Im Koalitionsvertrag heißt es: generationengerecht, obligatorisch und individuell. Das gilt genau so, wie wir es im Koalitionsvertrag festgelegt haben. ({4}) - Passen Sie auf! Ganz ruhig! Damit ziehen wir die Konsequenzen daraus, dass eine rein umlagefinanzierte, lohnabhängige Pflegeversicherung an ihre Grenzen stoßen wird. In diesem und in den nächsten Jahren ist die Pflegeversicherung solide finanziert. Aber wir müssen - das zeichnet kluge Politik aus auch für den Zeitraum vorsorgen, in dem sehr viele Menschen pflegebedürftig werden können. Deswegen werden wir einen Kapitalstock aufbauen. Wir werden ihn so ausgestalten, dass vier Ziele erreicht werden: Erstens müssen die Mittel sozial gerecht aufgebracht werden. Niemand darf dabei überfordert werden. Deshalb müssen wir insbesondere darauf achten, dass ein solcher Kapitalstock auch für sozial Schwächere finanzierbar ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ferner?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gestatte die Zwischenfrage gern, schlage aber vor: Hören Sie sich erst einmal meine vier Punkte an ({0}) und fragen Sie dann nach. ({1}) Zweitens wollen wir eine unbürokratische Lösung. Wir wollen nicht allzu viel bürokratischen Aufwand bei der Erhebung und Verwaltung der Mittel. ({2}) Der bürokratische Aufwand muss in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag stehen. Es würde wenig Sinn machen, wenn wir einen erheblichen Anteil der Mittel für die Bürokratie aufwenden müssten. Drittens ist es, denke ich, angesichts der Haushaltslage realistisch, mit nicht allzu großen Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt zu kalkulieren. Viertens - das ist ganz wichtig - muss die Kapitalreserve zukunftsfest gestaltet werden. Sie muss - das ist vor allem für die Jüngeren ganz entscheidend - vor allen Zugriffen des Staates geschützt sein, sie muss sozusagen in einem Tresor eingeschlossen sein. ({3}) Es steht allerdings nirgendwo, dass eine solche Rücklage vererbt werden kann oder dass sie bei Nichtnotwendigkeit eines Pflegebedarfs zurückgezahlt wird. Das ist im Übrigen auch das Prinzip der privaten Vorsorge, der privaten Krankenversicherung. Auch da gibt es kein Recht auf Vererbung. Wichtig ist, dass dieser Kapitalstock sicher bleibt, und zwar genau für den Zweck, für den er angelegt worden ist. - So, Frau Ferner.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, bitte schön.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben, wie den Tickermeldungen heute zu entnehmen ist, gestern gesagt, dass Sie quasi eine kollektive Reserve aufbauen wollen. Das beißt sich ein bisschen damit, Herr Singhammer, dass Sie zunächst gesagt haben, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag weiterhin Bestand haben. Vielleicht kann Herr Lanfermann, der ja schon dagegen geschossen hat, das gleich in seiner Rede aufklären. Würden Sie, Herr Singhammer, der Öffentlichkeit sagen, dass der Aufbau einer Kapitalreserve, in welcher Form auch immer, bedeutet, dass es jetzt eine Beitragsanhebung gibt, um in Zukunft eine Beitragsanhebung zu vermeiden? ({0}) Können Sie der staunenden Öffentlichkeit auch erzählen, wie stark die Beiträge erhöht werden und ob die Beiträge abhängig vom Einkommen erhoben werden oder ob Sie auch da eine Kopfpauschale einführen wollen?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Ferner, ich habe Ihnen gerade die Grundsätze unseres Kapitalstocks beschrieben. Dieser Kapitalstock wird - auch das kann ich Ihnen ankündigen gemeinsam von der Koalition beschlossen werden; wir werden gemeinsam zu Lösungen kommen. Wir werden die Lösungen so gestalten, dass sie sozial gerecht sind, ({0}) dass sie finanzierbar sind und vor allem dass sie genau das erreichen, was die Jüngeren erwarten, nämlich dass für sie im Alter vorgesorgt wird. Ich sage noch etwas dazu: Wir werden das in diesem Jahr regeln. Wir werden nicht warten wie Sie in den vergangenen Jahren, als Sie an der Regierung waren. Wir werden das jetzt machen, weil wir wissen: Je länger wir warten, desto schwieriger wird es, eine Lösung zu finden. ({1}) Unabhängig vom Kapitalstock müssen die Pflegeleistungen regelmäßig an die Kostenentwicklung angepasst werden; ansonsten verlieren die Leistungen der Pflegeversicherung immer wieder an Wert. Das werden wir tun. Es ist in der bisherigen Gesetzeslage so angelegt. Den Grundsatz „Stationär bzw. Reha vor Pflege“ - dieser ist uns wichtig - wollen wir konsequent durchsetzen. Für ältere Menschen sind gerade diese Leistungen besonders wichtig. Der heute geltende Begriff der Pflegebedürftigkeit trägt der Situation von Menschen mit eingeschränkter Bewegungs- und Selbstversorgungsmöglichkeit nur unzureichend Rechnung und belastet immer mehr die Angehörigen. Deshalb müssen wir insbesondere die Zeitkontingente so regeln, dass eine menschliche Pflege, dass auch Zuwendung bei der Pflege möglich ist. Wir wollen zu einer Kultur des Vertrauens kommen, gerade auch was das Verhältnis zwischen Pflegekräften und den zu Pflegenden betrifft, und wir müssen von dem immer wieder aufkommenden Misstrauen, das diese Beziehung und die Pflege belastet, Abschied nehmen. Ich sage hier aber auch: Dies alles gibt es nicht zum Nulltarif. Es muss bezahlt werden, aber auch bezahlbar sein. Wenn man die Vorschläge, die Sie von den Linken hier machen, betrachtet, kann man nur sagen: Sie versprechen das Blaue vom Himmel. ({2}) Was wollen Sie alles? Den Pflegebedürftigen, den Angehörigen und dem Pflegepersonal wird alles Mögliche versprochen, insbesondere eine 25-prozentige Anhebung der Sachleistungsbeträge und eine individuelle Pflegeassistenz. Zu der Frage, wer das bezahlen soll, schweigen Sie sich aus. ({3}) Allein diese Forderung - von den anderen habe ich noch gar nicht gesprochen - bedeutet, dass die Beitragssätze um mindestens 0,3 Prozentpunkte angehoben werden müssten. ({4}) - Wahrscheinlich, Herr Kollege Lanfermann, wesentlich mehr. Wenn wir auch die anderen Vorschläge, die Sie machen, umsetzen würden, dann betrieben wir eine Politik nach dem Motto „Nächste Ausfahrt Griechenland“. Das wollen wir nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({5}) Wir wollen auch nicht, dass irgendwelche Pläne diskutiert werden, die auf Rücklagen zurückgreifen, die in der privaten Pflegeversicherung in der Tat und auch zu Recht vorbildlich angehäuft worden sind. Denn dort funktioniert das Prinzip der Rücklagenbildung. ({6}) Sie jedoch haben vor, dort in die Kasse zu greifen. Das geht allerdings nicht. Denn durch Art. 14 Grundgesetz sind die Rücklagen geschützt. Alles in allem sind die Rechnungen, die Sie vorschlagen, Rechnungen, die Sie gar nicht bezahlen können. Wir hingegen wecken keine Erwartungen, die wir nicht auch erfüllen können. ({7}) Wir machen mit einer durchgerechneten Finanzierung, einem klaren Plan und vor allem einem entschlossenen Anpacken seriöse Politik. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf die Debatte für einen Moment unterbrechen und Ihnen die Ergebnisse der namentlichen Abstimmung und der Wahl mitteilen. Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan“ bekannt: abgegebene Stimmen 579. Mit Ja haben gestimmt 420, mit Nein 116, Enthaltungen gab es 43. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 579; davon ja: 420 nein: 116 enthalten: 43 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Leo Dautzenberg Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({4}) Michael Frieser Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({5}) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({6}) Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Dr. Kristina Schröder Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({7}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Nadine Schön ({10}) Dr. Philipp Murmann Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Eckhard Pols Daniela Ludwig Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({11}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({12}) Anita Schäfer ({13}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({14}) Patrick Schnieder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({15}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl ({16}) Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({17}) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({18}) Peter Weiß ({19}) Sabine Weiss ({20}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller SPD Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Dr. Hans-Peter Bartels Dirk Becker Uwe Beckmeyer Lothar Binding ({21}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({22}) Martin Burkert Petra Crone Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Peter Friedrich Michael Gerdes Martin Gerster Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({23}) Kerstin Griese Michael Groschek Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Hubertus Heil ({24}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Frank Hofmann ({25}) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christian Lange ({26}) Steffen-Claudio Lemme Kirsten Lühmann Caren Marks Petra Merkel ({27}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Dr. Carola Reimann René Röspel Karin Roth ({28}) Michael Roth ({29}) Marlene Rupprecht ({30}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({31}) Ulla Schmidt ({32}) Silvia Schmidt ({33}) Carsten Schneider ({34}) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ottmar Schreiner Dr. Martin Schwanholz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({35}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Patrick Döring Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Dr. Werner Hoyer Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({36}) Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({37}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({38}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({39}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({40}) Cornelia Pieper Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Florian Toncar Serkan Tören ({41}) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({42}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({43}) Cornelia Behm Hans-Josef Fell Priska Hinz ({44}) Tom Koenigs Omid Nouripour Krista Sager Manuel Sarrazin Daniela Wagner Nein CDU/CSU Wolfgang Börnsen ({45}) Dr. Peter Gauweiler Manfred Kolbe Norbert Schindler SPD Ingrid Arndt-Brauer Klaus Barthel Bärbel Bas Dr. Peter Danckert Michael Groß Wolfgang Gunkel Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({46}) Daniela Kolbe ({47}) Dr. Wilhelm Priesmeier Gerold Reichenbach Sönke Rix Werner Schieder ({48}) Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Kerstin Tack Rüdiger Veit Dr. Marlies Volkmer Waltraud Wolff ({49}) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Dorothee Menzner Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Paul Schäfer ({50}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Alexander Süßmair Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Johanna Voß Sahra Wagenknecht Halina Wawzyniak Harald Weinberg BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bettina Herlitzius Winfried Hermann Dr. Anton Hofreiter Uwe Kekeritz Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Stephan Kühn Monika Lazar Agnes Malczak Ingrid Nestle Dr. Hermann Ott Lisa Paus Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Enthalten SPD Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Ernst Dieter Rossmann Swen Schulz ({51}) Ewald Schurer Frank Schwabe FDP Joachim Günther ({52}) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Volker Beck ({53}) Birgitt Bender Alexander Bonde Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Britta Haßelmann Ulrike Höfken Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Katja Keul Oliver Krischer Fritz Kuhn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({54}) Jerzy Montag Kerstin Müller ({55}) Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({56}) Christine Scheel Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler ({57}) Ich gebe Ihnen nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher- heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bekannt: Mitgliederzahl 622, abgegebene Stimmen 579, gültige Stimmen 577. Mit Ja haben ge- stimmt 535 Abgeordnete,1) ({58}) mit Nein haben gestimmt 21 Abgeordnete, Enthaltungen 21. Herr Roland Jahn hat damit die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen erreicht. Er ist damit zum Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gewählt. Lieber Roland Jahn, ich gratuliere Ihnen dazu außerordentlich herzlich und wünsche Ihnen alles Gute, Vernunft und Augenmaß für dieses so wichtige, notwendige und sensibel zu führende Amt. Alles Gute! ({59}) Wir setzen damit die Debatte zu unserem jetzigen Tagesordnungspunkt fort, und ich erteile Kollegin Hilde Mattheis für die SPD-Fraktion das Wort. ({60})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte gerne damit begonnen, Herr Singhammer, Sie zu loben. ({0}) Aber nach Ihren Ausführungen bleibt mir nur, Sie zu fra- gen: Haben Sie den Mut, das, was Sie richtigerweise denken, in Ihrer Fraktion und Ihrer Koalition auch durchzusetzen? Eine Individualisierung des Risikos ist nämlich nicht mit dem zu vereinbaren, was Sie vorgetra- gen haben. Es geht darum, Menschen zu unterstützen, die unserer Hilfe bedürfen. Also, haben Sie den Mut, das durchzusetzen? 1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 9 ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich in meinen Ausführungen vor allen Dingen auf den Pflegebedürftigkeitsbegriff konzentrieren. Das ist ein Punkt, der uns von der SPD immer am Herzen lag, und wir meinen, dass dieser nach der Reform des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes als Nächstes einer Reform bedarf. Denn dieser Begriff wird seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 diskutiert, und zwar zu Recht: Er gilt als viel zu eng, zu verrichtungsbezogen und zu einseitig somatisch ausgerichtet. Hauptkritikpunkt ist dabei, dass wichtige Aspekte der sozialen Teilhabe unberücksichtigt bleiben. Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat schon 2006 gesagt, dass wir daran arbeiten wollen, und hat einen Beirat einberufen, der schon 2009 die ersten sehr konkreten Ergebnisse vorgelegt hat, orientiert am Teilhabeanspruch pflegebedürftiger Menschen. Wir alle hier im Hohen Hause waren uns einig, dass das ein richtiger, wichtiger Schritt ist, der unsere Unterstützung verdient. In der Vergangenheit hat sich die gesamte Fachwelt wie wir im Ausschuss - ich sage es noch einmal - für diese Verbesserung der Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffes eingesetzt und sie als nächsten wichtigen Reformschritt benannt. SchwarzGelb hat im Koalitionsvertrag vom 26. Oktober 2009 formuliert, dass es zu den Reformschritten gehört, „eine neue, differenziertere Definition der Pflegebedürftigkeit“ zu finden, will aber die Auswirkungen neuer Ansätze nur „überprüfen“. Da sage ich Ihnen: Das ist uns viel zu wenig. ({2}) Der Minister lädt zu Gesprächsrunden zum Bürokratieabbau und zu anderen wichtigen Themen ein. Herr Minister, ich glaube aber, dass Gesprächsrunden alleine nicht reichen. Die Menschen wollen, dass Taten folgen. Es geht nicht darum, nur zu diskutieren, sondern auch darum, zu entscheiden. ({3}) Wir wollen eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, weg von der Minutenpflege, hin zu einem neuen Begutachtungssystem, das bei der Teilhabe ansetzt und vor allen Dingen - das ist der nächste wichtige Schritt die speziellen Bedürfnisse von Kindern, insbesondere geistig behinderter Kinder, und von Menschen mit psy9906 chischen und kognitiven Beeinträchtigungen berücksichtigt. Das ist für uns wichtig. Wir wollen deshalb von Ihnen wissen, wie weit die im Koalitionsvertrag angekündigte Überprüfung durch das Ministerium vorangeschritten ist und welche weiteren Bausteine die Regierung bei der Unterstützung von Pflegebedürftigen und Pflegenden auf der Grundlage des wichtigen Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes vorsieht. An dieser Stelle sage ich: Herzlichen Dank an den Beirat für seine Arbeit. Wir brauchen diese Unterstützung. Es ist gut, dass sich die Fachwelt einig ist und wir im politischen Prozess, auch hier im Parlament, das umsetzen können, worüber die Fachwelt unstreitig diskutiert. ({4}) Wir brauchen ein ganzheitliches Konzept zur Pflege. Deshalb frage ich Sie, Herr Rösler: Was macht die Bundesregierung, um die Situation der häuslichen Pflege zu verbessern? Was macht die Bundesregierung, um die Situation bei den Arbeitsplätzen und der Ausbildung in der Pflege zu verbessern? Was macht die Bundesregierung, um die Prävention, die Reha und das Versorgungsmanagement zu verbessern? Was macht die Bundesregierung, damit die Kommunen die nötige Infrastruktur aufbauen können? ({5}) Zuletzt: Was will die Bundesregierung tun, damit Pflege finanzierbar ist? Herr Singhammer, es muss unser gemeinsames Interesse sein, dass Starke für die Schwachen da sind. Das ist ein sehr christlicher Ansatz. Ich habe die CSU öfter einmal so verstanden, dass das ihr Grundsatz ist. Ich hoffe doch sehr, dass Sie bei diesem Anliegen den Worten Taten folgen lassen. Herr Rösler, es ist Zeit, dass etwas passiert. Die Pflegepolitik ist kein Bereich, in dem es um Eitelkeiten geht. Es geht vielmehr darum: Wie kann man den Menschen helfen? Ich fordere Sie auf: Greifen Sie die Empfehlungen des Beirates auf. Wehren Sie sich gegen die Versuche der Einführung eines Pflegebegriffs light. Seien Sie so souverän, zu sagen: Meine Vorgängerin Ulla Schmidt hat bei der Pflege Gutes getan; wir knüpfen daran an. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDPFraktion. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier über insgesamt zwei Vorlagen der Linksfraktion. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Nachdem Sie vorhin in diesem Hause so eindrucksvoll bewiesen haben, dass Sie mit der Bewältigung der eigenen Vergangenheit nicht zurechtkommen, ({0}) zeigen Sie mit diesen Vorlagen, dass Sie auch nicht zur Bewältigung der Probleme der Gesellschaft in der Zukunft in der Lage sind. ({1}) Sie verlangen in Ihrem Antrag zunächst einmal eine 25-prozentige Steigerung aller Leistungen. Wenn alles um 25 Prozent teurer wird, heißt das, dass der Beitragssatz nicht mehr 2 Prozent, sondern 2,5 Prozent beträgt; so weit werden Sie mir sicherlich noch folgen können. Dass Sie darüber hinaus noch sechs Wochen bezahlte Pflegezeit und einen erheblichen Ausbau der Infrastruktur fordern, macht die Sache noch teurer. ({2}) Ganz am Ende Ihres Antrages betrügen Sie auch noch die Rentner; ({3}) man kann sich nur noch aussuchen, ob die heutigen oder die zukünftigen. Sie wollen, dass Rentner in der Pflegeversicherung nur noch den halben Beitragssatz zahlen und der Rest von der Rentenversicherung getragen wird. Was glauben Sie eigentlich, wer die Rentenversicherung ist, die das bezahlen soll? ({4}) Wer so vorgeht, muss entweder die Renten kürzen oder die Beitragssätze erhöhen; so viel zur freien Auswahl. Minister Rösler hat das Jahr 2011 aus guten Gründen zum Jahr der Pflege ausgerufen. Wir in der Koalition wollen gemeinsam in der Tat viele Dinge angehen. Es gibt eine Reihe von Themen oder, wie man so sagt, Baustellen. Alles ist dem Ziel untergeordnet, auch in Zukunft - „Zukunft“ ist das entscheidende Wort -, und zwar auch in ferner Zukunft, zu gewährleisten, dass alle Menschen, die Hilfe und Pflege brauchen, in den Genuss einer guten Pflege kommen und eine gute Versorgung erhalten. Sie werden ja wohl nicht kritisieren, dass der Minister jetzt viele Gespräche führt; das tun natürlich auch die Fraktionen. Aber es geht immer der Reihe nach: erst reden, dann denken und prüfen, dann entscheiden und dann handeln. ({5}) So viel Geduld, zu warten, bis wir in dieser natürlichen Reihenfolge vorgegangen sind, müssen Sie schon haben. ({6}) Natürlich gehört dazu auch die Neudefinition des Begriffes „Pflegebedürftigkeit“; das ist richtig. Ihre längeren Ausführungen dazu, Frau Kollegin Mattheis, waren eigentlich gar nicht nötig. Wir alle waren uns in diesem Hause einig, dass das in die richtige Richtung geht und ein guter Ansatz ist. Wir alle haben dem Beirat schon mehrfach gedankt. Nur, eine Expertise, auch eine gute, ist noch kein Gesetzentwurf. Dazwischen muss noch ein bisschen Arbeit geleistet werden. Auch hier muss man prüfen: Was kann man umsetzen? Wie viel kostet es? Was die Kosten betrifft, will ich Ihnen sagen, Frau Kollegin: Sie haben ausgeführt, man brauche ein ganzheitliches Konzept. Ich sage Ihnen: Das braucht nicht nur ein Minister und nicht nur eine Koalition, sondern auch eine Opposition, die ernst genommen werden will. Auch Sie müssen ganzheitlich denken und vortragen. Dazu gehört auch der Aspekt der Finanzierbarkeit. ({7}) Denn die Pflege ist der gesellschaftliche Bereich, in dem sich der demografische Wandel am deutlichsten bemerkbar macht. ({8}) Der demografische Wandel führt dazu, dass wir immer weniger Jüngere - damit auch immer weniger Beitragszahler -, aber immer mehr Ältere in unserem System haben. Je älter ein Mensch wird, desto größer ist das Risiko, pflegebedürftig zu werden. Dieses Risiko steigt nicht etwa linear, sondern exponentiell. Deswegen muss man sich mit den zukünftigen Herausforderungen befassen, und deswegen machen wir uns so viele Gedanken über die Frage: Wie soll es weitergehen, auch im Hinblick auf die Finanzierung? In den Jahren, in denen ich mich mit der Pflegepolitik und der Pflegeversicherung beschäftigt habe, habe ich gelernt, dass jedes Wort, das ein bisschen anders klingt, und jede Überlegung, wie man mit den Problemen fertig werden kann, sehr schnell zu Missverständnissen führen. Das liegt insbesondere daran, dass Sie von der Opposition Ihre politische Arbeit leider zu wenig darauf konzentrieren, uns fertige Konzepte vorzulegen; das haben Sie schon im letzten Jahr beim GKV-Finanzierungsgesetz eindrucksvoll bewiesen. Sie legen uns immer nur Fragmente und Bruchstücke vor. Dies gilt auch mit Blick auf das beliebte Stichwort „Bürgerversicherung“. Zu diesem Thema haben Sie uns bisher nur Häppchen vorgelegt, immer verbunden mit dem Versprechen, irgendwann komme ein ganzheitliches Konzept. Nein, Sie verbringen einen Großteil Ihrer Zeit und Ihrer Medienarbeit damit, immer wieder Spekulationen in die Welt zu setzen. Sie haben zum Beispiel bei der Gesundheitsfinanzierung als Beitrag, den die Bürger demnächst zahlen müssten, jeden Betrag zwischen 18 und 30 oder 50 und 180 Euro in die Diskussion geworfen. Nichts davon stimmte. Gestern wurde uns sogar vorgehalten, das hätte die Koalition gemacht und damit alle verwirrt. So weit ist es mit der Verwirrung in Ihren Köpfen schon gekommen. Nein, nein, es war die Opposition, die dauernd irgendwelche Zahlen erfunden hat, die nie eine Substanz hatten. Der Minister hat zwar dauernd gesagt: „Es stimmt nicht; es ist wesentlich geringer und auch im Konzept ganz anders vorgesehen“, aber Sie wollten es nicht glauben. Ähnlich wird es bei der Pflegeversicherung sein. Da will ich doch noch einmal auf eines hinweisen: Wenn Sie wirklich den Anspruch erheben wollen, dieses Zukunftsproblem bewältigen zu können, dann bitte ich Sie, eines zu bedenken: Es gibt - Kollege Singhammer hat schon einige Zahlen genannt - ungefähr 2,3 Millionen Pflegebedürftige. In 20 Jahren wird die Zahl um die Hälfte höher sein; in 40 Jahren werden es doppelt so viele sein, nämlich ungefähr 4,6 Millionen. Da der durchschnittliche Pflegefall dann nicht weniger Geld kosten wird, müssen Sie zumindest in einem ersten Ansatz davon ausgehen, dass die Kosten in 40 Jahren doppelt so hoch sein werden. Wenn der durchschnittliche Beitragssatz heute bei ungefähr 2 Prozent liegt, dann wird er allein aus diesem Grund schon 4 Prozent betragen. Wir wollen ja den Pflegebedürftigkeitsbegriff ernst nehmen. In diesem Zusammenhang hat der Beirat gesagt: Es gibt vier verschiedene Szenarien, und das teuerste davon kostet 3,6 Milliarden Euro. - Ich sage Ihnen aufgrund meiner Lebenserfahrung, dass es da auch ungefähr landen wird. Nimmt man also 3 Milliarden Euro hinzu, bedeutet das 0,3 Beitragspunkte mehr. Das heißt, der Beitragssatz läge, wenn wir jetzt nur die Demenz und sonst nichts berücksichtigen, bei 2,3 Prozent. In 40 Jahren läge er, wenn wir bei dem jetzigen Umlagesystem blieben, bei 4,6 Prozent. Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, der leider auch ins Geld geht. Wir wissen aufgrund der Schätzung ungefähr, wie viele Menschen Leistungsempfänger sein werden und wie viel das kosten wird. Wir wissen leider auch, dass es nicht bei der gleichen Zahl von Beitragszahlern bleiben wird, sondern dass diese Zahl aufgrund der demografischen Entwicklung zurückgehen wird. ({9}) - Passen Sie auf; das ist wichtig. - Wenn eine kleinere Zahl von Menschen eine gleich hohe Summe aufbringen muss, die einen bestimmten Prozentsatz vom Lohn beträgt, dann steigt der Prozentsatz. Das heißt, der Beitragssatz liegt dann nicht nur bei 4,6 Prozent, sondern ist noch höher. Dem Problem müssen Sie sich stellen. ({10}) Die Menschen, die heute 20 bis 50 Jahre alt sind, sind im Jahre 2051 60 bis 90 Jahre alt. So weit können Sie sicherlich alle folgen. Das heißt, wenn Sie für die Altersgruppe der heute 20- bis 50-Jährigen - ich greife jetzt nur einmal diese heraus; Sie können auch noch ein paar hinzunehmen; das spielt nicht die entscheidende Rolle etwas machen wollen, dann müssen Sie berücksichtigen, dass es dann, wenn sie 60 bis 90 sind, noch weniger junge Beitragszahler gibt, die das in einem Umlagesystem bewältigen könnten. Dies ist übrigens auch bei einer Bürgerversicherung so; denn bei einer Bürgerversicherung geht es ja darum, einen Teil der Einnahmen nicht aus dem Lohneinkommen, sondern auch aus dem sonstigen Einkommen zu erhalten. Man behält aber das Umlageprinzip bei, dessen Problem ja ist, dass weniger Menschen einzahlen und viele Menschen etwas herausbekommen wollen. Das muss ja finanziert werden. Das Umlagesystem ist auf Dauer nicht geeignet, diese Lasten zu schultern, jedenfalls nicht alleine. Deswegen brauchen wir das Kapitaldeckungsprinzip, das besagt, dass etwas angespart wird. Das war ja bei Ihrer Zwischenfrage interessant. Natürlich kostet Sparen, damit man später mehr hat, erst einmal Geld. Ich dachte eigentlich, das wäre selbstverständlich. Das kann man doch nicht kritisieren. Wir müssen heute den jüngeren und mittleren Jahrgängen sagen: Wir brauchen diese zusätzliche Säule der Pflegeversicherung mit Kapitaldeckungsprinzip, mit Geld, das man anlegt. - Dass das angelegte Geld sicher ist, dafür sorgen bei uns Gesetze und die Aufsicht. ({11}) - Die Anlagen sind doch in der Wirtschaftskrise nicht verloren gegangen. Sie müssen doch einmal den Wirtschaftsteil der Zeitung lesen. ({12}) Ich kann Ihnen nur versprechen: Diese Jahrgänge werden dann auch für sich selber sorgen können. Das ist auch nötig, weil es dann nämlich jüngere Jahrgänge in ausreichender Zahl, die für sie sorgen können, nicht mehr gibt. Das ist Vorsorge. Es ist vorausschauende Politik, auch einmal auf vierzig Jahre zu achten und nicht nur bis zum nächsten Wahltag zu schauen, wie wir es von Ihnen hier vorgeführt bekommen. ({13}) Selbstverständlich hat der Kollege Singhammer recht, dass man eine solche Lösung so unbürokratisch wie möglich ausgestaltet - das ist auch gar kein Problem; das werden wir Ihnen anbieten - und dass man sie zukunftsfest macht. ({14}) Übrigens ist das nicht mit der Riester-Rente vergleichbar. Bei Riester sparen Sie nämlich Geld an, damit Sie im Alter für eine bestimmte Zeit etwas ausgezahlt bekommen, das Sie verbrauchen können. Das geht bei der Pflegeversicherung prinzipiell nicht, weil Sie gar nicht wissen, ob Sie irgendwann im Alter pflegebedürftig werden. Deshalb müssen Sie also sozusagen auf einen Versicherungsfall hinarbeiten. ({15}) Warum es sinnvoll ist, dass man die individuelle Vorsorge an die Person bindet, ist bereits erklärt worden: Das hat mit Art. 14 des Grundgesetzes zu tun und damit, dass man misstrauisch sein muss, ob Politiker nicht Erspartes auch einmal für etwas anderes verwenden. Das wollen wir verhindern. ({16}) Und wir müssen es verhindern, weil es Politiker gibt, die auf fremdes Geld zugreifen wollen. Das erleben wir bei Ihren Versuchen - Stichwort: Bürgerversicherung -, an die Rücklagen derjenigen zu kommen, die in der privaten Kranken- und Pflegeversicherung Geld angespart haben. ({17}) Sie schielen ja immer darauf und überlegen sich, wie Sie es vereinnahmen können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Es war leider keine Punktlandung. Der Kollege hatte schon deutlich überzogen. ({0}) Nunmehr hat Kollegin Elisabeth Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, was ist denn da los? Ich dachte schon, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Da wurde ich heute Morgen mit der Meldung geweckt, dass die Koalition endlich auf den Pfad der Vernunft zurückkehre ({0}) und sich von der privaten Zusatzversicherung in der Pflege verabschiede. ({1}) Vor ein paar Minuten aber flattert eine Erklärung aus Ihrem Haus, Herr Minister, auf unseren Schreibtisch mit dem Inhalt, das sei noch gar nicht geklärt. Dafür waren die Meldungen in den Zeitungen aber sehr eindeutig. ({2}) Weiter heißt es: Es hätten noch keine politischen Beratungen dazu stattgefunden. Noch nicht einmal Beratungen! Das müssen wir uns wirklich auf der Zunge zergehen lassen. ({3}) Herr Singhammer, ich frage Sie: In welchem Paralleluniversum waren Sie da unterwegs? ({4}) Die Meldungen heute waren sehr deutlich und sehr klar, und sie gab es nicht nur in einem Medium, sondern in etlichen. Meine Damen und Herren, was wird das hier? Wissen Sie von der Koalition nun, was Sie wollen, ({5}) oder wissen Sie es nicht? Ich bin wirklich fassungslos angesichts dieses unwürdigen Theaters, das Sie der Bevölkerung und auch diesem Hause hier vorspielen. So einfach geht es nicht! Als Sie im Jahr 2009 Ihren Koalitionsvertrag verhandelten, da konnten Sie vor lauter Kraft kaum laufen. Ganz besoffen waren Sie von Ihren Fantasien von Kapitaldeckung und Individualisierung. Und jetzt, mit einem nüchternen Blick und einem ordentlichen schwarzgelben Kater, haben Sie endlich verstanden, was Sie sich da eingebrockt haben. ({6}) Sie haben endlich verstanden, dass eine private Zusatzversicherung - anders gesagt: eine Kopfpauschale - sozial ungerecht ist. Sie haben endlich verstanden, dass das Ganze mehr Bürokratie verursacht als alles andere. ({7}) Und Sie haben endlich verstanden, dass der Sozialausgleich mit Steuern, von dem Sie immer so gerne erzählt haben, nicht finanzierbar ist und auch nicht funktionieren würde. ({8}) Oder - das frage ich mich jetzt - haben Sie es doch nicht verstanden? Wenn Sie nämlich bei dem bleiben, worauf Sie sich im Koalitionsvertrag geeinigt haben, dann profitiert davon ausschließlich die private Versicherungsindustrie, die sich ja schon seit Unterzeichnung des Koalitionsvertrages angesichts der satten Gewinne, die schon für sie bereitstehen, feixend die Hände reibt. Ich richte daher den dringenden Appell an Sie: Verkaufen Sie sich und die Pflegebedürftigen in unserem Land nicht so billig! Bekennen Sie sich hier und jetzt eindeutig dazu, dass Sie sich von diesem Unsinn im Koalitionsvertrag ein für allemal verabschieden! Ich hätte auch gern die Bestätigung des Herrn Ministers. Die Aussage von Herrn Singhammer ist ja schön und gut, aber eine offizielle Bestätigung des Ministers gegenüber der Bevölkerung und diesem Hause fände ich mehr als angemessen, um keine weitere Verunsicherung zu schaffen. ({9}) Meine Verblüffung geht noch weiter. Dass jetzt sogar Herr Singhammer das Konzept von uns Grünen übernehmen will, finde ich gut. ({10}) Angeblich - man weiß ja nicht, was man glauben soll will die Koalition eine kollektive Kapitalreserve aufbauen. Es ist bekannt, dass wir Grüne bereits seit vielen Jahren für dieses Modell eintreten. Wir nennen sie solidarische Demografiereserve. Wenn Sie das anders nennen möchten, soll uns das recht sein; Hauptsache ist, Sie verstehen das Prinzip und setzen es dann auch um. ({11}) Die Idee ist, im bestehenden System einer solidarischen Pflegeversicherung einen Teil der Beitragsmittel, die die Versicherten je nach Leistungskraft einzahlen, beiseitezulegen. ({12}) Aus dieser Rücklage, die von der Versichertengemeinschaft gemeinsam und solidarisch aufgebaut wird, können die steigenden Pflegekosten in einer alternden Gesellschaft abgefedert werden. All das geschieht dann eben nicht nach dem Motto „Jeder für sich“, sondern solidarisch. Das ist sozial gerecht. Das ist gerechter gegenüber den Beitragszahlern der Zukunft, die wir mit den Kosten der Zukunft, die auch wir verursachen werden, nicht alleinlassen wollen. Sie sollten Ihrem Herzen einen Stoß geben und den letzten Schritt machen! Sie wissen so gut wie wir, dass die Trennung von sozialer und privater Pflegeversicherung ungerecht und darüber hinaus nicht begründbar ist. Es kann nicht sein, dass sich weiterhin 10 Prozent der Bevölkerung in diesem Land aus der Solidarität in die private Pflegeversicherung verabschieden können. Die 10 Prozent haben nicht nur im Durchschnitt mehr Einkommen und mehr Wohlstand, sondern sie tragen auch ein geringeres Risiko, im Alter pflegebedürftig zu werden. Die beiden Systeme müssen zusammengeführt werden. Solidarität bedeutet, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger daran beteiligen müssen. ({13}) Deswegen brauchen wir eine Pflegebürgerversicherung. In dieser Bürgerversicherung brauchen wir eine solidarische Demografiereserve, wie ich sie gerade beschrieben habe. Zumindest einige von Ihnen haben den Mut gezeigt, sich von den unsinnigen Einigungen im Koalitionsvertrag zu verabschieden. Bringen Sie nun auch den Mut auf, diesen Weg konsequent weiter und auch bis zum Ende zu gehen! Ich hoffe - und warne Sie eindringlich davor -, dass dieser gute und richtige Kurswechsel nicht nur ein Täuschungsmanöver ist. Sie werden doch wohl nicht vorhaben, den Wählerinnen und Wählern vor den diversen Landtagswahlen, die in den nächsten Wochen auf uns zukommen, ein bisschen Wohlfühlpolitik anzukündigen und dann am Ende alles wieder ganz anders zu machen. ({14}) Ankündigungen haben wir von Ihnen für den Bereich der Pflegepolitik wahrlich genug gehört in den letzten Wochen. Diese Schlafwagenpolitik muss endlich aufhören. Die Kolleginnen und Kollegen der Linken haben mit einigen Punkten in ihrem Entschließungsantrag, bei dem wir uns übrigens enthalten werden, völlig recht. Wir warten dringend auf die Einlösung Ihres Versprechens, die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes umzusetzen. Die wissenschaftlichen Empfehlungen für diese elementar wichtige Reform liegen seit nunmehr zwei Jahren auf dem Schreibtisch. Dort verstauben sie jetzt. Auch diese elementare Reform muss jetzt endlich angepackt werden. Wir warten weiterhin auf die Familienpflegezeit, mit der die Ministerin Schröder seit gut einem Jahr hausieren geht. Bis heute liegt uns kein Gesetzentwurf vor. ({15}) Dass wir von diesem Konzept nicht viel halten, damit haben wir nicht hinter dem Berg gehalten. Trotzdem wäre es schön, wenn Sie uns endlich etwas Handfestes auf den Tisch legen würden, damit die Politik der Ankündigung zu einer Reform führt. ({16}) Wir warten ferner auf die Reform der Pflegeausbildung, die Sie, Herr Rösler, uns seit Monaten ankündigen. Wir warten auch weiterhin auf die Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in der Pflege; auch das kündigen Sie uns seit Monaten an, Herr Minister. ({17}) Kurzum: Sagen Sie jetzt klar, verbindlich und unmissverständlich, was Sache ist, und eiern Sie nicht herum! So sehr uns Ihr Kurswechsel bestätigt und auch freut, ({18}) so sehr beharren wir darauf, dass Ihre Ankündigungsund Verunsicherungspolitik in der Pflege endlich beendet wird. ({19}) Klar ist: Einen falschen Plan in den Papierkorb zu werfen, heißt noch lange nicht, dass der Schreibtisch aufgeräumt ist. Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit der Finanzierungsreform der gesetzlichen Krankenversicherung hat diese Koalition bereits bewiesen, dass sie Probleme anpacken und vernünftige Lösungen finden kann. Wenn Sie unseren Koalitionsvertrag in der Öffentlichkeit ständig missinterpretieren - ich könnte auch sagen: manipulieren -, dann ist das Ihr Problem. ({0}) Da können wir Ihnen nicht helfen. Ich weiß auch nicht, auf welchem Boot und mit welchem Kurs Sie heute fahren. Unser Kurs ist klar: Wir werden auch in diesem Jahr vernünftige Lösungen in Bezug auf die Finanzierung bzw. die Reform der Pflegeversicherung und vor allen Dingen für die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen und menschenwürdigen Pflege vorlegen. ({1}) All das, was Sie beschreiben, sind Ihre Interpretationen und hat nichts mit dem zu tun, was wir wollen. Wir haben nie Kopfpauschalen für die Pflege gefordert. Eine Kollegin hat hier angesprochen, wir hätten eine Individualisierung des Pflegerisikos geplant. Ich weiß nicht, was Sie lesen; in unserem Koalitionsvertrag finden Sie das jedenfalls nicht. ({2}) Sollten die Prognosen recht behalten, dann wird die Zahl der Menschen, die - aus unterschiedlichen Gründen pflegebedürftig sind, bis zum Jahr 2050 auf rund 4 Millionen gestiegen sein. Ein großer Teil dieser Menschen wird an Demenzerkrankungen leiden. Fachleute rechnen damit, dass jede zweite Frau und jeder dritte Mann irgendwann im Laufe seines Lebens von einer Demenz betroffen sein wird. Gerade deshalb ist es für uns sehr wichtig, zu prüfen, ob unser heutiges Pflegewesen in den zentralen Punkten zukunftsfest ist. Zentrale Punkte sind die Ausbildung und die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte in unserem Land, die Betreuungssituation pflegebedürftiger Menschen sowohl in den Heimen als auch im familiären, im häuslichen Umfeld und die Sicherstellung der Finanzierung. Wir wollen und müssen dieses System zukunftsfest gestalten und werden die dazu notwendigen Änderungen im System vornehmen. Wir haben heute die Chance, das im Sinne eines soliden und zukunftsorientierten Pflegewesens zu tun; denn wer heute handelt, wird die sich abzeichnenden Entwicklungen positiv beeinflussen können. Wir haben uns in den vergangenen Wochen intensiv mit der Lebenssituation pflegebedürftiger Menschen beschäftigt und werden das in diesem Jahr auch weiterhin tun. Wir hinterfragen die Ausbildungs- und Arbeitssituation unserer Pflegekräfte, wir werden die häusliche Pflege stärker unter die Lupe nehmen, und wir werden uns der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs widmen. ({3}) Last, but not least geht es auch um eine solide Finanzierung. Diese könnte mit dem, was die Linksfraktion uns heute vorgelegt hat, überhaupt nicht gewährleistet werden. Herr Lanfermann, in dem Paket ist noch mehr enthalten, als Sie erwähnt haben; die Linke will nämlich die Teilabsicherung zu einer Vollabsicherung machen. In dem Fall könnte man die Kosten und Ausgaben multiplizieren. Das zeigt, wie unrealistisch Teile dieses Parlaments an dieses Thema herangehen. ({4}) Wir wollen eine Reform mit Langzeitwirkung. Das gelingt uns nur gemeinsam mit den Menschen, für die dieses System bestimmt ist. Deshalb werden wir auch nicht mit der Finanzierungsdebatte beginnen, sondern zunächst mit den Menschen reden, die Pflege betrifft. Das sind alle pflegebedürftigen Menschen, ihre Angehörigen und die Pflegekräfte. Ihnen hören wir zu, und dann handeln wir. Das ist eine sinnvolle Vorgehensweise. Deshalb hat Minister Dr. Rösler auch im Dezember letzten Jahres damit begonnen, den Pflegedialog mit den Beteiligten zu führen. Mit den Expertinnen und Experten und mit den Betroffenen haben wir zunächst über den Fachkräftemangel gesprochen. Denn wir alle wissen doch, was eine gute Pflege ausmacht und dass sie mit gut ausgebildeten Fachkräften und entsprechend verfügbaren Betreuungskräften steht und fällt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Ja.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Staatssekretärin, habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass Sie die Ergebnisse der Gohde-Kommission, die ja jahrelang getagt hat und von Ihrer Regierung eingesetzt wurde, im Grunde genommen wegschmeißen und jetzt von vorne anfangen, um herauszukriegen, was ein vernünftiger Pflegebegriff ist? Wenn das der Fall sein sollte, dann haben Sie die Menschen, die das wirklich brauchen, bitter enttäuscht.

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Herr Seifert, ich weiß nicht, ob Sie mir in den letzten Minuten richtig zugehört haben. ({0}) Ich habe zum Begriff der Pflegebedürftigkeit gesagt, dass wir das angehen und daran arbeiten, dies umzusetzen. ({1}) - Entschuldigung, jetzt bin ich dran. Ich will und kann Sie hier ganz beruhigen. Der Minister hat den ehemaligen Vorsitzenden des Beirats und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Mitglieder des Beirats bereits wieder eingeladen, um genau die Schwierigkeiten bei der Umsetzung zu besprechen und nach Lösungen zu suchen; denn es reicht nicht, auf ein Papier zu verweisen, aber den Übergang in die Realität zu vernachlässigen. Wir arbeiten intensiv daran, und zwar gemeinsam mit den Expertinnen und Experten, die diese gute Grundlage geschaffen haben. ({2}) Wir wollen dafür sorgen, dass die Pflegeberufe endlich die Anerkennung erhalten, die sie verdienen. ({3}) Dazu gehört vor allen Dingen auch, dass die Berufsausbildung in der Pflege moderner und attraktiver gestaltet wird. Wir wollen die Qualifikation in den Pflegeberufen breiter anlegen. Das ist gerade für die Motivation in der Pflege und für eine Lebensperspektive in diesem Beruf wichtig. Daran wollen wir arbeiten. ({4}) Wir haben dies im Koalitionsvertrag beschlossen und wollen das im Rahmen eines neuen Pflegeberufsgesetzes angehen, in dem die Ausbildungsinhalte für die Pflegeberufe neu definiert werden. Geplant ist, die Ausbildung in der Altenpflege, in der Gesundheits- und Krankenpflege und in der Kinderkrankenpflege zusammenzuführen. Damit geben wir gerade den Absolventinnen und Absolventen dieses Ausbildungsfeldes mehr berufliche Entwicklungsmöglichkeiten an die Hand. ({5}) Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese wird bis März dieses Jahres Eckpunkte und damit eine Grundlage für das Gesetz erarbeiten. Wir halten die Zusammenführung der Ausbildung in den Pflegeberufen zu einem gemeinsamen Ausbildungsstrang deshalb für erforderlich, weil wir heute die Kernkompetenzen für die Pflege älterer Menschen ja nicht nur in Pflegeheimen oder bei der häuslichen Pflege, sondern genauso in Krankenhäusern und anderen, neuen Wohnformen benötigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die umfassende und zeitgemäße Ausbildung unserer Nachwuchskräfte ist ein wichtiger Bereich, aber hier dürfen wir mit unseren Anstrengungen nicht aufhören. Genauso wichtig ist es, dass wir eine gute Bezahlung für die Pflegekräfte erreichen. Wir haben mit dem Mindestlohn für die Pflegehilfskräfte begonnen. Das ist eine Absicherung nach unten. ({6}) Es kann und muss aber auch einen angemessenen Anstieg nach oben geben. ({7}) Gerade die Einrichtungen wissen nur zu gut, wie wichtig genau diese Arbeitsbedingungen sind, um qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an sich zu binden; denn sie suchen händeringend nach entsprechenden Fachkräften. Der Bedarf wird weiter zunehmen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die meisten Menschen wollen so lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung, in ihrem gewohnten Umfeld, versorgt werden. Deshalb ist gerade die häusliche Betreuung auch ein zentraler Punkt für eine zukunftsgerichtete Pflege. Wir wissen aber, dass das traditionelle Familienbild, in dem der Spruch gilt: „Gepflegt wird zu Hause“, aufgrund der unterschiedlichsten Entwicklungen in der Gesellschaft und hinsichtlich der familiären Strukturen von vielen Menschen heute nicht mehr so gelebt werden kann, wie sie das vielleicht gerne tun würden. So werden wir zwar immer älter, gleichzeitig ist die Zahl der Kinder rückläufig, und es gibt mehr Singlehaushalte als früher. Deshalb hat die Bundesregierung gehandelt, und wir handeln weiter. Wir haben die Beschäftigungsordnung geändert. Damit haben wir dafür gesorgt, dass auch ausländische Haushaltshilfen pflegerische Alltagsverrichtungen und die Betreuung bei uns legal durchführen können. Das ist ein klares Beispiel dafür, dass wir uns mit unseren Vorstellungen hinsichtlich einer guten Pflege an den Wünschen der Betroffenen ausrichten. Diese Wünsche erfährt man, indem man vor Ort und mit den Betroffenen im Gespräch ist. Deshalb werden wir diesen Pflegedialog auch fortsetzen. Minister Rösler hat für Februar zum zweiten Pflegedialog eingeladen. Ich finde es ausgesprochen wichtig und richtig, dass auch die pflegenden Angehörigen als diejenigen, die die Hauptlast physisch und psychisch aushalten müssen, in den Pflegedialog mit einbezogen werden. ({8}) Diese Menschen pflegen, trösten und schenken Zeit und Liebe, oft bis zur eigenen Erschöpfung. Genau diesen Menschen wollen wir helfen. Wir wollen sie in ihrem Engagement unterstützen und gemeinsam mit ihnen überlegen, wie passende Hilfsangebote für sie aussehen können, damit sie nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch von ihnen angenommen werden. ({9}) Auch andere Initiativen sind unterstützenswert. Sie haben das Thema Familienzeit angesprochen. Ich verweise zum Beispiel auf das hervorragende Modell der Zeitspende. Damit können sozial verantwortliche Unternehmen ihren Beschäftigten anbieten, sich zeitweise um die Betreuung und Unterstützung von pflegebedürftigen Menschen zu kümmern.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rawert?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Ja, bitte.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, Sie haben davon gesprochen, dass ausländische Haushaltshilfen nun auch pflegerische Grundtätigkeiten ausüben dürfen. Sind Sie der Meinung, dass die gesetzlichen Grundlagen im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die für die neuen EU-Beitrittsländer am 1. Mai in Kraft tritt, ausreichen? Ich habe eine zweite Frage. Die Bundesregierung hat den Ersten Gleichstellungsbericht überreicht bekommen, der eine Frauenquote, die Einführung des Mindestlohns und die Aufhebung des Ehegattensplittings empfiehlt. Welche Bedeutung hat der Gleichstellungsbericht für den Bereich Pflege, insbesondere für die Situation pflegender Angehöriger?