Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/27/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten können, müssen wir noch eine Reihe von Nachwahlen zu Gremien durchführen. Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der Kollege Leo Dautzenberg aus dem Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes ausscheidet. Als sein Nachfolger wird der Kollege Klaus-Peter Flosbach vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist der Kollege Flosbach hiermit gewählt. Es wird ferner vorgeschlagen, den Kollegen KlausPeter Flosbach auch zum Nachfolger des Kollegen Dautzenberg im Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zu wählen. Neues stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Antje Tillmann werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen ebenfalls einverstanden? - Auch das ist offenkundig der Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt vor, die Kollegin Ingrid Nestle zum ordentlichen Mitglied im Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen und die Kollegin Kerstin Andreae zum stellvertretenden Mitglied zu wählen. Sind Sie auch mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die beiden Kolleginnen gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die öffentliche Diskussion über die Falschund Nichtunterrichtung des Deutschen Bundestages durch den Bundesverteidigungsminister zu Vorfällen in der Bundeswehr ({0}) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen durch mehr Fachpersonal für Hygiene und Prävention - Drucksache 17/4452 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Schlaglochchaos beenden - Kommunale Finanzen stärken ZP 4 Vereinbarte Debatte Tunesien - Jetzt Grundlage für stabile Demokratie schaffen ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und Europa sicherstellen - Drucksache 17/4527 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europas Energiezukunft erneuerbar und sicher gestalten - Drucksache 17/4544 Redetext Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- weit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Bildungsbericht 2010 - Bildung in Deutschland und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 17/3400 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({4}), Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bildungsberichte nutzen - Bildungssystem gerechter und besser machen - Drucksache 17/4436 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Professor Dr. Annette Schavan das Wort. ({6})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Nationale Bildungsbericht, den Bund und Länder zum dritten Mal vorlegen, enthält zentrale Botschaften zur Leistungsfähigkeit des Bildungssystems in Deutschland, zeigt Perspektiven unseres Bildungssystems im demografischen Wandel und geht auf die wichtigsten Problemlagen ein. Zusammen mit der zuletzt vorgestellten PISA-Studie kann er auch als so etwas wie eine Bilanz über zehn Jahre Bildungsreform in Deutschland gewertet werden. Beide Studien zeigen, dass die Reformbemühungen zu positiven Ergebnissen führen. Ich sage vor allem mit Blick auf unsere Schulen: Wer immer den Eindruck erweckt, dass sich in diesen zehn Jahren nichts verändert hat, der ignoriert die Anstrengungen in unseren Schulen. Anstatt anzufangen, uns über Bildungspolitik zu streiten, sollten wir den vielen Lehrerinnen und Lehrern an diesen Schulen für ihre erheblichen Anstrengungen danken, die in den letzten Jahren zu Verbesserungen geführt haben. ({0}) Wir wissen zugleich, dass es Problemlagen gibt, mit denen wir uns schon geraume Zeit befassen und bei denen wir noch nicht am Ziel sind. Auch deshalb räumt die christlich-liberale Koalition der Bildungs- und Hochschulpolitik Priorität ein und setzt Schwerpunkte dort, wo wir noch nicht gut genug sind. Ich appelliere ausdrücklich an die Länder, es ebenso zu tun. Bildungspolitik muss überall Priorität haben, braucht nicht immer neue ideologische Debatten, braucht nicht immer neue Alleingänge, die den Bürgern gar keine Chance mehr geben, den Überblick zu behalten. Vielmehr muss alles, was in der Bildungspolitik in Deutschland geschieht, mit mehr Gemeinsamkeit unter den Ländern, mehr Vergleichbarkeit und dem konsequenten Abbau von Mobilitätshindernissen verbunden sein. ({1}) Die zentralen Botschaften des Nationalen Bildungsberichts lauten kurz zusammengefasst: mehr Krippenund Kindergartenplätze, mehr Ganztagsschulen, bessere Schulleistungen in Mathematik, den Naturwissenschaften und auch bei der Lesekompetenz, deutlich mehr Studienplätze, mehr Ausbildungsplätze, weniger Schulabbrecher. Genau mit diesen Themen haben wir uns in den letzten Jahren befasst. Genau dazu haben Bund und Länder eine Qualifizierungsinitiative gestartet. Sie zeitigt erste Erfolge. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. ({2}) Diese Stichworte - ich könnte noch mehr nennen; ich sage aber nur noch wenige Sätze dazu - zeigen auch: Wir können vor allen Dingen Erfolge sehen, wo sich Bund und Länder jenseits von Parteigrenzen und jenseits aller möglichen ideologischen Kämpfe durchgerungen haben, zu gemeinsamen Strategien zu kommen. Ich nenne beispielhaft Bildung und Betreuung vor der Schule. Das Krippenprogramm - alle haben miteinander gerungen und es dann durchgesetzt - führt dazu, dass in Deutschland so viele Erzieherinnen wie noch nie zuvor in den Kitas tätig sind. Oder: Jede zweite Schule im Primar- und Sekundarbereich in Deutschland ist bereits eine Ganztagsschule. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die eine solche Schule besuchen und an den Angeboten teilnehmen, hat sich verdoppelt. Deutschland gilt in der OECD als ein Land mit signifikanten Verbesserungen in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Bildung. Darüber hinaus liegt uns allen besonders am Herzen, dass die Zahl der SchulabBundesministerin Dr. Annette Schavan brecher kontinuierlich sinkt. Wir wollen eine konsequente weitere Verringerung, weil wir wissen, dass der Schulabschluss für jeden Jugendlichen die Eintrittskarte für eine Ausbildung ist. Deshalb müssen wir das schaffen. Deshalb haben wir uns das mit Priorität vorgenommen. Deshalb gibt es Bildungsketten, Bildungslotsen und viele andere Programme, damit in Deutschland jeder Jugendliche die Voraussetzung hat, um eine gute Ausbildung zu beginnen. ({3}) Wenn wir uns an die Debatte über den Ausbildungsmarkt vor sechs bis sieben Jahren erinnern, ist jedem, auch jedem Fachpolitiker, klar, dass sich die Situation grundlegend verändert hat. Es gibt wesentlich mehr Ausbildungsplätze und durch die demografische Entwicklung weniger Bewerbungen. Also liegt der Schwerpunkt des Ausbildungspakts jetzt - auch das ist übrigens eine gemeinsame, ressortübergreifende Initiative von Bund und Ländern - auf der Qualifizierung, damit sich jeder Jugendliche erfolgreich auf eine Ausbildungsstelle bewerben kann. Das gesamte Potenzial auszuschöpfen, ist ein ganz wichtiger Beitrag mit Blick auf den Fachkräftemangel. Der Qualifizierung gilt vor allen weiteren Maßnahmen der Zuwanderung unsere besondere Verantwortung. Die Verantwortung dieses Parlaments, dieser Regierung und jeder Landesregierung besteht darin, dafür zu sorgen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zunächst eine gute Chance für Ausbildung und Studium bekommt. ({4}) Ich habe in dieser Woche die Bilanz des Hochschulpakts gezogen. Die erheblichen Bemühungen der Länder und des Bundes tragen Früchte. Statt geplanter 90 000 Studienplätze sind es 180 000 geworden. Studieren ist attraktiv. Noch nie haben so viele junge Leute in Deutschland studiert wie im Moment. Wir sind bei 46 Prozent. Jeder hier im Haus erinnert sich daran, dass wir uns jahrelang das Ziel gesetzt haben, die 40-ProzentMarke zu erreichen. Jetzt stehen die Universitäten vor einer anspruchsvollen Aufgabe, zumal aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht zusätzliche Studienanfänger kommen. Ich sage es auch an dieser Stelle: Wir lassen die Studierenden nicht im Stich. Jetzt ist es wichtig, alle Anstrengungen zu unternehmen, damit diese positive Entwicklung auch in den nächsten Jahren weitergehen kann. Zum deutlich gewachsenen Interesse am Studium haben ganz gewiss auch die deutlichen Verbesserungen bei der Studienfinanzierung beigetragen. Ich nenne das BAföG, das Deutschlandstipendium und das Aufstiegsstipendium. Die Studierenden, die jungen Leute spüren, dass die Grundlagen für die Finanzierung ihres Studiums vielfältiger, elterneinkommensunabhängiger und damit für sie attraktiver geworden sind. Auf diesem Weg werden wir weitergehen. ({5}) Dessen ungeachtet zeigt der Bericht, wo wir noch besser werden müssen, welche Problemlagen wir abbauen müssen. Das alles überragende Thema ist die Entkoppelung von sozialer Herkunft und schulischer Leistung. ({6}) Die Überwindung von Bildungsarmut, das ist unser großes Thema. ({7}) - Schön, dass jetzt die Kollegen von der SPD klatschen. ({8}) - Herr Schulz, ich wollte gerade sagen, dass das erstaunlich ist, weil die damalige rot-grüne Bundesregierung, als sie über Regelsätze nachgedacht hat, die Bildung schlicht vergessen hat. ({9}) Ich finde es bedauerlich, dass das, worüber am meisten geredet wird, wenn es um das Handeln geht, schlicht ignoriert wird. ({10}) Deshalb sage ich auch: Wenn wir das jetzt korrigieren - das tun wir gerade; die Kollegin von der Leyen sowie die Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen arbeiten im Vermittlungsausschuss daran -, ({11}) dann sollten Sie wenigstens aufhören, zu blockieren. Wir wollen das korrigieren. Hören Sie auf, das Zustandekommen des Bildungspakets weiter zu verzögern! ({12}) Die Überwindung von Bildungsarmut ist kein gutes Thema für Rhetorik. ({13}) Es müssen Fakten geschaffen werden. ({14}) Helfen Sie deshalb mit und hören Sie auf, zu blockieren und zu feilschen! Vergessen Sie nicht, dass Sie selbst damals gar nichts zuwege gebracht haben! ({15}) Wir werden über das Bildungspaket hinausgehend mit Allianzen für Bildung Bildungspartnerschaften vor Ort auf den Weg bringen, weil für uns völlig klar ist, dass die Gruppe der Kinder, die mit Risikolagen leben und des9714 halb eine schwierigere Bildungsbiografie haben, weit über die Gruppe der Hartz-IV-Kinder hinausgeht. Deshalb werden wir in den nächsten Wochen in Kooperation mit Sportvereinen, Bibliotheken, der Stiftung „Lesen“, den Einrichtungen der kulturellen Bildung und mit vielen anderen Partnern Allianzen für Bildung vor Ort schaffen. Wir wollen eine gesellschaftliche Bewegung für Bildung mit dem Ziel einer besseren Bildungsteilhabe. Bildung ist nicht nur eine Frage des Staates. Das ist auch eine Anfrage an unsere Gesellschaft, die eine bildungsbegeisterte und bildungshungrige Gesellschaft werden muss. ({16}) Wir werden die Integration durch Bildung weiter verstärken. Nehmen Sie die Akzente, die wir im Bereich der frühkindlichen Bildung setzen - ihr Erfolg ist augenscheinlich -: die flächendeckende Sprachförderung, die Erzieherinnenfortbildung, die Häuser der kleinen Forscher. Jedes Kind hat Talente. Wir wissen, je stärker wir unsere Kindertagesstätten bei der frühkindlichen Bildung unterstützen, umso besser werden die Voraussetzungen zu Schulbeginn sein und umso größer ist die Chance, dass sich die Bildungsbiografien der Kinder gut entwickeln. Das Thema Weiterbildung wird uns auch aufgrund des demografischen Wandels in den nächsten Jahren stärker beschäftigen als in der Vergangenheit. Der Schwerpunkt des Nationalen Bildungsberichtes ist das Bildungssystem im demografischen Wandel. Der demografische Wandel wird vor allen Dingen bei Standortfragen im ländlichen Raum Konsequenzen haben. Wir brauchen Veränderungen in der beruflichen Bildung. Wir müssen von der Spezialisierung der Ausbildungen weg und hin zu den Berufsfeldern. Das werden wir im Laufe des Jahres angehen. Wir werden dafür sorgen müssen, dass der Hochschulpakt weiterentwickelt wird. Wir werden sehr genau beobachten, wie mit der demografischen Rendite in den Ländern umgegangen wird. Es ist wichtig, dass das Geld trotz rückläufiger Schülerzahlen weitestgehend im System bleibt. Wir halten am 10-ProzentZiel für Bildung und Forschung in den nächsten Jahren fest. ({17}) Alle Akteure im Bildungssystem - der Bund befindet sich da in einem guten Dialog mit einer Reihe von Ländern - werden darauf achten müssen, dass die Wege hin zur Bildungsrepublik Deutschland zu mehr Leistungsfähigkeit, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Vergleichbarkeit und zu weniger Alleingängen führen. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder, egal wo sie zur Schule gehen, ob in Hamburg, in Dresden oder in Berlin, vergleichbare Leistungen, vergleichbare Bildungsabschlüsse und vergleichbare Schulmaterialien haben. Das muss in einer globalen Welt so sein, und das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Deshalb lade ich Sie parteiübergreifend ein: Lassen Sie uns - dies hat sich in mancher Region in Deutschland schon bewährt - mit möglichst viel Konsens die Wege hin zur Bildungsrepublik Deutschland gestalten. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Thüringen, Christoph Matschie. ({0}) Christoph Matschie, Minister ({1}): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das ist die dritte Auflage des Bildungsberichts. Er zeigt nicht nur den aktuellen Zustand, sondern auch die zentralen Herausforderungen; Sie haben das eben erwähnt. Demografischer Wandel, Fachkräftebedarf, Integration, Bildung als soziale Frage - es mangelt wahrlich nicht an neuen Herausforderungen, die wir anpacken müssen. Die Bundesregierung hat Antworten formuliert. Sie hat die Bildungsrepublik ausgerufen und eine Qualifizierungsoffensive mit den Ländern gestartet. Das eine oder andere gemeinsame Programm ist sicher gut auf dem Weg. ({2}) Wenn man der Bundesregierung dafür ein Zeugnis ausstellen müsste, würde wahrscheinlich darin stehen: Sie hat sich bemüht. ({3}) Die Frage ist nur: Reicht das aus? Die Hauptlast der Bildung tragen Länder und Kommunen. Deutlich über 90 Prozent aller Aufwendungen für Bildung sind Aufwendungen von Ländern und Kommunen. Der Bund trägt 7,8 Prozent. Deshalb sage ich hier ganz klar und deutlich: Frau Kollegin Schavan, neue Sonderprogramme des Bundes, die die Bildungspolitik in Randbereichen der Bildung vorantreiben sollen, helfen nicht in allen Fällen. Manchmal mutet das an, als würden Sie versuchen, im Winterdienst auf der Autobahn mit dem Handwagen das Streusalz zu verteilen. Nein, Frau Kollegin Schavan, wir brauchen eine andere Art von gemeinsamer Bildungsanstrengung, wenn wir Bildung in Deutschland voranbringen wollen. ({4}) Die Sonderprogramme haben auch das Problem, dass sie auf äußerst unterschiedliche Situationen in den Bundesländern stoßen. Sie wissen ganz genau: In einem Bundesland liegt der Schwerpunkt vielleicht auf der Schulentwicklung, für die zusätzliche Mittel benötigt werden; in einem anderen Bundesland sind es gerade die Kindergärten oder die Hochschulen. Sonderprogramme nivellieren diese unterschiedlichen Entwicklungen, die in den Bundesländern vorangetrieben werden müssen. Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen, bei dem jeder Experte nur noch mit dem Kopf geschüttelt hat. Sie haben im Rahmen der Qualifizierungsoffensive vorgeschlagen, lokale Bildungsbündnisse mit 1 Milliarde Euro zu fördern; das klingt erst einmal gut. Aber dass der Bund jetzt plötzlich versucht, über Schulvereine loMinister Christoph Matschie ({5}) kale Bildungsbündnisse zu organisieren, haben alle Experten als abenteuerlich eingeschätzt. ({6}) Das Gleiche gilt für Ihr eben angesprochenes Bildungspaket. Frau Kollegin Schavan, es geht nicht darum, ein sinnvolles Bildungspaket zu blockieren, sondern es geht darum, ein sinnvolles Bildungspaket überhaupt erst auf den Weg zu bringen. ({7}) Schauen Sie sich doch noch einmal an, was vorgeschlagen war. Da sollte eine Chipkarte oder ein Bildungsgutschein ausgeteilt werden. Ich frage mich manchmal, wie lebensfremd eigentlich die Vorstellungen sind, die Sie in Ihrem Hause ausbrüten. Wie lebensfremd ist das denn! Es hilft doch keinem Kind, wenn ich ihm eine Chipkarte oder einen Bildungsgutschein in die Hand drücke. Das Einzige, was wirklich hilft, ist, Strukturen vor Ort zu verbessern, ({8}) ganztägige Angebote zu machen und mehr Sozialarbeiter in den Schulen vorzuhalten. Darum geht es doch. Jetzt greife ich Ihr Angebot auf, 1 Milliarde Euro in lokale Bildungsbündnisse zu stecken. Warum nehmen Sie nicht diese 1 Milliarde Euro und investieren sie in mehr Sozialarbeiter in den Schulen? Wir würden die Schulentwicklung auf einen Schlag wirklich voranbringen können. ({9}) Aber nein, genau an dieser Stelle blockiert bisher Ihre Kollegin Frau von der Leyen die Gespräche. Ich glaube, man kann zu einer sinnvollen Vereinbarung zum Bildungspaket kommen. Das setzt aber auch voraus, dass wir die Lebenswirklichkeit der Menschen ernst nehmen und nicht Programme ins Leben rufen, die über die Köpfe hinweggehen und am Ende niemandem etwas nutzen. Der Bildungsgipfel und das 10-Prozent-Ziel sind eben noch einmal angesprochen worden. Die Länder haben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Anteil ihrer Bildungsausgaben an den Gesamthaushalten zu steigern. 1995 machten die Bildungsausgaben 29 Prozent in den Gesamthaushalten der Länder aus. 2008 waren es 34 Prozent. Ich sage aber auch: Die Länder geraten hier an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Ich will das einmal am Beispiel eines Bundeslandes wie Thüringen deutlich machen. Wir haben zusätzliche Mittel in die Hand genommen, um in die Kindergärten zu investieren. Über 100 Millionen Euro zusätzlich fließen in den Ausbau der Kindertagesstätteninfrastruktur, und das tun wir trotz schwieriger Haushaltslage. Nun schaue ich mir an, was in den nächsten Jahren auf ein Bundesland wie Thüringen zukommt. Nach der mittelfristigen Finanzplanung werden die Einnahmen des Landes aus Steuern, aus Bundeszuweisungen, aus Solidarpaktmitteln und aus europäischen Strukturfondsmitteln von 9 Milliarden Euro in diesem Jahr auf etwa 7,5 Milliarden Euro im Jahre 2020 sinken. Das heißt, Thüringen und andere neue Bundesländer müssen in den kommenden Jahren mit sinkenden Haushaltseinnahmen operieren. Gleichzeitig sind wir verpflichtet - und das wollen wir auch -, die Schuldenbremse des Grundgesetzes bis 2020 einzuhalten. Nun frage ich Sie: Wie soll man angesichts einer solchen Situation in den Ländern aus eigener Kraft die Bildungsfinanzierung ausweiten? Es wird nicht funktionieren, Frau Kollegin Schavan. Da hilft auch keine schöne Rede, mit der Sie hier mehr Gemeinsamkeit einfordern. Da hilft nur eines: dass sich der Bund endlich dazu bekennt, die Länder stärker bei der Bildungsfinanzierung zu unterstützen. Das ist der Weg, den wir gehen müssen. ({10}) Ich sage deshalb hier ganz deutlich: Der Bildungsgipfel im vergangenen Jahr ist klar gescheitert. Er ist gescheitert, weil die Bundesregierung nicht bereit war, die Länder bei dieser Aufgabe stärker zu unterstützen. Sie können doch nicht ernsthaft versuchen, die Bildungsprobleme in Deutschland zu lösen, indem Sie immer neue Sonderprogramme auf den Weg bringen, anstatt die Länder in ihrer Kernaufgabe zu unterstützen. Ich darf Sie an dieser Stelle vielleicht daran erinnern, ({11}) dass Sie es waren, Frau Schavan, die im Zusammenhang mit der Föderalismusdebatte darauf bestanden hat, dass die Länder noch mehr Kompetenzen in der Bildung bekommen, dass noch weitere Rahmenkompetenzen vom Bund abgezogen werden. Ich glaube - und ich sage das hier sehr deutlich -, dass die Entscheidung falsch war, so vorzugehen; das sage ich auch als Ländervertreter. Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland mehr gemeinsame Rahmenbedingungen für die Bildung. Nur so können Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit wirklich garantiert werden. ({12}) Wir brauchen einen neuen Bildungsgipfel, und zwar einen Bildungsgipfel, der ehrliche Antworten gibt, der ehrliche Antworten gibt auf die offenen Finanzierungsfragen, der ehrliche Antworten gibt auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Uns helfen keine neuen Sonntagsreden, mit denen Gemeinsamkeit beschworen wird. Ja, ich will, dass wir diese Aufgabe gemeinsam anpacken; denn es geht darum, über die Zustände im Bildungssystem zu diskutieren und Lösungen zu finden, statt sich über Zuständigkeiten zu streiten. Das geht aber nur, wenn sich der Bund endlich bewegt. Also sorgen Sie dafür, Frau Schavan, dass ein neuer Bildungsgipfel einberufen wird und dass der Bund die Länder bei der Finanzierung unterstützt! Diese Forderung wird von allen Ländern klar artikuliert. Die Länder brauchen höhere Steueranteile, um dann diese Mittel in die Bildung investieren zu können. Machen Sie endlich Ernst mit Ihren Sonntagsreden und helfen Sie den Ländern bei ihrer Kernaufgabe Bildung! ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von der FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Matschie, Sie haben sich bemüht. ({0}) Ich habe gerade gedacht, dass ich hier wirklich in der falschen Veranstaltung sitze. Wir müssen in diesem Land klar anerkennen, welche Bildungsleistungen wir hier gemeinsam erbringen. Diese Bundesregierung hat wie keine andere Bundesregierung vor ihr Bildungsinvestitionen auf den Weg gebracht. Die Ausgaben für Bildung und Forschung werden in dieser Legislaturperiode um 12 Milliarden Euro gesteigert; das ist die größte Steigerung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat. ({1}) Das ist eine Leistung, die anerkannt werden muss. ({2}) Wir können sehr gerne darüber diskutieren, was letztes Jahr beim Bildungsgipfel gut und was schlecht gelaufen ist. Sie haben hier Ihre Sichtweise dazu dargelegt. Ich erinnere mich sehr gut an den Bildungsgipfel im letzten Jahr. Ich erinnere mich sehr gut, wer auf diesem Bildungsgipfel blockiert hat: in erster Linie die sozialdemokratisch regierten Länder, an vorderster Stelle Sie, Herr Matschie. Das ist Realität; das muss klar angesprochen werden. Ein Bildungsgipfel kann nur dann zu einem Erfolg führen, wenn Bund und Länder bereit sind, aufeinander zuzugehen, und nicht, wenn auf beiden Seiten Blockaden aufgebaut werden. ({3}) Es ist wichtig und richtig, dass wir hier darüber diskutieren - das ist ein Ergebnis der Einführung des Nationalen Bildungsberichtes -, wie wir die Finanzbeziehungen stärken können, mit welchen Maßnahmen wir das 10-Prozent-Ziel erreichen können. Aber eines kann und darf nicht sein: Während der Bund Investitionen tätigt, schaffen Länder, beispielsweise Nordrhein-Westfalen, von sich aus die Studiengebühren ab - das kostet in Nordrhein-Westfalen 250 Millionen Euro jährlich - und erheben am gleichen Tag die Forderung an den Bund, für die Kosten, die durch die Abschaffung entstehen, einzuspringen und die entsprechenden Gelder zuzuweisen. So darf Bildungspolitik in diesem Land nicht laufen. ({4}) Zu den lokalen Bildungsbündnissen. Ich bin der Ministerin und der Regierungskoalition sehr dankbar, dass wir eine Debatte darüber führen, wie wir die gesamtgesellschaftlichen Kräfte dieses Landes in einer Allianz für Bildung zusammenbringen können, damit es in den Regionen und insgesamt vernetzte Angebote geben kann. Dort, wo ehrenamtliche Arbeit in Schulfördervereinen geleistet wird, wo Elternarbeit in besonderem Maße geleistet wird, müssen wir sie stärken; dort, wo das noch nicht der Fall ist, müssen wir die Menschen aktivieren. Das ist die Aufgabe der Politik: Wir müssen all diejenigen stärken, die sich zusammen mit uns auf den Weg machen. Das ist in lokalen Bildungsbündnissen möglich. Sie sind integraler Bestandteil einer erfolgreichen Bildungspolitik dieser Bundesregierung. ({5}) Man sollte den Nationalen Bildungsbericht - da es der dritte ist, kann man schon von einer Tradition sprechen - kritisch betrachten. Man sollte schauen, an welchen Stellen wir Dinge auf den Weg gebracht haben. Ich finde, es war ein tolles Zeichen, dass wir nach unseren Beratungen, die 2001 und 2002 im Deutschen Bundestag stattgefunden haben, trotz verschiedener Anträge - am Anfang stand der Antrag der FDP aus dem Jahr 2001 am Schluss gemeinsam die Einführung eines Nationalen Bildungsberichts beschlossen haben. Damit können wir immer wieder gemeinsam überprüfen, an welchen Stellen wir stärker vorangehen müssen, an welchen Stellen es gut läuft und wo wir wirklich noch eine Schippe nachlegen müssen. Ich sage es einmal so: Schon der Zeitpunkt, zu dem wir diese Debatte führen, stellt eine positive Veränderung dar. Der erste Nationale Bildungsbericht ist nachts um 2.30 Uhr aufgerufen worden. Heute sind wir in der Kernzeitdebatte. Vielleicht ist das auch ein Zeichen dafür - jedenfalls würde ich mir das wünschen -, dass die Bildung im Zentrum der gesellschaftspolitischen Diskussion angekommen ist. ({6}) Ein Bildungsbericht muss aber auch Raum dafür lassen, darüber nachzudenken, wo noch Verbesserungsmöglichkeiten für die Zukunft gegeben sind. Es ist richtig, dass wir noch sehr viel intensiver und kritischer auf all die Entwicklungen schauen müssen, bei denen wir Verbesserungen brauchen. So sehr wir uns darüber freuen, dass die Zahl der Schulabbrecher rückläufig ist: Es ist trotzdem notwendig, immer wieder gemeinsam darüber zu diskutieren, was möglich ist. Wir haben die Chance, gemeinsame Anliegen nach vorne zu bringen. Ein Nationaler Bildungsbericht muss aber auch die Eckpunkte dafür liefern. Beispielsweise war eines der zentralen Ergebnisse aller PISA-Untersuchungen der letzten Jahre, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Eigenverantwortung von Bildungseinrichtungen einerseits - der Eigenverantwortung von Schulen, der Eigenverantwortung von Hochschulen, der Eigenverantwortung von Kindergärten - und dem Bildungserfolg andererseits gibt. Deshalb wünsche ich mir, dass der Grad der Eigenverantwortung - was geleistet wird und wo wir uns noch auf den Weg machen müssen endlich Bestandteil des Nationalen Bildungsberichtes wird. Denn mehr Bildungsfreiheit vor Ort zu schaffen, ist eine Kernbotschaft aller PISA-Ergebnisse. Das muss sich auch endlich im Nationalen Bildungsbericht widerspiegeln. ({7}) Zoni Weisz hat uns vorhin in seiner sehr bewegenden Rede als eine Botschaft seines Lebens weitergegeben, dass nur Bildung und Entwicklung der Weg in eine gute Zukunft sind. Was er vorhin für sich selbst in sehr besonderer Art und Weise beschrieben hat, muss auch die Grundlage für uns hier in der Bundesrepublik Deutschland sein. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort für die Fraktion der Linken hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Recht, Herr Meinhardt, haben Sie auf die Worte von Herrn Weisz hingewiesen. Mich hat es auch beeindruckt, dass er gesagt hat: Die zentrale Frage bei den Entwicklungschancen von Kindern ist die Bildung. - Aber die Situation in Deutschland ist so, dass Sie ein klares Umdenken fordern müssen, statt sich in irgendeiner Form bestätigt zu sehen. ({0}) Der Bildungsbericht nennt drei Risikolagen: Arbeitslosigkeit der Eltern, geringes Einkommen der Eltern und schlechte bzw. keine Berufsausbildung. Der Bildungsbericht sagt: Diese drei Problemlagen setzen sich dann bei den Kindern fort. Aber er sagt nicht, was eigentlich geplant ist, wirksam dagegen zu tun. Das ist unsere Kritik. 29 Prozent der 13,6 Millionen Kinder in Deutschland - das sind 4 Millionen Kinder - befinden sich in einer der drei Risikolagen. 29 Prozent der Kinder! Ich bitte Sie, darüber nachzudenken. ({1}) Darunter sind 1,1 Millionen Kinder von Alleinerziehenden; das ist fast die Hälfte der Kinder von Alleinerziehenden. Darunter sind 1,7 Millionen Kinder mit Migrationshintergrund; das ist fast die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund. Die Situation bezüglich der Risikolagen hat sich nicht geändert unter der Regierung von SPD und Grünen, nicht geändert unter der Regierung von Union und SPD und nicht geändert unter der Regierung von Union und FDP. Die Problemlagen sind überall die gleichen geblieben. ({2}) Sie können das ganz einfach sortieren: Kinder von reichen Familien gehen in der Regel auf höhere Schulen oder auf Privatschulen, Kinder armer Familien haben diesbezüglich viel schlechtere Chancen. Was übrigens auch interessant ist: In der Weiterbildung setzt sich das fort. Nichterwerbstätige oder Leute mit geringer Bildung haben viel schlechtere Chancen auf Weiterbildung als andere. Das System, das, wenn man so will, schon in der Kindertagesstätte beginnt, setzt sich also bis zum Ende des Lebens fort. Ich möchte auf die Unterschiede in der frühkindlichen Bildung hinweisen. Die Angebote im Osten sind viel verbreiteter als die Angebote im Westen. Das hat etwas mit der Geschichte zu tun. Es wird höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass die Zahl der Kindertagesstätten in den alten Bundesländern mindestens so hoch ist wie in den neuen Bundesländern, obwohl auch dort ausgebaut werden muss. ({3}) Jetzt gibt es ein Gesetz, das besagt: Für 35 Prozent der Kinder müssen bis 2013 Kitaplätze entstanden sein. Heute glaubt wohl so gut wie keiner mehr daran, dass das zu schaffen ist. Nicht einmal die Hälfte der Jugendämter geht davon aus, dass Sie das wirklich realisieren. Warum wird hier viel zu wenig getan? Das Entscheidende ist und bleibt die soziale Ungleichheit. Sie setzt sich fort. Ich habe hier vor kurzem gesagt: Zwischen den Chancen zweier Neugeborener liegen tausend Welten. - Nur, Neugeborenen kann man noch nichts vorwerfen. Nicht einmal die FDP kann ihnen Leistungsdefizite vorwerfen; ({4}) sie sind ja gerade erst herausgekommen und haben noch nichts gemacht. Ich sage Ihnen: Für linke Politik ist ein ganz entscheidendes Ziel, Chancengleichheit für Kinder zu erreichen, und zwar gerade und in erster Linie auch in der Bildung. ({5}) Herr Matschie, was Sie wahrscheinlich nicht mitbekommen haben: Dass der Bund für die Schulbildung nicht mehr zuständig ist, liegt an einer Grundgesetzänderung, mit der der Rest seiner Zuständigkeit gestrichen wurde. Diese Grundgesetzänderung kam aber nur durch die Stimmen von Union und SPD zustande; sonst gäbe es sie gar nicht. Hier wäre also Selbstkritik in jeder Hinsicht angesagt. ({6}) Das Kooperationsverbot ist übrigens völlig falsch; das sehen inzwischen selbst Bildungspolitiker der Union so. Nun möchte ich drei konservative Thesen aufstellen. Wissen Sie: Ich bin ja nicht konservativ. Aber ich bin ein Logiker. Ich finde, selbst konservative Thesen müssten in sich logisch sein. Ihre erste These lautet: Die Deutschen haben zu wenige Kinder. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber eines weiß ich: Sie haben es nicht handwerklich verlernt. ({7}) Das heißt, Sie von der Union müssten einmal über die Gründe nachdenken. Ihre zweite These lautet: Wir brauchen einen flexiblen Arbeitsmarkt. Das heißt, die Lehrerin und der Architekt müssen immer dorthin gehen, wo sie gerade gebraucht werden. Sie wohnen also einmal in Thüringen; wenn sie einen Job in Bayern kriegen, gehen sie nach Bayern; dann gehen sie nach Schleswig-Holstein, und dann gehen sie nach Berlin. Sie müssen immer ganz flexibel sein und umziehen. Jetzt füge ich Ihre beiden Thesen zusammen: Dieses Paar hat drei Kinder und soll ständig umziehen, weil beide am Arbeitsmarkt flexibel sein sollen. Erklären Sie mir doch einmal, wie Ihre dritte These dazu passt: dass wir Wettbewerb brauchen und deshalb, weil wir 16 Bundesländer haben, 16 verschiedene Schulsysteme haben. Das heißt, dass sich diese Eltern, die Sie gerade überall herumschicken, gegenüber ihren Kindern völlig verantwortungslos verhalten müssen. Bringen Sie doch wenigstens eine Logik in Ihre Politik! Dann müssten auch Sie sagen: Das mit den 16 Schulsystemen läuft nicht. ({8}) Jetzt will ich es konkret machen: Nehmen wir einmal an, ein Kind aus Bayern beginnt gerade mit der sechsten Klasse und zieht nach Berlin um. ({9}) Dieses Kind war schon im Gymnasium und muss in Berlin wieder in die Grundschule gehen - leicht abenteuerlich. ({10}) Aber - passen Sie auf! - der umgekehrte Fall ist noch schlimmer: Ein Kind aus Berlin zieht zu Beginn der sechsten Klasse nach Bayern, kommt dort auf ein Gymnasium und hat im Vergleich mit den anderen Kindern zunächst gar keine Chance, weil die das Gymnasium schon ein Jahr lang kennengelernt haben, das Kind aus Berlin aber aus der Grundschule kommt. ({11}) Jetzt komme ich zum zweiten Beispiel - da sehen Sie nicht so gut aus -: Ein Kind - sagen wir einmal, es ist in der neunten Klasse - zieht von Bayern nach SachsenAnhalt. Dieses Kind aus Bayern ist fremdsprachlich etwas besser ausgebildet. Aber es hat ein Problem: Es hatte noch nie Chemieunterricht; der beginnt in Bayern erst in der neunten Klasse. In Sachsen-Anhalt hatten aber alle Kinder schon seit der siebten Klasse, seit zwei Jahren, Chemieunterricht. Das heißt, dieses arme Kind aus Bayern hat wegen Ihres komischen flexiblen Arbeitsmarktes überhaupt keine Chance. ({12}) Sagen Sie mal: Was soll dieser ganze Unsinn? ({13}) Warum sind wir denn nicht in der Lage, ein Top-Bildungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern zu schaffen, sodass man umziehen kann, ohne sich gegenüber seinen Kindern verantwortungslos zu benehmen? ({14}) Jetzt gibt es noch eine neue Perversion - das alles muss man den Leuten erzählen -: private Agenturen, die Umziehende bei der Wahl der richtigen Schule unterstützen. ({15}) Ich bitte Sie! Wo soll denn das alles enden? ({16}) Jetzt kommt eines hinzu: Unsere 16 Bundesländer sind unterschiedlich finanzstark. Wenn Sie sagen, es sei reine Ländersache, dann sagen Sie ja, man könne Glück oder Pech haben. In einem reicheren Bundesland gibt es vielleicht mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, mehr Lehrerinnen und mehr Lehrer, und in einem ärmeren weniger. Interessant ist, dass es so direkt nicht funktioniert. Berlin ist vieles, ({17}) aber sehr arm im Vergleich zu Bayern. Bayern ist auch vieles, aber vor allen Dingen deutlich reicher. Trotzdem wird in Berlin pro Kind für Bildung mehr ausgegeben als in Bayern. Darüber sollten Sie bei der CSU einmal nachdenken. ({18}) - Passen Sie auf! Ich liebe Bayern: schöne Landschaft, schöne Städte. Ich mag auch München. Aber eine Metropole kennen Sie nicht. Das können Sie nur in Berlin kennenlernen; das ist noch etwas anderes. ({19}) Das heißt übrigens, dass es bei den Ländern doch mehr um die Einstellung der Landesregierung zu Bildungsfragen als ums Geld geht, wobei das Geld natürlich auch eine Rolle spielt, Herr Matschie. Die Grundgesetzänderung gab es nur mithilfe der SPD. Dann haben Sie die Schuldenbremse beklagt. Die steht im Grundgesetz. Ohne die Stimmen der SPD gäbe es sie gar nicht; ich muss das einmal ganz klar sagen. ({20}) So, und jetzt, Herr Matschie, werfen Sie es der Frau Bundesministerin vor und sagen, sie solle das Geld an die Schulen schaffen und solle dort Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter beschäftigen. Ja, toll! Das würde ich auch sagen. ({21}) Aber das Grundgesetz erlaubt das wegen der Änderung, die Sie katastrophalerweise mitgemacht haben, nicht mehr. ({22}) - Ich wollte ja, dass Sie sich aufregen. Dass mir das immer wieder gelingt, darauf bin ich schon ein bisschen stolz. ({23}) Aber nun zu den Hauptschulen. Ich sage Ihnen: Die Hauptschulen sind ein einziger sozialer Skandal. Ein Kind, das zur Hauptschule geht, ist schon sozial ausgegrenzt. Es wird abgeschrieben. Weil der Druck so zunimmt, entscheiden sich jetzt fast alle Bundesländer, Hauptschulen und Realschulen zusammenzulegen. Ich sage Ihnen erst einmal, was dabei herauskommt; nur Beispiele. Wie heißt diese zusammengelegte Haupt- und Realschule in Deutschland, in den einzelnen Bundesländern? Sekundarschule oder Mittelschule oder Oberschule oder Regelschule oder verbundene Haupt- und Realschule ({24}) oder erweiterte Realschule oder Stadtteilschule oder Regionalschule oder Realschule Plus oder Mittelstufenschule? Erklären Sie den Leuten diesen Schwachsinn einmal! Die wissen ja gar nicht, wohin sie ihre Kinder schicken sollen. ({25}) - Ja, das sage ich Ihnen gleich; das kann ich Ihnen gleich sagen. Zu meinen Konsequenzen komme ich noch. Die Hauptschülerinnen und Hauptschüler haben es bei der Zusammenlegung aber nicht leichter, weil sie in eine Hauptschulklasse kommen und damit genauso ausgegrenzt und abgegrenzt bleiben wie früher. In Sachsen-Anhalt regieren übrigens Union und SPD. Erstmalig in diesem Jahr ist es dort so, dass die Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss oder nur mit Hauptschulabschluss größer ist als die Zahl derjenigen, die mit Abitur abgehen. Das ist neu. Deshalb sage ich Ihnen: Es wird in Sachsen-Anhalt höchste Zeit, dass die LINKE regiert. ({26}) - Ich wusste, dass Sie sich darüber freuen. In Bayern und in Baden-Württemberg ist das aber nicht neu. In Bayern und Baden-Württemberg ist das seit Jahren so. Jetzt sage ich Ihnen nur die Zahl für Bayern von 2009: Mit Hauptschulabschluss bzw. ohne jeden Abschluss verließen 44 552 Schülerinnen und Schüler die Schule und mit Hochschulreife - einschließlich Fachhochschulreife - nur 33 188. Auch das ist ein Skandal. Es ist der Beginn und die Fortsetzung der sozialen Ausgrenzung. ({27})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Zeit jetzt weit überschritten. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gut, dann sage ich Ihnen als Letztes, was wir brauchen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Noch einen Satz.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ein letzter Satz: Wir brauchen bildungsträchtige Kitas, eine Förderung jedes Kindes und Jugendlichen. Wir brauchen Gemeinschaftsschulen, wie es sie schon in großer Zahl in Berlin gibt. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es ist gut, Herr Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bringen Sie auch den Kindern aus reichen Familien das soziale Leben bei! Isolieren Sie sie nicht, wie Sie das organisieren. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Priska Hinz von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dass ich das einmal von der Seite höre, Priska Hinz ({0}) ({1}) finde ich irgendwie amüsant. Herzlichen Dank. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi, Sie können, wortreich geschickt und rhetorisch gut, am Redepult ja immer Ungereimtheiten aufzeigen, aber leider sind Ihre Vorschläge ganz zum Schluss dann gemessen daran doch etwas sehr schwach. ({2}) Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie hier ein paar mehr und besser fundierte Vorschläge machen. ({3}) Frau Schavan, durch den Bericht werden Verbesserungen aufgezeigt, die es im Bildungswesen gegeben hat; das ist richtig. In dem Bildungsbericht wird aber nach wie vor auch aufgezeigt - ich finde, darum sollten wir uns insbesondere kümmern -, wo in Deutschland Bildungsungerechtigkeiten bestehen und wo Kinder von der Teilhabe ausgegrenzt sind. Vor allen Dingen wird aufgezeigt, dass es auch aufgrund der demografischen Entwicklung nottut, alle Anstrengungen für Qualifizierung zu unternehmen, und zwar in Bezug auf die gesamte Bildungsbiografie, weil wir auf einen Fachkräftemangel zusteuern. Das ist wirklich das Gebot der Stunde: Qualifizierung von der Kita bis zur Weiterbildung. ({4}) Ich möchte hier kurz eine aktuelle Debatte aufgreifen, weil Sie darauf eingegangen sind, Frau Ministerin, nämlich auf das Bildungspaket, über das jetzt gerade im Zuge der Hartz-IV-Reform verhandelt wird. Die Union hat das alles damals im Vermittlungsausschuss übrigens mit ausgehandelt und im Bundesrat mit beschlossen. Deswegen müssen Sie sich hier nicht so aufplacken. Viel wichtiger ist aber der Vorschlag, der jetzt von der Sozialministerin gemacht worden ist. Sie hat nicht nur einfach die Bildungschipkarte vorgeschlagen, sondern sie hat schlicht und einfach gedacht und gesagt: 10 Euro pro Kind für die Vereinstätigkeiten reichen aus. - Für individuelle Förderung und für Bildungsteilhabe reicht das aber nicht aus. Es ist notwendig, zu verhandeln, damit mehr Angebote schulnah gemacht werden können, sodass wir zu Bildungspartnerschaften zwischen den Kommunen, der Jugendhilfe und den Schulen kommen, damit die Kinder tatsächlich individuell gefördert werden können. ({5}) Hier brauchen wir noch Bewegung; hier müssen Sie noch etwas dazutun. Gemäß dem Bildungsbericht befindet sich ein Drittel der Kinder noch in Risikolagen. Das ist das große Problem der mangelnden Teilhabe. Wir brauchen hier bessere Kitas, eine gute frühe Förderung und bessere und noch mehr Ganztagsschulen. Frau Ministerin, Sie sagen, 52 Prozent der Schulen seien Ganztagsschulen. 52 Prozent der Schulen haben Angebote im Ganztagsbetrieb, aber das sind noch keine Ganztagsschulen in dem Sinne, dass die Vormittage und Nachmittage verbunden sind und eine echte Lernförderung stattfindet. Hier besteht noch Nachholbedarf. Das wird aber nur funktionieren, wenn wir es schaffen, dass Bund und Länder die Finanzierung gemeinsam stemmen. In diesem Sinne habe ich mich heute Morgen darüber gefreut - gestern schon, aber heute Morgen war es öffentlich -, dass Herr Rupprecht im Deutschlandfunk erzählt hat, dass die CDU/CSU jetzt auch dafür ist, das Kooperationsverbot zu lockern. Wunderbar! ({6}) Es ist natürlich falsch, dass die Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker schon immer gegen das Kooperationsverbot waren. Richtig ist aber - deswegen bin ich nicht nachtragend -, ({7}) dass es gelockert werden muss. Insofern sollten wir jetzt, da alle Fraktionen im Bundestag dieser Meinung sind, doch gemeinsam an die Arbeit gehen. ({8}) Lieber Herr Bildungsminister aus Thüringen, Sie sollten dafür sorgen, dass die SPD-Ministerpräsidenten endlich auch verstehen, ({9}) dass man zu einer gemeinsamen Förderung nur kommen kann, wenn man das Grundgesetz in diesem Punkt auch gemeinsam wieder ändert. Das ist Ihre Aufgabe. Dazu haben Sie hier heute leider nichts gesagt. ({10}) Meine Damen und Herren, wir verschenken Bildungspotenziale bei Migranten in höchstem Maße. 31 Prozent der jungen Menschen mit anderer Herkunft zwischen 20 und 30 Jahren haben keinen beruflichen Abschluss. 31 Prozent der 20- bis 30-Jährigen! Das ist eigentlich ein Skandal für diese Bildungsrepublik. ({11}) Herr Rupprecht, das hat nichts mit Multikulti zu tun. ({12}) Priska Hinz ({13}) Es hat vielmehr etwas damit zu tun, dass wir geringqualifizierte Menschen ins Land geholt haben und dass es viele Jahre eine Familienideologie gab, die davon ausgegangen ist, dass zum einen die Familien irgendwann wieder in ihre Heimat zurückkehren und Bildung insofern nicht so wichtig ist und dass zum anderen die Kinder nicht den Familien entfremdet werden sollen. ({14}) Sie haben sich noch bis ins Jahr 2000 hinein gegen Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen gesträubt. Es ist wichtig, dass wir gute Bildungsangebote starten, und zwar von der frühkindlichen Bildung über die Schule bis zu Ausbildungs- und Weiterbildungsmodulen, mit denen wir jungen Menschen eine zweite Chance bieten, sich zu qualifizieren und am Erwerbsleben teilhaben zu können. ({15}) Wir verschenken Bildungspotenzial bei Menschen mit ausländischen Bildungsabschlüssen. Die Ministerin tourt seit eineinhalb Jahren durch die Bundesrepublik und kündigt ein Gesetz an, durch das alles besser werden soll. Inzwischen machen Sie Gott sei Dank keine Versprechungen mehr in der Frage, wann der Gesetzentwurf endlich vorgelegt wird. Denn bisher haben Sie jeden Termin platzen lassen und jedes Versprechen gebrochen. Wir verschenken aber nicht nur Zeit, sondern auch Bildungspotenzial von Menschen, die qualifiziert sind und gerne hier in ihrem Beruf arbeiten wollen. Es tut dringend not, dass Sie endlich zu Potte kommen und uns einen Gesetzentwurf präsentieren, damit die Qualifikation dieser Menschen endlich anerkannt wird. ({16}) Es gibt aber auch ein Problem bei Jungen und jungen Männern, die zum Teil nicht in dem Maße an der Bildungsexpansion der letzten Jahre teilgehabt haben wie die jungen Frauen. Mädchen sind gut in der Schule; Frauen sind in der Ausbildung oder im Studium gut. Junge Männer sind in höherem Maße unterqualifiziert und ohne beruflichen Abschluss. Ich glaube, dass hier zielgruppenspezifische Angebote notwendig sind und dass wir auch einen Gender-Blick auf die Schule richten müssen. ({17}) Wir müssen aber nicht nur für die Jungen im Bildungsbereich etwas tun, sondern wir müssen auch etwas für die jungen Frauen tun, die gut ausgebildet in den Beruf kommen und dann entweder an die gläserne Decke stoßen, weil sie nicht ihrer Qualifikation entsprechend eingesetzt werden, oder nicht weiter arbeiten können, weil es an den Rahmenbedingungen - Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen - fehlt. Die Familien- und Frauenministerin sagt, dass sie mit Feminismus nichts am Hut hat. Das mag zwar ihre persönliche Meinung sein, aber es ist ihre Aufgabe, sich für die Gleichberechtigung von Frauen einzusetzen. Diese Aufgabe hat sie bislang sträflich vernachlässigt. ({18}) Herr Präsident, ich sehe das Signal. Ich komme zum Schluss. Schade, ich hätte noch einige gute Vorschläge zu machen. Ich hoffe, dass wir den Bildungsbericht nicht nur einmal im Ausschuss behandeln, sondern auch, wie in den Vorjahren, eine Anhörung dazu durchführen. Er ist es allemal wert, dass wir ihn uns zu Gemüte führen und uns mit der Frage befassen, welche politischen Handlungsmöglichkeiten wir aufgrund dieses Berichtes haben und wo wir bei entsprechenden Vorschlägen zusammenkommen können. Danke schön. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ministerin hat in ihrer Rede deutlich gemacht, dass es nach zehn Jahren Bildungsreform an der Zeit ist, Bilanz zu ziehen. Der Dank an die Bildungsbeteiligten - Lehrer, Erzieher und andere, die in der Bildung aktiv sind - ist richtig; das muss unterstrichen werden. Es ist aber für uns im Bundestag auch an der Zeit, nach fünf Jahren Amtszeit der Bildungsministerin Schavan Bilanz zu ziehen. Es ist eine gute Bilanz mit großen Erfolgen auch im Bildungsbereich. ({0}) Als junge Väter - es gibt einige jüngere Väter unter uns - mussten wir ein bisschen lächeln, als Herr Gysi das Thema Handwerk mit dem Kinderkriegen kombiniert hat. Auch im Bildungsbereich kann man sagen: Es gibt ein Handwerk guter Bildungspolitik. Großes Mundwerk - gutes Handwerk: Das unterscheidet uns seit Jahren in der Bildungspolitik. Die Ergebnisse sind auch angekommen. ({1}) Es geht nicht nur um den Bildungsbericht, über den wir heute debattieren. Man kann auch auf die PISA-Ergebnisse verweisen oder den Berufsbildungsbericht mit heranziehen. Wenn man sich das Gesamtkonstrukt anschaut und sich fragt, was passiert ist, dann muss man sagen: Seit 2005 haben wir eine sukzessive, deutlich positive Entwicklung hin zu einer Bildungsrepublik. Marcus Weinberg ({2}) Wenn man sich die Leitlinien der verschiedenen Fraktionen hier im Hause anschaut - da wird es doch etwas politisch -, dann muss man feststellen, dass es deutliche Unterschiede gibt. ({3}) Für uns gilt: Mit den Maßnahmen, die wir ergriffen haben, wollen wir eine Aufstiegsgesellschaft entwickeln, in der Chancengerechtigkeit mit Leistung kombiniert wird. Das ist der Unterschied zu Ihrem Bild von Bildung, Herr Gysi. Sie verfechten den Gleichheitsansatz, Sie wollen Gleichmacherei; wir aber wollen Chancengerechtigkeit und Leistung. Das unterscheidet unsere Leitlinien im Wesentlichen voneinander. Darin besteht die Abgrenzung zu Ihnen. ({4}) Auch wir sind für Teilhabe und für Anerkennung. Die Kollegin Hinz, mit der ich bald wieder befreundet sein werde, ({5}) sprach vorhin vom Anerkennungsgesetz. Ja, auch wir warten darauf. Im März möchten wir etwas sehen. In der Hinsicht sind wir durchaus einer Meinung. Wir wollen auch - Herr Meinhardt hat das angesprochen -, dass die Vielfalt im Bildungssystem gestärkt wird und nicht die Gleichmacherei, wie andere das wollen. Wenn man das möchte und diesen Weg beschreitet, muss man zunächst einmal die finanziellen Mittel zur Verfügung stellen. Ich weiß, dass Sie es nicht mehr hören können, ich sage es aber trotzdem noch einmal: 12 Milliarden Euro zusätzlich werden bereitgestellt, im Etat 2011 11,65 Milliarden Euro für den Bereich Bildung. Verzeihung, liebe Opposition: Das sind 54 Prozent mehr als unter der letzten rot-grünen Regierung. Das ist ein deutlicher Unterschied. Hierauf haben wir die Priorität gesetzt. ({6}) Schauen wir uns an, wie sich das Konzept von Chancengerechtigkeit und Leistung in der Politik der Bundesregierung konkretisiert! Bei der Vergabe der Bundesmittel werden insbesondere im Hochschulbereich diese beiden Ziele verfolgt. Ich nenne die BAföG-Erhöhung und den Hochschulpakt mit den Ländern. Damit wird in Kooperation mit den Ländern mehr jungen Menschen die Chance gegeben, zu studieren. ({7}) Auch wurde ein nationales Stipendienprogramm aufgelegt, um deutlich zu signalisieren, dass der Leistungsgedanke bei uns einen hohen Stellenwert hat. Das sind die Maßnahmen. Jetzt kommen wir zum Ergebnis. Die Wirkung der Maßnahmen war, dass die Studienanfängerquote 2009 43 Prozent betrug. ({8}) Damit haben wir die Ziele deutlich übertroffen. Jetzt, nach fünf Jahren, kann man sagen: Frau Ministerin Schavan, darauf können wir aufbauen. ({9}) Richtig ist aber auch, dass wir im Bildungsbereich - auch das zeigt der Bildungsbericht - weiterhin vor großen Herausforderungen stehen. Bleiben wir bei den Herausforderungen - da sind wir in diesem Hause weitestgehend einer Meinung -: Ein großes Problem ist, dass jedes dritte Kind unter 18 Jahren in einer Risikofamilie lebt und wir den Bildungserfolg noch nicht vom sozialen Status der Familie lösen konnten. Trotzdem sei eine Zahl genannt - ich beziehe mich auf PISA -: Es geht um Leistungsunterschiede im Lesen zwischen guten und schwachen Schülern. Wir haben es geschafft, die Zahl der schwachen Schüler von 22,6 Prozent auf 18,5 Prozent zu reduzieren. Das sind nach wie vor zu viele, aber die Reformen wirken allmählich. Das spricht für eine Verbesserung im Bildungssystem. Oder schauen Sie sich die Naturwissenschaften an! Der Anteil der Schüler mit geringen Kompetenzen in den Naturwissenschaften - ich beziehe mich wiederum auf die PISA-Studie - hat sich auf 14,8 Prozent reduziert. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 18 Prozent. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, betreffen insbesondere die soziale Herkunft und den Migrationshintergrund. Herr Gysi fragte, was wir denn machen. Wir machen zwei Dinge: Wir fördern zielgenauer und früher. Es geht um den Ausbau im Bereich der Kindertagesbetreuung. Man sollte sich die Zahlen einmal anschauen und diese dann bewerten, Herr Gysi. Wir als Bund geben 4 Milliarden Euro dafür aus. Schauen Sie sich den Bildungsbericht an! Die Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen ist um 7 Prozent gestiegen, bei den Zweijährigen hat sich die Bildungsbeteiligung von 17 Prozent auf 30 Prozent deutlich erhöht. Mittlerweile sind 95 Prozent der Vier- und Fünfjährigen in der Bildungseinrichtung Kita. ({10}) Und wenn man dann als Minister hier ankommt und nur die Folie aufzieht: „Wir brauchen mehr Geld; der Bund muss uns Geld geben, sonst schaffen wir das alles nicht“, dann muss ich sagen: Man muss auch seine eigene Verantwortung wahrnehmen. Ich kann für mein Bundesland sagen: Wir haben damals den Etat im Bereich der Kindertagesbetreuung von 300 Millionen Euro auf über 460 Millionen Euro erhöht. Damit haben wir einen Schwerpunkt gesetzt. Für solche Maßnahmen hat ein Minister - in diesem Falle ein Senator - die Verantwortung. ({11}) Wir im Bund haben die Länder bei der frühen Förderung unterstützt. Wir erwarten von den Ländern aber auch, dass sie die Maßnahmen umsetzen. Es geht nicht, dass Marcus Weinberg ({12}) sie das Geld nehmen und gleich neue Forderungen stellen. ({13}) Ein nächster Schritt wird sein - das gilt gerade für den Bereich der frühen Förderung -, von der Quantität zur Qualität zu kommen. Von der Ministerin wurde bereits das „Haus der kleinen Forscher“ angesprochen. Die Medienkompetenz wird gestärkt. Ich erinnere daran, dass 400 Millionen Euro über vier Jahre hinweg in die frühkindliche Sprachförderung investiert werden. Das heißt, auch hier hat der Bund Akzente gesetzt, früher und zielgenauer zu fördern. Wir wollen mehr Männer in den Kitas und möchten, dass die Tagespflege qualitativ ausgebaut wird. Um dies zu erreichen, haben wir mit dem Aktionsprogramm „Kindertagespflege“ und dem Programm „Mehr Männer in Kitas“ bedarfsorientiert und zielgenauer gehandelt. Auch zu dem großen und umfangreichen Bereich des Ausbildungsmarktes könnte man noch Stellung nehmen. Die Verlängerung des Ausbildungspaktes, in den wir das Thema Migration aufgenommen haben, zeigt, dass wir die Probleme und Herausforderungen erkannt haben und dass wir sie sukzessive lösen bzw. dass wir uns ihnen stellen. Bleibt als Fazit - Herr Präsident, ich komme zum Schluss -: Dieser Bildungsbericht dokumentiert stärker als alle anderen Bildungsberichte, dass wir in der Bundesrepublik in der Bildung insgesamt vorangekommen sind. Da haben auch die Länder gut gearbeitet. Er dokumentiert aber eines insbesondere, nämlich dass wir in den letzten fünf Jahren auf Bundesebene neue Impulse hin zu einer Aufstiegsgesellschaft erlebt haben. Die Bundesregierung wird diesen Weg weitergehen, allerdings nicht im Sinne der Opposition, sondern im Sinne der jungen Menschen. Ihnen müssen wir über Leistungsund Chancengerechtigkeit eine Chance geben. Diesen Weg werden wir weitergehen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Rosemarie Hein von der Fraktion Die Linke.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Weinberg, Sie haben gerade die Leistungsgerechtigkeit angesprochen und uns vorgeworfen, wir seien für Gleichmacherei. Nun muss ich Ihnen aber sagen: Das Schulsystem, das Sie präferieren, bietet weder Leistungsgerechtigkeit, noch ist es chancengerecht; es ist nicht einmal chancengerecht und chancengleich schon gar nicht. Wenn nämlich ein Viertel der Hauptschülerinnen und Hauptschüler und ein Viertel der Realschülerinnen und Realschüler genauso gut auf der jeweils höheren Schulform sein könnte, wie die PISA-Studie dies nachweist, dann hat das mit Leistungsgerechtigkeit überhaupt nichts zu tun. Wenn man aber in einer Gemeinschaftsschule, wo man nach der vierten Klasse nicht aussortiert und entscheidet, wen man hierhin oder dorthin verortet, eine wirklich individuelle Förderung einführt, dann ist das keine Gleichmacherei, sondern ein ganz individuelles Eingehen auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes einzelnen Kindes. Das ist viel weniger Gleichmacherei als das, was Sie mit Ihren drei Schulformen machen. Was die frühe Förderung und Ihren Vorschlag betrifft, man müsse jetzt von der Quantität zur Qualität kommen - einmal abgesehen davon, dass uns auch bei der Quantität noch ein ganzes Stück fehlt -, gebe ich Ihnen selbstverständlich recht. Aber das werden Sie nicht mit Sprachförderungsprogrammen hinbekommen, sondern das bekämen Sie nur mit mehr besser ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern hin. Zwar hat die CDU/CSU im letzten Haushalt ein Programm für mehr Erzieher in Kindertagesstätten aufgelegt, aber unseren Vorschlag, das auch für Erzieherinnen zu tun, haben Sie gestern im Ausschuss abgelehnt. Da frage ich Sie schon, wie Sie das mit der Qualität meinen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weinberg, zur Erwiderung.

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Als Hamburger - dort wollten wir einmal eine Schulform mit einer sechsjährigen gemeinsamen Schule auf den Weg bringen - kann ich nur Folgendes sagen: Hinsichtlich der Einheitsschule muss man die Frage stellen, wie man im Bildungsbereich mit Heterogenität in der Gesellschaft, mit Migration und mit immer weiter auseinanderklaffenden Bildungsbiografien umgeht. Da ist der Ansatz falsch, zwanghaft zu sagen, alle Kinder müssten in einer Einheitsschule unterrichtet werden. Vielmehr muss man sie individueller fördern. Da stimme ich Ihnen zu; da sind wir gar nicht weit auseinander. ({0}) Dann entwickeln sich doch Schulsysteme. ({1}) Als Hamburger kann ich sagen: Wir haben noch eine Zweigliedrigkeit. Wir haben eine sogenannte Stadtteilschule - Herr Gysi hat es dankenswerterweise vorgelesen -, und wir haben auch das Gymnasium. Es gelingt uns bestens, die Heterogenität der Gesellschaft genau in diesen Schulformen widerzuspiegeln, auch bei der Frage von Talenten und Begabungen. Deswegen muss man aber nicht zwanghaft Einheitsschulen entwickeln, nur weil man das Motto hat: Ich will Gleichheit schaffen, wo keine Gleichheit ist. ({2}) Wir sprachen von Chancengerechtigkeit. Die Grundlage für Chancengerechtigkeit wird im frühkindlichen Bereich geschaffen. Da muss man mehr investieren, und da braucht man auch mehr Qualität. Zwar ist auch mehr Quantität erforderlich, aber im frühkindlichen Bereich Marcus Weinberg ({3}) braucht man in den nächsten Jahren zunächst einmal mehr Qualität, um später Chancengerechtigkeit zu ermöglichen. Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher haben Sie selbst angesprochen. Die Bundesregierung hat Programme aufgelegt, um auch die Länder dabei zu unterstützen, so beispielsweise das Aktionsprogramm „Kindertagespflege“, dessen eine Säule sich auf die Qualifizierung in der Kindertagespflege bezieht. Wir alle haben im Ausschuss eines gesagt: Wir diskutieren gerne darüber, wie wir den Ländern finanzielle Mittel bereitstellen und wie wir sie mit Kooperationen unterstützen können. - Das alles ist richtig. Aber eines muss man auch sagen: Die Länder haben weiterhin die Verantwortung. Alle Fraktionen - außer Ihrer Fraktion haben das hinsichtlich Ihres Antrags auch kritisch bemerkt. Wir wollen, dass die Länder sich an diesem Punkt einbringen, dass sie Geld investieren. Wir, der Bund, werden das Ganze weiterhin begleiten und zielgenau fördern; aber wir sind nicht diejenigen, die kompensatorisch Aufgaben der Länder übernehmen können. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der SPD-Fraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat, der Bildungsbericht zeigt, dass wir wesentliche Verbesserungen im Bildungswesen erreicht haben; das muss man als Allererstes positiv bemerken. Das ist zunächst das Verdienst all derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die sich im Bildungswesen engagieren, ({0}) in Kitas, in Schulen, in Hochschulen, bei der beruflichen Ausbildung. Ihnen gebührt zuallererst unser Dank. ({1}) Der Bildungsbericht ist ein Stück weit eine politische Bilanz, und zwar in erster Linie der Arbeit der Großen Koalition; schließlich können die Daten, die in diesem Bildungsbericht verarbeitet werden, so frisch, so aktuell nicht sein. Darin zum Ausdruck kommen auch Weichenstellungen, die wir unter Rot-Grün vorgenommen haben. Zu der Bilanz gehört das, was gut gelaufen ist, aber auch das, was mit neuen Herausforderungen verbunden ist, bzw. all die alten Probleme, die wir noch nicht ganz lösen konnten. Die Debatte über einen solchen Bildungsbericht ist der richtige Zeitpunkt, um Schritt für Schritt zu prüfen, was die neue Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP tut, um den beschriebenen Herausforderungen gerecht zu werden. Das will ich einfach einmal systematisch tun. Es wird der Bereich der frühkindlichen Bildung angesprochen. Der Bericht würdigt Verbesserungen. Diese Verbesserungen haben wir unter Rot-Grün begonnen und in der Großen Koalition fortgeführt. Dieser Bericht besagt - ich zitiere -: Um das Ziel eines bundesdurchschnittlichen Platzangebots von 35 Prozent für unter 3-Jährige bis 2013 zu erreichen, sind allerdings noch erhebliche Anstrengungen notwendig … Insgesamt müssen … weitere Qualitätsverbesserungen der Kindertageseinrichtungen erreicht werden. Wir haben entsprechende Konzepte. Wir wollen mehr und verbesserte frühkindliche Bildung. Wir wollen zum Beispiel eine gebührenfreie Kindertagesstätte, damit keine Hürden aufgebaut werden. Was macht die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP? Fast nichts über das hinaus, was wir in der Großen Koalition vereinbart haben. Das Einzige, worauf sie besonders Wert legt, ist das berühmte Betreuungsgeld. Ich will noch einmal sagen: Das ist wirklich Irrsinn. ({2}) Sie wollen Eltern dafür Geld geben, dass sie ihre Kinder nicht in eine Bildungseinrichtung schicken. Das ist der falsche Weg. Frau Schavan, Herr Kollege Weinberg, wenn Sie sagen, wie wichtig die frühkindliche Bildung ist, dann frage ich Sie: Warum schreiten Sie an dieser Stelle nicht ein? Warum verfolgen Sie da keinen vernünftigen Kurs? ({3}) Stichwort „Schule“: Es gibt eindeutig Verbesserungen; das hat auch die PISA-Studie, die wir bereits debattiert haben, gezeigt. Wir haben unter Rot-Grün ein Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht, das erheblich dazu beigetragen hat. Gleichwohl gibt es noch einiges zu tun. Im Bildungsbericht heißt es: Eine zentrale Herausforderung bleibt der nach wie vor zu hohe Anteil an Schülerinnen und Schülern, die ohne Abschluss die Schule verlassen. Etwa ein Drittel der Kinder sind in sogenannten Risikolagen. Wir von der SPD wollen dahin kommen, dass wirklich alle optimal gefördert werden. ({4}) Wir haben vorgeschlagen, dass es an allen Schulen Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter geben soll. Wir wollen hin in Richtung Ganztagsschulen. Was macht diese Regierungskoalition? Sie verweigert sich dem. ({5}) Wir sehen das jetzt gerade im Vermittlungsausschuss: Die zuständige Ministerin von der Leyen blockiert Swen Schulz ({6}) Schulsozialarbeit. Ich habe Sie, Frau Schavan, im letzten Jahr im Ausschuss gefragt: Was ist mit dem Thema Ganztagsschulen? Planen Sie da eine Initiative? Sie haben gesagt: Nichts gibt’s. - Das ist Arbeitsverweigerung. Das kann so nicht bleiben. ({7}) Stichwort „berufliche Ausbildung“: Es gibt eine Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt. In diesem Bericht heißt es zu Recht: Die Verbesserung der Ausbildungsmarktsituation gibt allerdings keinen Anlass zur Entwarnung. Insofern haben politische Bemühungen um berufliche Integration der Jugendlichen nichts an Aktualität eingebüßt. Wir von der SPD haben noch mit unserem damaligen Arbeitsminister Olaf Scholz die Förderung, die Unterstützung von Jugendlichen, die in Schwierigkeiten sind, ausgeweitet. Wir haben ein Recht auf das Nachholen eines Schulabschlusses verankert. Was macht diese Regierungskoalition? Sie streicht die Qualifizierungsmaßnahmen zusammen, und sie will das Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses kippen. Das ist der falsche Weg. Das sind Rückschritte. So kommen wir in der Bildungsrepublik Deutschland nicht voran. ({8}) Mein nächster Punkt - man kann das tatsächlich Punkt für Punkt durchdeklinieren - ist die Hochschule. Es gibt mehr Studierende. Das ist wunderbar. Wir haben auch einiges dafür getan. Für die Ausweitung des BAföG und den Hochschulpakt haben wir in der Großen Koalition die Weichen entsprechend gestellt. Aber zu Recht wird im Bildungsbericht darauf hingewiesen, dass es eine soziale Selektivität beim Übergang in die Hochschule gibt. Ein großer Teil der … Studienberechtigten, die sich gegen ein Studium entscheiden, betont neben dem Wunsch, möglichst bald selbst Geld zu verdienen, vor allem Finanzierungsprobleme … Hier zeigt sich, wie wichtig verlässliche Bedingungen der Studienfinanzierung sind. Deswegen wollen wir das BAföG deutlich ausweiten. ({9}) Sie kleckern beim BAföG, klotzen aber bei den Stipendien, obwohl diese keine verlässlichen Rahmenbedingungen setzen. ({10}) Damit locken Sie niemanden, der finanzielle Schwierigkeiten hat, an die Hochschulen. Damit lösen Sie keine Probleme. In den letzten Jahren ist im Bildungsbereich tatsächlich eine ganze Menge erreicht worden. Doch anstatt daran anzuknüpfen, anstatt weiterzumachen, steuern CDU/ CSU und FDP zusehends in die falsche Richtung. Ich will gar nicht sagen, dass alles schlecht ist, was Sie machen; das wäre übertrieben. ({11}) - Ja, ich möchte ganz fair Bilanz ziehen. Aber von dem Richtigen machen Sie zu wenig, etwa beim BAföG, teilweise machen Sie nichts - Thema Schulsozialarbeit und Ganztagsschule -, und leider machen Sie häufig das Falsche wie beim Betreuungsgeld und dem Streichen der Mittel für das Projekt „Zweite Chance“. Sie betonen, dass Sie eine Menge Geld im Etat zur Verfügung haben. Aber dieses Geld muss auch richtig ausgegeben werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Schulz.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir fürchten, dass Sie das gute bildungspolitische Erbe schlichtweg verschleudern. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel von der FDPFraktion. ({0})

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass man heutzutage immer noch denkt, dass man Schule ganz von oben, ganz zentral und ganz allein regulieren kann. Ich denke, das ist effektiv der falsche Weg. Im Moment haben wir 16 Bildungsmonarchien. Auch wenn wir eine einzige hätten - diesen zentralen Ansatz hat Herr Gysi vorgestellt -: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solches Vorgehen wirklich erfolgreich sein kann. ({0}) Der Nationale Bildungsbericht bringt ein bisschen Licht, aber auch nicht mehr, in den Dschungel des deutschen Bildungssystems. Diese aktuelle Bestandsaufnahme zur Entwicklung des Bildungswesens macht deutlich, vor welchen großen Herausforderungen wir angesichts des demografischen Wandels stehen. Bis 2025 wird sich die Zahl der Schüler um 15 Prozent verringern, das heißt von 9 auf 7,3 Millionen fallen. In den Ballungsgebieten wird die Zahl vielleicht etwas steigen, in den ländlichen Gebieten hingegen wird sie dramatisch sinken. Diese Entwicklung ist aber nicht nur in Deutschland zu beobachten. Das Institut der deutschen Wirtschaft schrieb in dieser Woche: Zu den Megatrends, die für eine international stark verflochtene Volkswirtschaft wie die deutsche merkliche ökonomische Auswirkungen haben, zählen Wachstum und Alterung der Weltbevölkerung sowie die Urbanisierung. Die Schlussfolgerung lautet dementsprechend: Volkswirtschaften und Unternehmen, die sich rechtzeitig darauf einstellen, werden zu den Gewinnern der Entwicklung gehören. Ich möchte gerne, dass Deutschland zu den Gewinnern gehört. ({1}) Wie stellen wir uns darauf ein? Der Nationale Bildungsbericht hat uns deutlich gezeigt, dass es positive Ansätze gibt. Ich will sie nicht alle wiederholen, ich habe auch nicht so viel Zeit. Es besteht jedoch deutlicher Handlungsbedarf: Zwar haben wir auf der einen Seite Fahrt aufgenommen und die Richtung stimmt, aber auf der anderen Seite hat die Zahl der Ungelernten einen neuen Höchststand erreicht. Das ist ein großes Problem. Der Abstand zwischen denen, die bestehende Angebote nicht annehmen und nicht erfolgreich nutzen können, und den anderen, die Erfolg haben, wächst stetig, das heißt, wir haben eine edukative Schere, die stetig auseinandergeht. Das können und das wollen wir uns in unserer Gesellschaft nicht leisten. Der frühkindlichen Bildung kommt dabei eine ganz besondere Rolle zu; denn die Potenziale aller Kinder müssen genutzt werden, und jedes, absolut jedes Kind hat ein Talent. Frühkindliche Bildung muss qualitativ und quantitativ gestärkt werden. Hier liegt der Schlüssel. Denn ob Sprache, Bewegung, Musik, Gestaltung oder Erziehung: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans schwerer, länger und manchmal überhaupt nicht mehr. Erfreulicherweise weist der Bildungsbericht für diesen Bereich eine starke Dynamik aus. Dennoch deckt das Angebot nicht die Nachfrage. Die Qualität ist stark zu verbessern. Außerdem erhöht sich das Alter der tätigen Fachkräfte weiter, während der Akademisierungsgrad leider gering bleibt. Der weitere Ausbau stellt daher auch künftig eine der größten Herausforderungen für diese Gesellschaft dar. Denn: Wir haben für alles Geld, aber in der frühkindlichen Bildung kommt es komischerweise überhaupt nicht an. ({2}) Wer es mit der Chancengerechtigkeit, der Emanzipation und der Wissensgesellschaft ernst meint, kommt nicht umhin, die frühkindliche Bildung zu professionalisieren und endlich zu einem exzellenten Bildungsangebot auszubauen. Meine Damen und Herren, das Kooperationsverbot hat eine ganz komische Attitüde. Kooperationsverbot heißt nicht, dass die Länder untereinander nicht kooperieren dürfen und zu Gemeinsamkeiten kommen können. ({3}) So hat es 60 Jahre gedauert, gemeinsame Bildungsstandards in der KMK zu entwickeln. Mit dieser Geschwindigkeit können wir nicht erfolgreich sein. ({4}) Deshalb müssen wir in der Zukunft - meines Erachtens sollten wir in die Zukunft schauen, anstatt uns gegenseitig vorzuwerfen, was in der Vergangenheit versäumt worden ist - eine bessere Kooperation ermöglichen. Wir sollten Verbote aufheben und diese Kooperation nutzen, um einen gemeinsamen nationalen Rahmen in Bezug auf die Bewertungsmaßstäbe, die Abschlussziele und die Bildungsstandards, die wir von den Schulen und allen anderen Akteuren verlangen, zu entwickeln. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Canel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Sitte?

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, später; danach.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, später ist das nicht mehr möglich, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist. Entweder jetzt oder gar nicht!

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Na gut; wenn Frau Sitte das möchte, dann gerne. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Canel, das ist nur ein Anfang, aber noch nicht die Lösung. Sie haben jetzt über das Kooperationsverbot und dessen Grenzen gesprochen. Ich hatte heute Morgen das Vergnügen, Herrn Rupprecht, den bildungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, zum Thema Kooperationsverbot zu hören. Er meinte, das Kooperationsverbot habe sich nicht bewährt. Jetzt sprechen Sie die gleiche Problematik an. Kann ich also davon ausgehen, dass in dieser Wahlperiode von der Koalition das Kooperationsverbot gemeinsam mit den anderen Fraktionen hier aufgehoben wird? ({0})

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich denke, dass das einer Debatte in diesem Hause bedarf. ({0}) Ich stehe hier in erster Linie für mich sowie meine AG Bildung und sage das, was ich als unabhängige Abgeordnete hier auch sagen darf. ({1}) - Ja, gerne. - Für vernünftige Lösungen erwarten wir natürlich auch Ihre Unterstützung. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dann kommen Sie bitte auch zum Schluss, Frau Canel.

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist sehr erfreulich, dass wir in diesem Punkt zueinanderkommen. Es darf kooperiert werden. Die Hoheitsrechte der Länder für die Bildung dürfen selbstverständlich nicht angetastet werden, weil wir die Länder brauchen, um eine gute Qualität sicherzustellen und bildungsnah dort an den Problemen ansetzen zu können, wo sie wirklich anfangen. Außerdem ist - das haben wir im OECD-Bildungsbericht gelesen - ganz dringend eine Eigenständigkeit der Schulen erforderlich. Vielen Dank. Bis zum nächsten Mal! ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der bildungspolitische Eifer der unterschiedlichen Bundesländer hat wahrscheinlich eine Ursache. Die Bildung ist nämlich das letzte - und wichtigste - Feld, das den Ländern überhaupt geblieben ist. Natürlich führt das zu einigen Blüten. Schauen wir einmal in mein Bundesland. ({0}) In Rheinland-Pfalz geht es ständig um Strukturdebatten. Eine Strukturreform wird von der nächsten gejagt. Beispielsweise wird die Hauptschule abgeschafft. Dabei führt man aber keine besseren Strukturen ein. Vielmehr macht man aus der Hauptschule die Realschule plus. Die Klassenmesszahl erhöht sich. Es gibt nicht genügend Sozialarbeiter und keine Aufstockung. Das ist die Problematik, mit der wir es zu tun haben. Ich komme auf ein Thema zurück, das schon angesprochen wurde. Wenn es um Bildungsinhalte geht, muss man sich um das kümmern, was wirklich wichtig ist. ({1}) Unsere Chance liegt darin, dass wir gemeinsam das aufgreifen, was Ministerin Schavan vorgeschlagen hat, nämlich Deutschland Schritt für Schritt - also nicht von heute auf morgen - zu einem Bildungsland zu machen, wo der Umzug in ein anderes Bundesland nicht die Wirkung hat, als würde man den Kontinent verlassen. ({2}) Das ist eine große Chance. Die einzelnen Länder müssen natürlich darauf achten, dass sie zunächst einmal ihre eigenen Hausaufgaben machen. Bevor also die SPD-Länder fordern, dass der Bund einheitliche Standards vorgeben soll, sollten sie zunächst ihre Hausaufgaben machen. ({3}) Ich schaue wieder nach Rheinland-Pfalz. Die Landesregierung weigert sich als Einzige, vergleichbare einheitliche Abschlüsse anzubieten ({4}) und sich gegenüber Anliegen der Arbeitgeber offen zu zeigen. Für die Arbeitgeber gleicht es nämlich manchmal einem Lotteriespiel, sich auf die vermeintliche Qualifikation des Absolventen zu verlassen. Sie wissen nicht, ob das Wissen, das mit dem Abschluss bescheinigt wird, auch tatsächlich vorhanden ist. Es ist aber nicht Aufgabe der Kammern und der ausbildenden Unternehmen, den Auszubildenden den Dreisatz sowie lesen und schreiben beizubringen. Wenn wir unter Beachtung der Subsidiarität, also einer Sichtweise von unten nach oben, nicht bereit sind, uns dem Vergleich zu stellen, ({5}) dann handelt es sich bei den Reden hier im Deutschen Bundestag nur um Fensterreden. Sie lassen sich hier für Ihre Ideen feiern, aber blockieren in Ihren Bundesländern letztlich das, was Fortschritt schafft. ({6}) Was letztlich zählt, ist das, was herauskommt. Es geht nicht um die Struktur. Denn es ist doch unerheblich, wie der betreffende Schultyp heißt. Wichtig ist vielmehr, was in der Schule passiert. Es ist wichtig, was am Ende herauskommt. An die Adresse des selbsternannten Logikers Herrn Gysi - ich sollte vielmehr sagen: Logistikers - will ich sagen: Herr Gysi, tauschen Sie doch einmal Ihre Logik gegen eine allgemeingültige Logik. Wenn Berlin pro Schüler mehr Geld ausgibt als Bayern, aber dennoch weniger dabei herauskommt, dann heißt die Gleichung doch: ({7}) Wo die Roten ihre Ideologie hineinstecken, kommt trotz mehr Geld nicht mehr heraus. Das ist doch die Wahrheit. ({8}) Herr Matschie hat heute als Kultusminister im Deutschen Bundestag gesprochen. Er hat aber nicht über Bildung, sondern über Geld geredet und angekündigt, dass sein Bundesland in den kommenden Jahren weniger Geld für Bildung ausgeben wird. ({9}) Das ist nicht in Ordnung; das ist nicht richtig. Sozusagen mit Schallgeschwindigkeit immer nach Berlin zu schauen, zeigt, dass Sie überfordert sind. ({10}) In dieser Überforderung liegt die Chance der unionsregierten Länder. Ich bedanke mich bei den Unionsländern - sei es Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oder Sachsen -, die sich darauf geeinigt haben, gemeinsam ein Abitur zu entwickeln, das vergleichbar ist. ({11}) Wir wollen gemeinsam Bildungsstandards entwickeln. Wer das nicht will, will auch nicht die Bildungsrepublik Deutschland. ({12}) Ich bin für einheitliche, vergleichbare Standards. Es geht nämlich um den Rucksack, der den Kindern für ein Leben mit gleichen Chancen gepackt wird. Aus diesem Grund ist die Bildungspolitik keine Spielwiese für das Ausprobieren von Ideologien. ({13}) Es geht jetzt um die Frage, wie wir es schaffen, dass das, was für Kinder angedacht wird, auch bei ihnen ankommt. Wer das Bildungspaket blockiert - Bildung ist mehr, als nur in die Schule zu gehen - und auf Kosten der Kinder Parteipolitik betreibt, ({14}) dem geht es nicht um die Sache, sondern um die Wirkung und um Muskelspiele im Bundesrat. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zukunft der Kinder entscheidet sich nicht erst in der Schule. Die Zukunft der Kinder entscheidet sich bereits im Kindergarten und in den Kindertagesstätten. ({16}) Deshalb ist es wichtig, dass wir bei den Kindern schon im frühen Alter verbindliche Sprachtests einführen. Das gilt nicht nur für Kinder aus Migrantenfamilien, sondern für alle Kinder. Ich schlage vor, dass dies ab dem vierten Lebensjahr geschieht, damit man zwei Jahre vor der Einschulung noch genügend Zeit hat, um kontinuierlich, aber vor allen Dingen auch individuell fördern zu können. Die Kinder sollen in der ersten Klasse nicht erst Sprachhindernisse überwinden müssen, bevor mit dem Vermitteln des Lehrinhalts begonnen werden kann. ({17}) Da müssen Sie sich öffnen. Herr Gysi, hier wünsche ich mir, dass Berlin auf Rheinland-Pfalz einwirkt. Rheinland-Pfalz hatte einen Bildungsminister, der nach Berlin gegangen ist. Dort hat er Sprachtests ab dem Alter von drei Jahren eingeführt, während das in Rheinland-Pfalz abgelehnt wird, weil das menschenverachtend sei. Ich muss sagen: Man muss sich auf eine Richtung einigen. Ich finde es kinderunterstützend, sich darauf einzulassen, sie frühzeitig zu befähigen, dem Unterricht folgen zu können. ({18}) Wir stellen fest, dass gerade in SPD-regierten Ländern die Ausgaben der Eltern für Nachhilfe immens hoch sind. ({19}) - In Rheinland-Pfalz zahlen die Eltern 40 Millionen Euro für Nachhilfe. - Wir sind dafür, dass die Bildungschancen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. ({20}) Ich danke zum Schluss allen Erzieherinnen und Erziehern. Ich danke den Lehrern. Sie haben es nicht immer einfach. ({21}) Wenn etwa der Ministerpräsident aus Rheinland-Pfalz sagt, er habe dienstags schon das gesamte Pensum erreicht, das Lehrer in der ganzen Woche machen, ({22}) ist das unanständig. Ich schaue auf die Schüler, die morgen ihre Halbjahreszeugnisse bekommen. Ich wünsche ihnen alles Gute und eine bessere Bildungspolitik. Herzlichen Dank. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Klöckner, jeder hat durchschaut, was Ihre Absicht war. ({0}) Ich glaube, der gemeinsame Wunsch im Hause war: Wären Sie doch im Verbraucherministerium weiterhin für dioxinbelastete Eier zuständig geblieben. ({1}) Weil Sie immer über Rheinland-Pfalz gesprochen haben, möchte ich nur folgende kleine Anmerkung machen: Rheinland-Pfalz ist bundesweit dafür bekannt, dass es den Spitzenplatz beim Krippenausbau einnimmt, dass es kostenfreie, frühkindliche Bildung hat, ({2}) dass es mehr Ganztagsschulen als viele andere Bundesländer hat, ({3}) dass es die Umgestaltung des Schulsystems im Konsens erreicht hat. Deshalb nehmen Sie es mir bitte bei allem Charme, um den Sie sich bemüht haben, nicht übel, ({4}) wenn ich sage: Im Bundestag haben wir die satisfaktionsfähige Diskussion im Spannungsfeld zwischen Frau Schavan und Herrn Gysi. Ich komme auf zwei aus dem Bildungsbericht abgeleitete Fragestellungen von Frau Schavan und von Herrn Gysi zu sprechen: Erstens ist Bildung bei uns immer noch an soziale Verhältnisse gekoppelt. Zweitens haben wir in Deutschland komplexe Bildungsorganisationsverhältnisse zwischen Bund und Ländern. Zum ersten Punkt hat Kollege Schulz herausgearbeitet, was Konsens werden kann: Natürlich muss frühkindliche Bildung vor allen Dingen in Bezug auf Kinder mit Einwanderungshintergrund qualifiziert und ausgebaut werden. Er hat ausgeführt, dass wir die Chance haben, jetzt bei der Schulsozialarbeit und dem Ganztagsschulausbau große Schritte voranzukommen. Er hat noch einmal gesagt - auch das zeigt der Bildungsbericht auf -, dass in der Lebensbiografie die berufliche Bildung nicht von der Weiterbildung abgekoppelt sein darf. Wir haben nicht die Zeit, nur über gute Primärausbildung zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen. So weit die klare Zielrichtung, die wir hoffentlich nicht nur parteiintern, sondern auch parteiübergreifend haben. Aber jetzt zum Zweiten: Ich fand es bemerkenswert, Frau Schavan, dass Sie durchaus auch das Mobilitätsproblem in Deutschland ansprachen. Es geht um - um einmal Zahlen zu nennen - 100 000 Kinder, die Jahr für Jahr von einem Bundesland in ein anderes umziehen. Herr Gysi, Sie haben das sehr beredt im Detail ausgeführt. Aber die Antwort auf die Frage nach möglichen Verbesserungen sind Sie schuldig geblieben. Deshalb nehme ich gern auf, was Frau Schavan gesagt hat: Wir registrieren positiv, dass es gemeinsame Bildungsstandards gibt, die vertieft werden. Es wird auch eine Entwicklung hin zu gemeinsamen Prüfungspools geben. Es wird aber aufgrund unserer föderativen Verfasstheit mit 16 Bundesländern und verschiedenen Ferienregelungen in Deutschland keinen Zentraltag für das Abitur geben können. Wenn wir gemeinsame Qualitätsstandards und gemeinsame Prüfungspools haben, ergeben sich zwei offene Fragen: Weshalb haben wir nicht auch einen Konsens in Bezug auf die Schulstrukturen? Da hat Herr Gysi recht: Wer oft umzieht, erlebt bei 16 Bundesländern 100 verschiedene Schultypen. Wir Sozialdemokraten bieten an, was in Hamburg nicht durch Bürgerentscheid abgeschafft worden ist, nämlich das Zweiwegemodell mit dem Gymnasium mit G 8 und der Stadtteilschule mit G 9. Dieses Zweiwegemodell beinhaltet also zwei Schularten, die alle Abschlüsse anbieten. Bei den Abschlüssen gibt es zwar durchaus noch Differenzierungen, sie sind aber nicht mehr hierarchisch zu verstehen. Es wäre eine Chance, wenn wir nicht nur gemeinsame Bildungsstandards und Prüfungspools, sondern auch das Zweiwegemodell als im Konsens vereinbarte Struktur hätten. Aktuell scheitert das noch daran, dass, um es polemisch auszudrücken, die „Lega Süd“ in Deutschland - Bayern, BadenWürttemberg und Hessen - nicht mitmacht. Aber es gibt eine Chance, das Zweiwegemodell im Konsens voranzubringen. Das Zweiwegemodell steht dafür, dass Umzug keinen Verlust von Schulerfahrung bedeutet. Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der vielleicht auch einen Konsens erfordert; denn er ist brisant. Die Ministerin hat uns schon manchmal darauf hingewiesen - auch das macht der Bericht deutlich -, dass wir in Deutschland bei den Konzepten, die infolge des PISA-Schocks gemeinsam erarbeitet worden sind, ein Desiderat haben. Das betrifft die Lehrerausbildung und die Lehrerweiterbildung. Auch an dieser Stelle kann man an Hamburg anknüpfen. Hamburg hat unter Schwarz-Grün etwas Wichtiges auf den Weg gebracht, nämlich die Weiterbildungspflicht für Lehrer, 30 Stunden jedes Jahr. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Den Gedanken möchte ich gerne zu Ende führen. Diese 30 Stunden jedes Jahr sind nicht unproblematisch, weil es nicht unbedingt populär ist, für 800 000 Lehrkräfte eine Weiterbildungspflicht festzuschreiben. Wenn wir das aber im Konsens tun, wenn SPD, CDU und andere sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, dann haben wir in Zukunft einen ganz großen Pluspunkt bei der Qualifizierung der Lehrer. Dann haben wir eine bessere Lehrerausbildung, eine bessere Lehrerauswahl und auch eine Weiterbildungspflicht. Dann wäre auch der Staat verpflichtet, gute Weiterbildungschancen zu eröffnen. Das wollen wir gerne in die Debatte einbringen. Ich weiß, dass das nicht populär ist, aber es ist wichtig. So etwas muss aus einem solchen Bildungsbericht erwachsen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Hein zur Verlängerung Ihrer Redezeit? - Bitte.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, Sie kommen aus dem Land Schleswig-Holstein. Sie haben gesagt, dass wir Alternativen und Vorschläge brauchen. Eine solche Möglichkeit, die wir bekanntlich vertreten, ist die Gemeinschaftsschule, wie es sie in Schleswig-Holstein bislang, glaube ich, noch gibt. Das ist das erste Land, das versucht hat, in diese Richtung zu gehen. Heute Morgen las ich in der Presse, dass in Kiel ein neues Schulgesetz verabschiedet worden ist, nach dem Gemeinschaftsschulen und Regionalschulen zusammengefügt werden sollen. Nach dem, was Sie zu Hamburg gesagt haben, frage ich Sie, ob Sie - ich weiß, dass Sie dort keine Verantwortung tragen, aber genau deshalb frage ich Sie - es nicht für einen Rückschritt halten, wenn die Schulen jetzt zu einer Schule zusammengelegt werden, die zwar den Haupt- und den Realschulabschluss anbietet, aber eben nicht das ist, was eine Gemeinschaftsschule eigentlich sein sollte. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich im Landtag wäre, dann würden Sie jetzt eine Philippika gegen das hören, was in Schleswig-Holstein leider passiert. Dort wird gegen den Willen der CDU das Rad zurückgedreht. Das ist zwar ein Erfolg der FDP, doch insgesamt ist das ein Rückschritt. Diese Philippika will ich aber nicht halten. Lieber werbe ich für das Zweiwegemodell, auf das wir uns in Deutschland hoffentlich im Konsens einigen können. Weil mir das wichtiger ist als die kleine Münze Schleswig-Holstein, nehme ich noch einen anderen Gedanken aus dem Bildungsbericht auf. Die Bildungskooperation ist das Formale. Wir werden es erleben, dass Sie Ihre CDU- und CSU-Ministerpräsidenten und wir unsere SPD-Ministerpräsidenten überzeugen. Dann haben wir es geschafft. Dann können wir uns freuen. Jetzt sollten wir nicht wechselseitig mit dem Finger aufeinanderzeigen. Sie und wir müssen das jetzt gemeinsam aus dem Bundestag heraus schaffen. Die Bildungskooperation muss aber auch gelebt werden, und zwar insbesondere an einer Stelle, die der Nationale Bildungsbericht aufgezeigt hat; denn wir können es uns angesichts des Fachkräftebedarfs nicht leisten, dass 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne Ausbildung sind. ({0}) Wenn es eine Aufgabe für die nächsten Jahre gibt, dann ist es die, diesen jungen Menschen in ökonomischer, persönlicher und pädagogischer Hinsicht eine Chance zu geben. Das ist die gemeinsame Aufgabe der Länder und des Bundes. Dafür möchten wir ausdrücklich und nachdrücklich werben. Das ist die Botschaft dieses Bildungsberichts. Lasst es nicht dazu kommen, dass sich eine Perspektivlosigkeit dieser jungen Menschen verfestigt. Das zu sagen, war mir wichtig. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben als christlich-liberale Koalition in unserem Koalitionsvertrag die Bildungsrepublik ausgerufen. Der vorliegende Bildungsbericht zeigt uns, dass wir diesem Ziel Stück für Stück näher kommen. Immer weniger Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Der Trend geht zu immer höheren Abschlüssen. Noch nie haben so viele junge Menschen eines Jahrgangs mit einem Hochschulstudium begonnen wie in diesem Jahr. Für diejenigen, die sich nicht für ein Hochschulstudium entscheiden, steigt die Chance auf einen Ausbildungsplatz. Ich erwähne das deswegen als Erstes, weil wir in der Bildungspolitik oft zum Schlechtreden neigen. Natürlich zeigt uns der Bildungsbericht auch Punkte auf, wo wir besser werden müssen. Genau das ist ja der Sinn eines solchen Berichts. Auf diese Punkte komme ich gleich zu sprechen. Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter den guten Statistiken, die der Bericht enthält, zahlreiche Schüler, Studenten, Lehrer, Erzieher, Eltern, Betriebe und viele andere Aktivposten im Bildungssystem stehen, die durch ihr großartiges Engagement und ihre individuelle Anstrengung dafür sorgen, dass wir insgesamt besser werden. ({0}) - Der Applaus ist berechtigt. ({1}) Diese Leistungen müssen wir positiv herausstellen, und wir müssen die Menschen ermutigen, auf diesem Weg weiterzumachen. Das darf in einer solchen Debatte nicht zu kurz kommen. Der Bericht zeigt uns auch Bereiche, in denen wir besser werden müssen; das wurde heute häufig angesprochen. Wir erleben, dass die Kluft zwischen den Bildungsverläufen zunimmt. Der Bildungserfolg ist leider immer noch zu eng mit der sozialen Herkunft verknüpft, und fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren wächst in sozialen, finanziellen und/oder kulturellen Risikolagen auf. Besonders häufig sind Kinder mit Migrationshintergrund davon betroffen. Um diese müssen wir uns noch besser kümmern, und zwar von Anfang an. Der Schlüssel dazu liegt in der Sprache. Als die CSU vor einigen Jahren gefordert hat, dass jedes Kind Deutsch können muss, bevor es in die Schule kommt, wurden wir noch verlacht. ({2}) Heute ist es fast flächendeckend Praxis, dass an Kindergärten Sprachtests und entsprechende Fördermaßnahmen durchgeführt werden. Aber das reicht noch nicht. Hier müssen wir besser werden. Vor allem müssen wir die Eltern von Kindern in Risikolagen sensibilisieren und ihnen sagen, welche Chancen sie ihren Kindern verbauen, wenn sie ihnen nicht schon möglichst früh eine individuelle Förderung zukommen lassen. Der Bund stellt für den Ausbau der Kinderbetreuung bis 2013 insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Überall im Land sehen Sie, dass neue Krippenplätze entstehen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir bis 2013 insgesamt 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung zur Verfügung stellen. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass in allen anderen Bereichen eingespart werden muss, um die Schuldenbremse einzuhalten, sehen Sie, welchen Stellenwert wir diesem Thema zumessen. Wir setzen auch unsere Politik der Förderung von Familien fort. Denn der Bildungsbericht zeigt: Überall dort, wo Familienstrukturen intakt sind, steigt die Chance auf eine gute Bildung. ({3}) Aber die Probleme sind nicht allein mit Geld zu lösen. Unsere Kinder brauchen Vorbilder, denen sie mit Ehrgeiz nacheifern können. Genauso wie im Sport müssen Leistung und Erfolg im Bildungssystem positiv belegt und erstrebenswert sein. ({4}) Das müssen wir vor allem bei den Kindern und Jugendlichen unterstützen, denen Bildungsvorbilder im Elternhaus fehlen und die auch in ihrem nächsten Umfeld niemanden haben, dem sie im Bildungsbereich nacheifern können. An dieser Stelle möchte ich beispielhaft die Kampagne „Raus mit der Sprache. Rein ins Leben“, die die „Deutschlandstiftung Integration“ seit letztem Jahr durchführt, herausstellen. Prominente Sportler wie Jérôme Boateng und Musiker wie Sido werben bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund dafür, die deutsche Sprache zu lernen. Die Botschaft ist: Wer gut deutsch spricht, kann den sozialen Aufstieg schaffen. Solche Botschaften brauchen wir in unserem Land. Damit kommen wir auf unserem Weg zur Bildungsrepublik Deutschland ein Stück weiter. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/3400 und 17/4436 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Elke Ferner, Bärbel Bas, Dr. Edgar Franke, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Einführung einer Kopfprämie in der gesetzli- chen Krankenversicherung - Drucksachen 17/865, 17/3130 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen - Drucksachen 17/879, 17/4476 Berichterstattung: Abgeordneter Jens Spahn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Ulrike Flach für die FDP-Fraktion das Wort. ({1})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der SPD für die heutige Debatte äußerst dankbar. Da Ihr Antrag und Ihre Anfrage fast ein Jahr alt sind, geben Sie uns damit die Gelegenheit, einmal zu vergleichen, welche Befürchtung - man kann eigentlich auch „Panikmache“ sagen - hier verbreitet wurde und was die Bundesregierung wirklich gemacht hat. Zunächst einmal zum Titel „Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen“. Man muss an dieser Stelle schon sehr klar sagen: Es war die SPD-Gesundheitsministerin, die die paritätische Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgegeben hat. ({0}) Wir haben dieses Modell fortentwickelt und damit den Faktor Arbeit nachhaltig entlastet. Das war unser ausdrückliches Ziel, das Sie übrigens in Sonntagsreden sehr gerne fordern, aber werktags offensichtlich gerne wieder vergessen. Die Große Anfrage der SPD trägt den schönen Titel „Einführung einer Kopfprämie in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Eine Kopfprämie - das will ich diesmal wirklich zum letzten Mal sagen - hat niemand von uns eingeführt, auch nie gewollt, und das ist hier auch immer so diskutiert worden, liebe Kollegen. ({1}) Vielmehr haben wir die Zusatzbeiträge, die es übrigens schon bei Ulla Schmidt gegeben hat, genau so, wie es im Koalitionsvertrag stand, fortentwickelt, und das wurde Gesetz: Jede Kasse entscheidet nun selbst, ob und in welcher Höhe sie von ihren Mitgliedern Zusatzbeiträge erhebt, und damit gibt es das, was für die FDP immer sehr wichtig war: Es gibt wieder mehr Beitragsautonomie bei den Kassen und wieder mehr Wettbewerb für die Versicherten. ({2}) Einen sozialen Ausgleich für Geringverdiener haben wir hinzugefügt. In Ihrer Anfrage wird interessanterweise noch behauptet, es gebe kein Konzept für den Sozialausgleich. Inzwischen, liebe Kollegen von der SPD, steht es im Gesetz, und das Gesetz ist in Kraft. So weit zur Aktualität Ihrer Großen Anfrage. Ihr Antrag ist längst von der Realität überholt worden; da sind wir uns Gott sei Dank auch einmal mit den Grünen und den Linken einig, wie die Beschlussempfehlung des Ausschusses zeigt. An der Stelle herrscht also große Einigkeit im Hause. Auch Ihre Angstmacherei ist von der Gesetzgebung und der Koalition längst überholt worden. Wenn man in Ihren Antrag schaut, kann man sich freuen, dass alles nicht so gekommen ist, wie es die SPD prophezeit hat. Es ist nicht zur Masseninsolvenz der gesetzlichen Krankenkassen gekommen. Im Gegenteil: Die GKV baut wieder Reserven auf. Es kommt durch den Sozialausgleich auch nicht zu einer sozialen Umverteilung von unten nach oben. Nun möchte ich - schließlich nehmen Sie für sich immer so schön in Anspruch, alles besser zu wissen - Ihre eigenen Ideen einem Realitätstest unterziehen. ({3}) - Das wird sehr schwierig. Da hat Herr Lanfermann völlig recht. Sie fordern in Ihrem Antrag eine solidarische Bürgerversicherung. Sie haben über ein Jahr gebraucht, um darüber nachzudenken. Jetzt haben Sie vor wenigen Tagen Eckpunkte veröffentlicht, die allerdings deutlich von dem abweichen, was Sie in Ihrem alten Antrag formuliert haben. Neuerdings sprechen Sie sich für eine Steuerfinanzierung aus - eine höchst interessante Entwicklung -, und zwar erstaunlicherweise mit der Begründung, dass das Steuersystem die Bürger nach ihrer Leistungsfähigkeit belaste und deshalb gerechter sei. Das haben wir, liebe Kollegen von der SPD, allerdings schon lange erkannt. Deshalb haben wir den Sozialausgleich genau dort hingelegt, wo er hingehört, nämlich ins Steuersystem, und das haben Sie an dieser Stelle oft genug für Teufelszeug erklärt. ({4}) Die SPD legt Eckpunkte vor. Sie legen aber kein durchgerechnetes Modell vor. Das erstaunt uns wiederum nicht. Denn auch etwas anderes versprechen Sie nun schon seit einem Jahr. ({5}) Ihr Modell einer Bürgerversicherung löst keines der Probleme. Denn es bleibt konjunkturanfällig - das ist einer der Hauptfaktoren, die wir mit unserem Modell vermeiden -, weil eine höhere Arbeitslosigkeit negativ auf die Finanzierungsgrundlagen durchschlägt. Darüber hinaus bleibt es verfassungsrechtlich bedenklich, weil Sie in den Tätigkeitsbereich der PKV eingreifen. Hingegen kann man unser Modell jetzt jeden Tag in der Realität besichtigen. Jeder weiß, dass Gesundheit in einer alternden Gesellschaft mit einer wachsenden medizinischen Leistungsfähigkeit zwar nicht billiger werden kann, aber bezahlbar bleiben muss. Diese Koalition sorgt dafür, dass Gesundheit bezahlbar bleibt. ({6}) Nur unser Freund Karl Lauterbach merkt das leider nicht: Kaum erkennen wir bei den Kassen bessere Zahlen, kommt er als Kai aus der Kiste und fordert Beitragssenkungen. Lieber Herr Lauterbach, Sie müssen sich schon einmal entscheiden, auf welchen Zug Sie gerade aufspringen wollen. Offensichtlich springen Sie auf jeden Zug auf, der gerade vorbeifährt, und wundern sich dann, dass Sie nie ankommen. ({7}) Zum Schluss meiner Rede möchte ich den Präsidenten des Bundesversicherungsamtes zitieren. Er hat gestern Folgendes zu den merkwürdigen Verlautbarungen gesagt, die Sie bei Ihrem letzten medialen Ausflug gemacht haben: Der Gesundheitsfonds sichert die finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung im Interesse aller Versicherten. Dies darf nicht durch kurzfristige Maßnahmen leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Herr Lauterbach, das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben. Es würde Sie von unüberlegten Presseerklärungen abhalten. Ansonsten sind wir optimistisch: Wir gehen in ein erfolgreiches Jahr. Ich freue mich auf die Debatte. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freut es mich, dass wir die FDP heute zum ersten Mal in der Stärke sehen, in der wir sie in der nächsten Legislaturperiode sehen wollen: Sie sind gerade einmal fünf Leute; das wird bald üblich sein. Der Wähler wird die gut gelaunte Polemik, mit der Frau Flach und Herr Lanfermann hier über die wichtigen Themen hinwegwischen, nicht akzeptieren; dafür werden Sie die Quittung bekommen. Erinnern Sie sich an meine Worte: ({0}) Wenn Sie nach der nächsten Wahl überhaupt noch hier sitzen werden, dann erreichen Sie gerade einmal 5 Prozent. ({1}) Was ist zum Jahreswechsel beschlossen worden? Die Vorkasse ist eingeführt worden. ({2}) Es gibt Mehrzahlungen für Arzneimittel und Generika. Es gibt eine schnellere Zulassung von Krebsmedikamenten; dadurch werden weniger sichere Mittel zugelassen. ({3}) Die kleine Kopfpauschale ist eingeführt worden. Bei der privaten Krankenversicherung hat es Vergünstigungen gegeben: Ein Wechsel in die private Krankenversicherung ist schneller möglich; die Arzneimittelrabatte der gesetzlichen Krankenversicherungen werden sozusagen auf die privaten übertragen. Im Prinzip haben wir mehr Zweiklassenmedizin bekommen. In der Medienpause gab es von Herrn Spahn und anderen in der Union den Vorschlag, die Vierbettzimmer abzuschaffen. Damit soll demnächst die Möglichkeit gegeben werden, sich im Zweibettzimmer ein bisschen von der verschärften Zweiklassenmedizin, die Sie selbst eingeführt haben, zu erholen. Das ist doch lächerlich; das ist Kosmetik bei den Betten. Wenn Sie ernsthaft an einem Abbau der Zweiklassenmedizin interessiert wären, dann würden Sie sie nicht verschärfen. Lenken Sie nicht von den Verschärfungen ab, die Sie selbst eingeführt haben. ({4}) Demnächst sollen sich die Krankenkassen stärker dafür engagieren, dass man einen Termin bei einem Spezialisten bekommt. Weshalb führen Sie, wenn Sie daran wirklich ein Interesse haben, die Vorkasse ein, die dazu führen wird, dass derjenige, der nicht in Vorleistung treten kann, demnächst noch schlechter einen Termin bekommt? Sie wollen doch nur davon ablenken, dass Sie die Zweiklassenmedizin in vielerlei Hinsicht verschärft haben. Der Vorschlag, die Termine bei Spezialisten schneller zu vergeben - er stammt von Wilfried Jacobs von der AOK Rheinland/Hamburg -, ist nur Kosmetik. Die Wahrheit ist - jeder erkennt sie -: Sie wollen Vergünstigungen für die PKV und Verschlechterungen für die gesetzlich Versicherten. Im Übrigen sollen die Verschlechterungen bei der FDP hängen bleiben; während die Union für die kleinen, kosmetischen Verbesserungen eintritt. Dieses System kennen wir noch aus der Großen Koalition; die FDP, auch Herr Bahr, wird es noch lernen müssen. Wer zusammen mit der Union regiert hat, der versteht das System: Die Union ist immer für das wenige Gute, für die Kosmetik zuständig; der Partner wird geschleift und steht für all das, was in der Bevölkerung unbeliebt ist. Das ist das Prinzip der Union. ({5}) Herr Lindner und Herr Bahr, Sie werden das noch lernen müssen. ({6}) Ich komme jetzt zu der Beitragssatzlüge. Herr Rösler, Herr Bahr und die Union haben immer gelogen, die SPD habe ein riesiges Defizit zurückgelassen; es wurde von 11 Milliarden Euro gesprochen. Die Wahrheit ist, dass im nächsten Jahr zum Jahresende 6,3 Milliarden Euro übrig bleiben werden. ({7}) Davon sind 3 Milliarden Euro die Liquiditätsreserve. 3 Milliarden Euro nehmen Sie durch die Erhöhung des Beitragssatzes zusätzlich ein, um damit den Sozialausgleich für die Kopfpauschale aufzubauen. Das war doch von vornherein die Absicht. Sie wollen den Sozialausgleich für die Kopfpauschale in Wirklichkeit doch gar nicht mit Steuermitteln bezahlen, denn das würde auch den PKV-Versicherten und den Gutverdiener belasten. Das sollen die gesetzlich Versicherten zum Schluss selbst bezahlen. Darum geht es doch. Es geht um das übliche Anliegen: Wie kann ich Arbeitgeber und Privatversicherte schonen, und wie kann ich die gesetzlich Versicherten doppelt belasten? Sie werden für ihre eigene Kopfpauschale und für den eigenen Sozialausgleich bezahlen müssen. Darüber wird hier doch gesprochen, und davon wollen Sie ablenken. Die unsoziale Kopfpauschale soll durch einen ebenfalls unsozial finanzierten Sozialausgleich mitbezahlt werden. Das halten wir für falsch. Das ist eine Trickserei und eine Lügerei! ({8}) An dieser Stelle auch eine Bemerkung in Richtung der Grünen: Die Grünen sagen, der Beitragssatz soll nicht um 0,3 Prozentpunkte gesenkt werden, damit man Zusatzbeiträge verhindert. Damit macht ihr euch aber im Prinzip zum Steigbügelhalter der Kopfpauschale. ({9}) Denn die Kopfpauschale kann doch nur eingeführt werden, wenn ein Sozialausgleich erst einmal da ist. Normalerweise müsste folgendermaßen argumentiert werden: Eine unsoziale Kopfpauschale wird nicht durch einen unsozialen Sozialausgleich gerechter. ({10}) Es wird darauf hinauslaufen, dass die Beitragssätze steigen werden. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir keine sinkenden Steuern haben. Die mittleren Einkommen werden stärker belastet und nicht entlastet. Wir werden sehen, dass die mittleren Einkommen weniger Netto vom Brutto haben. Wir werden sehen, dass die FDP sich über diese Politik weiter komplett diskreditiert. Denn es werden nur die mittleren Einkommen belastet. Wer bezahlt denn am Ende den Sozialausgleich durch die Beitragssatzerhöhung? Das sind die mittleren Einkommen. Die FDP ist angetreten und hat laut getönt, die mittleren Einkommen sollten entlastet werden. Die Grünen haben mitgezogen. Die Wahrheit ist aber, dass wir nur zusätzliche Belastungen der mittleren Einkommen sehen. Es gibt überhaupt keine Entlastung. Somit kommt zur allseits bekannten Steuerlüge der FDP die Beitragssatzlüge hinzu. Das ist meine feste Überzeugung, und das wird der Bürger auch verstehen. Die Union macht sich einen schlanken Fuß und pflegt die beschriebene Arbeitsteilung. Was wir in Wirklichkeit brauchen, ist ein paritätisch finanziertes System. Wir wissen, dass wir uns von der Parität verabschiedet haben. Da brauchen wir nicht die ständigen Ermahnungen und Erinnerungen von der Linkspartei. ({11}) Wir haben keine Amnesie. Wir haben aber auch nie gesagt, dass wir abgewählt worden sind, weil wir alles richtig gemacht haben. Es ist klar, dass wir zurück zur Parität wollen. Wir wollen das System unbürokratisch um eine Steuerkomponente ergänzen. Es ist übrigens auch völlig unwahr, zu sagen, dass wir erst jetzt auf diese Idee gekommen sind. Schon in unserem ursprünglichen System der Bürgerversicherung hatten wir zwei Modelle: entweder die anderen Einkommen direkt verbeitragen oder eine Steuerkomponente. Das ist sozusagen ein altes System. Wir haben uns jetzt dafür entschieden, die Steuern stärker heranzuziehen, sodass auch Gutverdiener unbürokratisch und gerecht belastet werden. Im Sinne der Abschaffung der Zweiklassenmedizin treten wir in unserem Antrag dafür ein, dass die Honorare bei gesetzlich und privat Versicherten angeglichen werden. Das ist ein gerechtes System. Unbürokratisch, Parität, Steuerkomponente, ein Honorarsystem für alle: Das führt zu einer Entlastung der mittleren Einkommen. Diesbezüglich sind, ehrlich gesagt, auch die Grünen auf dem Holzweg. Wenn man die anderen Einkommen verbeitragt und gleichzeitig die Beitragsbemessungsgrenze anhebt, dann trifft das fast nur die mittleren Einkommen. ({12}) Da man an die jetzt privat Versicherten nicht herankommt, werden diese geschont. Daher halte ich das SPD-Konzept für das einfachste, unbürokratischste und gerechteste. Unser System wird auch das sein, das wir zum Schluss durchsetzen, wenn die Abwahl dieser erschöpften schwarz-gelben Koalition vollzogen ist. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ersten - das will ich vorneweg sagen - gibt uns die Debatte heute morgen die Gelegenheit, auf das, was wir in dieser Koalition beschlossen haben, zurückzuschauen: auf das GKV-Finanzierungsgesetz. Die Frage lautet: Was ist damit eigentlich erreicht worden? ({0}) Wir haben es geschafft - das zeigen die Zahlen ganz offensichtlich -, dafür zu sorgen, dass das drohende Defizit von gut 10 Milliarden Euro, das, wenn wir nichts getan hätten, entstanden wäre, nicht entstehen wird ({1}) und dass die Krankenkassen stabil dastehen. Wir stellen einen Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung, um die nötige Unterstützung zu geben. Wichtig finde ich auch, dass die Zusatzbeiträge - das haben die Zahlen von gestern und vorgestern gezeigt die Lenkungswirkung, die Steuerungswirkung entwickeln, die wir uns von ihnen erhofft haben. Es entsteht ein neues Preisbewusstsein. Anders als damals bei den prozentualen Beitragssätzen, als die Beiträge direkt vom Lohn abgezogen wurden, als keiner so recht wusste: „Was kostet meine Kasse eigentlich?“ und man einen Dreisatz berechnen musste, um zu ermitteln: „Was bringt es eigentlich, die Kasse zu wechseln?“, haben die Zusatzbeiträge in festen Eurobeträgen eine ganz andere Preissignalwirkung. Man überlegt sich: Ist mir meine Kasse die 5 Euro, die 8 Euro oder die 12 Euro, die ich zahlen muss, wert? Wenn ja, dann bleibt man bei der Kasse, wenn nein, dann wechselt man. Das ist auch für den Wettbewerb zwischen den Kassen ein wichtiges neues Instrument, das wir weiterentwickelt und auf sichere Füße gestellt haben. ({2}) Aber man fragt sich: Warum führen wir heute zur besten Zeit 75 Minuten lang diese Debatte über einen Antrag, lieber Kollege Lauterbach, der sich völlig überholt hat? ({3}) Das Gesetz ist erstens beschlossen, und zweitens haben Sie Ihren eigenen Antrag selbst überholt. ({4}) Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Steuerfinanzierung sei schlecht. Auch in Ihrem Antrag vom letzten Jahr steht, Steuerfinanzierung habe keine Zukunft und sei ganz furchtbar, weil der Finanzminister das Geld nicht zur Verfügung stellen werde. Wenige Wochen oder Monate später legten Sie gemeinsam mit Frau Kollegin Nahles ein Papier vor, in dem es heißt: Eine nachhaltige Finanzierung der Bürgerversicherung kann … nur über Steuermittel erreicht werden … Sie haben es geschafft, Ihren eigenen Antrag innerhalb von sechs Monaten zu überholen. ({5}) Aber es ist Ihnen nicht einmal peinlich, zur besten Zeit diese Debatte für eine Dauer von 75 Minuten anzusetzen. ({6}) Wie soll denn der Bürger, wie sollen wir überhaupt noch verstehen, wo Sie hinwollen? ({7}) Sie scheinen es selbst nicht zu wissen. Das, lieber Kollege Lauterbach, ist in den Debatten, die wir führen, das Problem. ({8}) Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Debatte zum Thema Beitragssatzsenkung, ({9}) die wir in diesen Tagen führen. ({10}) - Herr Präsident, ich glaube, der Kollege Lauterbach hat eine Frage. Ich würde sie auch zulassen, wenn Sie sie zuließen. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Dann lasse ich sie nach Ihrer Bitte allergnädigst zu. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Spahn, Sie müssen doch einräumen, ({0}) dass es ein Unterschied ist, ob man Steuermittel verwenden will, um damit die demografischen Herausforderungen zu bewältigen und das Geld für die Versorgung einzusetzen, oder ob man damit einen überflüssigen Sozialausgleich für die Kopfpauschale bezahlen will. ({1}) - Herr Lanfermann, ich habe sogar Frau Flach zugehört, was nicht leicht war. ({2}) In unserem Antrag unterscheiden wir. Wir lehnen lediglich den Einsatz zusätzlicher Steuermittel für einen überflüssigen Sozialausgleich zur Einführung der Kopfpauschale ab, ({3}) weil wir die wertvollen Steuermittel dort für verschwendet halten. ({4}) Wir sind aber nicht der Meinung, dass der Einsatz von Steuermitteln für die Versorgung und für die Bewältigung der demografischen Herausforderungen überflüssig ist; dafür sind Steuermittel geeignet. ({5}) Aber es ist doch ein Unterschied, ob man diese Mittel für einen überflüssigen Sozialausgleich verschwendet oder ob man sie sinnvoll für die Versorgung einsetzt.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Lauterbach, Sie haben es innerhalb von zwei Monaten geschafft, schon wieder Ihre Begründung zu verändern. ({0}) In Ihrem Schreiben, das Sie gemeinsam mit der Kollegin Nahles verfasst haben, steht: Steuermittel für das Gesundheitssystem, um alle Einkommen unbürokratisch und sozial gerecht an der Finanzierung zu beteiligen. ({1}) So werden auch die hohen Einkommen und Vermögen gerecht einbezogen. Das heißt, Ihre Intention bei der Steuerfinanzierung ist ganz offensichtlich, einen Sozialausgleich durchzuführen. Die Argumentation ist ja richtig: Geht es um die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, werden nur die abhängig Beschäftigten und die Lohnbestandteile herangezogen. Bei einer Finanzierung über das Steuersystem werden aber auch Mieteinkünfte, Zinseinkünfte und übrigens auch Unternehmensgewinne herangezogen, und zwar nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Die Argumentation ist richtig. Was an dieser Stelle aber so verlogen ist - das zeigt sich jetzt übrigens schon wieder -: Sie ändern alle zwei Wochen Ihre Argumentation in dieser Frage. Wir dagegen reden nicht nur über Dinge, sondern setzen sie um, in dem Falle, weil wir es für richtig halten, eine bessere Steuerfinanzierung zu haben. ({2}) Das Gleiche passiert in diesen Tagen in der Beitragssatzdebatte. In Ihrem Antrag, über den wir heute debattieren und der aus dem März 2010 stammt - Sie wollten ihn vorher nicht aufgesetzt haben; wir haben es Ihnen mehrfach angeboten -, malen Sie ein Szenario von wachsenden Ausgaben an die Wand. Sie malen ein Szenario an die Wand, das besagt: Für 2010, 2011 und 2012 muss auf Teufel komm raus gespart werden; die Koalition tut zu wenig. Sie haben hier mehrfach gesagt, wir sollten größere Anstrengungen beim Sparen unternehmen, weil es in 2011 so furchtbar wird. Wir haben das, was wir für richtig halten, in einem, wie ich finde, ausgewogenen Maß gemacht - Sparmaßnahmen, aber eben auch eine ausgewogene Beitragserhöhung und sind zum alten Beitragssatz von 15,5 zurückgekehrt. Jetzt ist es glücklicherweise so, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen stabil dastehen, dass wir im Gesundheitsfonds eine Liquiditätsreserve haben, die gesetzlich - von uns gemeinsam in der Großen Koalition - vorgeschrieben worden ist, um auch Schwankungen ausgleichen zu können. Nun, da wir endlich Stabilität ins System der gesetzlichen Krankenversicherung gebracht haben, nehmen Sie von Ihren Horrorszenarien Abschied, wie furchtbar das bei den Ausgaben alles wird, und wollen auf einmal die Beiträge senken. Wer, bitte schön, Herr Kollege Lauterbach, soll Ihnen denn da noch folgen können? Wo ist denn da Verlässlichkeit in Ihrer Politik? Sie sind nicht Kai aus der Kiste; Sie sind Karl aus der Kiste: Sie ändern täglich nur der Überschrift wegen die Richtung. Das ist aber nicht konsistent, das ist nicht vertrauenerweckend, und deswegen ist es gut, dass Sie da sitzen, wo Sie sitzen, nämlich auf der Oppositionsbank. Da kann man tatsächlich ohne Folgen jeden Tag etwas anderes behaupten, als man vorher gesagt hat. ({3}) - Ja, man hat manchmal tatsächlich den Eindruck: Sie verwirren sich an dieser Stelle selbst. ({4}) Dann - das setzt dem Ganzen die Krone auf - können wir in diesen Tagen ein Konzept der SPD lesen und können sehen, wie sie jetzt in die Fläche gehen will, um eine Kampagne zu machen, bei der es rundgehen soll. Wir können in Ihrem Antrag vom März letzten Jahres lesen, was wir alles tun sollen. Wir finden, dass wir ausgewogen und vernünftig vorgegangen sind und die richtige Richtung eingeschlagen haben. Als Stichworte sind zu nennen: Umgang mit dem Defizit, Steuerfinanzierung. Dazu kommt die Frage, wie wir es langfristig schaffen können, von der strikten Lohnbezogenheit der Gesundheitsfinanzierung wegzukommen, sodass die steigenden Gesundheitsausgaben den Lohn nicht automatisch immer teurer machen. Wir finden, was wir vorgelegt haben, ist ein gutes Gesetz. Das können Sie kritisieren, keine Frage. Aber jetzt machen Sie von der SPD eine Kampagne. Sie sind sich mal wieder nicht zu schade, die Menschen bewusst und wider besseres Wissen, Herr Professor Lauterbach, in die Irre zu führen. Das macht allein der Begriff „Vorkasse“ deutlich, den Sie heute schon wieder verwendet haben. Sprechen Sie einmal mit schwerkranken Menschen, mit Krebskranken, mit HIV-Infizierten, mit Aidskranken. ({5}) Die haben Angst; das merkt man, wenn man mit denen spricht. Ich war letzte Woche auf einer Diskussion in einer Parkinson-Selbsthilfegruppe. Die haben Angst, weil Sie ihnen suggerieren, sie müssten ihre Behandlung und ihre Medikamente in Zukunft zunächst selbst bezahlen, und irgendwann später würden sie das Geld wiederbekommen. Sie wissen, dass das nicht stimmt, aber Sie nehmen billigend in Kauf, schwerkranke Menschen zu verängstigen, nur um populistisch einen Punkt zu machen. Das ist völlig inakzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. ({6}) Das Gleiche gilt für das Gerede von der Drei-Klassen-Medizin. Sie wissen genau, was zur Kostenerstattung im Gesetz steht. Es ist übrigens - das merken Sie, wenn Sie einmal genau hinschauen - zu 70 bis 80 Prozent das, was wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, weil wir es für richtig gehalten haben, dass die Menschen ein Wahlrecht haben sollen. Diejenigen, die es wollen - keiner muss -, können sich für die andere Regelung entscheiden und sich die Rechnung schicken lassen. Die allermeisten Menschen werden sich wahrscheinlich tatsächlich für das Sachleistungsprinzip entscheiden. Was dem Ganzen dann aber die Krone aufsetzt - jenseits dieser Diffamierung, die Sie wider besseres Wissen betreiben -, ist, dass wir in dem Schreiben Ihres Parteivorsitzenden lesen können, dass Sie Verbände - Wohlfahrtsverbände, die ohne Zweifel jederzeit berechtigt sind und die Legitimation haben, Gesundheitspolitik zu kritisieren, konstruktive Vorschläge zu machen und andere Vorstellungen von Gesundheitspolitik zu haben; das ist überhaupt keine Frage - als Kooperationspartner vereinnahmen. ({7}) Wie sieht es denn mit der parteipolitischen Neutralität von AWO, von Caritas, von der Diakonie und von anderen Wohlfahrtsverbänden aus? Ich wundere mich schon. Die Pflegeeinrichtungen, die Krankenhäuser und die Behinderteneinrichtungen sind nicht Eigentum der SPD; das ist parteipolitisch neutraler Boden. ({8}) Deswegen gehört sich eine solche Kampagne nicht, die Sie hier an dieser Stelle versuchen quer durch die Republik zu betreiben. Wir werden das nicht akzeptieren nicht von Ihnen und auch nicht von den Wohlfahrtsverbänden. ({9}) Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Wir akzeptieren Kritik von jeder Seite. ({10}) - Stellen Sie sich einmal vor, was Sie für ein Theater machen würden, wenn wir so etwas machen würden! Sie halten sich immer für die Gutmenschen, für die Richtigen und Guten, die zum Wohle für alle durch die Welt unterwegs sind, und wenden dabei Methoden an - das gilt im Übrigen auch für Ihre Wortwahl; ich nenne das Beispiel „Vorkasse“ -, durch die Sie bewusst mit den Ängsten spielen. Das ist völlig inakzeptabel für einen konstruktiven Umgang in einer demokratischen Auseinandersetzung. Das werden wir auch genau so benennen, und wir werden den Finger an dieser Stelle in die Wunde legen. Darauf können Sie sich verlassen. ({11}) Seien Sie versichert: Wir werden hier keiner Debatte aus dem Weg gehen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass wir die besseren Argumente auf unserer Seite haben. Wir haben die besseren Argumente in der Debatte über die Frage, warum wir die gesetzliche Krankenversicherung so finanzieren, wie wir sie in Zukunft finanzieren wollen, nämlich eben nicht mehr rein lohnabhängig, sondern so, dass über den Steuerausgleich alle Einkommensarten mitberücksichtigt werden. Nachdem wir so viel über Ärztehonorare, Krankenhausabrechnungen, Apothekenabschläge und die Pharmaindustrie geredet haben, halten wir es übrigens auch für richtig - Herr Kollege Lauterbach, auch dagegen haben Sie sich gewandt -, auch einmal über die Versorgungsrealität der Patienten und darüber zu reden, was sie im Alltag tatsächlich erleben. Dabei geht es um monatelange Wartezeiten, die Krankenhaushygiene und die Frage, wie es in den Krankenhäusern vor Ort aussieht. Darüber wollen wir reden. Wir wollen in diesem Jahr auch über Patientenrechte reden. Gestern fand eine Anhörung statt, in der es um einen Antrag der SPD zu diesem Thema ging. Es war überschaubar, wie viele von Ihnen bei Ihrer eigenen Anhörung waren. Sie waren tatsächlich auch kurz da. Wir wollen in diesem Jahr auch die Frage in den Mittelpunkt stellen, wie der Patient die Versorgungsrealität erlebt und wie wir die Situation für ihn ganz konkret verbessern können. Dazu brauchen wir natürlich die Hilfe und Unterstützung der Leistungserbringer. Ich fände es richtig, wenn Sie bei diesem Perspektivwechsel ein Stück weit stärker mitmachen würden. Es wäre doch schön, wenn Sie sich wenigstens an diesen Debatten beteiligen würden, da Sie das letztes Jahr bei den Debatten über die Finanzierung schon nicht hinbekommen haben. Durch Ihren alten Antrag vom März 2010 - ich sage es noch einmal: Er ist durch Ihre eigenen Äußerungen überholt und wird aufgrund Ihres Wunsches erst jetzt beraten - machen Sie deutlich, wie weit Sie sich noch in den Debatten der Vergangenheit befinden. Es wäre schön, wenn Sie sich mit uns an den Debatten der Zukunft für eine gute Versorgung der Patienten beteiligen würden. Dann würden wir schon einen großen Schritt nach vorne kommen. Hinsichtlich der Krankenhaushygiene können Sie das schon im ersten Halbjahr beweisen. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Spahn, wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie die Anhörung gestern auch nicht ganz bis zum Ende mitgemacht. Daran will ich nur einmal ganz kurz erinnern. ({0}) - Nein, nein, nein, ich glaube, meine Beobachtung war doch etwas genauer, Herr Lanfermann. ({1}) Zu dem Antrag der SPD. Er hat ja schon ein bisschen Patina angesetzt. Nachdem ich ihn gefunden hatte, musste ich den Staub ein wenig wegblasen. Schließlich stammt er aus einer Zeit, als wir noch heftig um die Einführung bzw. Verhinderung der Kopfpauschale gerungen haben. Daher steht in dem Antrag auch die Forderung an die Bundesregierung, sie möge bis Ende 2010 ein Konzept für eine Bürgerversicherung vorlegen. Das ist ja in der Tat nun wirklich überholt. Wir haben etwas ganz an9738 deres vorgelegt bekommen, nämlich etwas, was weitaus schlechter ist. Dennoch danke ich der SPD, dass die Diskussion über diesen Antrag heute auf die Tagesordnung gesetzt wurde; denn so haben wir die Gelegenheit und einen weiteren guten Anlass, über die katastrophale schwarz-gelbe Gesundheitspolitik zu reden. Wir haben dadurch aber auch die Möglichkeit, hier über die veränderte SPD-Position zur Bürgerversicherung zu sprechen. Der Kurs der SPD in Sachen Bürgerversicherung hat sich in der Tat verändert. Das ist gerade ja auch schon dargestellt worden. Aus meiner Sicht besteht der Kurs nun aus einer konsequenten Inkonsequenz. ({2}) Außerdem - das muss man auch sehen - ist die Partei ganz offensichtlich gespalten. Das will ich Ihnen auch gerne begründen. Auf der einen Seite gibt es die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, die AfA. Das war einst eine mächtige und einflussreiche Arbeitsgemeinschaft. Herbert Wehner hat sie einmal als „lebenswichtiges Organ der SPD“ und zugleich „Auge, Ohr und Herzkammer der Partei“ bezeichnet. Als ich damals noch Juso war - ich weiß, das sieht man mir jetzt nicht mehr an, aber ich war es einmal -, ({3}) habe ich nicht in jedem Punkt mit den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD übereingestimmt. Aber jemand wie Rohde oder Dreßler stellte in der SPD etwas dar. Auch der jetzige Vorsitzende Ottmar Schreiner genießt meine volle Hochachtung. Aber er hat leider in seiner Partei nichts mehr zu sagen. Diese Partei hat sich dank Schröder, Clement, Müntefering, Steinmeier und Co. weitgehend von der Wahrung der Arbeitnehmerinteressen verabschiedet. ({4}) In der modernen Sozialdemokratie der Standortlogik gibt eine Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen nicht mehr den Ton an. So ist es möglich, dass zunächst Ottmar Schreiner als AfA-Vertreter, also als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft, das Positionspapier der DGB-Reformkommission unterschrieben hat. Dieses Papier ist in Sachen Bürgerversicherung beachtenswert und wegweisend, wenn man eine solidarische und gerechte Finanzierung will. Hier wird also der Schulterschluss mit guten gewerkschaftlichen Positionen geübt. Aber kaum hatte Ottmar Schreiner das DGB-Reformkonzept unterschrieben, verkündeten Frau Nahles und Herr Lauterbach ganz „basisdemokratisch“ von oben herab, dass wesentliche Punkte des bisherigen Bürgerversicherungskonzeptes der SPD von den Füßen auf den Kopf gestellt werden sollen. Die beiden wollen im Gegensatz zum DGB, den Grünen und uns keine Kapitaleinkünfte mehr zur Finanzierung heranziehen, sondern alle künftigen Mehrausgaben der Krankenversicherung über Steuern finanzieren. ({5}) Die SPD will also eine zunehmend steuerfinanzierte Bürgerversicherung. Das ist ein Widerspruch in sich. Dabei hat Herr Lauterbach selber noch 2004 in einem Aufsatz zutreffend geschrieben, dass eine Steuerfinanzierung Probleme bereitet. Er schrieb von der - ich zitiere - „Einheitsversorgung eines Steuersystems“ und von „Haushaltsabhängigkeiten“ bei einer stärkeren Steuerfinanzierung. ({6}) Recht hatte er aus unserer Sicht: Ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem ist immer auch ein Gesundheitssystem, in dem Leistungen nach Kassenlage gewährt werden können und der Finanzminister der heimliche Gesundheitsminister wird. ({7}) Deshalb lehnen wir die Steuerfinanzierung ab und sind für eine Beitragsfinanzierung. ({8}) Nahles und Lauterbach fordern also ein mehr und mehr steuerfinanziertes Gesundheitssystem. Gleichzeitig schreibt die SPD in dem vorliegenden Antrag völlig zu Recht, dass die Steuerfinanzierung des schwarz-gelben Sozialausgleichs bei der derzeitigen Haushaltslage und den Steuerplänen der FDP ein Wolkenkuckucksheim sei. Ja, was denn nun? Sie müssen schon erklären, warum Ihre Milliarden an frischen Steuermitteln dauerhaft und solide finanzierbar sein sollen, wenn das für ähnliche Gesetze der Bundesregierung nicht gelten soll. ({9}) - Ja, mir ist es auch so gegangen, Herr Spahn, als Sie hier geredet haben, dass ich nämlich - leider - an vielen Stellen zugestehen musste, dass der inkonsequente Kurs der SPD von Ihnen durchaus richtig beschrieben worden ist. Fazit: Man weiß derzeit immer genau, woran man bei der SPD nicht ist. Erst führt sie Zusatzbeiträge und die Praxisgebühr ein und schafft die Parität mit ab; jetzt will sie das Gegenteil. Das ist zu begrüßen. Das finden wir gut. ({10}) Erst will sie eine Bürgerversicherung; jetzt will sie Steuerfinanzierung. Das ist schlecht. Das lehnen wir ab. ({11}) Für die SPD ist insgesamt nur zu hoffen, dass sie zu den Positionen der DGB-Kommission zurückfinden wird, die mit unseren Vorstellungen weitgehend übereinstimmen. ({12}) Klar ist nun: Wer keine Bürgerversicherung extra light, sondern eine echte Bürgerversicherung will, muss sich an die Linke halten. Die SPD darf nicht auf halbem Weg stehen bleiben. ({13}) Diesen Weg zu einer echten Bürgerversicherung sollte sie weiter ausprobieren. Man sollte sie dabei zum Jagen tragen. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Reden wir einmal über Schwarz-Gelb! ({0}) Ihr Motto lautet: Es soll keiner merken, dass wir tatsächlich ein Kopfpauschalensystem planen. - Dafür haben Sie, Frau Kollegin Flach, vorhin wieder ein gutes Beispiel geliefert. Sie versuchen nämlich, zu verschleiern, dass Sie den größten Systemwechsel aller Zeiten planen. ({1}) Noch nie ist ein Sozialversicherungssystem in Deutschland so gründlich und dabei so lautlos umgekrempelt worden, wie Sie es mit Ihrer jüngsten Finanzierungsreform gemacht haben. Das ist kein Kompliment. Es bedeutet nämlich, dass Sie sich den Versicherten und damit auch den Wählerinnen und Wählern nicht wirklich stellen und ihnen nicht klarmachen, was es bedeutet, wenn zunächst der Weg beschritten wird, den Arbeitgeberbeitrag einzufrieren, und dabei das Ziel einer Finanzierung über Kopfpauschalen verfolgt wird, bei der die Geringverdienenden und die Gutverdienenden das Gleiche bezahlen. Dann entsteht ein Arbeitgeberparadies, allein finanziert von den Versicherten. Das ist Ihr Weg, und den werden wir bekämpfen. ({2}) Sie stellen sich vor, weil man jetzt so schleichend vorgeht, dass Sie obendrein die Schuld auf die Krankenkassen abwälzen können. Herr Kollege Spahn hat dafür vorhin ein gutes Beispiel geliefert, indem er das ach so schöne Wettbewerbsinstrument der kleinen Kopfpauschale, also des Zusatzbeitrages, gepriesen hat. Da müssen Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben, und SchwarzGelb lehnt sich zurück und sagt: Wir haben doch den Beitragssatz gar nicht erhöht. Wenn die Krankenkasse zu teuer wird, müssen Sie sie wechseln. - Aber in Wirklichkeit ist genau das der Weg, den Sie beschreiten wollen. Diese Strategie des Tarnens und Täuschens findet sich auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur Einführung einer Kopfprämie. Da heißt es ganz treuherzig: Eine vollständige Umstellung der einkommensabhängigen Beiträge auf einkommensunabhängige Prämien ist … nicht beabsichtigt. Deswegen könne man auch - leider, leider - detaillierte Fragen zu den Auswirkungen von Kopfpauschalen nicht beantworten. Ist das wirklich so? Dann hieße das, dass die Bundesregierung eine Komplettumstellung der Krankenversicherung betreibt, ohne belastbare Daten zu deren Auswirkungen zu haben. ({3}) Also behaupten Sie, Sie kennen weder die entstehenden Ent- noch die Mehrbelastungen einzelner Versichertengruppen; Sie wissen weder etwas über die benötigten Finanzmittel für den Sozialausgleich noch über dessen Gegenfinanzierung. Ich fürchte beinahe, dass das wirklich so ist. Das interessiert Sie nämlich nicht wirklich. ({4}) Was Sie interessiert, ist die Entlastung der Arbeitgeber und der Besserverdienenden und die Bedienung Ihrer Klientel in der Pharmaindustrie, der privaten Krankenversicherung und der Ärzteschaft. Alles andere rangiert unter „politischen Peanuts“, die man gar nicht klären muss. ({5}) Aus dieser Perspektive würde man nur Unruhe hervorrufen, wenn man zugibt, was man eigentlich vorhat. Aber ganz aberwitzig wird es, wenn Staatssekretär Bahr in einem Interview sagt, anders als bei vorherigen Reformen würde diese Gesundheitsreform nicht zu höheren Zuzahlungen führen. Dazu kann ich nur sagen: Herr Staatssekretär, Ihre Reform wird in den nächsten Jahren zu einer Verschiebung der Belastung von Arbeitgebern zu Versicherten und von Gut- und Durchschnittsverdienenden zu Geringverdienern führen wie keine andere Gesundheitsreform vorher. Diese soziale Schieflage führen Sie ganz gezielt herbei. Sie sollten wenigstens politisch dazu stehen. ({6}) Die Kanzlerin aber möchte das lieber so. Sie hat schon einmal ihre Erfahrungen im Bundestagswahlkampf 2005 gemacht und erlebt, wie unpopulär ein Angriff auf das Solidarsystem ist. Sicher passt es Ihnen gut, dass nach den neuesten Berechnungen des Schätzerkreises so viel Geld im Gesundheitsfonds ist, dass zunächst Zusatzbeiträge nicht in großem Umfang zu erwarten sind und das Geld sogar noch für den Sozialausgleich reicht. Allerdings, lieber Kollege Lauterbach, sollte man daraus nicht den Schluss ziehen, zu fordern, das Geld gleich wieder wegzunehmen, damit Zusatzbeiträge schneller kommen und womöglich kein Geld für den Sozialausgleich zur Verfügung steht, und somit eine Art politische Verelendungsstrategie betreiben. Das halten wir ausdrücklich für falsch. ({7}) Es ist wichtig, dass wir die Kopfpauschale immer wieder zum Thema machen und Ihnen diese Durchtauchstrategie nicht durchgehen lassen. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, heute über diesen Antrag der SPD zu debattieren, auch wenn man ihm anmerkt, dass er schon etwas älter und in einigen Punkten überholt ist. Es gibt richtige Ziele, nämlich die Wiederherstellung der Parität oder die Leitidee, dass die gesamte Gesellschaft für die Finanzierung des Gesundheitswesens zuständig ist. Deswegen teilen wir auch die Forderung nach einer Bürgerversicherung. Wir haben dafür ein Konzept vorgelegt. ({8}) Aber andere Berichte - das wurde schon angesprochen - lassen vermuten, dass die SPD hinter den Stand ihrer eigenen Erkenntnisse, die in diesen Antrag eingegangen sind, wieder zurückgefallen ist. In dem Antrag steht richtig, es müsse in den nächsten Jahren im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro geschlossen werden, wenn die Schuldenbremse eingehalten werden solle. Dies mache deutlich - ich zitiere -, „dass von einem steuerfinanzierten Sozialausgleich nach dem derzeitigen Stand nicht ausgegangen werden kann“. Zu Deutsch: Das Geld ist nicht da. Auch wir sehen das so. Aber wenn das so ist, dann ist natürlich auch kein Geld für die Finanzierung der Bürgerversicherung über den Bundeshaushalt da. Das heißt, eine nachhaltigere und gerechte Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wird vornehmlich über Beiträge stattfinden müssen. Deswegen ist unsere Bürgerversicherung auch ein beitragsfinanziertes System. ({9}) Unsere Zustimmung zu dem SPD-Antrag ist als Ermunterung an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD gedacht, die Kohärenz und Konsistenz ihrer Politik zu überprüfen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär

Daniel Bahr (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003495

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sowohl die Debatte als auch der Antrag zeigen eines ganz deutlich: Die SPD ist noch immer nicht in ihrer Oppositionsrolle angekommen. Herr Gabriel und Herr Lauterbach machen immer mit; Hauptsache, die Regierung wird kritisiert. Eine konsistente Linie ist jedoch nicht erkennbar. Die bisherige Debatte hat das eindrücklich gezeigt. ({0}) Ihr Antrag, aber auch Ihre Rede, lieber Herr Lauterbach, soll offensichtlich nur eines zeigen: Sie wollen die letzten neun Jahre, in denen die SPD Verantwortung in der Gesundheitspolitik getragen hat, vergessen machen. Was haben wir denn vorgefunden, als wir den Schlüssel für das Gesundheitsministerium bekommen haben? ({1}) Wir haben ein Milliardendefizit für das Jahr 2010 und ein Milliardendefizit für das Jahr 2011 vorgefunden. Wir haben ein Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung vorgefunden, das nicht in der Lage war, ein solches Milliardendefizit zu schultern. Wenn wir nichts getan hätten, wenn wir also das beibehalten hätten, was die SPD vorbereitet hat - Gesundheitsfonds, Zusatzbeiträge, Finanzierungssystem -, dann hätten wir Krankenkasseninsolvenzen erlebt. Die Versicherten hätten sich nicht mehr auf das Gesundheitswesen und auf ihre Krankenversicherung verlassen können. Es war unsere Leistung, dass die Menschen in Deutschland in diesem Jahr, Anfang 2011, wissen: Sie können sich auf ihre Krankenversicherung und auf das Gesundheitswesen verlassen. - Das ist nicht Ihre Hinterlassenschaft gewesen. Ihre Politik hätte dazu geführt, dass die Krankenkassen teilweise zusammengebrochen wären. Das hätte Versorgungsprobleme mit sich gebracht. ({2}) Wir hingegen haben dafür gesorgt, dass das Konzept mit Zusatzbeiträgen und anderem überhaupt erst tragfähig wird. Sie diskreditieren das alles mit Begriffen wie „Kopfpauschale“ und „Vorkasse“. Gucken wir uns doch einmal an, was die SPD in Deutschland eingeführt hat: In Deutschland müssen Menschen unabhängig von ihrem Einkommen und ihrer sozialen Situation zunächst 10 Euro bezahlen, wenn sie zum Arzt gehen, bevor sie den Arzt überhaupt erst sehen. ({3}) Das ist die Kopfpauschale und Vorkasse, wie sie die SPD in Deutschland mit der Praxisgebühr eingeführt hat. Das, was wir machen, ist etwas völlig anderes. ({4}) - Das scheint wehzutun, Frau Ferner. Es scheint Ihnen richtig wehzutun, dass hier endlich einmal die Wahrheit darüber gesagt wird, wer Vorkasse und Kopfpauschale in Deutschland eingeführt hat. ({5}) Was machen wir denn? Wir führen eine gerechtere Beitragsfinanzierung für die Bürgerinnen und Bürger ein. Herr Präsident, ich muss daran erinnern, dass Herr Lauterbach eine Frage stellen möchte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Man muss nicht gleich in Sekundenschnelle darauf reagieren, Herr Kollege. ({0}) Bitte schön, Herr Lauterbach.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bahr, ist es denn nicht richtig, dass die Länder, in denen die FDP mitregiert, im Bundesrat der Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro zugestimmt haben? In NRW beispielsweise haben Sie mit zugestimmt. Ist es nicht auch richtig, dass Sie fast anderthalb Jahre Zeit gehabt hätten, die Praxisgebühr wieder abzuschaffen, wenn sie Ihnen nicht gefällt? ({0})

Daniel Bahr (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003495

Lieber Herr Lauterbach, es tut mir leid, Sie korrigieren zu müssen, aber die schwarz-gelbe Regierung in NRW gab es leider erst ab 2005. Wir hätten sie gerne schon früher gehabt. Bis 2005 gab es in NRW noch eine rot-grüne Regierung. Sie hat der Praxisgebühr im Bundesrat in der Tat zugestimmt. Wie gesagt, damals war die FDP nicht in der Regierung, sondern SPD und Grüne. Sie müssen also noch einmal nachschauen, wer im Bundesrat zugestimmt hat. Die FDP hat der Praxisgebühr im Bundesrat nicht zugestimmt. Sie hat sie damals als einzige Partei im Deutschen Bundestag abgelehnt, weil sie gesagt hat: Das ist keine Eigenbeteiligung, die wirklich einen Anreiz schafft. - Natürlich brauchen wir eine Eigenbeteiligung; da haben Sie völlig recht. Aber die Praxisgebühr ist eben keine steuernde Eigenbeteiligung, die einen Zusammenhang zur Leistung bringt, sondern sie ist eine Vorkasse ohne Zusammenhang zur Leistung und unabhängig von der sozialen Situation. Das ist eine Kopfpauschale. Das, was Sie kritisieren, haben in Wahrheit Sie in Deutschland eingeführt, lieber Herr Lauterbach. ({0}) Ich möchte auf die anderen Punkte zu sprechen kommen, die genannt worden sind. Wir haben ein gerechtes Beitragsfinanzierungssystem zustande gebracht, damit die Versicherten in Euro und Cent vergleichen können, was sie die Krankenversicherung kostet und was sie von ihr bekommen. Die ersten Erfolge zeigen sich: Die Krankenkassen, die jetzt zum Teil 8 Euro als - so nenne ich es - Ulla-Schmidt-Gedächtnis-Preis verlangen, den Zusatzbeitrag, unterscheiden sich von anderen Krankenkassen zum Beispiel bei den Verwaltungskosten. Wenn man das einmal vergleicht, stellt man fest: Die eine hat möglicherweise um 10 Euro höhere Verwaltungskosten pro Beitragszahler als die andere. Hätte also die Kasse, die 8 Euro verlangen muss, nicht so hohe Verwaltungskosten wie die andere, müsste sie die 8 Euro gar nicht verlangen. Da ist es doch eine Form des Wettbewerbs, wenn die Versicherten vergleichen und schauen können, was ihnen die Leistungen der Krankenkassen wert sind. Wir wollen im Interesse der Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, dass Unterschiede erkennbar werden. Das ist ein fairer Wettbewerb. Das, was Sie im Kern wollen, lieber Herr Lauterbach, ist ja nicht konsistent. Sie haben erkannt, dass die Ursprungsidee der Bürgerversicherung tot ist, dass das Ganze nicht umsetzbar ist, zu viel Bürokratie, zu einem enormen Aufwand für die Krankenkassen führt, sodass Krankenkassen zu zweiten Finanzämtern werden: Die Oma muss sozusagen erst einmal ihre Sparbuchzinsen der Krankenkasse zum Zweck der Beitragserhebung zeigen. Diesen Irrweg haben Sie erkannt und deswegen korrigiert. Was Sie jetzt wollen, ist doch in Wahrheit der Einstieg in ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen, in ein staatliches, zentralistisches Gesundheitswesen, in dem der Finanzminister jedes Jahr entscheidet, wie viel Geld es zusätzlich für den Gesundheitsfonds, für das Gesundheitswesen gibt. Die Höhe der Mittel ist dann abhängig von der Haushaltslage. Das, was Sie hier vorantreiben wollen, ist eine Gesundheitspolitik nach Kassenlage. Das zeigt auch Ihr aktueller Vorschlag. Er wird in einer Situation gemacht, in der wir froh sein können, dass wir die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung stabilisiert haben. Sie hingegen rufen nach einer Beitragssenkung, die nicht zu finanzieren ist. Das zeigt die Unseriosität der SPD, nicht der Opposition; denn die Grünen sind da seriöser. Sie haben erkannt, dass man für die Menschen in Deutschland verlässlich bleiben muss. Sie von der SPD fordern eine Beitragssenkung, ohne hier eine seriöse Finanzierung auf den Weg zu bringen. Wir können froh sein, dass wir einen Puffer haben. Ein Puffer ist allemal besser als eine Politik, die auf Kante näht. Das war bekanntermaßen die SPD-Politik der Vergangenheit, und daran orientieren wir uns nicht. ({1}) Zur Wahrheit gehört: Ja, wir brauchen eine gerechtere Finanzierung. Wir brauchen mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, damit die Versicherten entscheiden können. Wir bringen das auf den Weg, damit die Versicherten sehen können, was ihre Krankenversicherung kostet und was sie dafür leistet. Das, was wir als deutsches Gesundheitswesen zu schätzen wissen und wofür uns die Länder um uns herum beneiden, wird nicht zum Nulltarif zu haben sein; es wird im Hinblick auf den medizinisch-technischen Fortschritt und die alternde Bevöl9742 kerung in den nächsten Jahren seinen Preis haben. Wir haben für eine stabile Finanzierung in den nächsten Jahren gesorgt, während Sie immer noch kurzsichtig sind. Das bedeutet für die Bürgerinnen und Bürger keine Verlässlichkeit in der Gesundheitspolitik, und deswegen sollten die Bürgerinnen und Bürger eher Union und FDP ihr Vertrauen in der Gesundheitspolitik schenken. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Angelika Graf für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit keine Legenden entstehen: Die festen Zusatzbeiträge sind von Ihnen, von der CDU/CSU, gekommen. ({0}) Wir wollten einkommensabhängige Zusatzbeiträge. Ich erkläre nur, woher diese Beiträge kommen. Nicht alles kann man der SPD ans Bein binden. ({1}) Ich muss einer weiteren Legende widersprechen. Wie ist es denn mit der Praxisgebühr? Die Praxisgebühr ist von der CSU erdacht worden. Wir haben ein Hausarztmodell vorgeschlagen. Aber wie es so ist im politischen Geschäft - das wissen auch Sie, Herr Spahn -: Man einigt sich am Ende irgendwo. Die Verantwortung für solche Entscheidungen allerdings ganz abzulehnen, das geht definitiv nicht. ({2}) Was ebenfalls nicht geht, ist, uns die Kooperation mit Sozialverbänden vorzuwerfen. Auf gut Bayerisch gesagt: Sie packeln mit der Atomindustrie, mit der Pharmalobby, mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Auch wir suchen uns unsere Bündnispartner, und die finden wir eben bei den Sozialverbänden. Ein weiterer Aspekt ist der Zeitablauf. Es ist in der Tat so, dass die Große Anfrage, die wir heute ebenfalls besprechen, schon im Februar 2010 in das parlamentarische Verfahren eingebracht worden ist. Wenn Sie ein knappes Dreivierteljahr brauchen, um diese Große Anfrage zu beantworten, und wir diesen Antrag zusammen mit der Antwort auf die Große Anfrage behandeln wollen, dann ist es nicht ganz fair, uns Vorwürfe zu machen. Das Problem lag wohl eher im Gesundheitsministerium. ({3}) Zum Thema Kopfpauschale ist schon viel gesagt worden. Ich benutze dieses Wort nach wie vor, weil das nach meiner Auffassung eine Kopfpauschale ist. Tatsache ist: Die unbegrenzt wachsende Höhe der Kopfpauschalen, die durch die steigenden Kosten in der Gesundheitswirtschaft verursacht werden, und die Verabschiedung der Arbeitgeber aus der Finanzierung künftiger Ausgabensteigerungen bergen die Gefahr - jedem, der rechnen kann, ist das klar -, dass die Bürger massiv belastet werden. Dies alles ist - das muss man deutlich sagen - von Ihnen in der Zwischenzeit beschlossen worden. Am Anfang hat es viel Theater gegeben, weil Sie noch nicht wussten, was Sie wollten. Deswegen haben wir die Große Anfrage zum Thema Kopfpauschale eingebracht. Zum einen haben Sie eine große Kopfpauschale vorgesehen, zum anderen haben Sie etwas von einer kleinen Kopfpauschale erzählt. All das war nichts Festes. Mit dem Theater um die große Kopfpauschale wollen die meisten Menschen nichts mehr zu tun haben. ({4}) Sprechen Sie mit den Menschen; dann werden Sie feststellen, dass die Kopfpauschalen von den Menschen abgelehnt werden. Ich führe nochmals das Problem der Rentnerinnen und Rentner an. Eine Rentnerin bzw. ein Rentner kann sich heute noch nicht vorstellen, 30 bis 40 Euro zusätzlich zu zahlen, ohne - wenn er bzw. sie Pech hat - einen Cent Sozialausgleich zu bekommen. Das wird Ihnen noch auf die Füße fallen. Da bin ich ganz sicher. ({5}) Sie schlagen vor, dass der Rentner bzw. die Rentnerin die Kasse wechseln soll. Das macht deutlich, wie weit Sie von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt sind. Gerade Ältere oder Hochaltrige sind absolut überfordert damit, von einer Krankenkasse zur nächsten zu hüpfen und bald wieder zurück. Ihre Politik respektiert nicht die Lebensrealität der Menschen. Herr Spahn, Sie haben ausgeführt, dass die alten Menschen Angst haben. Sie haben zu Recht Angst: zum einen vor der Vorkasse - die kommen wird; das ist gar keine Frage -, ({6}) zum anderen wenn sie verfolgen, wie die Debatte über die Folgen der demografischen Entwicklung in unserer Gesellschaft geführt wird. Alte Menschen sagen mir: Wir sind doch nicht schuld daran, dass wir so alt geworden sind. Warum diskutiert ihr die ganze Zeit so, als wären wir die Schuldigen an den Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen? - Das gibt mir schon zu denken. Die alten Menschen haben ein schlechtes Gefühl. Dabei haben sie viel für unser Land getan und viel erlitten. Wir sind davon überzeugt: Um mehr Solidarität in das System zu bekommen, ist die Bürgerversicherung der richtige Weg. Zur Bürgerversicherung. Viele Wege führen nach Rom. Wir werden einen detaillierten Vorschlag unterbreiten, über den wir diskutieren können. Wir können all Angelika Graf ({7}) die Probleme und Argumente aufnehmen, die vonseiten der Grünen, der Linken oder von Ihrer Seite vorgetragen worden sind. ({8}) Vielen herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Stracke für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit 1998, liebe Frau Kollegin Graf, versprechen Sie uns in diesem Hohen Hause, dass Sie etwas vorlegen, das mit der Bürgerversicherung in Einklang zu bringen ist, irgendetwas Greifbares, ein Konzept; aber nichts dergleichen kam. Nun kündigen Sie an, dass Sie das im April dieses Jahres machen wollen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Am 27. März sind Wahlen. Sie sagen sich, dass man mit der Bürgerversicherung gut Wahlkampf betreiben kann. ({0}) Deswegen sparen Sie es sich, ein Konzept vorzulegen. Von Ihnen kommt nichts Konkretes, nichts Umsetzbares, nichts Tragfähiges. Wir als christlich-liberale Koalition hingegen haben gehandelt und das Preismonopol der Pharmaindustrie gebrochen. ({1}) Das hat dazu geführt, dass gerade für die Versicherten Einsparungen in Milliardenhöhe erzielt werden können. Wir haben das Defizit von 10 Milliarden Euro erfolgreich bekämpft, und zwar durch einen Mix, der sowohl die Einnahme- als auch die Ausgabenseite betrifft, und das ohne Leistungsausgrenzung, ohne Priorisierungen und ohne den Leistungskatalog einzuschränken. Was wir hier vorgelegt haben, ist wirklich à la bonne heure. Jetzt erklären Sie hier, mit dem Zusatzbeitrag hätten Sie nichts zu schaffen. Haben Sie denn mitgestimmt, oder haben Sie nicht mitgestimmt? Natürlich haben Sie im Rahmen der Großen Koalition dafür gestimmt. Wir haben diesen Zusatzbeitrag jetzt weiterentwickelt und ihn sozial flankiert, ({2}) nämlich mit einem über Steuern organisierten solidarischen Sozialausgleich. Ich halte das insgesamt für richtig und berechtigt. In Ihrem Antrag fordern Sie uns als christlich-liberale Koalition auf, Ihre kruden Ideen einer Bürgerversicherung umzusetzen. ({3}) Es ist sicherlich nicht unsere Aufgabe, hierzu ein Konzept vorzulegen. Unsere Aufgabe ist es aber, einmal darauf hinzuweisen, was das, was Sie mit Ihrer Bürgerversicherung einführen wollen, bedeutet. Im Ergebnis bedeutet es nämlich eine schlechtere Versorgung der Patienten in ganz Deutschland; ({4}) denn die Leitidee, die diese Bürgerversicherung durchwabert, ist Staatsdirigismus. ({5}) Sie wollen zunächst einmal möglichst viel Geld von den Versicherten einnehmen, um es dann wieder zu verteilen. Ihre Idee bedeutet Staatsmedizin. ({6}) Das gilt schon für die Positivliste, die von Ihnen immer wieder ins Feld geführt wird. So etwas bedeutet eine ganz klare Begrenzung der Therapiefreiheit. Die sieben Eckpunkte, die Sie hier angedacht haben, führen zu alles anderem als zu den paradiesischen Zuständen und elysischen Verhältnissen, die Sie meinen. Es sind nicht sieben Brücken in solche Verhältnisse, sondern vor allem sieben Krücken in eine schlechtere Versorgung in Deutschland. ({7}) Zunächst einmal versprechen Sie, im Rahmen einer Bürgerversicherung die Parität zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wiederherzustellen. Das klingt beim ersten Ton gut, wird aber sehr schnell dissonant, weil Sie die Entkopplung zwischen steigenden Gesundheitskosten auf der einen Seite ({8}) und steigenden Arbeitskosten auf der anderen Seite nicht hinbekommen. ({9}) Aufgrund der demografischen Entwicklung werden die Gesundheitskosten nämlich steigen. Diejenigen, die sich nicht zutrauen, den Menschen die Wahrheit zu sagen, sind im Ergebnis diejenigen, die die Bürger hinters Licht führen. ({10}) Wir halten das, was wir auf den Weg gebracht haben, für sinnvoll. Damit wird nämlich nicht die Einnahmeseite untergraben. Genau das wäre aber das Ergebnis der Umsetzung Ihrer Forderung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weinberg?

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Werter Herr Kollege Stracke, ist Ihnen bekannt, dass in den letzten 10 bis 15 Jahren die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, die Quote von 6,5 Prozent niemals überschritten haben ({0}) und immer gleichbleibend waren? Wieso reden Sie in diesem Zusammenhang von steigenden Gesundheitskosten? Können Sie mir das bitte erklären?

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein solcher Vergleich im Rahmen des Bruttoinlandsprodukts ist durchaus richtig. Allerdings müssen Sie auch auf diejenigen schauen, die das Ganze erwirtschaften, und berücksichtigen, wie die Lohnentwicklung insgesamt verläuft. Deswegen ist es durchaus sinnvoll, alles dafür zu tun, dass Arbeit in diesem Land geschützt und gestützt wird. ({0}) Gerade deshalb ist es der richtige Ansatz, hier die Parität aufzuheben. Das tun wir, damit möglichst viele Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und damit auch ein entsprechendes Beitragsaufkommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kollegin Graf?