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Zunächst zur Freizügigkeit, Frau Kollegin Rawert. Die Freizügigkeit ab dem Frühjahr wird noch mehr Möglichkeiten bieten, dass auch ausländische Pflegekräfte, Hilfskräfte und Betreuungskräfte in Deutschland tätig sein können. Die rechtlichen Bedingungen für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind gegeben. Wir wissen, dass viele Menschen, die derzeit teilweise auch illegal Menschen aus dem europäischen Ausland beschäftigen, ein großes Bedürfnis nach Hilfestellung haben. Deshalb sind diese Themen Bestandteil der Pflegedialoge. Wir wollen mit den im Inland Beschäftigten, den Organisationen, den Pflegeverbänden, aber auch mit den Angehörigen nach Problemlösungen suchen, damit wir dem Bedarf an Unterstützung im Haushalt - oft ist Verfügbarkeit rund um die Uhr notwendig - stärker Rechnung tragen können. Diese Fragen beraten wir zurzeit. Wenn wir gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen, dann werden wir sicherlich dem Parlament in diesem Jahr entsprechende Lösungen unterbreiten. Zu Ihrer zweiten Frage, welche Bedeutung die Gleichstellung in der Pflege hat. Pflege ist weiblich. Nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die Betroffenen sind aufgrund der höheren Lebenserwartung in der Regel Frauen. Ich habe das vorhin insbesondere für den Bereich der Demenz ausgeführt. Wir wissen, dass auch die pflegenden Angehörigen häufig Frauen sind. Es geht uns darum, die Strukturen und Bedingungen insgesamt zu verbessern, damit die Hauptlast nicht bei den Frauen liegt. Aber wir müssen die Ursachen angehen. Deshalb müssen wir entsprechende Einstufungen vornehmen und den allgemeinen Betreuungsbedarf stärker berücksichtigen. Es geht um die Vernetzung der Angebote gerade auch in den verschiedenen Wohnformen, damit den Anliegen der Betroffenen stärker Rechnung getragen werden kann. Was die pflegenden Frauen zu Hause angeht, ist es sehr wichtig, dass sie auch ihre Erfahrungen im Alltag verarbeiten können und Hilfe und Unterstützung erhalten, um mit dieser verantwortungsvollen, befriedigenden, aber auch sehr schwierigen Aufgabe fertigzuwerden. In diesem Sinne verlaufen die Gespräche. Wir werden Ihnen im Parlament von den Ergebnissen berichten und entsprechende Maßnahmen einleiten. Dass uns die Qualität sehr wichtig ist, damit die gute Pflege auch weiterhin gesichert wird, sehen Sie daran, dass wir uns nicht mit der Situation im Zusammenhang mit der Pflege-Transparenzvereinbarung abfinden. Wir werden dem Parlament gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen einen Vorschlag unterbreiten, damit das geltende Recht, das noch von der Vorgängerregierung unter der Großen Koalition verabschiedet wurde, möglichst schnell geändert wird, damit wir zu Entscheidungen kommen, die für mehr Transparenz und letzten Endes mehr Qualität in der Pflege sorgen können. Ich habe zu dem Themenkomplex der Demenz und der Herausforderungen für die entsprechenden betreuerischen Fähigkeiten, aber auch für die Einbeziehung von Unterstützung gerade dann, wenn es sich nicht um Verrichtungen dreht, sondern wenn es um die Betreuung und Begleitung geht, gesprochen, und deshalb wird sich die Diskussion der kommenden Wochen und Monate sehr stark auf die Entwicklung sachgerechter Strukturen und Angebote richten; denn wir wollen dem Anspruch, den Menschen in dieser besonderen Lebenssituation zu helfen, gerecht werden. Versorgungsforschung, also die Frage, wie Versorgung für Menschen mit Demenz aussehen muss, ist uns ganz wichtig; denn hier sind große Defizite vorhanden. Der Leuchtturm, den die Bundesregierung mit einem großen Forschungsprojekt unterstützt hat, bietet auch hier gute Grundlagen für die Entwicklung neuer Angebotsformen. Wir werden diese Auswertung zur Grundlage nehmen, um unsere Entscheidungen sachgerecht voranzubringen. Um all dies gewährleisten zu können, brauchen wir eine solide Finanzierung. Kollege Lanfermann hat das Prinzip der Kapitaldeckung erläutert. Es ist ein Sparen in guten Zeiten für die Zeiten, in denen ein größerer Bedarf vorhanden ist. Das ist etwas, was Sinn macht, was nottut und was unserer Gesellschaft guttut. Wir werden auch in diesem Punkt den Koalitionsvertrag erfüllen und Ihnen die Vorschläge unterbreiten. Aber auch hier gilt: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Die Pflegeversicherung ist in ihrem Bestand bis zum Jahr 2014 finanziert. Deshalb werden wir uns dieses Jahr nehmen, um gute Ergebnisse für die Menschen in unserem Land zu erreichen. Wir nehmen die Herausforderungen im Dialog mit den Menschen an. Dazu wünsche ich uns konstruktive Beratungen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal muss auch ich einräumen, dass ich Herrn Singhammer heute gerne gratuliert hätte. Aber es gibt offenbar keinen Anlass. Ich bin mir nicht im Klaren darüber, was gilt. Ich will aber klar sagen: Wenn Ihr Ansatz der war, dass eine individualisierte Kapitaldeckung unsinnig ist, dann hätten Sie damit recht, ohne Wenn und Aber. Diese Übung haben wir schon einmal gehabt. Das ist eine kleine Zusatzversicherung, die einen hohen bürokratischen Aufwand bringt und bei der die Abschlusskosten so hoch sind, dass man die ersten 20 Jahre einzahlt, um die Abschlusskosten zu decken, sodass selbst die private Assekuranz, die privaten Krankenversicherungen, an dieser Versicherung kein Interesse haben. Die ist normalerweise ein sehr maßgeblicher Ratgeber zumindest für die FDP und für Herrn Rösler. Wenn somit selbst die private Assekuranz das nicht verfolgt, dann müssten Sie doch sagen: Das räumen wir ab. - Heute wäre eine gute Gelegenheit dazu gewesen. Jetzt wissen wir wieder nichts. Aber die Argumente sind stabil. Das kann zu nichts führen; das ist Bürokratie pur. Es ist im Übrigen auch auf der folgenden Grundlage Unsinn: Wenn der eine eine solche Kapitaldeckung hat, der andere aber nicht und beide Menschen im selben Zimmer liegen, dann kann es den Pflegekräften doch nicht ernsthaft zugemutet werden, dass der eine Patient anders gepflegt wird als der andere. Eine Zweiklassenpflege, wie sie vielleicht dem einen oder anderen FDPIdeologen noch recht wäre, ist doch dem Personal und den Menschen nicht zuzumuten. Daher sage ich: Räumen Sie das Ding ab, machen Sie sich sauber, verabschieden Sie sich davon! ({0}) Der Koalitionsvertrag - das hat selbst Frau Merkel gesagt - war kein großer Wurf. Sie war damals müde. ({1}) Das stand in einem Bericht im Spiegel. Das war nach den langen Wahlkämpfen, und sie war in einer Phase der Müdigkeit. Das war nicht das Beste. Somit gibt es im Koalitionsvertrag, der nicht komplett gelungen ist, Dinge, die besser sind, und Dinge, die schlechter sind. Das ist eben ein Murks. Da muss man die Größe haben, zu sagen: Das ist ein Murks. Das ist uns nicht gelungen. Das räumen wir jetzt ab. - Dann hätte ich Respekt vor Ihnen. Herr Singhammer, bleiben Sie am Ball. Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, wovon Sie sprechen. Setzen Sie sich gegen die Ideologie und die private Assekuranz durch, Herr Singhammer. Unsere Unterstützung haben Sie. Das teile ich Ihnen im Namen meiner Fraktion mit. ({2}) Gehen wir jetzt auf die belehrenden Äußerungen des jungen Wissenschaftlers Lanfermann ein. ({3}) Er hat uns gerade erläutert, die Menschen würden immer älter, künftig werde es weniger Beitragszahler geben usw. Das war sehr tiefgreifend. Herr Lanfermann, wir alle haben zugehört. Aber zwei wichtige Sachen haben Sie schlicht vergessen. Sie haben gesagt, es wären immer mehr Menschen zu pflegen. Aber das hängt doch davon ab, wie viele Menschen im Jahr 2050 depressiv oder demenzerkrankt sind. Das wissen Sie doch heute noch nicht. ({4}) - Nein, aber ich sage auch nichts dazu. Herr Lanfermann hingegen macht hier Angaben und rechnet uns vor, wie es sein wird. - Die Wahrheit ist: Wenn es uns gelingt, Depressionen und Demenz besser zu behandeln, dann wird es viel weniger Pflegebedarf geben. Von daher bitte ich Sie: Langweilen Sie uns nicht mit diesen Ausführungen, sondern sagen Sie, was Wahrheit ist! ({5}) Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt nicht, wie groß der Bedarf sein wird. Jetzt zu den Alternativen, die Sie genannt haben. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Kapitaldeckung einzuführen. Die erste Möglichkeit ist eine kleine Zusatzkopfpauschale, damit man keinen Sozialausgleich braucht. Dann baut sich das Geld allmählich auf, sodass man, nachdem die Babyboomer alle tot sind, eine gute Rendite erwirtschaftet. Grob gesprochen: Die Kapitaldeckung muss dann so klein sein, damit sich das nie lohnt. Es kommt dann zu spät. Der Ertrag ist so gering, dass es sich schlicht nicht lohnt. Das ist Bürokratie. Man hat keinen Sozialausgleich; aber man bekommt auch nichts zusammen. Man läuft sozusagen unter der Messlatte durch. Die zweite Möglichkeit ist: Man nimmt mehr, eine größere Kopfpauschale. Dann braucht man aber erneut einen Sozialausgleich. Das ist dann ein weiterer Minisozialausgleich. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Berücksichtigt man auch andere Einkommen wie Miet-, Zins- und Kapitalerträge? Wie messe ich das Einkommen? Das ist eine Riesenbürokratie. Somit sind Sie mit dem Murks im Prinzip wie folgt gefangen: Entweder die Kapitaldeckung ist zu klein, als dass es sich lohnt, oder man braucht erneut einen Sozialausgleich. Dann hat man aber eine gigantische Bürokratie. Insofern sind im Prinzip alle Vorschläge, wenn ich ganz offen sprechen darf, Murks. Sie haben zum jetzigen Zeitpunkt nicht die Größe, zu sagen, dass sich das nicht lohnt. Schauen Sie doch in andere Bereiche. Es gibt Bedarf. Wir könnten Ihre Arbeit benötigen. Die Staatssekretärin hat gerade davon gesprochen, was alles gut sei. Tatsache ist: Zum Thema Bürokratieabbau in den Pflegeeinrichtungen haben wir von Ihnen bisher noch nichts gehört. Es gibt keinen einzigen Ansatz, die Bürokratie in den Pflegeeinrichtungen zu beseitigen. ({6}) - Wir haben Ideen. Wenn wir regieren würden, wäre es schon erledigt. ({7}) Wir werden von Ihnen ständig kritisiert, als wenn wir keine Vorstellungen hätten. Bringen Sie in Erinnerung: Im Moment regieren noch Sie. Sie können uns nicht ständig vorwerfen, wir wären untätig. Wir haben Vorstellungen. ({8}) Von Ihnen kommt nichts. ({9}) Zum Pflege-TÜV: Sie waren noch nicht einmal in der Lage, den bereits bestehenden Pflege-TÜV in die Fläche zu bringen. Da sind Sie jetzt auf ein Schiedsverfahren mit völlig offenem Ausgang angewiesen. Nichts ist gelungen. Zum Abschluss: Auch zur Vorsorge von Pflegebedürftigkeit ist bisher nichts gekommen. ({10}) Verlassen Sie sich darauf: Wir werden in der Tat die ersten Gesetze in diesem Bereich machen; denn bis Sie in die Schuhe kommen, sind Sie abgewählt. Ich verspreche Ihnen: Im ersten Jahr unserer Arbeit legen wir zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen der Grünen brauchbare Gesetze vor. ({11}) Ich glaube, dass die Regierungsbank hier in der Mitte des Hauses ist. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Willi Zylajew für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Interessante beim Kollegen Lauterbach ist, dass er - wohl vom Dozieren her darauf trainiert - immer wieder zu Dingen spricht, die nicht auf der Tagesordnung stehen. Von den Linken liegen ein Antrag und eine Große Anfrage zur Beratung vor. Herr Lauterbach, wenn Sie das im Protokoll nachlesen, werden Sie feststellen, dass Sie keinen einzigen Satz dazu gesagt haben. ({0}) Da frage ich mich: Was macht es für einen Sinn, wenn wir hier eine Debatte führen und uns mit Vorlagen auseinandersetzen und dann jemand Redezeit verschleißt, ohne etwas zur Sache zu sagen? ({1}) Nach meiner Auffassung sind die Vorlagen für eine sachliche Debatte nicht geeignet; sie sind vielmehr rein populistisch. ({2}) - Kollege Ilja Seifert, auf Sie komme ich noch zu sprechen. - Diese Debatte sollte aber schon dazu genutzt werden, dass wir uns mit dem Anliegen auseinandersetzen. ({3}) Wir sind für jeden dankbar, der dazu einen konstruktiven Beitrag leistet. Wir als Union und unser Koalitionspartner können sagen: Die Pflegeversicherung ist ordentlich finanziert. Wir müssen sie für künftige Herausforderungen ertüchtigen. Das werden wir auch tun. Darauf können sich die Menschen im Land verlassen; das war immer so. 1995 haben wir die Pflegeversicherung eingeführt. Zwischen 1998 und 2005, also größtenteils unter Ministerin Schmidt, ist nichts passiert. In der letzten Wahlperiode haben wir den Anstoß gegeben, zu dynamisieren, die Dementen zu berücksichtigen, ({4}) die ambulante Pflege zu stärken. All das ging auf unsere Initiative zurück. Von Ihnen ist da gar nichts gekommen. ({5}) Wir laden dieses Jahr die Pflegeaffinen aller Parteien ein, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Aber, Frau Senger-Schäfer, so geht es nun wirklich nicht. Sie können nicht einfach sagen: So geht es nicht! ({6}) Das ist schon stark. Sie fordern die Erweiterung von Leistungen; aber dann kommt nichts mehr. Sie sagen gar nichts dazu, wer das bezahlen soll. ({7}) Frau Ferner - sie ist leider nicht mehr da - hat durch ihre Zwischenfrage erfahren wollen, wie der Kapitalstock ausgestaltet sein soll. Darf ich die Kolleginnen und Kollegen der SPD, die ich, zumindest die fachkompetenten, weit überwiegend schätze, einmal dezent darauf hinweisen, dass in unserem Koalitionsvertrag aus dem Jahre 2005 eine Demografiereserve vereinbart war? Dort stand: Wir bauen eine Demografiereserve auf. Jetzt soll das plötzlich etwas Schlimmes, Negatives, Gefährliches, nicht Zukunftsweisendes sein. Die Halbwertszeit Ihres Gedächtnisses ist da minimal. ({8}) Frau Mattheis, wir werden die Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs umsetzen. Das war doch das Ziel. Frau Schmidt hat das als Ministerin geschickt gemacht: zunächst die Reform, erst dann Veränderung des Begriffs. Sie ist sehr clever vorgegangen. Sie hat nicht erst den Begriff verändert und dann die Reform durchgeführt. Wir werden das anders machen. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass wir das umsetzen, was notwendig ist, und das tun, was Sie nicht geschafft haben. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass hier breit diskutiert wird. Frau Scharfenberg sucht eine Mehrstimmigkeit. Wir, CDU/CSU und FDP, haben eine kreative Mehrstimmigkeit, um zu den besten Ergebnissen zu kommen. ({9}) Sie können sicher sein - die Kollegen Singhammer und Lanfermann haben das hier in bestem Einvernehmen erklärt -: Wir arbeiten an der besten Lösung, und die wird auch kommen. Wir haben noch ein paar andere Dinge zu berücksichtigen - ich will sie schnell ansprechen -: neuer Pflegebegriff, Dynamisierung, Demenzversorgung, neue Wohnformen, Ausbildung. Wenn all das erledigt ist, reden wir über die Finanzierung. Die Einhaltung dieser Reihenfolge ist wichtig. Sie würden wahrscheinlich zunächst die Finanzierung sicherstellen und dann fragen: Was machen wir mit dem Geld bzw. dem Defizit? So vorzugehen, ist nicht unsere Art. Zurück zum Antrag, Drucksache 17/4425. Auf Seite 2, letzter Absatz - Herr Singhammer hat das angesprochen -, steht: Das Leistungsniveau der Pflegeversicherung ist deutlich anzuheben usw. Wenn man sämtliche zusätzlichen Kosten zusammenrechnet - ich habe mir die Mühe einmal gemacht -, dann brauchen wir etwa 10 bis 20 Milliarden Euro mehr, und das bis zum Jahre 2027, nicht erst 2040. Sie sagen überhaupt nichts dazu, wie die Umsetzung Ihrer Forderungen finanziert werden soll. Das ist unredlich. Das wird auch jeder merken. ({10}) Die Linken erwecken bei mir manchmal den Eindruck: Nachdem sie es nicht geschafft haben, die gute soziale Marktwirtschaft von außen zu zerstören, ({11}) versuchen sie es jetzt durch überzogene Anträge von innen; ({12}) aber auch das wird nicht funktionieren. ({13}) Ich fasse die Notwendigkeiten noch einmal zusammen. ({14}) Wir brauchen eine ordentlich finanzierte Pflegeversicherung. Wir brauchen eine Vorsorge für die geburtenstarken Jahrgänge. Wenn uns die Jahrgänge 1949 bis 1969 auf der Lastenseite erreichen, muss eine Beitragsreserve vorhanden sein. Diese Reserve müssen wir heute ansparen. Wir wollen, dass jetzt mehr Menschen wenig mehr bezahlen, um einen Kapitalstock aufzubauen, damit nicht später weniger Menschen sehr viel mehr zahlen müssen, um die Leistungen halbwegs zu erhalten; denn Letzteres kann nicht der richtige Weg sein. Wir müssen fair sein gegenüber denen, die als Angehörige auf eine ordentliche Leistung warten, und denen, die als potenzielle Pflegefälle - das sind auch wir - auf eine Leistung warten. Wir müssen auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die wir anwerben wollen, deutlich machen, dass die Pflegeversicherung auf Dauer ordentlich finanziert ist. Wer begibt sich denn in ein so schwieriges Arbeitsfeld, wenn ein paar Linke oder andere immer wieder sagen: „Das ist alles nicht solide finanziert; das ist nicht in Ordnung; da kann man sich auf nichts verlassen“? Das ist nicht der richtige Weg. ({15}) Frau Senger-Schäfer, ich kann nur feststellen: Ihr Antrag war rein populistisch. Trotzdem haben wir ihn für eine halbwegs vernünftige Diskussion genutzt. Ich hoffe sehr, dass Ihr kompetenter Sachverstand für Pflege, Herr Dr. Seifert, uns deutlich macht, dass es auch bei den Linken noch einige gibt, die das Thema Pflege ordentlich, sachlich und konstruktiv bearbeiten. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Zylajew, ich weiß nicht, was ich von diesem Lob halten soll. Sie schaffen es jedenfalls nicht, mich gegen meine Kollegin auszuspielen. ({0}) Wir haben in der Pflege - das weiß jeder, der sich mit diesem Thema befasst - kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Wir wissen doch, was wir brauchen. Jeder, der sich ein bisschen damit beschäftigt, weiß, dass es bald darum gehen wird, Pflege und assistierende Begleitung, die mindestens genauso wichtig ist, aus den Heimen in die Wohnungen zu verlagern. ({1}) Darüber redet aber fast niemand. Das muss man doch zumindest einmal erwähnen. Herr Kollege Zylajew, wir haben auch keinen Bedarf an einer Demografiereserve. Vielmehr brauchen wir einen Bonus, der sich aus der Produktivitätsentwicklung ableitet. In die Berechnung muss die Steigerung der Produktivität einbezogen werden und nicht, wie viele Leute arbeiten. ({2}) Das ist, woraus wir Einnahmen generieren können. Es geht nicht um die Anzahl der Beschäftigten, die nach der Demografieprognose immer weniger werden. Es geht um einen Produktivitätsfaktor. Lassen Sie uns darüber reden - das ist der zentrale Punkt -, was wir eigentlich brauchen. Ich freue mich ja, dass es mit Ihnen, Herr Zöller und Herr Singhammer, und Ihnen aus Nordrhein-Westfalen, Herr Zylajew, eine Koalition aus CDU und CSU gegen die FDP gibt; das finde ich prima. ({3}) Wir machen mit, wenn wir dazu kommen, die Bedürfnisse derer, die jetzt auf Hilfe angewiesen sind, zu decken und nicht immer weiter in die Zukunft zu schauen. Was im Jahr 2050 sein wird, interessiert heute keinen Menschen. Wir müssen jetzt den Leuten helfen, die Hilfe brauchen. Sie haben die Regierung beauftragt, einen neuen Pflegebegriff zu erarbeiten. Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs unter Vorsitz von Jürgen Gohde hat einen sehr guten Vorschlag vorgelegt. Ich hatte diesen Beirat im Vorhinein kritisiert. Als das Ergebnis auf dem Tisch lag, habe ich mich für meine Kritik entschuldigt. Ursprünglich dachte ich, dass seine Mitglieder nur ein Gefälligkeitsgutachten erstellen. Sie haben aber richtig ordentliche Arbeit geleistet. ({4}) Sie sagen, dass es nicht um „satt, sauber, trocken“ geht, sondern um die Ermöglichung von Teilhabe, auch wenn jemand auf fremde Hilfe angewiesen ist - ob das in jungen Jahren ist, wie bei Menschen mit Behinderung, oder im Alter. In jedem Falle wollen die Menschen teilhaben. Jemand, der im Sterben liegt, hat natürlich ein anderes Teilhabebedürfnis als jemand, der noch sein ganzes Leben vor sich hat, arbeiten geht und seine Freizeit genießen will. Es ist völlig klar, dass wir das auseinanderhalten müssen. Es geht, wie gesagt, darum, Teilhabe zu ermöglichen, und nicht darum, die Heime vollzubekommen. Vor diesem Problem stehen wir zurzeit. ({5}) Es gibt ein Umsetzungsproblem. Frau Staatssekretärin, wir brauchen daher keine Kommission, die sich einen neuen Begriff ausdenkt. Wir müssen vielmehr den Begriff, der ausgearbeitet worden ist, mit Leben erfüllen. Dazu hat unser heutiger Antrag, wie ich finde, eine sehr gute Diskussionsgrundlage geliefert. Lassen Sie uns auf dem Wege weitermachen. Dann kommen wir auch zu einem Ergebnis, welches den Menschen, die heute Probleme haben, helfen wird. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Kollege Steffen-Claudio Lemme für die SPD-Fraktion. ({0})

Steffen Claudio Lemme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004090, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Rösler und Frau Staatssekretärin WidmannMauz! Der Grundsatz meiner Fraktion ist: Das Lebensrisiko, pflegebedürftig zu werden, darf nicht privatisiert werden. ({0}) Aber die jüngste Gesundheitsreform ist gerade erst in Kraft getreten, da machen sich Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler und seine Gefolgschaft erneut ans Werk. Rastlos sind sie - das muss man schon sagen -, haben sie sich doch nicht weniger vorgenommen, als die gesamte Gesundheitsversorgung radikal wirtschaftlichen Kriterien zu unterwerfen. Laute Proteste von Bürgerinnen und Bürgern, von Gewerkschaften und Sozialverbänden werden schlichtweg ignoriert oder gar belächelt. Wes Geistes Kind diese Bundesregierung ist, haben die Menschen in Deutschland aber mittlerweile erkannt. Sie haben bei dieser Regierung die berechtigte Furcht vor dem Damoklesschwert einer weiteren Entsolidarisierung unserer Sozialsysteme; denn die nächste Angriffswelle des Rösler’schen Kreuzzuges gegen die Prinzipien des Miteinanders in unserer Gesellschaft ist in Stellung gebracht - ihr Ziel: die gesetzliche Pflegeversicherung. Wurde die Opposition im vergangenen Jahr mancherorts noch für ihre Warnungen zu den Konsequenzen der Gesundheitsreform gescholten, ist die Lage heute doch eindeutig. ({1}) Die Versicherten tragen die finanzielle Hauptlast. Die Arbeitgeber werden aus der Parität für immer entlassen, und die private Krankenversicherung wird kräftig aufgepäppelt. Jetzt betreibt diese Bundesregierung aus CDU/ CSU und FDP die Privatisierung des Pflegerisikos. ({2}) Was Sie jetzt vorhaben, ist Folgendes: erstens die Einführung einer zusätzlichen Kopfpauschale für die Pflege und damit einer faktischen Mehrbelastung der Versicherten, zweitens die damit verbundene Entsolidarisierung der Pflegeversicherten durch die Aufgabe des Prinzips wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit des Einzelnen bei der Beitragserhebung, drittens die Schaffung eines Zusatzgeschäftes für private Versicherungsunternehmen. Hinzu kommt die perspektivische Verlagerung auf ein reines Kopfpauschalensystem mit individuellen Kapitalstöcken. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, die Versicherten, Pflegebedürftigen und deren Angehörigen erwarten mehr. Eines muss Ihnen klar sein: Sie setzen mit Ihren Plänen die hohe Akzeptanz der noch jungen Pflegeversicherung leichtfertig aufs Spiel. ({3}) Die Menschen wollen keinen radikalen Umbau der Finanzierung. Sie wollen eine passgenaue und an den Bedürfnissen des Einzelnen orientierte Pflege. Die Versicherten erwarten zu Recht ausreichend und gut geschultes Personal, ein Ende der Pflege im Minutentakt und bessere Voraussetzungen für die Pflege daheim durch ihre Angehörigen. Kurz: Sie wollen Verbesserungen bei der Qualität der Pflege, insbesondere bei der Pflegeinfrastruktur. ({4}) Ich will an dieser Stelle aber auch noch einige Worte zum Antrag der Fraktion Die Linke verlieren, der Anlass dieser Debatte ist. Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass Sie mit Ihrem Antrag wieder einmal nicht die Debatte in der Sache suchen. Die von Rot-Grün eingeführte freiwillige Riester-Rente wird mit Herrn Röslers Plänen in einen Topf geworfen. ({5}) Da werden die Neuerungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes von 2008 geschmäht. Weiterhin wird der demografische Wandel, der auch ein maßgeblicher Faktor ist, schlicht ausgeblendet. Ich sage Ihnen: Mit den Forderungen in Ihrem Antrag nach einer deutlichen Anhebung des Leistungsniveaus wecken Sie bei den Menschen nur falsche Erwartungen. Sie dienen der eigentlichen politischen Auseinandersetzung nicht. Ich fasse noch einmal zusammen. Wir als SPD sagen Nein zur Privatisierung der Pflege und auch Nein zu einer Politik der überzogenen Erwartungen. Jetzt muss es notwendigerweise darauf ankommen, die Pflege im Hinblick auf Qualität und Infrastruktur im Sinne der Betroffenen zu stärken. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4425 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4557. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- fraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Dritter Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ - Drucksachen 17/2300, 17/2971 Nr. 1.2, 17/4272 Berichterstattung: Abgeordnete Roderich Kiesewetter Joachim Spatz Stefan Liebich Kerstin Müller ({1}) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Lothar Binding ({2}), Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutschland braucht dringend eine kohärente Strategie für die zivile Krisenprävention - Drucksache 17/4532 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Joachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort. ({4})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich fühle mich leider Gottes ein bisschen an meine Zeit im Bayerischen Landtag erinnert, in dem, als es um Bildungspolitik ging, viele Kollegen den Saal verlassen haben, sodass die Kolleginnen und Kollegen des entsprechenden Ausschusses wieder unter sich waren. Das ist schade, ({0}) weil es sich bei ziviler Krisenprävention und vernetzter Sicherheit um eines der Zukunftsthemen deutscher Außenpolitik handelt. ({1}) Nach der Neubestimmung der NATO-Strategie, die maßgeblich unter deutscher Mitwirkung erfolgte, gibt es zwei weitere große Herausforderungen der strategischen Ausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren. Zum einen geht es um eine verstärkte europäische Integration dieser Themen aus vielen verschiedenen Gründen. Zum anderen geht es um die Schwerpunktverlagerung weg von militärischen Instrumenten hin zu ziviler Krisenprävention und, falls eine Krise schon eingetreten ist, natürlich um vernetzte Sicherheit, also - wenn Sie so wollen - einen Comprehensive Approach, sprich: die Berücksichtigung anderer Determinanten der Sicherheitsbildung. Dazu haben wir in den letzten Jahren sowohl in Afghanistan als auch anderswo die Erfahrung machen müssen, dass militärische Mittel an der einen oder anderen Stelle notwendig sein mögen, aber in den seltensten Fällen ausreichen, um eine stabile Situation in den betroffenen Ländern herzustellen. Good Governance, Aufbau von Polizei und von Rechtsstaatlichkeit sowie die Schaffung wirtschaftlicher Betätigungsmöglichkeiten für ein menschenwürdiges Auskommen in den Ländern sind genauso wichtige Themen, wie der Aufbau von Bildungseinrichtungen und der gleichberechtigte Zugang zu Bildung. Der Bericht, den die Bundesregierung Ihnen vorgelegt hat, gibt einen guten Überblick über den Sachstand der Weiterentwicklung der deutschen Außenpolitik auf diesen Gebieten. Außerdem weist er auf Entwicklungsperspektiven hin. Der Unterausschuss schlägt Ihnen vor, diesen Bericht zur Kenntnis zu nehmen, und fordert Sie auf, die Form der Berichterstattung durch die Bundesregierung dahin gehend zu ändern, dass nur alle vier Jahre ein umfassender Bericht vorgelegt wird. In den drei dazwischen liegenden Jahren sollen Zwischenberichte zu Schwerpunktthemen erstellt werden. Die fehlende Schwerpunktsetzung im Bericht war Teil der Kritik. In dem Politikansatz manifestiert sich sowohl die Kontinuität als auch die Weiterentwicklung der deutschen Außenpolitik. Die Kontinuität besteht darin, dass wir, vor allem was die Instrumente anbetrifft, einen Ansatz der rot-grünen Regierung aufgreifen. Ein Instrument ist der Ressortkreis, der die Aufgabe hat, die betroffenen Politikbereiche - Auswärtiges, Verteidigung, Inneres und wirtschaftliche Zusammenarbeit - zusammenzuführen. Wir nehmen den Beirat „Zivile Krisenprävention“ als Mitgestalter dieser Politik wieder verstärkt in den Fokus, und wir unterstützen das ZIF, das im Rahmen der zivilen Friedensmission eine wichtige Rolle spielt. Neu ist, dass sich der Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ der Themen, die hier diskutiert werden, annimmt. Wir kümmern uns sowohl um die konzeptionelle Weiterentwicklung dieses Feldes als auch um einzelne Länder. Es ist wichtig, zu wissen, dass es positive Beispiele für die zivile Krisenprävention gibt; am Schluss meiner Ausführungen komme ich auf ein Beispiel zu sprechen. Wichtig ist auch, dass wir die Kapazität trotz schwieriger Zeiten weiter ausbauen. Ich weiß, dass uns nachher wieder vorgeworfen wird, dass wir an der einen oder anderen Stelle gekürzt haben. ({2}) Man muss aber berücksichtigen, dass dem militärischen Bereich in dieser Zeit ein Abschmelzen der Kapazitäten in einem nicht unerheblichen Maße zugemutet wird. In diesem Konzert ist schon das Sichern von Finanzmitteln ein Erfolg; dessen können wir uns sicher sein. ({3}) Aufgrund unserer Rolle innerhalb der EU, der Vereinten Nationen, der NATO und im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit unserem Partner in Afrika, der Afrikanischen Union, haben wir noch erhebliche Überzeugungsarbeit zu leisten, was die Umsteuerung hin zu den neuen Instrumenten anbetrifft. Ich verhehle nicht, dass ich gerade in den Beziehungen zur Afrikanischen Union ein Window of Opportunity, wie das so schön heißt, sehe. Das heißt, ich glaube, dass wir in der Afrikanischen Union einen Partner haben, der uns hilft, aufkeimenden Konflikten in diesen Ländern mit niedrigschwelligen zivilen Mitteln zu begegnen. Dieses Window of Opportunity sollten wir nutzen. ({4}) Das positive Beispiel - lassen Sie mich das zum Schluss noch sagen - ist der Sudan. Heute Vormittag ist viel über Afghanistan gesprochen worden. Im Sudan ist es gelungen, jedenfalls bis jetzt, einen schwierigen Prozess mit den Mitteln der zivilen Krisenprävention zu meistern. Experten behaupten, dass dieser Konflikt, wenn er militärisch ausgetragen würde, in den nächsten zehn Jahren Schäden in Höhe von Hunderten von Milliarden Euro verursachen würde, von den menschlichen Verlusten und den tragischen Schicksalen gar nicht zu reden. ({5}) Ich wünsche mir, dass wir diesem Konflikt auch in Zukunft mit den Mitteln der zivilen Krisenprävention erfolgreich begegnen. Ich wünsche mir ferner, dass das konstruktive Miteinander, das in unserem Unterausschuss vorherrscht - das sei hier auch einmal erwähnt -, bestehen bleibt; denn das ist im Sinne der Sache. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Edelgard Bulmahn für die SPDFraktion. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Willy Brandt prägte vor vielen Jahren den Satz: Nicht der Krieg, der Frieden ist der Vater aller Dinge. In den letzten drei Wochen konnte die ganze Welt erleben, dass erfolgreiche zivile Krisenprävention möglich ist. Im Sudan konnte eine drohende Welle der Gewalt, womöglich sogar ein Bürgerkrieg, durch ein konsequentes ziviles Konfliktmanagement der internationalen Staatengemeinschaft und vor allen Dingen der Afrikanischen Union verhindert werden. Noch kurz vor Beginn des Referendums über die Unabhängigkeit des Südsudans war bei vielen die Befürchtung sehr groß, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte. Heute können wir feststellen, dass das Referendum gerade aufgrund des großen internationalen Engagements friedlich verlaufen ist. Dies ist ein Modell für eine erfolgreiche Politik, die der zivilen Krisenprävention und dem zivilen Konfliktmanagement strategischen Vorrang zumisst. Das sollte für uns Anlass sein, die erfolgreichen präventiven Ansätze von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren im Sudan fortzusetzen und zu intensivieren. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass die damalige rot-grüne Bundesregierung mit ihrem Gesamtkonzept „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidie9920 rung“ der zivilen Krisenprävention in der deutschen Außenpolitik eine herausragende Rolle, eine Vorrangstellung zugewiesen hat. Mit dem Aktionsplan aus dem Jahre 2004 haben wir die strategische Bedeutung der zivilen Krisenprävention und des zivilen Konfliktmanagements noch einmal unterstrichen. Er war und ist ein Meilenstein auf dem Weg, die Prävention von Gewaltkonflikten und die zivile Konfliktbearbeitung zu einer wichtigen politischen Querschnittsaufgabe in Deutschland zu machen. ({0}) Dies hat - ich sage das noch einmal ausdrücklich eindeutig Vorrang gegenüber militärischen Interventionen. Dieser Aktionsplan hat Strukturen und Institutionen geschaffen, die erfolgreich arbeiten und im Übrigen international hoch angesehen sind. Für viele Nichtregierungsorganisationen hat er den Rahmen geschaffen, in dem sie ihre wichtige Arbeit durchführen und ausbauen können. Der Dritte Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans, über den wir hier heute debattieren, macht jedoch deutlich, dass die jetzige Bundesregierung diese erfolgreiche Arbeit nur halbherzig fortsetzt. ({1}) Der Umsetzungsbericht, der ja eher ein Kompendium als ein Bericht ist, zeigt vor allem eines: die Perspektivlosigkeit und das mangelnde Interesse dieser Bundesregierung an präventiven Konfliktlösungen und auch am zivilen Konfliktmanagement. ({2}) Es ist deshalb erfreulich, dass das Parlament - ich sage ausdrücklich: das gesamte Parlament - dieses wichtige Thema aufgegriffen hat. Der Unterausschuss hat sich auf eine veränderte Form des Berichtes verständigt. Statt einer summarischen und kleinteiligen Aufzählung aller Aktivitäten, wie sie jetzt vorliegt, müssen in Zukunft die Ziele und Perspektiven deutlicher herausgestellt und die Schwerpunkte und Maßnahmen klar beschrieben und gewichtet werden. Es ist gut und richtig, dass in Zukunft nicht nur die Bundesregierung, sondern auch das Parlament Schwerpunktthemen benennen kann. Allein das Berichtswesen zu ändern, reicht nicht aus. Deutsche Außenpolitik muss Friedenspolitik sein. ({3}) Deshalb brauchen wir in Deutschland eine kohärente Strategie für zivile Krisenprävention. Die Zielsetzung deutscher Außenpolitik, die strategische Umsetzung und die Priorität der zivilen Krisenprävention müssen dargelegt werden, um davon ausgehend konkrete Handlungsfelder, Maßnahmen und Projekte abzuleiten. Analog dem Prozess auf europäischer Ebene gilt es, die politischen Ziele aus deutscher Sicht zu formulieren und dabei die zivilen und krisenpräventiven Zielsetzungen kurz und prägnant zu beschreiben. Zusätzlich brauchen wir - darüber haben wir uns im Unterausschuss immer wieder ausgetauscht - eine interne und eine externe Evaluierung der Fortschritte und Erfolge, um Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der zivilen Krisenprävention zu gewinnen und ihre gesellschaftliche und politische Akzeptanz zu erhöhen. Das ist dringend notwendig. Die Bundesregierung muss der zivilen Krisenprävention ohne Wenn und Aber Vorrang gegenüber militärischen Aktionen geben. ({4}) Die zivile Krisenprävention muss mehr politisches Gewicht erhalten. ({5}) Deshalb sollte die Ressortkoordinierung künftig nicht nur in einem Ressortkreis, sondern auch über einen Staatssekretärsausschuss, der echte Entscheidungskompetenzen - im Übrigen auch finanzielle Entscheidungskompetenzen - besitzt, erfolgen. Auch der zivilgesellschaftliche Beirat beim Auswärtigen Amt, eine wichtige Schnittstelle zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, muss aus seinem Schattendasein herausgeführt werden. Dass die Bundesregierung in diesem wichtigen Gremium Informationen nur weitergibt, aber die vielfältigen Kompetenzen, die in diesem Gremium versammelt sind, nicht umfassender nutzt, ist schlicht und einfach falsch. Die Warnsignale für drohende Gewalteskalationen - ein weiterer Punkt sollten frühzeitiger und systematischer zusammengeführt und umgehend in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Early Warning und Early Action gehören zusammen, und nur wenn diese beiden Aspekte zusammen betrachtet werden, können wir erfolgreich sein. Krisenprävention ist nicht alleine eine nationale Aufgabe. Der nichtständige Sitz im VN-Sicherheitsrat und der neugeschaffene Europäische Auswärtige Dienst bieten große Chancen, internationale Krisenprävention auch aus deutscher Sicht entscheidend mitzugestalten. Meine sehr geehrten Damen und Herren aus den Koalitionsfraktionen, nutzen Sie diese Chancen. Zivile Krisenprävention hat heute eine immer größer werdende Bedeutung bei der Lösung der weltweiten Konflikte. Dies gilt im Übrigen auch dann, wenn es schon zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen ist. Auch dann ist ziviles Konfliktmanagement gefragt und notwendig. Wenn man diese Auffassung hat, Herr Spatz, und wenn man das teilt - davon gehe ich aus -, dann heißt das aber auch, dass dafür die notwendigen finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen. ({6}) Insofern - das muss ich ganz klar sagen - kann ich leider nicht oft genug betonen, wie fatal die Kürzungen im Haushalt 2011 waren und sind. ({7}) Wir laufen Gefahr, als verlässlicher Partner überhaupt nicht mehr ernst genommen zu werden. Deshalb müssen wir im Haushaltsjahr 2012 dringend wieder mehr finanzielle Mittel für die zivile Krisenprävention bereitstellen. ({8}) Gerade die deutschen Nichtregierungsorganisationen, die seit Jahren eine ganz wichtige und wertvolle Arbeit leisten, müssen in die Lage versetzt werden, ihre erfolgreiche Arbeit fortzuführen. Genau das ist im Augenblick gefährdet. In unserem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir konkrete Vorschläge gemacht, wie wir zu einer kohärenten Strategie für die zivile Krisenprävention kommen können. Es ist jetzt an uns allen, aber vor allen Dingen an der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen, die Weichenstellungen vorzunehmen. Sie müssen unter Beweis stellen, dass Sie es wirklich ernst meinen und dass Sie wirklich davon überzeugt sind, dass zivile Krisenprävention Vorrang haben muss. Denn nur so kann deutsche Außenpolitik im Sinne Willy Brandts auch weiterhin Friedenspolitik sein. Die SPD-Fraktion wird daran mitarbeiten. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal haben wir allen Grund, froh zu sein, dass wir seit einem Dreivierteljahr den Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ haben. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle dem Vorsitzenden, Herrn Spatz, und auch der stellvertretenden Vorsitzenden, Frau Kerstin Müller, Dank und Anerkennung dafür aussprechen, dass es ihnen gelungen ist, ein übergreifendes Klima des Austausches und der Verständigung, aber nicht der Reibereien zu schaffen. Mit diesem Unterausschuss leisten wir - das gilt für alle, die in diesem Unterausschuss mitwirken - spürbar etwas für die Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Mit dem Aktionsplan ist seit dem Jahr 2004 etwas gelungen, was für Deutschland in den letzten Jahren eine Art Alleinstellungsmerkmal war; inzwischen ist es aber auch in anderen Ländern in der Europäischen Union relativ weit gediehen. Wir beziehen uns auf die Sicherheitsstrategie der Europäischen Union von 2003. Ich möchte jetzt nicht weiter auf den Aktionsplan und den Bericht dazu eingehen, sondern einige Punkte, die Sie, Frau Bulmahn, angesprochen haben, aufgreifen. Ihr Antrag enthält viele wichtige Punkte, und insbesondere Ihre Empfehlungen können wir weitestgehend mittragen. Folgendes kann ich jedoch nicht teilen: Ihre Kritik am Haushaltsansatz, an den angeblich mangelnden Strukturen und auch an der Gewichtung der zivilen Krisenprävention in der Arbeit der Bundesregierung. Mit der Konstituierung des Unterausschusses vollziehen wir geradezu die parlamentarische Vernetzung mit der politischen Leitungsebene in den Ressorts. Ferner hat der Ressortkreis im letzten Jahr mit den konzeptionellen Arbeiten zu der Frage begonnen, was vernetzte Sicherheit ist; sicherlich ist da noch viel zu leisten. Diese Aufgabe wird aber gemeinsam mit dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze und der SWP durchgeführt. Ich glaube, hier ist keinerlei Kritik angebracht. Selbst in unserem Koalitionsvertrag stellen wir politische und diplomatische Mittel an die erste Stelle; sie haben bei der Krisenprävention und -bewältigung Vorrang.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Raabe?

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie sagten, dass Sie unsere Kritik am Haushaltsansatz - an der finanziellen Ausstattung der kommenden Haushalte - nicht teilen. Hier geht es um die Frage, wie man die zivile Krisenprävention umsetzen kann. Ist Ihnen bekannt, dass sich die Organisationen, die die zivile Krisenprävention, die Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul sehr erfolgreich eingeführt und beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angesiedelt hat, durchführen und in allen Ländern hervorragende Arbeit leisten, zu Recht auf das Wort der Vorgängerin von Herrn Niebel verlassen haben, dass die entsprechenden Mittel kontinuierlich gesteigert werden? Es gibt nämlich auf der ganzen Welt viele Gebiete, in denen die zivile Krisenprävention sinnvoll eingesetzt wird. Ist Ihnen auch bekannt, dass die Mittel dafür gemäß der finanziellen Vorausschau, der Finanzplanung, eher zurückgefahren als gesteigert werden? Wie verträgt sich das mit Ihrer Aussage, dass finanziell alles zum Besten gestellt sei?

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Kollege. - Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte in meiner Rede genau darauf eingehen. Damit wir etwas Zeit sparen, möchte ich diesen Teil vorziehen, um damit auch Ihre Fragen zu beantworten. Ich nenne ein paar entscheidende Punkte. Sicherlich ist die zivile Krisenprävention integraler Bestandteil unseres Politikansatzes. Aber im Hinblick auf den finanziellen Anteil vergleichen wir hier Äpfel mit Birnen. Sie selbst haben der Einführung der Schuldenbremse zugestimmt. Wir alle leisten ressortübergreifend unsere Beiträge zur Einhaltung der Schuldenbremse. ({0}) Allerdings - das ist der entscheidende Unterschied - haben wir im Bereich der vernetzten Sicherheit allein für Afghanistan im letzten Jahr 400 Millionen Euro ausgegeben. Wir planen, in diesem Jahr 180 Millionen Euro allein für den Bereich der vernetzten Sicherheit in Afghanistan auszugeben. ({1}) Wir unterstützen das BICC, das Bonner Zentrum für Konversion, das im Südsudan aktiv ist. Hartwig Fischer und mir ist es gelungen, viele Hundertausend Euro für das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze und für den Verein für Mediation im Kosovo freizumachen. Das heißt, Hartwig Fischer und ich haben uns intensiv dafür eingesetzt, dass Mittel freigegeben werden. ({2}) Folgendes ist mir aber wichtiger - das ist ein entscheidender Punkt, auf den wir eingehen müssen -: Die heutigen finanziellen Ansätze liegen etwa auf der Höhe des Jahres 2008. Es war ein Verdienst des früheren Außenministers, dass es ihm im Jahr 2007 gelungen ist, die Mittel für zivile Krisenprävention von 12 Millionen auf 65 Millionen Euro zu erhöhen; heute liegen wir bei 68 Millionen Euro. ({3}) Wir haben die Mittel dafür gekürzt - das ist richtig -; aber das war im Rahmen des Gesamtansatzes bei der Haushaltskonsolidierung notwendig. ({4}) - Es sind nicht 30 Prozent, sondern 3 bis 5 Prozent. Ich möchte Ihnen vortragen, wie sich die Höhe der Mittel für zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit entwickelt hat - ich wusste, dass Sie darauf eingehen -: 12 Millionen Euro im Jahr 2007, 65 Millionen Euro im Jahr 2008, 110 Millionen Euro im Jahr 2009, 90 Millionen Euro im letzten Jahr. Jetzt liegen wir wieder auf der Höhe von 2008. Das sind immer noch 50 Prozent mehr, als Rot-Grün zur Verfügung gestellt hat. ({5}) Nach OECD-Kriterien gibt allein das BMZ 500 Millionen Euro für den Bereich „Frieden und Sicherheit“ aus; das Auswärtige Amt gibt für Krisenprävention in Afghanistan 180 Millionen Euro aus. Das heißt, wir liegen insgesamt - wir wollen das doch ressortübergreifend betrachten - bei über 750 Millionen Euro. Also ist es eine Milchmädchenrechnung, wenn Sie von einer Kürzung um 30 Prozent ausgehen. Die Mittel wurden nur um etwa 5 Prozent gekürzt. ({6}) Hinzu kommt - auch das sollten wir uns vor Augen führen -, dass bei akuten Krisen immer zusätzliche Mittel bereitgestellt werden. Dass unser Haushaltsansatz gut ist, zeigt der Mittelabfluss: Im Jahr 2009 sind 90 Prozent der Mittel abgeflossen, im letzten Jahr 95 Prozent. Das heißt, die Mittel für die zivile Krisenprävention werden bei uns wirksam eingesetzt. ({7}) Viel wichtiger ist aber, dass wir auch einige Ihrer Ansätze aufgreifen, die Strukturen straffen und wirksamer machen, dass wir uns auf inhaltliche Arbeit konzentrieren. Dazu enthält Ihr Antrag sehr gute Vorschläge. Ich möchte zwei Punkte nennen: die Definition von vernetzter Sicherheit - ein Punkt für unseren Unterausschuss, Herr Spatz - und ein Frühwarnsystem für Deutschland. Das sind Fragen, die mich ganz intensiv beschäftigen: Wo siedeln wir ein Frühwarnsystem für Deutschland an? Im Kanzleramt oder in einem Ministerium? Wer ist dafür verantwortlich? Außerdem - es klang vorhin auch in Ihrer Rede an, Frau Bulmahn -: Wir müssen viel mehr Werbung machen: für das, was Deutschland im Bereich ziviler Krisenprävention und vernetzter Sicherheit macht, aber auch für das, was die Regierung leistet. ({8}) Wir halten uns hier etwas zu weit im Hintergrund. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir das darstellen. ({9}) Ein anderer Punkt, der ganz entscheidend ist: Wir sollten unsere Mittel auch international sinnvoll einsetzen. Sie dürfen nicht verpuffen. Der Sudan ist ein gutes Beispiel, wie es funktionieren kann. Wir brauchen mehr Kohärenz zwischen der Europäischen Union, der NATO und vor allen Dingen der OSZE, weil diese Organisation gerade im Rahmen des Korfu-Prozesses in diesem Bereich sehr viel leisten kann. Ein weiterer Punkt, den ich heute früh in der Afghanistan-Debatte angesprochen habe: Was nützt uns das viele Geld, das wir für zivile Krisenprävention ausgeben, wenn wir nicht das Personal, die Fachkräfte in Deutschland gewinnen, die bereit sind, für lange Zeit dorthin zu gehen? ({10}) Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir dieses Problem gemeinsam lösen können. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir zivile Fachkräfte ins Ausland schicken, die dort ihre Erfahrungen einbringen, nach Deutschland zurückkehren und hier Klarheit schaffen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte abschließend sagen: Es nützt nichts, wenn wir Gutes tun; wir müssen auch darüber reden. Ich möchte das mit dem Frühwarnsystem verknüpfen: Wir brauchen eine Einrichtung, die Krisen erkennt, die langfristige Trends beobachtet, die eine enge Verbindung zu Thinktanks, der SWP, anderen Einrichtungen und der Wissenschaft hat, die in der Lage ist, unsere Einsätze in der Friedensarbeit weltweit zu begleiten, die im Ausland eine Kommunikationsstrategie verfolgt, die klarmacht, was Deutschland mit seiner zivilen Krisenprävention im Ausland erreichen will, die aber auch die deutsche Bevölkerung davon überzeugt. Wir tun viel Gutes. Wir müssen es aber besser in die Öffentlichkeit bringen. Das sollten wir gemeinsam anpacken. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die Bundesregierung 2004 den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ vorlegte, war ich beim Bund für Soziale Verteidigung beschäftigt; das ist ein Fachverband für gewaltfreie Politik und konstruktive Konfliktaustragung. Wir sahen diesen Aktionsplan damals mit gemischten Gefühlen: einerseits mit Erwartungen, weil wir immer gefordert hatten, dass die Politik die zivile Konfliktbearbeitung endlich ernst nimmt, andererseits mit großer Skepsis, weil auch dieser Aktionsplan nicht frei von militärischer Logik war. Das war auch nicht anders zu erwarten. Wenn wir uns erinnern: Damals befand sich die Bundeswehr schon drei Jahre im Krieg in Afghanistan. Auch unsere Projektpartner im Ausland haben uns immer wieder völlig zu Recht gefragt: Wie wollt ihr uns eigentlich im Friedensprozess unterstützen, während euer Land selbst Krieg führt? Für mich gehört deshalb beides zusammen: den Krieg zu bekämpfen, auch wenn er als humanitärer Einsatz oder Krieg gegen den Terror daherkommt, und gleichzeitig eine Kultur des Friedens, eine Kultur der Gewaltfreiheit zu entwickeln und umzusetzen. ({0}) Denn Gewalt - das sehen wir heute in Afghanistan - zerstört nicht nur auf der Gegenseite, sondern sie verändert auch unsere Gesellschaft, und das zum Negativen. Projekte wie der Zivile Friedensdienst haben daher eine ganz besondere, auch eine politische Dimension. Sie zeigen nämlich reale Alternativen auf, wo andere Krieg für alternativlos halten. Ich will aus dem Sudan berichten. Ich war im November letzten Jahres mit einigen Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion dort. Alle haben erwartet, dass es nach den Jahrzehnten blutigen Bürgerkriegs und nach dem schwierigen Prozess im Hinblick auf das Unabhängigkeitsreferendum jetzt zu neuen Gewalttaten kommen würde. Dass das nicht geschah, dafür haben auch die Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes im Sudan mit ihren Partnern gesorgt. Wir konnten die Ergebnisse im November beobachten. Sie haben es tatsächlich geschafft, die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen und sogar die verfeindeten Parteien zusammenzubringen und mit allen gemeinsam ein Aktionsprogramm für ein gewaltfreies Referendum zu erarbeiten - einen Friedensvertrag von unten, der von allen Beteiligten dann auch tatsächlich umgesetzt wurde. ({1}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann nur zivile Konfliktbearbeitung: Die Menschen unterstützen, eigene friedliche Lösungen zu finden. Aber die Vermittler können ihren Erfolg nicht mehr feiern. Ende 2010 wurde der zivile Friedensdienst im Sudan eingestellt. Die Fachkräfte sind ausgereist, und die so wichtige Unterstützung, die der DED dort bisher geleistet hat, unterbleibt. Warum? Das kann uns das zuständige Ministerium, das BMZ, immer noch nicht erklären. Ich frage Sie jetzt: Wie ernst nehmen Sie die zivile Krisenprävention, wenn Sie in so einer kritischen Situation ein solches Projekt beenden? ({2}) Eine Antwort auf diese Frage liefert der dritte Umsetzungsbericht. Über viele Seiten hinweg beschäftigen Sie sich da nämlich mit Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte, militärischer Ausbildungshilfe, militärischer Terrorismusbekämpfung, UNO-Militärmissionen, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU und sogar mit der NATO-Operation in Afghanistan. Ihnen ist, mit Verlaub, das Zivile tatsächlich völlig abhanden gekommen. Positive Beispiele wie der zivile Friedensdienst im Sudan kommen dabei unter die Räder. Deswegen ist dieser Bericht eine erschütternde friedenspolitische Bankrotterklärung. ({3}) Meine Fraktion, Die Linke, will einen konsequenten Ausbau der zivilen Konfliktbearbeitung, aber bitte nicht als Feigenblatt, sondern als ernsthafte Alternative zum Militär. Dafür braucht es mehr Ideen, mehr Mittel. Da unterstütze ich die Forderung von Frau Bulmahn. Wir brauchen mehr Personal, mehr ausgebildete Fachkräfte. Vor allem jedoch brauchen wir ein Ende der fatalen zivil-militärischen Zusammenarbeit, nicht nur in Afghanistan. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohin wir in diesen Tagen auch schauen, ob nach Tunesien oder Ägypten, auf das Referendum im Sudan - das wurde erwähnt -, auf die Elfenbeinküste oder auch auf die Krise in Afghanistan, über die wir heute Morgen sprachen -, alle diese Krisen zeigen: Wirksame Präventionspolitik ist bitter nötig. Wir suchen in all diesen Krisen, zum Teil auch Kriegen, nach Konzepten für einen dauerhaften Frieden, für einen Friedensaufbau. Ich gebe Ihnen recht: Das Referendum im Sudan ist, obwohl wir alle das Schlimmste befürchtet haben, nämlich dass es im Grunde schon während des Referendums zu einer Eskalation kommt, erst einmal ein gelungenes Beispiel ziviler Krisenprävention. Ich will das auch klar anerkennen. Ich glaube, dass wir alle daran mitgearbeitet haben. Wir haben das ja über den interfraktionellen Antrag gemeinsam, Frau Schuster - jetzt ist sie weg -, auf den Weg gebracht. Die Bundesregierung hat verschiedene Dinge umgesetzt. Jetzt muss es natürlich auch so weitergehen. Es bleibt nämlich nur dann bei der Abwesenheit von Gewalt, wenn die internationale Gemeinschaft jetzt entschlossen weiter zivile Krisenprävention betreibt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler?