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Frau Kollegin, bitte schön.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stracke, wenn Sie sich schon so um die Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sorgen: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass die flächendeckende Einführung eines Mindestlohns ein Weg dahin wäre? ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrte Kollegin, Sie wissen, dass der Mindestlohn viel debattiert und derzeit auch im Rahmen anderer Sachzusammenhänge behandelt wird. Im Bereich des Gesundheitswesens hat diese Debatte - mit Ausnahme der Pflegeversicherung, wo wir sie mit auf den Weg gebracht haben - meines Erachtens keine zielgreifende Fundierung. ({0}) Entscheidend ist, dass das, was Sie als Bürgerversicherung verkaufen, ein breit angelegtes Belastungsprogramm für die Bürgerinnen und Bürger ist. Sie schröpfen in erster Linie die Mittelschicht in diesem Lande. Schauen Sie sich nur einmal den Vorschlag der Grünen an, die Beitragsbemessungsgrenze um 47 Prozent zu erhöhen. ({1}) Sie haben ja eine Erhöhung von 3 750 Euro auf 5 500 Euro beschlossen. Das ist eine enorme Belastung, ({2}) nicht überwiegend für die Privatversicherten, sondern zunächst einmal für die freiwillig gesetzlich Versicherten. Dieser Personenkreis, der zusätzlich belastet würde, umfasst 4 Millionen Menschen. Es träfe gerade diejenigen, die tagtäglich in der Früh aufstehen und zur Arbeit gehen, also die Leistungsträger unserer Gesellschaft. ({3}) Sie arbeiten Tag für Tag dafür, dass die sozialen Sicherungssysteme erhalten bleiben. ({4}) Die Bürgerversicherung ist ein Enteignungsinstrument; ({5}) denn Sie wollen sie auf sämtliche Einkommensarten erstrecken: auf Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sowie auf Zinsen. Das trifft nicht überwiegend die Vermögensmillionäre. Ganz im Gegenteil: Der Dumme ist der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer; es ist die breite Mittelschicht in unserem Land. Sie führen damit eine Sondersteuer ein, wohl wissend, dass sie einen erheblichen bürokratischen Aufwand und damit eine Erhöhung der Abgabenlast mit sich bringt, ganz zu schweigen von der damit ausgelösten Kapitalflucht. Was das Thema „Einbeziehung der Privatversicherten“ angeht, bin ich sehr zurückhaltend. Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie den Vertrauensschutz und die verfassungsrechtlichen Bedenken beachten werden. ({6}) Sie wollen an die Rückstellungen der privaten Krankenkassen heran und damit an das Geld derer, die diese Beiträge erarbeitet haben. Sie werden alles probieren und verfassungsrechtlich austesten, wie weit Sie gehen können. Auch die Erweiterung des Kreises der versicherten Personen, wie es bei der Bürgerversicherung der Fall wäre, ist keine Lösung; denn aus Beitragszahlern werden Kranke. Man muss sich nur einmal die Altersstruktur der Beamten anschauen. Man muss auch einmal darüber diskutieren - ich verweise in diesem Zusammenhang auf den verfassungswidrigen Haushalt von NRW, den Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zu verantworten hat -, welche Mehrausgaben dies für die Länder bedeuten würde. Die Bürgerversicherung, so wie die Grünen sie angedacht haben, ist nicht zuletzt ein Angriff auf Ehe und Familie. ({7}) Sie haben schon im Zusammenhang mit dem Steuerrecht gesagt, Sie wollten das Ehegattensplitting abschaffen. ({8}) Genau diesen Gedanken übertragen Sie nun auf die gesetzliche Krankenversicherung. Damit nehmen Sie Ungerechtigkeiten zwischen kinderlosen Ehepaaren und nichtehelichen Lebensgemeinschaften in Kauf. Das Entscheidende ist aber: Die Abschaffung des Ehegattensplittings an den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu koppeln, untergräbt unser Verständnis von Ehe und Familie. Es entspricht nicht unserem Verständnis von Verantwortungsgemeinschaft. Mit Ihrer Forderung bestrafen Sie im Ergebnis diejenigen, die Kinder erziehen wollen. Sie wollen die Kinder in die Obhut des Staates geben und Helfershelfer bei der Erziehung sein. ({9}) Das ist Hedonismus pur und nichts, was unsere Gesellschaft zusammenhält. ({10}) Die Bürgerversicherung ist ein Irrweg. Deswegen machen wir ihn nicht mit. Wir haben für die gesetzliche Krankenversicherung einen stabilen Finanzrahmen geschaffen. Wir werden mit dem Versorgungsgesetz den Weg, den wir uns vorgenommen haben, nämlich vom Patienten aus zu denken und Versorgungsstrukturen entsprechend zu gestalten, konsequent weitergehen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kathrin Vogler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Nachdem uns die Kollegin Flach und der Kollege Bahr von der FDP hier so schön mit Nebelkerzen beworfen haben, möchte ich einmal daran erinnern, worum es der FDP in dieser Debatte eigentlich geht. Dazu zitiere ich aus einer Zeitung, die Ihnen sicherlich deutlich nähersteht als uns, nämlich aus der Welt vom 9. Februar 2009: Die FDP will bei einer Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl die gesetzliche Krankenversicherung abschaffen. ({0}) Weiter heißt es: Die FDP tritt seit längerem für die Privatisierung des gesamten Krankenversicherungssystems ein. ({1}) Das hat sich aber kein Journalist ausgedacht, sondern der damalige gesundheitspolitische Sprecher Ihrer Fraktion, der heutige Staatssekretär Daniel Bahr, ({2}) der jetzt im Gesundheitsministerium daran arbeitet, diese radikalen Pläne zur Zerschlagung unseres Gesundheitssystems umzusetzen. ({3}) Entsolidarisieren, Privatisieren, Ruinieren - das ist der gruselige Dreisatz der FDP für unser Gesundheitswesen. ({4}) Das kann man mit uns wirklich nicht machen. ({5}) Statt eines solidarischen Systems, in dem Starke für Schwache und Gesunde für Kranke einstehen, wollen Sie ein System, in dem alle gemeinsam - von der Friseurin bis zum Bankmanager - die Renditen der Versicherungskonzerne steigern. Es ist aber so, dass die Friseurin mit ihrem Gehalt nur einen Basisschutz finanzieren kann, während sich der Bankmanager alles dazukaufen kann, was er möchte. Herr Bahr, Sie müssen ganz enttäuscht gewesen sein, dass dieses Konzept dem AllianzVersicherungskonzern nicht mehr als eine Spende in Höhe von 50 000 Euro für den Wahlkampf wert war, wo doch SPD, CDU, CSU und die Grünen jeweils 60 000 Euro bekommen haben. Dann haben Sie auch noch von der CSU - der Kollege Stracke hat gerade gesprochen ({6}) ordentlich Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen. „Wildsau“ hat es geheißen, als Herr Seehofer die Kopfpauschale als genau das bezeichnet hat, was sie ist, nämlich als zutiefst unsozial. ({7}) Auch hier möchte ich zitieren: „Kopfpauschale bringt zu hohe Belastung“ und „Die CSU lehnt eine Kombination aus Beitragserhöhung und Kopfpauschale ab“. Das stand im Juni 2010 auf Ihrer Website www.csu.de, und im September hat Herr Söder das Ganze noch einmal bestätigt. Da möchte ich Ihnen doch fast die Website www.wegweiser-demenz.de des Familienministeriums empfehlen; ({8}) denn schon zwei Monate später, im November, haben alle CSU-Abgeordneten in diesem Haus beim GKV-Finanzierungsgesetz genau für das gestimmt, was sie vorher kritisiert haben: ({9}) eine Kombination aus Beitragserhöhung und Kopfpauschale. Vielleicht war bei Ihrer Meinungsbildung auch der erneute Scheck von der Allianz vom Juli 2010 behilflich? ({10}) Aber Sie würden das am liebsten vergessen. Deswegen haben Sie den Text von der Homepage gelöscht. Jetzt kommt der Kollege Spahn von der CDU daher und versucht, sich mit großem Getöse populistisch als Rächer der gesetzlich Versicherten und Vertreter der Patientenrechte darzustellen. ({11}) Mich interessiert, Herr Spahn: Warum profilieren Sie sich als Wahrer der Interessen von Patientinnen und Patienten und haben gleichzeitig in der gestrigen Anhörung, in der es um die Patientenrechte ging, mit keiner einzigen Organisation gesprochen, die die Interessen der Betroffenen vertreten hat? Stattdessen haben Sie dem Verband der privaten Krankenversicherung viel Raum gegeben, um darzustellen, was er unter Patientenrechten versteht. Dafür sind Ihnen bzw. Ihrer Partei wahrscheinlich auch 2011 wieder die 60 000 Euro von der Allianz sicher. ({12}) Ich kann Ihnen versprechen: Die Linke wird weiterhin für ein solidarisches und soziales Gesundheitswesen kämpfen. Dafür verzichten wir als einzige Partei in diesem Haus gern auf den jährlichen Scheck von der Allianz. ({13}) Die Linke und die Gesundheit haben nämlich eines gemeinsam: Beide kann man nicht kaufen; beide sind unbezahlbar. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Lothar Riebsamen für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts könnte anschaulicher machen als diese Vorlagen, die wir heute diskutieren, wie entscheidend und zukunftsweisend die christlich-liberale Koalition im abgelaufenen Jahr 2010 im Gesundheitswesen für unser Land vorangekommen ist. Wenn man die Große Anfrage und den Antrag liest, wird deutlich: Sie sind von der Geschichte längst überholt. Auf Schwäbisch würde man sagen: Sie sind so aktuell wie die alte Fastnacht. Genau in den von Ihnen angesprochenen Punkten haben wir das Gesundheitswesen in unserem Land ein Stück weit zukunftsfester gemacht. Wir haben die Arbeitskosten entlastet, nicht von den Kosten, die wir bisher im Gesundheitswesen hatten, sondern von den zukünftig anfallenden Kosten, die aufgrund der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts entstehen. Diese Kosten wollen wir nicht zusätzlich in den Arbeitskosten haben. Zudem haben wir Entscheidendes für die Solidarität in diesem System zwischen den Gesunden, den Kranken, den Reicheren und den Ärmeren getan. ({0}) Wenn man Ihre Vorlagen liest, wird nicht deutlich, wie Sie reagieren und was Sie tun wollen. Sie akzeptieren, dass Jahr für Jahr die Gesundheitskosten deutlich steigen. Sie müssen auch akzeptieren, dass sie in Zukunft noch viel deutlicher und progressiver steigen werden. Sie haben nichts anderes anzubieten, als zusätzlich Steuermittel ins System zu pumpen, ohne zu sagen, woher diese Steuermittel kommen sollen - vermutlich aus Steuererhöhungen -, oder diese Kosten zusätzlich auf die Arbeitskosten abzuwälzen. ({1}) Wir können den Herausforderungen nicht begegnen, indem wir die Produktivität und damit die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes belasten. Es ist doch kein Zufall, dass wir heute nur noch 3 Millionen Arbeitslose oder weniger haben und Vollbeschäftigung anstreben, während wir zum Ende der rot-grünen Regierungszeit 5 Millionen Arbeitslose hatten. Es ist doch auch kein Zufall, dass unsere deutsche Volkswirtschaft nach dieser Krise im Vergleich mit allen anderen Euro-Ländern am besten dasteht; ein Stück weit gilt das sogar im weltweiLothar Riebsamen ten Vergleich. Wir wollen die Volkswirtschaft unseres Landes wettbewerbsfähig halten. Dazu beigetragen haben auch die Tarifpartner, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die in der Krise Lohnzurückhaltung geübt haben und die Lohnkosten dadurch nicht zusätzlich belastet haben. Das hat uns starkgemacht und gut aus dieser Krise herauskommen lassen. ({2}) Sie selbst haben diesen Weg einst als richtig erkannt. Die rot-grüne Regierung hat die Kosten um 0,9 Prozentpunkte in Richtung Arbeitnehmer verschoben, ({3}) und während der Großen Koalition wurden die Arbeitgeberbeiträge eingefroren. Auch dies geschah mit der Absicht, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die Arbeitsplätze in unserem Land zu erhalten. ({4}) Sie ignorieren die demografische Entwicklung. Wir hingegen haben im vergangenen Jahr zwei Gesetze verabschiedet, die deutliche Fortschritte bringen. Dem Defizit von 9 Milliarden Euro, das zu erwarten war, sind wir dadurch begegnet, dass wir den Zwangsrabatt auf 16 Prozent erhöht haben und wir weniger im Bereich der ambulanten und stationären Einrichtungen gegeben haben. Das waren die kurzfristigen Maßnahmen. Durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz haben wir einen Paradigmenwechsel auf der Kostenseite erreicht. ({5}) Wir haben das erreicht, was unter einer sozialdemokratischen Ministerin elf Jahre lang nicht erreicht wurde: Die pharmazeutische Industrie und die gesetzlichen Krankenversicherungen begegnen sich auf Augenhöhe, ({6}) wenn neue Medikamente eingeführt werden. Grundlage dieser Verhandlungen ist der sogenannte Mehrnutzen. Das war ein ganz entscheidender Fortschritt im vergangenen Jahr, den wir uns zugutehalten können. Es ist gut, dass wir im vergangenen Jahr die Regierungsverantwortung hatten. So konnten wir diesen Schritt gehen. ({7}) Sie preisen immer wieder die Solidarität, die in früherer Zeit angeblich herrschte. Dazu muss ich Ihnen sagen: So weit war es mit der Solidarität nicht her. Die Solidarität galt bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 3 750 Euro. Darüber hinaus gab es sie nicht. Die Solidarität galt nicht beim Zusatzbeitrag, den es damals schon gab. Wir haben zum ersten Mal einen Sozialausgleich eingeführt, der aus Steuermitteln finanziert wird. ({8}) Die reicheren Privatversicherten und die Wirtschaft müssen sich an diesem Sozialausgleich beteiligen. ({9}) Wir haben keine Kopfprämie eingeführt. Ich sage es noch einmal: Für uns ist dies ein Stück weit auch Familienpolitik. Mit uns ist es nicht zu machen, dass Kinder auf der Grundlage einer Kopfprämie veranlagt werden. Das wollen wir schon aus familienpolitischen Gründen nicht. ({10}) Es ist schlicht infam, diesen Punkt immer wieder anzusprechen; denn das ist schlicht und ergreifend unwahr. ({11}) Die SPD weiß nicht, was sie will. Sie nimmt Abschied von Hartz IV, sie nimmt Abschied von der Rente mit 67, ({12}) sie nimmt auch ein Stück weit Abschied von der Schuldenbremse. Nun geht sie auch noch auf Distanz zur Bürgerversicherung, zumindest was die Lesart der Grünen anbelangt. Der Begriff „Bürgerversicherung“ ist eigentlich durch die Grünen besetzt. ({13}) Sie müssen sich einen neuen Begriff überlegen. „Bürgerverunsicherung“ wäre ein guter Begriff. Das wäre mein Rat. ({14}) - Oder „Schildbürgerversicherung“. - Wenn die Grünen die Dagegen-Partei sind, dann ist die SPD die Rollerückwärts-Partei. Das klingt zwar sehr sportlich, ist aber nur Ausdruck dafür, dass sie das vorwärts nicht kann. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Mechthild Rawert für die SPDFraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf den Antrag eingehe, möchte ich auf einige der Äußerungen eingehen, die hier gemacht wurden. ({0}) Ich fange mit der Förderung im Bereich der Familienpolitik an. Ihnen ist - ich empfehle Ihnen, es zu lesen 9748 das Sachverständigengutachten für den ersten Gleichstellungsbericht bekannt. Ihre Ministerin war zu feige, es persönlich entgegenzunehmen. ({1}) - Sie haben nur eine vermeintliche Frauenministerin. Sie heißt Kristina Schröder. - In diesem Gutachten für den Gleichstellungsbericht - es wurde übrigens von Frau von der Leyen in Auftrag gegeben - wird Ihnen eine Frauenquote empfohlen. Darin wird Ihnen auch empfohlen, über das Ehegattensplitting nicht nur nachzudenken, sondern es auch zu reformieren. Ich sage ausdrücklich: Am besten wäre eine Abschaffung. ({2}) Das steht in dem Ihnen vorgelegten Sachverständigengutachten für den Gleichstellungsbericht. Es ist eine gute Lektüre. Zweiter Punkt, Staatsobhut. Ich habe gerade einmal nachgeschaut, Herr Stracke: Sie sind Ende Dreißig, geben an, ledig zu sein; ob Sie Kinder haben, weiß ich nicht. Ich empfehle Ihnen: Machen Sie es vor! Machen Sie private Väterobhut! Schimpfen Sie aber nicht auf gute öffentliche Kitas, von denen Bayern mehr bräuchte, und auf gute Ganztagsbetreuung; denn diese dienen der Bildung der Kinder und der Emanzipation der Frauen. ({3}) Zu einem weiteren Vorwurf. Es wurde gesagt, der Antrag und die Anfrage seien alt. Ja, sie sind nicht mehr jüngsten Datums; das gebe ich unumwunden zu. Aber Ihre Beantwortung unserer Großen Anfrage mit 28 Fragen hat sieben Monate gedauert. ({4}) Das Allerschärfste kommt noch: Sie sind noch nicht einmal in der Lage, alle 28 Fragen zu beantworten. ({5}) Bei den Fragen 4 bis 14 haben Sie es sich leicht gemacht und jeweils als Antwort geschrieben: „Siehe Antwort zu Frage 2“. ({6}) Mit diesen Vorwürfen wäre ich also sehr vorsichtig, wenn Sie nicht einmal eine Große Anfrage beantworten können. Außerdem zeigt dies, dass Sie unwillig sind, Transparenz zu schaffen und Ihre Politik auf den Prüfstand zu stellen. ({7}) Jetzt kommen wir zum Antrag „Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen“. Sie haben abgelehnt, unseren Vorschlägen nachzukommen, und sind der Meinung, dass Ihr GKVFinanzierungsgesetz von Ende 2010 besser sei. Nein, das ist natürlich nicht so. Wir wollen die paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wir wollen auch einen solidarischen Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Noch eines: Sie beschimpfen die Verbände der Liga, egal ob Caritas, AWO, Jüdische Gemeinde oder ähnliche, und stellen diese als willfährige Bündnispartner anderer Parteien dar. Das zeigt eindeutig mangelnden Respekt vor der Fachlichkeit und Autonomie der Sozialverbände. ({8}) - Nein, nein. Wir arbeiten mit allen Fachverbänden zusammen, aber mit Respekt vor deren Autonomie und Fachlichkeit. ({9}) Sie bekennen sich zu kassenindividuellen Zusatzbeiträgen, zur Kopfpauschale. ({10}) Sie bekennen sich auch zur Vorkasse. Darauf sind Sie auch noch stolz; dies war den Äußerungen von Herrn Spahn und Frau Flach vorhin zu entnehmen. Das Ganze ist eine Ausräuberung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ihr Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge zeigt eindeutig, dass Sie Ihre Aussage „mehr Netto vom Brutto“, wenn überhaupt, nur für Hoteliers, Erben und Arbeitgeber wahrmachen wollen, aber auf keinen Fall für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. ({11}) Ein neuer Punkt: In den Medien war gestern und heute zu lesen, dass durch die gute und vorausschauende Steuer- und Arbeitsmarktpolitik der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise der Gesundheitsfonds 2010 gut gefüllt war. Wir haben jetzt einen Überschuss von 3,9 Milliarden Euro. ({12}) Ich bin übrigens der Meinung, Sie sollten sich bei Ulla Schmidt für diese gute und vorausschauende Politik bedanken. ({13}) - Sie haben eine gut gefüllte Kasse vorgefunden. Sie reklamieren hier ständig ein Defizit. Sie reden von 10 Milliarden Euro. Es waren 6,9 Milliarden Euro. ({14}) Ein anderer Punkt: Sie verschleiern die zukünftigen Ausgabensteigerungen, die auf die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, aber auch - das finde ich perfider auf die Niedrigverdienerinnen und -verdiener, also auf Rentner, auf Alleinerziehende und auf Empfänger von ALG II, zukommen. Sie wissen - wir wissen es auch -, dass die Kassen schon jetzt Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, also auch Erwerbslose, drängen, die Kassen zu wechseln. Warum reklamieren Sie für die einen das Recht auf freie Kassenwahl, nehmen aber billigend in Kauf, dass andere zu einem Kassenwechsel gezwungen werden? Das kann einfach nicht sein. Das ist wirklich nicht in Ordnung. Sie machen es doch wie folgt - ich nenne ein Beispiel -: Ein Mensch sitzt im Wartezimmer seines Hausarztes. Der Doktor kommt. Er sagt aber nicht mehr: Der Nächste, bitte! Er sagt eindeutig: Der Reichste, bitte! ({15}) Das ist eindeutig Zweiklassenmedizin. ({16}) Sie halten zwar an Steuersenkungen fest, aber diese nützen den Menschen mit geringem Einkommen nichts. ({17}) Ihre Mär, Sie seien so gerecht und so sozial, wird gerade auch an diesem Punkte immer wieder deutlich. Denn das, was Sie an Entlastungen proklamieren, kommt bei den Bürgerinnen und Bürgern mit geringem Einkommen nicht an. Wir bieten mit unserem Antrag zur paritätischen Finanzierung eine klare Alternative, und zwar im Interesse von Bürgerinnen und Bürgern. Wir stehen für die paritätische, wir stehen für die solidarische Finanzierung des Lebensrisikos Krankheit. ({18}) Wir entlassen die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verantwortung. Denn wir sind der Meinung, dass die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung einer der Grundpfeiler eines solidarisch verfassten Gemeinwesens ist. Wir brauchen dieses gerechte System für einen gerecht finanzierten Sozialstaat, für eine soziale Marktwirtschaft. Ihre Umverteilung von oben nach unten bedeutet Zweiklassenmedizin, Vorkasse, Verunsicherung; all das kam schon. Wir werden Ihnen das Konzept der Bürgersozialversicherung in Kürze vorlegen, ({19}) und Sie werden vor allen Dingen überrascht sein, wie dies durchgerechnet ist, ({20}) während Sie - ich komme auf die Beantwortung der Großen Anfrage zurück - einfach lapidar feststellen: Längerfristige Prognosen werden von der Bundesregierung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung insbesondere aufgrund der spezifischen Unsicherheiten im Ausgabenbereich nicht erstellt. Das heißt, Ihnen fehlen Daten, Ihnen fehlen Zahlen. Sie machen eine unklare Gesundheitspolitik. Wir hingegen werden ab 2013 eine klare sozialdemokratische Alternative bieten. Herzlichen Dank. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letzte Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kollegin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lauterbach, das war wohl nichts: Trost, Rat und Zuspruch von den Linken, ein bisschen Angriff von Ihnen, die Grünen spendeten eher Trost. Diese 75 Minuten hätten Sie sich schenken können. ({0}) Ich kann dazu einen Kinderreim bemühen: Getretener Quark wird breit, nicht stark. ({1}) Frau Rawert, da hilft auch das Ausweichen in Ihr Lieblingsthema „Gender“ nichts. Es wird einfach nicht besser. ({2}) Ihre Anträge waren bestenfalls überholt; sie waren von Anfang an ungeeignet und überflüssig. Ich will es an dieser Stelle konkret zusammenfassen. Noch im März 2010 haben Sie einen „Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung“ beantragt, ebenso die Streichung der kassenindividuellen Zusatzbeiträge, die Sie übrigens mit uns eingeführt haben, und die Rückkehr „zu paritätisch finanzierten Beitragssätzen“, ({3}) von denen Sie sich aus guten Gründen mit uns abgekehrt haben. Darüber hinaus haben Sie die Bundesregierung aufgefordert, „ein Konzept zur Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung“ vorzulegen. Sie kündigen seit 1998 - Herr Stracke hat es bereits gesagt - ein solches Konzept an, aber konnten es bisher nicht vorlegen. ({4}) Jetzt, nachdem wir, die christlich-liberale Koalition, die Finanzierung der gesetzlichen Kassen mit unserem Konzept in den Griff bekommen haben, kommen Sie und sagen, wir hätten alles ganz falsch gemacht: Eigentlich habe es gar kein Defizit gegeben; wir hätten zu viel Geld gespart und es auch noch von den falschen Zahlern eingenommen, also zu wenig Strukturen geändert und zu viel gespart. Ich zitiere hier aus Ihrem eigenen Antrag. Jetzt gibt es angeblich Probleme bei der „Kopfpauschale“ - so nennen Sie es - und bei den Effizienzreserven - da sind Sie in der letzten Ausschusssitzung „umgeswitcht“ -, die angeblich noch nicht gehoben worden sind. Jetzt, nachdem erstmals Planungssicherheit eingetreten ist, wollen Sie dem Gesundheitsfonds Mittel entziehen. Ihr Petitum ist weder aktueller noch besser geworden, aber populistischer; und das war Sinn und Zweck der Übung. In Ihrem Antrag ist ausschließlich die von Ihnen genannte Tatsache richtig, dass es Effizienzreserven im Gesundheitssystem gab und gibt. Genau deshalb haben wir damit begonnen, diese Effizienzreserven zu heben, Ausgabenblock für Ausgabenblock. Wir haben mit den Arzneimitteln begonnen; auch das ist heute schon gesagt worden. Erstmals werden Arzneimittel einer Nutzenbewertung unterzogen. Erst wenn Medikamente einen zusätzlichen Nutzen haben, besser sind als diejenigen, die bereits auf dem Markt sind, wird mit der Pharmaindustrie überhaupt über einen Preis verhandelt. Bisher konnten die Pharmaunternehmen ohne Verhandlung jeden Preis durchsetzen. Das ist Innovation; das ist eine echte Strukturänderung, mit der wir angefangen haben. ({5}) Nun zum Finanzierungsdefizit. Der Schätzerkreis ging im März 2010 - das ist das Datum Ihres Antrags - von einem Defizit in Höhe von 7,9 Milliarden Euro aus; im Sommer waren es dann schon 9 bis 11 Milliarden Euro. Deshalb haben wir mit dem GKV-Finanzierungsgesetz reagiert: Wir haben die Ausgaben gesenkt und die Einnahmen erhöht. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, stellt der Schätzerkreis in seiner aktuellen Prognose fest, dass der Gesundheitsfonds 2010 nicht mehr defizitär ist, die gesetzliche Mindestreserve erreicht wird und sie 2011 - das ist natürlich auch der guten wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet - voraussichtlich sogar überschritten wird. Die Mindestreserve liegt übrigens bei einem Fünftel der Monatsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir reden hier also noch nicht von einem Juliusturm. Unser Konzept funktioniert also. Wir haben es endlich erreicht, wieder Planungssicherheit für mehrere Jahre zu schaffen. ({6}) Da werfen Sie, die um das dramatische Defizit der GKV wussten und im eigenen Antrag sogar schriftlich darauf hingewiesen haben, uns vor, dass die Rückkehr zu dem Beitragssatz, der vor der Krise galt, nicht notwendig war; wir hätten das nur beschlossen, damit keine Kasse einen Zusatzbeitrag verlangt. Das ist doch absurd und widersinnig; das muss gar nicht weiter kommentiert werden. ({7}) Die Reserve ist dafür gedacht, schwankende Einnahmen der Kassen auszugleichen. Wir wollen die Sicherheit für Patienten und Steuerzahler nicht wieder aus der Hand geben. Ihre Forderung, die Beiträge jetzt zu senken, ist für mich bestenfalls nicht nachvollziehbar; schlimmstenfalls handelt es sich um den Ihnen schon eingangs vorgeworfenen Populismus. Jetzt beklagen Sie die angebliche Abkehr von der solidarischen Finanzierung. Es war aber richtig, dass wir vor zwei Jahren gemeinsam - wohlgemerkt: gemeinsam die Finanzierung der GKV umgestellt und sie damit von den Arbeitskosten gelöst haben, indem wir den Anteil der Arbeitgeber am Beitragssatz eingefroren haben. ({8}) - Herr Weinberg, hören Sie einfach zu. Dann wird es auch Ihnen klar. ({9}) Wenn Sie von der SPD bei Ihrer Kehrtwende bleiben würden, müssten Sie weiter mit den früheren Kostendämpfungsgesetzen und Budgets leben. Sie würden nur Verlierer produzieren. Sie würden damit der Gesundheitswirtschaft, einem Wachstumsmarkt, die Daumenschrauben anlegen. Sie könnten dann die Leistungserbringer, die Ärzte, das Pflegepersonal, das Klinikpersonal, nicht annähernd leistungsgerecht bezahlen. Die Patienten und die Versicherten würden dann Arbeitsplätze verlieren, weil unsere Wirtschaft infolge der hohen Lohnkosten im Export nicht mehr wettbewerbsfähig wäre und ins Ausland abwandern würde. ({10}) Nachdem all Ihre Vorwürfe ins Leere gelaufen sind, haben Sie die Themen umgestellt, Herr Lauterbach. Jetzt versuchen Sie, ein Alternativkonzept vorzulegen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen - das ist heute schon mehrfach angesprochen worden -: Nachdem die Regierung Ihnen bei Ihren falschen Ideen nicht behilflich sein wollte, hat Ihr Präsidium sieben Eckpunkte für die Bürgerversicherung vorgelegt. Inhaltlich gibt es aber weder konkrete Aussagen noch Gesetzesvorschläge. ({11}) Die Idee der Verbreiterung der Einkommensarten - das war übrigens der Wesenskern der Bürgerversicherung wird bereits jetzt, zwei Monate später, nicht mehr weiterverfolgt. Sie sagen, es sei sehr bürokratisch, den Krankenkassen die Funktion von Finanzämtern zuzuweisen. Genau das haben wir auch gesagt. Die Realität hat Sie auch diesbezüglich eingeholt. Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Wir haben bereits Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsreserven erschlossen. Wir werden auch weitere erschließen. Wir haben den Weg für eine tragfähige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung geebnet. Wir haben die Einnahmen und die Ausgaben stabilisiert. Wir haben das System der GKV zukunftsfest gemacht. ({12}) Unser System funktioniert. Die Bürgerversicherung ist weder geeignet noch notwendig. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schieße die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Paritätische Finanzierung in der gesetzli- chen Krankenversicherung wiederherstellen“. Der Aus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4476, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/879 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und der Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkten 24 a bis c sowie Zusatzpunkt 2 auf: 24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Kurth ({0}), Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schenkelbrand bei Pferden verbieten - Drucksache 17/4438 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Technikfolgenabschätzung ({2}) Innovationsreport Stand und Bedingungen klinischer Forschung in Deutschland und im Vergleich zu anderen Ländern unter besonderer Berücksichtigung nichtkommerzieller Studien - Drucksache 17/3951 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Technikfolgenabschätzung ({5}) Politikbenchmarking Medizintechnische Innovationen - Herausforderungen für die Forschungs-, Gesundheitsund Wirtschaftspolitik - Drucksache 17/3952 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen durch mehr Fachpersonal für Hygiene und Prävention - Drucksache 17/4452 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 a bis o auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 25 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsicherheitsgesetz und zur Änderung des Verwaltungskostengesetzes - Drucksache 17/3983 9752 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) - Drucksache 17/4559 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({8}) Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4559, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3983 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 25 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Anpassung chemikalienrechtlicher Vorschriften an die Verordnung ({10}) Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen, sowie zur Anpassung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung an Änderungen der Gefahrstoffverordnung - Drucksachen 17/4142, 17/4292 Nr. 2.1, 17/4523 Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Frank Schwabe Dr. Lutz Knopek Ralph Lenkert Dorothea Steiner Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4523, der Verordnung auf Drucksache 17/4142 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 25 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({11}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Grünbuch der Kommission Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen KOM ({12}) 348 endg.; Ratsdok. 11961/10 - Drucksachen 17/2994 A 16, 17/4565 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak Christine Lambrecht Marco Buschmann Raju Sharma Ingrid Hönlinger Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 25 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({13}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Modernisierungspartnerschaft mit Russland Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stärkere Kooperation und Verflechtung - Drucksachen 17/1153, 17/1822 Berichterstattung: Abgeordnete Karl-Georg Wellmann Franz Thönnes Dr. Bijan Djir-Sarai Wolfgang Gehrcke Marieluise Beck ({14}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1822, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1153 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ({16}), Volker Beck ({17}), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Modernisierung braucht Rechtsstaatlichkeit Partnerschaft mit Russland fördern - Drucksachen 17/2426, 17/4560 Berichterstattung: Abgeordnete Karl-Georg Wellmann Franz Thönnes Michael Link ({18}) Wolfgang Gehrcke Marieluise Beck ({19}) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4560, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2426 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 25 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 200 zu Petitionen - Drucksache 17/4454 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 200 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 201 zu Petitionen - Drucksache 17/4455 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 201 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 202 zu Petitionen - Drucksache 17/4456 Wer stimmt dafür? - Enthaltungen? - Wer stimmt dagegen? - Sammelübersicht 202 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 203 zu Petitionen - Drucksache 17/4457 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 203 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 25 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 204 zu Petitionen - Drucksache 17/4458 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 25 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 205 zu Petitionen - Drucksache 17/4459 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der SPD-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 25 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 206 zu Petitionen - Drucksache 17/4460 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 206 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 207 zu Petitionen - Drucksache 17/4461 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 207 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 208 zu Petitionen - Drucksache 17/4462 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 208 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 209 zu Petitionen - Drucksache 17/4463 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Zusatzpunkt ZP 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Schlaglochchaos beseitigen - Kommunale Finanzen stärken Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Katrin Kunert für die Fraktion der Linken. ({30})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Deutschlands Straßen ist der Teufel los. Wer von uns täglich auf die Straße geht oder die Straße bzw. den Fußgängerweg benutzen muss oder mit Radfahrern ins Gespräch kommt, muss erkennen, dass Autos, Busse, Fahrräder und auch Kinderwagen stark gefährdet sind, ganz zu schweigen von dem Leben der Betroffenen. Überall Schlaglöcher und Risse auf den Straßen - das ist ein unglaublicher Zustand in diesem reichen Land. ({0}) Der Verkehrsminister sagt, er mache zusätzlich 2,2 Milliarden Euro für die Sanierung der Straßen locker. Was er nicht sagt, ist, dass diese 2,2 Milliarden Euro bereits im Haushalt stehen, und er sagt nicht, dass dieses Geld nur für Bundesstraßen verplant ist. ({1}) Auf den anderen 80 Prozent der Straßen, den kommunalen Straßen, dürfen wir die Schlaglöcher noch etwas länger genießen. Die Städte, Gemeinden und Landkreise stehen mit dem Rücken zur Wand. Das heißt, dass sie nicht einmal die nötigsten Reparaturen erledigen können. Die ganze Sache treibt paradoxe Blüten. Im letzten Winter hat ein thüringischer Ort seine Schlaglöcher verkauft, um die Sanierungskosten einzutreiben. Ich weiß, Sie können es nicht mehr hören, aber die Kommunen sind am Ende - durch Ihre Politik. ({2}) Das Schlimme ist, dass sich daran nichts ändert, Herr Döring. Die Linke sagt: Die Kommunen müssen finanziell endlich so ausgestattet werden, dass sie alle ihre öffentlichen Aufgaben ordentlich erledigen können. ({3}) Die Bundesregierung hat unter dem Motto „Wenn ich mal nicht weiter weiß, dann bilde ich einen Arbeitskreis“ eine Gemeindefinanzkommission ins Leben gerufen, die geheim tagt. Aber anscheinend weiß auch sie nicht wirklich weiter. Ergebnisse der wichtigsten Arbeitsgruppe dieser Kommission sollen nun erst im Juni vorliegen. Ich bin einmal gespannt, was dabei herauskommt; denn es scheint weniger um die Ausstattung der Kommunalfinanzen zu gehen, als darum, wer dort am schadlosesten herauskommt: Land oder Bund. Das geht nun einmal gar nicht. Der Finanzminister hat zwar kürzlich sein Herz für die Kommunen entdeckt und meint, die Kommunen brauchten natürlich einen größeren finanziellen Spielraum, aber getan hat er nichts. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Schlaglöchern. Dresden braucht nur für Notreparaturen 1,5 Millionen Euro, Zwickau 1 Million Euro, die Stadt Halle 2,2 Millionen Euro, und die Stadt München - so wird durch die CSU im Stadtrat gefordert - braucht 10 Millionen Euro als Sofortprogramm. Eine goldene Straßenbauregel besagt, dass pro Jahr pro Quadratmeter Straße 1,30 Euro ausgegeben werden muss, um intakte Straßen zu haben. Da die Kommunen aber klamme Kassen haben, können sie nur die Hälfte davon aufbringen. Das bedeutet, dass 40 Prozent aller Straßen als schwer geschädigt eingestuft werden; das sagt der TÜV. Die Überschriften überschlagen sich derzeit - und die Regierung auch. Die Wirtschaft boomt, sagen alle. Aber warum kommt dieser Aufschwung nicht in den Kommunen an, frage ich Sie. Herr Brüderle hat beim Jahreswirtschaftsbericht seine Einschätzung vorgetragen: in Deutschland regiere die Zuversicht; in Deutschland regierten das Wachstum und der Fortschritt. Wenn Sie das mit Blick auf die Kommunen so einschätzen, haben Sie anscheinend wirklich noch kein Schlagloch erwischt. Ich sage: Sie haben keine Ahnung, was in den Kommunen tatsächlich los ist, und so sieht leider auch Ihre Politik aus. ({4}) Noch vor 20 Jahren zahlte der Bayer-Konzern 110 Millionen Euro Gewerbesteuern an die Stadt Leverkusen; heute sind es gerade noch 20 Millionen Euro. Fakt ist, dass die bisherigen Bundesregierungen durch ihre Steuersenkungspolitik Großkonzerne in enormen Größenordnungen entlastet haben, dass sie dadurch jedoch Steuereinbrüche bei den Kommunen verursacht haben. ({5}) - Frau Kollegin, Sie sind nachher dran. - Alleine im Zeitraum von 2008 bis 2009 gibt es für die Kommunen vorausberechnet bis 2013 ein Minus von 19 Milliarden Euro. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, riss allein in 2010 ein Loch von 6 Milliarden Euro in die kommunalen Kassen. Da wundert es mich überhaupt nicht, dass die Kommunen das Jahr 2010 finanziell als das bisher schlechteste Jahr der Nachkriegsgeschichte abgeschlossen haben. Spätestens jetzt müssten Sie doch endlich in Ihrer Politik umsteuern. ({6}) Aber nein, Sie machen weiter so. Nach wie vor werden hier im Haus mit Ihrer Mehrheit Gesetze verabschiedet, die immer zulasten der Kommunen ausgehen. Allein der elektronische Personalausweis bedeutet für die Stadt Köln eine Mehrausgabe in Höhe von 1,25 Millionen Euro. Als ob das nicht reicht, kürzen Sie auch noch im Haushalt 2011. ({7}) Ich will Ihnen einige Beispiele nennen: Sie kürzen bei der CO2-Gebäudesanierung um 460 Millionen Euro, bei den Eingliederungsleistungen für Langzeitarbeitslose um 1,3 Milliarden Euro und beim Programm „Soziale Stadt“ um 67 Millionen Euro. Für Sachsen-Anhalt sind das 900 000 Euro. Wir hatten im Land bisher 3 Millionen Euro für das Programm „Soziale Stadt“ zur Verfügung. Für Halle-Neustadt bedeutet dies das Aus für das Quartiersmanagement, das Aus für interkulturelle Wochen, das Aus für die Stadtzeitung und das Aus für die Bürgerbeteiligung bei der Sanierung von Straßen, Fußund Radwegen. ({8}) - Sie können gerne mit den Betroffenen darüber reden, was hier Quatsch ist, Herr Kollege. ({9}) Die Linke fordert die Aufstockung der Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ mindestens auf das Niveau von 2010, und die Linke unterstützt ausdrücklich das Bündnis für eine Soziale Stadt. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen sind die Lebensadern der Gesellschaft, und die Situation der Haushalte muss endlich grundlegend verbessert werden. Die Linke will endlich auch Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission auf dem Tisch haben, und die Linke will ein Sofortprogramm für die Sanierung der kommunalen Straßen in Höhe von 500 Millionen Euro. ({11}) Wir sagen auch: Sanierung muss vor Neubau gehen und Vorfahrt für Fußgänger und für Radfahrer! Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass die SEDNachfolgepartei ({0}) diese Aktuelle Stunde auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist besonders pikant. Viele von uns wissen noch sehr gut, wie die Straßen in den neuen Ländern unmittelbar nach dem Zerfall des Sozialismus ausgesehen haben. Frau Kollegin, Sie wären deshalb besser still gewesen. ({1}) Die aktuellen winterbedingten Straßenschäden in Deutschland werden von den Kommunen auf etwa 2,3 Milliarden Euro geschätzt. Das ist viel Geld. Wenn wir nach draußen schauen, wissen wir: Der Winter ist noch nicht beendet. Eine funktionstüchtige Verkehrsinfrastruktur ist volkswirtschaftlich ein bedeutender Standortfaktor, und dazu tragen die Kommunen maßgeblich bei. 95 Prozent unserer Straßen sind kommunale Straßen, also in der Trägerschaft von Städten, Gemeinden und Landkreisen. Auch wenn wir in Berlin als Bund weder für kommunale Straßen noch für Schlaglöcher zuständig sind, machen wir uns um die Entwicklung der Gemeindefinanzen insgesamt große Sorgen. ({2}) Bei den Kommunen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein enormer Investitionsstau aufgebaut - übrigens nicht nur beim Straßenbau. Allein damit, Schlaglöcher zu stopfen, ist es schon lange nicht mehr getan. In den meisten Fällen hilft wegen fehlender regelmäßiger Straßenunterhaltung nur noch eine Generalsanierung, und die ist bekanntermaßen besonders teuer. Das ist kein Vorwurf gegenüber den Kommunen, sondern die Konsequenz der permanenten Unterfinanzierung kommunaler Haushalte. Meine Damen und Herren, die Ursachen gehen weit zurück in die kommunalfeindliche Politik der SchröderRegierung, als die Verschuldung in den Städten und Gemeinden von Jahr zu Jahr stieg und stieg. Davon haben sich bis heute viele noch nicht erholt. Das rächt sich jetzt zunehmend. ({3}) - Das stimmt, auch wenn Sie von der SPD es nicht mehr hören können. ({4}) Trotz aller Anstrengungen der unionsgeführten Bundesregierung kann dieser Rückstand nicht in wenigen Jahren aufgeholt werden, ({5}) zumal die finanziellen Spielräume durch die weltweite Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise auf allen politischen Ebenen inzwischen weggebrochen sind. Das Ganze wird noch verschärft, ({6}) wenn die nach unserem Grundgesetz für die Gemeindefinanzen verantwortliche Landespolitik auch noch kommunalfeindlich ist. Schauen Sie nach Rheinland-Pfalz; dort wird das besonders deutlich. Das dortige Oberverwaltungsgericht hat der rheinland-pfälzischen Landesregierung erst vor wenigen Wochen die rote Karte gezeigt und festgestellt, dass die Schlüsselzuweisungen gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine angemessene kommunale Finanzausstattung verstoßen. Das heißt, die SPD-geführte Landesregierung von Rheinland-Pfalz lässt die Kommunen nachweislich, durch Gerichtsurteil belegt, am langen Arm verhungern. ({7}) Alle staatlichen Ebenen müssen den Kommunen durch stabile Gemeindefinanzen wieder Luft zum Atmen verschaffen. Das gilt für den Bund und vor allem aber auch für die dafür eigentlich zuständigen Länder. Trotz schwierigster Haushaltslage, in der wir uns befinden, sollten wir prüfen, wie wir die Kommunen bei den steigenden Sozialausgaben entlasten können. Gleichzeitig müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, um die strukturellen Defizite der Kommunalfinanzen zu beseitigen. Die von Finanzminister Wolfgang Schäuble eingesetzte Gemeindefinanzkommission beschäftigt sich mit dieser Aufgabe. Wir erwarten noch in diesem Frühjahr konkrete Vorschläge. ({8}) Uns war es wichtig, dass die kommunalen Spitzenverbände in dieser Kommission von Anfang an beteiligt sind und konkret und aktiv mitwirken. ({9}) Mit den kommunalen Spitzenverbänden ist verabredet, dass keine Entscheidungen gegen die Kommunen getroffen werden. Das sollten wir dankbar zur Kenntnis nehmen. ({10}) Wir wollen den Gemeinden mehr Eigenverantwortung geben und dadurch die kommunale Selbstverwaltung stärken, damit die vielen ehrenamtlichen Räte in den Gemeinden, Städten und Kreisen ihre Heimat eigenverantwortlich und motiviert gestalten können. Bei gutem Willen aller - dazu zähle ich auch Sie - kann dies gelingen. Ich fordere Sie deshalb im Interesse der Städte und Gemeinden eindringlich dazu auf. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Carsten Sieling von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Götz, draußen droht in der Tat der nächste Winter. Die Straßen sind schon aufgerissen und haben tiefe Löcher, und in den Rathäusern schlackern den Bürgermeistern und Kämmerern die Hosen vor Angst davor, wie sie die Haushalte realisieren sollen. Sie aber erzählen uns hier das Märchen, Rot-Grün hätte die Löcher in die Haushalte der Kommunen gerissen. ({0}) Das ist die größte Märchengeschichte; denn es waren Rot-Grün und anschließend noch zum Teil die Große Koalition, die vor allem auf Druck der SPD dafür gesorgt haben, dass sich die öffentlichen Finanzen in den Kommunen, in den Städten und Dörfern, verstetigen können, Herr Götz. ({1}) Auch das sollten Sie sagen, lieber Kollege; denn Sie waren ein gutes Stück weit dabei. Das ist notwendig, weil es der Ehrlichkeit dient. ({2}) Aber ich weiß, warum Sie das so aufblasen und warum die Aufregung vor allem aufseiten der Liberalen, aber auch bei der CDU/CSU so groß ist: Weil diese Koalition, festgehalten in ihrem Koalitionsvertrag, die Basis für die Dörfer, Städte und Landkreise kaputtmachen will, indem sie die Gewerbesteuer, die deren zentrale Einnahmequelle ist, kaputtmachen will. ({3}) Dagegen müssen wir gemeinsam stehen. Wer die Löcher in den Straßen stopfen will, muss bereit sein, die Löcher in den kommunalen Haushalten zu stopfen und dafür zu sorgen, dass investiert werden kann. ({4}) Das ist ganz einfach. Es gibt drei Ansätze, wie man das macht, Kollege Götz. Der erste Schritt ist: Sie müssen die Einnahmen der öffentlichen Hände auf der kommunalen Ebene stabilisieren. Ich bitte Sie: Lassen Sie Ihre Pläne sausen! Schließen Sie sich dem Kommunalmodell an, das die Kommunen unterstützen! Das bedeutet die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbesteuer für die Kommunen, indem auch die Freiberufler einbezogen werden. ({5}) Sie können dadurch die Einnahmen stabilisieren und erhöhen. Lassen Sie die Finger von der Streichung der Hinzurechnung! Das ist ein Fehler. Finger weg von der Gewerbesteuer! ({6}) Das ist der erste Schritt, um die Löcher in den Straßen stopfen zu können. ({7}) Der zweite Schritt ist, eine Entlastung bei großen Ausgabenpositionen anzugehen. Es ist richtig - Sie haben es angesprochen -: Die Kosten für Unterkunft, aber auch die Grundsicherung im Alter müssen angegangen werden. Ich bin entsetzt. Die Rheinische Post hat in einer Meldung berichtet, dass sich das Bundesfinanzministerium endlich mit 1,9 Milliarden Euro an den Kosten der Unterkunft beteiligen will, Herr Koschyk. ({8}) - Genau. Sie sagen es, Kollegin Kressl. - Kaum war die Meldung raus, wurde schon dementiert, dass an dieser Stelle etwas getan werden soll. Entlasten Sie die Kommunen von den Soziallasten! Dann werden Mittel frei, um die Infrastrukturmaßnahmen anzugehen. ({9}) - Gut, dass Sie die elf Jahre ansprechen. Damit komme ich zu dem dritten Schritt. Wir brauchen in Deutschland eine Infrastrukturoffensive. Es zeigt sich sehr deutlich: Wir brauchen wieder Investitionsmittel und eine Investitionsgrundlage auch für die Städte und Gemeinden, damit sie in die Infrastruktur investieren können. Dazu kann ich nur sagen: Minister Ramsauer ist vielleicht nicht als Mitglied des Kabinetts, aber doch als Mitglied des Koalitionsausschusses in den vier Jahren zwischen 2005 und 2009 bei Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz und Peer Steinbrück in die Lehre gegangen und hat gesehen, was man mit einem klugen Konjunkturprogramm und einem Investitionsprogramm zugunsten der Kommunen bewegen kann. Damals handelte es sich um ein Konjunkturprogramm, jetzt brauchen wir - davon bin ich überzeugt - ein Sanierungsprogramm für die öffentliche Infrastruktur in den Kommunen und Städten. Knüpfen Sie an das Konjunkturprogramm an. Die Große Koalition hat 10 Milliarden Euro bereitgestellt. Damit ist für die öffentliche Infrastruktur, insbesondere im Bereich der Schulen, aber auch in vielen anderen Bereichen, viel Gutes getan worden. Diese Koalition tut nichts mehr in dieser Richtung. Tun Sie etwas, damit die öffentlichen Investitionen in Deutschland verstärkt werden. Das ist die wichtige Aufgabe, an der man arbeiten muss. Daher sage ich zum Schluss: Die Löcher in den Straßen werden immer größer, in der Tat. Aber diese Regierung sorgt dafür, dass die Löcher auch in den Haushalten der Kommunen und der Städte immer größer werden und Deutschland in die Gefahr gerät, eine Bröckelrepublik zu werden. Das passiert, wenn Ihre Politik fortgesetzt wird. Unterstützen Sie endlich das, was notwendig ist; dann haben wir auch vernünftige Verhältnisse im Verkehr und überall dort, wo die Menschen leben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir jetzt die ersten drei Beiträge in dieser Debatte angehört und zumindest bei zwei Rednern, nämlich Herrn Sieling und Frau Kunert, festgestellt, dass sie ganz offensichtlich weder willens noch in der Lage sind, die Debatte, die berechtigt ist, wenigstens ein bisschen in die aktuelle Finanz- und Haushaltslage dieser Republik einzuordnen. Vielleicht ist es Ihnen entgangen, dass dieses Parlament, das die Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland trägt, eine Neuverschuldung von etwas mehr als 50 Milliarden Euro zu schultern hat. Angesichts dessen hier neue Konjunkturprogramme auf Pump zu fordern, finde ich schon bemerkenswert, Herr Kollege Sieling. ({0}) Wer uns solide und kluge Politik ansonsten immer gerne abspricht, will jetzt das Defizit der Republik erhöhen. Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. ({1}) Natürlich sind 11 Milliarden Euro Neuverschuldung in den Kommunen im Jahr 2009 auch ein Rekordwert, aber im Vergleich zu den über 50 Milliarden Euro, die wir als gewählte Parlamentarier hier zu vertreten haben, gilt der Satz: Die Kommunen sind immer noch die am wenigsten verschuldete staatliche Ebene in der Republik. ({2}) Ich war lang genug Mitglied eines Rates und Fraktionsvorsitzender. Sie alle wissen doch genau, dass es sehr unterschiedliche kommunale Situationen gibt. Es gibt übrigens auch schuldenfreie Städte und Gemeinden in Deutschland, ({3}) weil sie kluge Politik gemacht und sich von überflüssigen Vermögenswerten getrennt und ihre Schulden abgebaut haben. Das hat zum Beispiel in Düsseldorf zur Entschuldung geführt. ({4}) Wir können uns jeden Problempunkt in Deutschland einzeln anschauen, und jeder gibt darauf eine wie auch immer geartete isolierte Antwort. Ich aber sage Ihnen ganz ehrlich: Wer die Entwicklung der Gewerbesteuer verfolgt hat, wer die Erosion der Körperschaftsteuer nach der falschen Körperschaftsteuerreform von RotGrün verfolgt hat, der stellt doch fest, dass die Gewerbesteuer das Gegenteil einer soliden Finanzausstattung der Kommunen ist. Sie ist viel zu konjunkturanfällig, viel zu schwankend und viel zu wenig planbar für die Kämmerer, die Ratsfrauen und die Ratsherren. ({5}) Deshalb ist es gut, dass diese Koalition gemeinsam mit dem Bundesfinanzministerium und Experten ein neues System einführen will. Die Kommission wird alsbald Ergebnisse vorlegen. Ich sage aber auch: Es ist natürlich im hohen Maße scheinheilig, wenn sich hier Teile der Opposition über die Investitionstätigkeit des Bundes kritisch äußern, ohne bereit zu sein, zu schauen, was sie in ihrem Verantwortungsbereich machen. Diese Koalition hat trotz Sparetats und trotz größter Anstrengungen, die Neuverschuldung so gut es geht herunterzufahren, beim Erhalt für Straßen in der Verantwortung des Bundes 100 Millionen Euro draufgelegt. Im Land Berlin und im Land Brandenburg gehen die Investitionen in die Straßen ausweislich des Berichts des Landesrechnungshofs seit Jahren kontinuierlich zurück. Das ist die politische Realität. Man sollte also aufpassen, wenn man solche Aktuellen Stunden beantragt. ({6}) Dass man Haushaltskonsolidierung betreiben und Investitionen erhöhen kann, beweisen zum Beispiel die Freundinnen und Freunde in Hessen. Bei Regierungsübernahme wurden 30 Millionen Euro und in diesem Jahr werden 151 Millionen Euro für Landesstraßen zur Verfügung gestellt. Zudem wurde die Verschuldung zurückgefahren. Wenn man mit dem vorhandenen Geld, das die Bürgerinnen und Bürger dem Staat zur Verfügung stellen, richtige Akzente setzt, dann kann man die Investitionsprobleme offensiver angehen, als das die Ministerinnen und Minister von Sozialdemokraten und Linken in ihrem Verantwortungsbereich bisher getan haben. ({7}) Deshalb bleiben wir dabei: Es ist klug und vernünftig, zu konsolidieren und die Verschuldung in unseren öffentlichen Haushalten - egal an welcher Stelle - abzubauen. Dafür brauchen wir eine solide Einnahmebasis. Die beste Einnahmebasis, die beste Entlastungspolitik für die Kommunen ist die Wirtschaftspolitik dieser Regierung, die jeden Tag dafür sorgt, dass ein paar Hundert Menschen weniger arbeitslos sind, sondern ihr eigenes Leben besorgen und finanzieren können, dass weniger soziale Hilfe in Anspruch genommen wird und dass weniger Menschen die Kosten der Unterkunft überhaupt in Anspruch nehmen müssen, weil sie einen Arbeitsplatz haben und ihr Leben gestalten können. ({8}) Das ist die Politik dieser Regierung. Wir wollen weniger Menschen in sozialen Sicherungssystemen. Das ist die beste Entlastungspolitik für Kommunen, die man machen kann. Das ist das Leitmotiv der nächsten Monate. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Toni Hofreiter von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt von den Regierungsfraktionen erfahren, dass die Ursache für die Misere der kommunalen Finanzen an Regierungen liegt, die schon sehr lange nicht mehr regieren. Wir haben davon erfahren, dass untergegangene Staaten daran schuld sein sollen. Wir haben von der jetzigen Regierung erfahren, dass Kommissionen eingesetzt werden sollen. Ich frage mich, wie Sie mit diesen Aussagen vor die Leute, vor Bürgermeister und Gemeinderäte treten wollen, die im Moment Probleme bei sich vor Ort haben. ({0}) Das ist gar kein triviales Problem. Die Frage ist: Wo bekommt der Bürger unseren Staat mit? Wo nimmt er die öffentliche Hand wahr? Wo nimmt er Demokratie am stärksten wahr? In unseren Kommunen vor Ort. Wenn man sich einmal anschaut, dass es viele Kommunen gibt, in denen die gewählten Vertreter de facto nicht mehr viel zu entscheiden haben, weil die Kommunen alle in der Haushaltssicherung sind und letztendlich keinen genehmigten Haushalt mehr haben, dann stellt man fest, dass wir nicht nur ein Problem mit Schlaglöchern, sondern ein Problem mit der Akzeptanz der Leistungen der öffentlichen Hand haben. Und was geben Sie für dieses Problem als Antwort? Irgendwer in der Vergangenheit war schuld - als wenn Sie gar nicht regieren würden -, und wir haben eine nette Kommission. - Das ist armselig. ({1}) Wenn man sich die Kommunen anschaut, dann stellt man fest: Es mag zwar sein, dass die Kommunen im Vergleich zum Bundeshaushalt im Schnitt weniger Schulden aufnehmen, aber man muss die Kommunen einzeln betrachten. Es gibt Kommunen, die völlig überschuldet sind, und es gibt Kommunen, die in der sogenannten Vergeblichkeitsfalle stecken. Sie haben in der Vergangenheit aufgrund der vielleicht nicht gerade intelligentesten Politik oder aufgrund von Umständen, für die sie wenig können - zum Beispiel wegen des Sterbens ganzer Industriebereiche -, so viele Schulden aufgenommen, dass sie, egal was sie tun, nicht mehr aus ihren Schulden herauskommen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Beispielen. Was können wir diesen Kommunen anbieten? Diesen Kommunen müssen wir etwas anbieten. Wir müssen ihnen eine vernünftige Altschuldenhilfe anbieten, damit sie überhaupt die Chance haben, aus der Vergeblichkeitsfalle herauszukommen. Da hilft es nichts, wenn man nur von Kommissionen spricht. ({2}) Ich komme jetzt zu dem eigentlichen Thema dieser Aktuellen Stunde: Schlaglöcher beseitigen. Man kann sich fragen, ob dieses Thema wirklich vordringlich, eines für eine Aktuelle Stunde ist. Das gilt vor allem, wenn man bedenkt, wie eng bemessen in dieser Hinsicht der Bundeshaushalt ist. Die Lösungsvorschläge, die hier gemacht worden sind, bestanden vor allem darin, dass man irgendwie mehr Geld für Straßen ausgeben, dass man irgendwie mehr Straßen bauen sollte. Die Bundesrepublik und Holland haben gemeinsam das dichteste Straßennetz aller Flächenländer weltweit. Dennoch wird vorgeschlagen, noch mehr Straßen zu bauen. Was ist die Folge, wenn das Straßennetz bei abnehmender Bevölkerungszahl noch engmaschiger wird? Danach gäbe es pro Mensch, der das Sozialprodukt mit erarbeiten muss, immer mehr Straßenkilometer. Das hieße, dass die Unterhaltskosten in Zukunft immer höher würden. Es ist doch völlig logisch, dass ein größeres Straßennetz mehr Unterhaltskosten bedeutet als ein kleineres. Ihr Vorschlag ist, noch mehr Straßen zu bauen. Was ist unser Vorschlag? ({3}) Es gibt einen ganz einfachen Weg. Es ist dringend notwendig, Geld für den Neubau und den Ausbau von Straßen endlich so umzuwidmen, dass es für den Unterhalt von Straßen zur Verfügung steht. ({4}) Aber warum passiert das so selten? Weil wir ein Verkehrsministerium haben, das unter Verkehrspolitik vor allem versteht, fröhlich einzelne Projekte zu verwirklichen und glücklich mit der Schere Bänder durchzuschneiden. Das ist keine Verkehrspolitik, das ist eine feudale Einzelprojekt-Baupolitik, die den Staatshaushalt langfristig eher ruiniert, als dass sie ihm hilft. ({5}) Um den Kommunen trotz aller verfassungsrechtlichen Probleme, die man sich in der Vergangenheit mit den Föderalismusreformen geschaffen hat, konkret zu helfen, sollte man sich etwas überlegen. Es gibt zum Beispiel eine Regelung, dass die Baulast für Bundesstraßen in Kommunen mit über 80 000 Einwohnern komplett bei den Kommunen liegt. Es gibt Unmengen von Kommunen mit 100 000, 200 000 Einwohnern, die große Schwierigkeiten haben. Warum nimmt der Bund den Kommunen nicht - das wäre verfassungsrechtlich unproblematisch - die Baulast für die Bundesstraßen ab? Dann wären zumindest die verkehrswichtigsten Bundesstraßen erhaltungsfähig. Dieses Beispiel könnte man ohne Grundgesetzänderung sofort in die Tat umsetzen. Der Verkehrsminister könnte dann zwar nicht mehr ganz so viele Bändchen durchschneiden, aber die bedeutenden Straßen in den Städten wären dann endlich gut unterhalten. Setzen Sie diesen Vorschlag um, dann haben Sie unsere Unterstützung. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Schlaglochchaos“, „Schneechaos“, „Bahnchaos“, ich finde, die Linken gehen in letzter Zeit sehr leichtfertig mit dem Wort „Chaos“ um. ({0}) Jedes Problem, jede Schwierigkeit wird von Ihnen immer gleich als „Chaos“ bezeichnet. Was sollen die Menschen in Haiti oder in Pakistan oder anderswo auf der Welt denken, die tatsächlich Chaossituationen erlebt haben oder erleben? ({1}) Ich finde, es ist das Normalste auf der Welt, dass es einmal harte und kalte Winter gibt. Das war vor 30 Jahren so, das ist heute so, und es wird auch in Zukunft so sein. Jeder Winter verursacht Schnee- und Eisglätte. Jeder Winter bringt das eine oder andere Problem mit sich, und jeder Winter beeinträchtigt die Verkehrsstruktur - mal mehr und mal weniger. In diesem Winter, zum Beispiel bei 20 Zentimeter Neuschnee, haben wir keine Chaossituation oder Katastrophe; vielmehr ist es ein ganz normaler Winter. ({2}) - Ja, kommen Sie einmal und schauen Sie sich das bei uns an. Es ist richtig, zu behaupten, dass jeder Winter Schäden auf unseren Straßen verursacht hat. Vielerorts sind Schlaglöcher entstanden, die nun schnellstmöglich beseitigt werden müssen. Hier aber gleich von einem Schlaglochchaos zu sprechen, ist übertrieben. Vielleicht hätte man in der ehemaligen DDR von einem Schlaglochchaos sprechen können. - Das ist der erste Punkt. ({3}) Ich möchte nun auf den zweiten Punkt, die Kommunalfinanzen, eingehen. Als langjähriger Bürgermeister einer kleinen Gemeinde bin ich mit Leib und Seele Kommunalpolitiker. Gerade deshalb ist mir die aktuelle Finanzsituation der Kommunen bestens bekannt. Natürlich würde ich gerne ein Schlaglochsanierungsprogramm oder Ähnliches fordern bzw. mir wünschen, aber wir müssen auch realistisch bleiben. Wir können nicht nach jedem harten Winter ein Sonderprogramm fordern oder als Staat auflegen. ({4}) Das ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich, da der Bund infolge der Föderalismusreform II den Kommunen kein Geld zur Verfügung stellen darf. Außerdem wäre es angesichts der eingangs erwähnten Tatsache, dass wir auch in Zukunft harte Winter haben werden - vielleicht schon der nächste -, unverhältnismäßig, jedes Jahr ein Konjunkturprogramm für die Straßensanierung aufzulegen. Dies hätte im Übrigen auch nichts mit nachhaltiger und verlässlicher Politik zu tun. ({5}) Vielmehr brauchen wir sichere Kommunalfinanzen, und zwar unabhängig von kalten Winterperioden und unabhängig von der aktuellen Schlaglochsituation. Ich glaube, das ist eindeutig. Nur mit dauerhaft verlässlichen Einnahmen kann nachhaltige und verlässliche Politik gemacht werden. ({6}) Wir haben bereits verlässliche Einnahmen, die den Kommunen zugute kommen, die zum Beispiel für den Unterhalt der Straßen oder für Neubauten verwendet werden können. Der Bund stellt den Ländern 1,3 Milliarden Euro jedes Jahr im Rahmen des Entflechtungsgesetzes zur Finanzierung der kommunalen Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung. Zudem erhalten die Städte und Gemeinden aus dem Aufkommen der Länder an der Kfz-Steuer Finanzhilfen. In Bayern etwa zahlt der Freistaat den Gemeinden jährlich 1 200 Euro Straßenunterhalt pro Kilometer Orts- und Gemeindeverbindungsstraße. Außerdem erhalten die Landkreise Mittel für den Erhalt der Kreisstraßen. ({7}) Letztlich kommt es darauf an, was die einzelnen Länder für ihre Kommunen tun. So etwa hat Bayern kürzlich ein Sonderprogramm für die Beseitigung der Straßenschäden auf Staatsstraßen in Höhe von 30 Millionen Euro aufgelegt. Das könnte ein Ansporn für andere Bundesländer sein, zum Beispiel Berlin oder Brandenburg. Außerdem steigert der Bund den Ansatz für die Erhaltung der Bundesfernstraßen und damit auch für die Ortsdurchfahrten in den Kommunen in diesem Jahr um 100 Millionen Euro von 2,1 auf 2,2 Milliarden Euro. Damit können und sollen auch die Winterschäden finanziert werden. Wie bereits im vergangenen Winter wird das Bundesverkehrsministerium die Länder auch in diesem Jahr anweisen, mit den Erhaltungsmitteln vorrangig die Frostschäden zu beseitigen. Dennoch ist mir bewusst, dass die genannten Maßnahmen angesichts der angespannten Finanzsituation der Kommunen nicht ausreichen. ({8}) Im Rahmen der geplanten Gemeindefinanzreform müssen wir daher für ein dauerhaft stabiles Fundament der Kommunalfinanzen sorgen. ({9}) Hierzu brauchen wir zum einen auch in Zukunft die Gewerbesteuer als zentrale Einnahmequelle der Kommunen. Eine Abschaffung dieser Steuer ist daher aus unserer Sicht inakzeptabel. ({10}) Zum anderen brauchen wir eine Entlastung der Kommunen bei den Sozialausgaben. Die Überprüfung der Gemeindefinanzkommission hat ergeben, dass die Ausgaben der Kommunen vor allem für soziale Leistungen seit Jahren so stark angestiegen sind wie kein anderer Ausgabenblock. Sie belaufen sich inzwischen jährlich auf über 50 Milliarden Euro. Wenn man die Landes- und Bundesbeteiligungen abzieht, bleiben am Ende immer noch 4,65 Milliarden Euro übrig. Eine signifikante und nachhaltige Verbesserung der kommunalen Finanzen setzt daher zwingend Verbesserungen im Bereich der Sozialausgaben voraus. Neben einer Reform auf der Einnahmeseite der Kommunen muss es gelingen, dass der Bund sein finanzielles Engagement im Bereich der Sozialausgaben spürbar und dauerhaft erhöht. Wenn wir dies schaffen und den Kommunen damit dauerhaft solide Finanzen ermöglichen, dann brauchen wir keine Schlaglochbeseitigungsprogramme und auch keine Chaosbegriffe - wie von den Linken verwendet für einen ganz normalen Winter, wie wir ihn heuer haben. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegen Kirsten Lühmann von der SPD-Fraktion. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Unsere dreijährige Enkeltochter hat letztens mal wieder die Sendung mit der Maus gesehen. Da hat sie gelernt: Im Winter gibt es Schlaglöcher auf den Straßen, und sie hat auch gelernt, wie sie entstehen. Wenn also selbst Dreijährige wissen, dass das so ist, dann können wir voraussetzen, dass das eigentlich Allgemeinwissen sein sollte. ({0}) Insofern fragt man sich: Warum haben wir zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde? Sie ist aktuell; denn wir haben Winter. Bei dieser Diskussion komme ich mir allerdings ähnlich vor wie bei dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier; denn vor zwölf Monaten standen wir alle auch schon einmal hier. Es war ebenfalls Winter. Es waren dasselbe Thema, derselbe Ort und augenscheinlich auch dieselbe Finanzlage der Kommunen. Darum möchte ich die Finanzlage der Kommunen einmal etwas näher beleuchten. Dazu nehme ich mein Bundesland Niedersachsen als Beispiel. In den letzten 20 Jahren sind die Einnahmen der Kommunen in Niedersachsen um circa ein Drittel gestiegen, und zwar, Herr Döring, trotz oder vielleicht sogar aufgrund der Gewerbesteuer. Allerdings sind in dieser Zeit auch jede Menge Aufgaben dazugekommen. Diese Aufgaben sind nicht mit Haushaltsmitteln unterlegt worden. Schauen wir uns dann einmal an, was die Kommunen im Rahmen ihrer Bautätigkeit tun. Das Schlaglochchaos, das angeblich nur herbeigeredet wird, scheint immerhin so wichtig zu sein, dass der Verkehrsgerichtstag sich damit beschäftigt und auch der ADAC deutliche Maßnahmen in diesem Bereich fordert. Leider müssen wir feststellen, dass die Ausgaben der Kommunen im Baubereich im selben Zeitraum um ein Drittel zurückgegangen sind. Die Kommunen können die Löcher in den Straßen nicht stopfen, weil es die Löcher in ihren Haushalten nicht zulassen. ({1}) In diesem Bereich gibt es einige kreative Lösungen. Eine wurde bereits angesprochen, nämlich das Programm „Teer muss her“, bei dem Bürgerinnen und Bürger Geld zum Stopfen der Löcher spenden können. Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel aus meinem Wahlkreis. Beim „Bürgerpfad“ in Stadensen wird über Patenschaften die erforderliche Kofinanzierung für einen dringend notwendigen Fahrradweg am Rande einer vielbefahrenen Kreisstraße aufgebracht. Das sind löbliche Beispiele. So etwas kann für uns aber keine dauerhafte Lösung sein. Ein Weg zu einer dauerhaften Lösung - der Kollege Hofreiter hat es angesprochen - führt über die Altschuldenproblematik. Wir alle wissen, dass alle Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - 1,8 Billionen Euro Schulden haben. Blicken wir noch einmal nach Niedersachsen. Dort müssen im Haushalt 2011 2,3 Milliarden Euro Zinszahlungen für Altschulden vorgesehen werden. Die Neuverschuldung Niedersachsens beträgt - Sie ahnen es 2,3 Milliarden Euro. Das heißt, wir müssen uns weiter verschulden, um unsere Schulden zu zahlen. An dieser Stelle hilft auch die hier immer wieder angeführte Schuldenbremse nicht weiter; denn damit sollen nur die Ausgaben mit den Einnahmen in einen Ausgleich gebracht werden. Die Zinslast, die die Handlungsfähigkeit der Kommunen deutlich einschränkt, bleibt bestehen. Wir müssen einmal offen über Wege sprechen, wie wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen können. Hier muss die Frage erlaubt sein, wie wir das tun können und ob ein Altschuldenfonds uns weiterhelfen kann, um die Schulden dann gezielt mit Einnahmen aus bestimmten Quellen zu tilgen. Ein Beispiel für solche nationalen Anstrengungen gibt es in unserer Geschichte. Ich verweise hier auf das Lastenausgleichsgesetz, das gleich zweimal in diesem Bereich gute Hilfen geleistet hat, und zwar - das möchte ich ganz deutlich sagen - mit den Mitteln einer Vermögensabgabe. Dieses Wort sollten wir auch wieder öfter in den Mund nehmen. ({2}) Das geht aber nur, wenn über Egoismen und Partikularinteressen hinweg gemeinsame Lösungen gefunden werden. Leider erleben wir auf Länderebene gerade das genaue Gegenteil. Einzelne Länder haben nämlich die Solidarität im Länderfinanzausgleich aufgekündigt. So kann es nicht gehen. Wir müssen offen an das Problem der Altschulden herangehen. Ich habe das Gefühl, dass wir im Moment versuchen, den Schwarzen Peter weiterzuschieben und die Kosten einfach zu verlagern. Wir brauchen eine dauerhafte Lösung, um den Kommunen wieder Handlungsfreiheit zu geben. Was trägt diese Bundesregierung dazu bei? Sie hat für einen Zeitraum von zwölf Monaten eine Gemeindefinanzkommission eingerichtet. Wenn es Lösungen gab, wurden sie ignoriert oder innerhalb der Regierung zerredet. Das geht nicht. Die ausgefahrenen Fahrspuren führen uns nicht weiter. Lassen Sie uns neue Wege bauen. Wir sollten nicht warten, bis wir uns auf den Schlaglochpisten der Haushaltskonsolidierung die Achsen brechen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Birgit Reinemund von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Birgit Reinemund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben jedes Jahr die gleiche Situation: Der Winter kommt, und der Frost frisst tiefe Löcher in die Straßen und noch tiefere in die kommunalen Finanzen. Das ist keine Überraschung, und es ist eigentlich auch keine neue Erkenntnis. Es stellt sich daher die Frage, wie aktuell diese Aktuelle Stunde heute ist. Niemand bestreitet die angespannte, bisweilen dramatische, aber auch sehr unterschiedliche Lage der Kommunen. Niemand bestreitet das strukturelle Defizit über Jahrzehnte, und niemand bestreitet, dass die Infrastruktur chronisch unterfinanziert ist und dass wir hier einen enormen Investitionsstau haben. Die KfW schätzt ihn allein im Bereich der kommunalen Verkehrsinfrastruktur auf 24 Milliarden Euro und im gesamten Infrastrukturbereich auf 75 Milliarden Euro. Diese gigantischen Beträge haben sich über viele Jahre aufsummiert, unabhängig von jeder Wirtschaftskrise und unabhängig von dieser guten Regierung. Es wurden in den vergangenen 20 Jahren horrende Summen aus der Gewerbesteuerumlage zum Aufbau der Infrastruktur der neuen Länder aufgewendet. Das war richtig und notwendig; darüber gab es Konsens. In der Antwort der letzten Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion wurden die Finanzierungsbeteiligungen der Kommunen der alten Länder für das Jahr 2006 mit 572 Millionen Euro für den Fonds „Deutsche Einheit“ und mit 2,4 Milliarden Euro für den Solidarpakt beziffert. Auch der Länderfinanzausgleich verursacht Finanzströme, unabhängig von der Eigenleistung der Teilnehmer. Manch eine Kommune muss sich jedoch auch fragen lassen, ob sie immer ganz verantwortungsvoll mit den Steuergeldern umgegangen ist. ({0}) Zur kommunalen Selbstverwaltung gehört auch eine kommunale Selbstverpflichtung zu einem sorgsamen Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln. ({1}) Als Stadträtin weiß ich davon ein Lied zu singen. Meine Heimatstadt Mannheim hat erst vor wenigen Wochen außerplanmäßig ein Kunstwerk für über eine Viertelmillion Euro erstanden. Wie viele Schlaglöcher hätte man damit stopfen können! ({2}) Im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler sind unzählige ähnliche Beispiele enthalten. Dass Sie mich jetzt nicht falsch verstehen: Wir haben unbestritten eine akute finanzielle Notlage der Kommunen. Schlaglöcher haben wir allerdings deutlich länger. Das mag auch mit der Prioritätensetzung in manchen Gemeinderäten zusammenhängen. Es gibt sicher prestigeträchtigere Projekte als Straßensanierung. ({3}) Wir sind uns alle einig: Die Kommunen haben, was die Finanzierung angeht, ein strukturelles Defizit. Zur Behebung brauchen wir strukturelle Lösungen. Wir alle wissen um die Schwankungsanfälligkeit der Gewerbesteuer und deren ungleiche Verteilungswirkung. Die Prognosen besagen: Die kommunalen Steuereinnahmen werden im Bundesdurchschnitt bereits 2012 wieder das Niveau des Rekordjahres 2008 erreichen, wie gesagt: im Bundesdurchschnitt. Die Situation der Kommunen ist aber sehr unterschiedlich. Ludwigshafen beispielsweise hat bereits im Jahr 2010 Rekordeinnahmen bei der Gewerbesteuer - doppelt so hoch wie erwartet verzeichnet, und zwar aufgrund eines einzelnen Gewerbesteuerzahlers, nämlich der BASF. Die Nachbarstadt Mannheim kann davon nur träumen. Sie wird deutlich länger brauchen, als es der Bundesdurchschnitt vermuten lässt. Diese Defizite der Gewerbesteuer sind seit Jahrzehnten bekannt. Nicht umsonst hat diese Regierung eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen eingesetzt. Sie soll im Rahmen eines Gesamtkonzepts Vorschläge zur Sanierung der kommunalen Finanzen erarbeiten, die beides umfassen: verlässlichere Einnahmen und Entlastung auf der Ausgabenseite. ({4}) Die Kommission tritt seit Monaten auf der Stelle - richtig. Leider haben die kommunalen Spitzenverbände seit Beginn der Verhandlungen ihre Position zementiert und bewegen sich keinen Zentimeter. ({5}) Ein Kompromiss erscheint äußerst mühsam. Wenn es keine Bewegung gibt, dann bewegt sich auch nichts nach vorne. Ob das tatsächlich im Interesse der gebeutelten Kommunen ist? Die Bundesregierung ist bereit, den Kommunen kurzfristig unter die Arme zu greifen - bei einer Einigung. Das hat Minister Schäuble mehrfach betont. ({6}) Meine Damen und Herren, die AG „Kommunale Finanzen“ der Kommission wird morgen, am 28. Januar, ihre abschließende Sitzung haben. Wir alle warten auf den Abschlussbericht und auf die ausstehenden Berechnungen. Daraus erhoffen wir weitere Lösungsansätze, vielleicht Bewegung und vor allen Dingen neue Erkenntnisse. ({7}) Welche neuen Erkenntnissen diese Aktuelle Stunde heute bringen soll, erschließt sich mir nicht wirklich. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der einen Seite hören wir, dass wir eine chronische Unterfinanzierung der Kommunen haben. Auf der anderen Seite hören wir, das Thema sei nicht aktuell. Die Aktualität zeigt sich im Augenblick unter anderem daran, dass Schlaglöcher nicht mehr repariert werden können. Dabei geht es nicht um Neu- oder Ausbau, sondern nur um ein Schlaglochprogramm; das schlagen wir vor. Man hätte auch beliebige andere Felder nehmen können, um zu zeigen, dass Kommunen nicht mehr in der Lage sind, ihre Pflichtaufgaben zu erfüllen. ({0}) Uns ist wichtig, nicht in eine Situation zu kommen, von der man gestern bei Spiegel Online lesen konnte: Klamme Kommune - Britische Stadt will Schwimmbad mit Krematorium heizen Sparen bis zum bitteren Ende: Eine britische Stadt will ihr Freizeitbad mit Abwärme aus dem Krematorium heizen. Das diene auch dem Klimaschutz, werben die Verantwortlichen. Gewerkschafter kritisieren den Sparvorschlag als „krank“. Wir dürfen nicht in eine solche Situation kommen. Deswegen müssen wir etwas tun. Ich möchte kurz zurückschauen. Dass es den Kommunen so schlecht geht, hängt in der Tat mit der Steuerpolitik seit dem Jahr 2000 zusammen. Das muss man immer wieder sagen und in Erinnerung rufen. Weil ich gerade an einem Aufsatz über die Schuldenbremse arbeite, habe ich mir das genauer angeschaut. Wäre nicht eine solche Steuerpolitik seit dem Jahr 2000 betrieben worden, hätten die Kommunen in den Jahren 2006 bis 2009 überhaupt keine Neuverschuldung nötig gehabt, sondern Schulden abbauen können. Im großen Krisenjahr 2010 hätten die Schulden dann gerade einmal 3,8 Milliarden Euro und nicht über 12 Milliarden Euro betragen. Es liegt also an den massiv gesunkenen Steuereinnahmen, die die Kommunen nicht kompensieren können. Deswegen ist es notwendig, strukturell für Steuermehreinnahmen zu sorgen und Mindereinnahmen zu bekämpfen. ({1}) Die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen ist bisher keinen Schritt weitergekommen. Morgen findet eine vorläufige Zwischensitzung statt, bei der erst einmal die beiden Rechenmodelle vorgestellt werden. Aber es wurde schon gesagt, dass die nächsten Rechenmodelle in Auftrag gegeben worden sind. Dann wird es weitergehen. Wir kommen keinen Schritt weiter. Der Minister hat erneut angeboten, den Kommunen ein Zuschlagsrecht zur Einkommensteuer zu geben, wenn sie teilweise auf Gewerbesteuereinnahmen verzichten. Das ist für uns völlig unakzeptabel. Denn es bleibt dabei: Ein solches Einkommensteuerzuschlagsrecht führt dazu, dass die reichen Kommunen reicher und die armen Kommunen noch ärmer werden. ({2}) Wenn man wirklich eine Verbesserung herbeiführen will, dann darf man nicht an der Gewerbesteuer festhalten, sondern muss sie reformieren und weiterentwickeln. Ich habe mit Interesse von Herrn Holmeier gehört, dass zumindest die Union eindeutig sagt: Mit uns gibt es keine Abschaffung der Gewerbesteuer. - Ich bin gespannt, wie Sie dann im Bundestag abstimmen werden. ({3}) Ich hoffe, dass Ihre Fraktion die Abstimmung freigibt. Dann kann man schauen, was dabei herauskommt. Aber zu befürchten ist, dass man an die Gewerbesteuer herangeht. Aus unserer Sicht ist Folgendes zu tun - das habe ich schon früher ausgeführt -: Es gibt eine Empfehlung führender Raumwissenschaftlerinnen und Raumwissenschaftler der Bundesrepublik, was zu tun wäre. Das sind im Wesentlichen die folgenden Punkte: Erstens ist bei besonders hoch verschuldeten Kommunen zu prüfen, ob man einen Entschuldungsfonds auf Länderebene auflegt, damit diese Kommunen überhaupt wieder eine Chance haben. Zweitens ist eine grundlegende Reform der Gewerbesteuer vorzunehmen, die auch Selbstständige und Freiberufler einbezieht und die langfristig die Gewerbesteuerumlage abschafft. Drittens spricht sich die Kommission ausdrücklich gegen Hebesatzrechte aus. Ferner brauchen wir Entlastungen auf der Ausgabenseite. Das betrifft insbesondere die Kosten der Unterkunft für Langzeitarbeitslose und - das ist auf Dauer wahrscheinlich noch wichtiger - die Grundsicherung im Alter; denn das ist der Posten, der sich im Augenblick am dynamischsten entwickelt. Letztlich ist dann wieder die „alte“ Sozialhilfe für Ältere gefordert, die ausschließlich von den Kommunen zu tragen ist. Dann sind wir genau an dem Punkt, von dem wir eigentlich weg sein wollten. Deswegen kann ich Sie nur auffordern, jetzt wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Die Kommunen und die Bürgermeister der CDU - von der FDP gibt es nicht so viele -, ({4}) die diese Debatte verfolgen, werden über diese Debatte enttäuscht sein. Wir müssen dringend ein Sofortprogramm auflegen, um die Kommunen wieder handlungsfähig zu machen. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich knüpfe an die Ausführungen meines Vorredners, Herrn Götz, an, der, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es ein Ding ist, dass ausgerechnet die Linke eine Aktuelle Stunde zum Thema „Schlaglöcher in Straßen“ beantragt hat. Ich will gar nicht auf die Vergangenheit verweisen. Nur so viel: Wir alle kennen die Schlaglochstraßen, die es in den 90er-Jahren in den neuen Bundesländern gab. Das war das Ergebnis der Wirtschaftspolitik bzw. des wirtschaftspolitischen Konzepts, das Sie noch heute vertreten und letzten Endes immer noch anstreben. Das haben wir auch in der letzten Woche hier erfahren, als wir in der Aktuellen Stunde am Freitag über das Thema Kommunismus debattiert haben. ({0}) Von daher ist es schade, dass Ihre wirtschaftspolitische Expertin, die Vorsitzende der Kommunistischen Plattform, Frau Wagenknecht, der Debatte heute leider nicht beiwohnen kann. Es wäre spannend gewesen, zu hören, was sie uns zur Lösung der Probleme mitgeteilt hätte. ({1}) Ich habe von Ihnen heute nichts anderes als Ausgabenvorschläge gehört. Die Finanzlage der Kommunen hat es nicht verdient, dass wir in dieser Schlichtheit darüber sprechen; denn die Lage ist tatsächlich kritisch. Sie ist ernst. Die Kommunen haben ein strukturelles Defizit. Das lässt sich auch nicht wegdiskutieren. Das hängt aber nicht nur mit der Einnahmeseite, sondern vor allem mit der Ausgabenseite zusammen; das ist von einigen Rednern hier zu Recht angesprochen worden. Das hängt vor allem mit den gestiegenen Sozialausgaben zusammen. Ich erinnere daran, dass die Kommunen im Jahr 2008, als die Gewerbesteuer ihre wesentliche Einnahmequelle war, einen erheblichen Überschuss erwirtschaftet haben, und zwar aufgrund der sprudelnden Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Damit bin ich beim nächsten Punkt. Sie haben gesagt, diese Bundesregierung sei aufgrund der Steuersenkungen, die sie vorgenommen habe, für die derzeit kritische Lage der Kommunen verantwortlich. Das genaue Gegenteil ist der Fall. ({2}) Wirtschaft ist keine statische Veranstaltung, bei der wir den einen Geld wegnehmen, um es den anderen zu geben, bei der wir nur Geld von einem Topf in den anderen verschieben. Die Tatsache, dass wir zum Jahresanfang 2010 eine Entlastung in Höhe von 24 Milliarden Euro gewährt haben - das geschah auch auf Basis der Beschlüsse, die wir mit Ihnen gefasst haben, Herr Sieling -, wirkt sich wirtschaftlich aus. Das sehen wir auch an den aktuellen Zahlen. Auch mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir den Leuten doch kein Geld weggenommen. Wir haben den „ganz normalen“ Menschen, den Familien in diesem Land 4,8 Milliarden Euro als Kaufkraft zur Verfügung gestellt, insbesondere über eine Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages. ({3}) Ein großer Teil des Wachstums von 3,6 Prozent, das wir im letzten Jahr hatten, ist darauf zurückzuführen. ({4}) Natürlich ist das auch auf eine florierende Wirtschaft und eine gute Exportquote zurückzuführen. Fragen Sie die Volkswirte! Die sagen unisono: Die Binnennachfrage zieht an. ({5}) Das hängt doch auch mit der Kaufkraft zusammen, mit Wachstumseffekten, die wir auslösen, mit mehr Mitteln, die der Einzelne zur Verfügung hat, mit mehr Menschen, die wir in Arbeit bringen. Wir haben in diesem Jahr wahrscheinlich eine Arbeitslosenzahl von 2,7 Millionen im Schnitt zu erwarten. Ich greife Ihr schönes Stichwort von der „Bröckelrepublik“ auf, Herr Sieling: Als Sie die politische Verantwortung trugen, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose in diesem Land. ({6}) Das wirkt sich auf die kommunalen Kassen ganz brutal aus, gerade wegen der steigenden Sozialausgaben. Wer ist denn verantwortlich für die „Bröckelrepublik“? Das ist Ihre „Bröckelrepublik“. ({7}) Die Gewerbesteuer ist hier schon verschiedentlich angesprochen worden. Ich finde, dass die Gewerbesteuer einige Schwächen hat. Diese Schwächen sind schon thematisiert worden. Ich finde Ihre Vorschläge erstaunlich, Herr Sieling. Ich erinnere daran, dass Ihre Partei, als sie in der Regierung war, die Gewerbesteuerumlage erhöht hat. 2005 haben Sie rückwirkend den Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft auf null gesetzt. ({8}) Ich weise Sie auf das hin, was der Städte- und Gemeindebund zu Ihren Forderungen im Hinblick auf Hartz IV gesagt hat. Wörtlich wurde gesagt, die von der SPD geforderten Korrekturen an den Hartz-Gesetzen seien unbezahlbar. Das ist das Urteil über Ihre Vorschläge. Ich finde es ziemlich heftig, dass Ihr Finanzminister in Nordrhein-Westfalen durch die Gegend läuft und sich damit brüstet, dass er etwas für die Kommunen leistet, dass er Hunderte Millionen Euro für die Kommunen zur Verfügung stellt; denn das geschieht auf der Basis eines höchstwahrscheinlich verfassungswidrigen Haushalts. Man kann Ihnen wirklich nur raten, erst einmal die Verhältnisse vor Ort in Ordnung zu bringen und sich dann als Ratgeber auf bundespolitischer Ebene zu empfehlen. ({9}) Ich glaube, wir sind mit der Kommission, die der Bundesfinanzminister eingerichtet hat, auf dem richtigen Weg. ({10}) Es dauert etwas länger, weil die Fronten verhärtet sind. Ich gehe aber davon aus, dass wir einen brauchbaren Kompromiss erzielen werden. Wenn sich die Kommunen bei dem Thema Hinzurechnung bewegen, dann wird es auch auf der anderen Seite Bewegung geben, entweder in Richtung eines Anteils an der Einkommensteuer mit Zuschlagsrecht oder - das hat der Finanzminister in jedem Fall in Aussicht gestellt - in Richtung zusätzlicher Beiträge und eines zusätzlichen Engagements des Bundes bei den sozialen Ausgaben, bei der Grundsicherung im Alter und bei der Integration Erwerbsgeminderter. Das halte ich für eine vernünftige Linie. Diese sollten wir jetzt mit aller Sachlichkeit und Nüchternheit verfolgen. Danke. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion. ({0})

Petra Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigenverantwortung übernehmen - das ist immer dann das Stichwort, wenn es darum geht, dass Sie den Kommunen Mittel entziehen. Es geht hier nicht um Eigenverantwortung, sondern darum, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt hier zuhören, täuschen wollen. Das versuchen Sie, seit Sie in der Verantwortung sind. Sie behaupten, durch das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz sei der Konsum gesteigert worden. Ich bezweifle, dass falsche Aussagen durch permanentes Wiederholen wahrer werden. ({0}) Ich sage Ihnen: Durch die Gesetze, die Sie, seitdem Sie mit der FDP in der Verantwortung sind, beschlossen haben, entziehen Sie den Kommunen Finanzkraft. Um nichts anderes geht es hier. ({1}) Sie können Ihre Behauptung hier permanent wiederholen; das glaubt Ihnen draußen niemand mehr. ({2}) Kann es sein, dass das marode Straßennetz - das Gefühl hat man, wenn man die Diskussion zwischen CDU/ CSU und FDP hört - ein Spiegelbild dieser Albtraumkoalition ist? Sie bewirken, dass die Kommunen handlungsunfähig werden. Es hilft nicht, darauf zu verweisen, dass es auch reiche Kommunen gibt. Ja, da haben Sie völlig recht. Aber die überwiegende Zahl der Kommunen - gerade dort, wo es einen Strukturwandel gegeben hat - ist derzeit am Limit. Sie haben auch keine weiteren Einsparmöglichkeiten mehr. Ich frage mich, ob es Ihnen wirklich um die Kommunen geht. Über alle Regierungen hinweg haben wir hier Gesetze beschlossen, die die Kommunen letzten Endes finanziell belastet haben. ({3}) Das betrifft die Menschen vor Ort. Seitdem Sie in Verantwortung sind, haben Sie die Menschen im Stich gelassen und durch Entscheidungen bzw. Nichtentscheidungen die Kommunen gezwungen, Kürzungen vorzunehmen bzw. die Gebühren oder - im Rahmen Ihrer Möglichkeiten - die Steuern zu erhöhen. Das zahlen letzten Endes die Bürgerinnen und Bürger vor Ort. Sie versprechen ständig Steuererleichterungen. Diese werden aber dadurch kompensiert, dass die Bürgerinnen und Bürger wesentlich mehr Gebühren und Abgaben zahlen müssen; auch das muss deutlich gesagt werden. ({4}) Kommen wir zurück zu den Schlaglöchern. Meine Kollegin hat schon auf ihr Bundesland aufmerksam gemacht. Ich möchte gerne konkret meine Stadt, die Stadt Essen, als Beispiel nennen. Das Problem der Schlaglöcher haben wir nicht nur in diesem Jahr, sondern - darauf haben alle Redner hingewiesen - wir hatten es be9766 Petra Hinz ({5}) reits in zurückliegenden Jahren. Meine Kommune schreibt mir dazu ganz klar: Im letzten Jahr waren es 2,3 Millionen Euro. In diesem Jahr geht es um weitere 2,3 oder 2,5 Millionen Euro. Das sind kumuliert rund 4,5 Millionen Euro. Die Kommune wird diese Gelder gar nicht aufbringen können. Das heißt unter dem Strich - auch das hat mir die Baudezernentin in der Beantwortung meiner Fragen geschrieben -, dass man den Anliegern die Kosten des Straßenbaus und der Straßengestaltung im Rahmen des KAG in Rechnung stellen wird. Das heißt, die Menschen vor Ort werden das bezahlen, weil sich unser Verkehrsminister herauszieht und sich einen schlanken Fuß macht. ({6}) Er begründet es damit, dass wir den Kommunen aufgrund der Fördersystematik nicht helfen können. ({7}) - Wir haben schon ganz viele Förderprogramme aufgelegt, obwohl wir originär gar nicht zuständig sind. Wenn wir gemeinsam etwas wollen, dann können wir es auch auf den Weg bringen. Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen allerdings sehr deutlich feststellen können, in welche Richtung Herr Ramsauer geht. Vom Finanzministerium kam ein ganz klares Nein zur Gewerbesteuer. Ich höre von Ihnen keine Alternative zur Gewerbesteuer. Ich höre nur: Warten wir erst einmal ab! - Wir warten eigentlich seit September, nein, seit Oktober, nein, seit November, nein, seit Dezember letzten Jahres. Nun sind wir im neuen Jahr und warten weiter ab, ob die Kommission einen Bericht vorlegt. Wenn die Kommission ein Ergebnis vorlegt, das nicht Ihren Vorstellungen - Wegfall der Gewerbesteuer - entspricht, dann bin ich sehr gespannt, ob Sie dann frei abstimmen dürfen. ({8}) - Wie dieser parlamentarische Prozess abläuft, liebe Kollegin, erleben wir im Finanzausschuss immer wieder, wenn es um Teilhabe und Informationsaustausch geht. Dann wird lediglich mit Mehrheit beschlossen. ({9}) Ich komme auf Ihr großartiges „Wachstumsverhinderungsgesetz“ und die Mehrwertsteuersenkung zurück. Sie behaupten, dadurch sei der Konsum gesteigert worden. Sie haben letzten Endes dazu beigetragen, dass den Kommunen 1,6 Milliarden Euro fehlen. Unter dem Strich kann man sagen: Wer bei Ihnen keine Lobby hat, der bekommt von der Regierung keinen Cent und keinen Euro und der wird weder unterstützt noch gefördert. ({10}) Ich fasse schnell zusammen; denn ich sehe, dass meine Zeit abläuft. Erstens. Bund und Länder müssen alles Mögliche tun, um die Substanz des Straßennetzes zu erhalten und Reparaturen vorzunehmen. Hier erwarte ich vom Verkehrsminister eine intelligente Lösung und nicht nur die Aussage, was alles nicht geht. Zweitens. Nehmen Sie die Mittelkürzung beim Städtebauförderungsprogramm zurück! Denn das Programm „Soziale Stadt“ muss fortgesetzt werden. Es war ein Erfolgsmodell, allerdings nicht Ihr Modell. ({11}) Drittens. Die Gewerbesteuer muss erhalten werden, um den Kommunen Planungssicherheit zu geben. Viertens. Nehmen Sie die Gesetze zurück, die dazu geführt haben, dass Mindereinnahmen das Handeln der Kommunen bestimmen! Fünftens. Ihre sogenannten Steuererleichterungen dürfen nicht zulasten der Kommunen gehen. ({12}) Sechstens. Stärken Sie die Kommunen! Das bedeutet zugleich eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Brackmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder rieselt der Schnee. Alle Jahre wieder gibt es Frost, und es kommt zu Frostaufbrüchen. Alle Jahre wieder gibt es diese Debatte, und in diesem Jahr stehen besonders viele Landtagswahlen an. Wenn ich mir diese Debatte hier vor Augen führe, dann stellt sich mir die Frage - und die Kollegen der SPD haben schon darauf hingewiesen -, was daran eigentlich aktuell ist. Die Kommunen haben sich darauf eingestellt, dass es Frostschäden gibt. Eigentlich sind zwei Dinge neu: Erstens. Die Frostschäden erfordern - der Kollege Götz hat darauf hingewiesen - einen Aufwand von 2,3 Milliarden Euro. Das ist viel Geld. Zweitens. Laut der neusten Steuerschätzung vom November kommt es aufgrund der super Politik, die diese Regierung macht, ({0}) bei den Kommunen zu Mehreinnahmen von 3,6 Milliarden Euro. Es wäre typisch für Sie gewesen, wenn Sie darüber nachdenken würden, was man mit dem Differenzbetrag machen könnte. Sie, Frau Kunert, stellen sich dann hier hin und sagen, die Kommunen seien am Ende. ({1}) Dann schauen wir einmal zurück. Warum sind sie denn am Ende? - Wir wissen, worüber wir reden, wenn wir über Schlaglöcher in den Straßen reden. Straßen haben eine Lebensdauer von 30 Jahren. ({2}) - Ja, da lachen Sie noch. Ihr Erinnerungsvermögen wird Sie auch nicht verlassen. Die Steuerreform hat im Jahre 2000 dazu geführt ({3}) - das ist nur ein Drittel der Zeit -, dass der größte Eingriff bei der Gewerbesteuer und der Körperschaftsteuer erfolgte. Die Einnahmen sind von 50 Milliarden Euro - ich habe mir die Zahlen noch einmal geben lassen - auf 25 Milliarden Euro gesunken. Wenn man das bis heute hochrechnet, dann stellt man fest, dass den Kommunen 120 Milliarden Euro weniger zur Verfügung stehen, die sie in die Straßen hätten investieren können. Das ist schon bemerkenswert. Ich wäre aufseiten der Linken etwas vorsichtig. Seinerzeit hat die Bundesregierung die Zustimmung des Bundesrates mit ein paar Ortsumgehungen für das Land Mecklenburg-Vorpommern erkauft, das von Rot-Rot regiert wurde. Damit sind Sie geradezu mitverantwortlich dafür, dass es diesen Aderlass gegeben hat. Sie sprechen von einem reichen Deutschland, in dem eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen eigentlich kein Problem sein dürfte. Sie müssen sich aber auch vergegenwärtigen, dass wir hier mit unterschiedlichen Welten konfrontiert werden. Wenn wir in den Kommunen diskutieren - das wissen wir alle -, ist die Diskussionslage immer dieselbe: Gerade von den Linken, aber auch von anderen Parteien, die hier in der Opposition sitzen, bekommen wir immer wieder den Hinweis, wir sollten bloß nicht so viel Geld in die Unterhaltung der Straßen stecken, sondern dieses Geld viel lieber für Investitionen im sozialen Bereich verwenden, damit es letztlich den Konsum steigert. Hinterher wundern wir uns, dass Sie sich hier hinstellen und davon reden, dass es sich die Kommunen nicht mehr leisten können, die Schlaglöcher ordentlich zu sanieren. In den Kommunen schimpfen Sie auf den Bund, der sich darum kümmern soll. Das ist ein falsches Spiel; das sind Taschenspielertricks, die wir hier im Bundestag nicht anwenden sollten. Stattdessen sollte jeder in seinem Zuständigkeitsbereich für ordentliche Straßen sorgen. ({4}) Man muss einmal deutlich darauf hinweisen, dass der Bund hier seiner Verpflichtung nachkommt. Es ist ein deutliches Signal, dass trotz der schwierigen Haushaltslage der Etat für die Sanierung der Fernstraßen von 2,1 Milliarden Euro um 100 Millionen Euro aufgestockt wurde. ({5}) - Es ist eine deutliche Erhöhung. - Obendrein hat der Bundesverkehrsminister angewiesen, den Erhalt von Straßen dem Neubau vorzuziehen. Das ist ein deutliches Signal dafür, dass wir den Bestand in der Bundesrepublik sichern wollen. Sie haben in der Föderalismuskommission mitgewirkt. Sie wissen also: Der Bund dürfte, selbst wenn er wollte, die Gemeindestraßen gar nicht finanzieren; er könnte das aber aufgrund der Anforderungen auch nicht leisten. Der Bund tut bei den Bundesstraßen genau das, was richtig ist, nämlich alles erdenklich Mögliche, um auf den Schlaglochpisten keine Straßenkaries aufkommen zu lassen. Dafür sei dem Verkehrsminister gedankt. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf: Vereinbarte Debatte Tunesien - Jetzt Grundlage für stabile Demokratie schaffen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen, die nicht daran teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die anderen den Ausführungen in Ruhe folgen können. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle das Wort. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in diesen Tagen, welche Kraft die Idee der Freiheit entfalten kann. Wir erleben das nicht nur in Tunesien, sondern zurzeit auch in Ägypten. Als diese Debatte vereinbart worden ist, hatte man noch die Ereignisse in Tunesien im Kopf. Mittlerweile sehen wir, dass auch in anderen Ländern derartige Demonstrationen, mindestens aber derartige Diskussionen in der Gesellschaft stattfinden. Das ist die andere Seite der Globalisierung, die oft vergessen wird: Es ist eine Globalisierung der Werte, eine Globalisierung demokratischer Prinzipien. Es geht um den Respekt vor den Menschenrechten und den Bürgerrechten. Hier haben wir über alle Parteigrenzen hinweg eine gemeinsame Haltung. Die deutsche Bundesregierung und - ich habe keinen Zweifel daran - auch der Deutsche Bundestag stehen ohne Wenn und Aber an der Seite und auf der Seite der Demokratie - sei es in Tunesien, sei es in Ägypten. ({0}) Ich will fünf Bemerkungen machen, weil es natürlich ein Prozess sein wird, der uns noch lange beschäftigt, und zwar nicht nur im Deutschen Bundestag, nicht nur in der Arbeit der Regierung, sondern natürlich darüber hinaus in Europa und im gesamten Westen, der zu Recht ja auch als Wertegemeinschaft bezeichnet wird. Erstens. Was wir derzeit erleben, widerlegt die Behauptung, dass Demokratie und dass Freiheitsrechte Länder instabil machen würden. Wir erleben hier das glatte Gegenteil. Nicht die Bürgerfreiheiten machen diese Länder instabil, nicht die Gewährung von Freiheit macht diese Länder instabil, sondern die Verweigerung von Bürgerfreiheiten, die Verweigerung von Bürgerrechten destabilisieren diese Länder. Das ist auch ein klarer Auftrag für uns, da, wo wir es können, auf Demokratisierung zu setzen. Der Weg zur Stabilität führt über die Demokratie. Das ist der Grund dafür, dass wir uns auch als Europäer hier besonders engagieren. ({1}) Dazu zählt die Wahrung der Menschenrechte, dazu zählt der Respekt vor den Bürgerrechten, und dazu zählen ausdrücklich auch die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Das ist die Botschaft, die von Tunesien ausgegangen ist, und das ist die Botschaft, die jetzt auch in Ägypten gehört werden soll; Demokratie, Freiheitsrechte, Bürgerrechte, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, das sind genau die Rechte, die jetzt von den Bürgerinnen und Bürgern auf der Straße verlangt und eingeklagt werden. Diejenigen, die diese Rechte wollen, haben unsere Solidarität und unsere politische Unterstützung. ({2}) Wir sind eine Wertegemeinschaft, und diese Werte wollen wir auch verbreiten. Zweitens. Sehr oft wird als Rechtfertigung für Gewalt erklärt, dass man diese Gewalt zur Unterdrückung einsetzen müsse, um der Gefahr einer Islamisierung, um der Gefahr von Fundamentalismus entgegenzutreten. Genau das ist etwas, was in diesen Tagen auch widerlegt wurde und gerade widerlegt wird. Diejenigen, die jetzt Gewalt gegen ihre Bürgerinnen und Bürger und deren Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie einsetzen, fördern Islamismus und Radikalität; denn sie treiben diejenigen dahin, die aus einer ganz normalen Mittelschicht heraus in Wahrheit nach Bildung, Freiheit und Aufstieg drängen; sie sorgen dafür, dass genau diese moderaten Kräfte geschwächt und die radikalen gestärkt werden. Nicht der, der Gewalt einsetzt, bekämpft den Islamismus, sondern der, der jetzt Gewalt gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger einsetzt, sorgt für Fundamentalismus, Islamismus und eine Radikalisierung in diesen Gesellschaften. ({3}) Drittens. Wir werden am Montag im europäischen Kreis in Brüssel besprechen, wie wir in Tunesien konkret helfen können. Natürlich ist es jetzt, bevor diese Maßnahmen gemeinsam verabredet sind, zu früh, Einzelheiten zu nennen. Aber ich kann Ihnen versichern - das habe ich auch in meinem Telefongespräch mit meinem tunesischen Amtskollegen noch einmal deutlich gemacht -: Wenn Tunesien den Weg in Richtung Demokratie geht, dann werden wir nicht nur als Deutschland, sondern auch als Europäische Union bei diesem Prozess behilflich sein. Wichtig ist eine unabhängige Justiz. Dort, wo jetzt eine unabhängige Justiz als wesentliche Voraussetzung für Stabilität aufgebaut wird, werden wir mit Rat und Tat - auch mit Ratgebern und praktischer Hilfe - dabei sein und unterstützend mitwirken. Viertens. Man erkennt, dass in unserem elektronischen Zeitalter Meinungen eben nicht mehr allein über das Staatsfernsehen kontrolliert werden können. Das ist eine ganz neue Realität der Gedankenfreiheit. Deswegen: Wenn ich von Pressefreiheit spreche, dann meine ich damit auch die Freiheit im Internet. Sie ist ganz augenscheinlich auch ein Motor für Demokratisierung geworden. Wir begrüßen diese Entwicklung und appellieren deswegen auch an die Regierung in Kairo, die Freiheit im Internet nicht durch Abschalten zu beeinträchtigen. ({4}) Fünftens und letztens möchte ich mich bedanken, vor allen Dingen für die Zusammenarbeit mit sehr vielen Kolleginnen und Kollegen hier, aber, wenn Sie mir erlauben, auch für die Zusammenarbeit mit Reiseveranstaltern, für das Engagement unserer Diplomaten, unserer deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vor Ort. Bitte vergessen wir nicht, was es für eine großartige Leistung war, dass 7 000 deutsche Touristen innerhalb eines Wochenendes, so sie es wollten, ausgeflogen werden konnten. Das war eine gigantische logistische Leistung. Deswegen erlauben Sie mir bitte, dass ich schließe mit einem Dank an die Beamten, die das organisiert haben, aber natürlich auch an unsere Mitarbeiter in den Ländern, die unter persönlicher Gefahr dort arbeiten, und insbesondere an die Reiseveranstalter und die vielen Unternehmen, die daran mitgewirkt haben, dass unsere Staatsangehörigen unversehrt zurückkehren konnten, sofern sie dies wollten. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Gloser für die SPDFraktion, dem ich herzlich zu seinem heutigen Geburtstag gratuliere. ({0})

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Aber den akademischen Titel habe ich immer noch nicht erworben. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dann müssen Sie mit Ihrer Geschäftsführung klären, was sie meldet.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mutige Bürgerinnen und Bürger Tunesiens haben ein Wunder bewirkt. Die sogenannte Jasminrevolution ist auch ein historischer Einschnitt in der Geschichte Tunesiens. Wenn man im Lexikon „Arabischer Jasmin“ nachschlägt, dann liest man dort: Er wächst als aufrechter und kletternder Strauch. - Ich meine, viele tunesische Bürger können aufgrund ihres Mutes aufrecht gehen. Ihr Mut ist auch ein Beispiel für andere. Wir wissen: Der Strauch klettert weiter. Aus den Bewegungen in Ägypten und im Jemen wissen wir das. Heute ist vielleicht auch ein kurzer Augenblick des Gedenkens an die vielen Opfer dieser Revolution angezeigt. Unsere Wünsche zur Genesung gehen an die vielen Verletzten. Noch immer steht das Land vor schwierigen Herausforderungen. Dazu gehören der Aufbau von handlungsfähigen Strukturen, auch einer handlungsfähigen Übergangsregierung, die Organisation von Wahlen, die Herausbildung einer freien Zivilgesellschaft, aber auch die unumkehrbare Sicherung der Grundfreiheiten. Jetzt gilt es, seitens der Europäischen Union, seitens Deutschlands ein wichtiges Zeichen zu setzen. Es ist richtig: Die Tunesier haben die Umwälzung allein geschafft. Es war ihr Mut, gegen Missstände aufzubegehren, um sich endlich die Luft zum Atmen der Freiheit zu verschaffen. Dennoch: Gerade während dieses historischen Umbruchs genügen warme Worte nicht. Wenn nicht jetzt, wann dann erfolgt die Unterstützung dieses Landes? ({0}) Angesichts der Demonstrationen in anderen arabischen Ländern kristallisieren sich übereinstimmende Forderungen heraus. Die Menschen, insbesondere die jungen Menschen, wollen politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe. Sie wollen Grundfreiheiten in Anspruch nehmen. Sie wollen sich eigene Perspektiven erarbeiten können. Die Menschen, die in verschiedenen Orten Tunesiens auf die Straße gegangen sind, nehmen eigentlich nur das in Anspruch - vielleicht haben wir das vergessen -, was die Staats- und Regierungschefs des Nordens und des Südens in der Erklärung von Barcelona am 27./28. November 1995 vereinbart haben: die Verpflichtung auf die Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Anerkennung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten wie der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit. In dieser Erklärung ist aber auch von der Entwicklung der Demokratie die Rede. Es ging also nicht, wie mancher Kritiker sagt, nur um finanzielle und wirtschaftliche Partnerschaft. Unstrittig: Letztere hat natürlich auch die Entwicklung in Tunesien befördert. Dieses Land hat eben zwei sehr unterschiedliche Gesichter - dies sollte bei all den Umwälzungen und in so manchem klugen Leitartikel nicht vergessen werden -: Zum einen gibt es das Land, in dem im Vergleich zu anderen arabischen Ländern eine bessere Rechtsstellung und Lage der Frauen, eine verhältnismäßig gute Ausbildung, Infrastruktur - ja, es gibt auch einen Mittelstand - und die Trennung von Religion und Staat vorhanden sind, und zum anderen gibt es das Urlaubsland Tunesien. Heute geht so mancher kritische Kommentar zur Situation Tunesiens auch in Richtung der Politik. Ich erinnere daran, dass in der Lektüre der letzten Jahre Tunesien immer unter einem bestimmten Bild zu finden war, nämlich als Touristenland auf den Reiseseiten der Zeitungen, aber nie mit dem anderen Gesicht. Ich bin froh darüber, dass wir Sozialdemokraten bei unseren Begegnungen kritische Themen nicht ausgespart haben. Ja, wir mussten auch mit der Regierung sprechen; aber genauso trafen wir uns mit Vertretern der Opposition - wohlgemerkt: nicht nur der Opposition, die von Ben Ali zugelassen war - und auch mit vielen NGOs mit Menschenrechtsaktivitäten. Noch im Dezember letzten Jahres habe ich in Tunis mit Vertretern dieser Opposition gesprochen. Zwei davon waren für 24 Stunden Mitglieder der Übergangsregierung. Ich hoffe, sie kehren unter anderen Umständen wieder zurück. Wir haben mit verschiedenen Ministern und der RCD über diese Themen gesprochen, vor allem unsere Erwartungen in Bezug auf eine gesellschaftliche Öffnung formuliert, gerade vor dem Hintergrund der Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen. Die Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die bei dem Besuch der Parlamentariergruppe des tunesischen Parlaments im November letzten Jahres dabei waren, wissen, wie wir das deutlich gemacht haben. In den letzten Monaten wollte die Regierung Tunesiens Unterstützung bei den Verhandlungen mit der EU über einen privilegierten Status. Ich denke, eine solche Unterstützung sollte grundsätzlich gewährt werden. Sie muss aber mit den Forderungen einhergehen, die wir als Europäische Union haben. Herr Außenminister, wenn am kommenden Montag die Entscheidungen des Außenministerrates getroffen werden, halte ich es für wichtig, dass hier Zeichen gesetzt werden, damit nicht der Eindruck entsteht, wir brächen an dieser Stelle Verhandlungen einfach ab, die wir zuvor geführt haben. Wir müssen Perspektiven aufzeigen. Möglicherweise kann dann eine neue Regierung eine neue Vereinbarung treffen. Jetzt äußern sich auf einmal viele klug, als hätten sie schon immer alles gewusst. Ich stelle noch einmal fest: Angesichts der vielen Verflechtungen, angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft, aber auch angesichts vieler gemeinsamer Themen mussten wir auch mit den Regierungen reden, sei es nun in Tunis, in Algier oder in Kairo ob es uns gefiel oder nicht. Die Frage ist doch: Sprechen wir nur mit der Regierung oder auch mit den anderen, den kritischen Gruppen? Hinterfragen wir kritische Situationen oder biedern wir uns an? Tunesien liegt für uns nur etwa zwei bis drei Flugstunden entfernt. Das ist nicht weit weg. Diese geografische Nähe legt nahe, viele Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Unser in Europa vorhandenes Bedürfnis nach Sicherheit in unserem sogenannten Vorgarten in den südlichen Regionen darf nicht als Vorwand für Repression der dortigen Bevölkerung genommen werden. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um auf die grundlegenden Vereinbarungen zwischen dem Norden und dem Süden im Rahmen des Barcelona-Prozesses zurückzukommen. Auch wenn es ein heißes Eisen ist, müssen wir uns doch selbstkritisch fragen, wie wir es mit einer Überprüfung der europäischen Flüchtlingspolitik halten. ({1}) Angesichts der Perspektivlosigkeit von 60 bis 70 Prozent der Jugendlichen und jungen Menschen unter 30 Jahren in Nordafrika müssen wir uns auch dem Thema der möglicherweise temporären Öffnung der legalen Migration widmen. Ich weiß, das ist ein schwieriges Feld. Dennoch, sehr geehrter Herr Außenminister, haben Sie seitens der SPD - ich glaube, ich kann das sagen die volle Unterstützung, wenn Sie sich, wie ich erfahren habe, gegenüber manchem südlichen Nachbarn in der Zielrichtung durchsetzen. Es ist nicht hinnehmbar, dass noch vor wenigen Tagen eine Außenministerin Unterstützung für ein System Ben Alis gegeben hat. ({2}) Ich glaube, das sollte schnellstmöglich korrigiert werden. Es ist wichtig, die Vielzahl der Menschen, die auf die Straße gegangen sind, die diese Umwälzung herbeigeführt haben, auch in der Zukunft zu unterstützen. Ich habe eingangs das Beispiel vom Jasmin genannt. Über den Arabischen Jasmin heißt es aber auch: Er ist ein einheimisches und kein importiertes Gewächs. - Vielleicht war die Jasminrevolution gerade deshalb so erfolgreich, weil sie sich von innen heraus entwickelte und nicht von außen erzwungen worden ist. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Polenz für die Unionsfraktion. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeit, Freiheit, Würde - das waren die zentralen Forderungen, für die die Tunesierinnen und Tunesier mutig auf die Straße gegangen sind. Ihre Forderung war: Ende der Korruption und der Unterdrückung. Sie haben für Meinungsfreiheit gestritten, und sie wollten freie und faire Wahlen. Die Tunesier wollen selbst entscheiden, wer regieren soll. Wir haben diese Debatte heute deshalb vereinbart, weil wir das Signal senden wollen: Ja, wir unterstützen diese Forderung nach einem Rechtsstaat und einer Demokratie, nach einer Gesellschaft, in der jeder und jede in Würde leben kann und die Armut und Arbeitslosigkeit überwindet. ({0}) Wir wollen ein Signal dafür senden, dass wir Respekt haben und dass wir die mutigen Tunesierinnen und Tunesier bewundern, die sich nicht haben einschüchtern lassen, als sie auf die Straße gegangen sind, und die auch erfolgreich darin waren, den autoritären Machthaber Ben Ali zu stürzen. Wir sollten uns aber auch selbstkritisch noch einmal vergegenwärtigen, dass wir uns vielleicht zu lange vor eine falsche Alternative gestellt haben, weil wir der Meinung waren, in der Region des Nahen und Mittleren Ostens im Grunde nur die Alternative zwischen autoritären Regierungen und islamistischem Chaos zu haben. ({1}) Ich glaube, wenn man das richtig durchdenkt, dann kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass eine autoritäre Herrschaft nicht vor Islamismus schützt, sondern im Gegenteil eher wie ein Brutkasten für Islamismus wirkt. Warum ist das so? Autoritäre Regierungen lassen keine Meinungsfreiheit, keine politische Opposition und keine politische Diskussion in der Öffentlichkeit zu. Die Bevölkerungsmehrheit ist muslimisch, und den Glauben kann auch eine totalitäre Regierung nicht verbieten. DesRuprecht Polenz halb verlagert sich die politische Diskussion dann in die noch einigermaßen geschützten Räume der Moscheen. Man kann das ein bisschen mit dem vergleichen, was wir in den 80er-Jahren in der DDR in den Kirchenräumen erlebt haben. Durch diese Verlagerung der Diskussion in die Moscheen wandelt sich die politische Bewegung natürlich ein Stück weit auch in Richtung religiöser Bewegung. Es kommt dann noch dazu, dass autoritäre Regierungen dabei versagen, die Grundfunktionen in Sachen Bildung und soziale Sicherheit zu erfüllen, die alle vom Staat erwarten. Wir alle wissen, dass es zum Handwerkszeug der islamistischen Bewegung gehört, Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser zu offerieren. Dies ist das zweite Element, durch das autoritäre Herrschaft Islamismus begünstigt. Wenn man dann noch sieht, dass alle diese Länder im Grunde auf der Suche danach sind, welche Staats- und Regierungsform zu ihnen passt, dann verfängt natürlich so eine einfache Formel wie „Der Islam ist die Lösung“. Wir müssen also lernen, dass diese Alternative, die uns natürlich auch von den autoritären Herrschern eingeredet worden ist - autoritär oder islamistisch -, in Wirklichkeit keine ist. Die Tunesier haben sich jetzt die Chance auf eine demokratische Entwicklung selbst erkämpft, und wir sollten sie auf diesem weiteren Weg unterstützen. ({2}) Wir sollten unsere Hilfe allerdings - auch dazu möchte ich etwas sagen - an klare Bedingungen knüpfen. Es gibt jetzt eine Übergangsregierung, die im Grunde zwei Aufgaben hat: Sie muss für Sicherheit und Ordnung sorgen, und sie muss den Übergang vorbereiten, sprich: freie und faire Wahlen sowohl für das Präsidentenamt, aber, ich denke, alsbald auch für ein neues Parlament organisieren. Das kann nach so langer Unterdrückung ohne politische Diskussion nicht innerhalb ganz kurzer Frist geschehen; denn dann hätten nur die Kräfte der alten Zeit eine Chance, organisiert anzutreten. Deshalb wird man einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr brauchen. Länger sollte es aber auch nicht dauern. Wir müssen von dieser Übergangsregierung einen klaren Zeitplan für diese Wahlen erwarten. Natürlich müssen dann Parteien neu gegründet und zugelassen werden. Sie brauchen ein Wahlgesetz. Dabei kann die Europäische Union und können wir technische Hilfe anbieten. Es gehört eine Amnestie für die politischen Gefangenen dazu, ({3}) übrigens auch für diejenigen, die aus Angst vor dem Regime ins Ausland geflohen sind und jetzt gerne zurückkehren würden. ({4}) Jetzt will ich etwas sagen, was vielleicht nicht jeder teilt. Ich glaube, wir sollten uns aktiv darum bemühen, dass sich auch islamistische Parteien an diesem Prozess beteiligen. ({5}) Warum? Nach demokratischen Wahlen sind die Probleme ja nicht weg. Es hat ja nicht sofort jeder Jugendliche einen Job, und es bricht nicht im ganzen Land sofort der Wohlstand aus. Dann ist es wichtig, dass der Streit über den richtigen Weg dahin in einem Parlament mit allen politischen Kräften ausgetragen wird, statt dass Kräfte außerhalb dann das ganze System diskreditieren und das, was man in der Vergangenheit zu Recht der autoritären Herrschaft angelastet hat, der neuen Demokratie anlasten. Deshalb sollten wir aktiv dafür werben, dass auch islamistische Parteien in diesen Prozess einbezogen werden. Dafür sind allerdings klare Vorbedingungen nötig. Erstens. Jeder, der sich am politischen Prozess beteiligt, muss sich dazu bekennen, zur Durchsetzung seiner politischen Ziele ausschließlich friedliche Mittel anzuwenden. Zweitens. Jeder, der sich daran beteiligt, nach diesen Regeln Politik zu machen, muss die Regeln auch gegen sich gelten lassen, wenn er die Mehrheit einmal verlieren sollte. Das heißt, die Bereitschaft, sich abwählen zu lassen, ist für demokratische Parteien konstitutiv. Drittens. Das kommt in Tunesien dazu: Es gibt einen sehr fortschrittlichen Code du Statut Personnel, der für die Gleichberechtigung der Frauen enorm viel bewirkt hat. Wir sollten, weil sich diese Frage islamistischen Parteien gegenüber stellt, von vornherein von ihnen verlangen, dass sie ihn unangetastet lassen. Er gehört praktisch zum Verfassungskonsens der tunesischen Gesellschaft. ({6}) Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ägypten sagen. Dort gehen die Demonstranten auf die Straße, und zwar nicht mit der Parole „Der Islam ist die Lösung“, sondern mit der Parole „Tunesien ist die Lösung“. ({7}) Wir müssen der ägyptischen Regierung sagen: Keine Gewalt gegen friedliche Demonstranten! Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht, das ihr eurer Gesellschaft eröffnen müsst! ({8}) Wir müssen auf Meinungsfreiheit und die freie Nutzung des Internets drängen. Es ist ein Skandal, dass Facebook und andere Möglichkeiten, miteinander zu kommunizie9772 ren, abgeschaltet worden sind. Wir müssen fordern, dass die Präsidentschaftswahlen, die in diesem Jahr turnusgemäß anstehen, fair und frei verlaufen. ({9}) Die Europäische Union hat sich im Zuge der Entwicklung der Mittelmeerunion leider immer stärker auf eine eher technische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Region fokussiert. Im Barcelona-Prozess hat man seinerzeit noch stärker das Ziel verfolgt, wirtschaftliche Reformen mit politischer Öffnung zu verbinden. Zu dieser Politik muss auch die Europäische Union wieder zurückfinden, Herr Außenminister. ({10}) Welches Fazit ist als Zwischenergebnis zu ziehen? Erstens. Stabilität kann trügerisch sein. Autoritäre Regime garantieren keine nachhaltige Stabilität. ({11}) Zweitens. Die Annahme, es gäbe Völker, die für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht geeignet sind, ist überheblich und falsch. ({12}) Lassen Sie mich mit einem Zitat des tunesischen Schriftstellers Abdelwahab Meddeb schließen, das ich heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen habe: Für das Verlangen nach Demokratie ist kein Volk zu unbegabt. Das tunesische muss nun in seiner demokratischen Ungeduld nur noch lernen, dass nach der Schnelle des Aufbruchs die Langwierigkeit der Übergangsphasen mit Vertretern des Regimes und neubekehrten Glaubenseiferern kommen wird. Wir werden es meistern. Ich füge hinzu: Wir sollten dabei unsere Hilfe und Unterstützung anbieten. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Movassat das Wort. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gute Nachricht vorweg: Die tunesische Bevölkerung hat erfolgreich den jahrelang von der Europäischen Union unterstützten Diktator Ben Ali aus dem Land gejagt. Die Linke erklärt sich mit dieser Revolution solidarisch, wie sie sich auch mit den Protesten solidarisch erklärt, die derzeit in Ägypten gegen Mubarak stattfinden. ({0}) Ben Ali war für Vetternwirtschaft, Unterdrückung und Inhaftierung politischer Gegner wie auch für die Chancenlosigkeit der Jugend verantwortlich. Tunesien hat jetzt die Chance auf Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. ({1}) Aber worüber wir hier und heute reden müssen, ist die Rolle Deutschlands und der Europäischen Union. Natürlich, wir alle kennen die unsägliche Story - sie wurde schon angesprochen - der französischen Außenministerin, die Ben Ali kurz vor seiner Flucht, nachdem bereits mehrere Demonstranten erschossen worden waren, das Know-how ihrer Sicherheitskräfte zur Verfügung stellen wollte. So heftig ging es in der deutschen Politik nicht zu - keine Frage -, aber man duckte sich weg. Als man die Revolution in Tunesien nicht mehr ignorieren konnte, übte man sich in lauwarmen Phrasen. Erst am Tag vor der Flucht Ben Alis haben Sie, Herr Westerwelle, sich einen Kommentar entlocken lassen und forderten schwammig ein Ende der Gewalt. Bei der Kanzlerin dauerte es mit einer Wortmeldung gar bis einen Tag nach der Flucht. Wenn man dann noch weiß, dass auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes steht: „Die Beziehungen zwischen Deutschland und Tunesien sind gut und intensiv“, muss sich einem der Eindruck aufdrängen, dass man es sich mit dem geschätzten Partner Ben Ali nicht verderben wollte, solange noch die Möglichkeit bestand, dass er im Amt bleibt. Wie sah es eigentlich in den letzten Jahrzehnten aus? Warum hat die Bundesregierung gemeinsame Sache mit einer der schlimmsten Diktaturen dieser Welt gemacht, obwohl Sie, Herr Westerwelle, hier heute gesagt haben, dass wir eine Wertegemeinschaft sind und dass wir Demokratie und Freiheit unterstützen? Deutschland ist drittgrößter Handelspartner Tunesiens. Die EU hat Tunesien sogar in die Euro-Mediterrane Partnerschaft aufgenommen und so der Diktatur einen privilegierten Status zu Europa verschafft. Gekoppelt war dies eigentlich an die Einhaltung von Menschenrechten und Demokratie. Doch man pickte sich heraus, was einem wichtig war - die Wirtschaftspartnerschaft -, und ignorierte die Menschenrechtsverletzungen in Tunesien. Auch Rüstungsgüter lieferte man - wie übrigens auch in andere Diktaturen in der Region wie Ägypten, Saudi-Arabien und Jemen. Auch wenn es darum geht, afrikanische Flüchtlinge, die vor Krieg, Verfolgung und Hunger fliehen, von Europa fernzuhalten, hat man kein Problem damit, mit den nordafrikanischen Diktaturen zusammenzuarbeiten. Was allerdings als Grund für die Unterstützung Ben Alis viel schwerer wiegen dürfte: Er war ein stabiler Bündnispartner im sogenannten Kampf gegen den Terror. Dafür wurde gelassen in Kauf genommen, dass Tausende Menschen unrechtmäßig gefangen gehalten wurden, dass Millionen unterdrückt wurden und dass es Folter und Tötungen gab. Das ist wirklich eine Schande. ({2}) Eine ähnliche Politik verfolgen Sie von der Bundesregierung auch in Ägypten, wo Mubarak unterstützt und mit Waffen beliefert wird, solange er nur die muslimische Opposition unterdrückt. In der deutschen Außenpolitik galt bisher: Was „muslimisch“ im Namen trägt, ist potenziell terroristisch. - Null Differenzierung, null Kenntnis. Diese pauschalen Vorverurteilungen derer, die nicht sehen, dass es verschiedene Parteien und verschiedene Strömungen gibt, stärken am Ende die wirklich fundamentalistischen Kräfte. Da muss endlich ein Kurswechsel stattfinden. Herr Westerwelle, lassen Sie Ihren heutigen Worten Taten folgen! ({3}) Tief blicken lässt übrigens auch die Einschätzung des Vizepremierministers der sogenannten einzigen Demokratie im Nahen Osten - Israel -, der sagte, es würde die israelische Sicherheit gefährden, wenn autoritäre Regime der Region durch Demokratien ersetzt werden würden. Da sich die Bundesregierung im Gegensatz dazu, wie heute deutlich wurde, über die Demokratiebewegung freut, sind wir gespannt, wie die Bundeskanzlerin dieses Thema bei der deutsch-israelischen Kabinettssitzung Ende Januar zur Sprache bringen wird. Die Bundesregierung spricht Demokratie und Menschenrechte anscheinend nur dann offensiv an, wenn es im eigenen Interesse ist, wie beispielsweise beim Iran. Aber was war - bisher jedenfalls - mit Ägypten, wo Mubarak seit Jahrzehnten die Opposition unterdrückt und wo Gegner der Diktatur jahrelang in dunklen Zellen verschwinden und gefoltert werden? Was ist mit SaudiArabien, wo Parteien verboten sind und Peitschenhiebe eine normale Strafe darstellen? Was ist mit dem Jemen, wo Präsident Salih regelmäßig Proteste blutig niederschlagen lässt? All diese Regime werden als verlässliche Partner eingestuft. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind dann wohl verzichtbar. Unter Rot-Grün war es übrigens nicht anders. Schließlich hat Ex-Außenminister Fischer gegenüber Ben Ali, Mubarak und Co. dieselbe Bündnispolitik betrieben wie die Bundesregierung heute. Wir haben es hier insgesamt in der deutschen Außenpolitik mit einem instrumentellen Verhältnis zu Menschenrechten zu tun. Das lehnt die Linke ganz klar ab. ({4}) Wie sagte doch der Afrika-Beauftragte der Bundesregierung Nooke letzte Woche? Man kann künftig nicht mehr die Augen vor undemokratischen Entwicklungen verschließen. - Das heißt doch im Klartext, dass man genau dies jahrzehntelang getan hat. Man hat bewusst die Augen verschlossen. Was hat es nun auf sich mit dieser vordergründigen Selbstkritik? Man könnte sich darüber freuen, wäre sie nicht so durchsichtig. Jetzt, da der EU und Deutschland die Felle davonschwimmen und nicht mehr zu verheimlichen ist, dass man Ben Ali jahrzehntelang unterstützt hat, jetzt, da hoffentlich eine Regierung in Tunesien geschaffen wird, die mit Ben Ali nichts mehr zu tun hat, schaut man kritisch auf die Ära zurück. Herr Westerwelle, Sie haben heute angeboten, den Übergangsprozess hin zur Demokratie aktiv zu unterstützen. Das ist schön und gut. Aber glauben Sie denn, dass noch irgendwer in Tunesien oder im Nahen Osten Ihre Hilfe haben will, nachdem sich die deutsche Politik durch jahrelanges Schweigen vollkommen diskreditiert hat und jetzt schon wieder drauf und dran ist, die Marionettenregierung des alten tunesischen Regimes als Übergangsregierung zu akzeptieren? Wenn Sie Ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen wollen, dann ziehen Sie jetzt die richtigen Konsequenzen: Beenden Sie Ihre Kooperation mit Diktatoren! ({5}) Belassen Sie es im Fall von Ägypten nicht bei ein paar Worten, sondern entziehen Sie Mubarak sofort die komplette Unterstützung und machen Sie sich dafür auch in der EU stark! Dann wird er sich nicht mehr lange halten können. ({6}) Dann werden sich auch andere Diktaturen in der Region nicht mehr lange halten können. Die Menschen, die sich nun auch in Ägypten, Jordanien, Jemen, Marokko und der Westsahara unter Lebensgefahr gegen ihre Unterdrücker erheben und für das kämpfen, was in Tunesien bereits erreicht worden ist, verdienen Respekt und Unterstützung. Wir Linke sind solidarisch mit dem Kampf gegen jede diktatorische Herrschaft. ({7}) An die verbliebene alte Garde Ben Alis in Tunesien, an Mubarak und alle anderen Herren Diktatoren: Macht den Weg frei für Demokratie von unten! Eure Zeit ist vorbei. Danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, gute Besserung! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann vieles teilen, was Sie in Ihren Vorreden hier gesagt haben. Die Menschen der Jasminrevolution in Tunesien haben Geschichte geschrieben. Sie haben das Regime Ben Ali quasi über Nacht friedlich gestürzt. Wir müssen zunächst einmal ganz bescheiden einsehen, dass kaum jemand in Europa - sei es die Politik oder seien es Experten - damit gerechnet hat. Möglicherweise steht die gesamte arabische Welt am Anfang einer neuen Ära. Ich glaube, heute kann und wird niemand mehr voraussagen, ob das vielleicht so ist, obwohl die Situation in den verschiedenen Ländern Kerstin Müller ({0}) schwer vergleichbar ist. Mit Blick auf die heutigen und gestrigen Demonstrationen in Ägypten kann wohl niemand voraussagen, ob die friedliche Revolution in Tunis nicht doch auf andere Länder der Region übergreift ({1}) und ob Tunis am Ende nicht doch so etwas wie das Danzig des Nahen Ostens wird. Wir haben das in Osteuropa einmal erlebt. Ich habe in dieser Woche mit Experten gesprochen, die gesagt haben: Ich würde meine Hand nicht mehr dafür ins Feuer legen, dass das nicht passiert. - Egal, mit wem man spricht - beispielsweise mit Menschen aus der Region -, stellt man fest, dass die Menschen elektrisiert sind. Sie hoffen auf eine Chance. Fest steht: Ob Tunesien zu einer Erfolgsgeschichte wird oder erneut in einer autoritären Herrschaft endet, ist für die gesamte Region und auch für uns, auch für Europa von entscheidender Bedeutung. Deshalb - dies ist mein erstes Anliegen - müssen wir, muss die Europäische Union jetzt alles tun, damit das Land eine Chance auf eine dauerhafte Demokratisierung erhält, damit dieser Prozess unumkehrbar wird und vielleicht auch die Nachbarstaaten eine Chance auf den Wandel erhalten. ({2}) In Tunesien wurde die Revolution von allen Teilen der tunesischen Gesellschaft getragen, vor allen Dingen auch von einer gut ausgebildeten Mittelschicht, von Geschäftsleuten und Rechtsanwälten. Das mag in vielen Nachbarstaaten anders sein, beispielsweise in Algerien, aber auch in Ägypten scheint sich so etwas anzubahnen. Fest steht: Die Probleme, die Auslöser für die schreckliche Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers waren, sind Probleme vieler Araber: hohe Arbeitslosigkeit und hohe soziale Ungleichheit, vor allem bei gut ausgebildeten unter 30-Jährigen, Dominanz von Sicherheitsdiensten und Militär, Folter und Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Machtmissbrauch bei gleichzeitigem völligen Fehlen von politischen Rechten. Im Zeitalter von Internet, Twitter und Facebook kommt hinzu, dass nicht mehr geheim bleibt, was die Regime alles beiseiteschaffen. Über WikiLeaks sind Korruptionen und Bereicherungen bekannt geworden. Über Facebook und Twitter wurde die Demonstration organisiert. Al-Dschasira und andere Sender haben diese Bilder in der gesamten arabischen Welt verbreitet. Das wäre vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen. Jetzt steht die fragile Übergangsregierung vor der Aufgabe, faire und freie Wahlen zu organisieren, und zwar in einer Situation, in der sich die demokratische Opposition erst formieren muss. Geht das schief, dann hätte das eine verheerende Wirkung auf künftige Demokratisierungsprozesse in der Region. Meine Kritik richtet sich in erster Linie an die Europäische Union. Wir dürfen diese Debatte nicht wie Buchhalter führen. Auch dürfen wir uns nicht - wie Lady Ashton - mit feinziselierten Erklärungen hervortun. Ich glaube, die Menschen in der Region erwarten einen Kurswechsel, eine entschlossene, umfassende Unterstützung, und zwar jetzt. ({3}) Die bisherige Politik der Europäischen Union gehört grundsätzlich auf den Prüfstand. Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir einsehen, dass die Strategie des Westens in dieser Region - Herr Polenz, Sie haben es angesprochen; ich teile Ihre Auffassung völlig -, den Islamismus zu bekämpfen, indem man auf säkulare, aber autoritäre und korrupte Regime setzt, gescheitert ist? Es ist eben nur eine vermeintliche Stabilität ohne Demokratie und Rechtsstaat. Sie steht auf tönernen Füßen. Irgendwann klagen die Menschen ihre Rechte ein und fegen Regime wie dieses hinweg. Außerdem liefert eine Diktatur geradezu den Nährboden für Radikalisierungen jedweder Art; Herr Polenz, Sie haben das Wort „Brutkasten“ benutzt. Die bisherige Strategie muss beerdigt werden; wir müssen jetzt einen Strategiewechsel einleiten. Das erwarten die Menschen in der Region. ({4}) Unser stärkster Partner in der EU, Frankreich, ist am Rande erwähnt worden. Ich fände es begrüßenswert - auch das kann man im Bundestag einmal sagen -, wenn Frankreich jetzt einmal in die zweite Reihe treten würde. Die Behauptung, man habe vom Ausmaß und der Brutalität des Regimes nichts gewusst, ist nicht glaubwürdig. Wir brauchen eine neue Politik gegenüber Tunesien, gegenüber allen Ländern in dieser Region. Frankreich wird eine solche Politik nicht glaubwürdig betreiben können. Was Tunesien angeht, teile ich vieles, was hier gefordert wurde. Wir müssen den Demokratisierungsprozess massiv unterstützen. Das heißt, wir müssen finanzielle und institutionelle Hilfe für den Aufbau demokratischer Strukturen leisten. Wahlvorbereitungen und Wahlbeobachtungen sollten schon jetzt angegangen werden. Wir müssen dabei alle Kräfte in den Demokratisierungsprozess einbinden, auch die moderaten Islamisten; wir stimmen Ihnen zu, Herr Polenz. Wir müssen auch an dieser Stelle die Strategie verändern; das wäre das richtige Zeichen. Wir müssen aber auch die Zivilgesellschaft fördern, damit nicht wieder dasselbe passiert. Die eingeleiteten Prozesse müssen unumkehrbar werden. Gefördert werden müssen auch Projekte zur wirtschaftlichen Entwicklung. Die Mittelmeerpartnerschaft - sie ist hier nicht erwähnt worden - gehört auf jeden Fall auf den Prüfstand. Herr Außenminister - Sie haben dazu leider nichts gesagt -, ich wüsste gerne einmal, was aus der Mittelmeerunion - von Sarkozy geboren, von Frau Merkel abgesegnet - geworden ist. Eigentlich müsste die Mittelmeerpartnerschaft jetzt eine Sternstunde erleben. Gestern las man aber, dass just jetzt der Generalsekretär der Mittelmeerunion zurückgetreten ist, weil die Aktivitäten lahmgelegt seien, kein Geld fließe und alle Gipfeltreffen abgesagt worden seien; deshalb hat er jetzt aufgegeben. Kerstin Müller ({5}) Die Mittelmeerpartnerschaft ist also ein Potemkin’sches Dorf. Da passiert gar nichts, und das ist total bedauerlich. Wir brauchen jetzt einen Strategiewechsel im Hinblick auf diese Region. Das heißt - ähnlich dem, was man beim Barcelona-Prozess gesagt hat -: Wirtschaftliche und politische Reformen müssen miteinander verbunden werden. Wir dürfen eben nicht mehr in hohem Umfang Budgethilfe oder gar Militärhilfe leisten, ohne auf demokratische Reformen und auf die Einhaltung von Menschenrechten zu bestehen. Dahin müssen wir kommen. ({6}) Der Lackmustest für einen solchen Strategiewechsel wird die Entwicklung in Ägypten sein. Ist die EU zu dem bereit, was ich gefordert habe, oder nicht? Die Menschen gehen jetzt auf die Straße. Sie haben es erwähnt, Herr Polenz: Diese Menschen werden brutal niedergeschlagen. Wir müssen jetzt von Mubarak fordern: Das muss beendet werden. Mubarak muss freie und faire Wahlen zulassen. Er könnte einen guten Beitrag dazu leisten, indem er nicht seinen Sohn als seinen Nachfolger installiert oder sich selbst erneut als Kandidat zur Verfügung stellt. Ich wiederhole: Es muss dort faire und freie Wahlen geben. Die EU muss klarmachen: Es gibt keine Hilfen mehr, wenn das Regime in Ägypten keine freie Wahlen zulässt. Zum Schluss. Wir können aus unseren Fehlern lernen, und wir müssen jetzt handeln. Ich glaube, die EU hat eine riesige historische Chance. Wir dürfen diese nicht leichtfertig durch Zaudern und Zögern verspielen. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Stinner das Wort. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch von mir beste Wünsche für Ihre Stimme. Ich kann Ihnen sagen: Wir von der FDP haben seit Jahren gute Erfahrungen mit der Zweitstimme gemacht. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gestern Abend im Fernsehen eine sehr interessante und sehr bewegende Sendung über die Journalisten in Tunesien gesehen. Sie sind jetzt dabei, in einem Selbstfindungsprozess zu überlegen: Wie gehen wir mit der neuen Situation eigentlich um? Was schreiben wir in die Zeitung hinein? Wer bestimmt, was hineinkommt? Welche Tendenzen schreiben wir hinein? Können wir offen schreiben? Es war berührend, zu sehen, wie dieser Selbstfindungsprozess bei den Journalisten vorangeht. Das ist das Thema insgesamt. Dieses Land befindet sich in einem beeindruckenden Selbstfindungsprozess, von dem wir alle noch nicht wissen, wo er enden wird. Wir sind guter Hoffnung, und wir rufen denjenigen zu, die dieses ermöglicht haben: Sie haben unsere volle Unterstützung! Wir unterstützen sie dabei, diesen Prozess fortzusetzen. Tunesien soll selbst entscheiden, wie es in die Zukunft gehen möchte, wobei wir sehr deutlich machen möchten: Welche Ordnung sich auch immer in Tunesien künftig durchsetzt, es soll sichergestellt sein - der Außenminister ist darauf eingegangen -, dass die Möglichkeit einer Veränderung in demokratischer Weise auch in Zukunft gegeben ist. Wir werden nicht akzeptieren und wir werden es nicht unterstützen, dass ein autoritäres Regime durch ein anderes ersetzt wird. ({1}) Glücklicherweise gibt es dafür bisher keine Ansatzpunkte, aber man weiß nie, wie es ausgeht. Wir müssen alle abwarten, wie es ausgeht. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie gehen wir damit um? Was können wir konkret tun? Es wurde bereits gesagt - ich unterstütze das voll -, dass die Europäische Union in zwei Richtungen unmittelbar helfen kann, nämlich erstens Hilfe beim Prozess der Selbstfindung, der Organisation von demokratischen Strukturen, von Rechtsstaatsstrukturen, von Wahlen etc. anzubieten. Aber, Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch eine zweite Möglichkeit, nämlich dass wir Tunesien in Handelsfragen konkret entgegenkommen. ({2}) In Tunesien gibt es bereits einen freien Handel, was Industriegüter angeht. Ich plädiere aber nachhaltig dafür, dass wir das erweitern und uns dafür einsetzen, dass wir das endlich auch auf landwirtschaftliche Güter ausdehnen. ({3}) Das wäre eine konkrete Maßnahme, die wir einleiten könnten, um Tunesien aktuell zu helfen. Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Der Fall Tunesien, aber auch die Situation beispielsweise in Ägypten und im Jemen, sollte für uns Anlass sein, uns selbstkritisch mit der Rolle der Europäischen Union in den letzten zehn Jahren zu beschäftigen. ({4}) Das gilt für alle, die in unterschiedlicher Kombination über die Jahre hinweg Regierungsverantwortung getragen haben. Im Prinzip haben wir immer drei Instrumente diskutiert: erstens den Barcelona-Prozess, von dem man sagt, er sei tot. Zweitens haben wir die Mittelmeerunion, von der man sagt: Gut gemeint, aber schlecht ausgeführt. Drittens wir haben die Europäische Nachbarschaftspolitik, unter deren Dach die Mittelmeerunion gegründet worden ist, bei der wir selbstkritisch feststellen müssen, dass nicht genug dabei herausgekommen ist. Ich habe mir die Projekte der Europäischen Nachbarschaftspolitik angeschaut. Es gibt 39 Projekte, die auch für Tunesien Gültigkeit haben. Ich bezweifle, dass diese Projekte alle sinnvoll sind, und ich bezweifle vor allem, dass sie konsequent durchgeführt und zum Nutzen Tunesiens eingesetzt werden. Ich bitte die Bundesregierung dringend, im Rahmen der Europäischen Union darauf zu drängen, dass wir unsere Instrumente schärfen, dass wir sie fokussieren und konzentriert einsetzen, um den Prozess in Tunesien entsprechend zu unterstützen. Es wurde darauf hingewiesen, dass das, was in Tunesien passiert, Auswirkungen auf die Region hat. Auch hier wissen wir noch nicht, ob es ein gutes Ende nehmen wird, aber ich sage in Bezug auf Tunesien und auch auf andere Staaten: Beurteilen wir die Spieler, die sich in dem Selbstfindungsprozess positionieren, nicht danach, was obendrauf steht, sondern danach, was drin ist, was sie inhaltlich wirklich machen. Herr Ghannouchi zum Beispiel, der 22 Jahre lang unter dem Siegel des Islamismus in London residiert hat, kehrt dieser Tage nach Tunesien zurück. In seinem Interview im Spiegel konnte man nachlesen, dass er unter dem Label des Islamismus durchaus einige Grundfesten europäischer Werteordnung verinnerlicht hat, nämlich das demokratische System und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Deshalb plädiere ich dafür, genau zu beobachten, was passiert und nicht anhand von Überschriften zu argumentieren. Unsere Hoffnung ist, dass Tunesien den richtigen Weg geht. Wir Europäer wollen das; denn es ist in unserem europäischen Interesse, dass wir um die EU herum ein Cordon von Staaten legen, die am Ende des Tages so ähnlich funktionieren wie wir. Wir wollen keinen Regimewechsel von außen, wir wollen aber, dass sie so ähnlich funktionieren wie wir. Dafür sollten wir gemeinsam die Bundesregierung unterstützen und sie bitten, nachhaltig und nachdrücklich in der EU daran zu arbeiten. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin WieczorekZeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben in dieser Diskussion unsere Bewunderung für den Mut und das Engagement der tunesischen Bevölkerung ausgedrückt. Was wir tun können, damit diese Revolution ein Erfolg wird, sollten wir alle tun; denn Tunesien hat dank seiner engagierten Zivilgesellschaft, dank seiner engagierten Männer und Frauen, eine große Chance, die historische Wende unumkehrbar zu machen. Übrigens waren an dieser Revolution keine Islamisten oder islamistischen Gruppen beteiligt. Es ist wichtig, das einmal zu erwähnen. Es zeigt sich, dass in Zeiten der grenzüberschreitenden Informationsmedien die nationale Unterdrückung der Meinungsfreiheit nicht mehr funktioniert. Das ist gut so. Wir sollten dies weiterhin unterstützen. ({0}) Die über Jahre hinweg immer wieder aufgestellte Behauptung, in den arabischen Ländern sei der Wunsch nach Freiheit und Demokratie nicht verbreitet, ist schon im Jahr 2004 durch eine Untersuchung des World Values Survey widerlegt worden, bei der festgestellt wurde, dass die arabischen Staaten an der Spitze der Länder lagen, die sich für die Ablösung von Despoten und eine demokratische Regierungsführung engagierten. Ich halte es für wichtig, unsere Wahrnehmung in dieser Richtung zu verändern. Wie hier von allen gesagt wurde, ist es jetzt wichtig, den Öffnungs- und Übergangsprozess transparent zu gestalten, alle zu beteiligen sowie Rat und Tat wie gewünscht zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel zur Vorbereitung der Gesetze zur Medienfreiheit oder der Wahlgesetze. Zwei weitere Aspekte halte ich ebenfalls für wichtig. So sollten die Guthaben des geflohenen Präsidenten in den europäischen Ländern eingefroren werden und im Sinne der Initiative zur Rückführung von Potentatengeldern der tunesischen Bevölkerung zurückgegeben werden. Das kann von der Europäischen Union entsprechend beschlossen werden. ({1}) Der Aufstand war ein Aufstand der Jungen für Arbeit und gegen Perspektivlosigkeit. Worte sind wichtig. Da stimme ich Herrn Stinner zu. Unterstützung ist ebenfalls wichtig. Es ist aber auch wichtig, dass die Europäische Union praktisch handelt. Ob sie dies ernst nimmt, wird sich daran zeigen, ob das Abkommen, mit dem der Export von landwirtschaftlichen Gütern aus Tunesien erleichtert werden soll, schnell beschlossen wird, um so die ökonomische Entwicklung in Tunesien zu stabilisieren. Wir erwarten, dass die Regierung das entsprechend aufnimmt. Die anhaltenden Demonstrationen und Proteste in Ägypten zeigen, dass auch dort die Menschen Beteiligungschancen und eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse wollen. Angesichts der Verschlechterung der Lebensverhältnisse der ärmeren Schichten ist das ganz besonders verständlich. Es ist völlig unbegreiflich, dass in einem potenziell wohlhabenden Land wie Ägypten, das im Übrigen eines der NEPAD-Gründungsländer ist, rund 40 Prozent der Bürger von 2 US-Dollar am Tag leben müssen. Wenn sich die ägyptische Regierung und Staatspräsident Mubarak nicht für die Prinzipien verantwortlicher Regierungsführung öffnen und nicht für freie und ungehinderte Wahlen eintreten, laufen sie Gefahr, dass ein Aufstand der Jugend und ein Aufstand des Zorns für eine Öffnung von unten sorgen. Deshalb rufen wir die ägyptische Regierung auf: Verschließen Sie sich nicht dem Demokratiewillen der Menschen. Setzen Sie auf Kooperation und Respektierung der Menschenrechte statt auf Gewalt und Repression. ({2}) Die Haltung der Europäischen Union und der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Region sollte von dem geprägt sein - schließlich versuchen wir heute, eine gemeinsame Grundposition zu finden -, was Amartya Sen vor vielen Jahren wie folgt ausgedrückt hat: Entwicklung ist ein Prozess der Ausweitung der realen Freiheiten für die Menschen. Gegen diese Position haben Teile der internationalen Gemeinschaft - unter anderem die USA, aber auch viele arabische Länder - in den zurückliegenden Jahren verstoßen. Vermeintliche geostrategische Stabilität - Sie haben es angesprochen, Herr Polenz - wurde auf Kosten der politischen Entwicklung erkauft. Das gilt zum Beispiel für Ägypten. Dieses Handeln muss der Vergangenheit angehören; es ist ein Irrweg, der überwunden werden muss. Dabei wurden vor allem die Hoffnungen und Erwartungen von Jugendlichen, die Jobs und Bildung verlangen, enttäuscht und missachtet. In vielen arabischen Ländern haben die Menschen unter 18 Jahren einen Anteil von bis zu 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Es wächst die jüngste Generation heran, die in dieser Region jemals lebte. Ich bin froh, dass wir zu unserer Regierungszeit im Entwicklungsministerium Initiativen aus der arabischen Region unterstützt haben. Sie stehen für das, was mancher hier als neue Erkenntnis verkauft. In dem letzten Arab Human Development Report von 2009, den zu lesen ich Ihnen allen ans Herz legen möchte, wird gesagt, dass bis 2020 in den arabischen Ländern 51 Millionen neue Jobs geschaffen werden müssen. Wie können wir dazu beitragen, den Prozess zur Ausweitung der realen Freiheiten in diesen Ländern zu fördern? Seit 2002 gibt es diese Berichte über die menschliche Entwicklung in den arabischen Ländern, die von der UN und arabischen Fachleuten aus der Region erstellt werden. Deren Überzeugungen sollten wir zur Grundlage unseres Handelns machen. In dem Bericht von 2009 wird gefordert: Respektierung des Selbstbestimmungsrechts aller Menschen, Respektierung der Menschenrechte und öffentlicher Respekt vor unterschiedlichen Religionen und Denkschulen, funktionierende parlamentarische Systeme, Garantie der politischen Rechte und politischer Pluralismus. Ich füge hinzu: Das gilt aber auch für andere Fälle. Allerdings gilt: Wenn demokratische Wahlen stattgefunden haben, dann gehört es zur Demokratie, dass die internationale Gemeinschaft anschließend nicht entscheidet, ob sie das Wahlergebnis akzeptiert oder nicht. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, wie wir bezogen auf Palästina erlebt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob der Demokratisierungsprozess in den südlichen Nachbarländern Europas gelingt, hängt also auch vom Verhalten der Europäer ab. Aufgrund meines langjährigen Engagements in diesem Bereich kann ich sagen, dass die wunderbare Chance besteht, dass wir durch Zusammenarbeit die Reformkräfte in den Zivilgesellschaften und die Reformkräfte in den jeweiligen Regierungen stärken können. Das ist das Prinzip „Wandel durch Zusammenarbeit“. Es besteht eine wunderbare Chance für die Europäische Union: Durch eine Partnerschaft für nachhaltige Energieerzeugung und -versorgung kann das gemeinsame Interesse an Klimaschutz und Ressourcenschonung, an Arbeits- und Ausbildungsplätzen in allen Ländern der Region gefördert werden. Wir sollten diese Chance ergreifen und sollten alles vermeiden, was diese Chance in irgendeiner Form mindern könnte. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Pfeiffer das Wort. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin 1951 geboren. Ich kenne keine andere Staatsform als die Demokratie. Es gibt nur einige wenige von uns - im Moment sitzt anscheinend niemand von ihnen hier -, die sich noch daran erinnern können, wie es anders war. Manchmal frage ich mich: Wissen wir eigentlich, welch kostbares Gut es ist, in einer Demokratie zu leben? Dazu gehören freie Wahlen, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung, die die Grundrechte eines jeden Einzelnen schützt. Wir sollten ein wenig Demut zeigen und die Demokratie als Geschenk begreifen. Auch dieser Aspekt gehört zu der Debatte über ein Land, dessen Menschen genau dieselben Chancen haben wollen, die wir eigentlich als selbstverständlich annehmen. Wir merken jedoch, dass dieses Demokratieverständnis sogar in unserem Land - übrigens können wir nur deswegen hier sitzen - nicht überall gleich ausgeprägt ist. Deshalb ist es eigentlich eine wunderbare Sache, was in Tunesien passiert. Ich hätte mir gewünscht, dass der gesellschaftliche und der gesellschaftspolitische Umbruch in Tunesien so erfolgt, wie es 1989 beim Mauerfall passiert ist, als die Menschen in der DDR genau das haben wollten, was wir schon lange hatten, nämlich Freiheit und Demokratie. Wir wissen auch, dass noch nicht einmal die Hälfte aller Staaten auf dieser Welt eine Demokratie hat. Daher, lieber Kollege Movassat, können wir uns unsere Partner nicht immer so aussuchen, wie wir es gerne hätten. Das heißt aber nicht, dass wir es fraglos hinnehmen, wenn Demokratie nicht stattfindet und wenn Menschenrechte nicht beachtet werden. Dies nicht hinzunehmen, ist Teil unserer politischen Arbeit. Aber bei Bewegungen wie zum Beispiel in Tunesien oder in Algerien - laut heutiger Tickermeldung passiert auch etwas im Jemen - stellt sich die Frage, wie unterstützend wir eigentlich tätig sein können. Können wir als Deutschland und als Europa anderen die Demokratie aufdrücken? Nein, sie muss aus dem Volk selbst kommen. Sie muss gewollt sein. Aber wenn sie dann gewollt ist, ist die Frage: Wie können wir unterstützend tätig sein? ({0}) Natürlich können wir helfen. Wir können Hilfe bei der Vorbereitung der Wahlen anbieten. Darin sind wir doch wirklich ganz gut, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Wir können natürlich auch bei der Erarbeitung einer Verfassung mithelfen. Auch bei Wahlen können wir durch Wahlbeobachtung und Ähnliches tätig werden, wenn es darum geht, die sich im Moment in Tunesien etablierende Demokratiebewegung zu unterstützen, damit sie nachhaltigen Bestand hat. Auch auf europäischer Ebene können wir etwas tun. Der Staatsvertrag in Bezug auf die privilegierte Partnerschaft mit Tunesien, die die EU vor einiger Zeit angestrebt hat, ist letztlich an der Diskussion um Menschenrechte und Demokratie gescheitert. Wenn es dort jetzt Stabilität in dieser Richtung gibt, ist die Frage, ob die EU dies als Basis für die privilegierte Partnerschaft ansehen kann. Sie sieht es vielleicht auch ein kleines bisschen als Anreiz oder als Bonbon und verspürt vielleicht auch Dankbarkeit über die dortigen Geschehnisse. Ich glaube, das können wir tun. Aber wir können auch versuchen, die vor Ort lebenden Menschen - viele junge Menschen sind bestens durch ein Hochschulstudium und Ähnliches ausgebildet - in Arbeit, Lohn und Brot zu bekommen. Es gibt nichts Frustrierenderes als Menschen, die ausgebildet sind, keine Arbeit haben und ihre Familien nicht selbst ernähren können. Das heißt, wir müssen auch dort unterstützend tätig werden, wo es darum geht, Unternehmensgründungen zu begleiten. Wir müssen kleine Unternehmen unterstützen, deren Start gefährdet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute habe ich auch etwas Tolles gehört. Herr Gloser, Sie waren dabei. Zwei große deutsche Unternehmen haben versprochen, ihre Produktion in China aufzugeben, um sie in Tunesien einzurichten. Liebe Zuhörer, liebe Zuschauer, liebe Unternehmerinnen und Unternehmer, liebe Manager deutscher Unternehmen, die irgendwo im Ausland investieren wollen, schauen Sie sich junge Demokratien an. Schauen Sie sich Länder an, die demokratische Bewegungen haben, und prüfen Sie, ob man dort investieren kann. Nutzen Sie die Gelegenheit, um zusammen mit der Politik die Menschen zu unterstützen, die nichts anderes wollen, als in ihrem Land zu leben, die jedoch auch ihr Aus- und Einkommen haben möchten. Sie wollen auch, dass die Menschenrechte beachtet werden, und sie wünschen sich demokratische Strukturen. Ich glaube, es ist es wert, darüber nachzudenken, wo man investiert und dass es unter Umständen auch eine gute Idee sein kann, in solchen Ländern zu investieren. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Götzer für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das tunesische Volk hat durch eine Revolution, die im arabischen Raum einmalig ist und wohl die allermeisten ausländischen Beobachteter überrascht hat, seinen diktatorischen Staatspräsidenten Ben Ali aus eigener Kraft gestürzt und das Land innerhalb weniger Tage grundlegend verändert. Auch wenn es sicherlich zu früh ist, um endgültig zu beurteilen, ob sich die Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie in Tunesien erfüllen werden, kann man heute schon sagen: Es besteht eine echte Chance für einen politischen Neuanfang des Landes. Die Bildung einer Übergangsregierung unter Einbeziehung der Opposition ist ein erster wichtiger Schritt hin zu einem nachhaltigen und dauerhaften Reformkurs, dessen Ziel ein demokratischer Rechtsstaat sein muss. Von entscheidender Bedeutung wird dabei die rasche Schaffung eines echten Mehrparteiensystems sein, in dem sich verschiedene Ansichten und Überzeugungen in einem pluralistischen Miteinander widerspiegeln und behaupten. Unabdingbar sind neben der Entwicklung demokratischer Parteistrukturen der Aufbau eines unabhängigen Justizwesens und einer ordnungsgemäßen Verwaltung sowie die Gewährleistung von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, um nur einige der wichtigsten Grundpfeiler zu nennen. Die künftige tunesische Regierung muss des Weiteren umgehend konkrete Maßnahmen ergreifen, um Polizei und Armee an die neuen, demokratischen Grundlagen zu binden und um die im Land herrschende Korruption erfolgreich zu bekämpfen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass sich die Vergangenheit in Tunesien nicht wiederholen darf. Ich möchte daran erinnern, dass die Einheitspartei RCD ursprünglich ebenfalls als fortschrittlich galt und schließlich in einem diktatorischen, korrupten System endete. Uns muss klar sein: Tunesien braucht bei seinem DemokratisieDr. Wolfgang Götzer rungsprozess umfassende und rasche Hilfe. Auch die ökonomischen Probleme, insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit, wird die neue Regierung nicht allein und nicht von heute auf morgen lösen können. Auch hierbei ist Tunesien auf die Unterstützung durch andere Länder angewiesen. Deutschland und die EU müssen ihren Beitrag leisten; denn die neue Demokratie wird erst dann gefestigt sein und von breiten Schichten der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn mit der Demokratie auch eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse einhergeht. Ich möchte in Stichworten das anführen, was in diesem Zusammenhang angedacht werden kann und muss: das Wiederaufgreifen der privilegierten Partnerschaft - das hat meine Vorrednerin gerade angesprochen -, die Beseitigung von noch bestehenden Handels- und Exportrestriktionen, möglicherweise die Einrichtung eines Notfinanzierungsfonds für Tunesien für den Fall, dass die auf kriminelle Weise ins Ausland gebrachten Staatsgelder nicht rechtzeitig zurückgeholt werden können. Man könnte auch an steuerliche Sonderabschreibungen für Unternehmen aus Europa denken, die jetzt in Tunesien investieren wollen. Das sind nur einige Beispiele für eine ökonomische Unterstützung des Landes. Lassen Sie mich zusammenfassen: Tunesien hat das Potenzial, sich zu einem demokratischen Land zu entwickeln; denn es hat nicht nur eine Mittelschicht, ein Wirtschaftswachstum und ein hohes Bildungsniveau vorzuweisen, sondern vor allem auch eine engagierte Jugend und aktive Intellektuelle. Kurz gesagt: Tunesien hat eine Zivilgesellschaft - so ist das schon formuliert worden -, auf der man aufbauen, mit der man arbeiten kann, die dieses Land gestalten kann und will. Dieser Demokratisierungsprozess bedarf - ich sage es noch einmal - der tatkräftigen Unterstützung Deutschlands und der Europäischen Union. Eine demokratische Entwicklung in Tunesien ist auch im Interesse Deutschlands und Europas. Die Vorgänge in Tunesien müssen uns bewusst machen: In diesen Tagen besteht die historische Chance, ein neues Kapitel der Beziehungen Europas mit der arabischen Welt zu beginnen. Bislang haben die radikalen Islamisten in Tunesien keine Chance. Sie haben auch bei der Revolution keine Rolle gespielt. Damit es so bleibt, muss der Demokratisierungsprozess weitergehen. Ich stimme dem Bundesaußenminister uneingeschränkt zu, wenn er sagt: Autoritäre Systeme verhindern nicht den radikalen Islamismus, sondern sind im Gegenteil ein Nährboden dafür. Ich möchte noch einmal festhalten: Die zum Sturz der Diktatur führenden Proteste waren zu keiner Zeit religiös motiviert, sondern sie waren Ausdruck der Unzufriedenheit mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Die Tageszeitung Die Welt schreibt heute dazu - ich zitiere -: In den vergangenen Jahren ist diese Region - gemeint ist der Nahe Osten vor allem durch ihre Radikalen aufgefallen, deren Anschläge und Hassausbrüche im Westen Furcht vor dem auslösten, was auf die autoritären Regime noch folgen könnte. Nun jedoch artikulieren sich auch all die anderen Araber, die ihr Heil nicht in Revolutionen nach iranischem Vorbild suchen. Sondern die endlich die Sonderstellung der arabischen Welt überwinden möchten. Wir müssen Tunesien nun aktiv dabei unterstützen, mit der Tradition autoritärer Strukturen zu brechen. Das Land muss sich eine Gesellschaftsordnung geben, in der sich alle Bürger wiederfinden, vor allem auch die bislang Benachteiligten, eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sind und sich Wohlstand entwickeln kann. Das sind die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für politische Stabilität und eine gute Zukunft für die Menschen im Land. Der Wandel in Tunesien kann Vorbildcharakter für andere Länder in der Region haben. Ich zitiere abschließend noch einmal Die Welt vom heutigen Tage: Es weht ein Hauch von 1989 durch den Nahen Osten. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Heinrich, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen - Versorgung weltweit verbessern - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung umsetzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Marieluise Beck ({1}), Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung weiterentwickeln - Drucksachen 17/2332, 17/3652, 17/1779, 17/4526 Berichterstattung: Abgeordnete Frank Heinrich Pascal Kober Annette Groth Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Dreiviertelstunde zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marina Schuster für die FDPFraktion. ({3})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sauberes Trinkwasser ist die elementare Voraussetzung für unser Leben. Doch nach wie vor haben fast 900 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und 2,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu ausreichend hygienischer Abwasserentsorgung. Angesichts dieser Zahlen, dieses Zustands war es umso wichtiger, dass der Menschenrechtsrat im September 2010 eine von Deutschland und Spanien initiierte Resolution „Menschenrechte und Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen“ verabschiedet hat. Sie folgt der Resolution der Generalversammlung vom Juli letzten Jahres. Ich glaube, das ist ein weiterer Schritt hin zur weltweiten Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes Wasser und Sanitäranlagen. In der neuen Resolution des Menschenrechtsrats wird auch die juristische Herleitung aus dem VN-Sozialpakt klargestellt. Mir ist bewusst, dass es gerade bei diesem Punkt keinen Konsens hier im Haus gibt. Die Grünen fordern zum Beispiel ein eigenes Zusatzprotokoll. Für uns ist das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser aber bereits ein Bestandteil des Menschenrechts auf einen angemessenen Lebensstandard. Jetzt muss es um die politische Umsetzung gehen. Eine juristische Neukodifizierung durch ein Zusatzprotokoll würde eine Schwächung bedeuten und den ganzen Prozess quasi wieder auf Null setzen. Man müsste von vorne anfangen. Dadurch wird dem Menschenrecht auf Wasser nicht zu mehr Anerkennung verholfen. ({0}) Es ist also unerlässlich, dass sich mehr und mehr Entscheidungsträger weltweit für dieses Menschenrecht einsetzen und es Schritt für Schritt praktisch umsetzen. Hierauf sollten wir unsere Kraft und Energie verwenden. In diesem Punkt sind wir uns in den verschiedenen Anträgen, die heute zur Debatte vorliegen, einig. Ziel muss es sein, dass alle Menschen Schritt für Schritt diesen Zugang bekommen. Die Situation ist in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich. Dies liegt sowohl am Bedarf als auch an den klimatischen Verhältnissen. Auch die Bedürfnisse der Menschen ändern sich. Je nach Aufenthaltsort und Kulturkreis wird es unterschiedliche Wege geben, um das Ziel, diesen Zugang zu gewährleisten, zu erreichen. Die Bundesregierung hat dieses wichtige Thema vor langer Zeit erkannt und sich entschlossen, einvernehmlich dafür zu kämpfen und für eine weitere Umsetzung zu werben. So haben die Bundesminister Westerwelle und Niebel dieses Thema gemeinsam angepackt, und wir unterstützen die Expertinnen - sei es beim Deutschen Institut für Menschenrechte, sei es bei der Hochkommissarin für Menschenrechte in Genf. Wir unterstützen es politisch, aber natürlich auch finanziell. Wir unterstützen ausdrücklich, dass die bisherige Unabhängige Expertin der UN, Frau Catarina de Albuquerque, nun auch zu einer Sonderberichterstatterin werden soll; das wird auf einer der nächsten Sitzungen in New York entschieden. Denn dieses Mandat verleiht ihr und dem Thema noch mehr Bedeutung. Ich freue mich sehr, dass es die Aufklärungskampagne „WASH United“ gibt. Diese war hier sehr aktiv, als wir die Fußball-WM in Deutschland ausgerichtet haben. Ich freue mich, dass alle Fraktionen bei dieser Kampagne aktiv sind. Wir werden diese Aktionen natürlich auch im Rahmen der Fußball-WM der Frauen hier in Deutschland unterstützen. Diesen Weg werden wir gemeinsam gehen. Die politische Umsetzung Schritt für Schritt in den jeweiligen Ländern - davon bzw. dafür müssen wir andere überzeugen und gewinnen. Ich freue mich, dass wir diesen Weg gemeinsam konsequent gehen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Ullrich Meßmer für die SPD-Fraktion. ({0})