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Müller, darf ich Sie, wenn Sie jetzt die große Gemeinsamkeit beschwören, daran erinnern, dass die Fraktion Die Linke bei diesem interfraktionellen Antrag zum Sudan wie auch bei allen anderen interfraktionellen Anträgen, die Sie im Bereich der auswärtigen Politik angestoßen haben, ausgegrenzt worden ist? Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir uns nicht für alles, was Sie in diesem Antrag als Konzept vorgelegt haben, so unwidersprochen vereinnahmen lassen wollen; denn auch in dem Sudan-Konzept spielt die militärische Karte wieder eine gewisse Rolle.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich nehme das zur Kenntnis. Ich will sehr deutlich sagen: Ich habe ja zu der ersten Runde auch die Linke eingeladen. Das muss man leider bei der Koalition und, ich glaube, vor allen Dingen bei der CDU abladen, die es im Grundsatz der Linken verweigert, gemeinsam über solche Anträge zu diskutieren. Das finde ich bedauerlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({0}) - Richtig. - Aber man lässt sie ja aus der Verantwortung. Wenn wir mit ihnen diskutiert hätten, wäre ja klar geworden, dass sie bestimmte Teile des Antrages nicht teilen. Ich glaube, da müssen Sie noch einmal in sich gehen. Wenn man nämlich möchte, dass Sudan ein gutes Beispiel ziviler Krisenprävention bleibt, dann darf man eines nicht tun: sogar Beobachtermissionen, die im Kern nach Kapitel 6 eingerichtet sind - das ist nämlich die UNMIS-Mission im Südsudan -, als Kriegseinsatz diffamieren und ablehnen. Das ist nun wirklich keine gelungene Präventionspolitik. ({1}) Ich möchte die Antwort noch ergänzen: Ihr Kollege van Aken - ich habe sehr gut hingehört - hat in der letzten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses ergänzt, dass die Linke erwartet, dass man das UNMIS-Mandat fortführt. Wir sind gespannt, ob Sie zustimmen. Ich komme zurück zum Thema: Der Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“ steht für eine Grundausrichtung deutscher Außenpolitik, die zwar unter der rot-grünen Regierung auf den Weg gebracht wurde, aber auch seinerzeit schon gemeinsam mit fast allen Fraktionen des Deutschen Bundestages im Bundestag beschlossen wurde. Das bedeutet: Deutschland will und muss vor allem zivile Friedensmacht in der Welt sein. Das ist der Anspruch des Aktionsplans. Ich glaube auch, dass es ein wichtiger weiterer Schritt war, den neuen Unterausschuss „Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ einzurichten. Das hat wieder Bewegung in die Sache gebracht. Das war auch notwendig. Obwohl es seit Jahren einen zusätzlichen Bedarf an zivilen Präventionsmaßnahmen gerade bei der UNO gibt und eigentlich jeder weiß, dass Vorbeugen nicht nur besser als Heilen, sondern auch billiger ist, müssen wir heute leider feststellen, dass die Regierungen seit 2005 die Umsetzung und die Weiterentwicklung des Aktionsplans sträflich vernachlässigt haben. Es hat zwar eine Aufstockung der Finanzmittel gegeben, Frau Buhlmann, aber politisch - das haben wir auch so bilanziert - hat der Aktionsplan keine wirkliche Rolle mehr gespielt und der Beirat vor sich hergedümpelt. Auch die Diskussionen im Ressortkreis finden nicht mehr auf Staatssekretärsebene, sondern auf einer ganz anderen Ebene statt. Das bedeutet eine Abwertung der zivilen Krisenprävention. Wir als Parlament müssen gemeinsam versuchen, mit diesem neuen Unterausschuss die zivile Krisenprävention zu stärken. Das ist unser Anliegen. ({2}) Meiner Meinung nach sieht man das auch im dritten Umsetzungsbericht - auch das haben wir ja gemeinsam Kerstin Müller ({3}) so bilanziert -, in dem erkennbar eher Defizite den roten Faden bilden: Viel zu viele Einzelmaßnahmen werden kommentarlos, kritiklos und eher konzeptlos aneinandergereiht. Es fehlen klare Zielvorgaben; es fehlt eine Wirksamkeitsanalyse der Politik anhand transparenter Kriterien. Deshalb ist es richtig, dass wir heute hier gemeinsam dieses Berichtswesen ändern. Wir hoffen, dass es jetzt zu einem Aktionsplan kommt, der klare Zielvorgaben gibt. Nur dann kommen wir in der Krisenprävention weiter. Ich möchte noch eine Anregung bezüglich eines Punktes geben, auf den wir uns bisher nicht einigen konnten. Man sucht immer noch nach einem politischen Kopf, nach so etwas wie einem „Mr Zivile Krisenprävention“ bzw. einer „Mrs Zivile Krisenprävention“. Wir alle, die wir hier sitzen, sind schon länger in der Politik und wissen, dass ein Thema, solange es einen solchen politischen Kopf nicht hat, auch nicht wirklich wichtig ist. Die Folge ist, der Ressortkreis steuert die Politik nicht, sondern begutachtet sie nur, und der Beirat soll beraten, wird aber nicht gehört. Deshalb haben wir eben keine systematische Frühwarnung. Wir handeln nicht frühzeitig. Das muss sich ändern. ({4}) Unsere Vorstellung ist, dass der Aktionsplan zu einer Art Roadmap wird, dass deutsche Friedenspolitik endlich als Querschnittsaufgabe umgesetzt wird. Ich finde es zum Beispiel sehr gut, dass Minister Niebel hier anwesend ist. Damit zeigt er, dass zivile Krisenprävention auch für die Entwicklungspolitik ein wichtiger Punkt ist. Es muss uns allen darum gehen, die zivile Krisenprävention aus der Nische ins Zentrum der Politik zu rücken. Ein weiterer wichtiger Vorschlag ist dabei - die Europäische Union hat das schon -, dass wir uns endlich ein ziviles Headline Goal, ein nationales ziviles Planziel setzen, anhand dessen man zeigen kann, wohin die Reise gehen soll. Man muss dann auch ganz klar beschließen, dass mehr zivile Fähigkeiten bei der EU und bei der UNO aufgebaut werden müssen. Dafür muss auch Deutschland Personalpools zur Verfügung stellen. Das ist nötig, damit die UNO und die Europäische Union auch wirklich als zivile Friedensmacht in der Welt auftreten können. Ich komme zum Schluss. Wenn wir die zivile Krisenprävention jetzt nicht stärken, dann werden wir - ich bezeichne das jetzt einfach einmal so - das AfghanistanTrauma nicht überwinden können. Man wird uns vielleicht irgendwann einmal vorhalten: Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, den bestraft das Leben. Ich hoffe, dass das nicht passiert. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Kerstin Müller hat es gesagt: Vorbeugen ist besser als heilen. Überheben wir uns nicht manchmal ordentlich? Sind wir nicht manchmal eine ganze Portion anmaßend? Wenn es so einfach wäre, wie Sie behaupten, wenn es einfach darum ginge, viel Geld zur Verfügung zu stellen, warum haben wir dann zum Beispiel - ich nenne Zahlen vom letzten Jahr - mindestens 300 Krisenherde, über 126 bewaffnete Auseinandersetzungen und mindestens 28 harte, militärische Auseinandersetzungen gehabt? Machen wir uns nichts vor: Viel Geld hilft nicht unbedingt viel. Wir müssen uns überlegen, wo und warum Krisenherde entstehen. Meistens entstehen sie dadurch, dass es in Entwicklungsländern ethnische Probleme gibt. Hier bewegen wir uns im Bereich der Kultur und der Traditionen. Ich frage mich: Wie wollen wir kurzfristig Kultur und Traditionen aufbrechen? Gehen Sie in die Länder und sagen Sie den Menschen, sie sollten mit ihrer Kultur und ihrer Tradition brechen, um Frieden zu schaffen. Das ist ein Bohren dicker Bretter, dass mir angst und bange wird. Das ist das eine. Das Zweite ist: Wo entstehen Krisen? Krisen entstehen vor allen Dingen dort, wo die Menschen keine wirtschaftliche Basis haben, wo sie nicht wissen, wie sie die Arbeitslosigkeit überwinden können, wo sie trotz guter Ausbildung bis hin zum Hochschulstudium keine Arbeitsplätze haben, wo sie mit einer Arbeitslosigkeit unter 16- bis 30-Jährigen von bis zu 50 Prozent zu kämpfen haben, wo ihre wirtschaftliche Basis nicht funktioniert bzw. gar nicht vorhanden ist. Dort entstehen Krisen. Als aktuelles Beispiel nenne ich Tunesien.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vogler von den Linken?

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schade, ich war gerade so mittendrin. Aber wahrscheinlich finde ich meinen Faden wieder, Frau Kollegin. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Aber ich weiß nicht, ob ich eine Kurzintervention genehmige. ({0}) Bleiben Sie lieber bei der Zwischenfrage, das geht schneller.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Kollegin Pfeiffer. - Sie haben ausgeführt, dass Sie es als Anmaßung empfinden, wenn behauptet wird, dass einfach nur ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Sicherlich können wir damit nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Da haben Sie völlig recht. Geld alleine ist nicht alles. Das se9926 hen wir daran, dass zum Beispiel die am höchsten gerüstete Militärmacht, nämlich die USA, die eine Menge für ihre angebliche Sicherheit ausgibt, trotzdem nicht unangreifbar ist. Ich möchte auf Ihre Ausführungen eingehen. Sie haben gesagt, zugrunde liegen meist ethnische Konflikte, und dabei geht es um Kultur und Tradition. Diesem Punkt möchte ich gerne widersprechen, gerade auch durch meine Erfahrung im Sudan. Natürlich entbrennen die Konflikte häufig an ethnischen Grenzen, aber die unterschiedlichen Ethnien werden auch gezielt gegeneinander gehetzt und gezielt instrumentalisiert, weil es um Macht und Ressourcen geht, weil es um Land oder Wasserreserven oder andere natürliche Reserven geht, die von Interesse sind. Wir könnten durchaus mehr tun, indem wir dafür sorgen, dass die Menschen in anderen Ländern die Möglichkeit bekommen, ihre Wirtschaft solide aufzubauen, dass sie nicht von Ausbeutung ihrer Bodenschätze oder von Landraub betroffen sind, und indem wir eine Klimapolitik machen, die der Versteppung und Verwüstung großer Teile Afrikas entgegenwirkt. Stimmen Sie mir zu, dass wir diesen Bereich stärker gewichten sollten und dort viel mehr Mittel zur Verfügung stellen sollten?

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich in meiner Rede nicht ausgeschlossen, oder? Ich habe gesagt: zum Beispiel. Natürlich ist auch das ein Teil der Friedens- und Konfliktpolitik, die vor Ort gemacht wird. Insofern sind wir nicht weit voneinander entfernt. Wir würden wahrscheinlich andere Ansätze wählen, und die Ideologie wäre sicherlich eine andere, aber im Prinzip bin ich bei Ihnen. Ich sprach gerade davon, dass es wichtig ist, den Menschen eine wirtschaftliche Basis zu ermöglichen. Wir machen in der Entwicklungszusammenarbeit viel in Sachen Bildung und Ausbildung. Ich glaube, dass wir in der Entwicklungszusammenarbeit sehr wohl erfolgreich waren, was die Zahl der jungen Menschen angeht, die wir ausgebildet und denen wir Weiterbildungsmöglichkeiten eröffnet haben, denen wir berufliche Bildung ermöglicht haben. Das ist ein Teil der Prävention, die wir anbieten können. Der andere Teil der Prävention ist, Unterstützung zu leisten, wenn es darum geht, kleine und mittlere Betriebe aufzubauen und ihre Existenz zu sichern. Dabei spielt das Handwerk eine wichtige Rolle. In Deutschland stellt das Handwerk die gesellschaftliche Basis dar, aber in den Entwicklungsländern finden wir kaum Handwerksbetriebe, die Jugendliche ausbilden und Dienstleistungen anbieten. Insofern haben wir dort ein breites Betätigungsfeld, auf dem wir unterstützend tätig sein können. Ich glaube nicht, dass wir dafür sehr viele Mittel brauchen. Notwendig ist einerseits der politische Wille. Andererseits aber - damit komme ich wieder zum Thema „anmaßend und überheblich“ - reicht der politische Wille alleine nicht aus. Entscheidend ist, dass auch unsere Partner vor Ort wollen und mitziehen. Wir können ihnen nicht etwas aufzwingen, indem wir sagen: Wenn ihr macht, was wir euch vorschlagen, dann ist alles wunderbar. - Stattdessen sind Überzeugungsarbeit und der Wille zum Frieden notwendig. Es gibt viele Ursachen, warum der Wille zum Frieden nicht vorhanden ist, unter anderem aus den von Ihnen genannten Gründen, Frau Vogler; da kann ich Ihnen durchaus zustimmen. Ganz kurz noch zu dem Bericht der Bundesregierung und dem Antrag der SPD; das ist mir noch wichtig. Auch viele Berichte helfen nicht viel. Wenn wir das Berichtswesen jetzt verschärfen, ändert das nichts an den Problemen vor Ort. Auch durch eine zusätzliche Staatssekretärsrunde erzielen wir weder einen politischen Mehrwert noch mehr Informationen, die wir uns unter Umständen wünschen. Deshalb kommen wir an diesem Punkt nicht zusammen. Aber ein Großteil des Antrages ist sehr wohl unterstützenswert, und aus diesem Grunde werden wir konstruktiv weiter miteinander arbeiten. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Dritten Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsplans „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4272 in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 17/2300 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4532 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche - Drucksachen 17/3173, 17/3733 Berichterstattung: Abgeordnete Gitta Connemann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Matthias Zimmer von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren über ein Thema, das in den Verhandlungen des Vermittlungsausschusses eine wichtige Rolle spielt. Insofern kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es heute weniger um Lösungsansätze für dieses Thema als vielmehr um eine öffentlich inszenierte Empörung im Stil der Anklage durch die Opposition geht. ({0}) - Das kann ich verstehen, Frau Mast. ({1}) Ich denke, die Zwischenrufe, die von der linken Seite des Hauses kommen, bestätigen den Verdacht, den ich hatte, sehr deutlich. ({2}) Ich darf um Verständnis dafür bitten, dass ich am Beginn der Debatte zunächst einige sehr sachliche Anmerkungen mache. ({3}) Zunächst einmal scheint es einen sehr breiten Konsens darüber zu geben, dass im Bereich der Weiterbildung Handlungsbedarf besteht. ({4}) So hat auch der Staatssekretär Brauksiepe in der Debatte am 7. Oktober 2010 ausgeführt, dass er die Forderungen nach einem Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche im Grundsatz für richtig hält. Das Ministerium hat den Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines entsprechenden Tarifvertrages dennoch abschlägig beschieden, weil eine zentrale Voraussetzung nicht vorlag, nämlich die Repräsentativität des Tarifvertrages. ({5}) Die Tarifbindung belief sich allenfalls auf 25 Prozent. ({6}) Insofern verstehe ich den Wunsch des Staatssekretärs Brauksiepe, der in der letzten Debatte gesagt hat: Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt gefordert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mitglieder zu gewinnen, um so zu einer höheren Tarifbindung in der gesamten Branche zu kommen. Dabei sind wir, so höre ich, auf einem guten Weg. Ich möchte aber noch eine etwas grundsätzlichere Überlegung nachschieben. Es geht um den Begriff des öffentlichen Interesses, wie er im Tarifvertragsgesetz vorkommt. Niemand hindert uns ja beispielsweise daran, das Erfordernis der Repräsentativität im Entsendegesetz im Wege der Gesetzgebung für den Fall einzuschränken, dass ein öffentliches Interesse vorliegt. Wir sprechen hier nämlich über einen Bereich, der durch ein staatliches Nachfragemonopol gekennzeichnet ist. Die Bundesagentur für Arbeit und die Optionskommunen fragen diese Leistungen exklusiv für die Bereiche des SGB II und des SGB III nach. Die Aus- und Weiterbildung dient einem öffentlichen Interesse, nämlich der Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Das öffentliche Interesse ist also durch die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen umschrieben. Wir wollen, dass das zur Aus- und Weiterbildung eingesetzte Geld effektiv und nachhaltig eingesetzt wird. Ob dies dort der Fall ist, wo Dumpinglöhne gezahlt werden, bezweifle ich. ({7}) Die Aus- und Weiterbildung einem ruinösen Lohndumping zu unterwerfen, dient also nicht dem öffentlichen Interesse, eher im Gegenteil: Von Lehrkräften, die deutlich unter einem angemessenen Einkommen bezahlt werden, kann ich vermutlich eher keine effektive und nachhaltige Aus- und Weiterbildungsleistung erwarten, ({8}) durch die arbeitslose Menschen befähigt werden, wieder in Arbeit zu kommen. Insofern liegt die Unterbindung einer solchen Abwärtsspirale durchaus im öffentlichen Interesse. ({9}) Das Geld, das hier nur scheinbar eingespart wird, müssen wir an anderer Stelle vielleicht doppelt und dreifach ausgeben. ({10}) Nun ist gesagt worden: Selbst wenn wir eine Erstreckung des Tarifvertrages erreichen, gilt das nicht für alle potenziellen Anbieter. - Das ist richtig. Ich denke aber, dass man diesem Problem durch eine Änderung in der Vergabeordnung beikommen kann. Bildungsträger, die sich um Aufträge der Bundesagentur für Arbeit bemühen, müssen gemäß der Anerkennungs- und Zulassungsverordnung Weiterbildung zertifiziert sein. Die darin formulierten Anforderungen an die Träger sind vielfältig. Es geht dort um didaktische und fachliche Eignungen, um Qualitätssicherung, um Kenntnisse des Arbeitsmarktes und vieles mehr. Die Erfüllung der Anforderungen ist durch den Träger umfassend nachzuweisen. Warum nimmt man in den Zertifi9928 zierungsprozess nicht auch die Anforderung auf, dass eine anständige Bezahlung geleistet wird, was in der Regel durch die Mitgliedschaft in einem Tarifverbund nachgewiesen wird? ({11}) Was spricht dagegen, den Fachkundenachweis durch einen Nachweis solider Betriebsführung zu ergänzen, der durch tarifliche Bezahlung erbracht wird? Eines ist doch auch wahr: Solide und nachhaltige Betriebsführung hat auch etwas damit zu tun, Mitarbeiter zu binden. Dort, wo Dumpinglöhne gezahlt werden, ist die Fluktuation der Mitarbeiter hoch und die Nachhaltigkeit der Arbeit niedrig. Also könnte es auch hier im öffentlichen Interesse liegen, die Nachhaltigkeit der Arbeit und die Solidität der Betriebsführung zu fördern. ({12}) Eine letzte Frage: Warum ist der damalige Verordnungsgeber im Jahr 2004 nicht auf den Gedanken gekommen, diesen wichtigen Aspekt zum Bestandteil der Zertifizierung zu machen? ({13}) Die Debatte über einen Mindestlohn in der Weiterbildung ist mit vielen juristischen Fallstricken behaftet. Über das Ziel sind wir uns weitgehend einig, anders als bei der Frage des gesetzlichen Mindestlohns. Ich hoffe sehr, dass bei den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss genügend juristische und politische Kreativität zusammenfließt, um dieses Problem einer sauberen, nachhaltigen und für die Betroffenen vorteilhaften Lösung zuzuführen. Danke schön. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Katja Mast von der SPDFraktion.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Zimmer, Ihre Rede bietet im Vergleich zu der Debatte, die wir am 7. Oktober geführt haben, immerhin schon eine Perspektive. ({0}) Sie haben akzeptiert, dass es in der Weiterbildungsbranche ein Problem gibt. Wohlgemerkt, es geht um die 23 000 Beschäftigten dieser Branche, die nur Aufträge der Bundesagentur für Arbeit ausführen. Sie ringen um eine Lösung des Problems. Auch das ist ein Mehrwert der heutigen Debatte. Ich will aber auch die Unterschiede betonen. Wir, die SPD, haben einen Antrag vorgelegt, in dem wir vorschlagen, den Mindestlohntarifvertrag der Branche über das Entsendegesetz für allgemeinverbindlich zu erklären. Das ist unser Weg, um die Würde der Arbeit in der Weiterbildung zu schützen. Sie sagen, dass das nicht möglich ist; der Tarifvertrag sei nicht repräsentativ. Das sei Vorschrift. Im Gesetz gibt es aber keine solche Vorschrift. Insofern besteht ein Unterschied im Handeln: Wir müssen uns nicht hinter juristischen Argumenten verstecken, wie Sie das in den Debatten tun, sondern wir fordern die schwarz-gelbe Regierung auf, zugunsten der Beschäftigten politisch zu handeln und dadurch etwas zu erreichen. ({1}) Es geht darum, das, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht, in die Tat umzusetzen. Ich will kurz darauf eingehen. Ihr Koalitionsvertrag trägt die Überschrift „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“. Auf Seite 1, noch in der Gliederung, findet sich der wichtige zweite Punkt „Bildungsrepublik Deutschland“. Auf Seite 52 findet sich der folgenschwere Satz: Qualität in Bildung und Erziehung erfordert besonders gut ausgebildete Fachkräfte. ({2}) Auf Seite 54 findet sich der wichtige Satz: Lebensbegleitendes Lernen zu stärken ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, wenn Sie diese Sätze ernst nehmen, dann hätten Sie schon im Oktober unserem Antrag zustimmen können. Dann hätten Sie mit uns gemeinsam den Weg gehen können, für die 23 000 Beschäftigten in der Weiterbildungsbranche einen Mindestlohn zu vereinbaren. Wohlgemerkt, es geht um einen Stundenlohn von 10,93 Euro für pädagogische Kräfte in den neuen Bundesländern und von 12,28 Euro in den alten westdeutschen Bundesländern. Für pädagogische Arbeit, lebensbegleitendes Lernen und die Bildungsrepublik Deutschland ist das nicht zu viel. ({3}) In Ihrem Koalitionsvertrag finden sich viele warme Worte. Wir wollen keine kalten Taten, sondern warme Taten von Ihnen. ({4}) - Wir wollen keine heißen Nadeln. Damit haben Sie vielleicht den Koalitionsvertrag gestrickt. Ich hatte gestern Abend das Vergnügen, in Ihrem Koalitionsvertrag nachzulesen, was Sie darin über die Würde der Arbeit schreiben. Kein Treffer. Was steht über gute Arbeit im Koalitionsvertrag? Kein Treffer. In Ihrem gesamten Koalitionsvertrag setzen Sie sich nicht mit der Kernfrage auseinander, dass Menschen, die arbeiten gehen und mit ihren Steuermitteln zum Wohlstand dieser Republik beitragen und Bildung und Straßen finanzieren, von ihrer Hände Arbeit leben und in Würde arbeiten gehen sollten. Das ist der Kernkonflikt zwischen Ihnen und uns. ({5}) Deshalb bringen wir diesen Antrag ein. Ich freue mich darauf, bei diesem Thema weiterhin den Finger in die Wunde zu legen. Wenn wir bei den Regelsätzen nicht gemeinsam weiterkommen - das ist unsere Kernforderung -, dann werden wir wieder einen entsprechenden Antrag hier im Deutschen Bundestag stellen; denn heute werden Sie wahrscheinlich nicht den Mut finden, unserem Antrag zuzustimmen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Mast, ich freue mich immer, wenn Sie den Finger in die Wunde legen wollen. Das ist auch die Aufgabe der Opposition. Sie haben einen ganz konkreten Weg vorgeschlagen, was Sie machen wollen. Sie müssen sich schon noch etwas Besseres überlegen, damit der Finger auch richtig wehtut; ({0}) denn mit dem Antrag, den Sie hier vorgelegt haben, gelingt das, ehrlich gesagt, nicht. Noch einmal: Die Bundesregierung entscheidet über die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, nicht das Parlament. Ich sage das aus einem bestimmten Grund. ({1}) - Das sind politische Entscheidungen. Ich komme gleich darauf zurück. Sie werden schon noch merken, warum ich das sage. ({2}) Es wurde eben schon gesagt: Sogar der Herr Parlamentarische Staatssekretär Brauksiepe hat für das inhaltliche Anliegen Sympathie erkennen lassen. ({3}) Er hat aber auch klar gesagt: Die Bundesregierung kann nicht einfach nach Gutdünken entscheiden, sondern sie muss klare Voraussetzungen zugrunde legen. - Diese sind eben nicht gegeben. Ich weiß, Frau Kollegin Müller-Gemmeke wird wahrscheinlich gleich ausführen, ({4}) dass das öffentliche Interesse und die Kriterien, die wir anführen, natürlich dem Tarifvertragsgesetz entnommen sind. Aber die Bundesregierung muss klare Kriterien suchen. Dazu kann ich nur sagen: Da liegt es doch sehr nahe - es ist vernünftig, und es ist unsere politische Auffassung, dass es gut ist -, das Votum des Tarifausschusses heranzuziehen. Da ist mit drei zu drei geurteilt worden. ({5}) Es hat es noch nie in der Bundesrepublik gegeben, dass ein Tarifvertrag nach Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärt wurde, der keine Mehrheit im Tarifausschuss hatte. Das ist auch gut so. Das wird es auch hier nicht geben, weil der Tarifausschuss dafür da ist, die volkswirtschaftliche Gesamtsicht zu berücksichtigen und die Entscheidung dem politischen Gutdünken zu entziehen. Deshalb - das ist einer der beiden Gründe - werden wir Ihren Antrag ablehnen, liebe Frau Kollegin. ({6}) Der zweite Grund betrifft die Repräsentativität. Wenn Sie beide Augen zudrücken, kommen Sie auf einen Repräsentativitätsgrad von maximal 25 Prozent. Das heißt, 25 Prozent der Beschäftigten der Branche sind von dem Tarifvertrag überhaupt erfasst. Ich sage: Das öffentliche Interesse hat auch etwas damit zu tun, einen fairen Ausgleich zwischen der Mehrheit und der Minderheit herzustellen. Das heißt aber nicht, dass die Minderheit die Mehrheit binden kann. Wenn weniger als 25 Prozent der Beschäftigten allen anderen Arbeitnehmern und Arbeitgebern etwas diktieren können sollen, dann ist das nicht fair, liebe Kollegin Mast, und ist ein falscher Weg. Das ist der zweite Grund, warum wir Ihren Vorschlag ablehnen. ({7}) - Oh, das wirft mich ja jetzt geradezu aus dem Konzept. Ich will eine Frage herausarbeiten. Die ist nämlich ganz spannend, Frau Kollegin Mast. Sie haben eben vom politischen Willen gesprochen. Ich habe schon gesagt, dass es noch nie geschehen ist, dass ein Tarifvertrag mit einer so geringen Repräsentativität ohne Mehrheit im Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklärt worden ist. Wie verhielt es sich denn mit dem Tarifvertrag? Er war Johannes Vogel ({8}) am 31. August 2009 im Tarifausschuss. Ganz interessant ist, dass zu diesem Zeitpunkt auch noch ein anderer Tarifvertrag im Tarifausschuss behandelt wurde. Dabei ging es um das Wach- und Sicherheitsgewerbe. Zwischen den beiden Fällen gibt es erstaunliche Gemeinsamkeiten bzw. Parallelen. Auch die Branche des Wachund Sicherheitsgewerbes steht im Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Es hat einen Antrag gegeben, und es hat einen Mindestlohntarifvertrag gegeben. Der Tarifausschuss wurde befasst, und die Repräsentativität war sogar höher. Das Votum war drei zu drei. Seltsamerweise beantragen Sie nicht, dass dieser Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Warum? Vielleicht weil das ein Tarifvertrag war, bei dem im Tarifausschuss die Arbeitgeberseite für die Allgemeinverbindlichkeit votiert hat, aber die Arbeitnehmerseite, zumindest die DGB-Vertreter, dagegen war, weil er mit einer christlichen Gewerkschaft ausgehandelt wurde. Es ist legitim, dass die Arbeitnehmerseite das so vertritt, aber das zeigt doch, wie wichtig es ist, dass wir objektive Kriterien haben und nicht politisches Gutdünken zugrunde legen. Das ist nämlich das, was Sie wollen. An dieser Stelle passt es Ihnen nicht, obwohl dieselben Voraussetzungen vorliegen wie bei der Weiterbildungsbranche. In beiden Fällen war das Votum drei zu drei im Tarifausschuss. Der Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit passt Ihnen aber politisch nicht, und deshalb sind Sie dagegen. Das zeigt, dass es sehr richtig ist, dass wir die Allgemeinverbindlichkeit aufgrund klarer und objektiver Kriterien erklären. Wichtig ist das Kriterium der Repräsentativität. Arbeitgeber und Arbeitnehmer - das deutsche Erfolgsmodell der Tarifautonomie - sollen sich gemeinsam dafür entscheiden, dass der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Wir liefern diese Entscheidung nicht dem politischen Gutdünken aus. Sie, liebe Frau Kollegin Mast, haben mit der Ungleichbehandlung des Wach- und Sicherheitsgewerbes und der Weiterbildungsbranche wieder einmal bewiesen, warum das so richtig ist; denn sonst herrscht politische Willkür. Das ist übrigens auch der Grund, warum wir gegen den gesetzlichen Mindestlohn sind. Dann wäre die Lohnfindung nämlich nicht mehr in der Hand der Tarifvertragsparteien, sondern sie wäre der politischen Willkür ausgeliefert. Wir würden dann einen Überbietungswettbewerb erleben. Das wäre das Ergebnis Ihrer Ungleichbehandlung. Das haben Sie nicht erwähnt und nicht erklärt. Bei uns ist die Tarifautonomie in guten Händen; denn wir akzeptieren politisch, dass es die Aufgabe von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist, darüber zu entscheiden, und dass Allgemeinverbindlichkeiten an klare Kriterien geknüpft sein müssen, damit sie im Interesse des Ganzen und aller Menschen liegen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Neue Argumente - ich habe mich so darauf gefreut habe ich seit der ersten Lesung im Ausschuss von Ihnen leider nicht gehört. Ich muss Sie enttäuschen: Bei uns hat es deshalb auch keinen Meinungsumschwung gegeben. Ihr Antrag ist nichts anderes als eine reine Showveranstaltung. Er ist nicht vernünftig und ist der falsche Weg, die Qualität in der Weiterbildung zu sichern. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde nicht, dass das eine Showveranstaltung ist. Ich durfte im Vermittlungsausschuss bislang noch gar nicht mitreden. Von daher fühle ich mich völlig ausgeschlossen. Selbst wenn Sie alle hier nur meinetwegen säßen, damit ich einmal mitdiskutieren kann, dann wäre das doch ein Grund. Herr Zimmer, ich bin nicht dafür da, Herrn Brauksiepe zu rehabilitieren. Er hat schon vor zwei Jahren in seinem Wahlkreis einen Mindestlohn in der Weiterbildung versprochen. Aber zwei Jahre lang ist nichts passiert. Auch das Ministerium, in dem er jetzt arbeitet, hat einen Mindestlohn in der Weiterbildung abgelehnt. Da er gesagt hat: „Im Grunde bin auch ich für einen Mindestlohn“, müssen doch die Menschen in seinem Wahlkreis fragen: Was ist denn aus dem geworden, was Sie uns vor zwei Jahren versprochen haben? Dass erst jetzt etwas passiert und dass es so lange dauert, bis Menschen zu ihrem Recht kommen, empfinde ich vom Grundsatz her als eine absolute Katastrophe. ({0}) Zwei geschlagene Jahre wird daran gearbeitet, und erst jetzt passiert etwas. Aber nun wird alles hin und her diskutiert. So habe ich mir Politik nicht vorgestellt. Sie haben ein Plädoyer zugunsten der Tarifpolitik gehalten. Toll! Jeder Tarifpolitiker weiß: Tarifpolitik ist schneller als der Bundestag. Die Tarifpolitiker kommen wenigstens zu Ergebnissen. ({1}) Sie reden miteinander, diskutieren und tauschen Argumente aus. Dann gibt es am Ende Tarifverträge. Wenn das nicht klappt, dann gibt es beispielsweise einen Streik. Aber man hat ein Ergebnis und schiebt solche Probleme nicht über Jahre vor sich her. Ich persönlich empfinde es als eine absolute Katastrophe, dass man ausgerechnet im Bereich der Weiterbildung über dieses Thema reden muss. In der Weiterbildung arbeiten hochqualifizierte Leute. Das sind Leute, die ein Pädagogikstudium abgeschlossen haben bzw. Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft studiert haben. Herr Lange, Sie dürfen sich gerne umdrehen und mir zuhören; das fände ich fair. ({2}) - Es ist nett, dass Sie sich umgedreht haben. Vielen Dank. ({3}) Sich um den Bereich der Weiterbildung nicht zu kümmern und gleichzeitig über Facharbeiterqualifikation zu reden, das empfinde ich als ein absolutes Vorführen von Menschen. Es kann nicht sein, dass alle sagen: „Wir brauchen qualifizierte Fachkräfte“, und dass man denjenigen, die qualifiziert sind und in der Weiterbildung arbeiten, ein vernünftiges Entgelt vorenthält. Nun zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage, ob die Tariffähigkeit nachgewiesen ist. Nach Ihren Informationen liegt der Anteil bei nur 25 Prozent. ({4}) Die zuständigen Gewerkschaften haben mir gesagt, es gebe nicht nur die direkte Tarifbindung. Vielmehr gibt es noch Haustarifverträge und Anerkennungstarifverträge, die genau das anerkennen, was die Tarifvertragsparteien vereinbaren. Addiert man alles, dann kommt man in der Summe auf weit über 50 Prozent. Das heißt in der Konsequenz: Die Grundlage, von der Sie ausgegangen sind, nämlich dass es nur 25 Prozent sind, ist nicht richtig. Die Gewerkschaften selbst vertreten etwas völlig anderes. Ich kenne auch die Praxis, dass Arbeitgeber manchmal Haustarifverträge und Anerkennungstarifverträge abschließen, weil sie sich nicht an einen Arbeitgeberverband binden wollen. Das ist die Realität, auch in dieser Branche. Wenn Sie dies nicht anerkennen, dann haben Sie haarscharf am Ziel vorbeigeschossen. Ich hoffe, dass im Vermittlungsausschuss - obwohl ich nicht dabei bin - etwas Positives für die Menschen herauskommt. Es geht nicht darum, ob und wie wir hier über solche Dinge diskutieren und ob es einen Schlagabtausch gibt, sondern darum, dass die Menschen endlich das bekommen, was sie brauchen; deswegen sind wir hier. Ich appelliere daher an diejenigen, die am Geschehen viel direkter als ich beteiligt sind: Sorgen Sie für einen Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche! Wenn Ihnen daran wirklich gelegen ist, dann stimmen Sie dem Antrag der SPD genauso wie wir zu. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Dr. Zimmer, ich höre immer wieder gerne Ihre Reden und Ihre wohlüberlegten Worte, und ich bin oft Ihrer Meinung. Die Frage ist aber immer: Welche Unterstützung haben Sie eigentlich in Ihrer eigenen Fraktion, wenn Sie so reden und solche Vorschläge machen? Vor allem frage ich mich: Welche Unterstützung haben Sie bei der FDP? Ich gehe davon aus, dass sie minimal ist. Das ist die eine Sache. Das Zweite ist: Ich habe zu meinem Bedauern nicht gehört, dass Sie handeln werden, wann Sie handeln werden, wie Sie handeln werden, dass es in der Weiterbildungsbranche wirklich vorangeht. Außerdem muss ich sagen - wir bleiben dabei -: Mindestlöhne sind notwendig; sie müssen bei uns in Deutschland endlich Realität werden. ({0}) Auch heute muss öffentlich gesagt werden, mit welch schräger Begründung die Bundesregierung - Herr Vogel, ich halte daran fest - den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche abgelehnt hat. Sie sagen, es sei kein öffentliches Interesse vorhanden, weil die Tarifbindung höchstens 25 Prozent betrage, ({1}) während laut Ihrer merkwürdigen Interpretation 50 Prozent notwendig seien. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz kennt aber keine 50-Prozent-Schwelle; die kennt nur das Tarifvertragsgesetz. Wegen dieses Sachverhalts habe ich über eine Kleine Anfrage genauer nachgefragt. In der Antwort der Bundesregierung konnte man sehen, dass sie kleinlauter geworden ist. Plötzlich wurde nur noch von einer „gewissen Tarifbindung“ gesprochen, und zwar mit einem Verweis auf einen Kommentar von Professor Thüsing und Professor Bayreuther. Natürlich ist eine „gewisse Tarifbindung“ notwendig; schließlich wollen wir alle nicht, dass irgendein Hungerlohntarifvertrag der vermeintlich christlichen Gewerkschaften für allgemeinverbindlich erklärt wird. ({2}) Dennoch: Was heißt denn nun eine „gewisse Tarifbindung“, bezogen auf die Weiterbildungsbranche? Diese Antwort ist uns die Bundesregierung schuldig geblieben. Es reicht auch nicht, einen passenden Kommentar zur Tarifbindung zu suchen und sich dann bei der Frage nach den Kriterien, wann ein öffentliches Interesse gegeben ist, in Schweigen zu hüllen. Die Bundesregierung hätte einfach einmal den Kommentar von Professor Thüsing weiterlesen müssen. Zwei Seiten weiter kommentiert er nämlich das „öffentliche Interesse“. Dort steht, dass auch im Tarifvertragsgesetz allgemeine sozialpolitische Zielsetzungen berücksichtigt werden dürfen. Dann heißt es - jetzt wird es richtig interessant; hören Sie gut zu; ich zitiere -: Erst recht wird das im Geltungsbereich des neuen AEntG gelten müssen, nachdem der Gesetzgeber … ausdrücklich festgelegt hat, dass das Gesetz faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen gewährleisten, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erhalten und die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Tarifautonomie sichern soll. Es müssen also nicht eine Tarifbindung von 50 Prozent, sondern nur eine gewisse Tarifbindung und vor allem sozialpolitische Zielsetzungen laut Arbeitnehmer-Entsendegesetz berücksichtigt werden, und deswegen - ich bleibe dabei - ist die Begründung für die Ablehnung des Mindestlohns in der Weiterbildungsbranche schlichtweg nicht akzeptabel. ({3}) Mein Fazit: Die Bundesregierung interpretiert die Gesetzeslage falsch, und zwar zulasten der Beschäftigten. Vor allem sind die Bundesregierung und auch Sie, die Regierungsfraktionen, nicht in der Lage, eine sozialpolitische Vision dafür, was öffentliches Interesse in der Zukunft ist, zu entwickeln. Besonders skandalös und unverständlich finde ich das bei der Weiterbildungsbranche im Bereich SGB II und III. Ich appelliere also an die Regierungsfraktionen: Gehen Sie in sich! Lesen Sie nochmals ganz genau die Kommentare zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz, und unterstützen Sie den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche! Denn die Beschäftigten haben faire Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne verdient. Am Schluss muss ich Ihnen auch noch sagen: Seien Sie doch nicht immer dagegen - insbesondere nicht gegen Mindestlöhne! Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegen von der SPD, ja, Sie haben erkannt, dass Weiterbildung ein zentraler Aspekt bei der Erhaltung des Arbeitskräftepotenzials in unserem Land ist. Ja, wir wollen das dritte arbeitsmarktpolitische Instrument fortführen. Im Frühjahr letzten Jahres haben wir uns mit der SPD auf eine Jobcenterreform einigen können. Im Herbst haben wir versucht, eine Änderung der Regelsätze auf den Weg zu bringen. Da sind Sie schon von Bord gegangen, liebe Freunde von der SPD. ({0}) Derzeit laufen - Kollege Zimmer hat soeben darauf hingewiesen - zähe Verhandlungen im Vermittlungsausschuss. Als Nächstes wollen wir uns im Frühjahr der Flexibilisierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zuwenden. ({1}) - Ich würde sie zulassen, wenn der Präsident es erlaubt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dann können Sie gerne eine Zwischenfrage stellen, Frau Mast. Er hat schon erklärt, dass er sie zulassen will. Frau Mast, bitte.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident und Herr Kollege Lehrieder. - Ich habe folgende Frage: Sie rekurrieren bei den Verhandlungen über die Regelsätze für Arbeitslosengeld-II-Empfänger die ganze Zeit auf den Vermittlungsausschuss. Dort spielt das Thema Mindestlohn auch eine Rolle. Welche - vor allen Dingen mit den Bundesländern - abgestimmte Position hat SchwarzGelb denn zum Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben insbesondere im Hinblick auf den 1. Mai 2011 eine Diskussion über einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche geführt. Im Übrigen haben wir, sowohl die Kollegen von der FDP als auch wir von der CDU/CSU, unsere Verhandlungsführer in den Verhandlungen sitzen. Sie werden Verständnis dafür haben, ({0}) dass man Verhandlungen nicht quasi auf dem Marktplatz des Plenums des Bundestags führen kann. Das würde Ihnen so passen. Nein, liebe Kollegen, dazu werden Sie von mir keine Antwort erwarten können. ({1}) Sie haben auch keine Antwort erwartet, wenn Sie ehrlich sind. ({2}) Ich habe bereits die Flexibilisierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente erwähnt. Die Vorredner haben bereits auf das staatliche Nachfragemonopol hingewiesen, das gerade in der Weiterbildung natürlich bei der öffentlichen Hand liegt. Meine Damen und Herren von der SPD, auch die christlich-liberale Koalition erkennt die zentrale Bedeutung von Weiterbildungsmaßnahmen an. Allerdings sehen wir einen Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche als nicht zielführend an. In den Tarifverhandlungen der Vergangenheit sind Löhne für einfache Arbeiten oft so weit angehoben worden, dass sie für viele Unternehmen schlicht zu teuer wurden. In der Weiterbildung wird hochqualifizierte Arbeit geleistet; das will ich nicht verhehlen. Oft blieben die niedrigsten Tarifgruppen unbesetzt. In den vergangenen Jahren wurden in manchen Branchen Arbeitsplätze gestrichen oder ins Ausland verlagert. Von der Schaffung neuer Stellen konnte keine Rede sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der SPD, Sie bewegen sich auf dem falschen arbeitsmarktpolitischen Weg. Das Aushandeln der Löhne muss grundsätzlich die Aufgabe der Sozialpartner sein und auch bleiben; denn eine funktionsfähige Tarifautonomie braucht starke Arbeitgeberverbände und starke Gewerkschaften. Ich hätte nie gedacht, dass ich hier im Plenum des Bundestags einmal für starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände plädieren darf. In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes wird die Tarifautonomie den Arbeitgeberund Arbeitnehmervertretern zugewiesen. ({3}) Im vorliegenden Fall gab es im Tarifausschuss ein Votum von 3 : 3. Das heißt, dass keine Mehrheit erreicht worden ist, weder für das eine noch für das andere. Herr Kollege Vogel hat bereits darauf hingewiesen, dass Sie - unter anderen Vorzeichen - keine Mindestlöhne im Bereich des Sicherheitsgewerbes fordern, weil es dort natürlich nicht ins System passt. Nur mit einer starken Position können die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände für ihre Mitglieder verbindliche und wirkungsvolle Abmachungen treffen. Es wurde bereits von den Vorrednern, auch von der Kollegin Müller-Gemmeke, die Frage aufgeworfen: Besteht ein öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlichkeit, wenn die Tarifbindung schwach ist und beispielsweise bei nur 25 Prozent liegt? Das muss man sehr kritisch sehen. Es kann nicht sein, dass die Minderheit die Mehrheit zum Teil dominiert und dass die Minderheit für die Mehrheit Tarifverträge abschließt. Es ist sicher notwendig, Ausnahmen zu machen und in einzelnen Bereichen Mindestlohntarifverträge als allgemeinverbindlich zu erklären, wie in der Pflegebranche; das haben wir im Sommer gemacht. Da betrug das Stimmenverhältnis aber 6 : 0.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Lehrieder, jetzt muss ich doch nachfragen. Sie haben gerade gesagt, es gehe nicht, dass die Minderheit über die Mehrheit bestimmt.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das sollte nicht sein.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Tarifvertragsgesetz hat man eine Schwelle von 50 Prozent festgelegt. Ausschlaggebend dafür ist die Anzahl der Arbeitnehmer, die in Unternehmen, welche in Arbeitgeberverbänden organisiert sind, beschäftigt sind. Jetzt gibt es das Problem der Tarifflucht. Das heißt, immer mehr Arbeitgeber entziehen sich ihrer Verantwortung und machen sich sozusagen vom Acker. Das führt dazu, dass diese Regelung wie ein Zirkelschluss wirkt: Je mehr Arbeitgeber sich davonmachen, desto geringer sind die Chancen der Gewerkschaften, die geforderte Quote zu erreichen. Wenn dieses Problem von der Bundesregierung erkannt wird, dann muss sie doch zu der Auffassung gelangen, dass man staatlicherseits eingreifen und die Allgemeinverbindlichkeit erklären muss, damit die Arbeitgeber endlich aufhören, Spielchen mit den Gewerkschaften zu treiben.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie wissen genauso gut wie ich - darüber haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode diskutiert -: Bei einer unzureichenden Tarifbindung kann man im Falle von Verwerfungen über das MiArbG, das Mindestarbeitsbedingungengesetz, versuchen, entsprechende Änderungen zu erreichen. Aber dazu bedarf es, wie gesagt, der Feststellung von gesellschaftspolitischen Verwerfungen. Nur wenn diese vorliegen, weil beispielsweise eine Tarifflucht zu beklagen ist und das Ergebnis dementsprechend nicht hinnehmbar ist, kann man auf diese Weise eingreifen. Eine solche Tarifflucht ist aber in der Weiterbildungsbranche nicht festzustellen. Kollege Zimmer hat schon an die Arbeitgeber in der Weiterbildungsbranche appelliert, sich stärker tariflich zu binden. Ansonsten muss man überprüfen, ob ein anderer Weg möglich ist. Sie können versichert sein - da bin ich mit dem Kollegen Brauksiepe völlig einer Meinung, der vor einem halben Jahr Ausführungen dazu gemacht hat -: Wir streben eine Absicherung in der Weiterbildungsbranche an, um eine qualitativ hochwertige und eine vom Erfolg gekrönte Weiterbildung gerade der Langzeitarbeitslosen auch in Zukunft gewährleisten zu können. Das heißt, wir werden die Entwicklung sorgfältig beobachten. Dazu bedarf es, mit Verlaub, keines Antrags der SPD. Zum Schluss meiner Antwort kurz zusammengefasst: Bei Verwerfungen ist ein Eingreifen möglich; dies geht über das MiArbG, aber nicht über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Im Vermittlungsausschuss wird diskutiert, ob die Voraussetzungen auch für die Zeitarbeit gegeben sind. Das Ergebnis bleibt noch abzuwarten; ich hatte bereits darauf hingewiesen. Für die Weiterbildungsbranche kann aber bereits jetzt gesagt werden, dass, wie bereits ausgeführt, die Voraussetzungen derzeit nicht erfüllt werden. Der von den Sozialpartnern vorgelegte Mindestlohntarifvertrag ist nicht repräsentativ, da nur eine Bindung von höchstens 25 Prozent an den Tarifvertrag besteht. Die für das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erforderliche Tarifbindung beträgt - auch hierauf wurde bereits hingewie9934 sen - mindestens 50 Prozent. Ansonsten würde die Minderheit die Mehrheit dominieren; auch das hatte ich bereits gesagt. Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages setzt voraus, dass sie im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Ob nun tatsächlich ein öffentliches Interesse in dieser Angelegenheit besteht, muss vom Ministerium noch überprüft werden. Das öffentliche Interesse muss in jedem Fall höher gewichtet werden als das der Tarifvertragsparteien und deren Mitglieder. Dem Ministerium ist in dieser Fragestellung ein Beurteilungsspielraum einzuräumen; auch das wurde bereits ausgeführt. Der derzeitige Sachstand belegt aber keinen Rechtsanspruch auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Meine Damen und Herren, ich könnte noch ein paar Sätze dazu sagen. Aber da meine Vorredner bereits kompetent und umfassend dazu ausgeführt haben, möchte ich an dieser Stelle schließen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche ein schönes Wochenende. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts unserer Auffassung von Bildung ist es uns ein Bedürfnis, die Unterschiede in der Debatte klarzumachen. Herr Vogel, ich hatte bei Ihnen das Gefühl, Sie hätten über alles reden können. Aber bei Ihnen schien nie durch, was das eigentlich für ein Skandal in der Weiterbildung ist, was das für betroffene Menschen bedeutet, welche Auswirkungen das auf die Qualität der Weiterbildung hat, was das perspektivisch bedeutet, wenn Weiterbildung immer wichtiger wird. ({0}) Wir Sozialdemokraten haben im Vermittlungsausschuss manchmal das Gefühl, zusammen mit Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, gegen die FDP das durchsetzen zu müssen, was bei Ihnen wenigstens beim ersten und zweiten Redner durchschimmerte. ({1}) Nehmen Sie es uns bitte nicht übel, dass wir dies mit einer gewissen Verve betonen; denn wir haben erkannt, dass es so nicht gehen kann. Sie haben den Begriff der Negativspirale angesprochen. Natürlich ist das so, ähnlich dem, was wir schon aus der schulischen Bildung kennen. An den Hauptschulen, wo die härteste Arbeit geleistet wird - das ist nicht diskriminierend gemeint -, ist die Bezahlung am schlechtesten. Ähnlich ist es vielfach in der beruflichen Weiterbildung. Dort, wo Berufsorientierung zu leisten ist, wo Langzeitarbeitslose, die es schon mehrere Male versucht haben, gebildet werden sollen, haben die Dozenten und die Lehrer oft das Gefühl: Wir gehören zu denjenigen, um die sich niemand kümmert und für die es keinen Schutz gibt. Herr Vogel, ({2}) Sie hätten einige Sätze im Sinne der Menschen, die in der Weiterbildungsbranche arbeiten, sagen sollen, anstatt ein Doktorandenseminar über die eine oder andere rechtliche Frage abzuhalten. ({3}) Als Mitglied dieses Parlaments muss man auch die Erlebnisse und die Erwartungen der Betroffenen an die Politik aufgreifen. ({4}) Dies würde die Debatte nach vorn bringen und vielleicht auch ermöglichen, gemeinsam einen neuen Anlauf zu unternehmen. Aus Sicht von Sozialdemokraten, Grünen und Linken und aufgrund rechtlicher Erwägungen ist ein Mindestlohntarifvertrag natürlich der Königsweg. Wir akzeptieren aber auch Umwege, sofern diese zielführend sind. Ich habe Sie so verstanden, dass wir nicht gleich den direkten Weg gehen, aber vielleicht über das Verfahrensrecht ein bis zwei Schritte vorankommen können. Aber auch das Vergaberecht stellt einen Ordnungsrahmen dar. Es ist nichts anderes als ein Ordnungsrahmen gegen pure Liberalität und die Auffassung: Egal ob Waffengleichheit herrscht und egal wie sich die Gewichte verschoben haben, das sollen die Tarifparteien allein ausmachen. Was ist denn Vergaberecht anderes als Ausdruck einer besonderen Verantwortung, die man wahrnimmt, indem man öffentliche Aufträge und öffentliche Leistungen mit einem öffentlichen Bildungsauftrag verbindet? ({5}) Zumindest diese beiden Punkte wollte ich Ihnen noch sagen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Rossmann, darf ich Sie unterbrechen? Der Kollege Schiewerling möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das darf er; das kann er gern tun.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rossmann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir diese Debatte im Deutschen Bundestag nur führen, weil es einen Antrag der SPD aus grauer Vorzeit gibt, über den irgendwann einmal diskutiert werden muss, dass aber längst fraktionsübergreifend Übereinstimmung besteht, dass wir eine Regelung für die Weiterbildungsbranche brauchen? Es gibt überhaupt keinen Dissens zwischen FDP und CDU/CSU in dieser Frage, sondern lediglich über den Weg. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir Schwierigkeiten haben, dies zu regeln, nicht weil wir nicht regeln wollen, sondern weil das europäische Recht uns durch die Ausschreibungsverordnungen dazu zwingt, Wege zu finden, die den europäischen Vorgaben gerecht werden, und dass es ein Problem ist, eine sachgerechte Lösung zu finden? Sind Sie des Weiteren bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass kein einziger Redner grundsätzlich eine Regelung ablehnt?