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Vorrednerin hat es schon gesagt: Wasser ist die Quelle allen Lebens, gleichzeitig aber auch - und darauf sollte man immer wieder hinweisen - der größte Krankheitsüberträger auf der Welt. Schmutziges Wasser und mangelnde sanitäre Versorgung töten alle zwanzig Sekunden ein Kind. Es sterben also mehr Kinder an schlechtem Wasser, an schlechter Sanitärversorgung als an Malaria, Masern oder HIV. Die Unabhängige Expertin für Wasser und Sanitärversorgung der Vereinten Nationen, Catarina de Albuquerque, beschreibt daher die Entscheidung - diese haben Sie eben auch angesprochen -, das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung als Menschenrecht anzuerkennen, nicht umsonst als bahnbrechende Entscheidung, die die Kraft hat, das Leben von Millionen Menschen zu verändern, die noch immer keinen ausreichenden Zugang zu Wasser und sanitärer Versorgung haben. Erst der Status als Menschenrecht sichert für alle Menschen, also auch für jeden ganz persönlich, eine Anspruchsgrundlage gegen ihren jeweiligen Staat. Aber was viel wichtiger ist: Die Staaten wiederum erhalten so die unumstößliche Verpflichtung, das Menschenrecht auf Wasser und Sanitärversorgung zu schützen, zu erfüllen und vor allen Dingen auch die nichtstaatlichen AkUllrich Meßmer teure zur Einhaltung dieses Menschenrechts zu verpflichten. Damit kommen wir zum Wesentlichen, nämlich zur schnellen Umsetzung dieses Themas. Es muss schnell gelingen, hier eine Wende herbeizuführen. Wenn Aussagen von „Brot für die Welt“ stimmen, wird sich die sanitäre Lage weiter, und zwar dramatisch, verschlechtern. Bevölkerungswachstum und Klimawandel tun ein Weiteres dazu, dass der Druck auf die Ressource Wasser zunimmt. Immer häufiger gelangen unzureichend oder nicht gereinigte Abwässer zu den Quellen des Trinkwassers. Dies löst einen Kreislauf aus, der Krankheiten und Epidemien verbreitet, und diesen Kreislauf gilt es dringend zu durchbrechen. Wir von der SPD wissen auch, dass es dies nicht kostenlos gibt. Die Deutsche Bank schätzt den jährlichen globalen Investitionsbedarf im Wassersektor auf über 500 Milliarden Euro. Das können Entwicklungs- und Schwellenländer alleine nicht heben. Dies führt dazu - und hier gibt es den einen oder anderen Unterschied; das werden wir gleich hören -, dass viele Länder dazu übergehen, ihre Wasserversorgung zu privatisieren. Ob das ein Königsweg ist, wage ich zu bezweifeln. Die Erfahrungen vieler NGOs, die sich in diesem Bereich engagieren, zeigen, dass es nicht entscheidend ist, ob die Wasserversorger staatlich oder privat sind. Vielmehr ist entscheidend, ob sie einer staatlichen Aufsicht unterliegen und effizient arbeiten. Die Erfahrungen zeigen aber auch - um das nur einmal am Rande zu sagen -, dass die privaten Einrichtungen nicht immer effizienter sind als staatlich organisierte. Es besteht auch die Gefahr - das ist einer der Gründe, weshalb wir diesem Thema kritisch gegenüberstehen -, dass menschenrechtliche Verpflichtungen hinter privatem Gewinnstreben zurückstehen würden. Wir als Sozialdemokraten lehnen die Privatisierung der Wasserversorgung allerdings nicht grundsätzlich ab. Wir definieren aber in unserem Antrag ziemlich genau, welche Verpflichtungen Private bei der Versorgung der Bevölkerung erfüllen müssen. Wir wollen sicherstellen, dass die menschenrechtlichen Verpflichtungen tatsächlich eingehalten werden. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitärer Versorgung muss - das ist unabdingbar - diskriminierungsfrei gewährt werden. Er muss für alle Bürger eines Landes bezahlbar und zugänglich sein; er muss für alle Gruppen, auch für kleine Minderheiten, jederzeit verfügbar sein. Die Ausgangslage - meine Vorrednerin, Kollegin Schuster, hat darauf hingewiesen - ist zurzeit nicht schlecht: Der UN-Sozialpakt weist einen erfreulich hohen Ratifizierungsstand auf. Der Prozess der Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls über ein Individualbeschwerdeverfahren ist mittlerweile gut vorangekommen. Hier würden wir uns wünschen, dass auch die Bundesregierung endlich diesen Schritt tut, um allen Menschen dieses Individualrecht zu eröffnen, vor allen Dingen aber, um anderen Staaten ein gutes Beispiel zu geben. ({0}) Wir sehen die Frage eines weiteren Zusatzprotokolls ähnlich wie meine Vorrednerin: Auch wir meinen, dass es sinnvoller wäre, einen allgemeinen Kommentar zu verfassen, der die besten Beispiele für die Entwicklung des Rechts auf Wasser und Sanitärversorgung sammelt, um daraus möglichst konkrete Pflichten der Staaten abzuleiten und diese möglichst genau zu definieren. Ein neues Verfahren der Erstellung und Ratifizierung eines Zusatzprotokolls würde nach unserer Auffassung zu einer weiteren Verzögerung führen. Deshalb sollte dies nicht vorangetrieben werden. Erst wenn befriedigende Lösungen in der Frage der sanitären Versorgung gefunden sind und der Teufelskreis von verunreinigtem Wasser, Krankheiten und erneuter Wasserbelastung durchschlagen wird, haben die Menschen eine sichere Zukunft. Wir fordern von der Bundesregierung, die Möglichkeiten als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu nutzen und die begonnene Politik, die übrigens schon von mehreren Regierungen verfolgt worden ist - auch unter der spanischen EU-Ratspräsidentschaft -, fortzusetzen und zu verstärken, also sicherzustellen, dass das Recht auf Wasser und sanitäre Versorgung durchgesetzt wird und sich viele Staaten anschließen. Ich persönlich freue mich sehr darüber, dass wir uns in dem Ziel sehr einig sind. Vielleicht gelingt es uns, bei Gelegenheit zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen; denn ich meine schon - Kollege Heinrich, Sie werden sicherlich gleich darauf eingehen -, dass sich bei dieser Frage eine ganze Menge entwickelt hat. Vielleicht gelingt es uns, erst einmal gemeinsam das Ziel zu formulieren, die richtigen und schnellen Wege zu gehen. Dann werden wir bei dieser Frage weltweit Erfolg haben; Deutschland kann hier ein gutes Beispiel abgeben. Herzlichen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier von einer Problematik, die uns selber selten zum Problem geworden ist. Dafür können wir aus unserer Perspektive dankbar sein. Heute geht es um das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser. Wasserknappheit und Unterversorgung mit sauberem Trinkwasser haben verschiedene Ursachen. Eine Ursache ist: Der weltweite Wasserverbrauch stieg in den letzten Jahrzehnten unter anderem wegen des Bevölkerungswachstums an. Nach Zahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung werden wir in diesem Jahr die Weltbevölkerungszahl von 7 Milliarden übertreffen. Hinzu kommen Verstädterung und ein hoher Lebensstandard; das schlägt auf unserer Seite zu Buche. Eine weitere Ursache ist: Der Klimawandel und geografische Ereignisse verursachen in verschiedenen Regionen unserer Welt niedrige und sinkende Niederschlagsmengen. Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung kann dem Spagat entgegenwirken, der sich daraus ergibt. Deshalb ist diese Debatte sehr gut. Herr Meßmer, ich gebe Ihnen recht, dass wir da eine sehr große Schnittmenge haben. Das macht mich hoffnungsvoll, dass wir tatsächlich an einer Stelle landen, an der wir bei diesem Thema wirklich etwas bewegen können. Ich will aber nicht sagen, dass wir nicht schon jetzt etwas bewegen können; ich werde gleich darauf zu sprechen kommen. Das Wasser spielt - das habe ich bei vielen Auseinandersetzungen und Gesprächen immer wieder gehört nicht nur buchstäblich eine lebenswichtige Rolle; hinzu kommt, dass Wasser in vielen Kulturen, in den Religionen, in Ritualen eine hohe Bedeutung hat. Es ist eine große Metapher im Christentum, und es gibt Waschungen im Judentum und im Islam. Es geht dabei im übertragenen wie im direkten Sinne um ein Lebenselixier: das Wasser. Die Oase in den Bereichen unserer Welt, wo es nur wenig Wasser gibt, ist nicht nur der Punkt, wo man tatsächlich Wasser bekommt, sondern auch der Punkt, wo Begegnungen stattfinden; das ist weit mehr als Wasser. Ich möchte auf drei Punkte eingehen. Erstens: Wasser als Menschenrecht; das ist auch die Formulierung des heutigen Antrags. Zweitens: Wasser als ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit; dazu möchte ich ein paar Zahlen nennen. Drittens: Wasser und konkrete Projekte und das, was möglicherweise auch wir - und zwar nicht nur wir als Abgeordnete, sondern auch wir als Bürger und Käufer - mit bewegen können. Erstens: Wasser als Menschenrecht. Frau Schuster hat angesprochen, dass wir im letzten Jahr in den Vereinten Nationen die allgemeine Erklärung aufgenommen haben, dass reines Wasser jetzt Menschenrecht genannt wird. 1,1 Milliarden Menschen - 18 Prozent der Weltbevölkerung - haben laut offizieller UN-Statistik keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Trinkwasser; das wären circa 70 bis 80 von uns 600 Abgeordneten. 2,6 Milliarden Menschen - 42 Prozent der Weltbevölkerung - haben keinen Zugang zu sanitärer Versorgung; das wären schon 250 von uns. 90 Prozent - ich glaube, Sie haben die Zahl eben schon genannt - aller tödlichen Durchfallerkrankungen sind auf verunreinigtes Trinkwasser, fehlende Sanitärversorgung bzw. mangelnde Hygiene zurückzuführen. Durch schmutziges Wasser sterben mehr Menschen - ich glaube, Sie haben das gerade schon gesagt, Herr Meßmer - als an AIDS, Malaria und Masern zusammen. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben täglich 5 000 Kinder daran; das ist ungefähr alle zwanzig Sekunden eines. Es ist die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersgruppe. In Ländern mit Wasserknappheit hängt der Zugang zu Wasser von verschiedensten Faktoren ab. Erstens: Ist es verfügbar? Ist irgendwo ein Brunnen oder ein Gewässer? Zweitens: Sind Investitionen aus privater oder öffentlicher Hand vorhanden, damit das Wasser auch nutzbar wird? Drittens: Welche Belastungen kommen insbesondere auf Frauen zu, die in der Regel viel Zeit damit verbringen, zum Wasser zu gehen und es zu holen? Viertens: Welche Preise müssen die Haushalte bezahlen? Was muss dafür aufgebracht werden? Fünftens: Welche verfügbaren Wasserquellen, die der Trinkwasserversorgung dienen könnten, werden durch andere Nutzungszwecke blockiert? Ein erstes Fazit: Das Menschenrecht auf Wasser ist ein Instrument, mit dem Regierungen an ihre menschenrechtliche Verantwortung erinnert und zur Rechenschaft gezogen werden können. Wir wollen Regierungen damit herausfordern, und das tun wir auch. Ich bin dankbar, dass unsere Regierung das immer wieder tut, dass auch bei knappen Ressourcen die Mittel prioritär für besonders benachteiligte Gruppen eingesetzt werden. Das Recht auf Wasser ist ein besonders für arme Gruppen wichtiges Instrument. Das internationale Recht stärkt insbesondere das Selbstbewusstsein derer, die in einem vielleicht nicht hinreichend funktionierenden Rechtsstaat leben. Bei den verschiedenen Anträgen, die uns vorliegen, gibt es sehr viele Unterschiede, aber lange nicht so viele Unterschiede wie Gemeinsamkeiten. Das haben Sie vorhin richtig bestätigt. Es ist sehr gut, dass wir, grob gesehen, schon in eine Richtung unterwegs sind, und zwar sowohl was den Inhalt der Anträge als auch was den Austausch in unseren Ausschüssen angeht. Das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser leitet sich aus Art. 11 und 12 des UN-Sozialpakts sowie aus dem Allgemeinen Kommentar Nr. 15 des Sozialpaktausschusses ab. Daraus lässt sich auch das Menschenrecht auf sanitäre Grundversorgung ableiten. Mit der Verabschiedung der genannten Resolution Mitte letzten Jahres wurde kein neues Menschrecht geschaffen. Vielmehr erkennt die Generalversammlung damit ausdrücklich an, dass ein Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Wasser und angemessenen sanitären Einrichtungen bereits existiert. Zu dem Antrag von Ihnen, liebe Kollegen von der SPD, in dem gefordert wird, die UN-Sonderbeauftragte Catarina de Albuquerque nachdrücklich zu unterstützen, ist Folgendes zu sagen: Die Bundesregierung betont genau das. Auch in unserem Antrag gehen wir darauf ein. Im Rahmen der Berichterstattung hat sie deutlich gemacht, dass ihr das besonders wichtig ist. Schon bei ihrer Installierung, aber auch im Hinblick auf ihre mögliche Weiterbeschäftigung, zu der es hoffentlich kommen wird, wurde der entsprechende Wille gezeigt. Da sind wir uns einig. Zur Forderung Ihres Antrags hinsichtlich der Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls. Hier sind wir, wie Sie treffend gesagt haben, auf die laufenden Ressortabstimmungen, die noch nicht abgeschlossen sind, angewiesen. An dieser Stelle sollten wir deswegen keinen besonders großen Druck machen. Hier ist keine Eile geboten. Ich hoffe, dass dabei ein gutes Ergebnis herauskommt. Weiterhin zu Ihrem Antrag. Dieses Thema wird meines Erachtens - Sie wissen das; das habe ich auch in meiner Stellungnahme im Ausschuss deutlich gemacht unzulässigerweise mit dem Individualbeschwerdeverfahren verknüpft. Dadurch könnte es zu einer Instrumentalisierung kommen, die ich Ihnen zwar nicht direkt unterstellen will, die aber zumindest möglich ist, auch wenn die Zielrichtung natürlich absolut legitim ist und ich sie mittragen kann. Zweiter Punkt. Das Thema Wasser ist ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Wenn man zurückschaut, kann man auch ein bisschen stolz darauf sein, was in und von unserem Land beim Thema Wasser schon geleistet wurde. Die GIZ sagt, dass heute 1,6 Milliarden mehr Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben als noch vor 20 Jahren. Damit sich diese positive Entwicklung fortsetzt, engagiert sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit lokal, national und international. Ich will die Unterschiede kurz benennen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit engagiert sich lokal, damit Finanzierungen zur Unterstützung konkreter Projekte vor Ort möglich werden und damit die Bevölkerung mit Trinkwasser und Toiletten versorgt werden kann, sie engagiert sich national in beratenden Institutionen, um die Wasserpolitik in Partnerländern zu verbessern, und sie engagiert sich international - dieses Engagement kann in der Zukunft sogar noch stärker werden - bei der Klärung globaler Fragen, die zum Beispiel durch den Klimawandel ausgelöst wurden oder Handelsfragen betreffen. Schließlich sagen viele, es könnte auch zu Kriegen ums Wasser kommen. Das ist nicht nur eine Zukunftsvision. Letztes Jahr wurde dieses Konfliktpotenzial zum Beispiel in Nordkenia sehr deutlich, als sich Nomaden und Bauern handfeste Auseinandersetzungen geliefert haben. Die deutschen Akteure engagieren sich schon seit Jahrzehnten im Bereich der Trinkwasser- und Sanitärversorgung. Heute gibt es auf diesem Gebiet allerdings noch mehr bedeutende Herausforderungen. Für den Schutz, die effektive Nutzung von Wasserressourcen und die Abwasserreinigung müssen Versorger, private oder öffentliche, Behörden, aber auch die Bürger sensibilisiert werden. Wer sich, wie die Mitglieder unseres Ausschusses, im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit engagiert, der weiß, dass das vor Ort in den Köpfen der Nutzer von Wasser in vielen Ländern noch lange nicht präsent ist. Das BMZ ist im Wassersektor mit 350 Millionen Euro in 28 Schwerpunktländern engagiert. Damit ist Deutschland der zweitgrößte bilaterale Geldgeber in diesem Sektor, in diesem Fall nach Japan. Was die Millenniumsentwicklungsziele betrifft, muss ich sagen: Auch wenn es beim siebten Ziel konkret um Wasser geht, sind auch alle anderen Ziele direkt mit diesem Thema verknüpft. Auch das Ziel der Senkung der Kindersterblichkeit, das fünfte Ziel, die Senkung der Müttersterblichkeit, und die Förderung der Grundschulbildung, all dies hat direkt mit dem Zugang zu gesundem, sauberem Wasser zu tun. Deshalb spielt es eine wichtige Rolle, sich für die Einhaltung unserer Versprechen einzusetzen. Initiativen wie die vor kurzem vorgestellte Micha-Initiative sollten unsere Unterstützung erfahren. Sie, Frau Schuster, haben die Initiative „WASH United“ erwähnt, die bei der Fußball-WM eine Rolle spielte und die, wie ich glaube, auch bei der Cricket-WM in Pakistan eine große Rolle spielen soll. Sie hat einen großen Unterschied gemacht. Wenn man Menschen auf diese Initiative im letzten Jahr anspricht, dann ist dieses Thema auf einmal präsent. Wichtig ist aber auch, was die Bürger und Bürgerinnen tun können. Damit bin ich beim dritten Punkt: bei konkreten Projekten, bei denen wir als Abgeordnete, aber auch als Bürger und Käufer ins Spiel kommen. Es geht darum, im Rahmen von Bürgerinitiativen Verletzungen des Rechts auf Wasser zu dokumentieren, sei es, wenn bei uns Wasser verschwendet wird, sei es, dass man auf Reisen darauf hinweist und die Untätigkeit von Regierungen dokumentiert. Für uns Verbraucher bedeutet dies, dass wir mit der Ressource Wasser verantwortungsvoll umgehen. Dabei weiß ich natürlich, dass die Hauptverbraucher von Wasser nicht die privaten Haushalte sind. Wir müssen aber auch als Käufer und Kunden bei unseren Einkäufen aufmerksam sein. In dem Zusammenhang möchte ich ein Stichwort nennen, das ich selbst in der Auseinandersetzung mit diesem Thema gelernt habe, nämlich das Stichwort „virtuelles Wasser“. In den letzten Jahren sind wir immer wieder auf den Carbon Footprint, also den Kohlenstofffußabdruck, hingewiesen worden. Dieser besagt, dass wir durch unser Nutzerverhalten, beispielsweise bei Flugreisen, einen Fußabdruck hinterlassen. Dadurch wird der negative Einfluss, den jeder von uns auf die Umwelt hat, dokumentiert. Stichwort: virtuelles Wasser. Damit ist die unsichtbare Wasserlast in Lebensmitteln und Industriegütern gemeint; der World Wildlife Fund hat das wie folgt definiert: Man versteht darunter die Menge an sauberem Frischwasser, die zur Herstellung eines bestimmten Produkts verwendet wurde, das dafür verbraucht, verdunstet oder verschmutzt wurde. Hierzu möchte ich einige Beispiele nennen. Die für 0,2 Liter Orangensaft aufgewendete Wasserlast beträgt 170 Liter. Die Menge virtuellen Wassers, die für die Produktion eines T-Shirts aufgewendet wird - denken Sie nur an die Bewässerung der Baumwolle -, beträgt circa 4 000 Liter, und bei einem einfachen Hamburger sind es 2 400 Liter Wasser. Es lohnt sich also, auf sein Kaufverhalten zu achten. Es lohnt sich auch, regional einzukaufen. Langfristig sollte es unser zentrales Ziel sein, den sparsameren Umgang mit Wasser zu erlernen und zu lehren. Das muss für den alltäglichen Wassergebrauch und auch in Bezug auf den Import von Lebensmitteln gelten. ({0}) Ich persönlich habe einen starken Fokus auf das Thema Afrika; das kann auf verschiedene Initiativen übertragen werden. Vor kurzem hatten wir einen runden Tisch zum Thema Wasserknappheit, bei dem Botschafter aus den verschiedensten Ländern mit uns zusammensa- ßen. Viele afrikanische Länder sind diesbezüglich noch nicht untereinander vernetzt. Es wurde von einem sehr positiven Beispiel berichtet, in dem Fall aus Marokko, wo innerhalb der letzten 15 Jahre durch Partizipation der Bevölkerung der Zugang zum Trinkwasser von 13 Pro- zent auf 88 Prozent gesteigert wurde. Jetzt gilt es, solche Ergebnisse zu multiplizieren. Wir reden hier von einer Nord-Süd-Süd-Kooperation. Davon können andere profitieren. Momentan beginnen wir da- mit auf unserer nördlichen Seite. In meinem Wahlkreis in Chemnitz haben wir einen runden Tisch ins Leben ge- rufen. Verschiedene Firmen kamen aufgrund dieser Ini- tiative auf uns zu und sagten: Wir verfügen über Know- how auf diesem Feld, sei es logistisch, sei es im Klima- bereich, sei es in der Verwaltung oder bei den unter- schiedlichsten Themen. Hier gilt es, eine Sensibilisie- rung zu erreichen, Ressourcen zu bündeln und mit dem Gegenüber ins Gespräch zu kommen. Das Know-how- Wachstum kann auf der einen Seite in den Bereichen Technik oder Wissenschaft möglicherweise Arbeits- plätze schaffen, auf der anderen Seite kann es, beispiels- weise in Afrika, Investitionen ermöglichen. Ich möchte zum Schluss kommen. Die Schnittmenge der Gemeinsamkeiten führt mich nicht nur dazu - die große Schnittmenge in den verschiedenen Anträgen möchte ich bei 95 Prozent ansetzen -, zu sagen: Weiter so! Sie macht auch nicht nur dankbar und stolz, dass von unserem Lande so viele Impulse ausgehen. Vielmehr möchte ich auch sagen: Wir dürfen an dieser Stelle nicht Halt machen. Das ist auch der Grund für den Antrag un- serer Fraktion. Genug ist es letztlich erst dann, wenn je- der wirklich Zugang zu Trinkwasser hat. Genug ist es erst dann, wenn niemand mehr aufgrund mangelnden Zugangs zu sauberem Wasser und sanitärer Versorgung sterben muss. Mögen Sie von der Regierung, mögen wir als Abgeordnete des Bundestages und als Bürger dieses Landes Vorbild sein für a) die Bewertung dieses Anlie- gens, b) die Kommunikation dieses Themas und c) die Nutzung dieses Lebenselixiers auf verantwortliche Weise. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bald ist wie jedes Jahr wieder Valentinstag. Abertausende Rosen werden wieder an die Liebsten verschenkt werden. Kenia ist das Land, aus dem zwei Drittel der in Deutschland jährlich verkauften Rosen herkommen. Gerade zurzeit, kurz vor dem Valentinstag, blühen dort die Rosen besonders intensiv, und auf den Blumenfarmen herrscht Schichtbetrieb. Was hat das mit dem heutigen Thema, dem Menschenrecht auf Wasser, zu tun? Viel, ganz viel; denn in Kenia herrscht das ganze Jahr über Wasserarmut. 40 Prozent der Kenianer haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Dies muss man wissen, und man muss auch wissen, dass 5 Liter Wasser nötig sind, um eine einzige Rose zu produzieren. Das ist eine Schande! ({0}) Sicherlich ist Kenia nur eines von vielen Beispielen für die Verletzung des Menschenrechts auf Wasser, aber es ist besonders dramatisch, da genügend Wasserquellen vorhanden sind, um alle Kenianer mit sauberem Trinkwasser zu versorgen. Doch das Wasser wird an den Menschen vorbei auf die Blumenfarmen umgeleitet oder dort, wo es noch vorhanden ist, durch die Abwässer aus den europäischen Blumenplantagen verunreinigt. Damit hier also schöne Rosen verkauft werden können, wird dort den Menschen das Wasser weggenommen und verdreckt. Das sind unhaltbare Zustände. ({1}) Weltweit leiden heute 884 Millionen Menschen unter mangelndem Zugang zu sicherem Trinkwasser. 2,6 Milliarden Menschen sind nicht mit grundlegenden Hygieneeinrichtungen, wie einer Toilette, versorgt. Opfer von Wasserverunreinigungen sind vor allem Kinder unter fünf Jahren. Bei ihnen sind Durchfallerkrankungen weltweit die zweithäufigste Todesursache. Diese Kinder würden noch leben, hätten sie Zugang zu sauberem Wasser und einer Sanitärversorgung. Doch während in Kenia mit dem sauberen Trinkwasser die Blumenfarmen bewässert werden, trinken die Kinder in den Slums aus Pfützen. Sie schöpfen Wasser aus Teichen, in denen sie sich auch waschen, aus denen Tiere trinken und die mit Chemikalien verseucht sind. Wir wären wochenlang krank, würden wir nur einen einzigen Schluck von diesem Wasser trinken. In den Ländern des Südens ist selbst dieses schmutzige Nass kostbar. Für diese katastrophale Situation sind die Blumenfarmen und damit auch deutsche Unternehmen verantwortlich. Sie müssen endlich zur Rechenschaft gezogen werden. ({2}) Die Annahme der UN-Resolution im letzten Jahr, mit welcher das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung festgeschrieben wird, ist ohne Frage zu begrüßen. Bei dieser Resolution darf es angesichts der Zustände wie in Kenia aber nicht bleiben. Wir brauchen die völkerrechtliche Verbindlichkeit dieses Rechts, damit das Recht auf Wasser so umgesetzt wird, dass es einklagbar und nicht nur ein Papiertiger, sondern eine reale Verbesserung ist. ({3}) Dazu muss Deutschland endlich das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt ratifizieren, mit dem die Rechte zum Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Lebensbereiche und damit auch das Recht auf Trinkwasser einklagbar gemacht werden. ({4}) Die Bundesregierung widersetzt sich der Ratifizierung aber. Daher ist der Koalitionsantrag leider nur ein Lippenbekenntnis. Dabei ist diese Forderung gerade vor dem Hintergrund des zunehmenden Handels mit Wasser besonders dringlich. Der Wassersektor ist ein gigantischer Markt, auf den immer mehr private Unternehmen drängen. Das ist eine Tatsache, die Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, aber auch von der SPD, in Ihren Anträgen sogar unterstützen. Töchter großer internationaler Konzerne, wie zum Beispiel der deutschen RWE, haben bereits die Wasserversorgung zahlreicher Städte in den Entwicklungsländern übernommen. Beim Kauf der Wassernetze versprechen sie hohe Investitionen, die sie jedoch oft nicht tätigen. Stattdessen erhöhen sie die Wasserpreise um ein Vielfaches und erschweren so der armen Bevölkerung den Zugang zu sauberem Wasser. Wasser ist ein grundlegendes Gut. Die Erfahrungen mit dem privatwirtschaftlichen Engagement im Wassersektor sind durchweg erschreckend. Daher muss eine Privatisierung der Wasserversorgung generell abgelehnt werden, und die bestehenden Verträge müssen zurückgenommen werden; ({5}) denn Unternehmen wie Nestlé und Coca-Cola haben sich mittlerweile die Nutzungsrechte an Trinkwasserressourcen gesichert und verkaufen Wasser in Flaschen bis zu 40-mal teurer als Leitungswasser. Diese Privatisierungspolitik ist eine Katastrophe. Internationalen Konzernen und lokalen Eliten wird es dadurch ermöglicht, die Wasserversorgung zu Profitzwecken zu drosseln. Daher steht fest: Das Menschenrecht auf Wasser kann und wird nicht durch private Investoren durchgesetzt werden. ({6}) Die einzelnen Staaten und die internationale Gemeinschaft müssen gewährleisten, dass jeder Mensch mit Wasser versorgt wird. Der Zugang zu Wasser muss deshalb auch in diesem Hause mehr Priorität erhalten. Nicht zuletzt deshalb werden wir dem Antrag der Grünen zustimmen. Die Erklärung des Rechts auf Wasser hat einen hohen symbolischen Wert. Die Anstrengungen zu einer weiteren Verbesserung müssen jedoch noch verstärkt werden. Denn Wasser ist kein Privileg; es ist auch keine Ware. Es ist ein Menschenrecht. Danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Tom Koenigs das Wort.

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über das Menschenrecht auf Wasser im Allgemeinen besteht offensichtlich Konsens. Damit dies auch im Konkreten erreicht wird, muss es normiert werden. Deshalb ist mit der Resolution der UN-Generalversammlung und der Resolution des UN-Menschenrechtsrates vom vergangenen Jahr ein großer Fortschritt erzielt worden, der auch von Ihnen, Frau Schuster, Herr Heinrich und Herr Meßmer, angesprochen wurde. Einen Fortschritt sehe ich auch darin, dass zum ersten Mal das Recht auf Sanitärversorgung explizit als Menschenrecht anerkannt wird. Das hat die internationale Staatengemeinschaft bisher noch nicht getan. Es reicht aber noch nicht aus, dieses Recht im Allgemeinen und an sich anzuerkennen; es fehlt noch die eindeutige Klärung, welche Inhalte dieses Recht umfasst und welche menschenrechtlichen Pflichten sich hieraus für die verschiedenen Akteure ergeben. Genau diese Aufgabe erfüllt üblicherweise der General Comment, der Allgemeine Kommentar, der vom UNSozialpakt-Ausschuss zu den einzelnen Rechten des Sozialpaktes erstellt wird, so auch zum Menschenrecht auf Trinkwasser. Das ist der Allgemeine Kommentar Nr. 15, der schon seit dem Jahr 2002 existiert. Dieser Kommentar hat wesentlich zur Konkretisierung des Menschenrechts auf Wasser beigetragen und ist eine wichtige Orientierungshilfe bei dessen Umsetzung, wie es zum Beispiel Herr Heinrich eben zu den verschiedenen Bereichen geschildert hat. SPD und Grüne sind sich einig, dass ein Allgemeiner Kommentar auch für das Menschenrecht auf Sanitärversorgung hilfreich wäre. ({0}) Der Antrag der Regierungsfraktionen ist zwar in allen Punkten richtig, aber dieser Punkt fehlt. Wir werden dem Antrag der Regierungsfraktionen zwar zustimmen, haben aber deshalb selber einen weiter gehenden Antrag vorgelegt. Ich will noch einmal erklären, warum der Allgemeine Kommentar zur Sanitärversorgung, zu dem zwischen SPD und Grünen Konsens besteht, sehr wichtig ist. Dafür gibt es fünf Gründe. Er ist erstens wichtig, damit die Staaten ihre rechtlichen Pflichten kennen. Denn erst dann können sie diese in nationale Gesetzgebungen umsetzen. Zweitens, damit kontrolliert werden kann, ob Staaten ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen einhalten. Drittens, damit Einzelpersonen ihre Rechte im Bereich der Sanitärversorgung kennen. Denn erst dann können sie zum Beispiel ihr Recht auf erschwingliche und menschenwürdige sanitäre Anlagen einklagen. In diesem Zusammenhang spielt das erwähnte Zusatzprotokoll zum Sozialpakt eine wesentliche Rolle. Wir hoffen, dass die Bundesregierung nicht bis zum Sankt-Nimmer9786 leins-Tag prüft und prüft, wie sie das bisher sehr lange gemacht hat, sondern endlich entscheidet. Er ist viertens wichtig, damit ein diskriminierungsfreier Zugang zu sanitären Anlagen sichergestellt wird. Fünftens trägt er dazu bei, dass Sanitärversorgung in unmittelbarer Nähe von Haushalten, öffentlichen Institutionen und Schulen zur Verfügung steht und zum Beispiel Kinder nicht mehr weite Strecken zu sanitären Anlagen zurücklegen müssen und ihren Unterricht verpassen. All dem dient ein Allgemeiner Kommentar, der allerdings nicht von heute auf morgen zustande kommt. Er wird vom UN-Sozialpakt-Ausschuss verfasst. Das ist ein unabhängiges internationales Fachgremium, das aber bisher noch keinen offiziellen General Comment zur Sanitärversorgung, sondern nur ein Statement verfasst hat. Das Gremium ist unabhängig. Trotzdem kann die Bundesregierung etwas dazu beitragen, indem sie dem Sozialausschuss systematisch über die Umsetzung des Rechtes berichtet. So kann der Ausschuss Beispiele von Best Practices sammeln und daraus menschenrechtliche Pflichten ableiten. Im letzten deutschen Staatenbericht von 2008 kam das Recht auf Sanitärversorgung leider gar nicht vor. Außerdem: Deutschland kann im Rahmen des allgemeinen periodischen Überprüfungsverfahrens bei den Berichten der anderen Staaten zum Menschenrecht auf Wasser und zur Sanitärversorgung immer wieder Nachfragen stellen und dieses zur Diskussion stellen. Schließlich kann Deutschland das Thema Sanitärversorgung immer wieder auf die Tagesordnung des Menschenrechtsausschusses setzen. Das alles dient zur weiteren Formalisierung des Rechts. Ich glaube, ohne einen allgemeinen Kommentar als eine Art Gebrauchsanleitung für das Menschenrecht auf Sanitärversorgung kommen wir bei der Umsetzung dieses Rechts nicht voran. Deshalb bitte ich Sie gerade dabei um Unterstützung. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschenrechtspolitik ist mehr als der Appell an Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit. Menschenrechtspolitik kann sehr konkret werden. Der Einsatz für Menschenrechte und auch für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung kann sehr konkret werden. Ich möchte das am Ende dieser Debatte, in der sich im Grundsatz alle Fraktionen dazu bekannt haben, dass das Menschenrecht auf Trinkwasser und Sanitärversorgung durchgesetzt werden muss, an einem konkreten Beispiel deutlich machen. Ich war gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen zusammen mit dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, in Südamerika. Nun ist Südamerika nicht unbedingt der Kontinent, den man als Erstes mit Wassermangel in Verbindung bringt. Aber tatsächlich ist es so, dass 20 Prozent der Peruanerinnen und Peruaner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. In den Städten, in denen es Wasserleitungen und eine Wasserversorgung gibt, gehen bis zu 60 Prozent des sauberen Trinkwassers durch löchrige Leitungen verloren. Wir haben uns gemeinsam mit dem Bundesminister dort ein Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit angeschaut. Dort hat die Bundesregierung zwei Partner zusammengebracht, einerseits einen Wasserversorger vor Ort in Tarapoto, andererseits ein kleines, innovatives deutsches Familienunternehmen, das Geräte herstellt, die Lecks durch die geschlossene Straßendecke aufspüren können; dann kann die Straßendecke aufgebrochen werden, und die Lecks können repariert werden. Das ist ein konkretes Beispiel deutscher Entwicklungszusammenarbeit, die Partner auf Augenhöhe zusammenbringt, um ein Menschenrecht wie das Menschenrecht auf Trinkwasser zu verwirklichen. ({0}) Binnen kurzer Zeit konnte tatsächlich der Wasserverlust reduziert werden. 85 Lecks wurden bis heute schon gefunden, und der Wasserversorger konnte seine Einnahmen stabilisieren, um weitere Investitionen in das Wasserversorgungsnetz zu tätigen. Somit ist die Abwärtsspirale gestoppt und eine Aufwärtsspirale in Gang gesetzt worden. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir als Menschenrechtspolitiker den Appell an Gesprächspartner in der Welt richten. Es ist wichtig, dass wir Dialoge führen. Es ist auch wichtig, dass wir unter Umständen zu menschenrechtspolitisch motivierten Sanktionen greifen. Es ist aber auch wichtig, dass wir an solchen Beispielen lernen, wie Menschenrechte tatsächlich konkret umgesetzt werden. Das war ein kleines Beispiel, das zeigt, wie wir zusätzliche Potenziale heben können, nämlich indem wir die Neugierde und Innovationskraft kleiner Unternehmen aus Deutschland nutzbar machen, wenn wir sie motivieren, sich in der Welt zu engagieren. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir einige der wenigen Gelegenheiten haben, im Bundestag einmal über Wasser zu reden; denn das ist ein Thema, das für viele in Deutschland selbstverOliver Kaczmarek ständlich ist, weil es hier überall Wasser gibt, in höchster Qualität und zu bezahlbaren Preisen. Aber Wasser ist nicht nur eine lebensnotwendige Ressource, sondern auch eine hochsensible. Ich möchte mich als letzter Redner in dieser Debatte bemühen, einen weiteren Aspekt hinzuzufügen; denn die Ressource Wasser gerät weltweit unter großen Druck. Die Auswirkungen des Klimawandels belasten den Wasserhaushalt und die Verfügbarkeit von Wasser zusätzlich. Wir haben anhaltende Trockenperioden und saisonal schwankende Niederschläge, die sich auf das Süßwasserdargebot erheblich auswirken werden. Abschmelzende Gletscher beeinflussen den Wasserstand der Flüsse. Allein in den Gletschern Zentralasiens lagert Wasser, das Flüsse speist, die rund 2 Milliarden Menschen und zahlreiche Ökosysteme versorgen. Durch das Ansteigen des Meeresspiegels ergibt sich das Problem, dass ganze Landstriche unter Wasser gesetzt werden und Salz in Süßwasservorräte gerät. Diese klimatisch bedingten Zuspitzungen betreffen häufig Länder, die ohnehin schon durch die demografische Entwicklung und die fortschreitende Urbanisierung unter erhöhtem ökologischen Druck stehen. Wenn wir also über das Menschenrecht auf Trinkwasser und sanitäre Versorgung sprechen, dann müssen wir auch über die ökologischen Herausforderungen reden; denn Wasser steht an der zentralen Stelle unserer Ökosysteme. Wir brauchen deshalb meiner Überzeugung nach ein integriertes Verständnis einer Politik für Wasser; denn das Menschenrecht auf Wasser ist eine entwicklungspolitische und humanitäre, aber auch eine ökologische und umweltpolitische Herausforderung, der wir uns ganzheitlich stellen müssen. Ich möchte drei Anmerkungen zu einer integrierten Politik für das Recht auf Trinkwasser und sanitäre Versorgung machen. Erstens - das zu sagen, ist fast banal -: Politik für Wasser kann man nur international machen. Oberflächengewässer und Grundwasserspeicher halten sich nicht an nationale Grenzen. Wasser kann nur einmal verteilt werden, und Wasser kann nicht eingezäunt werden. Das sehen wir nicht zuletzt bei den vermehrt auftretenden Hochwasserereignissen und ihren Folgen, die wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Deshalb ist eine international vereinbarte und zwischenstaatliche Politik unter dem Dach der Vereinten Nationen absolut notwendig. Ich sage das auch, weil Foren wie das Weltwasserforum und andere hilfreiche Beiträge liefern, aber eben nicht an die Stelle der politischen Mechanismen der Vereinten Nationen treten können. ({0}) Zweite Anmerkung. Wenn man international glaubwürdige Politik betreiben will, dann muss man das halten, was man einmal zugesagt und versprochen hat. Ich habe zu Anfang gesagt: Durch den Klimawandel kommen zusätzliche Anforderungen an die Bereitstellung von Trinkwasser und die sanitäre Versorgung auf ökologisch ohnehin schon belastete Regionen zu. Gerade das zeigt - das, was Herr Heinrich gerade zu der zusätzlichen Belastung ausgeführt hat, war sehr anerkennenswert -, dass die Bundesregierung falsch handelt, wenn sie ihre Zusagen aus dem Klimagipfel in Kopenhagen nicht einhält. Zur Erinnerung: Dort hatte Deutschland den Entwicklungsländern versprochen, von 2010 bis 2012 pro Jahr zusätzlich 420 Millionen Euro, also insgesamt mehr als 1,2 Milliarden Euro, bereitzustellen, um Anpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen zu finanzieren. Doch bereitgestellt hat die schwarz-gelbe Koalition lediglich 150 Millionen Euro, nicht pro Jahr, sondern insgesamt. 150 Millionen Euro statt 1,2 Milliarden Euro, die zugesagt waren - das ist beschämend, meine Damen und Herren. ({1}) Schlimmer noch: Mit diesem Buchhaltertrick ist das internationale Ansehen Deutschlands beschädigt worden; denn damit sind die Staaten getäuscht worden, die die Folgen eines Klimawandels bewältigen müssen, den nicht sie, sondern die Industriestaaten wesentlich verursacht haben. Das ist kein Umgang zwischen Staaten, der in Ordnung ist. Dritte und letzte Anmerkung. Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss. Das ist der erste Satz aus der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie. Dieser Satz beschreibt für uns, dass Wasser eben keine Ware ist und auch nicht so behandelt werden darf. Deshalb darf es aus unserer Sicht keine Fixierung auf die Privatisierung der Wasserwirtschaft geben. Stattdessen müssen wir dafür Sorge tragen, dass es einen staatlichen Rahmen gibt, der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, hohe Qualität von Wasser und akzeptable Wasserpreise garantiert, und zwar egal, in welcher Rechtsform die Wasserwirtschaft organisiert ist. Das Menschenrecht auf Trinkwasser und sanitäre Versorgung darf keine reine Deklaration sein, gerade für Deutschland nicht. Das ist ein politischer Auftrag; denn jeder Mensch bekommt damit das Recht auf Trinkwasser, egal wo er lebt. Ich sehe für uns an einigen Stellen noch Handlungsbedarf. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/4526. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/2332 mit dem Titel „Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen - Versorgung weltweit verbessern“. Wer stimmt für diese Be9788 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3652 mit dem Titel „Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wir sind uns hier im Sitzungsvorstand über das Ergebnis der Abstimmung nicht einig. ({0}) Das heißt, ich kann Ihnen ein bisschen Gymnastik nicht ersparen und muss Sie um Geduld bitten. Wir werden auszählen, um das Ergebnis deutlich feststellen zu können. Ich bitte Sie, dafür den Saal zu verlassen, bis ich Sie wieder hereinbitte. Haben nun alle Kolleginnen und Kollegen den Saal verlassen? - Das ist der Fall. Sind an jeder der Eingangstüren Schriftführer? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Darf ich nachfragen, ob noch Kolleginnen und Kollegen vor der Tür stehen? ({1}) Ich darf diese Kolleginnen und Kollegen bitten, in den Plenarsaal zu kommen. Sind alle Kolleginnen und Kollegen, die vor der Tür standen, nun im Saal? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas Aufmerksamkeit. Es gibt aufgrund der Mitteilungen der Schriftführer eine Unklarheit; denn auf zwei Zetteln sind Jastimmen mit jeweils unterschiedlichem Ergebnis notiert. Ich bitte Sie deshalb um Verständnis, dass ich die Schriftführer, die an den Türen standen, jetzt bitte, kurz zu mir zu kommen; denn ohne Rücksprache kann ich das Ergebnis nicht feststellen. Jetzt haben wir das aufgeklärt. Es hat sich herausgestellt, dass einer der Schriftführer auf dem Zettel „Jastimmen“ vermerkt hat, obwohl es die Neinstimmen waren. Das kann vorkommen. Ich gebe Ihnen nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstimmung bekannt: Für die Beschlussempfehlung haben 223 Abgeordnete gestimmt, gegen die Beschlussempfehlung 138; es gab 40 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit für eine weitere Abstimmung. - Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1779 mit dem Titel „Die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke sowie bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte folgen wollen, Platz zu nehmen. Diejenigen, die anderes zu tun haben, bitte ich, sich dieser Arbeit außerhalb des Plenarsaals zu widmen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung - Drucksachen 17/2218, 17/4332 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe Stunde zu diskutieren. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke das Wort. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre Gespräche vor dem Plenarsaal zu führen. Das gebietet der Respekt vor den Rednern. Wir wollen uns auf die Debatte konzentrieren. - Frau Kollegin, ich denke, dass es jetzt ruhig genug ist.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Praxisgebühr und Zuzahlungen müssen weg, ohne Wenn und Aber. Das fordert die Linke. ({0}) Dieses Erfordernis belegt auch die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage, die wir anlässlich des Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Jahr 2010 an die Bundesregierung stellten. Die Bundesregierung ist sich in etlichen Antworten mit uns einig, beispielsweise darüber, dass Menschen mit niedrigem Einkommen kränker sind als Menschen mit hohem Einkommen. Sie schreibt, dass für sozial Benachteiligte das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, an Diabetes mellitus oder Lungenkrebs zu erkranken, bis zu zweieinhalbmal höher ist. Die Bundesregierung ist sich mit uns einig, dass sozial benachteiligte Menschen stärkeren Gesundheitsbelastungen ausgesetzt sind durch den Arbeitsplatz, durch die Umwelt, durch die Wohnbedingungen und vieles andere. Dies alDr. Martina Bunge les führt dazu, dass Menschen mit niedrigem Sozialstatus im Durchschnitt bis zu zehn Jahre früher sterben als Menschen mit hohem Sozialstatus. Wenn Sie in Berlin beispielsweise vom reichen Zehlendorf in das ärmere Marzahn fahren, können Sie das abzählen: Von S-BahnStation zu S-Bahn-Station sterben die Menschen im Schnitt ein Jahr früher. Die Bundesregierung weiß das alles; aber sie tut nichts dagegen. Suchen Sie beispielsweise einmal ein Zitat von Minister Rösler, in dem er diesen Missstand benennt oder anprangert. Fehlanzeige! Ich habe gegoogelt. Der Minister verdankt es unserer Anfrage, dass er im Internet überhaupt im Zusammenhang mit sozialer Ungerechtigkeit auftaucht. Das ist allerdings nicht sehr schmeichelhaft. „Rösler lässt Armut kalt“, heißt es dort. Soziale Ungleichheit führt zu ungleicher Gesundheit. Um das umfassend zu ändern, müssen wir die Lebensbedingungen der Menschen ändern. Das kann die Gesundheitspolitik in der Tat nicht allein; aber sie kann ihren Teil dazu beitragen. ({1}) Das Mindeste ist doch wohl, dass unser Gesundheitssystem das Problem, dass unterschiedliche Gesundheitschancen bestehen, nicht noch verstärkt. Darin müssten wir doch übereinstimmen. ({2}) Dazu müssen alle Menschen den gleichen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Das steht auch im jüngsten Bericht der Weltgesundheitsorganisation - ich darf zitieren -: Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen auf die Gesundheit. Menschen im Moment der Inanspruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davor ab, Leistungen in Anspruch zu nehmen. Die WHO sagt, dass solche Zahlungen vor allen Dingen arme Menschen betreffen. Praxisgebühr und Zuzahlungen in Deutschland sind solche Zahlungen. Sie verstärken die Ungleichheit bei den Gesundheitschancen noch mehr. Das können wir doch wohl nicht wollen. ({3}) Praxisgebühr und Zuzahlungen sind allein von gesetzlich Versicherten zu zahlen und nicht von Privatversicherten, wenn ich von den Beihilfeberechtigten einmal absehe. Diejenigen, die zumeist sehr gut verdienen, brauchen also nichts zu zahlen. Das ist total ungerecht. ({4}) Praxisgebühr und Zuzahlungen wurden eingeführt, weil man die Anzahl angeblich unnötiger Arztbesuche verringern wollte. Aber keine Studie kann diesen positiven Effekt nachweisen. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass arme Menschen notwendige Arztbesuche verschieben. Die Bundesregierung weiß das; aber es bleibt dabei. Schließlich kommen 5 Milliarden Euro rein - von den Kranken allein. Was hat die Bundesregierung im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung getan? Mit den Zusatzbeiträgen als Kopfpauschale durch die Hintertür setzt sie bei der sozialen Ungerechtigkeit noch eins drauf. Sie haben zutiefst versagt. Sie haben nicht zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung gehandelt. Deshalb fordern wir Sie heute auf, wenigstens einen kleinen Schritt zu unternehmen und die Praxisgebühr und sämtliche Zuzahlungen sofort abzuschaffen. Eine Finanzierungsmöglichkeit haben wir aufgezeigt: die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze. Geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie zu! Danke. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Stefanie Vogelsang von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Vorbemerkungen in dieser Großen Anfrage der Linksfraktion anschaut und sich, Frau Dr. Bunge, Ihre Rede anhört, dann könnte man meinen, wir diskutierten hier über das Gesundheitssystem eines Entwicklungslandes und nicht über das der Bundesrepublik Deutschland, nicht über das Gesundheitssystem, um das uns die meisten Menschen dieser Welt beneiden. Wenn man sich dann etwas genauer mit Ihren Fragen beschäftigt, werte Frau Kollegin, stellt man fest, dass Sie fleißig waren: eine Große Anfrage, unterteilt in 209 Unterfragen. Allerdings sagt die Quantität noch lange nichts über die Qualität aus. ({0}) Ich habe mich etwas intensiver mit dem Inhalt Ihrer Fragen beschäftigt. Rund 140 Fragen sind Wissensabfragen. Nun könnte man die Hoffnung haben, dass Sie aus diesem gewonnenen Wissen etwas Produktives für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung entwickeln. Aber ich bin zugegebenermaßen skeptisch geblieben; denn über 60 Fragen dieser 209 Fragen ({1}) bedienen allein ideologische Positionen. ({2}) Ich war gespannt, was Sie mit diesem gewonnenen, für Sie neuen Wissen anfangen. Wird sich die Linke intensiv mit ihrem Erkenntnisgewinn auseinandersetzen? ({3}) Wird es hier und da einen an den Interessen der Menschen und nicht an ihrer Ideologie ausgerichteten Vorschlag geben? Gestern haben Sie dann die Katze aus dem Sack gelassen; gestern lag mir Ihr Entschließungsantrag zu dieser Großen Anfrage vor. Ich hätte lachen können, wenn es nicht so bitter gewesen wäre. Ihnen geht es wieder einmal nicht um eine ernsthafte Diskussion. Ihnen geht es wieder einmal nicht um das Wohl der Menschen. ({4}) Ihnen geht es wieder einmal nicht um die Zukunft unserer Gesundheitsversorgung. Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken - ich werde Ihnen das gleich dezidiert aufzeigen -, geht es wieder einmal nur um die Fortsetzung Ihrer Sozialneiddebatte und um billigen parteipolitischen Klamauk. ({5}) Sie fordern zum hundertsten Mal die Abschaffung der Praxisgebühr und die völlige Koppelung der Gesundheitskosten an den Faktor Arbeit. ({6}) Alle gesundheitlichen Belastungen der Menschen führen Sie darauf zurück, dass es Menschen mit mehr und Menschen mit weniger Einkommen gibt. Die Wurzel allen Übels ist aus Ihrer Sicht, dass die Politik der Bundesrepublik Deutschland davon ausgeht, dass derjenige, der arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet. ({7}) Letzten Freitag haben wir hier im Hause über Ihre Wege zum Kommunismus debattiert. Im Konsens aller Demokraten ist deutlich geworden, dass Sie mit diesem Weg hier alleine dastehen. In Ihren Fragen zur gesundheitlichen Situation in Deutschland vermeiden Sie zwar das Wort Kommunismus; aber in jeder dritten Frage unterstellen Sie den Weg der Gleichmacherei als den besseren. ({8}) In diesem Haus will außer Ihnen, meine Damen und Herren von den Linken, niemand zurück zu einem System, in dem einige gleicher sind als andere und in dem es den normalen Bürgern gleich geht, und zwar allen gleich schlecht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das System der Gleichmacherei jämmerlich und schändlich gescheitert ist. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, es gibt zwei Bitten um eine Zwischenfrage, und zwar von Frau Kollegin Vogler und von Frau Dr. Bunge.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Lassen Sie beide zu?

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Vogler, bitte.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Vogelsang, stimmen Sie mit mir darin überein, dass man soziale Ungleichheit nicht mit mehr sozialer Ungleichheit bzw. mehr sozialer Ungerechtigkeit bekämpfen kann? Ich verstehe Ihre Argumentation insofern überhaupt nicht, ({0}) als Sie uns unterstellen, wir wollten alle gleichmachen. In Wirklichkeit ist es diese Regierungskoalition, die für alle den gleichen Krankenkassenbeitrag und die gleichen Praxisgebühren erheben möchte, egal ob sie sich das leisten können oder nicht. ({1}) Wenn wir feststellen müssen - das hat die Bundesregierung getan -, dass das ärmste Zehntel der Bevölkerung durchschnittlich zehn Jahre eher stirbt als das reichste Zehntel der Bevölkerung, muss dann nicht unsere Schlussfolgerung sein, dass es darum geht, soziale Ungleichheiten bzw. soziale Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, um für alle eine bessere Gesundheit zu erwirken? ({2}) Es geht hier doch darum, die Auswirkungen dieser Situation so zu diskutieren, dass wir Wege finden, damit sich auch die Ärmsten der Bevölkerung guter Gesundheit und einer möglichst langen Lebenszeit erfreuen können. ({3})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich jetzt das Wort zur Antwort auf Ihre Frage habe, Frau Kollegin: Ich teile mit Ihnen die Überzeugung, dass sich der Staat um Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände gesundheitliche Defizite aufweisen, kümmern muss. Ich bin Bürgerin von Berlin. Ich weiß ganz genau, was es bedeutet, in einer Stadt zu leben, in der eine Gesundheitssenatorin von den Linken seit zehn Jahren Verantwortung trägt. Im Laufe meiner Rede werde ich darauf sehr dezidiert zurückkommen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun Frau Dr. Bunge.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Vogelsang, Sie haben uns vorgeworfen, in der Großen Anfrage eine übergroße Anzahl, ich nenne es jetzt einmal so, ideologischer Fragen gestellt zu haben. Sie meinten, wir wollten das hier nur ansprechen, um im Zusammenhang mit Armut den Mindestlohn als nächste Forderung zu bringen. Stimmen Sie mir zu bzw. was sagen Sie dazu, dass sich die Hartz-IV-Verhandlungen im Vermittlungsausschuss als ein zähes Ringen gestalten, um etwas Angemessenes zu finden? Haben wir tatsächlich ein Riesenproblem, oder stellen alle Länder lediglich ideologische Forderungen?

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir diskutieren hier über die gesundheitliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2010. ({0}) - Nein, Ihre Anfrage bezieht sich auf das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung sowie auf die Auswirkungen auf die Gesundheit. Das war das Jahr 2010, und in diesem Zusammenhang diskutieren wir heute Ihren Antrag. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass sich diejenigen, die in den Ländern, und diejenigen, die im Bund Verantwortung haben, einigen werden und dass wir mit den Hartz-IV-Reformen ein gutes Paket für die Menschen in der Bundesrepublik schnüren werden. ({1}) Unser Gesundheitssystem, meine Damen und Herren, ist bei allen Problemen, um deren Lösung wir hier selbstverständlich miteinander ringen müssen, immer noch ein System, um das wir weltweit beneidet werden. Zu einer flächendeckenden gesundheitlichen Versorgung kombiniert mit weltweit führender medizinischer Spitzentechnologie hat in Deutschland jeder - hören Sie gut zu - unabhängig vom sozialen Status jederzeit Zugang. ({2}) Im Ernstfall erhält bei uns jeder - egal ob er arm ist oder reich, ob er jung ist oder alt, ob er stark ist oder schwach - die bestmögliche medizinische Versorgung. Niemand fragt hier: Lohnt sich das bei dem noch? Das unterscheidet unser System von denen in vielen anderen Ländern. Darauf können wir stolz sein, und wir müssen dafür arbeiten, dass das auch so bleibt. Genau dafür steht unsere Koalition, die christlich-liberale Koalition. ({3}) Von Ihnen kam kein einziges Wort zum rasanten medizinischen Fortschritt in Deutschland. Krankheiten, die man vor 30 oder 40 Jahren noch nicht einmal feststellen konnte, sind heute heilbar. Hier wird die soziale Frage nach Lebensqualität oder sogar nach zusätzlichen Lebensjahren auch mit deutscher Spitzentechnologie beantwortet. Vieles von dem, was früher noch unvorstellbar war, ist heute möglich, und wir alle wissen: Diese Entwicklung geht rasant weiter. Das ist gut für die Patienten. Das ist aber auch gut für die gesunden Menschen, die wissen, dass sie im Fall der Fälle anständig und bestmöglich versorgt werden. Klar ist allerdings auch: Diesen Fortschritt gibt es nicht zum Nulltarif. Vielmehr verursacht er enorme Kosten. ({4}) Wir wissen, vor welch enorme Herausforderungen uns der demografische Wandel - auch darauf beziehen sich etliche Fragen von Ihnen - im Gesundheits- und Pflegebereich in Zukunft stellen wird. Dass vor diesem Hintergrund und dem Ziel, auch in Zukunft alle Menschen in Deutschland daran teilhaben zu lassen, die Gesundheitskosten nicht sinken werden, wird inzwischen nicht einmal mehr von Ihnen bestritten. Wir alle wissen, welche Finanzierungslücken bei der gesetzlichen Krankenversicherung bestanden haben. Wir haben das ganze letzte Jahr immer wieder an dieser Stelle gekämpft. Wir haben beispielsweise das Reformgesetz zur gesetzlichen Krankenversicherung und auch das Arzneimittelneuordnungsgesetz verabschiedet. Damit haben wir einen weiteren Beitrag dazu geleistet, den Kollaps in unserem System zu verhindern. In diesem Jahr werden wir weitere Probleme in den Griff bekommen, Lösungen gründlich erarbeiten und dann auf den Weg bringen: im Bereich der Versorgungssicherung, im Bereich der Pflege und vieles andere mehr. Frau Kollegin, natürlich wissen wir, dass gebildete und informierte Menschen gesünder leben als ungebildete. Wir wissen, dass ärmere Menschen im Durchschnitt kränker sind als die Mittelschicht. Wir wissen aber auch, dass wir mit unseren Präventionskampagnen der Vergangenheit hauptsächlich die ohnehin schon Interessierten erreicht haben, dass wir Menschen, die im unteren Einkommensbereich liegen, schlechter oder gar nicht erreichen; das betrifft auch viele Kinder mit Migrationshintergrund. ({5}) Selbstverständlich wissen wir, dass wir uns darum kümmern müssen. Selbstverständlich wissen wir, dass es ein Auftrag an die Regierungskoalition ist, in diesem Bereich Abhilfe zu schaffen und Lösungen anzubieten. Solche Lösungen können aber nicht nur aus einem Flyer bestehen, den man herumschickt; denn es gibt tiefergehende Ursachen für die Probleme. Deshalb haben wir jetzt mit der großen Initiative der Bundesregierung im Bereich der Versorgungsforschung einen riesigen Schritt gemacht. Wir wollen dem Problem in der Versorgungsforschung näher kommen und das Dilemma lösen. ({6}) Es ließen sich noch viele weitere Punkte aufzählen, nur reicht meine Redezeit dafür nicht aus. Es ist mir wichtig, auf einen anderen Punkt zu sprechen zu kommen, und zwar auf die Verantwortung von Ländern und Kommunen. Im Antrag der Linksfraktion heißt es - ich zitiere -: Das Gesundheitssystem kann natürlich nicht alle Folgen sozialer Ungleichheit ausgleichen. Die Minimalforderung muss aber lauten, dass die Unterschiede durch das Gesundheitssystem nicht verstärkt werden. Frau Dr. Bunge, Sie haben vorhin die gleiche Passage zitiert. ({7}) Vor diesem Hintergrund ist es doch besonders interessant, sich einmal anzuschauen, ob Sie von der Linkspartei hier in Berlin, wo Sie seit zehn Jahren Regierungsverantwortung tragen, Ihre eigene Minimalforderung umgesetzt haben. Hier in Berlin wurden von Rot-Rot Zigmillionen Euro für Gesundheitsprojekte gestrichen. Sowohl die Sozialsenatorin als auch die Gesundheitssenatorin werden seit zehn Jahren von Ihrer Partei, von den Linken, gestellt. Die Streichliste lässt sich beliebig fortsetzen: Sie haben Sozialhilfe und Pflegeleistungen gekürzt. Sie haben das Blindengeld gestrichen. Sogar bei der Beförderung behinderter Menschen haben Sie zugelangt und die Eigenbeteiligung der Betroffenen insgesamt um über 1 Million Euro erhöht; damit haben Sie die Betroffenen an ihre Wohnungen gefesselt. Sie haben Beratungsstellen für Sehbehinderte und Tuberkulosefürsorgestellen geschlossen. Sie haben die Streichung der zahnärztlichen Versorgung für schwerstbehinderte Kinder betrieben. Sie haben Beratungsangebote für Sinnesbehinderte aufgehoben und die Gesundheitsförderung - koste es, was es wolle gestrichen. Es ist ein echter Skandal, wie die Linkspartei mit den Gesundheitseinrichtungen in den Berliner Bezirken, also in den Kommunen, umgeht. Die Aufgaben der dortigen Gesundheitsämter reichen von Präventionsprojekten bis hin zu Kinderschutzmaßnahmen, zum Infektionsschutz und zur Einschulungsuntersuchung. Rot-Rot hat allein hier 550 Stellen gestrichen, mit dem Ergebnis, dass die Einschulungsuntersuchungen in Berlin zum Teil erst dann stattfinden, wenn die Kinder schon längst eingeschult sind. Sie haben die Ausgaben für Kinder aus sozial schwachen Familien reduziert, deren Eltern nicht mit ihnen zum Arzt gehen, die sich nicht um die zahnmedizinische Versorgung kümmern. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rawert?

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, klar. Aber ich möchte einen letzten Satz zu dieser Passage sagen. Dann bin ich mit diesem Teil fertig. Ich finde, dass man bei dem, was Sie in Berlin in der Gesundheitspolitik hingelegt haben - auch Frau Kollegin Rawert kommt aus Berlin -, eine desaströse Bilanz ziehen muss. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Rawert, bitte.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Vogelsang, Sie waren Bezirksstadträtin für Gesundheit und Soziales in Berlin-Neukölln. Heißt das, Sie haben eine desaströse Bilanz hingelegt? ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Rawert, ich danke Ihnen geradezu für diese Zwischenfrage. Ich war ab 1995, als die Regierungsverantwortung in Berlin noch von anderen getragen wurde, Bezirksstadträtin für Gesundheit und Soziales. Nachdem ich eine Zeit lang ausgeschieden war, wurde ich Bezirksstadträtin für Gesundheit. Sie wissen ganz genau, dass ich über ein Jahr lang dafür kämpfen musste, dass der SPD-geführte Senat, Ihre Regierung, überhaupt einen einzigen Kinderarzt im öffentlichen Gesundheitsdienst zugelassen hat. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Vogelsang, Frau Kollegin Rawert möchte gerne nachfragen.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

War Ihre persönliche Bilanz also desaströs?

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, meine persönliche Bilanz war von großem Engagement und inhaltlicher Auseinandersetzung mit den Leistungen des SPD-geführten Senats geprägt. ({0}) Interessant ist es auch, sich das in der letzten Woche vorgestellte Monitoring „Soziale Stadtentwicklung 2010“ anzuschauen. Die Zahlen belegen: Wo die Linkspartei Regierungsverantwortung trägt, werden die Menschen arm und krank. Unsere Hauptstadt, meine Damen und Herren, ist eine tolle Hauptstadt. Sie entwickelt Strahlkraft, sodass Menschen aus aller Welt sie besuchen. Aber die Menschen, die in Berlin leben, werden durch Ihre Politik ärmer und ärmer. Wir hatten heute die Schlagzeile in der Berliner Morgenpost, dass Berlin auch die Hauptstadt der GeringStefanie Vogelsang verdienerhaushalte ist. In Berlin leben über 600 000 Menschen von Transferleistungen. Das ist auch das Ergebnis Ihrer Politik. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Vogelsang, jetzt muss ich Sie noch einmal unterbrechen, weil die Frau Kollegin Graf noch eine Zwischenfrage stellen möchte.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön. Aber danach bitte keine Fragen mehr. Ist das okay?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sie entscheiden.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Vogelsang, wenn Sie die segensreiche Einrichtung „Soziale Stadt“ so loben und sagen, dass sie so wichtig ist, können Sie mir dann erklären, warum die jetzige Bundesregierung die Mittel für das Programm „Soziale Stadt“ gekürzt hat? ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sehr froh, Frau Kollegin, dass der nächste Teil meiner Rede nicht auf meine Redezeit angerechnet wird. Als Antwort möchte ich Ihnen gerne die Position der Linksfraktion dazu nennen. Die Linke sagt nämlich, dass durch die Maßnahme „Soziale Stadt“ in einzelnen Bereichen eine Aufwertung von Quartieren stattgefunden hätte und dass es zu Gentrifizierung gekommen wäre. Sie fragt, wie die Bundesregierung die Probleme der Gentrifizierung in einzelnen Stadtteilen von großen Ballungsräumen lösen will. Schließlich hätte der Bund diese mit seinem Programm „Soziale Stadt“ verursacht. ({0}) Ich bin noch nicht allzu lange Mitglied des Deutschen Bundestags. Seit etwas mehr als einem Jahr höre ich mir hier Ihre Anträge und Ihre Ideologien immer wieder an. Dort, wo Sie regieren und Verantwortung tragen, herrscht aber organisierte Verantwortungslosigkeit. ({1}) Mit Blick auf Ihre Leistungen für die Berlinerinnen und Berliner würde ich mich an Ihrer Stelle eher schämen als lachen. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Liebich das Wort. ({0}) - Herr Kollege Liebich, die Kurzintervention erfolgt vom Platz aus.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist das Problem, wenn man so lange im Berliner Abgeordnetenhaus war. Das passiert mir immer wieder, weil die Kurzinterventionen dort vom Rednerpult aus erfolgen. Weil ich so lange im Berliner Abgeordnetenhaus war - 15 Jahre; davon 7 Jahre in der Regierung und davon wiederum lange Zeit als Fraktionsvorsitzender -, kenne ich die Berliner Politik natürlich gut. Ich kenne auch die Arbeit von Frau Vogelsang. Ich kenne da bessere und schlechtere Beispiele - je nach politischer Bewertung. Ich will jetzt aber etwas zu den Gruselgeschichten sagen, die Sie hier über Berlin erzählen, nicht nur etwas zu Ihnen. Erstens zum Programm „Soziale Stadt“. Die Linkspartei und die SPD, die zusammen in Berlin regieren, halten die Kürzungen bei dem Programm „Soziale Stadt“ für falsch und haben deshalb einen Antrag im Bundesrat eingebracht, die Kürzungen zurückzunehmen. Dem hat der Bundesrat zugestimmt. Das heißt, der Bundesrat ist auf der gleichen Seite wie das Land Berlin und die Linkspartei. Sie folgen nur nicht den Vorschlägen, die der Bundesrat unterbreitet. ({0}) Zweitens. Bei Ihnen beginnt die Berliner Gruselgeschichte immer im Jahr 2002. Was Sie dabei ausblenden ist der Grund, aus dem die Linkspartei - damals noch PDS - in Berlin in die Regierung gekommen ist. In einer Stadt, die zu zwei Dritteln aus Westberlin besteht und in der früher Eberhard Diepgen unangefochten regiert hat, hat man ja nicht unbedingt erwartet, dass ausgerechnet die PDS regiert. Da müssten Sie sich einmal selbst befragen. Es ist die CDU gewesen, die zusammen mit der SPD in dieser Stadt einen Schuldenberg von 50 Milliarden Euro angehäuft hat. 50 Milliarden Euro! ({1}) Dann sind wir in die Regierung gekommen. Es stimmt, dass wir in dieser Stadt eine Menge Entscheidungen getroffen haben, die sehr schmerzhaft waren. Darüber gab es auch durchaus Auseinandersetzungen. Aber wissen Sie, was bei genau dem Haushalt passiert ist, auf den Sie Bezug genommen haben, in dem wir das Blindengeld übrigens nicht gestrichen haben, sondern das sehr breit gefächerte Geld für Behinderte zwar in der Breite, aber - zugegeben - in der Höhe nicht ganz erhalten haben? In Berlin hatten wir nämlich, wie es in Berlin oft der Fall ist, von allem das Höchste: die höchsten Gel9794 der, die meisten Betroffenengruppen. Wir mussten diese Gelder reduzieren - eine schmerzhafte Entscheidung. Wir haben diesen Haushalt beschlossen. Was hat Ihre Partei gemacht? Sie, die FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben gegen diesen Haushalt geklagt und gesagt, wir hätten zu wenig gespart und wir sollten noch mehr sparen. Das war Ihre Position. ({2}) Weil Sie über Gesundheitspolitik gesprochen haben, noch ein Drittes. Als wir in Berlin an die Regierung gekommen sind, waren die Privatisierungspläne für den großen Berliner Krankenhauskonzern Vivantes fertig. Vivantes war von der Rechtsform her bereits umgewandelt und stand kurz vor der Privatisierung. Finanziell war der Konzern natürlich am Boden. SPD und Linkspartei - damals hieß sie noch PDS - haben sich entschieden, den größten Krankenhauskonzern, den es deutschlandweit gibt, nicht zu privatisieren, sondern in öffentlicher Hand zu behalten. ({3}) Das haben wir durchgesetzt. Das ist bis heute so. Heute steht der Konzern gesund da. Deswegen: Wir machen in Berlin eine gute Gesundheitspolitik. Ihre Partei steht in aktuellen Umfragen in Berlin völlig zu Recht bei 17 Prozent,

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sie haben Ihre Redezeit ausgeschöpft, Herr Liebich.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- das bürgerliche Lager insgesamt bei 20 Prozent. Ich halte Ihre Einlassung zur Berliner Politik für völlig abwegig. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wollen Sie antworten, Frau Kollegin?

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gerne, Frau Präsidentin.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Liebich, ich habe fast damit gerechnet, dass Sie nach meiner Rede eine Kurzintervention machen. Aber Sie haben jetzt schon wieder so viele Fehlinformationen breitgetreten, dass ich überhaupt nicht weiß, auf welche ich in der kurzen Zeit reagieren soll. Der Unternehmenskonzern Vivantes, gebildet aus vielen städtischen Kliniken in Berlin, hat eine private Rechtsform bekommen. Es gab weder zu den Zeiten des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen noch danach die Absicht, dieses Krankenhaus zu verkaufen oder sonstige Dinge damit zu machen. ({0}) Der Wohnungsverkauf und die Privatisierungspolitik gehen von Ihrem Senat aus. ({1}) Ihr Senat hat Tausende von Wohnungen, auch in sozial schwierigen Gebieten, auch in Gebieten, in denen Menschen wohnen, die arm sind, die einen schlechten Gesundheitszustand haben und denen man helfen müsste, an Hedgefonds verkauft. ({2}) Aber jetzt stellen Sie sich hier hin, klagen über Gentrifizierung und beklagen sich noch dazu, dass Sie dafür Prügel bezogen haben. Der Unternehmenskonzern Vivantes feiert in den nächsten Tagen seinen zehnten Geburtstag. Dass dieser Unternehmenskonzern gesund ist, sagen Sie. Ich sage aber genau das Gegenteil. Das Land Berlin, das, wie alle anderen Bundesländer auch, die Verpflichtung hätte, seinen landeseigenen Krankenhäusern Geld zur Verfügung zu stellen, stellt die Investitionen hier fast auf null, sodass der Unternehmenskonzern Vivantes gezwungen ist, sich auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Krankenschwestern und der Krankenpflegeschülerinnen zu sanieren. Da die benötigten Investitionen vom Senat nicht getätigt werden, muss der Konzern gegensteuern. Das geschieht auf Kosten des Personals und am Ende auf Kosten der Qualität der Pflege und der Versorgung kranker Menschen. Über das Gesundheitssystem und über die Gesundheitssituation in Berlin, lieber Herr Liebich, können wir beide lange diskutieren. Aber bevor Sie gegen mich auch nur einen einzigen Punkt machen würden, würde ich Ihnen eher eine Kiste Champagner ausgeben. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Hilde Mattheis für die SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht hier nicht um Champagner. Es geht hier um Armut. ({0}) Wir alle hier im Hohen Hause sollten uns einig sein: Armut ist in diesem reichen Land eine Schande. Da wetten wir nicht um Champagner. ({1}) Wir müssen feststellen, dass die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitsrisiken in unserem Land und in unserer Gesellschaft etwas ist, was uns wirklich beschäftigen muss. ({2}) Wir wissen: Die Ungleichheiten nehmen zu. ({3}) Forschungen belegen: Die höhere Gefährdung unterer Statusgruppen ergibt sich unter anderem aus deren geringer Teilhabe an Präventionsmaßnahmen, aus schlechterer Sanierung von kranken Zähnen, aus weniger häufigen Besuchen beim Facharzt und aus aufgrund von Kostengründen vermiedenen Arztbesuchen. Wir haben - übrigens unter Rot-Grün - im Jahre 1999 in § 20 SGB V erstmals festgeschrieben, dass sozial bedingte ungleiche Gesundheitschancen benannt werden und den Krankenkassen der Auftrag erteilt wird, durch ihre Leistungen dazu beizutragen, solche Ungleichheiten zu vermindern. ({4}) Das war ein guter Schritt. Uns als Sozialdemokraten geht dieser Schritt aber noch nicht weit genug. Zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit braucht es aus unserer Sicht Weichenstellungen in den unterschiedlichsten Bereichen. Das ist wichtig, und darüber sind wir uns hoffentlich einig - vielleicht Sie nicht. Der erste Schritt ist eine Bürgerversicherung zur Bekämpfung einer Zweiklassenmedizin und zur Vermeidung einer Dreiklassenmedizin. ({5}) Wir wollen eine Garantie für die öffentliche Infrastruktur, die wohnortnahe, niedrigschwellige Gesundheitsversorgung und die Gesundheitsprävention. Wir wollen den Zugang zu einer barrierefreien Bildung und Betreuung für alle, auch zur Stärkung der Kompetenzen und zum verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit. Wir wollen eine Gesundheitswirtschaft, die attraktive Beschäftigungsverhältnisse anbietet, und zwar sozialversicherungspflichtige und von einem Mindestlohn geprägte Beschäftigungsverhältnisse. Wir wollen natürlich auch Maßnahmen zur Überwindung der materiellen Armut und der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen gegen Ausgrenzung verschiedenster Personen- bzw. Bevölkerungsgruppen aufgrund von Alter, Geschlecht und Bildungsstand, aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, der Muttersprache oder aufgrund des sozialen Status. Das darf es in unserem Land nicht geben. ({6}) Jeder braucht den gleichen Zugang zu bezahlbarer Bildung und zu bezahlbarer Gesundheit. Denn wir wissen: Armut, Bildung und Gesundheit lassen sich wie Perlen auf eine Schnur ziehen und gehören damit zusammen. Wenn ich das eine Übel bekämpfe, muss ich die beiden anderen Aspekte ebenfalls berücksichtigen. Welchen Beitrag leistet nun Ihre Große Anfrage und der Entschließungsantrag, um diesen Weichenstellungen näherzukommen? Die Große Anfrage - da muss ich etwas Wasser in Ihren Wein gießen - ist eine Fleißarbeit, bei der meines Erachtens am Ende jeglicher Zusammenhang mit den grundlegenden Strukturen der Ausgestaltung des Sozialstaates und des Gesundheitssystems verloren gegangen ist. Wer sich mit der Großen Anfrage und mit der Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage näher beschäftigen will, versinkt in einem Meer aus insgesamt 209 Fragen. Wir haben alle Fragen gelesen. Sie sind zum Teil mit einer Vielzahl von Spiegelstrichen versehen und wurden entsprechend beantwortet. Das Thema der Anfrage verschwimmt im Ozean der Differenzierungen und Details. Sowohl die Vorbemerkung zu den Fragestellungen als auch die Antwort der Bundesregierung hinterlässt mehr Ratlosigkeit, als dass sie die erwünschte Aufklärung schafft. Die vielfältigen, ausufernden Aspekte, die in der Anfrage aufgelistet sind, schrumpfen dann im Entschließungsantrag auf nur noch zwei Forderungen zusammen. ({7}) Das, muss ich sagen, ist mir etwas zu dünn. Dadurch misslingt im Entschließungsantrag eine logische Ableitung der Großen Anfrage. Es gelingt kein umfassender Problemaufriss. Unter Schwarz-Gelb wird die gesundheitliche Ungleichheit weiter zunehmen. ({8}) Die Politik der Bundesregierung wird mit ihren Ideen von Kopfpauschale und Vorkasse eine Dreiklassenmedizin etablieren. Immer größeren Bevölkerungsgruppen wird der Zugang zur medizinischen Versorgung und die Teilhabe am medizinischen Fortschritt verwehrt werden. Die Antworten der Bundesregierung auf diese Große Anfrage sind wie gewöhnlich verteidigungspragmatische Mischungen: teils verschleiernd, teils beschönigend. Die meist benutzte Antwort lautet: „Darüber liegen keine Angaben vor.“ ({9}) Was die Bundesregierung auf die Worte für Taten folgen lässt, belegt folgende Antwort - ich zitiere -: Es gilt, die Chancen von Kindern aus niedrigen sozialen Schichten umfassend zu stärken. Die verstärkte Integration dieser Kinder in vorschulische Angebote und ihre individuelle Förderung im Schulsystem und im Freizeitbereich sind Herausforderungen, denen sich die Bundesregierung bereits stellt. Mit dem im Entwurf des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch angekündigten Bildungspaket für hilfebedürftige Kinder wird dazu ebenfalls ein Beitrag geleistet. Wer auch nur ein bisschen Zeitung liest und mitbekommt, was im Vermittlungsausschuss zu dem passiert, was das Bundesverfassungsgericht der Regierung aufgetragen hat, der muss schon sagen: Dort wird ein Missbrauch von Worten betrieben. Das hat nichts damit zu tun, die Herausforderungen, die Sie selber formulieren, anzunehmen. Ich muss sagen: Das ist mehr als peinlich. Abschließend möchte ich gerne betonen, dass wir die Grundbotschaft, die in der Großen Anfrage enthalten ist, teilen. Gesundheitsrisiken und Krankheiten sind nicht rein zufällig über die gesamte Gesellschaft verteilt, sondern verlaufen entlang der Grenzen sozialer Gruppierungen. Die Verhinderung von Krankheiten ist nicht nur abhängig vom medizinischen Bereich, sondern wird im Wesentlichen auch durch die Lebenssituationen und Lebenslagen beeinflusst, in denen die Menschen lernen, arbeiten, leben. Die wichtigsten Einflussfaktoren auf die Gesundheit finden sich außerhalb der traditionellen Gesundheitssysteme und werden von der Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmarktpolitik, der Finanzpolitik, der Sozialpolitik, der Regionalpolitik und allen anderen Politiken beeinflusst und geprägt. Deshalb: Dass Sie diesen breiten Ansatz von 209 Fragen auf zwei Forderungen „zusammenkneten“, lässt sogar Wohlmeinende zu der Beurteilung kommen, dass die Große Anfrage eher eine Praktikumsarbeit ist und die Fraktion mit gleichlautendem Entschließungsantrag nur Routineaussagen von sich gibt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb möchte ich wenigstens etwas versöhnlich schließen. Auf die Frage 4 der Linken zu den Thesen von Wilkinson nimmt die Bundesregierung nicht Stellung. Wilkinson und Pricket haben in ihrer Untersuchung mit Datenmaterial aus vielen Ländern nachgewiesen, wie wachsende Ungleichheit schadet. Die Eindeutigkeit dieses Befundes ist beeindruckend.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Sie sagen und belegen: In ungerechten Gesellschaften ist die Selbstmordrate höher, ist die Depressionsrate höher, ist die Kriminalitätsrate höher usw. Egal wie reich die Gesellschaft insgesamt ist:

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, die Ankündigung, dass Sie zum Schluss kommen, reicht nicht.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Durch Ungleichheit werden Ungerechtigkeit, ungerechte Lebensverhältnisse und weit auseinanderliegende Lebenssituationen produziert.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, ich bitte Sie wirklich, jetzt zum Schluss zu kommen.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb sage ich zum Schluss: Machen Sie die Gesellschaft gerechter. Das ist kostengünstiger, hilft allen und macht die Gesellschaft gesünder. Danke. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann für die FDP-Fraktion. ({0})

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Große Anfrage der Linken zum Thema „Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ gibt uns die Möglichkeit, über die Faktoren zu sprechen, die Einfluss auf unsere Gesundheit haben. Auf der einen Seite sind die genetischen Faktoren zu nennen und auf der anderen Seite das Gesundheitsverhalten jedes einzelnen Menschen. Letzteres ist auch abhängig von der Bildung und der Stellung in der Arbeitswelt. ({0}) Auf den ersten Punkt, die genetischen Faktoren, hat der Mensch nur sehr geringe Einflussmöglichkeiten. Ich möchte der Diskussion in diesem Hohen Hause nicht vorgreifen. Wir werden uns noch mit der Präimplantationsdiagnostik auseinandersetzen. Das wird eine Möglichkeit sein, diesen Faktor mit zu beeinflussen. ({1}) Für den zweiten Punkt, das Gesundheitsverhalten, das von Bildung und Arbeit abhängig ist, tut die Bundesregierung, tut unsere Koalition sehr viel. ({2}) Im Bildungsbereich werden wir 12 Milliarden Euro ausgeben. 12 Milliarden Euro sollen in die Hochschulen investiert werden. Im Bildungsbereich wird es keine Kürzungen geben. In allen anderen Etats müssen wir einsparen. Die Weltwirtschaftskrise zwingt uns dazu. Aber im Bildungsbereich wird es nicht dazu kommen. Auch im Zuge der Hartz-IV-Reformen wird ein Bildungspaket auf den Weg gebracht werden, das besonders den Kindern zugutekommt. Auch was die Arbeitsplätze anbetrifft - ein Arbeitsplatz ist wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen -, bin ich froh, dass sich die Arbeitsmarktzahlen sehr gut gestalten. Nur noch 3,5 Millionen Menschen sind ohne Job. Diese Zahl kann sich sehen lassen. Das ist der niedrigste Stand der Arbeitslosenzahlen seit langer Zeit.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Ackermann, ich habe eine Nachfrage. Wir reden heute über Armut und Gesundheit. Können Sie uns bitte noch einmal auseinandersetzen, wie Sie mit der PID das Problem Armut angehen wollen? Das ging so schnell und kam sehr lasch daher. Haben Sie eine besondere Vorstellung davon, wie Sie das machen wollen?

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne, Herr Kollege Terpe. Ich gehe auf die Fragen der Fraktion Die Linke und auf die Antworten der Bundesregierung auf die Fragen ein. Die Fragen waren, was unsere Gesundheit beeinflusst und wo es zu Ungleichheiten in der Gesundheit kommt. Dabei muss man auch über die Faktoren sprechen, die die Gesundheit der Menschen beeinflussen. Diese Faktoren - das geht auch aus der Antwort der Bundesregierung hervor - sind zweierlei. Der erste Faktor - dafür kann der Mensch nichts - sind die genetischen Bedingungen. Der andere Faktor, der zu gesundheitlicher Ungleichheit führt, ist das Gesundheitsverhalten jedes einzelnen Menschen. Ich wollte auf den ersten Faktor, weshalb es zu Krankheiten kommen kann, nur sehr bedingt eingehen, weil wir die Diskussion darüber in diesem Hohen Hause noch führen werden. Die genetischen Faktoren, die in uns angelegt sind und zu Erkrankungen führen können, kann der Mensch nur sehr bedingt beeinflussen. Wann eine Erbkrankheit auftritt oder nicht, kann man durch Früherkennungsuntersuchungen herausfinden. Auch die Präimplantationsdiagnostik - ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Ackermann hat jetzt das Wort.

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wollte der Diskussion nicht vorgreifen, Herr Kollege Terpe. Ich wollte nur auf Ihre Frage antworten. Stichwort Arbeitsplätze: Ob jemand einen Job hat, ist wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen. Deshalb bin ich froh, dass wir eine gute wirtschaftliche Entwicklung und niedrige Arbeitslosenzahlen haben. Wir lassen auch diejenigen nicht im Stich, die noch ohne Arbeit sind. Die Fragen der Linksfraktion, die suggerieren, dass wir die Arbeitslosen im Stich lassen, sind falsch und nicht hinnehmbar. ({0}) Der Staat unterstützt jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und auch denjenigen, der in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihm zusammenlebt. Ich möchte das kurz aufzählen. Er unterstützt den Menschen bei der Ernährung, bei der Kleidung, bei der Körperpflege, beim Hausrat, bei Energie, bei der Heizung, er ermöglicht ihm Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, und er fördert die berufliche Eingliederung. Unser Ziel ist es, die Teilhabe dieser Menschen zu verbessern und sie aus der Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge herauszuholen. Summa summarum: Unser Staat hat die Schwachen im Blick. Er gibt Hilfe und Unterstützung in großem Umfang. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir auch diejenigen nicht aus dem Blick verlieren dürfen, die das alles erwirtschaften. Das gehört zur Gerechtigkeit dazu. Zum Gesundheitswesen im Speziellen: Wenn wir von guten Gesundheitschancen für alle Menschen sprechen, müssen wir die Finanzierung und die Vorsorge im Auge haben. Wir haben die Herausforderung des demografischen Wandels und die Herausforderung des medizinisch-technischen Fortschritts zu bewältigen. SchwarzGelb hat mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung einen Beitrag dazu geleistet. Was die Vorsorge betrifft: Jeder Einzelne ist jetzt gefordert, durch sportliche Aktivitäten und durch gesunde Ernährung zu seiner Gesunderhaltung beizutragen. In einigen Bereichen ist noch Motivation und Aufklärung wichtig und nötig, und ich bin froh, dass das Gesundheitsministerium im ganz konkreten Fall mit den Betrieben vor Ort Prävention und Aufklärung betreibt. ({1}) Wenn man über soziale Ungleichheit oder Unterschiede im Gesundheitswesen spricht, muss man auch ansprechen, dass es einen unterschiedlichen Zugang zu medizinischer Versorgung gibt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ackermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber bitte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass ich dabeibleibe, dass wir maximal zwei Fragen in jedem Redebeitrag zulassen, damit wir die Debattenzeit nicht verdoppeln.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jetzt haben Sie es provoziert, Herr Ackermann. Sie sprachen vom BMG, vom Bundesministerium für Gesundheit, das Angaben gemacht hat, und es fiel das Stichwort Prävention. Gestern gab es eine öffentliche Anhörung der Kinderkommission über Prävention und gesundes Aufwachsen von Kindern, bei der gerade die Bezüge zur sozialen Struktur in den Familien hergestellt wurden. Dort waren etliche Sachverständige. Wir hatten tollerweise auch ein Schreiben unseres Bundesgesundheitsministers, des Herrn Rösler, in dem er zu dem fraktionsübergreifenden Antrag von 2002, in dem Präventivmaßnahmen im Bereich der Pädiatrie gefordert wurden, sagte: Es ist nichts weiter erforderlich als das, was bis jetzt gelaufen ist. Gerade auch im Hinblick auf den demografischen Wandel und die sinkenden Kinderzahlen müssen wir im Bereich der Pädiatrie und Prävention nichts machen. - Alle Sachverständigen haben gesagt, das ist definitiv falsch. Einer hat sich nach der Sitzung sogar bereit erklärt, das Wörtchen „Lüge“ zu verwenden. Da frage ich mich natürlich: Wie können Sie sich hinstellen und solche Aussagen über das Gesundheitsministerium machen? Was hat man von solchen Aussagen zu halten? Ist es ähnlich wie beim Verteidigungsministerium? Wird hier das Parlament wieder falsch informiert? Jedenfalls was die Prävention und das gesunde Aufwachsen von Kindern betrifft, haben dieser Gesundheitsminister und dieses Gesundheitsministerium nach der gestrigen Anhörung nach meiner vollen Überzeugung und der der übrigen Mitglieder der Kinderkommission - davon muss ich ausgehen - versagt. ({0})

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Wunderlich, Ihre Frage macht unsere unterschiedliche Weltanschauung deutlich. ({0}) Gerade auch im Zusammenhang mit der Prävention bei Kindern ist es meine Auffassung, dass man die Verantwortung der Eltern nicht außen vor lassen kann. Man kann nicht erlernen, wie die gesunde Lebensweise eines Kindes aussieht, indem man es in staatliche Hände gibt. Die Eltern haben auch eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder. Sie müssen ihnen Vorbild sein. Sie müssen ihnen in den Kindergarten und in die Schule ein gutes Pausenbrot mitgeben. ({1}) Ich möchte nicht, dass das vom Staat übernommen wird. Jede Familie hat ihre Fürsorgepflicht. Die Maßnahmen, die das Ministerium im Bereich der Prävention ergreift und die ich angesprochen habe, sind motivierende und sehr zielgenaue Maßnahmen. Diese werden auch mit den Betrieben vor Ort ergriffen, weil natürlich auch die Arbeitgeber ein Interesse daran haben, dass sich die Arbeitnehmer gesund erhalten, damit der Betrieb weiterläuft. Es handelt sich um motivierende und informative Maßnahmen, wie sich der einzelne Mensch gesund ernähren und wie er mit Sport seine eigene Lebensweise so gestalten kann, dass er gesund bleibt. ({2}) Der Unterschied ist, dass wir das dem Individuum überlassen wollen. Sie wollen es dem Kollektiv überlassen. Das sind die Unterschiede zwischen uns beiden. ({3}) Unterschiede bestehen in der medizinischen Versorgung - dies habe ich gesagt - zwischen Stadt und Land. Dieses Problem wollen wir angehen. Wir wollen ein Versorgungsgesetz auf den Weg bringen, das Ärzte- und Fachkräftemangel auch in ländlichen Regionen bekämpft. In den Vorbemerkungen der Großen Anfrage der Linken stehen einige Dinge, über die ich nur den Kopf schütteln kann. Dort ist zu lesen, dass sich seit fast einem halben Jahrhundert auf dem Gebiet der gesundheitlichen Ungleichheit nichts verbessert habe. Das ist schlicht falsch. Das Robert-Koch-Institut hat veröffentlicht, dass sich die Lebenserwartung verbessert hat. So musste ein ostdeutscher Mann 1990 noch 3,2 Jahre früher sterben als ein westdeutscher, und eine ostdeutsche Frau ist 1990 2,3 Jahre früher gestorben als eine westdeutsche. Das hat sich verbessert. Ich bin dankbar dafür, dass sich auf diesem Gebiet etwas getan hat. ({4}) Die Hauptursache für die gesundheitliche Ungleichheit, für die unterschiedliche Entwicklung in den Einkommen, in den Lebensbedingungen und in der Umwelt - hier ist Berlin angesprochen worden - ist ja wohl die Berliner Mauer. Ihre Politik der Unfreiheit führte zu Unterschieden, die Sie heute beklagen. ({5}) Insofern, meine Damen und Herren von den Linken, stellen Sie Fragen zu Problemen, die wir ohne Sie gar nicht hätten. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsidentin! Diese halbe Stunde war eigentlich eine verschenkte halbe Stunde, weil man darüber hätte reden können: Was tun wir alle gemeinsam hier im Saal gegen Armut und gegen den engen Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheitschancen? Wie gehen wie vor? Was machen wir in der Prävention? Geben wir den Kommunen ausreichend Mittel, um in den Kitas, in den Schulen und in den Altenheimen präventiv tätig zu werden? Wie schaffen wir es, eine vernünftige betriebliche Gesundheitsförderung hinzubekommen? Wie schaffen wir es, Arbeitslose zu erreichen, die heute von präventiven Maßnahmen so gut wie gar nicht erreicht werden? Das sind Fragen, denen wir uns hätten stellen können. ({0}) Wir hätten uns weiterhin die Frage stellen können: Was machen wir eigentlich mit den Ursachen von Armut insgesamt? In den nächsten Wochen haben Sie einen wesentlichen Schlüssel für die Bekämpfung von Armut in der Hand, und zwar bei den Verhandlungen über den Regelsatz und bei den Verhandlungen über einen Mindestlohn sowie eine ausreichende Bildungsausstattung in den Kommunen. Das sind die eigentlichen Fragen. Was haben wir hier erlebt? Ich weiß gar nicht, was die Leute oben auf den Rängen denken. Ist überhaupt über Armut und Gesundheit geredet worden? Ich habe gehört, dass es um eine Sozialneiddebatte, um eine Kommunismusdebatte geht. Insgesamt hatten wir eine Debatte über Berliner Verhältnisse. Aber eigentlich geht es doch darum, die Notwendigkeiten zu erkennen, die uns mittlerweile seit Jahrzehnten durch verschiedenste Gesundheitsberichte, durch Gutachten immer wieder deutlich vor Augen geführt werden und bei denen wir bislang zu keinen vernünftigen Lösungen gekommen sind. Das ist die Wahrheit, mit der wir uns als Fachpolitik endlich einmal hätten auseinandersetzen müssen. Diese Chance wurde wieder einmal massiv vertan. ({1}) Und warum? Weil Sie sich vonseiten der Regierungskoalition letztendlich nicht darüber einig sind, mit welchen Verfahren und welchen Mitteln Sie Prävention voranbringen wollen. Es stellt sich die Frage, ob Sie sich überhaupt eingestehen wollen, dass es bei der Gesundheit so etwas wie eine soziale Benachteiligung gibt, oder ob es nicht mehr darum geht, dass jeder eigenverantwortlich sein Leben gestalten muss. Das sind die Fragen, die Sie bewegen. ({2}) Die anderen wiederum haben eine weitere Chance vertan. Natürlich müssen wir über die Praxisgebühr reden. Natürlich müssen wir über Zuzahlungen reden. Aber dafür haben Sie einen Antrag laufen. Dafür ist noch eine Anhörung im Spiel. Warum inszenieren Sie hier eine Entscheidung, durch die die fachliche Auseinandersetzung vorweggenommen wird? Ich kann das nicht nachvollziehen. ({3}) Jetzt kommen wir zum eigentlichen Punkt. Was werden Sie im nächsten halben Jahr tun? Wie werden Sie die Prävention voranbringen? Bisher habe ich noch nichts außer lauen Worten über Vorhaben gehört. Sie sagen, dass Sie das, was da ist, auf den Prüfstand stellen und schauen, was Sie daraus machen. ({4}) Was wir eigentlich brauchen, ist eine wirkliche Präventionsoffensive gemeinsam mit Bund, Ländern, Kommunen, mit den Betrieben, mit den Krankenkassen, ein Konzept, aus dem hervorgeht, wie Sie die Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen zustande bringen wollen. Außerdem müssen Sie mit uns eine Auseinandersetzung darüber führen, ob es ein Präventionsgesetz braucht. Wir sind jederzeit bereit, uns anzuhören, welche Vorschläge Sie an den Tag legen, um das Ganze wirklich voranzubringen. Wir glauben, ohne ein Präventionsgesetz werden wir das nicht schaffen. ({5}) Ich bin gespannt, was Sie uns in den nächsten Wochen und Monaten vorlegen. Herr Singhammer, Sie sind der Einzige, der bislang vorangegangen ist und immerhin eingestanden hat, dass es so etwas wie eine gesundheitliche Unterversorgung von sozial Benachteiligten gibt. Ich hoffe, dass Sie in den beiden Regierungsfraktionen als Trendsetter und Meinungsbildner wirken können. ({6}) Wir werden die Meinungsbildung jedenfalls massiv unterstützen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4556. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent- schließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols, Vizepräsidentin Petra Pau weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Programme zur Bekämpfung von politischem Extremismus weiterentwickeln und stärken - Drucksache 17/4432 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke Rix, Daniela Kolbe ({1}), Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit - Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen - Drucksache 17/3867 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dorothee Bär für die Unionsfraktion. ({3})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selbstverständlich begrüßen wir es als Abgeordnete des Deutschen Bundestages, wenn sich Menschen politisch engagieren, und zwar völlig unabhängig davon, ob sie sich in Initiativen oder Parteien engagieren, ob sie in der Mitte der Gesellschaft stehen bzw. rechts oder links von der Mitte. Das gilt natürlich nur dann, wenn diese Initiativen, diese Parteien auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, sprich: dem demokratisch legitimierten Spektrum angehören. Für uns macht es nämlich schon einen großen Unterschied - den Unterschied zum SPD-Antrag werde ich herausarbeiten -, ob jemand politisch rechts oder links steht. Für uns ist das, offensichtlich anders als für die Kolleginnen und Kollegen der SPD, nicht das Gleiche. Etwas vollkommen anderes ist es natürlich, politisch rechts- oder linksextremistisch zu sein. Wir sind in unserem demokratischen Verfassungsstaat Demokraten genug, um Links- und Rechtsextremisten abzulehnen. Diese sind nicht bereit, ihre politischen Auffassungen im demokratischen Ringen mit Andersdenkenden auszutauschen. Auch wir wissen - auch das erkennt die christlich-liberale Koalition an -, dass diese Art der Auseinandersetzung immer mehr zunimmt. Das belegt natürlich auch die wachsende Zahl politisch motivierter Gewalttaten. Wir sind aufgerufen, uns dieses Problems anzunehmen. Darüber hinaus werden wir das Ganze mit den Programmen, die wir schon ins Leben gerufen haben, fortführen. ({0}) Deswegen haben wir einen Antrag vorgelegt, und wir haben für die Bekämpfung von politischem Extremismus sehr viel Geld in die Hand genommen. Im Haushalt unseres Familienministeriums sind insgesamt 29 Millionen Euro für Präventionsprogramme zur Verfügung gestellt. Es gelingt natürlich nicht allein mit einer Maßnahme, den Extremismus zu bekämpfen, weil wir ein Zusammenspiel verschiedener Maßnahmen brauchen. Ich möchte das an drei Punkten festmachen. Punkt eins: Jugend- und Präventionsarbeit. Punkt zwei: Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Punkt drei: Die konsequente Verfolgung politisch motivierter Straftaten. Wir haben das bereits in unserem Koalitionsvertrag festgehalten. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP haben wir die Entwicklung und Stärkung von Toleranz und Demokratieverständnis als unser zentrales Ziel der Kinderund Jugendpolitik festgeschrieben. Wir wollen Unterstützungsprogramme etablieren. Die sollen kontinuierlich evaluiert werden und besonders Kinder und Jugendliche in ihrem Engagement für Vielfalt, Toleranz und Demokratie, Menschenwürde und Gewaltfreiheit motivieren - und damit natürlich auch stark gemacht werden. Wir beziehen das Ganze nicht nur auf Rechtsextremismus und Linksextremismus, sondern wir beziehen es natürlich auch auf religiös motivierten islamistischen Extremismus. Die Bilanz der Ende 2010 ausgelaufenen Programme unseres Ministeriums „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ und „kompetent. für Demokratie - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ kann sich wirklich sehen lassen. In den letzten drei Jahren - von 2007 an - haben wir über 90 lokale Aktionspläne mit fast 5 000 Einzelprojekten unterstützt. Damit haben wir weit über 2 Millionen Menschen erreicht. ({1}) Wir haben uns jetzt aber entschlossen, diese Programme unter dem Dach „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ zu einem Programm zusammenzuführen. Für dieses Programm haben wir in den Haushalt 2011 24 Millionen Euro eingestellt. ({2}) Die bisherigen Aktivitäten zur Extremismusprävention des Familienministeriums haben wir aber auf die Bereiche Linksextremismus und islamistischer Extremismus ausgeweitet. ({3}) Diese Neuausrichtung und Bereitstellung von zusätzlich 5 Millionen Euro begrüßen wir als CDU/CSU und FDP ausdrücklich. ({4}) Ich komme jetzt zu den großen Unterschieden. Diese Koalition ist eben nicht auf einem politischen Auge blind. ({5}) Wir sehen, dass der Demokratie Gefahr von vielen Seiten droht. Wenn ich mir den Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD anschaue, sehe ich, dass er sich allein der Bekämpfung des Rechtsextremismus widmet und unser Vorgehen diskreditiert. ({6}) Dazu muss man ganz einfach sagen: Sie haben es nicht kapiert. ({7}) Der Antrag der SPD ist unsäglich. Die Linke hat hier den Begriff des Kommunismus wieder neu in die Debatte gebracht. Wir wollen eben, dass unser demokratischer Verfassungsstaat durch Demokraten geschützt wird. Extremismus kann nicht mit Extremisten bekämpft werden. ({8}) Aber leider Gottes sind auch einige da, die eher unter dieses Spektrum fallen. ({9}) - Ja, ich weiß, dass die sich bei Ihrer Strategie freuen. Wir aber bestärken die Bundesregierung mit unserem Antrag, bei ihrer Strategie zu bleiben und konsequent dafür Sorge zu tragen, dass sowohl die Träger von Maßnahmen als auch die Partner finanziell unterstützt werden. Ich wundere mich schon: Wir werden nächste Sizungswoche wieder an derselben Stelle zu demselben Thema sprechen, weil die Grünen und auch die SPD, soweit ich weiß, nächste Woche Anträge vorlegen werden, ({10}) etwa „Demokratieinitiative nicht verdächtigen, sondern fördern - Bestätigungserklärung im Bundesprogramm ‚Toleranz fördern - Kompetenz stärken‘ streichen“, ({11}) weil sie der Meinung sind, man müsse sich nicht zu unserem Grundgesetz bekennen. ({12}) Das ist natürlich wirklich unsäglich. Wir werden das nächste Woche erneut diskutieren. Niemand hat Geld vom Steuerzahler verdient, wenn er sagt, dass er nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht, und wenn er sich nicht zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt. ({13}) Sie haben es einfach nicht verstanden, wenn Sie sagen: Da werden Leute unter Generalverdacht gestellt. - Wenn unsere Minister hier ihren Eid schwören und auch sagen, dass sie ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen werden, dass sie das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren wollen, dann wird auch keiner sagen: Warum sollen die das in Zukunft denn machen? ({14}) Deswegen muss man ganz ehrlich feststellen, dass sie im Idealfall am Schluss sagen: So wahr mir Gott helfe. Und deswegen - ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Tut mir leid, Sie müssen zum Schluss kommen, da Sie leider die Redezeitverlängerung mit Unterstützung des Kollegen Beck nicht mehr in Anspruch nehmen können. Sie sind schon über die Zeit.

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der macht dann bestimmt eine Kurzintervention, dann werde ich ihm antworten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Genau. - Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nur eine kurze Frage: Wenn Sie es für notwendig erachten, dass sich jeder, der Geld von Staat nimmt, zum Grundgesetz bekennen muss, verlangen Sie das dann auch von den Zuwendungsempfängern des Bundes der Vertriebenen und seiner Mitgliedsverbände? Dort gab es in der Vergangenheit nämlich die einen oder anderen Ausrutscher. Das wäre dann nur konsequent. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Bär, Sie haben das Wort.

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hätte nicht gedacht, dass wir schon Fasching haben. Diese Frage muss gar nicht beantwortet werden, weil die Antwort darauf eine Selbstverständlichkeit ist. Es ist eine Frechheit, so etwas überhaupt infrage zu stellen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rix für die SPD-Fraktion. ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fahrten nach Auschwitz, Zeitzeugengespräche mit Schülerinnen und Schülern, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen über Verfolgte im Dritten Reich, Konzerte und Festivals gegen Rechtsextremismus, Vorträge, Demokratiecamps usw., all das sind Aktionen und Projekte, die aus der Zivilgesellschaft heraus von Bürgerinnen und Bürgern zum Schutz der Demokratie und zur Förderung von Toleranz ins Leben gerufen werden. Kirchen, Gewerkschaften, Vereine, Verbände, Gruppeninitiativen und Kommunen beteiligen sich an solchen Aktionen. Wir, der Bundestag, und natürlich auch die Bundesregierung stellen dafür im Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mittel zur Verfügung. Den Menschen ist es wichtig, dass sie für ihr Engagement Anerkennung bekommen und gewürdigt werden. Deshalb an dieser Stelle ein Dankeschön an all diejenigen in der Zivilgesellschaft, die solche Aktionen durchführen. ({0}) Wir sollten diesen Menschen nicht nur am heutigen Tag, an dem wir der Opfer des Naziregimes gedenken, in dieser Debatte oder in unseren Sonntagsreden danken. Unser Dank sollte sich auch anhand unserer politischen Tätigkeiten bemerkbar machen. Die Verantwortung, die wir aufgrund der Geschichte tragen - der Bundestagspräsident hat das heute deutlich gemacht -, tragen wir als Bund und als Bundestag natürlich auch. Deshalb haben wir unter Rot-Grün, unter der Großen Koalition und auch unter Schwarz-Gelb Mittel für Demokratie und Toleranz im Bundeshaushalt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bereitgestellt. Ich muss Ihnen sagen: Wir waren positiv überrascht, dass Schwarz-Gelb zumindest an der Summe nicht viel verändert hat und diese Gelder auch weiterhin bereitstehen. Ich bin froh, dass wir in diesem Hause einen Konsens haben. Über die Jahre haben sich aber die Programme und die Ansprüche, die man an die Zivilgesellschaft hat, verändert. Deshalb werden wir die Programme Jahr für Jahr neu gestalten. Es ist wichtig, dass wir das gemeinsam mit der Zivilgesellschaft tun. Das ist bei der Ausarbeitung der neuen Programme leider nicht genügend getan worden. Das kritisieren wir hier an dieser Stelle. Im Laufe der Jahre ist auch klar geworden, wie sehr wir Kontinuität brauchen. Das haben wir bereits 2008, als wir uns um das Thema Antisemitismus gekümmert haben, festgestellt. Wir brauchen Kontinuität in der Förderung. Das gilt auch für Projekte gegen Rechtsextremismus. Das ist eine dauerhafte Aufgabe. Deshalb sollten wir uns gemeinsam daranmachen, dies in eine dauerhafte Finanzierung zu überführen, und den an den Projekten Beteiligten nicht jedes Jahr Angst machen. ({1}) Das bedeutet natürlich auch, dass wir Projekte fördern. Wir dürfen ihnen nicht unterstellen, im Gegensatz zu anderen Institutionen, denen wir Geld geben, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Denn denjenigen, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen und Projekte starten, das zu unterstellen, ist infam. ({2}) Einen letzten Satz noch: Wir diskutieren im Hinblick auf die sogenannten Extremismusprogramme immer wieder über die Unterschiede zwischen Links- und Rechtsextremismus. Uns liegt jetzt ein Antrag der Sozialdemokraten vor, der sich mit dem Thema Rechtsextremismus, aber eben nicht mit dem Thema Linksextremismus beschäftigt. Einen solchen Antrag können wir gerne jederzeit auch vorlegen. ({3}) Dies aber miteinander zu vermischen und zu sagen: „Es sind quasi die gleichen Dinge, die wir mit den gleichen Mitteln bekämpfen können“, das geht auf keinen Fall. ({4}) Rechtsextremismus ist eine menschenverachtende Ideologie. Um dagegenzuhalten, brauchen wir einen breiten zivilgesellschaftlichen Konsens. Wir brauchen auch einen breiten Konsens in diesem Hause im Hinblick auf effektive Strukturen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute unter anderem über einen Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP, der es Ihnen und uns als demokratische Fraktionen dieses Hauses ermöglicht, einem ganzheitlichen Ansatz im Kampf gegen Extremismus in diesem Land zuzustimmen. Wenn ich „ganzheitlich“ sage, dann meine ich damit zunächst einmal, dass dieser Antrag die erste Initiative innerhalb der aktuellen Diskussion ist, mit der ressortübergreifend versucht wird, die bestehenden Programme im Familien- und Innenministerium sowie im Arbeits- und Sozialministerium bestmöglich aufeinander abzustimmen ({0}) und Verbesserungspotenzial aufzuzeigen, um Reibungsverluste oder Doppelungen zu vermeiden und so die bestmögliche Aufstellung gegen Extremismus zu erreichen. Allein das zeigt, wie ernst wir dieses Thema nehmen. ({1}) Wenn ich „ganzheitlich“ sage, meine ich aber auch, dass wir uns allen Gefahren für unsere Demokratie entgegenstellen müssen. Es ist nicht einmal eine Woche her, dass das Plenum des Deutschen Bundestages über die Äußerungen der Parteivorsitzenden der Linken diskutiert hat, die nach neuen Wegen zum Kommunismus sucht. Wir alle - SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP - waren uns einig, dass diese neuen Wege zum Kommunismus am Ende immer zu Gewalt, Unterdrückung und weg von all dem führen werden, was uns als Demokraten am Herzen liegt. ({2}) Ich habe mich über die Einigkeit, die wir an dieser Stelle erreichen konnten, gefreut. Deswegen bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Grünen und SPD: Zeigen Sie heute Mut und Verantwortung, indem Sie sagen, dass das Handeln der Koalition, nämlich gegen die Gefahren des Linksextremismus, aber eben auch des religiösen Extremismus im Rahmen der Präventionsarbeit anzugehen, genau der richtige Weg ist. ({3}) Dass die Linke dem nicht zustimmen kann, kann ich gut verstehen. Wenn es uns nämlich tatsächlich gelingt, junge Menschen für Demokratie, Toleranz und Vielfalt zu begeistern, dann sind sie eben weniger empfänglich für die unbefleckte Utopie, die Ihre Parteivorsitzende zu verkaufen versucht. Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, verlieren Sie sich doch in dieser Frage bitte nicht in philosophischen Debatten, was wir mit Linksextremismus meinen, wo er anfängt und wo wir da die Grenze ziehen nach dem Motto „Können Sie das definieren, Herr Bernschneider?“. ({4}) Ich hatte das Gefühl, dass wir uns am vergangenen Freitag sehr einig darin waren, wo wir da die Grenze zu ziehen haben. ({5}) Deswegen lade ich Sie ein: Lassen Sie uns gemeinsam darüber sprechen, welche Initiativen und Programme wir brauchen, um den Gefahren von Linksextremismus und religiösem Extremismus bestmöglich zu begegnen. Schauen Sie nicht länger weg, wenn Frau Lötzsch beim kommunistischen Kaffeekränzchen sitzt und draußen vor der Tür wehrlose Demonstranten zusammengeschlagen werden! ({6}) Ich sage aber auch: Nehmen Sie die Aufrufe von Islamisten bei YouTube genauso ernst wie rechte SchulhofCDs! ({7}) Am Ende möchte ich noch auf einen Punkt eingehen, den wir in den Debatten über Prävention viel zu selten ansprechen. Die Aussicht auf Arbeits- und Ausbildungsplätze und auf Wachstum, das am Ende auch sozialen Aufstieg ermöglicht, ist ein weiteres gutes Mittel gegen Extremismus. ({8}) Bildung, Arbeit und Ausbildung sind wichtige Voraussetzungen für Teilhabe in der Gesellschaft. Diese Teilhabe wirkt am Ende wie ein Anker in der Mitte unserer Gesellschaft und ist damit ein gutes Mittel gegen Extremismus. Ganz gleich, von wem der aktuelle wirtschaftliche Aufschwung kommt, von Rot-Grün mit den mutigen Arbeitsmarktreformen von Herrn Schröder, von denen die SPD sowieso nichts mehr wissen will, von der Großen Koalition oder von uns: Wir als Fachpolitiker im Bereich Prävention können froh darüber sein; denn er ist ein gutes Mittel in der Präventionsarbeit. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war wieder einmal dieselbe Platte; es wird langsam ein bisschen eintönig. ({0}) Um eines klarzustellen: Die Verhältnisse infrage zu stellen und Armut und Reichtum zu thematisieren, ist dringend notwendig, aber kein Extremismus. So viel zu Ihrem Gelaber. ({1}) Zunächst will ich im Namen der Linksfraktion herzlich Dank sagen für die couragierte Arbeit der Projekte, Vereine und Verbände, die hervorragend und unter großem persönlichem Einsatz für die Zivilgesellschaft streiten. ({2}) Heute liegen zwei Anträge vor: zum einen ein Antrag der Koalitionsfraktionen, der eher ideologisch ausgerichtet ist, ({3}) und zum anderen ein Antrag der SPD-Fraktion, der die Sache trifft und deswegen unsere volle Unterstützung erhalten wird. ({4}) Die Vermischung verschiedenster Programme und Ansätze sowie eine von Ihnen geschaffene Misstrauenskultur sind falsch und im Übrigen auch wissenschaftlich nicht haltbar. ({5}) Deswegen ein Ratschlag: Lesen ist sinnvoll! ({6}) Wenn man diese wissenschaftlichen Erhebungen von Heitmeyer und anderen ernst nimmt, kann man feststellen, dass Rassismus, Antisemitismus und andere menschenfeindliche Strömungen nicht nur Phänomene am Rand der Gesellschaft sind, sondern dass man sie ebenso in der Mitte der Gesellschaft finden kann. Das ist das Kernproblem. Deswegen hat Gesine Schwan natürlich recht. ({7}) Ich darf sie zitieren: Wie irreführend die Verwendung des Extremismusbegriffs ist, kann man u. a. an den neuesten empirischen Befunden zum Rechtsextremismus erkennen, die diese antidemokratische Einstellung soziologisch eben nicht an den „extremen Rändern“ der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte vorgefunden haben. Das sollte uns doch umtreiben und nicht zu solchen ideologischen Spielchen führen. ({8}) Dazu will ich Folgendes sagen - das ist im Moment Ihre Dauerplatte; eine andere haben Sie nicht mehr -: Es ist in Ordnung, wenn Sie sich mit uns auseinandersetzen, uns beschimpfen und uns gewisse Dinge unterstellen. Sie setzen sich gern mit der Linkspartei auseinander. ({9}) Dafür gibt es ein paar Indizien. Das alles können Sie gern tun. Das ist Demokratie. Da muss man halt durch. Nutzen wird es Ihnen im Übrigen nichts. Es ist jedoch nicht akzeptabel, dass Sie dieses Spielchen bei der Auseinandersetzung mit der Linken auf dem Rücken von Projekten und Initiativen austragen; das geht nicht. ({10}) Deswegen freue ich mich darüber, dass heute - die Presseerklärung ist eben verschickt worden - die Sozialsenatorin des Landes Berlin, Carola Bluhm, Rechtsmittel gegen Ihre sogenannte Demokratieerklärung eingelegt hat. Ich hoffe, sie wird erfolgreich sein. ({11}) Fassen wir zusammen: Man muss um eine Langfristigkeit der Projekte kämpfen und die Angestellten aus einer temporären Prekarität herausholen. Das wurde im SPD-Antrag richtig aufgelistet. Das unterstützen wir. Das ist eine ganz entscheidende Frage. Sorgen wir alle gemeinsam dafür, dass nicht immer wieder am Beginn eines neuen Jahres die Finanzierung infrage gestellt wird! Gestatten Sie einen guten Hinweis, um die Zivilgesellschaft zu stärken: Verballern Sie das Geld nicht für Junge-Union-Kaffeefahrten zu besetzten Häusern nach Berlin! Das ist völlig sinnlos. ({12}) Eine Frage interessiert mich; vielleicht wird sie noch beantwortet. Ich bin offen und nicht ideologisch wie Sie. ({13}) Wenn Sie empirische Befunde liefern, denke ich darüber nach. Mich interessiert, wo Sie eigentlich Islamismus im ländlichen Raum ausgemacht haben und wo Sie dort Gelder aufwenden. Wenn ich das weiß, diskutiere ich diese Fragen auch weiter mit Ihnen. Uns geht es hier nicht um Ideologie wie Ihnen, ({14}) sondern uns geht es um eine engagierte Zivilgesellschaft. Schönen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der beeindruckenden Gedenkstunde heute Morgen habe ich gehofft, dass diese Diskussion auf einem anderen Niveau stattfindet. Ich beginne mit dem Positiven. Schön ist, dass jetzt von allen Fraktionen in diesem Hause Anträge zur Demokratiestärkung vorliegen. Ein Vergleich zeigt, dass es durchaus gemeinsame Ansätze gibt. Das ist positiv. Aber es gibt natürlich gravierende Unterschiede; das zeigt die Diskussion. Sie sind bekannt. Das Themenfeld ist wichtig und brisant. Ein geeintes Vorgehen, auch im Parlament, wäre wünschenswert. Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit sollten in unserer Gesellschaft für alle gegeben sein. Dieses Ziel wird von allen hier selbstverständlich geteilt. Doch zu viele Menschen in unserem Land teilen dies nicht. Es ist nicht nur so, dass die NPD und ihre Verbündeten in Landtagen und Kommunalparlamenten vertreten sind und - wie die Statistik zeigt - die rechte Gewalt auf hohem Niveau bleibt, sondern es gibt auch Orte in unserem Land, in denen die Rechtsextremen das öffentliche Bild maßgeblich prägen. Ein Beispiel ist das Dorf Jamel in MecklenburgVorpommern, in dem der Rechtsextremismus zum Alltag gehört. Dort lebt Sven Krüger, der zum NPD-Kader gehört und mit seinen Kameraden versucht, das Dorf aufzukaufen. Unerwünschte, die nicht ausziehen wollen, werden terrorisiert. Derartige Zustände findet man zumeist in ländlichen und strukturschwachen Gegenden vor. Orte, in denen vermeintlich Linksextreme oder Islamisten das gesamte öffentliche Leben dominieren, kenne ich nicht. Deshalb ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, dass die Koalition in ihrem Antrag Rechts- und Linksextremismus in einem Atemzug nennt. ({0}) Immerhin gesteht sie in einem Halbsatz zu, dass „die Mehrheit der extremistischen Kriminalität ihren Ursprung im ‚rechten‘ Milieu hat“. Doch leider geht sie dem Problem nicht auf den Grund, sondern schwenkt wieder zu altbekannten Extremismusformen über. Es ist aber dringend notwendig, die Unterschiede zu benennen. Sonst kommen praxisferne Konzepte dabei heraus, und man stellt Verbündete unter Verdacht. Ein Indiz dafür ist die heute schon zitierte sogenannte Extremismuserklärung, die Initiativen und Kommunen, die Fördermittel von Bund und einigen Ländern haben wollen, unterzeichnen und so für sich und ihre Partner verbindlich versichern müssen, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. ({1}) Wie macht man das? Ein kleiner Tipp der Ministerin Schröder, den sie in der gestrigen Sitzung des Familienausschusses gab: Man soll seine Partner googeln. - Ich finde das armselig. ({2}) Diese Klausel ist ein Misstrauensvotum gegen die Zivilgesellschaft und völlig unnötig. Das Bekenntnis zur Demokratie ist nicht das Schlimme. Wenn schon eine solche Erklärung unterzeichnet werden muss, dann sollen sich bitte auch andere - das hat der Kollege Beck vorhin erwähnt -, zum Beispiel der Bund der Vertriebenen, zur Demokratie erklären. Es geht um das Misstrauen gegenüber den Initiativen, die auch noch ihre Partner ausspionieren sollen. Das ist rechtlich fragwürdig und praktisch kaum umsetzbar. Eine Blüte der Absurdität trieb das Verfahren in der sächsischen Stadt Riesa, die Fördermittel beantragt hat und sich jetzt zur Verfassung bekennen muss. ({3}) Der Riesaer Finanzbürgermeister zeigte sich zu Recht irritiert, weil er sich mit seiner Unterschrift automatisch auch für die Grundgesetztreue der NPD-Stadträte verbürgen musste. Liebe Koalitionskolleginnen und -kollegen, das ist doch kontraproduktiv. Liebe Kollegen von der Koalition, ein solches Verfahren ist eine Farce und ist völlig an den Haaren herbeigezogen. ({4}) Bündnis 90/Die Grünen stehen auf der Seite der Kommunen und der zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich mutig und engagiert gegen Rassisten und Antisemiten stellen. Wir vertrauen diesen Akteuren und unterstützen sie. Wir freuen uns, dass sich in diesem Punkt alle Oppositionsfraktionen einig sind. Eine solche Unterstützung würde ich mir auch von den Koalitionsfraktionen wünschen. Über den Antrag der Grünen und den der Linksfraktion haben wir hier schon vor einigen Wochen diskutiert. Heute reden wir nicht nur über den Koalitionsantrag, sondern auch über den Antrag der SPD, den wir für unterstützenswert halten. ({5}) Erfolg können unsere Vorschläge allerdings nur haben, wenn sie in eine gesamtgesellschaftliche Demokratieinitiative eingebunden sind. Dazu gehört, dass sich Demokratinnen und Demokraten nicht gegenseitig des Extremismus verdächtigen, sondern vertrauensvoll zusammenwirken. Ich wünsche mir und hoffe gerade an diesem Tag, dass wir in den Beratungen zu tragfähigen Ergebnissen kommen. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Pols hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2009 gab es insgesamt circa 25 000 politisch motivierte Straftaten in Deutschland. Das sind für uns 25 000 Gründe, den Extremismus weiter zu bekämpfen. Nach wie vor stellt der Rechtsextremismus eine große gesellschaftliche Bedrohung dar. Zwar ist das Personenpotenzial der rechtsextremen Szene nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes zurückgegangen, aber deshalb dürfen wir im Kampf gegen Rechtsradikale nicht nachlassen. Wir haben im vergangenen Jahr die beiden Programme „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ und „kompetent. für Demokratie - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ auslaufen lassen. Wir haben - Frau Bär hat das schon gesagt 5 000 Einzelprojekte gefördert und weit über 2 Millionen Menschen damit erreicht. Im Abschlussbericht steht sogar, dass hier von vielversprechenden Modellprojekten auszugehen ist. An dieser Stelle sage auch ich Dank an alle Initiativen, die dazu ihren Beitrag geleistet haben. ({0}) Diesen guten Weg wollen wir fortsetzen. Wir als christlich-liberale Koalition wollen ab 2011 diese Programme unter einem Dach - dem Bundesprogramm „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ - weiterführen. Wir werden in diesem Jahr 24 Millionen Euro allein für den Kampf gegen Rechtsextremismus zur Verfügung stellen. Auch halten wir als christlich-liberale Koalition an der Extremismusklausel für die Projektträger fest. Wir wollen verhindern, dass sich extreme Kräfte unter dem Deckmantel des Antifaschismus Steuergelder erschleichen und damit ihren Kampf gegen unseren Staat finanzieren. ({1}) Ein klares Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung sollte für Initiativen, die sich dem Kampf gegen politischen Extremismus verschrieben haben, eine Selbstverständlichkeit sein, Frau Lazar. ({2}) Dies hat überhaupt nichts mit Misstrauen zu tun. ({3}) Der Steuerzahler hat ein Recht darauf, zu wissen, wohin sein Geld geht und dass es für ihn ausgegeben wird und nicht gegen ihn. ({4}) „Linke Gewalt erlebt eine Renaissance“, stellte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herr Fromm, in einem Interview mit der Berliner Zeitung fest. Dass dies so ist, belegen nicht nur zahlreiche von linken Chaoten gelegte Pkw-Brände in den Großstädten und auch in der Provinz, in meiner Heimatstadt, sondern dies wird auch und vor allem durch einen massiven Anstieg der Zahl linker Gewalttaten belegt. Wir dürfen den Linksextremismus nicht unterschätzen. Er ist - wie auch der Rechtsextremismus - kein Randphänomen. ({5}) Mit der Initiative „Demokratie stärken“ wird deshalb die Extremismusprävention des Bundesfamilienministeriums auf die Bereiche Linksextremismus und islamistischer Extremismus erweitert. Dafür werden weitere 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Ausweitung des Programms auf andere Extremismusarten bedeutet im Übrigen nicht, liebe Freunde von der SPD, dass der Rechtsextremismus dadurch automatisch verharmlost wird, wie Sie es in Ihrem Antrag behaupten. ({6}) Die SPD bleibt in ihrem Antrag leider die Antwort schuldig, wie sie gegen Linksextremismus und Islamismus vorgehen will. Auch wenn Sie in drei Ländern in der Bundesrepublik mit der Partei koalieren, die dem Kommunismus zum Comeback verhelfen will, liegt es doch bestimmt nicht in Ihrem Interesse, dass linksextreme Ideologien in Deutschland wieder Fuß fassen. ({7}) Deutschland ist schon länger im Visier islamistischer Terroristen. Dies haben uns die Schreckensmeldungen über die Bedrohungslage in Deutschland vom vergangenen Herbst noch einmal deutlich gemacht. Selbst der Reichstag, in dem wir heute diskutieren, ist zum gefährdeten Ort geworden. Diese Bedrohung ist nicht nur eine Bedrohung von außen, sondern auch von innen. Islamismus gibt es ebenso wie Links- und Rechtsextremismus innerhalb unserer Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass das Bundesinnenministerium im Sommer 2010 das Aussteigerprogramm HATIF gestartet hat. Ich bin vor allem dankbar, dass muslimische Organisationen in unserem Land dies nach Kräften unterstützen. Wie kommt es zu Extremismus? Herr Bernschneider hat dies kurz angesprochen. Extremismus hat seinen Nährboden in Perspektivlosigkeit. Junge Menschen brauchen eine Perspektive; denn das macht sie immun gegen totalitäre Ideologien. Dazu bedarf es zuallererst einer soliden Finanz-, Wirtschafts- und Bildungspolitik, wie sie von der christlich-liberalen Koalition gestaltet wird. ({8}) Aber auch damit erreichen wir nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft. Bei vielen Jugendlichen ist die rassistische und antidemokratische Ideologie schon sehr verfestigt. Von heute auf morgen werden sie ihre Gesinnung sicherlich nicht ablegen. Hier setzen wir auf das Programm „Xenos - Leben und Arbeiten in Vielfalt“ und das Xenos-Sonderprogramm „Ausstieg zum Einstieg“. Jugendliche und junge Erwachsene, darunter auch Aussteiger, sollen mit berufsbezogenen Maßnahmen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dabei werden sie mit Maßnahmen für Toleranz, Demokratie und Vielfalt begleitet. Hier können wir uns gut eine Förderung aus dem Europäischen Sozialfonds vorstellen. ({9}) Junge Menschen müssen gegen extremistische und totalitäre Ideologien aus allen Richtungen immun werden. ({10}) Mit unserem Antrag verfolgen wir deshalb einen ganzheitlichen Ansatz. Ich finde es schade, Herr Rix, dass in dem Antrag der SPD Linksextremismus und Islamismus nicht aufgegriffen werden. Ich glaube, hier sind Sie ein bisschen zu kurz gesprungen. Es ist richtig und wichtig, null Toleranz gegen Extremismus jeglicher Art zu haben. Das sollte Konsens aller demokratischen Fraktionen in diesem Hause sein. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kolbe für die SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich war gestern Podiumsgast auf einer Veranstaltung der Friedrich-EbertStiftung zur FES-Studie „Die Mitte in der Krise“. Diese Veranstaltung war sehr gut besucht. Bei den Teilnehmenden hat sich angesichts der Zahlen dieser Studie eine pessimistische bis irritierte Stimmung breitgemacht. In der Bevölkerung gibt es Zustimmungsraten von 30 Prozent und mehr bei rassistischen, ausländerfeindlichen Aussagen. Die Zustimmung zu chauvinistischen, antisemitischen Aussagen ist eklatant hoch. Ebenso erschreckend ist die Zustimmung zur Verherrlichung der NS-Diktatur. Ich habe versucht, dieser pessimistischen Stimmung ({0}) ein bisschen Optimismus entgegenzusetzen. Ich bin nämlich der Auffassung, dass die Gesellschaft und wir in der Politik in der Tat etwas gegen diese manifesten Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft tun können. ({1}) Das können wir durch die Förderung der Beteiligung und mehr Demokratie erreichen. Laut der Studie haben nämlich 90 Prozent der Bevölkerung den Eindruck, dass sie Politik nicht mitgestalten können. Wir können es aber auch durch gute politische Bildung, durch Programme, die die Zivilgesellschaft stärken, erreichen; denn - das ist meine persönliche Erfahrung und vielleicht auch die Erfahrung anderer - die Nazis sind insbesondere dort stark, wo die Zivilgesellschaft schwach ist. ({2}) Deshalb sind die Programme, die Rot-Grün ins Leben gerufen hat, die die Große Koalition fortgeführt hat und die auch Sie fortsetzen wollen, so positiv zu bewerten. Ich möchte Ihnen zugestehen und positiv hervorheben, dass Sie genau das erkannt haben. ({3}) Schön an Ihrem Antrag fand ich auch, dass Sie gerade die Bundeszentrale für politische Bildung ({4}) als einen Initiator von sehr guter politischer Bildung bewertet haben. Ich hoffe daher, dass wir alle gemeinsam in den nächsten Haushaltsberatungen gegen die angekündigten Kürzungen des Innenministeriums streiten wollen. Die Mittel für die Bundeszentrale sollen auf den Stand von vor der Wiedervereinigung gekürzt werden. Wenn Sie es mit Ihrem Engagement gegen Extremismus wirklich ernst meinen, dann lassen Sie uns bitte gemeinsam dagegen einsetzen. ({5}) Bei all dem Positiven gibt es im Bereich „Kampf gegen Rechtsextremismus“ zwei Dinge, die mir Sorgen machen. Das eine klingt ein wenig wie eine Krankheit: Projektionitis. Die herrscht nämlich, wenn es um Förderung im Kampf gegen Rechtsextremismus geht. Unglaublich gute Träger, die bereits seit Jahren eine sehr gute, nachhaltige Arbeit machen, hüpfen von Programm zu Programm und haben nicht die Möglichkeit, eine stetige Finanzierung zu erhalten. Das betrifft auch Träger, die nicht nur in einem Bundesland, sondern bundesweit aktiv sind. Wir haben in unserem Antrag Vorschläge gemacht, wie wir etwas dagegen tun können. Als weiteres Problem sehe ich den Diskurs. Ihre Ministerin und auch die Koalition bestehen offenbar darauf, in jedem Satz, in dem das Wort „Rechtsextremismus“ vorkommt, auch die Begriffe Linksextremismus, Ausländerextremismus - oder was auch immer - unterzubringen. Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, dass Sie Links- und Rechtsextremismus gleichsetzen wollen. Bei vielen Leuten kommt es allerdings genauso an. Nicht nur das: Sie manifestieren den Eindruck, dass es sich bei Extremismus und insbesondere beim Rechtsextremismus um ein randständiges Problem handelt, das nur an den Enden der Gesellschaft vorkommt. Aber gerade die „Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung widersprechen dem. Wir haben heute den 27. Januar. An diesem Tag gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus. Man kann aus der Geschichte, aus dem, was damals aus der Mitte der Gesellschaft heraus passiert ist, durchaus etwas lernen, und genau das tun die Träger, die Sie mit einer „Demokratieerklärung“ hier unter Generalverdacht stellen. Daniela Kolbe ({6}) ({7}) Diese Träger fördern Demokratie ({8}) und arbeiten gegen Menschenfeindlichkeit. Sie beraten Opfer und Kommunen. Bitte tun Sie alles, damit diese Träger weiterhin ihre Arbeit verrichten können. Sie verlieren hier viele schöne Worte über die Träger, aber mit Ihren Taten diskreditieren Sie sich selbst. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin an einem solchen Tag nach wie vor bestürzt, wenn ich lese, dass in Deutschland etwa 15 Prozent der Menschen auf die Frage, ob Juden in dieser Gesellschaft zu viel Einfluss haben, eine positive Antwort geben. Das Phänomen des Antisemitismus ist in unserer Gesellschaft leider - das muss man an einem solchen Tag einmal sagen - nach wie vor weit verbreitet. Deswegen ist es mein Anliegen - so mein Appell -, genauer zu schauen, wo Antisemitismus, Extremismus und Rassismus ihre Wurzeln haben. ({0}) Ich gestehe, dass mich die heutige Debatte in dieser Hinsicht etwas enttäuscht hat. Es ist einfach schade, dass man in das klassische Links-rechts-Schema verfällt. ({1}) Es ist schade, dass man sich nicht traut, genau hinzuschauen, wo Straftaten und Mentalitäten auftreten, die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung diametral zuwiderlaufen. Die Ebene der Straftaten ist nur eine Ebene. Ich kann Ihnen sagen: Ich bin mehrfach Opfer linksextremer Gewalt geworden. Dann redet man über ein solches Thema anders, als wenn man einfach das Gefühl hat, die Menschen täten einem nichts. ({2}) Die Geschäftsstelle in meinem Wahlkreis ist zerstört worden. Ich bin bedroht worden, weil ich hier ein bestimmtes Abstimmungsverhalten an den Tag gelegt habe. Ich bitte Sie, gerade die Vertreter der Grünen und der SPD, eindringlich: Verschließen Sie nicht die Augen! Keiner will das schlimme Phänomen des Rechtsextremismus in irgendeiner Form verniedlichen; keiner will so tun, als ob das nicht das vorrangige Problem sei. Wir müssen aber einfach einen realistischeren Blick auf all diese Gegebenheiten richten, als Sie es leider in dieser Debatte - vielleicht mit Ausnahme der letzten Rednerin der SPD - getan haben. ({3}) Ich verstehe, dass die Bekämpfung der rechtsextremen Gesinnung gerade in Ihren Parteien, die große Verdienste bei der Bekämpfung dieser Gesinnung erworben haben, deren Mitglieder oft auf die Straße gegangen sind und sich bei Demonstrationen persönlich eingesetzt haben, die Wurzel des Kampfes gegen Extremismus darstellt. Aber schauen Sie bitte hin! Schauen Sie hin, wenn Straftaten geschehen, wenn es Überzeugungen gibt, die weit über das hinausgehen, was wir auf linker Seite akzeptieren können. ({4}) Bitte hören Sie auf, Anträge zu stellen, in denen ein einseitiger und empirisch nicht fundierter Extremismusbegriff auftaucht. ({5}) - Das ist eine interessante Frage. ({6}) Das Phänomen des Linksextremismus in Deutschland ist durchaus sehr disparat. Ich gebe Ihnen recht: Es ist nicht die Übertragung der Mittel von rechts auf links; es sind andere Milieus. ({7}) - Ja. Das heißt aber nicht, dass es diese Milieus nicht gibt. ({8}) - Ja, man muss sie auch anders bekämpfen. Dafür muss man dieses Phänomen zur Kenntnis nehmen und es ernst nehmen. ({9}) Ich komme zum Schluss. Ich würde mich freuen, einmal sachlich und ruhig darüber zu reden. Vielleicht ist der Ausschuss dafür der bessere Ort; dann müssen Sie nicht diese Bekenntnisse ablassen. Die Linke hat sich in der Debatte leider, wie so häufig, völlig diskreditiert; aber von ihr war auch nicht mehr zu erwarten. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4432 und 17/3867 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach 2013 - Förderung auf nachhaltige, bäuerliche Landwirtschaft ausrichten - Drucksache 17/4542 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach 2013 weiterentwickeln - Drucksache 17/2479 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Versetzen wir uns doch einmal in das Jahr 2020 und fliegen über die ländlichen Räume Europas! Was sehen wir unter uns? Sehen wir vielfältige Landschaften, gegliedert durch Hecken, Bäume, Bäche und Dörfer, vielseitige Feldfrüchte, Wiesen und Weiden, belebt von Tieren? ({0}) Oder sehen wir in den fruchtbaren Gebieten vor uns ausgeräumte Landschaften, Maismonokulturen, hier und da eine Tierfabrik, die weniger fruchtbaren Gebiete verödet und ehemals grüne Mittelgebirge verbuscht und verwaldet? Beides ist möglich. In den nächsten Monaten werden die Weichen dafür gestellt, welche Richtung die Gemeinsame Agrarpolitik und damit die Landwirtschaft in Europa nach 2013 nehmen wird. Bäuerliche Landwirtschaft oder Agrarindustrie? Das ist die Frage, über die wir hier heftig streiten, weil sie keine Geschmacksfrage, sondern die landwirtschaftliche Zukunftsfrage ist. ({1}) Spätestens seit dem Dioxinskandal pfeifen doch die Spatzen von den Dächern, dass etwas faul ist im Staate Sonnleitner, ({2}) dass die alte Agrarpolitik an ihr Ende gekommen ist und dass es Zeit ist für einen Neuanfang, Zeit für die Agrarwende 2.0. ({3}) Die Entscheidung der Bundeskanzlerin, als Antwort auf die Dioxinkrise Herrn Kollegen Bleser, der wie kaum ein anderer die Kumpanei zwischen CDU, Großgenossenschaft und Bauernverband verkörpert, zum Staatssekretär im BMELV zu machen, ist entweder dumm oder dreist. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ostendorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bleser?

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich sage noch einen Satz; dann haben wir den Zusammenhang, damit der Kollege Bleser alles bearbeiten kann. - In jedem Fall zeigt es uns, dass die CDU die Zeichen der Zeit nicht einmal ansatzweise verstanden hat. ({0}) Jetzt der Kollege Bleser.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ostendorff, können Sie mir sagen, warum Sie so verbittert sind und gegen die Genossenschaften wettern, die im vorletzten Jahrhundert als Notgemeinschaften der Bauern gegründet wurden und in denen die Landwirte - etwa in Molkereigenossenschaften oder Warengenossenschaften - ihren Absatz selbst organisieren? Halten Sie es für falsch, dass in den Führungsgremien dieser Genossenschaften nicht Vertreter von irgendwelchen Kapitalgesellschaften sind, sondern Bauern, die für ihre Mitglieder dafür sorgen, dass das entsprechende Geschäftsgebaren eingehalten wird? ({0})

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gestatten Sie, Herr Kollege Bleser, dass ich Ihre Fragen in umgekehrter Reihenfolge beantworte. Ja, ich halte es für falsch, dass gewählte Vertreter der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gleichzeitig interessengeleitete Aufsichtsratsvorsitzende in sehr großen Genossenschaften sind. Das halte ich in der Tat für falsch. ({0}) Schon aus politischer Hygiene sollten wir eine gewisse Distanz an den Tag legen und uns entscheiden, ob wir Interessenvertreter einer Genossenschaft, eines Wirtschaftsunternehmens sind oder ob wir unseren Auftrag gegenüber dem deutschen Volk wahrnehmen. ({1}) - Ich bin noch nicht fertig. Bitte bleiben Sie noch stehen. Sonst kann ich Ihre erste Frage nicht beantworten. Jetzt läuft aber meine Redezeit schon wieder.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