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Letztere wollen wir anhand der Ergebnisse bewerten. Wir werben bzw. kämpfen dafür, dass es zu Ergebnissen kommt. Mit Blick auf das Rüffert-Urteil stelle ich fest, dass nicht nur auf Länder-, sondern auch auf Bundesebene wahrgenommen wird, dass dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht zu allgemeinem Stillstand in Bezug auf das öffentliche Vergaberecht führen darf, sondern dass es aufgrund von Tariftreue und Qualifizierung der Vergaben auch Chancen eröffnet. Das registrieren wir sehr wohl. Die von Ihnen angesprochene Übereinstimmung muss sich in Verbesserungen niederschlagen. Man sollte auch denen danken, die für Verbesserungen streiten und werben. ({0}) Ich finde, dass wir Parlamentarier die Pflicht haben, anzuerkennen und zu betonen, dass es Verdi und der GEW geschuldet ist, dass dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung kommt. Bei einer Tagung war auch der Kollege Schummer anwesend. ({1}) Er war ganz erstaunt, dass das noch nicht geregelt ist, und hat gesagt, dass eine entsprechende Regelung kommen müsse. Dass dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung kommt, ist den engagierten Mitarbeitern und auch manchen Arbeitgebern wie dem Bundesverband der Träger beruflicher Bildung zu verdanken. Das wollte ich in meinen Schlussworten zum Ausdruck bringen. In diesem Geist kommt man weiter, im liberalen Ungeist bleibt man stehen. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3733, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3173 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern - Drucksache 17/3219 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Katja Dörner von Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Justizministerin hat einen Kompromissvorschlag zur Neugestaltung des Sorgerechts bei nicht miteinander verheirateten Eltern vorgelegt. Dieser Kompromissvorschlag kommt ein halbes Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es den diskriminierenden Zustand, dass unverheiratete Väter für das gemeinsame Sorgerecht für ihr Kind zwingend auf die Zustimmung der Mutter angewiesen sind, endlich beendet hat. Dieser Kompromissvorschlag kommt mehr als ein Jahr nach dem entsprechenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ich muss sagen: Er kommt für viele betroffene Väter und Kinder leider viele Jahre zu spät. ({0}) Das ist ein erster Kompromissvorschlag. Dabei hat die Ministerin schon im Sommer angekündigt, zeitnah, direkt nach der Sommerpause, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Wir haben ihn immer noch nicht gesehen. Leider zeigt sich wieder einmal, dass sich die Koalition auch bei so einem Thema auf nichts Vernünftiges einigen kann. ({1}) Ich sage hier ganz klar: Wir Grünen finden diesen Kompromissvorschlag der Ministerin vernünftig und gut. - An dieser Stelle könnte die FDP ruhig einmal applaudieren, aber vielleicht können Sie den Vorschlag Ihrer Ministerin ja noch nicht richtig einschätzen. ({2}) Unsere Einschätzung wird Sie nicht verwundern. Schließlich haben wir den Antrag, über den wir heute hier beraten, schon im Herbst vorgelegt, der in den Eckpunkten dem Vorschlag der Ministerin weitgehend entspricht. In unserem Modell steht das Kindeswohl ganz klar im Mittelpunkt. Aus der Perspektive des Kindes gibt es keinen Grund, verheiratete und unverheiratete Eltern beim Sorgerecht grundsätzlich unterschiedlich zu behandeln. Den Kindern ist der Trauschein ihrer Eltern im Allgemeinen herzlich egal. Wir gehen davon aus, dass das gemeinsame Sorgerecht dem Kindeswohl in der Regel am meisten entspricht. Deshalb wollen wir einen einfachen und niedrigschwelligen Weg zum gemeinsamen Sorgerecht auch für unverheiratete Eltern. Ich möchte diesen Weg ganz kurz skizzieren. Die Väter sollen nach unserem Modell ab der Vaterschaftsanerkennung einen Antrag auf gemeinsames Sorgerecht stellen können. Wenn die Mutter diesem Antrag innerhalb einer Frist von acht Wochen - diese Frist zieht auch die Ministerin in Erwägung - nicht widerspricht, wird dem Antrag des Vaters stattgegeben. Wenn die Mutter dem Antrag widerspricht, kann der Vater das gemeinsame Sorgerecht beim Familiengericht beantragen. Diesem Antrag soll stattgegeben werden, wenn das gemeinsame Sorgerecht dem Kindeswohl nicht widerspricht. Die Formulierung „nicht widerspricht“ ist aus unserer Sicht besonders wichtig, weil dieser Prüfauftrag signalisiert, dass es das gemeinsame Sorgerecht in der Regel auch bei diesen Elternkonstellationen geben soll. ({3}) Dieses Modell wird aus unserer Sicht den Kindern gerecht; denn die Kinder haben ein Recht auf beide Eltern. Das sollte auch im Sorgerecht seinen Ausdruck finden. Das Modell wird den Vätern gerecht, die dann auf einem einfachen Weg das Sorgerecht bekommen können. Es wird auch den Müttern gerecht, die Bedenkzeit haben und deren Vorbehalte im Zweifelsfall geprüft werden. Jetzt ist es an der Union: Beenden Sie endlich Ihre Blockadehaltung. Wir brauchen eine Lösung, von der vor allem die Kinder profitieren. Dass es der Union und vor allem der CSU tatsächlich immer um die beste Lösung für die Kinder geht, ({4}) müssen wir leider bezweifeln. Ich erinnere mich daran, dass unsere Kollegin Dorothee Bär - sie ist leider heute nicht anwesend - im August letzten Jahres anlässlich des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts darauf verwiesen hat, das alles sei ein bisschen bedenklich, schließlich werde die Institution Ehe dadurch geschwächt, sie habe ja dann keine anderen Vorteile mehr als das Ehegattensplitting und das könne doch nicht sein. Ich finde, das darf in dieser Diskussion nicht im Fokus stehen. Ich wünsche mir für die Debatten zum Sorgerecht, die wir in den nächsten Monaten sicherlich noch häufiger führen werden, dass wir davon wegkommen, uns an der Art des Zusammenlebens oder Nichtzusammenlebens von Eltern zu orientieren, und uns tatsächlich darauf konzentrieren, die beste Lösung für die betroffenen Kinder zu finden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ute Granold von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt weder eine Blockadehaltung der CDU/CSU noch haben wir Probleme mit der FDP. Es geht uns darum, in einer so wichtigen Frage eine Lösung zu finden, die den Interessen der Kinder gerecht wird, und zwar nur der Kinder, nicht der Mütter, nicht der Väter. ({0}) Wir sind auf einem guten Weg. Ich gehe davon aus, dass wir in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen können. Da meine Redezeit heute ausreichend bemessen ist, möchte ich kurz ausführen. Es geht um die gemeinsame elterliche Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern. Es geht nicht um die Alleinsorge - sie ist im Gesetz geregelt -, es geht auch nicht um eine partielle Sorge - etwa Aufenthaltsbestimmungsrecht, Vermögens- und Gesundheitssorge -, sondern es geht um das Thema, das ich eingangs genannt habe. Das ist ein sehr sensibler Bereich. Ich wäre sehr dankbar und froh, wenn wir alle sachlich und am Interesse des Kindes orientiert darüber diskutieren könnten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesverfassungsgericht haben - das wurde bereits erörtert - im Dezember 2009 bzw. im Sommer 2010 entschieden, dass die derzeitige Regelung in Deutschland, wonach die Väter keine Möglichkeit haben, gegen den Willen der Mutter eine Mitsorge zu erhalten, verfassungswidrig ist und eine neue Regelung vom Gesetzgeber geschaffen werden muss. Genau daran arbeiten wir gerade. Das Bundesjustizministerium hat ein Gutachten über die Situation und die Lebenslage der sogenannten nichtUte Granold ehelichen Eltern und deren Kinder in Deutschland eingeholt. Viele Zahlen sind schon bekannt. Wir haben uns auf diese Situation einzustellen - hier haben wir alle einen Lernprozess vor uns - und entsprechend darauf zu reagieren. Wir haben 1998 durch die Kindschaftsrechtsreform die Möglichkeit geschaffen, dass eine gemeinsame elterliche Sorge nach einer Scheidung bestehen bleibt; dies ist der Regelfall. Wir haben auch die gemeinsame elterliche Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern für den Fall geregelt, dass die Mutter dem zustimmt. Nun wird reklamiert, dass die Mitsorge nur mit Zustimmung der Mutter erfolgen kann. Laut Gutachten ist die Situation mittlerweile so, dass bei jedem zweiten nichtehelich geborenen Kind eine gemeinsame elterliche Sorge besteht. Bei 50 Prozent dieser Kinder besteht also keine gemeinsame elterliche Sorge. Genau an diesem Punkt müssen wir ansetzen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass immer mehr Kinder nichtehelich geboren werden. Im Durchschnitt sind dies in Deutschland ein Drittel der Kinder; in den neuen Bundesländern sind es sogar mehr als 50 Prozent. Wir müssen beachten, dass die Väter, Gott sei Dank, inzwischen sehr engagiert sind bezüglich ihrer Kinder und der Sorge um die Familie; dies umfasst auch die emotionale Sorge, die Zeit für die Familie und vieles andere mehr. ({1}) Darauf reagieren wir. Dabei wollen wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, aber auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beachten. Maßstab ist danach das Kindeswohl. Die gemeinsame elterliche Sorge - da sind wir einer Meinung - entspricht in der Regel dem Kindeswohl. Ein Kind braucht Mutter und Vater zu einer gedeihlichen Entwicklung. Ich denke, da besteht Konsens in diesem Haus. Die Gerichte haben ausdrücklich auch gesagt, dass für die Möglichkeit des Vaters, zu einer gemeinsamen Sorge zu kommen, nicht zu hohe Hürden bestehen dürfen; das muss niedrigschwellig sein. Die Grünen haben übrigens bereits in der letzten Wahlperiode einen Antrag zu diesem Thema gestellt. ({2}) Den haben wir auch debattiert, im Juli 2009. Damals hatten wir noch keine neuen Erhebungen. Sie präferierten damals im Gegensatz zu heute ein Antragsmodell - heute ist es ein Widerspruchsmodell -, und Sie haben den Antrag an materielle Voraussetzungen geknüpft, beispielsweise Erfüllung der Unterhaltspflicht, Umgang usw. Das ist weit mehr als das, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Insofern würde es dem Urteil nicht genügen und wäre heute nicht umsetzbar. ({3}) Sie haben Ihren Antrag nun weiterentwickelt - wenn Sie mir zuhören, werden Sie feststellen, dass ich es weiß; ich habe es gelesen - und Eckpunkte vorgelegt. Allerdings wäre bei den Eckpunkten das eine oder andere nachzufragen, beispielsweise zu den Fristen. Was die Verfahrenshemmung angeht - sechs Wochen vor der Geburt und acht Wochen nach der Geburt -, so wissen wir nicht, wie das zu werten ist; darüber müssten wir noch einmal nachdenken. Eine weitere Voraussetzung ist - das ist der Punkt, der für uns nicht akzeptabel ist -, dass zusätzlich zu den Fristen, die eingehalten werden müssen, auch noch - kumulativ! - obligatorisch eine Überprüfung des Kindeswohls durch das Jugendamt durchgeführt werden soll, wenn die gemeinsame Sorge durch Schweigen zustande kommt. Das ist für uns nicht hinnehmbar. ({4}) Die Stellung des Jugendamtes in diesem Verfahren ist uns zu stark. Wir möchten in der Tat eine niedrigschwellige Regelung zugunsten der Väter. Darüber hinaus widerspricht diese Überprüfung des Kindeswohls durch das Jugendamt dem, was uns der Gesetzgeber mit auf den Weg gegeben hat. ({5}) Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - insofern muss ich dem Einwand, Frau Kollegin, dass wir so lange brauchen, widersprechen - besteht schon heute die Möglichkeit, sofort eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Das sollte man der Vollständigkeit halber auch sagen. Ich selbst führe derzeit einige Verfahren für Väter vor Gericht. Diese wollen eine Entscheidung. Das ist möglich. Die Gerichte nehmen ihre Anträge an, und sie werden auch bearbeitet. Insofern gibt es keinerlei Rechtsnachteile für die Väter, die schon heute eine gerichtliche Entscheidung wollen. Sie haben in Ihrem Antrag weitere Punkte genannt, die teilweise nicht nachvollziehbar sind. So fordern Sie die Möglichkeit der alleinigen elterlichen Sorge im Konfliktfall. Bereits heute ist in § 1671 BGB geregelt, dass jeder Elternteil bei gemeinsamer elterliche Sorge im Falle des Getrenntlebens beantragen kann, dass ihm das Familiengericht die elterliche Sorge allein überträgt. Darüber hinaus fordern Sie, dass bei getrennt lebenden Eltern und der alleinigen elterlichen Sorge der Mutter auch dem Vater die Möglichkeit gegeben sein muss, die Alleinsorge zu erhalten. Das ist natürlich zwangsläufig der Fall, wenn wir das Gesetz so, wie es von uns angedacht ist, auch ändern. Insofern sind diese Forderungen selbstverständlich. Eine kostenlose Kinderbetreuung von Geburt an wäre in Deutschhand wünschenswert, wenn sie finanzierbar wäre. Wir müssten noch einmal darüber reden, inwieweit die Länder diesbezüglich belastet werden. Diese Forderung ist schwierig, und wir können sie an anderer Stelle diskutieren. Sie haben sie in Ihrem Antrag aufgeführt, und das hört sich alles gut an, aber es ist einfach nicht realisierbar. ({6}) Sie müssten auch darstellen, wie es bezahlt werden könnte. Da wir uns bei unserem Gesetzesvorhaben ausdrücklich am Kindeswohl orientieren, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass uns die Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern sehr wichtig ist. Die Kinder werden in eine Situation hineingeboren, für die sie nichts können. Es ist, wie es ist. Wir haben dokumentiert, dass es uns damit sehr ernst ist. Als wir damals die Unterhaltsrechtsreform nach langen Beratungen auf den Weg gebracht haben, war uns das Kindeswohl ganz wichtig. Deshalb sind alle Kinder bei den Rangverhältnissen, also bei der Realisierung der Unterhaltsansprüche in Mangelfällen, im ersten Rang gleichgestellt. Auch hinsichtlich der Betreuung werden die nichtehelichen und ehelichen Mütter gleichgestellt. Denn wir haben das Kind im Fokus. Wir haben also dokumentiert, dass das ein sehr wichtiges Argument für uns ist. Wir sagen auch: Der Vater hat ebenso wie die Mutter ein natürliches Elternrecht, und dem Vater muss niedrigschwellig die Möglichkeit eingeräumt werden, die Mitsorge zu erhalten, sofern dem nicht gravierende, schwerwiegende Gründe entgegenstehen. Deshalb sollte die gemeinsame elterliche Sorge auch der Regelfall sein. Da wir uns mit unserem Koalitionspartner zurzeit noch in der Abstimmung darüber befinden, mit welchem Verfahren dem Vater die Möglichkeit der Mitsorge einzuräumen ist, möchte ich zum materiellen Recht, das meines Erachtens viel wichtiger ist, doch noch einige kurze Ausführungen machen. Die gemeinsame elterliche Sorge ist der Regelfall. Das ist die Prämisse. Der Vater erhält mit der Mutter das gemeinsame Sorgerecht, wenn dieses nicht ausnahmsweise dem Kindeswohl widerspricht. Insofern ist das Verfahren, wie der Vater an das Sorgerecht kommt, nachrangig. Es ist festzulegen, aber es ist nachrangig. Denn wir sagen, dass die gemeinsame elterliche Sorge der Regelfall ist. Wenn die Mutter weiß, dass die gemeinsame elterliche Sorge der Regelfall ist, wird sie sich sehr wohl überlegen, ob sie den Gang zum Gericht erzwingt oder ob sie sich bei Anerkennung bzw. Feststellung der Vaterschaft und entsprechender Erklärung des Vaters von vornherein mit der gemeinsamen elterlichen Sorge einverstanden erklärt. Davon sollte man ausgehen. Wenn das nicht der Fall ist, müssen die Gerichte die erforderlichen Entscheidungen treffen. In den Fällen, in denen die Mutter widerspricht, also nicht mit der gemeinsamen Sorge einverstanden ist, liegen Spannungen vor. Das eine oder andere Modell von Ihnen sieht Folgendes vor: Wenn die Mutter nicht reagiert, kommt es automatisch zur gemeinsamen Sorge. Das wäre nicht der richtige Weg. Wenn die Mutter nicht reagiert bzw. wenn sie widerspricht, dann soll es ein niedrigschwelliges Verfahren bei Gericht geben. Damit soll dem Vater die Möglichkeit gegeben werden, recht schnell eine inhaltliche Prüfung vornehmen zu lassen. Ich möchte Ihnen das Modell der Union, unser sogenanntes Optionsmodell, vorstellen. Wir wollen dem Vater, wie es schon heute aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglich ist, das Recht einräumen, sofort nach Geburt des Kindes bei Gericht einen Antrag auf gemeinsame elterliche Sorge zu stellen, wenn er von vornherein weiß, dass die Mutter einer Mitsorge nicht zustimmen wird. Der Vater soll dieses Recht schnell erhalten, weil gerade in der frühen Phase nach der Geburt wesentliche Entscheidungen für das Kind getroffen werden. Der Vater soll hier die Möglichkeit erhalten können, mitzureden. Begleitend soll die Möglichkeit eines Eilverfahrens eingeräumt werden, damit der Vater sehr schnell eine Entscheidung des Gerichts erhält, sofern dies bei Fragen des Namensrechts, der Taufe oder gar einer Operation des Kindes notwendig erscheint. In anderen Fällen soll der Vater zunächst einmal einen Antrag beim Jugendamt stellen. Das Jugendamt wird den Antrag der Mutter zustellen. Es wird eine Karenzzeit eingeräumt, bevor die Mutter über den Wunsch des Vaters nach Mitsorge entscheiden soll. Wir prüfen noch, wie lang diese Karenzzeit sein soll. Danach soll die Möglichkeit gegeben werden, dass man miteinander spricht, um eine gerichtliche Auseinandersetzung möglichst zu vermeiden. Die Alternative könnte ein Mediationsverfahren sein, wohl wissend, dass diese Verfahren eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen. Es geht hier aber um den familiären Bereich; deswegen ist es uns wichtig, dass man das Gericht nur dann einschaltet, wenn kein anderer Weg bleibt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Granold, Frau Kollegin Dörner würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. - Sie haben, wie Sie gesagt haben, unseren Antrag sehr genau gelesen. Ist Ihnen dabei aufgefallen, dass wir mitnichten die Vorstellung haben, dass in jedem Einzelfall eine Prüfung durch das Jugendamt erfolgen soll, inwiefern das Kindeswohl beeinträchtigt sein könnte? Uns geht es darum, dass das Jugendamt im Verfahren Kenntnis davon gibt, wenn es Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung durch den Vater hat. Ist Ihnen aufgefallen, dass wir zwar einen Rechtsanspruch auf ganztägige Kindertagesbetreuung einfordern, wir aber in unserem Antrag mitnichten fordern, dass diese kostenlos erfolgen soll? Sie haben gerade gesagt, dass der Vater im Prinzip doch in jedem Einzelfall zum Familiengericht gehen muss. Inwiefern steht das im Einklang mit Ihrer vorherigen Aussage, dass Sie ein niedrigschwelliges Verfahren entwickeln wollen? ({0})