So ist es; denn ich kenne die Großzügigkeit, mit der bei Zwischenfragen wechselseitig gerne gearbeitet wird.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut, dann antworte ich in meiner Redezeit. Ja, ich bin Genosse. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe im letzten Jahr mit 49 anderen Bäuerinnen und Bauern eine neue Genossenschaft gegründet. ({0}) Das ist eine Genossenschaft, in der alle mitreden und alle etwas zu sagen haben. Den Filz, Herr Bleser, den Sie und Leute wie Sie verkörpern, haben die Leute aber endgültig satt. ({1}) Niemals zuvor sind in Deutschland wie am Samstag 20 000 Menschen mit dem Motto „Wir haben es satt!“ auf die Straße gegangen, weil sie eine andere Landwirtschaft und eine andere Agrarpolitik wollen. Nie zuvor gab es ein so breites Bündnis gesellschaftlicher Gruppen, die wollen, dass aus dem Subventionsbetrieb Agrarpolitik ein Gestaltungsinstrument für Europas Landschaft und Landwirtschaft wird, ein starkes Instrument für gesunde Ernährung, fairen Handel und lebendige Dörfer. Der Vorschlag von EU-Kommissar Ciolos für eine Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik liegt auf dem Tisch. ({2}) Ob es ein großer Schritt vorwärts oder ein Schritt in die Vergangenheit wird, hängt entscheidend davon ab, wie sich Deutschland verhält. Bisher zeigen Sie wenig Mut und reden den Ewiggestrigen das Wort. ({3}) Bisher ist Deutschland der schwerste Klotz am Bein der Reformkräfte. Die Bundesregierung ist leider auch hier wieder auf dem besten Weg, eine historische Reform zu verhindern, ({4}) weil sie nicht den Willen und den Mumm hat, dem alten System Paroli zu bieten, ({5}) jenem System, das uns gerade wieder Gift in Eiern aufgetischt hat. ({6}) Nein, meine Damen und Herren, Rumeiern gilt heute nicht mehr. ({7}) Wer jetzt den Bäuerinnen und Bauern und den Bürgerinnen und Bürgern sagt, dass alles so bleiben kann, wie es ist, der muss auch ehrlich sein und sagen, was das bedeutet. Das bedeutet: kein Klimaschutz, kein Tierschutz, ({8}) kein Artenschutz, kein Wasserschutz, keine Kühe auf der Weide, keine Bauernhöfe, keine internationale Fairness, kein Ende der Lebensmittelskandale, keine gemeinsame Perspektive für das ländliche Europa. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns eine mutige Agrarreform wagen, damit der ländliche Raum eine große Zukunft hat! ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Josef Rief für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Josef Rief (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004136, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Koalition ist an einer zukunftsgerechten Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik gelegen. Ja, wir werden alles tun, damit die Landwirtschaft, der ländliche Raum Zukunft behält. Wir sind selbstverständlich für eine europäische Landwirtschaft im Wettbewerb, die nicht nur die europäische Bevölkerung sicher mit NahJosef Rief rungsmitteln versorgt, sondern auch einen Beitrag zur Welternährung und zur umweltgerechten Energieversorgung liefert. ({0}) Was wäre denn die Alternative? Die Vorschläge der SPD und der Grünen würden zu geringeren Direktzahlungen für die deutschen Bauern führen und die bürokratischen Lasten für die Betriebe zusätzlich erhöhen. Deshalb lehnen wir diese Vorschläge ab. ({1}) Wir müssen dafür kämpfen, dass die Direktzahlungen nicht vermindert werden und kein europaweiter Sockelbetrag, wie Sie ihn nennen, eingeführt wird - und das alles noch vor dem Hintergrund, dass sich dadurch die Nettozahlerposition Deutschlands massiv verschlechtern würde. ({2}) Natürlich - ich möchte das gar nicht kleinreden - profitieren wir von der EU. Wir sollten und müssen auch unserer Wirtschaftsleistung und Bevölkerungszahl entsprechend zum Haushalt der Union beitragen. In meinem Wahlkreis gibt es viele mittelständische Unternehmen wie den Baumaschinenhersteller Liebherr oder den Pharmaproduzenten Boehringer Ingelheim, die weit über die Hälfte ihrer Produkte ins europäische Ausland exportieren. Nur, eines geht nicht: Eine Verschlechterung unserer Nettozahlerposition darf nicht auf dem Rücken der Bauern ausgetragen werden. ({3}) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen jetzt einmal etwas als praktizierender Landwirt: Für viele meiner Berufskollegen machen die Direktzahlungen bis zu 50 Prozent der Einkommen aus. Deswegen: Bitte mehr Sensibilität bei diesem Thema! ({4}) Es gibt nur Leistungen, wenn der Landwirt nicht weniger als 2 680 Auflagen und 590 Standards, sogenannte Cross-Compliance-Regelungen, einhält, Auflagen, die von Tier- und Pflanzengesundheit über Lebensmittelsicherheit bis hin zu Umweltschutz und Tierschutz reichen. Die Zahlungen sind auch keine Geschenke. Dafür pflegen die Landwirte die Landschaft, damit wir alle sie genießen können. ({5}) Und von wegen, die ökologische Landwirtschaft werde zu wenig gefördert! Schon jetzt erhält zum Beispiel jeder ökologisch wirtschaftende Betrieb in BadenWürttemberg eine um durchschnittlich 190 Euro höhere Förderung pro Hektar als der Betrieb des konventionell wirtschaftenden Kollegen. ({6}) Sollte die Höhe der Direktzahlungen auf europäischer Ebene vereinheitlicht werden und sinken, werden noch mehr Höfe aufgeben müssen. Wollen Sie wirklich, dass der ländliche Raum ausblutet? Wir wollen das jedenfalls nicht. ({7}) Ohnehin war der Strukturwandel, also die Aufgabe von Betrieben, in der rot-grünen Regierungszeit - ich kann Ihnen das nicht ersparen - um 50 Prozent höher als in den letzten Jahren. ({8}) Meine Damen und Herren, es geht hier aber nicht um ein Ausspielen der konventionellen Landwirtschaft gegen die ökologische Landwirtschaft. Wir sind gegen die Ausspielerei. ({9}) Von einer Umverteilung der Mittel oder - ich sage es klar - von einer Kürzung der Mittel wären beide Bereiche betroffen. Nach der BSE-Krise - das ist schon einige Jahre her, aber ich bin sicher, die Bürgerinnen und Bürger wissen das noch - haben SPD und Grüne schon einmal die Agrarwende ausgerufen. Gebracht hat es gar nichts. ({10}) Bezahlt aber haben es die Bauern mit geringeren Einkommen und die Verbraucher mit Verunsicherung. Das ist doch die Wahrheit! ({11}) Meine Damen und Herren, die Probleme in der Biobranche sind heute weitgehend dieselben wie in der konventionellen Landwirtschaft; denn auch beim Biomarkt wird das Preisniveau von Lieferanten aus dem Ausland begrenzt. Woher sollen die Milliarden für eine noch stärkere Förderung der Ökolandwirtschaft kommen? Ich sehe das Geld in Brüssel nicht. Wir brauchen konventionelle und ökologische Landwirtschaft. Jeder - das ist meine Auffassung - soll seinen Betrieb führen, wie er es möchte. Auch für die Bauern muss gelten: Jeder soll nach seiner Fasson wirtschaften. Am Ende wird ohnehin der Verbraucher entscheiden, wofür es einen Markt gibt und wofür nicht. ({12}) Wir treten klar ein für Qualität in Freiheit und sind gegen den Zwang zum Ökosozialismus. ({13}) Es ist einfach falsch, die ökologische Landwirtschaft als Allheilmittel zur Welternährung anzupreisen und bei jeder Debatte die Systemfrage zu stellen. Gleichzeitig wird bei einem - zugegebenermaßen umfangreichen Skandal, der wohl, so habe ich es gelesen, von einem Mann mit Stasivergangenheit verursacht wurde, der Weltuntergang beschworen und den Menschen suggeriert, alle gewöhnlichen Lebensmittel seien schädlich. Damit helfen wir niemandem. ({14}) Was soll das anderes sein als Wahlkampf pur? So geht das nicht. ({15}) Die Unionsfraktion wird sich in den nächsten Monaten bei Gesprächen auf EU-Ebene für eine umsichtige Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik einsetzen, die für Verbesserungen offen ist und an Bewährtes anknüpft. Wir fordern die Beibehaltung des ZweiSäulen-Modells mit starker erster Säule und die Beibehaltung des bisherigen Gesamtbudgets für die GAP. Verschiebungen zwischen den Säulen lehnen wir ebenso ab wie eine weitere Belastung mit Cross Compliance. Sogenannte Fachpolitiker, die von vornherein, also noch bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen, auf viel Einkommen der Landwirtschaft verzichten und dabei noch die Nettozahlerposition Deutschlands verstärken wollen, gehören - mit Verlaub gesagt - aus Respekt vor unserem ehemaligen Ministerpräsidenten nicht zum Teufel gejagt, aber doch mit viel Wasser in die politische Wüste geschickt. Herzlichen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Rief, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen des Hauses herzlich gratuliere. ({0}) Ich erteile nun das Wort als nächstem Redner dem Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht auch von mir Glückwünsche von hier vorne an den Kollegen Rief, wenn er denn zuhört. Noch eine kurze Bemerkung aus dem grünen Idyll von „Kater Krümels Bauernhof“, den der Kollege Ostendorff hier beschrieben hat: Kräht der Rief auf dem Mist, ändert sich die deutsche Agrarpolitik oder sie bleibt, wie sie ist. ({0}) Das ist mein Fazit der Rede. ({1}) Wenn wir uns mit dem Thema einmal ernsthaft auseinandersetzen, dann erkennen auch Sie, dass wir Sozialdemokraten im Hinblick auf die Reform der GAP doch einiges vorzuweisen haben. Wir haben Ihnen bereits vor fast einem Dreivierteljahr - vor allen anderen Parteien hier im Hause und auch vor vielen Verbänden - ein entsprechendes Konzept dazu vorgelegt und in unseren Vorschlägen eine ganz klare Linie dafür formuliert, wo es mit der Agrarpolitik in Zukunft hingehen könnte. Dies haben wir auch aus der Erkenntnis heraus getan, dass die Akzeptanz der jetzigen Agrarpolitik in verschiedenen Bereichen - auch in der Gesellschaft - weitestgehend verlorengegangen ist. Darum begrüße ich natürlich auch das Konsultationsverfahren, das der EU-Agrarkommissar eingeleitet hat. 6 000 Stellungnahmen aus ganz Europa sind schon ein Erfolg. Ich kann Ihnen sagen: Wir waren auch dabei. Deshalb freuen wir uns, dass wir den mit den Bürgern begonnenen Dialog auch auf der politischen Ebene zielgerichtet zu Ende führen können. Es wird nach meiner Einschätzung keinen radikalen Bruch geben, und es ist hier auch nicht unbedingt die Systemfrage zu stellen, aber es muss dringend Veränderungen geben; denn es besteht ein großer Korrektur- und Handlungsbedarf. Wenn man sich das von uns vorgelegte Papier anschaut, dann sieht man, dass darin schon die zentrale Forderung enthalten ist, über die heute in Europa diskutiert wird, nämlich die „Begrünung“ der Gemeinsamen Agrarpolitik. Für uns gilt primär der Grundsatz „Öffentliches Geld für öffentliche Güter“. Die Begrifflichkeit dieses Grundsatzes lassen wir uns von Frau Höhn natürlich nicht stehlen. Das steht in unserem Papier und nicht in dem Papier der Grünen. Wir müssen wegkommen von der Belohnung für die Einhaltung an sich selbstverständlicher fachlicher Vorgaben und hinkommen zu einer wirklichen Entlohnung konkreter gesellschaftlicher Leistungen, was der Steuerbürger in Europa auch erwarten kann und von der Landwirtschaft erwarten muss. ({2}) Für uns ist nicht allein die Systematik der ersten und zweiten Säule ausschlaggebend, sondern das Ergebnis der Reform dieser Strukturen. Das ist für uns das Entscheidende. Insofern ist das von uns vorgeschlagene Modell an sich weiß Gott kein Dogma, aber am Ende muss doch ein gesellschaftlicher Mehrwert für alle MenDr. Wilhelm Priesmeier schen in Europa stehen. Das sollte uns bei der Reform der europäischen Agrarpolitik antreiben. Wir freuen uns, dass unsere Vorschläge in der Weise eingeflossen sind, dass wir fast alles aus unserem Papier in dem Ciolos-Vorschlag wiederfinden. Leider ist die Position der Bundesregierung nicht klar erkennbar. Man sieht zwar, dass es Diskussionen und Handlungsbedarf gibt, aber bislang gibt es keine konkreten Vorstellungen. Ich habe den Eindruck, als sei die Position der Bundesregierung völlig identisch und deckungsgleich mit der Position des Deutschen Bauernverbandes. Ich weiß nicht, ob das der richtige Ansatz ist. Das liegt aber wahrscheinlich daran, dass die Ministerin und die Bundesregierung keine eigene Strategie haben. ({3}) Ich sage dazu nur: einfallslos, ideenlos und vielleicht auch - zumindest habe ich die Befürchtung - erfolglos. ({4}) Das ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Ergebnis der schwarz-gelben Koalition. Ich finde, das ist aufgrund der Rolle, die Deutschland bei Agrarverhandlungen und am Brüsseler Tisch immer gespielt hat, ein Armutszeugnis und der deutschen Landwirtschaft mit ihrem Einfluss und ihrer Bedeutung auch nicht angemessen. Die Ministerin hat wohl den falschen Kurs eingeschlagen. Sie fährt auf der falschen Spur, sie fährt in die falsche Richtung, sie erkennt den Gegenverkehr nicht, und wenn sie nicht aufpasst, dann fährt sie zumindest den Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik, der uns betrifft, an die Wand. Das ist das typische Verhalten, das Geisterfahrer zeigen. Paris, Warschau, Rom: Wo ist das Konzept? Ich glaube, mit der gemeinsamen Positionierung von Frankreich und Deutschland hat die Ministerin für die weitere Diskussion auf der europäischen Ebene mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet. Uns allen ist klar: Wir brauchen eine grundlegende Reform des Systems. Man kann im Zusammenhang mit den landwirtschaftlichen Einkommen darüber philosophieren, ob wir eine Grundsicherung brauchen. Wir haben sie in Form eines Sockelbetrags vorgeschlagen. Klar ist aber auch: Agrarpolitik ist keine Sozialpolitik. Insofern ist das nach dem Subsidiaritätsprinzip Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten und kann nicht zur Gänze aus dem Agrarhaushalt dargestellt werden. Das gilt auch im Hinblick auf die erforderlichen Konsolidierungsbemühungen, die wir alle zu leisten haben, sei es in unseren Haushalten, in den Haushalten der anderen EU-Mitgliedstaaten oder im EU-Haushalt. Der Handlungsrahmen ist sehr begrenzt. Deshalb brauchen wir ein Konzept, um unter Umständen auch mit einem bisschen weniger ein bisschen mehr zu erreichen. Für uns ist es wichtig, dass die Werte und öffentlichen Güter, die die Landwirtschaft bietet, honoriert und anerkannt werden, zum Beispiel die Sicherheit unserer Lebensmittel, die Kulturlandschaft in Europa. Höhere Produktionskosten müssen berücksichtigt werden. Auch dafür gibt es in unserem Modell einen entsprechenden Vorschlag. ({5}) Wir müssen aber auch im Hinblick auf die zweite Säule die Ausrichtung der europäischen Agrarpolitik reformieren. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen erster und zweiter Säule. Das lässt sich aber erst dann darstellen, wenn wir den konkreten Finanzierungsrahmen kennen. Auch hierzu machen wir konkrete Vorschläge. Wir wollen, dass die zweite Säule so ausgestaltet ist, dass wir eine echte Politik zu einer integrierten Entwicklung in den ländlichen Räumen darstellen können. Das ist die unbedingte Voraussetzung. Für uns als Sozialdemokraten zählt nicht so sehr die ideologische Auseinandersetzung über Groß oder Klein; für uns zählen vielmehr die Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen. Das unterscheidet uns von den Grünen, ({6}) deren Modell vielleicht nicht mehr so typisch ist. Man muss sich aber den Herausforderungen stellen und sich dazu bekennen, dass man gelegentlich nachsteuern oder auch umsteuern muss. In Deutschland gilt es für uns auch in der Konsequenz aus der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik, unser zentrales Instrument vor allem in der Umsetzung der zweiten Säule, die GAK, gezielt weiterzuentwickeln. Wir müssen in der Perspektive die Synergien zwischen ELER und EFRE nutzen. Aus diesem Grunde fordern wir die Weiterentwicklung der GAK zu einer Gemeinschaftsaufgabe für ländliche Räume. ({7}) Auf all die offenen Fragen der Landwirte, aber auch der Gesellschaft haben Sie bisher keine Antwort angeboten. Welche Strategien haben Sie zum Beispiel angesichts des demografischen Wandel in den ländlichen Räumen? Ich nehme an, dass das in Bayern nicht anders ist als in Niedersachsen. Mit unserem Antrag und unserer Positionierung zur Gemeinsamen Agarpolitik haben wir eine klare Roadmap vorgelegt, an der Sie sich orientieren können, wenn Sie den Kurs verloren haben. In dem Zusammenhang kann ich Sie nur auffordern, das, was wir vorlegen, ernsthaft in Ihre Überlegungen einzubeziehen und dafür zu sorgen, dass es in Europa umgesetzt wird. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dr. Edmund Geisen ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Internationale Grüne Woche, die uns alle im Augenblick fest im Griff hat, ({0}) zeigt wieder einmal eindrucksvoll, welches Potenzial in der Landwirtschaft liegt. Sie ist eine Schlüsselbranche, ohne die die großen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte - Klimaschutz, Welternährung, Energieversorgung, Erhaltung der Artenvielfalt - nicht zu lösen sind. ({1}) Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir eine Gemeinsame Agrarpolitik - kurz: GAP -, die die moderne, effiziente und nachhaltig wirtschaftende Landwirtschaft stärkt. Die FDP-Fraktion steht für eine zukunftsfeste, unternehmerische und marktorientierte Landwirtschaft. Eine nach der Produktionsweise differenzierte Subventionspolitik mit staatlicher Gängelung - wie in den vorliegenden Anträgen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert - ist für uns definitiv keine Lösung. ({2}) Die Gemeinsame Agrarpolitik war ein Kernelement der Römischen Verträge von 1957. Es ging damals vor allem um die Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktivität. Einige von Ihnen werden sich noch gut an damals erinnern. Es war eine relativ arme Zeit, mit sehr viel Handarbeit verbunden, die Produkte der Landwirtschaft dienten in erster Linie der Selbstversorgung, der Versorgung von Mensch und Tier. Die Produktpalette war primitiv, die Qualitätsstandards ließen viel zu wünschen übrig. Ich selbst erinnere mich als Kind der Landwirtschaft an Missernten und an viele Krankheiten bei Pflanzen und Tieren. Es gab noch richtige Mangelperioden. Warum sage ich das? Weil ich klarmachen will: Wer die Vergangenheit idealisiert, der irrt. Die Zukunft darf niemals wieder in die Verhältnisse der Vergangenheit münden. ({3}) Technische Entwicklungen, Nährstofftransfers, Züchtungsmethoden und Krankheitsbekämpfung haben uns in den vergangenen vier Jahrzehnten in Westeuropa Wohlstand und natürlich auch Überschüsse beschert. Bei der Lösung des Problems der Überschüsse hat sich die EU lange mit Lagerhaltungsmethoden und Mengenbegrenzungen über die Zeit gerettet, ohne dabei dem Problem des Welthungers zu begegnen und ohne die EU-Landwirtschaft auf die Zukunft auszurichten. Unsere jetzige Devise muss lauten: Lasst uns aus der Vergangenheit lernen und die Zukunft neu ausrichten! ({4}) Unsere Parameter sind die rasant steigende Weltbevölkerung mit ihrem Bedarf an Nahrungsmitteln und Energie sowie der Klimaschutz. Für die FDP heißt die Zukunft: Stärkung der bäuerlich-unternehmerischen Landwirtschaft, die standortgerecht, nachhaltig und effizient wirtschaftet, die arbeitsteilig, technisiert, tier- und umweltgerecht ist, kurz: die gemäß dem Leitbild der guten fachlichen Praxis arbeitet. ({5}) Landwirtschaft ist kein Wirtschaftszweig wie jeder andere; das wird in der öffentlichen Diskussion oft vergessen. Landwirtschaft ist für Mensch und Tier von existenzieller Bedeutung, die Produktionsverfahren sind - wie sonst nirgendwo - abhängig von stetig vorhandenen Klimaschwankungen und lebenden Organismen. Gleichzeitig ist Landwirtschaft verantwortlich für den Erhalt unserer Kulturlandschaften und der attraktiven ländlichen Räume. Diese gesamtgesellschaftlichen Leistungen müssen auch weiterhin in der ersten Säule der GAP honoriert werden. ({6}) Natürlich müssen diese Prämien an die Einhaltung von Umwelt- und Tierschutzstandards gebunden sein, den sogenannten Cross-Compliance-Vorschriften. Sie dürfen aber erstens nicht zu noch mehr Bürokratie auf den heimischen Höfen führen und müssen zweitens für alle EU-Mitgliedstaaten gleich gelten. ({7}) Ich jedenfalls wende mich entschieden gegen eine sogenannte Flatrate, die in allen Mitgliedstaaten gleich ist. Dafür sind die Kaufkraftunterschiede noch zu groß, wodurch es zu Wettbewerbsverzerrungen käme. Mit der zweiten Säule der GAP sind besondere, darüber hinausgehende gewünschte Leistungen zu begleiten, um eine flächendeckende Landwirtschaft und prosperierende ländliche Räume zu erhalten und weitere freiwillige Umweltmaßnahmen zu unterstützen. Die europäische Landwirtschaft ist seit der GAP-Reform 2003 eigentlich auf einem guten Wege. Sie muss jetzt nicht wieder neu erfunden, sondern lediglich weiterentwickelt und optimiert werden. Sie wissen: Nichts ist so gut, als dass man es nicht noch verbessern könnte. Nehmen wir das von Kommissar Ciolos immer wieder eingeforderte Greening der GAP. Das unterstützen wir, solange anerkannt wird, dass unsere heimische Landwirtschaft schon weiter ist als andere. Wir in Deutschland haben zum Beispiel bereits Sachkundenachweise in allen Produktionssparten, die uns zu nachhaltigem Wirtschaften gemäß guter fachlicher Praxis befähigen. ({8}) Wir haben auf die Flächenprämie umgestellt. In keinem anderen EU-Mitgliedstaat werden Ackerland und Grünland völlig gleich behandelt. Schätzungsweise die Hälfte der deutschen landwirtschaftlichen Fläche unterliegt beDr. Edmund Peter Geisen reits jetzt einem Greening. Wir in Deutschland haben schon heute die geringsten Emissionen zum Beispiel pro Kilogramm Milch EU-weit. Ich sage Ihnen: Die deutsche Landwirtschaft ist gelebtes Greening. ({9}) Ideologisierung und Emotionalisierung der landwirtschaftlichen Produktion führen ganz sicher nicht zu besseren Produkten, eher zur Verblendung der Verbraucher. Stattdessen wollen wir die europäische Landwirtschaft zukunftsfest machen, indem wir die Chance zu einem grünen Wachstum ermöglichen - nachhaltig, effizient, qualitativ hochwertig. Die heimische Landwirtschaft ist auf einem guten Weg. Sie kann sich der Unterstützung der FDP-Fraktion auch künftig sicher sein. Uns allen möchte ich noch Folgendes empfehlen: Wir sollten uns nicht immer darüber beschweren, dass die Rosen Dornen tragen, sondern wir sollten uns auch einmal darüber freuen, dass die Dornen Rosen tragen. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Steffen Bockhahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Steffen Bockhahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004014, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir alle kennen den Wert der Landwirtschaft für unser Land: Ohne gute Landwirtschaft haben wir alle nichts Gutes zu essen. Wir sprechen heute darüber, wie die gemeinsame europäische Planung, die Förderpolitik für die Landwirtschaft aussehen soll. Wir sprechen über den einzigen Politikbereich, in dem es eine wirkliche Harmonisierung der Politik in ganz Europa gibt. Angesichts dessen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, muss ich mit einiger Überraschung feststellen, dass es der Koalition scheinbar nur darum geht, deutsche Interessen durchzusetzen, anstatt über eine gemeinsame europäische Agrarpolitik zu sprechen. Das finde ich ein bisschen schwach. ({0}) Klar ist wohl, dass wir die Förderung der Landwirtschaft auch über das Jahr 2013 hinaus brauchen, und zwar auch und gerade durch Europa und mit Mitteln aus dem europäischen Haushalt. Die Frage ist aber: Welche Landwirtschaft wollen wir denn fördern? Wir, die Linke, wollen eine Landwirtschaft, die gesunde Produkte aus gesunder Natur von Menschen erzeugt, die gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen haben. ({1}) Das ist kein Wolkenkuckucksheim, sondern das ist real möglich. Das bedeutet für uns, dass wir landwirtschaftliche Betriebe fördern wollen, die in der Hand der Landwirte und nicht in der Hand von großen Kapitalgesellschaften oder von Menschen sind, die Landwirtschaft nur als Hobby betreiben, aber damit kein echtes Produktionsinteresse verfolgen. Wir wissen, dass gerade Produktionsgenossenschaften am verantwortungsvollsten mit den Böden und mit der Natur umgehen und dass sie sich am verantwortungsvollsten darum bemühen, tatsächlich gute Produkte zu erzeugen. ({2}) Gerade deswegen wollen wir diese Produktionsgenossenschaften fördern. Wir wollen aber große Agrarunternehmen, die in Produktionsgenossenschaften organisiert sind, und den ökologischen Landbau nicht gegeneinander ausspielen. Wir glauben, dass beides geht und dass beides nebeneinander existieren kann und muss. Das heißt, dass wir schon deswegen jeden Versuch kategorisch ablehnen werden, die Zahlungen von der Größe der bewirtschaftenden Fläche abhängig zu machen - Stichwort „Degression“ oder „Kappung“. Das würde gerade ostdeutsche Landwirtschaftsbetriebe diskriminieren und ist in der Sache auch unbegründet. ({3}) Wir wollen - das ist ganz klar - die Landwirtschaft weiter unterstützen; denn flächendeckende, gute Landbewirtschaftung ist nicht selbstverständlich. Die Kulturlandschaft zu erhalten, ist eine wichtige Aufgabe, um die sich gerade die Bäuerinnen und Bauern in Deutschland verdient machen. Dabei müssen wir sie weiterhin unterstützen. Wir brauchen eine gute Landwirtschaft, um auch die ländlichen Räume zu erhalten und lebenswert zu halten. ({4}) Die Linke schlägt Ihnen deswegen in ihrem Konzept vor, die Fördermittel für die Landwirtschaft künftig zielgenauer an soziale und ökologische Leistungen zu binden. „Soziale Bindung“ heißt, die Zahl der Arbeitsplätze zu berücksichtigen. Das würde tierhaltenden Betrieben zugutekommen. Selbstverständlich muss die Arbeit existenzsichernd und, wo vorhanden, nach dem nationalen Mindestlohn bezahlt werden. Das will auch die EU-Kommission, mit der wir uns an der Stelle sehr einig sind. In Deutschland sind wir aber die einzige Partei, die eine solche Bindung will. ({5}) Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, die Umweltpolitik weiter auf die Förderprogramme für die ländlichen Räume zu beschränken. Es muss Anliegen und Verantwortung aller Betriebe sein, die biologische Vielfalt auf und neben dem Acker tatsächlich zu erhalten und einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, zur Ressourcenschonung beizutragen und die Gewässer reinzuhalten. Das alles sind Aufgaben, die für die europäische Landwirtschaftspolitik insgesamt gelten sollten. Wir haben an dieser Stelle die Chance, mit deutschem Know-how deutsche Unternehmen zu fördern und darüber hinaus gute Standards in ganz Europa zu verankern und damit eine wirkliche gemeinsame europäische Agrarpolitik zu ermöglichen. ({6}) Die bisher bekannten Vorstellungen der EU-Kommission - dies habe ich bereits kurz angesprochen - kommen unseren Vorstellungen schon sehr stark entgegen. Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher fordern eine Debatte über die Neuausrichtung der Agrarpolitik. Ich denke - das muss man klar sagen -, dass auch bei den Landwirten ein Umdenken erforderlich ist. Es gibt ein großes Bedürfnis, einiges zu ändern; nicht alles, aber einiges. Das sollte man wahrnehmen und ernst nehmen und sich dann auch mit den Konsequenzen auseinandersetzen. Ich danke Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zum Kollegen Priesmeier: Ihre Rede kam mir ziemlich konzeptlos vor. ({0}) Dass gerade Sie der Ministerin Vorwürfe machen, das trifft den Nagel wirklich nicht auf den Kopf. Was glauben Sie, wozu unsere Ministerin Aigner pausenlos und in jedem Mitgliedstaat unterwegs ist? Um ihr überzeugendes Konzept einer gemeinsamen Agrarpolitik vorzustellen! ({1}) Wer die Genossenschaften vor allem im Agrarbereich an dieser Stelle schlechtredet, der soll mir erst einmal ein besseres Modell nennen. Wir sollten froh sein, dass wir es haben. ({2}) Nun zum Antrag der Grünen - ich kann nicht alles aufgreifen -: Es ist schon eine Ungeheuerlichkeit, wenn man lesen muss: „Die Landwirtschaft darf Biodiversität nicht länger zerstören …“. Man muss lesen, dass die Landwirtschaft Teil des Problems ist. Selbst wenn wir Menschen allein auf dieser Welt wären, wären wir Konkurrenten zur Biosphäre. ({3}) Wir können in unserem Land und weltweit auf vieles verzichten, aber nicht auf Nahrungsmittelerzeugung, weil sie die Grundlage unserer Menschheit ist. ({4}) Deshalb ist die Landwirtschaft nicht das Problem, sondern sie ist Teil der Lösung. ({5}) Selbst das Europäische Parlament bestätigte letzte Woche die strategische Bedeutung des EU-Agrarsektors für die Welternährung. Zu Ihnen, Kollege Ostendorff, ganz persönlich: Auch ich verarbeite in meinem Betrieb Bioprodukte; aber ich habe einen anderen Anspruch und einen anderen Ansatz. Ich bin nämlich Vertreterin einer Volkspartei, der Union, und ich habe das Ganze im Blick. Das ist mein Anspruch. ({6}) Ich betreibe Politik nicht nur für eine Klientel, für 5 Prozent der Bauern, sondern für alle Bauern. Alle Bauern, die nach bestem Wissen und Gewissen wirtschaften, das heißt, sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen, verdienen unsere Anerkennung. ({7}) Wissen Sie, was Sie für mich sind? Sie sind ein Nestbeschmutzer; ich möchte das ganz deutlich sagen. ({8}) Was Sie hier betreiben, ist Kulturkampf. Wir sollten endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Übrigens - nehmen Sie es nicht persönlich -, auch Ökoschweine müssen am Ende ihres Nutztierlebens geschlachtet werden. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Mortler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ostendorff?

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Das besprechen wir hinterher. Selbst der größte Bioland-Geflügelbetrieb - auch das gehört zur Wahrheit - hat immerhin 300 000 Nutztiere im Stall. ({1}) Wenn wir über Landwirtschaft und gemeinsame Agrarpolitik reden, reden wir eben über Nutztierhaltung und nicht über Kuscheltierhaltung. ({2}) Wir teilen an dieser Stelle selbstverständlich die drei strategischen Ziele von EU-Kommissar Ciolos: Ernährungssicherheit, hochwertige und sichere Nahrungsmittel sowie Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum erhalten. Wir sagen aber: Dieser Ansatz muss erweitert werden. Wir brauchen in Zukunft mehr denn je eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft. Wir teilen mit Ihnen den Ansatz einer nachhaltigen Landwirtschaft. Vor allem geht es uns um eine flächendeckende Landwirtschaft. ({3}) Wir wollen eine Landwirtschaft, die modern, innovativ ausgerichtet ist. Sie muss im Einklang mit Wissenschaft und Forschung stehen; ihr sollten die neuesten Erkenntnisse zugrunde liegen. Sie muss darauf ausgerichtet sein, Ressourcen zu sparen und so zur Optimierung beizutragen. ({4}) Es ist eben keine Frage von Klein oder Groß, sondern es ist eine Frage von Können und Wissen. ({5}) In meinem alten Kuhstall zu Hause - er war wirklich alt - hatten die Tiere fast keinen Platz. Er war dunkel und miefig, und ich musste das Futter mit der Gabel quasi über die Kühe hinüber schmeißen, weil so wenig Platz war. Heute haben wir Ställe - und Möglichkeiten -, in die ich gerne gehe und sage: Hallo, wie schön ist die Welt auch für unsere Tiere. ({6}) Ich denke, wir haben ein gemeinsames Thema und auch ein gemeinsames Anliegen: Das ist der Erhalt der Gebietskulisse für benachteiligte Gebiete. Wenn Sie uns wirklich helfen wollen, dann treten Sie mit dafür ein. Wir wissen, was die Kommission hier vorhat. Wir wissen aber auch, dass es hier maximalen Aufwand und am Ende maximalen Ärger - zumindest aus deutscher Sicht - geben wird. Noch eines: Nehmen Sie - auch auf der linken Seite dieses Hauses - zur Kenntnis, dass mein Bundesland Bayern seit vielen Jahren über 40 Prozent der Direktzahlungen, also der Zahlungen aus der ersten Säule, ins Grünland, in den Bereich Leguminosen und in den Bereich extensive Bewirtschaftungsformen steckt. Das heißt, wir haben mit der Ökologisierung längst begonnen. Wir sind den anderen Mitgliedstaaten viele Schritte voraus, und wir wollen auch weiterhin Vorbild sein. Wir lassen es aber nicht zu, dass Sie am Fundament unserer bewährten Umweltprogramme rütteln, was die Folge Ihrer Ideen und Konzepte wäre. ({7}) Es ist und bleibt aus meiner Sicht unseriös, wenn Sie behaupten, wir, Europa, würden die Märkte der Entwicklungsländer zerstören und zuschütten. Sie wissen, wir sind ein Hochlohnland, und wir liefern in der Regel in Hochlohnländer. Sie kennen natürlich die Fakten genau, aber Sie unterstreichen auch mit diesen Falschaussagen Ihr ideologisches Weltbild. Wirklich schade, meine Damen und Herren! Ich komme zum Schluss. Unsere Landwirte brauchen Planungssicherheit. Sie sind darauf angewiesen, dass das Geldvolumen bekannt ist, bevor Gelder verteilt werden. Wir setzen uns für sichere heimische Lebensmittel, für eine gepflegte, schöne, flächendeckende Kulturlandschaft und auch dafür ein, dass Landwirtschaft in Zukunft ihren Beitrag zur Energieversorgung und zum Klimaschutz leistet.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das heißt, wir kämpfen für eine starke europäische Agrarpolitik auf einem soliden finanziellen Fundament. Für diese starke europäische Agrarpolitik, Herr Präsident, wollen wir uns alle hier in dieser Koalition auch in Zukunft gemeinsam einsetzen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Bereitschaft des Präsidenten, an dieser starken europäischen Landwirtschaftspolitik mitzuwirken, kommt auch in den Zuschlägen zu den Redezeiten eindeutig und eindrucksvoll zum Ausdruck - auch noch in der Möglichkeit, die der Kollege Ostendorff jetzt noch für eine Kurzintervention erhält.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank, Herr Präsident! - Nach diesem Feuerwerk an Angriffen auf mich lassen Sie mich einige wenige Anmerkungen machen. Ich glaube, dass bisher für alle hier in diesem Haus unbestritten war, dass wir bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts im mitteleuropäischen Raum die höchste Artendichte hatten. Das war, glaube ich, der bisherige Erkenntnisstand - auch in Bayern und in Franken, Frau Mortler. Ich glaube auch, dass wir nach dem bisherigen Erkenntnisstand in der Agrarbiologie, im Naturschutz usw. sagen können, dass durch die Intensivierung der Landwirtschaft Druck auf die Artenvielfalt entstand. ({0}) Ich denke, das ist der gemeinsam getragene Erkenntnisstand. Wie Sie zu der Aussage kommen, dass der Mensch durch sein Erscheinen auf der Erde die Artenvielfalt nach unten gedrückt hat, entzieht sich meiner Kenntnis und, ich glaube, auch der Erkenntnis der meisten Fachleute hier im Raum. Ich denke, dass die bäuerliche Bewirtschaftung - eine bestimmte Bewirtschaftungsform die höchste Artendichte geschaffen hat. Das ist das, was bisher an Allgemeinwissen zur Verfügung steht. Wenn Sie da widersprechen wollen, tun Sie es bitte energisch oder schweigen Sie bei diesem Punkt. ({1}) Ich glaube, dass wir auch überlegen sollten, ob es klug ist, zu versuchen, uns bzw. die Landwirtschaft von der übrigen Gesellschaft abzugrenzen. Ich werbe ausdrücklich dafür, dass wir versuchen, mit den 20 000 Demonstranten vom Samstag einen konstruktiven Dialog zu führen. Ich glaube, dass das für die Zukunft der Landwirtschaft wichtig ist. Ich würde mich auch freuen, eine Aussage Ihrerseits darüber zu erhalten, wie Sie diese Bewegungen bewerten. Wenn Sie das aufrechterhalten, dann bin ich stolz auf die Titulierung „Nestbeschmutzer“. Dann sage ich schönen Dank an Sie.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Frau Kollegin Mortler.

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich werde Ihre verschiedenen Fragen nicht in einem scharfen Ton, sondern in meinem Ton beantworten. Zur letzten Frage: Nein, ich war bei dieser Bewegung bzw. dieser Demo nicht dabei. Das macht deutlich, dass ich wenig davon halte. Denn ich stehe hinter der Mehrheit meiner Bäuerinnen und Bauern. Was hier betrieben worden ist, war in hohem Maße Nestbeschmutzung und Verdummung der Leute. Wenn Sie mehr darüber wissen wollen - damit beantwortet sich schon die nächste Frage; Sie haben mir einfach nicht zugehört -, dann kommen Sie zu mir in die Nachhilfestunde. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4542 und 17/2479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entschädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus - Drucksache 17/4543 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, die laufenden monatlichen Leistungen für Zwangssterilisierte und Überlebende von „Euthanasie“Maßnahmen nach den AKG-Härterichtlinien ab dem 1. Januar 2011 von monatlich 120 auf monatlich 291 Euro zu erhöhen. Es ist kein Zufall, dass wir diesen Antrag heute, am 27. Januar 2011, in den Deutschen Bundestag einbringen. Denn gemeinsam mit den europäischen Juden, den Sinti und Roma und anderen waren auch die auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 Zwangssterilisierten sowie die Betroffenen von „Euthanasie“-Maßnahmen Opfer nationalsozialistischen Unrechts. Das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde am 14. Juli 1933, kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, auf der Grundlage des seit März 1933 geltenden Ermächtigungsgesetzes von der Reichsregierung allein in Kraft gesetzt und betraf die Sterilisation geistig Erkrankter und Schwerbehinderter, auch gegen deren Willen. Das Gesetz beruhte nicht auf einem vorherigen preußischen Gesetzentwurf; denn ein solcher hatte als unabdingbare Voraussetzung noch die Einwilligung des zu Sterilisierenden gefordert. Die Zielsetzung des Gesetzes war rassistisch, wie sich aus einer Ausführungsverordnung eindeutig ergibt: Ziel der dem deutschen Volk artgemäßen Erb- und Rassenpflege ist eine ausreichend große Zahl erbgesunder, für das deutsche Volk rassisch wertvoller, kinderreicher Familien zu allen Zeiten. Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassegedankens. Aufgrund dieses Gesetzes wurden im Dritten Reich bis 1945 circa 350 000 Menschen zwangssterilisiert, von denen etwa 6 000 Frauen und 600 Männer an den Folgen starben. Über 200 000 Menschen wurden im Rahmen sogenannter „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 traten Rechtsnormen außer Kraft, die dem Grundgesetz widersprachen, so nach heutiger Rechtsauffassung auch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes. Die wenigen als Bundesrecht fortgeltenden Regelungen über Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung bei Lebens- und Gesundheitsgefahr sind endgültig durch Art. 8 Nr. 1 des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 aufgehoben worden. Der Deutsche Bundestag hat außerdem in seinen Entschließungen vom 5. Mai 1988 und 29. Juni 1994 festgestellt, dass die auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses durchgeführten Zwangssterilisationen nationalsozialistisches Unrecht waren. Er ächtete in seinen Entschließungen diese Maßnahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom lebensunwerten Leben. Der Deutsche Bundestag bekräftigte dies zuletzt in seiner Entschließung vom 24. Mai 2007 erneut und bezeugte den Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ sowie ihren Angehörigen seine Achtung und sein Mitgefühl. Den Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ werden ab 1980 durch einen Erlass des Bundesfinanzministeriums und ab 1988 nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes - AKG-Härterichtlinien - Leistungen gewährt. Nach den jetzt gültigen Richtlinien können Opfer einmalige Beihilfen in Höhe von 2 556 Euro, damals 5 000 DM, erhalten. Zusätzlich können laufende monatliche Leistungen in Höhe von 120 Euro gezahlt werden. Für Opfer der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ kommen im Falle einer Notlage ergänzende laufende Leistungen in Betracht. Die vier den Antrag einbringenden Fraktionen halten unter Bezugnahme auf die Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und in Anbetracht der lebenslangen, schweren Beeinträchtigungen eine Erhöhung der monatlichen Leistungen auf 291 Euro ab dem 1. Januar 2011 für erforderlich, wohlwissend, dass natürlich auch mit diesem erhöhten Betrag das Unrecht nicht wiedergutgemacht werden kann. Der Betrag orientiert sich an den Leistungen für jüdische Opfer des Nationalsozialismus, die Haft in einem Konzentrationslager oder Getto erlitten und keine Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten haben. Am Zweiten Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes als Schlussgesetz halten wir fest. Abschließend möchte ich auch namens meiner Fraktion den Opfern, von denen nur noch wenige leben, noch einmal unser Mitgefühl und unsere besondere Solidarität versichern. In diesem Sinne schließe ich mit einem Zitat von Valentin Hennig, einem engagierten Vertreter für die Rechte der Opfer von Zwangssterilisation in den 60erund 70er-Jahren: Unrecht kann Recht nicht verdrängen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Joachim Poß für die SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen heute diesen von vier Fraktionen getragenen Antrag vor, um, wie Kollege Kolbe erwähnt hat, zwei Gruppen von Opfern des Nationalsozialismus, den Zwangssterilisierten und den „Euthanasie“-Opfern, unseren Respekt zu erweisen und sie auch finanziell etwas besserzustellen. ({0}) Dabei wissen wir natürlich, dass nichts deren Leid aufwiegt. Herr Kolbe hat den Sachverhalt, der auch im Antrag beschrieben wird, erläutert. Auch dieser Antrag zeigt indes, dass es jenseits des von uns allen betriebenen politischen Kampfes gegeneinander auch wichtige Bereiche unseres Amtes als Parlamentarier und Volksvertreter gibt, in denen wir - zumindest mit großer Mehrheit - einmütig zusammenstehen. Auch das kennzeichnet den bundesrepublikanischen Parlamentarismus, dass es immer wieder Situationen und Entscheidungen auch jenseits historischer Weichenstellungen gab und gibt, in denen wir einig und geschlossen auftreten. Ohne unsere heutige Debatte und das Anliegen unseres Antrags überhöhen zu wollen, bemerke ich nur grundsätzlich: Ohne Probleme und mit Engagement sowie Überzeugung aller beteiligten Seiten wurde der fraktionsübergreifende Antrag einvernehmlich formuliert. Er liegt jetzt dem Hohen Hause zur Abstimmung vor. Es passt, dass wir ihn heute, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, beraten. Die Opfergruppen erwarten zu Recht unsere Achtung und unser Mitgefühl. Sie können das auch einfordern. Das ist sicherlich auch eine Frage des Gerechtigkeitsempfindens. Wir sind fraktionsübergreifend zu der Auffassung gelangt, dass sich das auch in einer Anpassung der Entschädigungsleistungen niederschlagen sollte. Die „Euthanasie“-Opfer haben bisher keine monatlichen laufenden Leistungen bekommen. Das Parlament zeigt damit tätiges und aktiv gestaltendes Gedenken mit Bedeutung für das Alltagsleben. Es handelt sich um Menschen mit lebenslangen schweren Beeinträchtigungen, deren Los wenigstens ein bisschen erleichtert werden kann. Unser Anliegen - da sind wir sicher - wird auch durch die Bundesregierung geteilt werden. Wir stehen alle in der Verpflichtung, darauf hinzuwirken, die überle9820 benden Opfer des Naziregimes und des Holocausts gerecht und ihrem Schicksal angemessen zu behandeln, soweit das überhaupt möglich ist. Nicht nur wir auf sozialdemokratischer Seite werden daran beständig und mit Nachdruck von Hans-Jochen Vogel erinnert, der seit fast 20 Jahren gegen Vergessen und für Demokratie mit der ihm eigenen Vehemenz und Konsequenz eintritt. Auch für die Initiierung des heute zu beratenden Antrags war Hans-Jochen Vogel maßgeblich mitverantwortlich. Wir sollten die heutige Beratung nutzen, um uns zu vergegenwärtigen, welch eine wichtige und großartige Initiative der von Hans-Jochen Vogel und anderen überparteilich gegründete Verein „Gegen Vergessen - Für Demokratie“ ist. Seinerzeit waren Hanna-Renate Laurien von der CDU, die damals in Berlin war - vorher war sie in Rheinland-Pfalz -, und andere dabei. Er wird politisch und gesellschaftlich breit getragen und sollte mit Blick auf die Vergangenheit sogar noch stärker getragen werden. Großer Dank gebührt meinem Kollegen Michael Meister, der als Vertreter der Regierungskoalition die wesentlichen Recherchen und Abstimmungsarbeiten für den Antrag geleistet hat. Er hat sich damit sehr für das gemeinsame Anliegen des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt. Für die Fraktion der FDP sei dem Kollegen Volker Wissing, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Kollegen Volker Beck gedankt, der sich auch in der Vergangenheit schon mit diesen Themen engagiert auseinandergesetzt hat. ({1}) Das war die Voraussetzung, damit wir gemeinsam diesen Antrag dem Parlament zur Abstimmung vorlegen können. Allen, die daran mitgewirkt haben, gilt mein herzlicher Dank. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Kollegin Gabriele Molitor ist nun die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch heute fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden, wenn wir uns mit den Gewalttaten des Naziregimes befassen. So unfassbar und menschenverachtend sind die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus gewesen. In der sehr bewegenden Feierstunde heute Morgen haben wir gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Heute Mittag fand eine Gedenkfeier des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung in der Tiergartenstraße 4 statt. An diesem Ort verhängte das Naziregime den „Euthanasie“-Beschluss, der die systematische Massentötung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen in Gang setzte. Von 1939 bis 1945 wurden mehr als 200 000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Leben wurde als „lebensunwert“ bezeichnet. Ihre Ermordung hieß „Euthanasie“. Allein dieser Begriff - „guter Tod“ zeigt, dass die damaligen Machthaber skrupellose Mörder waren, die kein Unrechtsbewusstsein hatten. Schon 1933 verabschiedete die Reichsregierung ein Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Eine zwangsweise durchgeführte Sterilisation sollte die Weitergabe von Erbkrankheiten auf die nächste Generation verhindern. Unter die willkürliche Definition „erbkrank“ fielen Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung, aber auch sogenannte Asoziale, Hilfsschüler, Fürsorgezöglinge, Tuberkulosekranke und Alkoholabhängige. Mehr als 350 000 Frauen und Männer mussten sich einem erniedrigenden Eingriff unterziehen. Ihnen wurde das Recht abgesprochen, zu heiraten, weiterführende Schulen zu besuchen oder einen Beruf im Bildungs- oder Sozialbereich zu ergreifen. Warum gehe ich so ausführlich auf diese Hintergründe ein? Ich tue dies, weil wir die Erinnerung an diese furchtbaren Verbrechen wachhalten müssen. So etwas darf sich niemals wiederholen. Heute reden wir über einen fraktionsübergreifenden Antrag, der höhere Entschädigungsleistungen für die Menschen fordert, die der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ in der NS-Zeit zum Opfer fielen. In den 80er-Jahren und erneut 2007 hat der Bundestag bekräftigt, dass das für die „Euthanasie“-Morde wegbereitende Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz war. Seit 1980 bzw. 1988 werden Entschädigungsleistungen für Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ über das Allgemeine Kriegsfolgengesetz geleistet. Ich bin sehr froh, dass wir gerade heute, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, über diesen fraktionsübergreifenden Antrag beraten. Die Entschädigungsleistung für die Opfer der Zwangssterilisation zu erhöhen, ist richtig. Wir wissen, dass die seelischen Folgen der Misshandlungen und das zugefügte Leid nicht mit Geld aufzuwiegen sind. Viel wichtiger ist es, den Menschen zu zeigen, dass wir ihnen beistehen und aus der Geschichte lernen. Für Bürger wie Politiker heißt das: Wir müssen alles tun, um Intoleranz, Ausgrenzung und Benachteiligung zu verhindern. In den vergangenen 60 Jahren hat sich zwar viel getan, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Erst seit den 90er-Jahren denken wir in Richtung Inklusion. Nicht der behinderte Mensch hat sich auf die Bedingungen der Gesellschaft einzustellen, sondern die Gesellschaft hat solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Behinderung nicht als Beeinträchtigung verstanden wird. 1994 wurde in Art. 3 des Grundgesetzes die Formulierung aufgenommen: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. 2002 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. In der UN-Behindertenrechtskonvention sind die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben. Sie sind geltendes Menschenrecht. Deutschland hat diese Konvention 2009 unterschrieben. „Euthanasie“ war und bleibt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und darf nie wieder passieren. Orte der Erinnerung, Mahnmale, Gedenkstätten und Ausstellungen ermahnen uns, das nicht zu vergessen. Es muss für uns eine immerwährende Aufgabe sein, mit jungen Menschen über die NS-Zeit zu sprechen, damit die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte nicht in Vergessenheit geraten. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sogenannte Euthanasie war ab 1934 eines der ersten furchtbaren Vernichtungsprogramme der Nazis. Hunderttausende Menschen wurden zwangsweise sterilisiert. Viele starben dabei. Über 200 000 Menschen wurden im Rahmen der „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet. Vernichtung angeblich lebensunwerten Lebens - schon dieser Begriff ist so ungeheuerlich, dass einem beinahe die Sprache fehlt. Natürlich stimmt die Linke heute dafür, die Opferrente für Zwangssterilisierte von 120 auf 291 Euro zu erhöhen und diese Regelung auf die Opfer von „Euthanasie“-Maßnahmen auszudehnen. Das ist das Mindeste, was wir für die Überlebenden bzw. Angehörigen tun können. ({0}) Es hat viel zu lange gedauert, bis das Erbgesundheitsgesetz hierzulande als NS-Unrecht erkannt worden ist. Die Opfer wurden nicht als NS-Verfolgte anerkannt, und sie erhielten - dies ist übrigens bis heute so - keine Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, weil dieses Gesetz eine Frist enthielt, die längst abgelaufen ist. Erst seit Ende der 90er-Jahre erhalten die Betroffenen kleine Opferrenten. Für SS-Mitglieder und Nazibeamte wurden solche Befristungen im Übrigen nie eingeführt. Auch das ist ein Unrecht, das benannt werden muss. ({1}) Die Vorstellung, es gebe Menschen, die ein größeres Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben als andere, ist auch heute leider nicht überwunden. Ich will nur daran erinnern, dass der CDU-Abgeordnete Philipp Mißfelder hier vor einigen Jahren die Auffassung vertreten hat, dass alten Menschen keine künstlichen Hüftgelenke mehr zu gewähren seien. Gesundheitspolitik nach dem Geldbeutel ist leider auch die Linie dieser Bundesregierung. Ausreichende medizinische Versorgung nur noch für jene, die über entsprechende Einkommen verfügen und die ihre Versorgung privat finanzieren können das ist weit entfernt von dem, wozu die NS-Verbrechen mahnen, nämlich zu einer Gesundheitsversorgung, die sich eben nicht an Nützlichkeit, sondern an Menschlichkeit orientiert. ({2}) Es ist sehr bedauerlich - ich finde es gerade am heutigen Gedenktag sehr beschämend -, dass alle Fraktionen dieses Hauses die Linke bei der Einreichung dieses Antrags wiederum ausgegrenzt haben. Gerade die Linke hat sich in den vergangenen Jahren immer auf die Seite der NS-Opfer gestellt, und viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben frühzeitig und seit Jahren immer wieder - ich selber übrigens auch - für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, aber auch anderer Opfer gekämpft. ({3}) Gerade deswegen wäre es an dem heutigen Tag sinnvoll gewesen, ein Zeichen des gesamten Hauses zu setzen und, liebe Kollegin, eben nicht mit Ausgrenzung zu arbeiten. Sie haben es ja eben selbst moniert. ({4}) Ich will zum Schluss sehr deutlich machen, dass es immer noch viele NS-Opfer gibt, die bis heute nicht entschädigt worden sind. Ich will an die Massaker der SS und der Wehrmacht, beispielsweise in Distomo in Griechenland, erinnern. Auch die italienischen Militärinternierten, die Zwangsarbeit für die Nazis und die Rüstungsindustrie leisten mussten, sind bis heute nicht entschädigt worden. Ich denke, es ist eine zynische Missachtung, dass man aufgrund des häufig öffentlichen Drucks immer wieder Gruppen herausgegriffen und in Entschädigungsrechte einbezogen, aber andere immer wieder ausgegrenzt hat. Deswegen sage ich für meine Fraktion: Hören Sie auf, die Opfergruppen zu spalten, und geben Sie den Opfern das, was für ihre Anerkennung und Entschädigung notwendig ist. Dazu gehört eben nicht Ausgrenzung. Alle müssen einbezogen werden. Danke schön. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfangs gesagt: Auch ich finde es unnötig und albern, dass man die Linke bei so etwas außen vor lässt. Aber ich muss Volker Beck ({0}) auch sagen: Beim Mittelteil Ihrer Rede haben Sie sich selbst ein bisschen aus dem Zentrum der Debatte katapultiert. ({1}) Mit dem heutigen Beschluss des Deutschen Bundestages gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt bei der Anerkennung und Entschädigung der Zwangssterilisierten und der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wir haben, auch unter Rot-Grün, lange darum gerungen, die Leistungen sukzessive zu verbessern. Ich bin froh, dass wir es heute schaffen, die außergesetzlichen Leistungen auf das Niveau der Leistungen anzuheben, die jüdische Opfer, die in Konzentrationslagern waren oder 18 Monate in einem Ghetto gelebt haben, bekommen können. Es sind sehr geringe Leistungen - das wollen wir uns auch eingestehen -, aber ich bin froh, dass das heute gelingt. Gleichwohl bleiben wir den Opfern des „Euthanasie“Programms und den Zwangssterilisierten eines nach wie vor schuldig: Damit meine ich nicht Geld, sondern die Aussage, dass sie rassisch Verfolgte sind. Die Nichtanerkennung der rassischen Verfolgung für die der Opfer des Erbgesundheitsgesetzes ist die Rechtsgrundlage gewesen, warum sie nicht Opfer im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes waren. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz können seit 1969 keine neuen Anträge mehr gestellt werden. Deshalb wäre es eigentlich ein Leichtes, dass der Deutsche Bundestag hier eine klare Aussage trifft. Das ist in dem Antrag leider noch nicht gelungen; das kann man allerdings auch ohne Kostenrelevanz zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. ({2}) Was die Geschichte angeht, so ist das Erbgesundheitsgesetz, das unmittelbar nach der Machtergreifung 1933 in Kraft gesetzt wurde, das erste Rassegesetz der Nationalsozialisten gewesen. Ärzte waren nun verpflichtet, Menschen zu ihrer Sterilisation zu melden, und sie taten dies mit unterschiedlich viel Eifer. Mehr als 5 000 Menschen starben an diesen Eingriffen. Andere suchten den Freitod. Über 400 000 Menschen wurden zwangsweise unfruchtbar gemacht. 90 Prozent von ihnen waren Frauen. Einer der eifrigen Ärzte hat mit der Nichtanerkennung dieser Opfergruppe sehr viel zu tun. Es war der Psychiater Werner Villinger, der als Chefarzt in einer Anstalt in Bethel bei Bielefeld praktizierte. In der Zeit zwischen 1934 und 1936 meldete allein er 2 854 Menschen zur Zwangssterilisation - 2 854 Menschen, die heute keine Enkelkinder haben und meist allein ihr restliches Leben verbringen müssen, sofern sie noch leben. Ärzte wie Villinger gab es viele, und wie er machten viele in der jungen Bundesrepublik - auch das gehört zur traurigen Kontinuität unserer Geschichte dazu - Karriere, statt vor Gericht für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Ein Skandal! Und ein noch größerer Skandal: Als Sachverständiger des Ausschusses des Deutschen Bundestages für Wiedergutmachung wandte sich Werner Villinger damals vehement gegen eine finanzielle Entschädigung seiner Opfer und tat deren Entschädigungsbegehren als „Entschädigungsneurose“ ab. Villinger wurde Rektor der Universität Marburg und bekam das Große Bundesverdienstkreuz. Er war der Ratgeber für unser Haus - auch das gehört zu unserer Geschichte als Deutscher Bundestag dazu -, und da sind wir dem Falschen gefolgt. Ich finde, wir haben diesbezüglich etwas historisch aufzuarbeiten und wiedergutzumachen. Deshalb appelliere ich an alle Fraktionen, die den Antrag heute getragen haben, eine weitere Initiative auf den Weg zu bringen, um deutlich zu sagen, dass wir anerkennen: Die Opfer des „Euthanasie“-Programms, die Zwangssterilisierten waren rassisch Verfolgte, und die frühere Falscheinteilung durch den Bundesgerichtshof, durch den Deutschen Bundestag war ein historischer Fehler. Insofern hat sich unser Haus gegenüber diesen Opfern schuldig gemacht. ({3}) Zur ganzen Wahrheit gehört übrigens, dass diese schreckliche Geschichte der Ausgrenzung der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten nicht nur ein Fehler der Bundesrepublik Deutschland war. Vielmehr wurden die Zwangssterilisierten auch in der DDR 1952 sogar ausdrücklich aus der Liste der NS-Verfolgten gestrichen. Daher konnten sie in der DDR keinen Anspruch auf Entschädigung verwirklichen. Überlebende dieses Unrechts, wie die Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“Geschädigten und Zwangssterilisierten, kämpfen bis heute um diese Anerkennung. Es leben nur noch wenige Dutzend der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wir sollten mit der klaren Aussage, wie wir zu diesem historischen Sachverhalt stehen, nicht warten, bis die Letzten gestorben sind. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In der Verblendung, Leben könne lebensunwert sein, wurden in der Zeit des Nationalsozialismus 638 Frauen, Männer und Jugendliche von hier aus nach Hartheim bei Linz gebracht und ermordet, mehr als fünfhundert weitere gegen ihren Willen sterilisiert. Viele hundert Menschen litten und starben in diesem Krankenhaus an den Folgen staatlich verordneter extremer Überbelegung und Mangelernährung. Gedenket der Opfer … und derer, die in der Not geholfen haben! Sie alle waren Menschen wie wir. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Tafel mit dieser Inschrift wurde im Jahr 1990 in einem Klinikum in meinem Wahlkreis angebracht, im Gedenken an die Transporte aus dieser Klinik im Rahmen des zynisch als „Euthanasie“ bezeichneten menschenverachtenden und verbrecherischen Mordprogramms und zur Zwangssterilisierung. Dieses Beispiel aus meinem Wahlkreis ist im damaligen Deutschland sicher nur eines von vielen gewesen. Mit einem auf den 1. September 1939 rückdatierten Erlass gab Hitler persönlich den schändlichen Auftrag zur Tötung allen nicht arbeitsfähigen „lebensunwerten Lebens“. Für mich stellt sich die Frage: Was kann überhaupt „lebensunwertes Leben“ sein? Kann es so etwas geben? Leben kann niemals lebensunwert sein. Leben ist nicht nur um der Arbeit willen lebenswert. Der große Philosoph Immanuel Kant drückt es treffend aus: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. Jedes Leben ist lebenswert. Deswegen ist die Achtung vor dem anderen, die Anerkenntnis seines Rechts, zu existieren, und die Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen Fundament eines guten und tragfähigen Miteinanders. ({0}) Unser Grundgesetz gibt die richtige Antwort: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Aumer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Diesem Auftrag sind wir alle verpflichtet. Wir bringen heute, am 27. Januar, am Gedenktag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, einen fraktionsübergreifenden Antrag ein, um die Entschädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu erhöhen. Wir wissen, dass keine Entschädigung das himmelschreiende Unrecht, das furchtbare Leid und das grenzenlose Unheil ausgleichen kann, das die Nationalsozialisten bei der Verfolgung ihrer Rassenziele über Menschen und deren Angehörige gebracht haben. Es ist richtig und gut, diese Entschädigungsleistungen zu erhöhen. Es ist richtig und gut, sich an einem Tag wie heute zu erinnern und Verantwortung zu übernehmen. Es ist richtig und gut, den Betroffenen zu zeigen: Wir haben das Schicksal, das ihnen widerfahren ist, nicht vergessen. Es ist richtig und gut, zu zeigen, dass solch tiefes und erschütterndes Unrecht in Deutschland nicht mehr möglich ist; denn wir haben aus unserer Geschichte gelernt. Papst Benedikt XVI. hat bei seinem Besuch im Konzentrationslager Auschwitz im Jahr 2006 gesagt: Das Vergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dürfen und welche wir suchen müssen. Zukunft braucht Erinnerung. Bundespräsident Roman Herzog hat bei der Einführung des heutigen Gedenktages im Jahr 1996 gesagt: Wer Unfreiheit und Willkür kennt, der weiß Freiheit und Recht zu schätzen. ({0}) Die Selbstverständlichkeit aber, mit der unser Volk Freiheit und Recht erleben darf, vermittelt mitunter zu wenig Gespür für die Gefahren von Willkür und Unfreiheit. Es ist unsere Aufgabe, diesem großen Auftrag gerecht zu werden. Wir müssen mithelfen, die Lebensbedingungen in unserem Land weiter so zu gestalten, dass alle Menschen in Einigkeit und Recht und Freiheit leben können. Eingedenk unserer Geschichte und der Verantwortung, die daraus resultiert, müssen wir uns in einem starken Europa gemeinsam für Frieden und Freiheit in der Welt einsetzen. Die Inschrift eines anderen Denkmals in meinem Wahlkreis, das an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert, endet mit einem Zitat von Victor Hugo: Die Vergangenheit nennt sich Hass, die Zukunft heißt Liebe. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Aumer sprach gerade sehr salbungsvoll davon, dass wir einander achten sollen. Ja, das finde ich auch, Herr Aumer und liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion. Aber Sie alle wissen so gut wie ich, dass die Fraktion Die Linke und die Vorgängerfraktionen der PDS in jeder vorherigen Wahlperiode ähnliche Anträge eingebracht haben. Wir haben uns immer engagiert dafür eingesetzt, dass die Nazi-Unrechtsgesetze für von Anfang an null und nichtig erklärt werden und dass den Opfern beizeiten ordentliche Entschädigungen geleistet werden. Jetzt grenzen Sie uns aus, wir dürfen noch nicht einmal auf Ihrem Antrag erscheinen. Wir stimmen ihm selbstverständlich zu, weil er vernünftig ist. Aber wenn Sie von Achtung voreinander sprechen, dann achten Sie wenigstens Ihre Kollegen in diesem Hause. Achten Sie unsere Arbeit, weil auch wir den Opfern helfen wollen. Ich finde, es gehört zum Anstand in diesem Hohen Hause, dass man einander achtet und die Arbeit der anderen nicht dadurch diskreditiert, dass man sie nicht einmal mitmachen lässt. Ich will ausdrücklich hinzufügen: Gerade weil die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisierung in der DDR nicht gebührend geachtet und gewürdigt wurden, haben wir diese Anträge eingebracht. Wir haben gelernt und wollen dieses Unrecht wiedergutmachen. Sie geben uns dazu aber keine richtige Chance. Gehen Sie in sich und überlegen Sie sich, ob das wirklich sein muss. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/4543 mit dem Titel „Ent- schädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisie- rung und der ,Euthanasie’ in der Zeit des Nationalsozia- lismus“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 a und b so- wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf: 10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Energieeffizienz verbessern - Auf dem europäischen Sondergipfel zur Energiepolitik am 4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmen vereinbaren - Drucksache 17/4528 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE EU-Klimaschutzziel erhöhen - Drucksache 17/4529 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und Europa sicherstellen - Drucksache 17/4527 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europas Energiezukunft erneuerbar und sicher gestalten - Drucksache 17/4544 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das Wort. ({5})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 4. Februar 2011 findet der EU-Sondergipfel zur Energiepolitik statt. Und siehe da: Das ist kein Thema, zu dem der Wirtschaftsminister oder die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung abgibt. Wir diskutieren das auf Antrag von Fraktionen zu später Stunde. Aber das ist natürlich leicht zu erklären: Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen wissen selbst, dass sie auf dem Gebiet der Energiepolitik nichts zu bieten haben. ({0}) Um Ihnen zu zeigen, dass Ihre Einsicht - wenn sie denn vorhanden ist - berechtigt ist: Ein Schwerpunkt bei diesem Gipfel wird die Energieeffizienz sein. Die Europäische Kommission hat eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten kritisiert, weil ihre eingereichten Energieeffizienzpläne nicht ausreichen, um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen. Insbesondere hat sie Deutschland kritisiert, weil die Pläne, die Sie eingereicht haben, bestenfalls reichen, um etwa 12 Prozent Effizienzerhöhung bis zum Jahre 2020 zu erreichen. Mindestens 20 Prozent waren das gesetzte Ziel; eigentlich hatten wir sogar noch mehr vor. ({1}) Das zeigt, wie bescheiden Sie in Ihren Zielsetzungen und Ihren Planungen geworden sind. Noch deutlicher wird das an dem, was Sie in den letzten anderthalb Jahren Ihrer Regierungspolitik im Bereich der Effizienzpolitik tatsächlich getan haben. Im Gebäudebereich gab es ein äußerst erfolgreiches Programm, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Es hat sich über die eingehenden Steuern selbst finanziert. Es hat mehr als 200 000 Handwerker in Arbeit gebracht. 1 Million Wohnungen wurden in wenigen Jahren saniert. Jetzt haben Sie die Mittel auf die Hälfte zurückgefahren, obwohl alle Experten gesagt haben: Eher wäre es an der Zeit, das Programm sogar auszuweiten. - Strukturen, die im Handwerk entstanden sind, werden wieder schrumpfen. Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir brauchen. ({2}) Auch auf der Erzeugungsseite greift Ihre sogenannte Effizienzpolitik zu kurz. Ja, Sie bekennen sich lautstark zur Kraft-Wärme-Kopplung. Aber was Sie tatsächlich tun, ist das Gegenteil. Steuerlich stellen Sie sie schlechter. Auch den Ausbau der Fernwärmenetze belasten Sie zusätzlich, sodass keiner in der Branche mehr glaubt, dass die selbst gesetzten Ziele - 25 Prozent KraftWärme-Kopplung bis zum Jahre 2020 - von Ihnen erreicht werden. Meine Damen und Herren, die SPD hat zu diesem Thema einen Antrag eingebracht. Wir haben einen gründlich vorbereiteten Effizienzaktionsplan angemahnt: mit verbindlichen Vorgaben, insbesondere für den Gebäude-, aber auch für den Verkehrsbereich, mit einem klugen Mix aus steuerlichen Anreizen, mit anderen Förderinstrumenten und, wo notwendig, auch mit Ordnungsrecht. Auch die Entwicklung von Finanzdienstleistungen wird von uns vorgeschlagen. Sie sind diesen Weg bisher nicht gegangen. Chancen, die zum Beispiel in Energiedienstleistungen, im Contracting, liegen, werden nicht wahrgenommen, obwohl viele Marktakteure schon lange darauf warten. Der zweite Schwerpunkt sind die erneuerbaren Energien; auch damit werden Sie sich auf dem Gipfel am 4. Februar dieses Jahres befassen. Was haben wir dazu in letzter Zeit nicht alles gehört? Der Energiekommissar, ein Deutscher, seines Zeichens ehemaliger CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Herr Oettinger, griff das EEG an und sagte: Wir brauchen die Harmonisierung, die Konvergenz der Förderinstrumente in Europa. - Jetzt ist er zurückgerudert und hat gesagt: Das habe ich eigentlich nie so gemeint. ({3}) Er hat nämlich festgestellt, dass das in Europa überhaupt nicht durchsetzbar ist. Er hat vielleicht noch etwas anderes gemerkt: Wenn er Harmonisierung und Konvergenz ernst nehmen würde, dann müsste er eigentlich dafür sorgen, dass endlich auch die 6 der 27 Mitgliedstaaten, die noch kein EEG haben, ein solches Instrument einführen. Denn das EEG ist das Regelinstrument, nicht etwa die Quote, die Sie so gerne haben möchten. ({4}) Jedenfalls gilt in 21 Mitgliedstaaten von der Struktur her genau das, was auch in Deutschland gilt, nämlich ein Einspeisevorrang für erneuerbare Energien und feste Entgelte für die Einspeisung mit einem Degressionspfad. Dieses System - das wissen die anderen - müssen wir erhalten, gerade wenn wir die Marktfähigkeit der erneuerbaren Energien vorantreiben wollen; auch das sagen Ihnen mittlerweile viele Experten. Erst jüngst ist ein Gutachten von Prognos vorgelegt worden, das deutlich macht, dass in diesem Bereich ganz erhebliche Chancen liegen. Wenn die Markt-, aber auch die Systemintegration der Erneuerbaren mit den entsprechenden Instrumenten und gemeinsam mit den Marktakteuren vorangetrieben wird, dann erreichen Sie sowohl ökologische als auch ökonomische Ziele. Die erneuerbaren Energien werden billiger und werthaltiger. ({5}) In dieser Prognos-Studie wird eines deutlich: Es wird nichts passieren, wenn ein Akteur ausfällt. Dieser Akteur ist die Politik. Wenn Sie nichts tun, wenn Sie die Akteure nicht an einen Tisch holen, wenn Sie nicht dafür sorgen, dass sich das System zugunsten der Einspeisung Erneuerbarer fortentwickelt und flexibler wird, dann wird nichts passieren. Die Akteure, um die es geht, werden in der Studie benannt. Es sind all diejenigen, die beim Netzausbau engagiert sind, und zwar auf der Übertragungs- wie auf der Verteilebene. ({6}) Dazu gehören unter anderem die Stadtwerke. Bei der letzten Anhörung habe ich sehr deutlich gemerkt, welche Aversionen viele von Ihnen gerade gegen diesen Marktakteur haben. ({7}) Es sind aber auch andere Anbieter, die sich insbesondere mit intelligenten Netzen, mit intelligenten Energiedienstleistungen befassen und sich im Grunde in ein Boot mit den Kunden begeben wollen, indem sie nämlich Effizienz zu ihrem Geschäftsmodell machen. Das tun die Großen, die Sie mit Ihrer Atompolitik unterstützen, nämlich gerade nicht. Sie wollen Mengen verkaufen, und das ist ein Prinzip, mit dem Ihre Ziele und unsere Ziele niemals erreicht werden. ({8}) Meine Damen und Herren, ökonomische und ökologische Chancen bleiben zurzeit leider ungenutzt. Ich kann Sie nur auffordern, Ihre Politik zu ändern, einen Kurswechsel herbeizuführen. Sie haben ja gemerkt, in Europa stoßen Sie auf Unverständnis. Man erwartet dort von Deutschland eine ganz andere Rolle, eine führende Rolle, eine, die auch dazu führt, was Sie ja angeblich wollen, dass die Erneuerbaren demnächst 35 Prozent, irgendwann mehr als 50 Prozent und auch nach Ihren Zielsetzungen einmal 80 Prozent Anteil am Strommarkt haben. Wenn Sie das erreichen wollen, dann erhalten Sie das EEG auf Sicht - so habe ich es genannt, nicht auf Ewigkeit - in der Struktur und sorgen Sie dafür, dass die notwendigen Instrumente zur Markteinführung entwickelt werden. Vielen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Kollege Thomas Bareiß ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Hempelmann, Sie haben heute das hohe Ziel ausgerufen, dass zu diesem Thema eine Regierungserklärung abgegeben werden soll. Ich kann Ihnen nur entgegnen: Manchmal ist es gut, wenn zu solchen Themen Fachpolitiker reden und das Ganze auf eine sachliche Ebene bringen. ({0}) Aber leider hat Ihre Rede nicht dazu beigetragen, dass das Thema fachlich angegangen worden ist. Ich sage „leider“, weil ich eigentlich anderes von Ihnen gewohnt bin. Ich glaube, es ist richtig und gut, dass die SPD das Ziel, über Energieeffizienz zu diskutieren, in ihrem Antrag thematisiert hat. Ich finde, Energieeffizienz - wir haben es hier im Hause schon unterschiedlich diskutiert - ist enorm wichtig und kommt in den energiepolitischen Debatten sicherlich viel zu kurz. Wir werden es in den nächsten 15 Jahren erleben, dass der Energiehunger in der Welt sich gegenüber dem, was wir heute haben, um 50 Prozent steigern wird. Wir werden sehen, dass nach wie vor ein großer Teil der Energieerzeugung auf endlichen Rohstoffen basiert. Allein aus diesen Gründen ist es nicht nur notwendig, sondern auch wirtschaftlich vernünftig, dass wir bei der Energieeffizienz führend in der Welt und auch tonangebend sind. Ich glaube, es ist nicht nur ein sehr wichtiger energiepolitischer, sondern auch wirtschaftspolitischer Aspekt, den wir aufgreifen müssen. Es ist auch gut, dass nicht nur wir in Deutschland uns um dieses Thema kümmern, sondern dass vor allen Dingen auch die Europäische Union dies tut. Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Hempelmann: Wir sind in Deutschland nicht nur auf einem guten Weg, sondern wir sind führend in Europa. ({1}) - Herr Kelber, das gilt auch für Sie. - Wir haben im letzten Jahr ein Energiekonzept vorgelegt, was Sie in acht Jahren Regierung nicht hinbekommen haben, ein Energiekonzept, das einzigartig in Europa und in der Welt ist. ({2}) Die ganze Welt schaut auf Deutschland, wie es dieses Energiekonzept umsetzt. ({3}) Beispielhaft sei erwähnt, dass bis 2020 35 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien stammen soll, dass die CO2-Reduktion bis 2020 40 Prozent - unkonditioniert - betragen soll und dass der Verbrauch primärer Energien in den nächsten zehn Jahren um noch einmal 20 Prozent reduziert werden soll. ({4}) Das sind Ziele, die gerade für eine Wirtschafts- und Industrienation wie Deutschland eine enorme Herausforderung darstellen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr Kelber möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nein. ({0})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was das Thema Energiekonzept und Energieeffizienz angeht, so sind wir derzeit schon sehr gut. 1,6 Prozent ist nicht spitze in Europa. ({0}) Aber wenn man einmal sieht, von welchem Niveau wir in Deutschland ausgehen, wie effizient unsere Wirtschaft schon arbeitet und wie unsere energiepolitischen Weichenstellungen sind, dann muss man sagen, dass die Zielsetzung, eine Steigerung der Energieeffizienz auf 2,1 Prozent zu erreichen, eine große Herausforderung ist, die wir konsequent angehen. Das wird uns entsprechend nach vorne bringen, und wir werden auch Europa in dieser Frage mitziehen. ({1}) Wir wollen aber nicht das, was Sie wollen, nämlich Kompetenz an die Europäische Union abgeben, sondern wir wollen nach wie vor, dass der Bereich der Energieeffizienz Kernbestandteil der nationalen Politik bleibt, ({2}) weil eine Verschiebung in die Europäische Union bedeuten würde, dass wir zwangsläufig solch unsinnige Dinge wie die Glühbirnen-Verordnung ({3}) oder die Duschkopf-Verordnung bekämen. Das sind Dinge, die ich in der Europäischen Union nicht will. Ich glaube, wir können die Wettbewerber und die mündigen Bürger auch dazu bringen, dass die Energieeffizienz verbessert wird. Energieeffizienz hat viel mit innovativen Energietechnologien zu tun. Hier muss man beide Seiten - sowohl die Erzeugerseite als auch die Verbraucherseite sehen. ({4}) Zur Verbraucherseite. Damit komme ich auch gleich zu Maßnahmen. Herr Hempelmann, darin sind wir uns einig: ({5}) Der größte Bereich ist der Wärmebereich. 40 Prozent des Primärenergiebedarfs entfällt auf die Wärme. ({6}) Deshalb brauchen wir auch im Bereich der Gebäudesanierung mehr Geld, um Anreize dafür zu schaffen, dass etwas geht. ({7}) Ihr Herr Tiefensee hat 2009 aber alles Geld verbraten, das für diese Aufgabe eigentlich vorgesehen war. ({8}) Auch aufgrund der Verlängerung der Laufzeiten haben wir den Energie- und Klimafonds mit Geld gefüllt, sodass wir damit auch wieder mehr Geld für die Gebäudesanierungsprogramme zur Verfügung stellen können. In diesem Jahr haben wir 500 Millionen Euro dafür eingestellt, und das werden wir in den nächsten Jahren weiterführen, damit die Gebäudesanierung nachhaltig und gut finanziert wird. ({9}) Es geht aber nicht nur um die Nachfrageseite, sondern auch die Erzeugerseite ist entscheidend. Ich schaue Sie hier ganz genau an. Wir brauchen auch in Zukunft effiziente und gute Braun- und Steinkohlekraftwerke. ({10}) Das beste und effizienteste Kohlekraftwerk in Datteln, die größte KWK-Anlage in Europa, wird nicht weitergebaut und nicht vorangebracht, weil Sie dieses Projekt in der rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen verhindern. ({11}) Wir könnten etliche Kohlekraftwerke mit einer Effizienz von 30 Prozent vom Netz nehmen und dafür dieses hocheffiziente Kohlekraftwerk mit einem Wirkungsgrad von knapp 50 Prozent ans Netz bringen. ({12}) Sie verhindern die effizienten Kraftwerke in Deutschland und verfolgen damit eine konsequente Linie: Sie sagen immer, wogegen Sie sind, aber nicht, wofür. ({13}) Damit wollen wir Schluss machen. Deshalb haben wir ein Energiekonzept vorgelegt, durch das die Energiepolitik ordentlich und in sich stimmig angepackt wird. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen, Herr Röttgen ist dafür, die Bundesregierung als Ganzes aber offensichtlich nicht. Um was geht es? Es geht darum, die EU dazu zu bewegen, bis 2020 unkonditioniert nicht nur 20 Prozent, sondern 30 Prozent weniger Treibhausgase auszustoßen. Natürlich ist es so, dass das Wirtschaftsministerium Widerstand dagegen leistet. Eigentlich ist das seltsam; denn neben dem Klimaschutz würden uns dadurch keine Wettbewerbsnachteile, sondern im Gegenteil Vorteile entstehen. Schließlich hat sich Deutschland ja zu minus 40 Prozent bis 2020 bekannt. Das EU-Ziel läge dann also nicht mehr 20 Prozent, sondern nur noch 10 Prozent unter den deutschen Ambitionen. Damit würde sich natürlich unsere Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU verbessern. Sachverständige haben uns das auch schon bestätigt. Wir Linke fordern in unserem Antrag darum, dass sich die Bundesregierung beim EU-Gipfel mindestens dafür einsetzt, das 30-Prozent-Minderungsziel nicht mehr abhängig davon zu machen, dass es auf der UNEbene zu einem Klimavertrag kommt. Wir meinen, EUweit wären sogar 40 Prozent weniger drin, wenn es den politischen Willen dazu gäbe. ({0}) Ein Ziel zu vertreten, ist das eine. Die Frage, wie man dahinkommt, ist das andere. Damit sind wir beim europäischen Sondergipfel zur Energiepolitik. Wie Sie wissen, hat EU-Energiekommissar Oettinger kürzlich eine stärkere Harmonisierung der europäischen Fördersysteme für erneuerbare Energien ins Spiel gebracht; Kollege Hempelmann hat das bereits angesprochen. Gleichzeitig fordert Bundeswirtschaftsminister Brüderle im Tagesspiegel, das Erneuerbare-Energien-Gesetz durch eine Marktprämie zu ersetzen. Auch Niedersachsens FDP-Umweltminister Sander will das EEG insgesamt kippen. Aus den Reihen der CDU/CSU hören wir ständig, die nächste EEG-Novelle solle marktnähere Elemente enthalten. Zählt man eins und eins zusammen, kommt man zu dem Schluss: Hier braut sich etwas zusammen, das dem wichtigen Treiber im Klimaschutz das Genick brechen könnte: dem Ausbau der dezentralen regenerativen Energieerzeugung. ({1}) Sie können in Ihrer Rede darauf eingehen, Herr Nüßlein. Der EU-Grünstromzertifikatehandel, welcher Oettinger vorschwebt, ist nichts Neues. Er hätte zur Folge, dass nationale Anstrengungen zum Ausbau erneuerbarer Energien entwertet würden. Mit Mitteln der deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher würde dann nicht mehr die Energiewende in Deutschland finanziert, sondern vielleicht die in Spanien oder Dänemark, wo öfter die Sonne scheint oder der Wind heftiger weht. Wir haben nichts gegen einen grenzüberschreitenden Austausch von Ökostrom. Er sollte aber ergänzend zur nationalen Erzeugung erfolgen, sonst werden hierzulande über kurz oder lang Forschung und Produktion zum Erliegen kommen. Viele Arbeitsplätze bei Herstellern und im Handwerk würden verloren gehen. Um es unmissverständlich zu sagen: An den drei Eckpunkten des EEG - Einspeisevorrang, garantierte Einspeisevergütung und stufenweise Senkung der Vergütung - darf unserer Meinung nach nicht gerüttelt werden. ({2}) Sie sind die Erfolgsgarantien des EEG. Man kann nur hoffen, dass sich hier die Vernunft durchsetzt. Das gilt im Übrigen auch für die nächste EEG-Novelle: Absenken der Vergütung bei Solarstromeinspeisung und Grünstromprivileg ja, aber mit Augenmaß. ({3}) Was die EU zur Energieeffizienz sagt, ist meiner Meinung nach unmissverständlich, nämlich dass das, was bislang passiert ist, enttäuschend ist. ({4}) Ich meine, dass auch die Vorgaben der EU sehr lau sind. Herr Oettinger und Herr Brüderle sollten einmal gemeinsam in Klausur gehen und sich fragen, was Energieeffizienz wirklich bedeutet. Im Übrigen stimmen wir den Anträgen von SPD und Grünen zu. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Breil für die FDP-Fraktion. ({0})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Morgen in einer Woche tagen in Brüssel die Staats- und Regierungschefs, um über eine europäische Energiestrategie zu beraten. In einem der hier zu beratenden Anträge fordert die SPD-Fraktion ein rechtsverbindliches EU-Ziel von 20 Prozent mehr Effizienz und verbindliche Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz. ({0}) Das hört sich gut an, aber es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir uns national eine solche Orientierungsmarke im Energiekonzept gesetzt haben oder ob wir uns gegenüber der EU dazu verpflichten. Ziele, die um jeden Preis eingehalten werden müssen, fördern ein Denken in dirigistischen Maßnahmen wie beim europäischen Glühbirnenverbot. ({1}) Sie führen dazu, dass die Wirtschaftlichkeit außer Acht gelassen wird. Wir wollen nicht noch mehr europäische Technikregulierung und von oben verordnete Effizienzmaßnahmen, die den Verbraucher gängeln. ({2}) Die deutschen Verbraucher sind energiebewusst und zum Energiesparen bereit. Wir brauchen eine klare Kennzeichnung des Energieverbrauchs von Produkten und von Pkw, eine verbesserte Beratung über Energieeinsparmaßnahmen und mehr Beistand durch die neue Bundesstelle für Energieeffizienz. ({3}) Sie kann helfen, wenn Bürger spezialisierte Energiedienstleister suchen. ({4}) - Hören Sie doch einmal zu. Hier können Sie etwas lernen. ({5}) Das sind nur wenige Beispiele, wie wir den Menschen das freiwillige Energiesparen erleichtern. Auch die Beratung mittelständischer Unternehmen und effizientere Produktionsprozesse werden wir zusammen mit vielen anderen Maßnahmen mithilfe eines Energieeffizienzfonds fördern. Insgesamt kann in der Industrie ein jährliches Einsparpotenzial von geschätzten 10 Milliarden Euro gehoben werden. ({6}) Bekanntlich ist die Sanierung des Gebäudebestandes der Schlüssel zur Erreichung jedes Klimaschutz- und Effizienzziels. ({7}) Die SPD findet das Energiekonzept der Bundesregierung im Punkt Gebäudesektor so gut, dass sie es von der EU für verbindlich erklären lassen will. Danke für dieses Lob an dieser Stelle. ({8}) Aber wir werden unser Ziel eines klimaneutralen Gebäudes bis 2020 auch ohne die EU erreichen. ({9}) Die einzige Freiheit, die Parlamenten der Mitgliedstaaten nach Meinung der SPD noch bleiben soll, ist die Verteilung verbindlicher Effizienzziele auf einzelne Sektoren. Die Opposition will die Wirtschaft, den Verkehrsbereich und die Gebäudeeigentümer mit einer Vielzahl von staatlichen Effizienzvorgaben zupflastern. Sie will die EU-Kommission als Kontrolleur einsetzen. ({10}) Das ist nicht unsere Vorstellung von Europa und auch nicht von Subsidiarität. Das ist ökologische Planwirtschaft. Die wird es mit uns nicht geben. ({11}) Da wir schon beim Thema Planwirtschaft sind: In Ihrem eigenen Antrag fordern Sie grenzüberschreitende Netze als starkes wettbewerbliches Instrument. In einem anderen drängen Sie auf die Rekommunalisierung der Netze. Sie wollen also das Gegenteil von dem, was Sie am Montag im Wirtschaftsausschuss zum Anlass der Anhörung machten. ({12}) - Hören Sie doch zu, Herr Hempelmann, Sie können etwas lernen. ({13}) Die Experten haben uns erklärt, dass das Klein-Klein im Netzbetrieb zulasten von Effizienz und Wettbewerb geht. ({14}) Sie ignorieren ökonomische Grundwahrheiten und bezeichnen dann auch noch die Erkenntnisse von Experten als dumm. Das ist schon sehr bemerkenswert. ({15}) Sie ignorieren Grundwahrheiten immer dann, wenn sie mit roten oder grünen Dogmen hausieren gehen. Vielen Dank. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast möchte ich diese Rede mit einem Lob beginnen, mit einem Lob an die Regierung; ({0}) denn es ist richtig, aber auch höchste Zeit, dass Sie gegen eine schädliche EU-Harmonisierung der Förderinstrumente für erneuerbare Energien Position beziehen, die von Anfang an als Attacke auf das ErneuerbareEnergien-Gesetz gedacht war, das EEG, das die größte Technologieentwicklung der letzten zehn Jahre ausgelöst hat, das unser bestes Klimaschutzinstrument ist und Zukunftsmärkte eröffnet. Das erfolgreiche EEG darf nicht abgeschafft werden. ({1}) Leider ist diese Position gegen diese fatale Attacke, die auch noch aus Ihren eigenen Reihen stammt, das einzig Sinnvolle, was Sie zu diesem EU-Gipfel beizutragen haben. Ich möchte einige Beispiele nennen. Es wurde heute sehr viel über Energieeffizienz geredet. Beim EU-Gipfel geht es darum, das 20-Prozent-Ziel verbindlich zu machen. Das ist ein unbürokratisches Instrument, weil jedes Land selbst entscheiden kann, wie es dieses Ziel erreicht. Es schafft dadurch Anreize für Kreativität, und es nutzt unserem Standort. Was ist Ihre Reaktion darauf? Nein, kein verbindliches Ziel. Lieber nur in die Richtung von 20 Prozent. - Stellen Sie sich einmal vor: 27 Firmen wollen gemeinsam ein Projekt starten, und wenn man über das Budget redet, dann heißt es: Na ja, vielleicht gebe ich so in Richtung 20 000 Euro, aber verbindlich festlegen will ich mich nicht. - Das ist doch absurd. Es würde überhaupt nichts in der Wirtschaft passieren. Genau das ist die Durchschlagskraft, die Ihre Energiepolitik hat. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr, Herr Kollege Staffeldt.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Nestle, sind Sie in der Lage, mir zuzustimmen, wenn ich sage, dass es in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedliche Startvoraussetzungen gibt? Das heißt, in Spanien, Italien, Portugal, Rumänien oder sonst wo ist das Ziel von 20 Prozent relativ schnell und einfach erreichbar. Bei uns in Deutschland ist es aber deutlich schwieriger, weil wir gerade im Bereich der Energieeffizienz, beispielsweise in der Industrie, bereits seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten sehr viel aktiver sind als andere Länder, auch aus Kostengründen. Insbesondere im Bereich der Gebäudesanierung machen wir schon sehr viel mehr, als andere Länder gemacht haben. Aus diesem Grund können die 20 Prozent nur bei gleichen Startvoraussetzungen gelten.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werter Herr Kollege, ist Ihnen erstens bekannt, dass das 20-Prozent-Ziel ein Ziel verglichen zu Business as usual, zum normalen Pfad, und kein absolutes Ziel ist, dass also jedes Land, verglichen mit seinem Pfad, das hinterher abrechnen kann? ({0}) Ist Ihnen zweitens bekannt, dass es durchaus Debatten dahin gehend gibt, unterschiedliche Ziele für unterschiedliche Staaten festzulegen? Auch beim Erneuerbare-Energien-Ziel haben wir ein verbindliches Ziel gehabt. Sie stellen sich aber grundsätzlich gegen ein verbindliches Ziel und suchen gar nicht nach Lösungen wie: Jeder Staat kann nach Business as usual abrechnen, oder es gibt eventuell differenzierende Faktoren. - Sie lehnen das einfach grundweg ab. Bei den erneuerbaren Energien haben Sie sich zwar noch dafür eingesetzt, aber bei Effizienz hört es ganz schnell auf. Das ist sehr traurig. Bei Energieeffizienz machen Sie den Mund am weitesten auf. Sie fordern Energieeffizienz. Aber wenn es darum geht, etwas konkret zu machen und weiterzudenken, dann gibt es nur dieses Abblocken. ({1}) Genau das haben wir heute in den Beiträgen gesehen. Wenn wir nach konkreten Maßnahmen zur Energieeffizienz fragen, dann heißt es: Halbierung der Fördermittel und neue Kohlekraftwerke. - Wir haben von einem klaren Pkw-Label gehört, das nach Ihren Vorstellungen Gewicht belohnt: Je schwerer das Auto ist, desto besser steht es da. Gewicht wird also belohnt. Das ist eine absichtliche Falschinformation und kein klares Label, wie Sie es gefordert haben. ({2}) Nicht zuletzt sieht man auch an den faktischen Zahlen, dass Ihre Politik nicht greift; denn Sie werden mit Ihren Instrumenten gerade einmal 12 Prozent schaffen und nicht die 20 Prozent, die wir brauchen. Sie sind die Regierung des Stillstands. ({3}) Zweites Beispiel aus der EU, die Infrastruktur. Es geht darum, den stockenden Ausbau der Stromnetze voranzubringen. Auch Sie finden das sehr wichtig. Die EU macht einen Vorschlag, aber Sie lehnen den Vorschlag ab und sagen: Nein, das sollen die Unternehmen finanzieren. Diese sind aber heute offensichtlich nicht in der Lage oder nicht willens, dies zu tun. Sie bringen keine eigenen Vorschläge ein. Sie sind die Regierung des Stillstands. Wir hingegen haben vor zwei Wochen ein Stromnetzkonzept vorgelegt, das deutlich konkreter ist als alles, was ich von Ihnen gehört habe, inklusive Ihres Energiekonzepts. ({4}) Drittes Beispiel, der Binnenmarkt. Warum haben Sie das einzig wirklich wirksame Instrument, um in der EU Wettbewerb zu schaffen, immer abgeblockt, nämlich die eigentumsrechtliche Entflechtung von Netz und Erzeugung? Immer haben Sie sich dagegengestellt. So könnte man aber Wettbewerb schaffen. Sie sind die Partei des Stillstands und die Regierung des Stillstands. Wir kämpfen mit der eigentumsrechtlichen Entflechtung von Netz und Erzeugung für wirklichen Wettbewerb. ({5}) Die Ölpreise haben sich verdreifacht. Was machen Sie? Nichts. Der Ausbau der Stromnetze stockt. Das ist ein Problem. Ihr Kommentar: Das sollen die Unternehmen irgendwie machen. Effizienz ist unsere Zukunftschance. Wir können bares Geld sparen und Zukunftsmärkte erobern. Wir können Klimaschutz effektiv und kostengünstig gestalten. Ihre Position: Bloß kein verbindliches Ziel; denn dann müsste man womöglich wirklich etwas machen. ({6}) Eines kann ich Ihnen ganz konkret vorschlagen, was Sie jetzt bei diesem EU-Gipfel machen können: Es gibt Regelungen zur energieeffizienten öffentlichen Beschaffung, die sich nur auf Neubauten beziehen, die sowieso strikten Regeln unterliegen. Weiten Sie diese Regeln auf den Bestand, auf die Altbauten und auf den öffentlichen Bestand aus, dann haben Sie bei diesem EU-Gipfel etwas erreicht! Das möchte ich Ihnen mitgeben. Wenden Sie sich von der rückwärtsgewandten Politik des Stillstands ab! Bringen Sie uns, Deutschland und Europa voran, aber bitte in die richtige Richtung! ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es gibt momentan zwei Politikfelder, die an Akzeptanz in der Öffentlichkeit verlieren: ({0}) Das ist auf der einen Seite die europäische Politik, und das ist auf der anderen Seite all das, was sich rund um das Thema „erneuerbare Energien“ abspielt. Ich sage bei beiden Themen: leider Gottes. Es ist an uns, an dieser Stelle etwas zu tun. Wir reden heute über die Schnittmenge dieser beiden Politikfelder. Ich will mit dem Thema Erneuerbare-Energien-Gesetz beginnen. Einiges wird unter dem beschönigenden Oberbegriff „Harmonisierung“ diskutiert. Ich möchte einen Blick werfen auf die Wurzeln des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, nämlich auf das Stromeinspeisungsgesetz. Ich tue das nicht, weil ich, lieber Kollege Fell, irgendjemandem die Vaterschaft an dieser Stelle absprechen möchte, sondern weil ich ganz deutlich den regulatorischen Ansatz herausstellen möchte, der seinerzeit eine christlich-liberale Koalition bewegt hat, die Grundlagen für eine solche Systematik zu schaffen. Es ging darum, in einem Energiebereich, der von natürlichen Monopolen im Netz und von einer verdichteten Versorgerstruktur gekennzeichnet ist - vier Anbieter produzieren heute 80 Prozent des Stroms -, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Mittelständler, Landwirte, Produzenten von Wasserkraft und Windkraft in diesem Konzert mitspielen können, dass sie die Chance haben, einzuspeisen, und dass staatlich geregelt ist, zu welchen Konditionen dies passiert. ({1}) Ich sage das ausdrücklich deshalb, weil es ein Hinweis darauf ist, dass man so etwas aus regulatorischen Erwägungen braucht. Wir haben über das Erneuerbare-Energien-Gesetz eine Technologieeinführungskomponente dazubekommen, die in weiten Teilen das Ihre leistet, auch wenn sie immer wieder nachgesteuert werden muss. Wir werden das in naher Zukunft in großer Einmütigkeit zwischen Regierung und Opposition - jedenfalls wird das momentan so signalisiert - auch tun. Wenn man heute sieht, wie erfolgreich sich dieses ganze Thema entwickelt hat, dann wird einem klar, dass Harmonisierung doch nicht heißen kann, dass man jetzt über die Europäische Union versucht, dieses Erfolgsgesetz durch eine Quotenregelung zu ersetzen. Durch eine Quotenregelung würden wir einen Strukturbeitrag und Wertschöpfung im eigenen Land verlieren. Außerdem hätten wir bei einer Quotenregelung nicht mehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem eigenen Land unabhängiger zu werden. ({2}) Ich sage das in dem Bewusstsein, dass man momentan ganz deutlich zeigen kann - jedenfalls besagen das die Zahlen des Bundesumweltministeriums, das ebenfalls CDU-geführt ist -, dass die Alternativen keine Vorteile bringen. In Großbritannien kostet die Megawattstunde Windenergie 65 Euro. Dort hat man ein Quotensystem mit Zertifikatehandel. In Italien, wo man ein ähnliches System hat, kostet die Megawattstunde Windenergie 85 Euro. In Deutschland mit seinem vielgescholtenen EEG kostet die Megawattstunde Windenergie 50 Euro. ({3}) Das heißt, wir haben politisch offenbar die Möglichkeit, die Preise präziser zu steuern und darüber hinaus andere politische Ziele zu erfüllen. ({4}) Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil man es dem Kollegen Oettinger, der aus meiner Sicht auf einem komplett falschen Dampfer ist, entgegenhalten muss. ({5}) Eine Quotenregelung würde weder ihm noch uns etwas bringen. Sie würde gewachsene Strukturen kaputtmachen. Deshalb bin ich über das, was der ehemalige CDUMinisterpräsident an dieser Stelle vorschlägt, nicht so begeistert. Das muss man ihm in dieser Klarheit sagen. Ich hoffe, dass er sich, wenn er über Harmonisierung auf der europäischen Ebene redet, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, das auf dem Stromeinspeisungsgesetz aus der Ära Helmut Kohl fußt, zuwendet. Das halte ich für ganz entscheidend. ({6}) Im Übrigen kann man zu dem Thema „europäische Politik“ sagen: Die Versuche einer europäischen Angleichungspolitik - plötzlich will man den Wettbewerb der Systeme nicht mehr; man stellt die Subsidiarität hintan halten wir, auch an anderen Stellen, für ausgesprochen problematisch. Ich sage Ihnen ganz offen: Beim Thema Klimaschutz sehe ich das ganz genauso. - Da wird der Applaus auf der linken Seite des Hauses etwas weniger werden. - Ich habe immer geglaubt, dass ich beim Thema „Emissionshandel und Klimaschutz“ nicht erklären muss, dass man so etwas nur international betreiben kann. Nun lese ich mit großer Verwunderung im Antrag der Linken: Auf internationale Vorgaben als Taktgeber für nationale oder EU-Klimapolitik zu setzen, wäre verhängnisvoll. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von ganz links, verhängnisvoll wäre es, eben nicht auf internationale Politik zu setzen, weil es doch eine Hybris ist, anzunehmen, Deutschland könne das Klimaproblem der Welt lösen. Das ist falsch. Gucken Sie sich doch einmal an, was in China passiert. Die Chinesen haben von 2000 bis 2008 ihren CO2-Ausstoß verdoppelt. In der Zeit von 2006 bis 2008 war der Zuwachs an CO2-Emissionen größer als die gesamten CO2-Emissionen in Deutschland.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Nüßlein, Sie sind zwar schon fast am Ende Ihrer Redezeit. Frau Bulling-Schröter würde aber gerne noch eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie diese? ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlich gern.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Kollege Nüßlein, es liegt mir fern, die CDU/CSU zu ärgern. Sie haben recht, wenn Sie sagen: Der CO2-Ausstoß Chinas wird immer höher; er ist ungefähr so groß wie der der USA. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, einen sehr guten Vorschlag gemacht hat, den wir vielleicht gemeinsam weiterverfolgen könnten. Dabei geht es darum, für jeden Menschen den gleichen Umweltraum zu definieren. Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Pro-KopfAusstoß an CO2 in der Bundesrepublik Deutschland oder in den USA wesentlich höher ist als in China. Wie stehen Sie denn dazu? Wir wissen alle, dass es mehr wird. Ich bestreite nicht, dass wir auf internationaler Ebene etwas machen müssen. Aber wenn Deutschland auf diesem Gebiet die Vorreiterrolle behalten oder wiedererlangen will, heißt das doch, dass wir jetzt auf EU-Ebene etwas tun müssen. Es gibt genügend EU-Papiere, die belegen, dass das 30-Prozent-Ziel auf EU-Ebene nicht so einfach zu erreichen ist. Sie kennen diese Papiere sicher genauso wie ich. Meine Frage: Wie schaut es denn mit dem ProKopf-Verbrauch aus?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, ich habe ja nicht kritisiert - das läge mir auch völlig fern -, was die Kanzlerin auf internationaler Ebene anstößt. Ich meine, da macht sie nicht nur eine hervorragende Figur, sondern auch eine hervorragende Klimapolitik. Ich habe kritisiert, dass Sie uns in Ihrem Antrag explizit zu nationalen Alleingängen aufrufen, ganz unabhängig von der Frage, ob andere mitziehen oder nicht. Genauso ist der Satz, den ich gerade angeführt habe, doch wohl zu verstehen. Dazu sage ich ganz ehrlich: Das wird am Schluss in keiner Weise zielführend sein; denn wenn wir etwas in der Welt bewegen wollen, dann müssen wir doch in einem anderen Sinne Vorbild sein. Wir müssen nämlich den Entwicklungsländern - damit komme ich auch zu Ihrem Thema, dem Pro-Kopf-Kontingent - zeigen, dass man auf der einen Seite wachsen und an Wohlstand gewinnen, auf der anderen Seite aber gleichzeitig das Klima schützen und weniger Ressourcen verbrauchen kann. Wenn uns bei unserer Klimapolitik genau dieser Beweis misslingt, wenn es uns also nicht gelingt, zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie miteinander verzahnt werden können, dann wird uns letztendlich auch niemand folgen. ({0}) Das ist doch genau der Punkt. Ich kann nur dazu raten, ({1}) zu verstehen, dass wir in Bezug auf die Ausgangslage schon jetzt ein hohes Niveau haben und dass wir uns genau überlegen müssen, wie wir bei dieser Thematik weitermachen. Wenn wir heute - lassen Sie mich das noch abschließend sagen - über das Thema „Vereinbarung eines EUweiten 30-Prozent-Zieles“ diskutieren, muss uns eines klar sein: Es könnte für uns Deutsche, die wir momentan das Ziel einer Reduktion von 20 Prozent erfüllen, aber das 40-Prozent-Ziel anstreben wollen, ganz gut sein, wenn die anderen nachziehen. Das Problem ist nur das Solidaritätsprinzip in der EU; denn danach wird der Erfolg wieder nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verteilt. Am Schluss heißt es dann wieder: Die Deutschen müssen mehr tun. Das ist auch in ökonomischer Hinsicht eine Gleichmacherei, die zu einer DeindustriaDr. Georg Nüßlein lisierung in Deutschland führt. Das wollen wir beim besten Willen nicht. In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, dass der Redner der SPD hier erklärt, Deutschland sei vom Energieeffizienzziel von 20 Prozent weit entfernt. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle einfach einmal fragen: Wer hat denn elf Jahre regiert? Wer hat sieben Jahre den Wirtschaftsminister gestellt? Wer hat vier Jahre den Umweltminister gestellt? Es war die Sozialdemokratische Partei. Es ist Ihre Bilanz, die Sie hier kritisieren. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Kauch, darf ich Sie unterbrechen? Herr Kelber möchte eine Zwischenfrage stellen.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte fortfahren. ({0}) Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat ein wesentliches Instrument der Energieeffizienz auf den Weg gebracht, das hier von der gesamten versammelten Opposition kritisiert wurde. Der Energie- und Klimafonds wird aus den Gewinnabschöpfungen der Kernkraftwerke und erstmals aus 100 Prozent der Versteigerungserlöse aus Emissionsrechten gespeist. Der Energie- und Klimafonds speist einen Energieeffizienzfonds, der so groß ist wie kein Programm zuvor. Er sichert die Mittel für die Gebäudesanierung über das Jahr 2011 hinaus; das ist ein großer Erfolg. Das ist eine Maßnahme zur Energieeffizienz, die Sie vorhin eingefordert haben. ({1}) Schauen wir uns einmal an, was im Bereich der erneuerbaren Energien geschieht. Die SPD hat noch schnell vor der Debatte einen Fünfzeiler aufgesetzt, der besagt, was die Bundesregierung machen soll. Ich kann nur sagen: Was Sie da fordern, tun wir bereits - deshalb müssen wir Ihren Antrag auch nicht annehmen -; denn wir - insbesondere meine Fraktion - haben im Energiekonzept verankert, dass der unbegrenzte Einspeisevorrang für erneuerbare Energien erhalten bleibt. Im Energiekonzept finden Sie ein klares Ja der FDP bzw. dieser Koalition zum EEG. Sie führen hier Phantomdebatten, die jeder realistischen politischen Grundlage entbehren. ({2}) Wir als FDP - das sage ich sehr deutlich - haben unterschiedliche Haltungen. ({3}) Es gibt aber einen klaren Parteitagsbeschluss mit einer Mehrheit von weit über 60 Prozent für das EEG im Wahlprogramm und im Koalitionsvertrag, der von meiner Partei einstimmig angenommen wurde. In unserer Partei kann jeder seine persönliche Meinung äußern. Entscheidend ist aber, was auf dem Bundesparteitag beschlossen wird. Das ist pro EEG, meine Damen und Herren von den Grünen. ({4}) Ich möchte gern auf die Glaubwürdigkeit der Grünen zu sprechen kommen. Frau Nestle sagt hier: Wir haben ein tolles Netzkonzept. ({5}) - Ja, das haben Sie vielleicht. Ich habe es noch nicht gelesen; ({6}) aber es ist bestimmt ganz toll, da es ja von Ihnen kommt. Ihre Glaubwürdigkeit misst sich allerdings an dem, was vor Ort passiert: In jeder Bürgerinitiative gegen den Netzausbau finden sich Ihre grünen Aktivisten. ({7}) Deshalb ist das, was Sie hier vertreten, eine unglaubwürdige Politik: hier für die erneuerbaren Energien, dort gegen die Netze. Aber wer die Netze nicht bekommt, wird das Ziel im Bereich erneuerbarer Energien nicht erreichen. ({8}) Ihre Hintertür heißt dann hier in Berlin: Na ja, wenn noch Atomstrom im Netz ist, können wir den Menschen das ja auch nicht richtig verkaufen. - Das ist der Weg, auf dem Sie Ihre unglaubwürdige Politik bis zum letzten Tag verteidigen werden. Solange wir zu 99 Prozent und nicht zu 100 Prozent erneuerbare Energien haben, werden die Grünen vor Ort immer gegen die Netze und damit gegen die erneuerbaren Energien sein. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Kelber das Wort.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kauch, unabhängig von dem, was wir von der Bundesregierung einfordern, sprechen Sie immer eine Minute lang über die Frage „Wer hat denn elf Jahre lang regiert?“. Die EU-Kommission sagt, dass Deutschland bei der Energieeffizienz deutlich schlechter als der Durchschnitt aller Mitgliedsländer ist. Ich zitiere aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Montag: Alle anderen EU-Staaten, die bisher ihre Energiesparpläne in Brüssel angemeldet haben, verfehlen das 20-Prozent-Ziel klar. Frankreich und Spanien liegen mit rund 16 Prozent aber immer noch über dem deutschen Wert. Dieser Wert liegt bei 12,8 Prozent. Sie haben aus dem Anfangsteil hinsichtlich des Energiesparplans vielleicht mitbekommen, dass die EUKommission keine Bewertung der Politik der letzten Jahre, sondern eine Bewertung dessen abgegeben hat, was Ihr Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der sich selber schon manchmal als kommender FDP-Parteichef feiern lässt, in Brüssel als Politik der Bundesregierung für die nächsten Jahre angemeldet hat. Die EUKommission hat dazu gesagt: Ihr schafft noch nicht einmal die Hälfte von dem, was ihr euch vorgenommen hat. Glauben Sie nicht, dass es für ein Hightechland, das diese Technologie weltweit verkaufen will, ein Armutszeugnis ist, wenn es schlechter als der Durchschnitt der Europäischen Union dasteht? ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Antwort, Herr Kauch.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kelber, wir haben in den letzten Jahren eine Politik erlebt ({0}) - das mag ja sein -, die auch Sie für richtig gehalten haben. Herr Gabriel, Ihr jetziger Parteivorsitzender, hat uns erklärt, er sei der große Held der Umweltpolitik und bringe die Sache jetzt voran. Die Maßnahmen, die Sie mit dem Integrierten Klima- und Energieprogramm begonnen haben und die wir jetzt fortführen, ({1}) sind gemäß Ihrer Aussage offensichtlich falsch. Das kann doch nicht sein. Wir haben auf das IKEP die Projekte des Energiekonzeptes aufgesetzt. ({2}) Die Zeitperspektive für diese Projekte geht bis 2050. Wir werden die Ziele in puncto Energieeffizienz und in Bezug auf erneuerbare Energien im Rahmen dieses Energiekonzeptes erreichen, Herr Kelber. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/4528, 17/4529, 17/4527 und 17/ 4544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren ({0}) - Drucksache 17/4510 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe Stunde zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort für die Bundesregierung. ({2})