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zu Ihrer Frage zum Verfahren. Das Optionsmodell sieht zwei Möglichkeiten vor: Erstens. Der Vater kann nach der Geburt des Kindes direkt zum Gericht gehen und eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen, wenn er davon ausgeht, dass er eine Zustimmung der Mutter nie erhalten wird. So kommt es schnell zu einer gerichtlichen Entscheidung. Dabei sollte man jedoch auf Fristen achten: Wir sehen eine Karenzzeit vor, während sich die Mutter im Mutterschutz befindet. Auch Ihr Antrag sieht Fristen vor. Die FDP will das ebenfalls. Die Frage ist nur, wie lang diese Fristen sein sollen. Zweitens. Der Vater kann einen Antrag beim Jugendamt stellen. Der Antrag des Vaters wird der Mutter zugestellt. Die Frage ist, in welcher Zeit die Mutter auf den Antrag reagieren muss. Die Frage ist auch, was passiert, wenn die Mutter schweigt. Schweigen bedeutet nach dem Modell der Union, dass der Vater eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen soll. Es wäre uns natürlich sehr recht, wenn in diesem Fall die Möglichkeit bestünde, mit der Mutter zu sprechen, um eine Lösung für eine gemeinsame Sorge zu finden - unter Mitteilung der Voraussetzungen dafür. Dann wäre eine gerichtliche Entscheidung nicht erforderlich. Beide Wege sollen offenstehen. Damit wird dem Vater der Weg zur Mitsorge geebnet, entsprechend den Vorgaben der von mir genannten Gerichte, die beide einen niedrigschwelligen Zugang zur Mitsorge vorsehen. Was die Kinderbetreuung angeht, so möchten wir natürlich gerne sicherstellen, dass die Kinder eine Betreuung haben - von der Krippe bis zum Hort -, die finanzierbar bzw. beitragsfrei gestellt ist. Aber das belastet die Kommunen und die Länder. Einen Rechtsanspruch ab der Geburt zu gewährleisten - wenn Sie das meinen -, ist derzeit nicht darstellbar; das wäre sehr schwierig. Aber darüber möchte ich nicht weiter philosophieren, weil es heute in Ihrem Antrag nicht darum, sondern um die gemeinsame Sorge geht, die, wie auch Sie sagen, zügig, aber ordentlich auf den Weg gebracht werden sollte. - Ich hoffe, ich habe Ihre Fragen damit beantwortet. Zusammenfassend kann ich sagen - ich war ja schon nahezu am Ende meiner Rede -: Unser Anliegen ist, eine niedrigschwellige Möglichkeit zu schaffen und in das Gesetz aufzunehmen, sodass die Väter, die sich um die Sorge für ihre Kinder bemühen, und zwar um die volle Verantwortung im Rahmen der elterlichen Mitsorge, sehr schnell und niedrigschwellig die Mitsorge bekommen können, entweder außergerichtlich, was uns das Liebste wäre, oder gerichtlich. Es kann nicht sein, dass ein Vater bei Gericht sehr viel vortragen muss, um zu dokumentieren, dass es richtig ist, ihm die Möglichkeit zu geben, die Sorge zu begleiten. Wir gehen davon aus: Der Regelfall ist, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl entspricht. Alles andere müsste dezidiert vorgetragen werden. Ich möchte nicht - das ganz zum Schluss -, dass den Jugendämtern die Möglichkeit eingeräumt wird, bei Gericht eine Gefährdung des Kindeswohls vorzutragen, weil eine negative Stellungnahme eines Jugendamtes da spreche ich aus 30 Jahren Erfahrung als Scheidungsanwältin - bei Gericht nur sehr schwer auszuräumen ist. Ich meine, eine so wichtige Entscheidung sollte, wenn die Eltern kein Einvernehmen erzielen, das Gericht vorurteilsfrei treffen können. Eine starke Stellung der Jugendämter sehen wir nicht als den richtigen Weg an. Ich bedanke mich bereits jetzt dafür, dass wir in der Lage sind, über dieses Thema sehr sachlich zu sprechen und einen Weg zu finden. Wir gehen davon aus, dass wir auch die gesetzliche Regelung in Kürze auf den Weg bringen können. Nochmals: Rechtsnachteile gibt es für keinen Vater, weil seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr jeder Vater die Möglichkeit hat - davon wird auch Gebrauch gemacht -, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen, um zu seinem Recht zu kommen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine sehr schwierige Materie, die wir da neu zu regeln haben; das ist mir heute bei diesen ersten Debattenbeiträgen wieder aufgefallen. An die oberste Stelle müssen wir setzen, dass die Neuregelung, die wir treffen, für die Betroffenen - nicht für uns Fachleute, sondern für die Betroffenen - verständlich und transparent ist, sodass sie wissen, was auf sie zukommt, und dann auch zügig umgesetzt werden kann. Ich glaube, wir alle sollten uns für die anstehenden Beratungen vornehmen, eine Regelung zu treffen, die gewährleistet, dass sich diejenigen, die in dieser Situation sind, nicht erst kundig machen müssen - beim Jugendamt, beim Amtsgericht hier, beim Familiengericht da -, sondern das Prozedere auch von einem Laien, der betroffen ist - von einem Vater, von einer Mutter -, nachvollzogen werden kann. Es ist ausgeführt worden: Sowohl vom Europäischen Gerichtshof als auch vom Bundesverfassungsgericht sind wir aufgefordert worden, hier eine Neuregelung zu treffen. Hintergrund ist natürlich, dass es gesellschaftliche Veränderungen gegeben hat, dass die Zeit nicht mehr so ist, wie sie vor 1998 oder bei der Kindschaftsrechtsreform 1998 war. Die Welt hat sich verändert, und damit sind auch gesellschaftliche Veränderungen einhergegangen. Beziehungen sind heute ganz anders aufgestellt als vor 20, 30 Jahren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von Veränderungen. Wir haben uns an dieser Stelle mit der Neuregelung der elterlichen Sorge zu beschäftigen. Vom Bundesverfassungsgericht ist für die Zeit, bis eine Neuregelung in Kraft getreten ist, die Möglichkeit der sogenannten Antragslösung eröffnet worden. Das heißt, Väter, denen bisher das gemeinsame Sorgerecht verweigert wurde, haben jetzt die Möglichkeit, entgegen der früheren Rechtslage wenigstens dafür zu kämpfen, dass auch ihnen die elterliche Sorge übertragen wird. Wir haben uns jetzt zu fragen: Wie können wir diese Aufgabe lösen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten die Regelung treffen, dass für alle Paare, die nicht miteinander verheiratet sind und ein gemeinsames Kind haben, egal in welcher Konstellation sie sich befinden, generell die gemeinsame elterliche Sorge gilt. Das könnte man machen. Ich persönlich muss aber sagen: Ich glaube, das würde einige Probleme aufwerfen, weil dann nicht immer gewährleistet wäre, dass das tatsächlich zum Wohle des Kindes ist. Das Wohl des Kindes muss aber die Voraussetzung sein. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, dass Eltern quasi zwangsweise ein gemeinsames Sorgerecht ausüben, wenn sie keinen Kontakt mehr miteinander haben, vielleicht auch nicht mehr miteinander haben wollen. ({0}) Ich finde, „gemeinsam“ bedeutet auch, dass man sich verständigen kann. Wie gesagt, das sind alles so Facetten, die wir zu beleuchten haben. Was die Antragslösung angeht, so muss man, glaube ich, noch einmal differenzieren. All die Paare, die ein gemeinsames Kind haben und sich verstehen, haben unabhängig davon, ob sie zusammenleben oder nicht, schon jetzt die Möglichkeit, ohne Jugendamt, ohne Familiengericht, ohne die Zustimmung von irgendwem zu entscheiden, wie sie das ausgestalten möchten. Sie haben nach der Vaterschaftsanerkennung die Möglichkeit, zu sagen: „Jawohl, wir wollen ein gemeinsames Sorgerecht“, und erklären dieses nur. Da muss niemand mehr entscheiden. Es liegt in ihren Händen. Wir sollten in diesem Gesetzgebungsverfahren auf jeden Fall dafür sorgen, dass dieser Weg viel häufiger beschritten wird, dass die Menschen diese Verantwortung auch annehmen. Wenn ein Kind geboren wird, dann sollen sie sich bitte schön auch Gedanken darüber machen, wie dieses Sorgerecht ausgestaltet werden soll, wer das wirklich übernehmen soll. Da müssen ja zahlreiche Fragen beantwortet werden, teilweise auch ganz schnell, etwa wenn Operationen anstehen. Es gibt aber auch andere Fragen, die sehr schwierig sind, etwa Religionszugehörigkeit, medikamentöse Behandlung usw. Eltern sollen sich durchaus bewusst sein, was das Sorgerecht bedeutet. Deswegen wäre ich auf jeden Fall dafür, dass Eltern verpflichtet werden, eine Erklärung abzugeben. Wie diese aussieht, ist ihre Sache. Aber sie sollten wenigstens sagen, ob sie sich einig sind oder nicht. Zuvor müssen sie sich wenigstens einmal Gedanken darüber machen. Ich erhalte sehr viele Schreiben zu dieser Fragestellung. Die einen wollen es so geregelt haben, die anderen so. Wenn ich mich mit manchen unterhalte und sie frage, warum sie das eigentlich nicht geregelt haben, als sie sich noch verstanden haben, dann sagen sie mir: Darüber haben wir uns gar keine Gedanken gemacht. - Ich sage: Das darf nicht weiter so sein. Paare sollen sich, wenn sie ein Kind bekommen, wenn sie Eltern werden, mit dieser Fragestellung auseinandersetzen und entscheiden. Wenn sie sich dann nicht einigen können, dann muss ein Verfahren zur Verfügung stehen, in dem das Ganze dann geregelt wird. Aber Paare sollten sich bitte schön häufiger selbst einigen und Eigenverantwortung übernehmen und nicht darauf warten, dass jemand vom Jugendamt oder vom Familiengericht diese Frage regelt. ({1}) Zwischen diesen beiden Polen, der Antragslösung auf der einen und der elterlichen Sorge als Regel auf der anderen Seite, wird es sicherlich in irgendeiner Weise eine Ausgestaltung geben. Ich möchte nicht verhehlen, dass es bei uns in der SPD-Fraktion unterschiedliche Positionen dazu gibt. Da gibt es die Rechtspolitiker, die sagen, sie könnten mit einer Antragslösung sehr gut leben. Das heißt, der Vater hat die Möglichkeit, einen Antrag auf gemeinsame Sorge zu stellen, wenn die Mutter dem zuvor nicht zugestimmt hat. Dann hat auf der ersten Stufe das Jugendamt zu entscheiden, und dann kann es weiter zum Amtsgericht gehen. Es gibt bei uns aber auch andere Vorstellungen, nach denen ein gemeinsames Sorgerecht beispielsweise an die Voraussetzung des Zusammenlebens geknüpft werden soll. Das ist eine Position, die man sicher einmal zu prüfen hat. Sie bringt meiner Einschätzung nach auch rechtliche Probleme mit sich; denn wann ein Zusammenleben vorliegt, ist sicherlich nicht so einfach zu definieren. Fallen auch Wochenendbeziehungen darunter? Ist das tatsächlich ein rechtlich bestimmter Begriff? Sie sehen, es gibt eine Bandbreite. Deswegen sollten wir uns jetzt endlich dringend und schnell auf den Weg machen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns hier quasi eine Notlösung vorgegeben. Ich glaube, es kann nicht sein, dass wir in dieser Situation einfach so weitermachen, weil wir es als Gesetzgeber nicht hinbekommen, eigenständig eine Lösung zu schaffen. Ich bin auch sehr optimistisch, dass wir eine Lösung finden werden; denn wir haben im Familienrecht bisher sehr konstruktiv und ohne parteipolitische Scheuklappen zusammengearbeitet. Das wird sicherlich auch in diesem Fall wieder gelingen. Ich darf jedoch insbesondere Sie von der Regierungskoalition und auch Sie aus dem BMJ, Herr Stadler, auffordern, da bitte nicht länger zu zögern. Ich habe das in Haushaltsreden schon mehrfach angesprochen. Immer wieder kam: Wir sind dran. Wir machen etwas in Kürze, in Bälde, demnächst. - Jetzt wäre es, glaube ich, so langsam mal an der Zeit, dieses Problem tatsächlich konstruktiv anzugehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae von der FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jedes Kind hat Anspruch auf beide Elternteile. Beide sind verantwortlich für das Kind, sind dem Kind und seinem Wohl verpflichtet. Umgekehrt ist die Sorge für das Kind ein originäres Elternrecht. Eltern haben das Recht, für ihre Kinder zu sorgen, die Sorge innezuhaben, ohne sich bewähren zu müssen, ohne darum kämpfen zu müssen mit einer gravierenden Einschränkung im Bürgerlichen Gesetzbuch: Dann, wenn der Vater mit der Mutter nicht verheiratet ist, kann der Vater die gemeinschaftliche Sorge nur dann erhalten, wenn er entweder die Mutter heiratet oder aber die Mutter der gemeinschaftlichen Sorge zustimmt. Der Vater braucht also mindestens einmal ein Jawort der Mutter: entweder vor dem Traualtar oder beim Jugendamt. Das ist ein nicht einklagbarer Anspruch. Dieses Jawort kann man nach dem BGB nicht vor Gericht einklagen. Hier hat das Verfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 21. Juli nun eine kleine Änderung vorgenommen, zwar nicht mit Blick auf den Traualtar, ({0}) aber es muss die Möglichkeit bestehen, einen Antrag auf Einräumen der gemeinschaftlichen elterlichen Sorge zu stellen. Damit gibt es angesichts der momentanen Lage zwei Probleme. Das erste Problem ist: Wenn die Mutter nicht zustimmt, herrscht immer gleich Eskalationsstufe rot. Man muss immer zum Gericht gehen, wenn die Mutter ihr Jawort zur gemeinsamen Sorge nicht gibt. Das Gericht muss nun ermitteln, was dem Kindeswohl dient. Das ist oft eine schwierige Frage. In vielen Fällen wird es notwendig sein, ein Gutachten eines Kinder- oder Jugendpsychologen einzuholen. Häufig wird es auch zu eigentlich unnötigen Prozessen kommen. Denn was soll ein Richter sagen, wenn kurz nach der Geburt noch gar nichts passiert bzw. eingetreten ist, woran er ermessen kann, ob das Kindeswohl gefährdet ist? Es wird also ganz oft zu unnötigen Verfahren kommen. Das zweite Problem ist, dass der Vater taktisch eigentlich gut beraten ist, möglichst schnell den Antrag bei Gericht zu stellen; denn je früher er den Antrag stellt, desto weniger wird sich zugetragen haben, woraus der Richter dann ableiten kann, dass es besser wäre, der Mutter das Sorgerecht allein zu belassen. ({1}) Das heißt, es gibt keine Schonfrist für die Mutter. Das ist das Problem bei der momentanen Situation. Dieses Problem greifen die Grünen in ihrem Antrag auf. Deshalb bringe ich diesem Vorschlag auch durchaus Sympathie entgegen. Hier wird nämlich gesagt, dass man der Mutter eine Bedenkzeit einräumen müsse. Wenn der Vater eine Sorgeerklärung abgibt, erhält die Mutter zunächst einmal eine Bedenkzeit; sie muss in sich gehen und überlegen können, ob sie das Sorgerecht teilen will. Bei diesem Vorschlag gibt es aber auch einige Probleme, die ich hier nennen möchte. Ein Problem ist, wie der Vorschlag zu verstehen ist, dass während des gesetzlichen Mutterschutzes der Lauf der Achtwochenfrist gehemmt ist. Diese Frist ist dann gehemmt, wenn die Mutter - so heißt es in Ihrem Antrag „eine entsprechende Mitteilung macht“. Mir ist nicht ganz klar, wie das zu verstehen ist. Könnte das nicht dazu führen, dass diese Schutzregelung gerade dann versagt, wenn der Schutz am notwendigsten wäre? Eine Geburt, bei der es zu Komplikationen kommt, oder auch eine Mehrlingsgeburt sind ja zum Beispiel Fälle, bei denen die Mutter besonders viele Sorgen hat, sodass sie es vielleicht vergisst oder unterlässt, die entsprechende Mitteilung zu machen. In diesem Fall wäre der Lauf der Frist aber nicht gehemmt. Es wäre also zu überlegen, ob der besondere Schutz, der durch die Möglichkeit gewährleistet werden soll, den Lauf der Frist zu hemmen, nicht gerade dann zu versagen droht, wenn er besonders notwendig wäre. Über diesen Vorschlag im Antrag der Grünen müsste man also noch einmal nachdenken. Der zweite Punkt, der mir auffällt, wurde schon angesprochen: Es geht um die Rolle, die Sie in Ihrem Antrag dem Jugendamt zuweisen. In Ihrem Antrag heißt es, dass das Jugendamt dem Antrag des Vaters dann stattgibt, wenn die Mutter innerhalb der Achtwochenfrist keinen Widerspruch einlegt und - jetzt kommt es - „dem Jugendamt keine Erkenntnisse über eine offensichtliche Kindeswohlgefährdung durch den Vater vorliegen“. In meinen Augen ist es ein Problem, dem Jugendamt eine solche Entscheidungsmacht zu geben. Denn wann ist das Kindeswohl gefährdet? Wann ist es offensichtlich gefährdet? Wie soll das Jugendamt diese Erkenntnisse erhalten? Es ist eigentlich nicht die Aufgabe einer Behörde, sich solche Erkenntnisse zu verschaffen. Sie hat auch kaum die Möglichkeiten, darüber zu verhandeln bzw. Parteien oder Sachverständige anzuhören. Das ist eine originäre Aufgabe der Gerichte. Diesen müsste diese Aufgabe eigentlich zugewiesen werden. ({2}) Es ist nämlich Aufgabe der Gerichte und nicht der Behörden, zum Beispiel der Jugendämter, Tatsachen zu ermitteln und Rechtsfragen zu beantworten. ({3}) Der dritte Punkt ist eine mir völlig unverständliche Regelung; auch über diesen Punkt in Ihrem Antrag müssen wir noch einmal reden. Wenn die Mutter die gemeinschaftliche Sorge beantragt, dann - so besagt es Ihr Antrag - kann das Jugendamt dem nur entsprechen, wenn der Vater innerhalb von acht Wochen zustimmt. Das verstehe ich überhaupt nicht. Was ist, wenn der Vater nun länger braucht, um seine Zustimmung zu erklären, zum Beispiel neun oder zwölf Wochen? Wenn er die Zustimmung erst nach Ablauf der Achtwochenfrist erteilt, liegt ja eine gemeinschaftliche Sorgerechtserklärung vor: Die Mutter will, der Vater will. Braucht der Vater also länger als acht Wochen, um Ja zu sagen, dann hat er ja trotzdem, auch wenn er länger, als von Ihnen vorgesehen, gezögert hat, Ja gesagt, und es liegt eine gemeinschaftliche Sorgerechtserklärung vor. Warum dann das Jugendamt dazu noch etwas zu sagen hat und gar das gemeinsame Sorgerecht versagen kann, verstehe ich nicht. Das sind die Punkte, die ich an Ihrem Antrag bemängele. Deswegen kann ich ihm nicht zustimmen, auch wenn ich ihm sonst vieles abgewinnen kann und er mir in vielen Punkten sehr sympathisch ist. Wir werden trotzdem den Antrag aufmerksam studieren, weil er viele wertvolle Ansätze enthält. Ich denke, dass wir deutlich gemacht haben, weshalb wir diesem Antrag in der jetzigen Form nicht zustimmen können. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sorgerecht und Sorgepflicht - das ist ein hochemotionales Thema, wenn sich die Eltern getrennt haben. Ich denke, alle, die mit der Thematik befasst waren, haben Schreiben von Vätern, Müttern, Verbänden, Interessengemeinschaften, AGs und sonstigen Betroffenen in Deutschland bekommen. Die einen wollen es so, die anderen wollen es so. In der heutigen Debatte wurde dazu schon viel gesagt. Denjenigen, die sich mit dem Sorgerecht nicht so gut auskennen, möchte ich einen kleinen Einblick geben, wie es sich überhaupt entwickelt hat, um ein Verständnis dafür zu bekommen, wieso in Bezug auf das Sorgerecht für gemeinsame Kinder ein Unterschied zwischen Eheleuten und Nichteheleuten besteht. Ich gehe weit in die Geschichte zurück. Ich muss alles in vier Minuten pressen, aber ich versuche es. Nehmen Sie das BGB vom 1. Januar 1900; ich spreche von Eheleuten. Der Vater war der Patriarch der Familie, er allein hatte Erziehungsrecht, und er war der gesetzliche Vertreter. Die Mutter hatte nichts zu melden. Sie war für persönliche Zuwendung und Versorgung zuständig. Das hat sich - das muss man sich vorstellen - durch die Kaiserzeit, die Weimarer Republik, Nazideutschland bis in die Bonner Republik gehalten. Erst 1953 setzte ein Wandel ein. Die Mutter bekam ein Miterziehungsrecht, aber der Vater war nach wie vor gesetzlicher Vertreter und hatte das Letztentscheidungsrecht. Erst 1979, mit Einführung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge, wurde die Mutter bei der Erziehung gleichberechtigt. Betrachten wir parallel dazu das Scheidungsrecht. Bis 1977 galt das Schuldprinzip. Das heißt, wenn Eltern sich scheiden ließen und Kinder vorhanden waren, bekam der nichtschuldige Teil das Sorgerecht für die Kinder. Das wurde dann geändert. Es galt nicht mehr das Schuldprinzip, sondern das Zerrüttungsprinzip, aber im Falle einer Scheidung wurde im Regelfall nach wie vor nur einem Elternteil das Sorgerecht zugesprochen. 1982 hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass dies gegen das Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG verstößt. Beiden Eltern steht nach wie vor die elterliche Sorge zu. Das wurde letztlich erst 1998, 16 Jahre später, mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz umgesetzt. In den Köpfen der Menschen hat sich seither festgesetzt: Wenn Eltern sich scheiden lassen, tragen beide weiterhin die gemeinsame Sorge für die Kinder. Das hat sich inzwischen manifestiert. Bei ledigen Müttern und ledigen Vätern war es ganz anders. Ich gehe noch einmal zurück. 1. Januar 1900: Der Vater war noch nicht einmal mit dem Kind verwandt. Hintergrund des Ganzen war das gesellschaftliche Bild. Der Sohn aus gutem Hause hatte etwas mit dem Kindermädchen oder dem Hausmädchen. Das uneheliche Kind, wie es damals hieß - der Makel der Unehelichkeit -, sollte nicht in die Familie des gutbetuchten Vaters eindringen. Deswegen waren diese Personen per Gesetz noch nicht einmal verwandt. Auch diese Sichtweise hat sich über die verschiedenen Staatsformen bis in die Bonner Republik gehalten. Erst 1970 ist das geändert worden. Hinsichtlich der Verwandtschaft sind wir gerade dabei, die letzten Hemmnisse zu beseitigen. Aber inzwischen hat sich die Gesellschaft gewandelt; es ist schon angesprochen worden. Jedes vierte Kind im Westen und zwei von drei Kindern in den neuen Bundesländern werden nichtehelich geboren. Nichtehelich ist heute völlig normal in unserer Gesellschaft. Aber die rechtlichen Bestimmungen zum Umgangs- und Sorgerecht wurden dieser Entwicklung nicht angepasst. Da wird unterschieden: Trennen sich Eheleute, behalten beide das Sorgerecht. Trennen sich Nichteheleute, tauchen die hier beschriebenen Probleme auf. Wenn es keine Sorgerechtserklärung gibt, hängt es gegenwärtig vom Goodwill der Mutter ab, ob auch der Vater das Sorgerecht bekommt. Wenn die Mutter nicht zustimmt, kann der Vater nichts machen. Das hat das Bundesverfassungsgericht kritisiert und eine Übergangsregelung geschaffen. Wir müssen nun sehen, wie wir die Rechtslage ändern. Erstens gibt es den Weg der Antragslösung; das würde bedeuten, die Regelung ist wie bisher, nur mit einer gerichtlichen Überprüfung, wie es auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Übergangslösung vorschreibt. Zweitens gibt es die Möglichkeit der Widerspruchslösung; das heißt, die Mutter widerspricht der Erklärung des Vaters, das Sorgerecht gemeinsam mit der Mutter ausüben zu wollen, und dagegen kann dieser ein gerichtliches Verfahren anstrengen. Drittens gibt es die Möglichkeit der - ich nenne sie einmal so - großen Lösung; danach hätte der Vater von Geburt an durch eine Vaterschaftserklärung gemeinsam mit der Mutter das Sorgerecht; in den anderen Fällen verbliebe das Sorgerecht bei der Mutter, mit der Möglichkeit der Überprüfung in Zweifelsfällen, ob das für das Kindeswohl tatsächlich gut ist, analog § 1671 BGB. Die Positionierung meiner Fraktion in dieser Frage ist ähnlich wie die der SPD noch nicht abgeschlossen. Im Februar werden wir einen Antrag dazu vorlegen. Ich gehe davon aus, dass neben diesem Antrag und dem dann hoffentlich ebenfalls vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung noch weitere Anträge eingehen und wir dann im Ausschuss und in den Berichterstattergesprächen die beste, schönste und praktikabelste Lösung im Sinne unserer Kinder finden werden. Danke schön und schönes Wochenende. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3219 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Februar 2011, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.