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf will die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Qualität des Investmentfondsgeschäftes, aber auch einen Beitrag für die Verbesserung des Anlegerschutzes in unserem Land leisten. Unter Anpassung an geänderte europäische Vorgaben soll der Investmentfondsstandort Deutschland durch eine Modernisierung des Aufsichtsund Regulierungsrahmens gestärkt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die neugefasste Investmentfonds-Richtlinie der EuropäiParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk schen Union umsetzen, die bis zum 1. Juli dieses Jahres in nationales Recht umgesetzt werden muss. OGAW - das ist die Abkürzung für „Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren“ - ist die europäische Kunstbezeichnung für Wertpapier-Investmentfonds. Man muss solche schönen Begriffe den Menschen draußen im Land erklären. Das heute umzusetzende neue Konzept der Europäischen Union sieht Folgendes vor: Es wird ein Kurzinformationsblatt mit den wesentlichen Anlegerinformationen eingeführt. Auf zwei Seiten sollen dem Anleger prägnant die wesentlichen Merkmale seiner Anlage erläutert werden. Beispielsweise sollen Chancen und Risiken sowie die mit der Anlage verbundenen Kosten für den Anleger verständlich dargestellt werden. Er soll auch einen Überblick über die bisherige Wertentwicklung dieses Investmentfonds erhalten. Ein wesentlicher Punkt zur Verbesserung der Effizienz des Investmentgeschäfts wird die Ermöglichung grenzüberschreitender Fondsverwaltung sein. Damit können künftig auch ausländische Fondsverwaltungsgesellschaften in Deutschland ohne inländische Tochtergesellschaft deutsche Investmentfonds auflegen. Ebenfalls dürfen zukünftig aber auch deutsche Kapitalgesellschaften Investmentfonds im Nachbarland auflegen, ohne durch eine eigene Gesellschaft vor Ort zu sein und ohne dass dies mit Personalverschiebungen vom Inland ins Ausland verbunden ist. Eine wesentliche Verbesserung wird zudem beim grenzüberschreitenden Fondsvertrieb eingeführt. Bisher musste sich eine deutsche Fondsgesellschaft bei einem Verkauf ihrer Produkte im Ausland mit ausländischen Aufsichtsbehörden in einem mehrwöchigen Verfahren bis zu zwei Monate über die Markteinführung auseinandersetzen. Zukünftig wird dieses bislang sehr bürokratische Verfahren im Sinne der Marktteilnehmer vereinfacht, ohne dass Anlegerschutzbelange vernachlässigt werden. Die Fristen für die sogenannten Vertriebsanzeigen werden stark verkürzt. Erforderliche Unterlagen werden innerhalb der Aufsichtsbehörden übermittelt. Damit werden im Sinne des europäischen Binnenmarktes die Rahmenbedingungen für den grenzüberschreitenden Fondsverkauf ganz wesentlich verbessert, und es wird ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau geleistet. Fondsgesellschaften sollen zukünftig bessere Möglichkeiten bekommen, ihre Angebotspalette zusammenzufassen und effizienter zu verwalten. Hierzu sollen grenzüberschreitende Fondsverschmelzungen und sogenannte Master-Feeder-Konstruktionen ermöglicht werden. Bei Letzterem handelt es sich um eine zweistöckige Fondsstruktur. Hierbei investiert ein sogenannter Feederfonds nahezu sein gesamtes Vermögen in einen sogenannten Masterfonds. Beide Maßnahmen dienen ebenfalls der Effizienzsteigerung des Investmentgeschäfts. Gleichzeitig wird die Anlegerinformation bei Nutzung dieser neuen Möglichkeiten erheblich ausgebaut. Vergleichbar dem bereits bestehenden Schlichtungswesen für Banken soll zudem ein Schlichtungswesen bei Investmentfonds eingeführt werden, das dem Verbraucher eine einfache Möglichkeit bietet, sich über Missstände zu beschweren. Dies verbessert seine Position deutlich, da er eine einfache Möglichkeit bekommt, sein Recht durchzusetzen, ohne den Kosten des ordentlichen Gerichtsweges ausgesetzt zu sein. Der Gesetzentwurf sieht zudem eine deutliche Verbesserung des Anlegerschutzes im Bereich der Anlegerinformation vor. Wenn Fondsgesellschaften zukünftig Kosten erhöhen oder ihre Anlagepolitik umstellen, soll der Anleger direkt informiert werden. Gebührenerhöhungen, die der Anleger kaum wahrnimmt, weil sie nur in Tageszeitungen oder im Bundesanzeiger veröffentlich werden, sind in Zukunft nicht mehr möglich. Ein wichtiger Punkt aus dem Koalitionsvertrag, der in diesem Umsetzungsgesetz aufgegriffen wird, ist die Verbesserung der Rahmenbedingungen für sogenannte Mikrofinanzfonds. Hier sollen bestehende Hemmschwellen abgebaut werden; denn die bisherigen restriktiven Anforderungen des Investmentgesetzes an Mikrofinanzinstitute haben dazu geführt, dass keine Mikrofinanzsondervermögen in Deutschland aufgelegt wurden. Die Anforderungen an die Mikrofinanzinstitute werden deshalb durch dieses Gesetz auf ein angemessenes Maß zurückgeführt. Gestatten Sie zum Schluss noch den Hinweis, dass das Gesetz neben den aufsichtsrechtlichen auch wichtige steuerliche Regelungen enthält. Das betrifft insbesondere Anpassungen wegen der nach der OGAW-IV-Richtlinie zugelassenen grenzüberschreitenden Fondsverwaltung. Wichtig ist dabei der Hinweis auf eine steuerliche Regelung, die keinen unmittelbaren Bezug zu dieser EU-Richtlinie hat, die sich aber strikt gegen missbräuchliche Steuergestaltungen mit Aktienleerverkäufen richtet. Akteure der Finanzbranche versuchen gegenwärtig nämlich, durch Auslandsgeschäfte mit deutschen Aktien den deutschen Fiskus zu schädigen, indem ungerechtfertigte Quellensteuererstattungen veranlasst werden. Gegen solche missbräuchlichen Gestaltungen gehen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf unverzüglich und konsequent vor. Wir sind davon überzeugt, dass mit den in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen die europäischen Vorgaben zur Steigerung der Effizienz des Investmentfonds erreicht werden, der Investmentfondsstandort Deutschland gestärkt, aber auch der Anlegerschutz weiter entscheidend verbessert wird. Ich bitte um zügige Beratung und dann um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Carsten Sieling. ({0})

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Staatssekretär hat eben dargelegt, dass dieses Gesetzgebungsvorhaben, das auf eine Vorgabe der EU zu9836 rückgeht, unterschiedliche Facetten hat. Auf den ersten Blick scheint dieser Gesetzentwurf sehr technisch zu sein. Man hat insgesamt den Eindruck, dass er außerhalb der Fondsbranche noch keine großen Wellen schlägt. Herr Staatssekretär, wir stehen in der Tat am Anfang der Beratungen. Ich will Ihnen an dieser Stelle gerne sagen, dass auch wir ein Interesse daran haben, diesen Gesetzentwurf zügig zu beraten. Ich kann Ihnen heute aber noch nicht zusagen, dass wir auch Ihrem Wunsch entsprechen, zuzustimmen. ({0}) Wir müssen uns erst einmal die weiteren Schritte anschauen. Wenn wir genauer hinschauen, stellen wir auf jeden Fall fest, dass man diesen Gesetzentwurf keineswegs nur als technisches Klein-Klein bezeichnen kann. Es ist schon so, dass eine Reihe von Änderungen im Investmentbereich geplant sind, die immerhin einige Hunderttausende Kleinanlegerinnen und Kleinanleger betreffen werden, die ihr Geld in diesem Bereich investiert haben, und zwar sehr oft als Altersvorsorge. Von daher ist das ein Thema, dem wir uns sehr stark widmen müssen. Beim Thema Investmentfonds wird man ohnehin hellhörig angesichts der Tatsache, dass mittlerweile etwa 25 Milliarden Euro Anlegergeld in kriselnden Fonds gesperrt sind. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen. Das ist ein guter Grund, genau zu schauen, was wir hier vorliegen haben. Staatssekretär Koschyk hat die verschiedenen Aspekte vorgestellt; ich will das nicht wiederholen. Ich möchte mich in dieser ersten Lesung auf zwei Punkte konzentrieren und dazu einige Aspekte ansprechen. Zum einen geht es mir um die Möglichkeiten der Fondsverschmelzung, um Übernahmemöglichkeiten und deren Konsequenzen. Zum Zweiten geht es mir um den vom Staatssekretär angesprochenen Beipackzettel, um das sogenannte Key Investor Document, KID genannt, das es zukünftig geben soll und das für die Anlegerinnen und Anleger eine Art Produktinformationsblatt darstellt. Ich komme zum ersten Punkt, zur Möglichkeit der Verschmelzung. Es ist deutlich gemacht worden, dass es infolge der Richtlinie, die wir umsetzen sollen, für Fonds einfacher wird, deutschland- und europaweit zu Verschmelzungen zu kommen. Es kann leichter zu gegenseitigen Übernahmen kommen. Das gesamte Vermögen soll dann in sogenannten Master-Feeder-Konstruktionen, deren genaue technische Ausgestaltung wir uns, glaube ich, noch anschauen müssen, zusammengebracht werden. Die EU verspricht sich davon ausweislich der Vorlagen einen Effizienzgewinn in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Das ist eine Dimension, die uns dazu bringen sollte, sehr genau hinzuschauen. Wenn diese Fonds effizienter arbeiten können, dann können sie auch mehr Geld für die Anlegerinnen und Anleger ausschütten; das ist völlig klar. Ich glaube, darauf muss man hinweisen und hinarbeiten. Eine Gefahr sehe ich darin - ich denke, im Gesetzgebungsverfahren müssen wir sorgfältig darauf achten -, dass größere kriselnde Fonds versuchen könnten, sich sozusagen gesundzukaufen, indem sie sich kleinere, gut funktionierende Fonds einverleiben. Ich habe in einem Fachaufsatz gelesen, dass diese Regelungen durchaus dazu führen können, dass in Europa so etwas wie Fondsfabriken entstehen. Ich will hier sagen, dass wir diesen Aspekt genau beachten müssen; denn wir können nicht wollen - das wäre nicht im Interesse der Anlegerinnen und Anleger -, dass gute Arbeit derart belastet wird. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Aufsicht in besonderer Weise strukturiert werden muss; denn gerade bei grenzüberschreitenden Fonds wird man darauf achten müssen, dass dies sicher und ordentlich abläuft. Ich bin gespannt, welche Vorschläge Sie machen werden und wie die BaFin gestaltet oder strukturiert werden soll, damit sie dieses durchaus neue Problem präzise erfassen kann. Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte, betrifft die Produktinformationsblätter. Das OGAW-IVUmsetzungsgesetz wird kein reines Anlegerschutzgesetz, sondern - das wurde richtig gesagt - soll die Fonds stabiler machen. Nichtsdestotrotz möchte ich im Zusammenhang mit der von uns sehr intensiv geführten Diskussion über das Anlegerschutzgesetz der Bundesregierung sagen, dass es eindrucksvoll ist, was die EU auf diesem Gebiet plant und wie sie versucht, das Produktinformationsblatt zu regeln. Sie sprechen von zwei Seiten; aber diese zwei Seiten haben es in sich. Vor allen Dingen an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und FDP gerichtet sage ich, dass wir einmal schauen müssen, ob wir uns davon für das Anlegerschutzgesetz, das in Beratung ist, nicht eine Scheibe abschneiden können. Die Richtlinie der EU sieht vor, dass Angaben zur Identität der Fonds gemacht werden und Anlageziele und Anlagestrategien beschrieben werden. Die Risiken sollen sehr detailliert und aufgeschlüsselt in Kreditrisiko, Liquiditätsrisiko, Ausfallrisiko usw. dargelegt werden. Die Wertentwicklung muss sich in diesem Blatt gegebenenfalls in Performanceszenarien wiederfinden. Ebenso müssen Kosten und Gebühren sowie Ausgabeauf- und Rücknahmeabschläge dargestellt werden. Das ist eine Lehre aus der Lehman-Pleite, aus dem Verlust, den viele Menschen erlitten haben. Die Regelungen sind sehr weitreichend und umfassen immerhin 15 Seiten der Verordnung. Wenn ich mir anschaue, was wir zurzeit bezüglich eines Produktinformationsblattes im Bereich Anlegerschutz beraten, muss ich sagen, dass das weit dahinter zurückfällt. Dort heißt es nur dürr - sozusagen „Made by Bundesregierung“ -, dass die damit verbundenen Risiken - ohne nähere Erläuterung - und die Kosten des Produkts - ohne nähere Aufschlüsselung - behandelt werden sollen. Ich denke, diese OGAW-Richtlinie kann ein richtiger und wichtiger Schritt sein, um den Anlegerschutz in Deutschland zu verbessern. Wenn gleich das Argument vorgebracht wird, man mache das, wenn die sogenannte PRIPs-Initiative der EU kommt, dann muss ich sagen: Es ist natürlich eine Möglichkeit, abzuwarten. Die andere Möglichkeit wäre, schon jetzt den vorliegenden Vorschlägen der Verbraucherverbänden und der Fraktionen hier im Hause, auch von uns als SPD, zu folgen und den Anlegerschutz in allen Bereichen zu stärken; denn wir müssen - ich habe Ihren Koalitionsvertrag so verstanden, dass Sie dafür sorgen wollen; dann tun Sie das auch - für einen einheitlichen Anlegerschutz und eine einheitliche Handhabung der Investmentfonds in Deutschland sorgen. Lassen Sie uns früh damit anfangen und es genau machen. Wir befinden uns heute in der ersten Lesung. Es geht darum, sich diesem Gesetzentwurf und den vielen verschiedenen Anforderungen zu nähern. Wir werden im Finanzausschuss alsbald eine öffentliche Anhörung dazu durchführen. Ich kann hier nur sagen: Wir als SPD werden sehr genau darauf schauen, wie dieses Umsetzungsgesetz für Deutschland aussieht; denn wir wollen eine starke Investmentfondslandschaft mit einer effizienten Aufsicht und geringen Kosten für die Anlegerinnen und Anleger. Das muss dieses Verfahren hergeben. Wenn das ermöglicht wird, dann können wir darüber reden, wie wir eine gemeinschaftliche Beschlussfassung erreichen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Björn Sänger für die FDP-Fraktion. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Investmentfonds hat unterschiedliche Dimensionen; eine Dimension ist die sozialpolitische. Investmentfonds bieten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Möglichkeit, sich aktiv am Produktivkapital zu beteiligen. Der Investmentfonds stellt damit einen Erfolgsweg in der sozialen Marktwirtschaft dar. Die Form der Beteiligung der Werktätigen am Kapital, Herr Kollege Koch, ist aus unserer Sicht erfolgversprechender als andere Wege, bei deren Suche Sie sich gerne als Pfadfinder beteiligen. Der Investmentfonds ist als Altersvorsorgeprodukt sehr geeignet; denn auf lange Sicht lassen sich hiermit gute Renditen erzielen. Auf die letzten 30 Jahre betrachtet schwanken diese je nach Produktklasse zwischen 5,5 Prozent und 8,8 Prozent. Deswegen wird er auch sehr gerne beim Riester-Sparen eingesetzt. Er hat eine finanzierungspolitische Dimension. Er fungiert als Kapitalsammelstelle. Die Investmentfonds nehmen eine Fristentransformation vor, die durchaus interessanter ist als die der Banken. Schließlich ist die Fristentransformation bei Krediten auch mit Risiken behaftet. Er hat einen volkswirtschaftlichen Nutzen bei der privaten Vermögensvorsorge bzw. -bildung. Mit kleinen Beiträgen ist es den Anlegerinnen und Anlegern möglich, ein diversifiziertes Portfolio aufzubauen. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Umsetzung der OGAW-Richtlinie dar. OGAW IV sagt ja schon aus, dass dieser Gesetzentwurf eine lange Geschichte hat. Es gab OGAW I und OGAW III; OGAW II ist ausgefallen. Nun gibt es OGAW IV. Ich denke, im Prinzip sind alle Umsetzungsgesetze - dies gilt sicherlich auch für dieses vierte - von der Branche begrüßt worden, weil das Produkt und der Rechtsrahmen Stück für Stück weiterentwickelt wurden. Auch innerhalb der politischen Klasse ist es nicht sonderlich umstritten. Dieses Gesetz ist nicht der Finanzkrise geschuldet. Vielmehr befand es sich ohnehin in der Pipeline, hat eine lange Vorgeschichte und ist gewissermaßen Business as usual, um den Investmentfonds attraktiver zu machen. Allerdings sind auch in diesem Gesetzentwurf die Probleme der Finanzkrise aufgegriffen worden. Ein Kind kommt auf die Welt: das KID, das Key Investor Document; auch Herr Staatssekretär Koschyk hat es erwähnt. Insgesamt kann man feststellen: Die Branche wird durch eine stärkere Europäisierung gestärkt. Es werden Möglichkeiten geschaffen, vermehrt grenzübergreifend zu investieren. Wir müssen in den Beratungen schauen, ob die technische Umsetzung reibungslos gelingt: Erfüllen die Regelungen den Sinn, für den sie gedacht sind? Werden nicht nutzlose Informationen geschaffen? Entstehen nicht überflüssige Kosten? Schließlich knabbern zusätzliche Kosten sehr stark an der Rendite. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten dieses Gesetz auch nutzen, um eine im Prinzip fertige finanzpolitische Innovation dranzuhängen und den Fondsstandort Deutschland und den Finanzplatz Deutschland noch weiter zu stärken: Wir sollten darüber nachdenken - das ist ebenfalls im Sinne der Bundesregierung; auch Staatssekretär Koschyk hat gesagt, der Fondsstandort Deutschland solle gestärkt werden -, ob wir nicht auch das sogenannte Pension Pooling in dieses Gesetz integrieren. Zurzeit ist es so, dass große, international tätige Konzerne ihre Altersvorsorgeeinrichtungen in den unterschiedlichen Ländern separat ansiedeln. Mithilfe eines Pension Poolings würde man diese an einem Standort bündeln können. Man würde weitere Effizienzgewinne erzielen und damit schlussendlich auch die Rendite für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhen. Die Rede ist von 0,5 Prozent Rendite; auf 30 Jahre betrachtet ist dies doch schon einiges. In anderen Ländern wird das schon gemacht. Belgien, Luxemburg, Großbritannien, Irland und die Niederlande haben bereits entsprechende Vorkehrungen getroffen. Dabei gibt es möglicherweise eine Schwierigkeit; das will ich gar nicht verschweigen. Denn die entsprechenden Regelungen müssen DBA-konform gestaltet werden. Dies bedürfte einer umfangreichen Prüfung und wäre ein ambitioniertes Ziel. Wir sollten diese Chance allerdings nutzen, um dieses Pension Pooling an das Gesetz anzudocken und einen weiteren Schritt hin zu einem attraktiven Fondsstandort Deutschland zu machen. Insgesamt freuen wir uns auf die weiteren Beratungen und sind guter Hoffnung - ich denke, das zeigt auch die bisherige Debatte -, dass wir am Ende zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen können. Herzlichen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Harald Koch für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Bundesregierung nichts aus der Finanzkrise gelernt hat und weitermacht wie bisher, dann wäre dieser Gesetzentwurf der Beweis. Teile der Fondsbranche werden zu Recht als Schattenbankensystem bezeichnet. Das bedeutet nichts anderes, als dass jene Hochrisikogeschäfte, die bisher von Banken betrieben wurden und die Krise mit ausgelöst haben, zunehmend von Investmentfonds und Hedgefonds ausgeübt werden. Exakt davor warnte am 20. Januar dieses Jahres der Chefkorrespondent der Finanzzeitung Handelsblatt, Robert Landgraf: Dieses gefährliche Ausweichmanöver muss gestoppt werden. ({0}) Schattenspieler sind harten Regeln zu unterwerfen. Sonst werden die Schattenbanken von heute zum Wachstumssektor der Finanzindustrie von morgen. Niemand wird ernsthaft glauben, dass deren Risiken nur reiche Privatleute treffen, … ({1}) Meine Damen und Herren, dass Sie auf die Linke hören, erwartet ernstlich niemand. Aber nehmen Sie sich doch wenigstens die Empfehlung Ihrer Hauspostille zu Herzen. Ich sage Ihnen: Vor lauter Effizienz- und Wettbewerbsdenken blenden Sie gesamtwirtschaftliche Risiken wieder einmal völlig aus. Stattdessen tun Sie alles dafür, dass sogenannte Feeder Fonds immer größer werdende Master Fonds noch besser füttern können. Sie wollen, dass bestehende Fonds noch besser über Grenzen hinweg miteinander verschmelzen können. Ihre größte Sorge ist, dass die Aufsichten jener Länder, in die die Fonds expandieren wollen, zu viele lästige Fragen stellen. Sie geben folglich vor, Sie wollten mit dem Gesetz den angeblich zu kleinteiligen Markt der Investmentfonds straffen, um Gebührensenkungen für die Anleger zu erreichen. Wenn Sie das tatsächlich wollen, dann schaffen Sie eindeutige und transparente Regeln über Obergrenzen für Gebühren! Ebenso haben Sie es versäumt, die Kennzahl der Gesamtkostenquote zu überarbeiten, um eine umfassendere Kostentransparenz für die Verbraucher herzustellen. Dazu müssten Ausgabeaufschläge, erfolgsabhängige Vergütungen und anderes berücksichtigt werden. In Anbetracht dieser Unterlassungen ist die Einführung der „Wesentlichen Anlegerinformationen“ als Element des Verbraucherschutzes nichts anderes als eine schlechtsitzende Tarnkappe zur Verschleierung der weiteren Deregulierung. ({2}) Solange eine durchgreifende Finanzmarktregulierung unterbleibt, die das Schattenbankensystem umfasst, so lange können Sie dem Dilemma einer angemessenen Anlegerinformation - zu viele Informationen sind für den Kleinanleger nicht zu bewältigen; übersichtliche Informationen verweisen vielleicht doch nicht auf die entscheidenden Risiken - auch mit diesem Instrument nicht entkommen. Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit fördert die OGAW-IV-Richtlinie Konzentration und Monopolisierung im Fondssektor. Riesige Kapitalüberschüsse strömen auf der Suche nach Profit um den Globus. Aufgrund dieser Überliquidität bilden sich immer neue, gefährliche Spekulationsblasen; das hatten wir schon einmal. Die Überliquidität ist Folge der massiven, sich verschärfenden Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich. Die neuen Vorschriften leisten dem Trend zu immer größeren, scheinbar profitträchtigeren Fonds mit entsprechend größeren Hebelwirkungen Vorschub. Es ist doch offensichtlich, dass zunehmend übermäßige Risiken eingegangen werden. Dementsprechend wird über kurz oder lang viel Geld einer noch größeren Zahl von Anlegern verbrannt. Verbraucherschutz sieht anders aus. ({3}) Auch werden immer größere Heuschrecken herangezüchtet. Hinterher, wenn die Heuschrecken solide Zielunternehmen ruinieren und auszehren, wird geklagt. Wir brauchen endlich Rahmenbedingungen, die diese Fonds zu längerfristigen Investments und zu weniger spekulativem Agieren verpflichten. Wir brauchen stabile Finanzmärkte und eine entsprechend strikte Regulierung. Danke schön. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Koch, jetzt war ich doch ein wenig überrascht. Ich glaube, es ist nicht so ganz klar geworden, was genau Ihr Wunsch ist, was man bei dem Gesetz, das hier vorliegt, eigentlich anders machen sollte. Ich glaube, wir müssen uns schon klarmachen: Wenn wir Konsequenzen aus der Finanzkrise ziehen, dann hilft es nicht, auf der großen Oberfläche zu bleiben; vielmehr geht es um ganz konDr. Gerhard Schick krete Regeln. Dazu müssen Sie ganz konkrete Vorschläge machen. ({0}) Ich muss zugeben, dass ich dieses relativ dicke Gesetz mit dem Datum 24. Januar 2011 - es ist noch nicht so lange her, dass es eingebracht worden ist - noch nicht vollständig durchdrungen habe. Ich glaube, dass ich damit nicht der Einzige bin, weil all die Fragen der grenzüberschreitenden Fusionen, Schließungen von Fonds usw. eine relativ komplexe Materie sind, die nicht täglich bei uns aufschlägt. Es gibt eine Herausforderung, bei der ich mir noch nicht sicher bin, ob wir ihr gerecht werden können. Die verschiedenen Gesetzgebungsprozesse, die auf der europäischen und auf der nationalen Ebene laufen, interagieren. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich schaffen, ein konsistentes Anlegerschutzrecht und eine konsistente Finanzmarktregulierung sicherzustellen. Das ist eine große Sorge. Ich glaube deswegen, dass wir im Rahmen dieses Gesetzgebungsprozesses zu OGAW IV auch einen Input für den OGAW-V-Prozess brauchen, weil die Sachen offensichtlich gerade parallel diskutiert werden, wir gleichzeitig an zwei Schrauben drehen und wissen müssen, was an welcher Stelle jeweils gemacht wird. Ich will ein paar Punkte nennen, die für uns in der Diskussion wichtig sein werden. Der erste Punkt wurde schon genannt und betrifft die „Wesentlichen Anlegerinformationen“. Für uns ist es wichtig, dass es wirklich zu einer knappen, präzisen, aber auch entscheidungsrelevanten Informationsgrundlage kommt und dass das mit dem zusammenpasst, was wir den Anlegern bei anderen Produkten vorschlagen. Der zweite Punkt ist, dass wir Konsequenzen aus dem Madoff-Skandal ziehen müssen. Bisher schien es so, als würde das in der OGAW-V-Richtlinie angesprochen werden. Wir müssen schauen, dass das Thema nicht untergeht. Denn ich befürchte, dass die Europäische Union keine wirklichen Konsequenzen daraus zieht, dass es im Bereich der Fonds eine Regulierungsarbitrage von Luxemburg gibt. Diese ist bisher nicht abgestellt worden, und ich sehe keine konkreten Vorschläge, mit der sie abgestellt werden kann. Das führt dazu, dass Anleger - eher in Frankreich als in Deutschland; aber das hätte auch umgekehrt sein können - einen Schaden aus diesem Anlagebetrug in den USA erlitten haben, weil Depotbanken in Luxemburg, von der luxemburgischen Aufsicht durchaus bewusst nicht kontrolliert, ihre Arbeit nicht getan haben. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. ({1}) Bei der Fusion von Fonds ist die Frage zu regeln, wann die Anleger Informationen bekommen müssen. Das geschieht bisher zu spät. Es ist das Eigentum der Anleger, mit dem gewirtschaftet wird. In dem Umsetzungsgesetz und der Richtlinie, die ihm zugrunde liegt, ist diesbezüglich jetzt ein richtiger Schritt gegangen worden. Wir werden schauen müssen, ob das so ausreicht oder ob man da nachsteuern muss. Ich habe wahrgenommen, dass Sie beim REIT-Gesetz jetzt noch einmal mit der Exit Tax nachsteuern. Da wäre vielleicht die Frage zu klären, ob das heißt, dass Sie Ihren Fehler im Koalitionsvertrag, die Einbeziehung von Wohnimmobilien, jetzt korrigieren und sich auf die vorgeschlagene Änderung beschränken oder ob Sie noch Weiteres vorhaben. Ich habe bereits im Ausschuss angesprochen, dass auch die Frage zu klären ist, wie wir auf kritische Entwicklungen im Mikrofinanzbereich reagieren können. Man hat inzwischen Erfahrungen, welche Modelle funktionieren und welche nicht. Wir sollten jetzt nicht nur auf die deutsche Regulierung schauen, sondern auch berücksichtigen, was in den Zielländern der Investitionen vor Ort im Einzelnen geschieht, damit wir ein sicheres Produkt schaffen, das seinem Zweck, der Förderung von Mikrofinanzierungen, auch wirklich dient und nicht irgendwann, wie es in einzelnen Fällen von Mikrofinanzinstituten der Fall war, zu einem Nachteil für die Anleger wird. Es gibt viele andere - auch steuerlich relevante - Fragen, bei denen wir noch ganz stark in die Tiefe gehen müssen. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, in dieser ersten Lesung ein paar Punkte anzusprechen, die im Rahmen dieser Diskussion eine Rolle spielen sollten. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde beschäftigen wir uns hier mit einem Gesetz, das - wenn man die Ausführungen meiner Vorredner wahrgenommen hat - für den einen oder anderen sehr esoterisch klingen mag. Es ist schon sehr speziell. Es ist eine Sache, bei der man sagen könnte, es handele sich ja nur um die Umsetzung von europäischem Recht, angereichert um einen Restanten aus dem Restrukturierungsgesetz: die Mikrofonds und die Schließung von Steuerschlupflöchern. Aber ich glaube, es ist trotzdem wichtig, dass wir uns hier an dieser Stelle mit diesem Gesetz beschäftigen, weil ich es eigentlich nicht mag, wenn wir sagen: Das ist ja nur die Umsetzung von europäischem Recht. - Zu sagen: „Das ist nur die Umsetzung von europäischem Recht“, wertet dieses Haus ab. Wenn man sich die Quantität der Vorhaben, die wir uns hier vornehmen, ansieht, stellt man fest: Das ist oftmals nur die Umsetzung von europäischem Recht. ({0}) Wir Finanzpolitiker wissen, dass die Umsetzung von europäischen Rechten ziemlich wichtig ist. Sie ist deswegen wichtig, weil wir in den letzten Jahren aus der Krise gelernt haben, dass wir mit nationaler Gesetzgebung oft an unsere Grenzen stoßen. Was hätte es uns genutzt, Ratingagenturen nur in Deutschland zu regulieren, nicht aber in anderen Ländern? Was würde es uns nutzen, Leerverkäufe hier zu verbieten, wenn die entsprechenden Finanzmarktakteure dann nach London abwandern? Was würde es uns nutzen, deutsche Banken mit Eigenkapitalregelungen zu belasten, die in den USA so nicht übernommen werden? Das Ganze könnte man beliebig weiterführen. Meine Damen und Herren, wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass große Probleme eigentlich nur international zu lösen sind, am besten weltweit. Aber wir haben auch lernen müssen, dass das nicht möglich ist. Es ist deswegen nicht möglich, weil einige Länder sagen: Das war damals eure Finanzkrise. Was interessiert uns eure Regulierung? Wir brauchen das nicht. Das geht auch deshalb nicht, weil es Länder gibt, leider auch in der EU, die mangelnde Regulierung - Herr Schick hat es gerade angesprochen - als Standortvorteil begreifen; man spricht in diesem Fall von Regulierungsarbitrage oder - böse - von Regulierungsdumping. Irland war kein gutes, sondern ein sehr schlechtes Beispiel dafür. Ich bin nachhaltig der Überzeugung: Wenn es uns nicht gelingt, auf globaler Ebene Lösungen zu finden, dann müssen wir uns bemühen, zumindest mit unseren engsten Partnern, unseren Freunden in der Europäischen Union, Lösungen zu finden, mit denen wir die Regelungen, die das OGAW-IV-Umsetzungsgesetz vorsieht, umsetzen. Wir müssen einen gemeinsamen Markt organisieren und ein Level Playing Field schaffen, mit gleichen Standards, mit guter Aufsicht, mit Austausch von Informationen, mit Kommunikation. Ich bin nachhaltig davon überzeugt, dass wir die wichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betreffen, nur europäisch lösen können. Ich wiederhole das: Wir können die wichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betreffen, nur europäisch lösen. Dabei werden wir den einen oder anderen Kompromiss, der nicht unbedingt deutschen Interessen entspricht, eingehen müssen, an dieser Stelle und, wie ich befürchte, auch in dem einen oder anderen Bereich, über den momentan im europäischen Kontext diskutiert wird. Umso wichtiger ist es, dass wir als Parlament uns als aktiven Teil dieses europäischen Richtlinien- oder Gesetzgebungsprozesses begreifen, so wie Art. 23 Grundgesetz das eigentlich auch vorsieht. Ich glaube, da haben wir noch eine Menge Potenzial nach oben. Wir dürfen uns zum Beispiel nicht erst dann mit den Richtlinien beschäftigen, wenn sie uns vorgelegt werden und kaum noch zu ändern sind, sondern wir sollten uns früh einschalten. Wir als Deutscher Bundestag sollten unsere Position deutlich machen, indem wir der Bundesregierung für die Diskussionen im Rat ein Mandat mitgeben. Wir sollten den Dialog mit den Verantwortlichen in der Kommission suchen und mehr als in der Vergangenheit mit unseren Kollegen im Europäischen Parlament Hand in Hand arbeiten. Ich denke, hier haben wir durchaus noch einigen Nachholbedarf. Es ist wichtig, dass wir nie sagen: Das ist ja nur die Umsetzung von europäischem Recht. Im Übrigen befreit uns die Nur-Umsetzung von europäischem Recht nicht von der Notwendigkeit, einen sorgfältigen Gesetzgebungsprozess durchzuführen. Es ist nämlich auch eine Herausforderung, die europäischen Vorgaben an die nationalen deutschen Besonderheiten anzupassen. Ich bin sehr froh, Herr Sieling, Herr Schick, Herr Kollege Sänger - Herr Koch, was Sie betrifft, gilt das leider ein bisschen weniger -, dass Sie diesen Prozess sehr ernst nehmen und die Bereitschaft geäußert haben, das Ganze nicht einfach nur durchzuwinken, sondern sich durchaus auch mit den Details zu beschäftigen. Ich halte das für richtig. Sie haben es angesprochen: Wir werden am 23. Februar dieses Jahres eine Anhörung zu diesem Thema durchführen. Wir werden die Anregungen und Hinweise aus dieser Anhörung erwägen und bewerten. Wir werden dieses Gesetz gegebenenfalls ändern. Wir werden unsere Arbeit dann im Sinne von Herrn Koschyk, der ein zügiges Vorgehen erbeten hat, aller Voraussicht nach Ende März dieses Jahres abschließen. Wie ich gehört habe, werden wir das gemeinsam machen. Das ist gut und, wie ich glaube, auch ein gutes Ende dieses Tages. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4510 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten, bei denen keine Aussprache mehr vorgesehen ist. Darf ich davon ausgehen, dass Sie einverstanden sind, wenn ich die Namen derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die ihre Rede zu Protokoll geben, nicht jeweils vorlese? Sie können sie dann im Protokoll nachlesen. - Das ist der Fall. Dann beginnen wir mit dem Tagesordnungspunkt 12: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip Juratovic, Anton Schaaf, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Faire Mobilität und soziale Sicherung - Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 schaffen - Drucksache 17/4530 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden sind zu Protokoll gegeben worden.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4530 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 150 Jahre diplomatische Beziehungen zwi- schen Deutschland und Japan - Drucksache 17/4545 - Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben wor- den.2) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4545 mit dem Titel „150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Japan“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Die Agrarwissenschaften in Deutschland auf höhere Anforderungen ausrichten - Drucksache 17/4531 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4531 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Volker Beck ({2}), Ingrid Hönlinger, 1) Anlage 2 2) Anlage 3 3) Anlage 4 weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche stärken - Drucksache 17/4546 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.4) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4546 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 16 a und 16 b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara - Drucksache 17/4271 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({5}), Tom Koenigs, Marieluise Beck ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtslage in Westsahara - Drucksache 17/4440 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich der Deutsche Bundestag heute mit dem Thema Westsahara beschäf- tigt. Dieses Thema steht in Deutschland nicht unbedingt ganz oben auf der Tagesordnung, obwohl es sich um ei- nen Jahrzehnte andauernden regionalen Konflikt han- 4) Anlage 5 delt. Deshalb würde ich mir wünschen, wenn wir dies mit dieser Debatte ein wenig ändern könnten. Ich vertrete - ähnlich wie Volker Rühe das kürzlich geäußert hat - die Auffassung, dass Deutschland sich in den nächsten Jahren als Mitglied des Sicherheitsrates zu Themen positionieren muss, denen wir Deutsche bisher bequemerweise aus dem Wege gehen konnten. Die Frage des Westsahara-Konflikts gehört sicherlich zu diesen Themen. Die Westsahara-Problematik ist eine zentrale Frage für die Zukunft Marokkos und der gesamten Region von Algerien bis Mauretanien. Sie bindet große militärische Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien und steht der Kooperation und Entwicklung im Maghreb entgegen. Es ist in einer 30 Minuten langen Debatte leider nicht möglich, die Entwicklung des Konflikts mit seinen Ursachen und Ereignissen seit mehr als 30 Jahren zu analysieren. Deshalb möchte ich mich kurz fassen und zunächst auf die Inhalte der Anträge eingehen: Der Antrag der Fraktion Die Linke ist aus meiner Sicht tendenziös. Er richtet sich eindeutig gegen Marokko, wie schon der Titel belegt, in dem von „völkerrechtswidriger Besatzungspolitik“ die Rede ist. Bedenklicher finde ich, dass im Antrag bei der Schilderung der Ereignisse im Lager Gdaim Izyk nahe Laayoune verschwiegen wird, dass offenbar zehn der zwölf Opfer marokkanische Sicherheitskräfte waren, dass die Proteste also keineswegs so friedlich waren, wie im Antrag der Linken hervorgehoben. Ich wundere mich, dass diese auch im Antrag der Grünen erwähnte Tatsache einfach verschwiegen wird. Das ist aus meiner Sicht unredlich. Die marokkanische Seite spricht in diesem Zusammenhang übrigens von einer Situation, dass sich eine Gruppe der Lagerinsassen während der Verhandlungen mit der marokkanischen Seite radikalisiert habe und die Personen, die bereit waren, das Lager zu verlassen, als Geiseln genommen habe. Erst daraufhin hätten die Sicherheitskräfte ohne den Gebrauch von Waffen eingegriffen. Auch in der Frage des 14-jährigen getöteten Jungen, der angeblich Nahrungsmittel und Medikamente in das Lager Gdaim Izyk bringen wollte, gibt es andere Informationen. Diese berichten von bewaffneten Personen in zwei Allradfahrzeugen, die einen Angriff gegen das Wachpersonal in Laayoune ausübten und in deren Begleitung sich auch der Junge befand. Ich möchte hier gar nicht den Richter spielen und die Ereignisse jener Tage abschließend beurteilen, jedoch möchte ich festhalten, dass es offensichtlich unterschiedliche Versionen gibt. Wir sollten uns als Deutscher Bundestag nicht dazu hinreißen lassen, die Darstellung einer Konfliktpartei eins zu eins für unsere Argumentation zu übernehmen und daraus unrealistische Forderungen abzuleiten. Damit kommt die Linke dem Ziel einer Lösung des Konflikts nicht näher, sie sorgt nur für Radikalisierung und eine Verhärtung der Positionen. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bildet eine weit bessere Diskussionsgrundlage. Ich halte die Hervorhebung der Bedeutung der Menschenrechtslage in der Westsahara zwar grundsätzlich für richtig, aber dann muss man auch andere Fragen stellen, nämlich nach der Rolle Algeriens in dem Konflikt oder der Situation in den von der POLISARIO geführten Flüchtlingslagern. Es ist uns ja nicht einmal möglich, die Zahl der Flüchtlinge in diesen Lagern unabhängig zu erfassen. Im Antrag der Grünen steht eine Zahl von 160 000, in einem Bericht der damaligen Staatssekretärin Karin Kortmann an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von 2008 heißt es jedoch: „Die Weigerung der sahrouischen Behörden, einer Registrierung zuzustimmen, legt jedoch nahe, dass ihre wirkliche Anzahl weit darunter und wahrscheinlich kaum über 90 000 liegt.“ Wir müssen uns bei allen Fragen der Menschenrechte, wo ich mir auch vonseiten Marokkos Verbesserungen wünsche, auch nach grundsätzlichen Lösungsmöglichkeiten des Konflikts fragen. Hier laufen ja derzeit die direkten Verhandlungen zwischen der POLISARIO und Marokko unter dem neuen UN-Vermittler Christopher Ross. Und hier haben wir weiterhin die Situation, dass die Marokkaner von einer Souveränität Marokkos über die Westsahara ausgehen, während die POLISARIO ein Referendum mit Einschluss der Unabhängigkeit fordert. Da liegt dann der Teufel im Detail über die Frage, wer dann abstimmen darf und wie die Abstimmung erfolgt. Der Streit über diese Frage hat letztlich ja schon früher ein Referendum verhindert. Marokko ist 2007 immerhin mit einem weitreichenden Autonomievorschlag von seiner bisherigen harten Verhandlungslinie abgerückt, einem Vorschlag, den der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1871 vom April 2009 als „ernsthafte und glaubwürdige Bemühungen“ charakterisiert hat. Unter dem Aspekt der Menschenrechte und der wirtschaftlichen Entwicklung einer von einem jahrzehntelangen Konflikt betroffenen Region ist der Autonomievorschlag eine mögliche Lösung. Schließlich sind weitreichende Befugnisse für die Region in wirtschaftlichen, sozialen und Haushaltsfragen vorgesehen. Ich möchte diese marokkanische Position nicht einfach übernehmen, vielmehr ist es immer Maßgabe deutscher Außenpolitik gewesen, die Bemühungen der Vereinten Nationen bei der Herbeiführung einer Lösung zu unterstützen. Hier hat es ja durch die Wiederaufnahme von vertrauensbildenden Maßnahmen in Form von Familienbesuchen und der wahrscheinlichen zukünftigen Einigung über solche Familienbesuche auch auf dem Landweg durchaus Fortschritte gegeben. Wenn aber auch der neue UN-Vermittler Christopher Ross bei der Suche nach einer Lösung letztlich nicht weiterkommen sollte, halte ich es für wichtig, dass Deutschland zukünftig klarer Position bezieht. Die Frage der Menschenrechte in der Westsahara sollte dabei dann ebenso eine Rolle spielen, wie die Fragen der Zu Protokoll gegebene Reden Legitimation marokkanischer Ansprüche. Die Berechtigung der Vertretungsansprüche der POLISARIO für die Bevölkerung in der Westsahara ist dabei auch zu hinterfragen, und schließlich sollte es natürlich auch um eine realistische Einschätzung der machbaren Lösungswege gehen. Insofern begreife ich die heutige Debatte losgelöst von Ihrem Anlass als einen Auftakt, sich auch im Deutschen Bundestag verstärkt mit den Fragen jenes über Jahrzehnte schwelenden Konflikts zu beschäftigen. Vielleicht kann es uns Deutschen ja gelingen, hier eine Position zu entwickeln, die der Komplexität der Situation gerecht wird und letztlich dazu beiträgt, eine tragfähige Lösung herbeizuführen.

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir alle sind über das menschliche Leid, das durch den Westsahara-Konflikt verursacht wird, tief betroffen. Allein die jüngste Tragödie von Laayoune im Nordwesten der Sahara zeigt, welch dramatisches Ausmaß dieser Konflikt angenommen hat. Die unzähligen Toten, die es bei der Räumung eines Zeltlagers gegen die soziale und wirtschaftliche Lage am 8. November 2010 durch marokkanische Sicherheitskräfte gab, zeigen das eindrücklich. Dabei schwelt der Konflikt schon seit langem. Um ihn besser verstehen zu können, lohnt ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Konflikts. Seit Mitte der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts wurde Spanien wiederholt von der UN aufgefordert, die Westsahara in die Unabhängigkeit zu entlassen. Parallel dazu gründete sich die sahrauische Befreiungsfront Frente POLISARIO, die für eine politische Unabhängigkeit der Westsahara kämpfte. Nach dem Tod Francos 1975 zogen die Spanier ab, und Mauretanien und Marokko besetzte den Großteil des Gebiets der Westsahara. 1976 erklärte Marokko die Annexion der nördlichen zwei Drittel des Westsahara-Gebietes und 1979 des restlichen Territoriums, nachdem sich Mauretanien aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Diese Annexionen wurden von den Vereinten Nationen nicht anerkannt. Ebenso wenig wurden ohne die Abhaltung des von den Vereinten Nationen geforderten Referendums die Ansprüche der Demokratischen Arabischen Republik Sahara auf das Gebiet der Westsahara anerkannt. Zwar wurde 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Marokko und der POLISARIO geschlossen, aber auch dies reichte nicht, um das geforderte Referendum abzuhalten. Daher leben bis heute etwa 100 000 Sahrauis in Flüchtlingslagern nahe der Stadt Tindouf in der algerischen Sahara. Hinzu kommt, dass das Gebiet von Westsahara aktuell durch eine befestigte und verminte Grenzanlage geteilt ist, die von Marokko entlang der Waffenstillstandslinie errichtet wurde. Vor diesem Hintergrund scheint eine kurzfristige Lösung des Westsahara-Konflikts kaum realistisch. Trotz aller Bemühungen sowohl der Bundesregierung als auch der internationalen Gemeinschaft war es bislang nicht möglich, die Konfliktparteien zu einer einvernehmlichen und friedlichen Lösung zu bewegen. Woran liegt das? Zuallererst an den Konfliktparteien selbst. Weder die Regierung Marokkos noch die Saharawi Liberation Movement, Frente POLISARIO, waren und sind bis heute in der Lage, aufeinander zuzugehen und in der Sache voranzukommen. Selbst die Resolution 1754 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, in der die Konfliktparteien dazu aufgefordert wurden: „enter into direct negotiations without preconditions and in good faith“, führten bislang nur zu ergebnislosen Gesprächen. Die Ursache dafür liegt in den unterschiedlichen Zielsetzungen, die die Konfliktparteien in den Verhandlungen verfolgen. Marokko wäre bis zu einem gewissem Grad bereit, einen Autonomiestatus der Region zu akzeptieren, solange dies innerhalb des marokkanischen Staatsverbandes geschieht. Die sahrauischen Aktivisten berufen sich aber auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und fordern einen unabhängigen Staat Westsahara. Dieses Dilemma von außen zu lösen, scheint kaum möglich, und daher stellt sich die Frage, wie die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft mit diesem Konflikt umgehen. Zunächst einmal ist es eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns bemühen, das menschliche Leid zu lindern und humanitäre Hilfe beispielsweise für die schon angesprochenen vier Flüchtlingslager in der Nähe der Stadt Tindouf in der algerischen Sahara leisten. Auch engagieren wir uns im Rahmen von Familienzusammenführungsprogrammen und unterstützen die ständige VNBeobachtermission MINURSO, die seit dem Waffenstillstand und der Resolution 690 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 29. April 1991 im Land ist. Im Rahmen des Programms Deutsche Akademische Flüchtlingshilfe beim UNHCR werden derzeit Stipendien für mehr als 20 sahrauische Studierende finanziert, und das Auswärtige Amt prüft, wie wir die Räumung von Minen aus dem Westsahara-Konflikt in Mauretanien unterstützen können. Neben all diesen humanitären und vertrauensbildenden Maßnahmen müssen wir alles tun, um das seit langem geforderte Referendum über die Zukunft der Westsahara und die entsprechenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien unter Einbindung von Algerien und Mauretanien zu unterstützen - auch wenn sie bislang nicht erfolgreich verlaufen sind. Außer dieser Unterstützung arbeitet Deutschland besonders mit Blick auf Frankreich und Spanien an einer kohärenteren Haltung der Europäischen Union zum Westsahara-Konflikt und bemüht sich, auch Algerien konstruktiv in die Gespräche einzubinden. Die Regierung in Algier unterstützt die Frente POLISARIO und sieht den Westsahara-Konflikt hauptsächlich als Dekolonialisierungsproblem an. Darüber hinaus gibt es aber kaum diplomatische oder wirtschaftliche Hebel für die Bundesregierung, eine der Konfliktparteien kurzfristig zu entscheidenden Zugeständnissen zu drängen. Auch wenn dies vor dem Hintergrund des menschlichen Leids schwer fällt zu akzeptieren, so müssen wir auch unseren Einfluss realistisch einschätzen und dürfen ihn nicht überbewerten. Zu Protokoll gegebene Reden Das wäre fatal und würde nur falsche Erwartungen und Hoffnungen bei den Betroffenen und Opfern schüren. Und das können wir auch nicht wollen.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bis zum heutigen Tage ist es nicht zu einem wirklichen Durchbruch im Sinne einer dauerhaften, völkerrechtlich verbindlichen Verhandlungslösung für den Konflikt um die Westsahara gekommen, der nun schon seit 1975 andauert. Seit 1991 besteht zwar formell ein Waffenstillstand zwischen der POLISARIO und Marokko. Der Konflikt und vor allem die durch ihn betroffenen Menschen in der Westsahara warten dennoch weiterhin auf eine dauerhafte und tragende Lösung. Ein Referendum in der Westsahara wäre, im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, ein wichtiger erster Schritt in Richtung einer Konfliktlösung gewesen. Doch schon der Versuch des ersten Schrittes, ein Referendum auf dem Gebiet der Westsahara durchzuführen, ist im Jahr 2000 am Streit über den Teilnehmerkreis gescheitert. Die gewaltsame Räumung des Protestcamps im sahrauischen Camp Gdaim Izyk bei El Aaiun im November 2010 durch marokkanische Sicherheitskräfte zeigt, dass der Konflikt auch 36 Jahre nach seinem Ausbruch noch immer in tödliche Gewalt umschlagen kann. Dieser Gewaltausbruch am 8. November 2010 fiel ausgerechnet mit dem Beginn der dritten Runde der informellen Gespräche über den Status der Westsahara zusammen, zu denen sich Marokko, die POLISARIO und die Beobachterstaaten Algerien und Mauretanien in New York trafen. Das Blutvergießen vom 8. November 2010 weckt große Befürchtungen hinsichtlich einer neuen Eskalation des Konfliktes und muss alle Mitglieder des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung zu größter Sorge veranlassen. Den Konfliktparteien - insbesondere der Regierung des Königreiches Marokko - muss unmissverständlich erklärt werden, dass Gewaltverzicht eine Conditio sine qua non für alle weiteren Schritte zur humanitären Unterstützung und zur Konfliktbeilegung ist. Hier sehe ich die Bundesregierung in der Pflicht. Die erneute Gewalteskalation ist auch deshalb umso bedauerlicher, da es in der Vergangenheit umfangreiche Aktivitäten der Vereinten Nationen zur Einhegung und Beilegung des Konfliktes gegeben hat: So haben die Vereinten Nationen 1991 eine eigene Mission für die Einhaltung des Waffenstillstandes und zur Verbesserung der humanitären Situation, die MINURSO, ins Leben gerufen. Die Verlängerung des MINURSO-Mandates steht für den April diesen Jahres an. Im Zuge dieser Mandatsverlängerung besteht nun ein Konflikt zwischen der POLISARIO und der marokkanischen Regierung über die Aufnahme eines Menschenrechtsmechanismus in das Mandat der MINURSO-Mission. Dieser Konflikt muss - im Sinne der Prävention einer weiteren Eskalation und für die Verbesserung der humanitären Lage der sahrauischen Bevölkerung - unbedingt schnell beigelegt werden. Die Bundesregierung muss in dieser Situation alles ihr Mögliche unternehmen, um die Verlängerung des MINURSO-Mandates zu erreichen. Ohne dieses Mandat wäre die Grundlage für das humanitäre Handeln der Vereinten Nationen in der Westsahara-Region gefährdet. Dies darf auf gar keinen Fall zugelassen werden. Ich will es an dieser Stelle auch nicht versäumen, auf die Baker-Pläne I und II hinzuweisen, in denen die Vereinten Nationen ein umfangreiches Konfliktlösungsszenario entwickelten. Ich halte deren Ziele nach wie vor für aktuell: Der Westsahara sollte entsprechend Baker-Plan II eine weitgehende Autonomie unter marokkanischer Souveränität zugestanden werden. Wesentlicher Bestandteil war ein Abkommen, das folgende Regelungen vorsah: Freilassung der Verhafteten und Kriegsgefangenen. Drei Monate nach Unterzeichnung des Abkommens beidseitige Reduzierung der Streitkräfte. Nach einem Jahr sollen ein Parlament und ein Oberhaupt der Exekutive gewählt werden. Sie sollen den territorialen Haushalt der Westsahara verwalten und für die Steuereinnahmen und die Polizei zuständig sein. Allerdings wäre der marokkanische König der Souverän geblieben, der in den Außenbeziehungen, in Verteidigungsfragen und bei der Kontrolle der Waffen weisungsbefugt wäre. Vier oder fünf Jahre nach der Unterschrift wäre nach dem Baker-Plan II ein Referendum durchgeführt worden, in dem die Wahlberechtigten über drei Optionen hätten abstimmen können: Erstens, ob die Westsahara einen Autonomiestatus innerhalb Marokkos erhält; zweitens Unabhängigkeit oder drittens die volle Integration in das marokkanische Staatsgebilde. Die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben im Jahre 2004 in ihrem interfraktionellen Antrag „Eine politische Lösung für den Westsaharakonflikt voranbringen - Baker-Plan unterstützen“, Drucksache 15/2391, eindringlich für diesen Plan geworben. Obwohl die Vereinten Nationen mit ihrer Resolution 1495 vom 31. Juli 2003 alle Konfliktbeteiligten und Verhandlungspartner aufgefordert haben, dem Plan zuzustimmen, ist dieser aufgrund der Vorbehalte Marokkos gegen den offenen Endstatus gescheitert. Dies soll mich hier aber nicht davon abhalten, nochmals die Grundsätze und Forderungen des BakerPlanes und unseres Antrages von 2004 zu unterstreichen und für ihre Umsetzung zu werben. Die Vereinten Nationen verfolgen die Umsetzung der Ziele des Baker-Planes nach dessen Scheitern durch direkte Verhandlungen. Hierin sind sie durch alle Bundesregierungen ebenso unterstützt worden wie bei den sogenannten „guten Diensten“ wie zum Beispiel diskreten Verhandlungen um die Freilassung von gefangenen POLISARIO-Kämpfern. Die EU engagiert sich mit ihrem ECHO-Programm seit vielen Jahren in der Konfliktregion in der humanitären Hilfe. Das Europäische Parlament hat in dem interfraktionellen Entschließungsantrag zur Lage in der Westsahara vom 24. November 2010 seine Besorgnis über die jüngste Entwicklung in der Region zum Ausdruck gebracht. Zu Protokoll gegebene Reden In die Frage des Zuganges zu den Fischressourcen im Atlantik vor der Küste der Westsahara ist Bewegung gekommen. Die Legitimität der Teilhabe der Sahrauis an den Fischvorkommen des eigenen Lebensraumes steht für mich außer Frage. Die marokkanische Regierung hat nach dem Gemeinsamen Ausschuss von EU und Marokko im Februar 2010 die Frage immerhin aufgegriffen, und die EUKommission erwartet nun nach dem EU-Marokko-Assoziationsausschuss vom 28. Oktober 2010 eine Wirkungsanalyse von Marokko. Diese Analyse ist unbedingt einzufordern und seitens der EU und der Bunderegierung kritisch zu begutachten. Gerade angesichts der jüngst wiederaufflammenden Gewalt muss erneut alles dafür getan werden, dass substanzielle Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien über eine dauerhafte Lösung des Konfliktes unter dem Dach der Vereinten Nationen auf den Weg kommen. Das Format der Verhandlungen ist dabei nachrangig. Entscheidend ist es, dass sie - im Sinne der Krisenprävention und Deeskalation - zunächst eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in der Westsahara erreichen. Ich denke, dass alle, die sich länger mit dem Westsahara-Konflikt beschäftigt haben, nicht der Illusion anhängen, diesen Konflikt kurzfristig lösen zu können. Die internationale Gemeinschaft muss den Westsahara-Konflikt aber wieder verstärkt auf die politische Agenda setzen. In diesem Sinne appelliere ich an die Bundesregierung, in ihren Aktivitäten für die Menschen der Krisenregion im Rahmen der Vereinten Nationen, in der Europäischen Union und auch bilateral nicht nur nicht nachzulassen, sondern sie zu forcieren. Ein Mehr an regionaler Stabilität im Nordwesten Afrikas ist nicht nur im Interesse der EU und der gesamten Weltgemeinschaft, es sollte vor allem im Interesse der Anrainerstaaten der Konfliktregion liegen. Die neuesten Entwicklungen im Maghreb zeigen, dass die Region in eine Phase sozialer und politischer Veränderungen eintritt. Aus diesem Grund liegt in der Verbesserung der regionalen Integration des Nordwestens des afrikanischen Kontinentes eine Entwicklungschance - auch für neue Wege zur Lösung der Westsahara-Frage. Die Staaten der Region müssten erkennen, welche Vorteile eine regionale Integrationspolitik zwischen den Nachbarn nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch und ökonomisch für sie brächte. Die unbestreitbaren Vorteile der Geschichte der Integration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg könnten für sie eine Inspiration für mehr regionale Integration sein. Wir Europäer dürfen nicht müde werden, den größten Gewinn der EU-Integration, die Sicherung des Friedens innerhalb ihrer Grenzen, allen Weltregionen als nachahmungswürdig zu empfehlen. Daher möchte ich aus aktuellem Anlass mit dem Aufruf zu einer verbesserten Süd-Süd-Kooperation in Norden Afrikas enden.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Westsahara-Konflikt kann nur unter Beteiligung der Vereinten Nationen gelöst werden, da er von vielen ungeklärten Fragen geprägt ist. Die Rechtsauffassungen divergieren, der völkerrechtliche Status der Westsahara ist ungeklärt. Bereits der Titel des Antrags der Linken ist tendenziös und der Antrag einer nachhaltigen Lösung in diesem Konflikt abträglich. Selbstverständlich ist der Westsahara-Konflikt regelmäßig Gegenstand politischer Gespräche und Kontakte der Bundesregierung und in der Europäischen Union mit Partnern in der Region. Auch in dem Fall der sahrauischen Aktivistin Aminatou Haidar haben wir Parlamentarier klar Position für Frau Haidar und für die Menschenrechte bezogen. Nach unserer Auffassung liegt der Schlüssel in einer erfolgreichen politischen Vermittlung durch die Vereinten Nationen. Wir setzen daher weiterhin auf Bemühungen der Vereinten Nationen, im Einverständnis zwischen den Beteiligten und auf Grundlage bestehender UN-Resolutionen, eine friedliche Lösung des Westsahara-Konflikts zu finden. Der Sondergesandte der Vereinten Nationen für die Westsahara, Christopher Ross, bereiste im Oktober 2010 erneut die Region. Er plant eine neue, dritte Runde informeller Konsultationen im Laufe des Novembers. Die zweite Runde informeller Konsultationen hatte Anfang Februar in den Vereinigten Staaten stattgefunden. Neben Marokko und der POLISARIO waren auch Algerien und Mauretanien präsent. Es kam jedoch wiederum nur zu einem Austausch bekannter Positionen. Die Konsultationen sollen auch zur Vorbereitung formeller Verhandlungen im Rahmen des sogenannten ManhassetProzesses dienen. Die FDP-Bundestagsfraktion appelliert daher an alle Parteien, die Gespräche unter der Führung des Sondergesandten Christopher Ross so schnell wie möglich fortzusetzen, um die Lösung des Konflikts aus sich heraus zu lösen. Ebenso wie die Resolution des Sicherheitsrates 1754 ({0}) ruft die Resolution 1871 ({1}) die Parteien auf, Verhandlungen direkt zu führen. Das Mandat der Vereinten Nationen für das Referendum in der Westsahara, MINURSO, sichert diese Verhandlungen ab. Diesem Aufruf schließt sich die FDP-Bundestagsfraktion vollumfänglich an. Unabhängig vom völkerrechtlichen Status ist jedoch eines klar: Auch auf dem Gebiet der Westsahara müssen die Menschenrechte stärker geachtet und verteidigt werden. Es darf nicht sein - und wir werden dies nicht hinnehmen -, dass die Augen vor der Menschenrechtslage verschlossen werden. Deswegen sind Menschenrechte immer Thema bei Gesprächen mit Vertretern des Königreichs Marokko. Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung der Menschenrechtslage in den von Marokko besetzten Gebieten intensiv. Das Thema wird regelmäßig bei bilateralen Gesprächen auf allen Ebenen angesprochen. Außenminister Westerwelle hat im Gespräch mit seinem marokkanischen Amtskollegen am 15. November 2010 Zu Protokoll gegebene Reden die Bedeutung einer friedlichen, konsensuellen Lösung des Westsahara-Konflikts im Rahmen der Vereinten Nationen unterstrichen. Der marokkanische Außenminister hat seinerseits die Bereitschaft zu und das Interesse Marokkos an fortgesetzten Verhandlungen auf Grundlage der Resolutionen der Vereinten Nationen betont. Dies gilt es weiter zu fordern und zu fördern. Deutschland wird auch weiterhin alle Bemühungen der Vereinten Nationen unterstützen, um zu einer friedlichen und konsensuellen Lösung des Konfliktes zu gelangen. Das Auswärtige Amt trägt zu den vertrauensbildenden Maßnahmen des UNHCR bei. In den Jahren 2008 bis 2010 wurden hierfür zusammen gut 600 000 Euro zur Verfügung gestellt. Das BMZ hat von 1981 bis 2006 knapp 12 Millionen Euro im Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe beigetragen. Über die EU, ECHO, wurden seit Bestehen des Konfliktes rund 130 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt, das jährliche ECHO-Budget für die Flüchtlingslager beträgt rund 10 Millionen Euro. Über die Vereinten Nationen, Mediationsfonds, unterstützt Deutschland indirekt den Sondergesandten. Über das Programm „Deutsche Akademische Flüchtlingsinitiative“ beim UNHCR werden derzeit Stipendien für über 20 sahrauische Studierende finanziert. Auch im EU-Rahmen fordern die Bundesregierung und ihre Partner regelmäßig schriftlich und über Demarchen Aufklärung zu akuten Vorfällen bei den Konfliktparteien Marokko, der POLISARIO und den Nachbarstaaten, insbesondere Algerien. Im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik werden regelmäßig die Themen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angesprochen. Der politische Dialog des Aktionsplans mit Marokko sieht dies genauso vor wie das Assoziierungsabkommen, welches den Menschenrechten eine grundlegende Bedeutung für die Innen- sowie Außenpolitik der EU und Marokkos zuweist.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ein von der Welt verdrängter Konflikt ist neu entflammt. In der Westsahara, dort, wo seit 35 Jahren Marokko völkerrechtswidrig als Besatzungsmacht regiert. Der Konflikt begann bereits mit der Berliner AfrikaKonferenz, sogenannte Kongo-Konferenz, 1884 bis 1885 in Berlin, als die Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten. Spanien wurde die Westsahara zugesprochen. Nachdem die UNO-Generalversammlung von Spanien ab 1965 wiederholt in Resolutionen die Dekolonialisierung der Westsahara verlangte, zog die spanische Kolonialmacht 1975 ab. Doch eine Dekolonisation scheiterte, da Marokko und Mauretanien die Westsahara militärisch besetzten. Nachdem sich Mauretanien 1979 zurückgezogen hatte, besetzte Marokko das gesamte Territorium und erklärte 1976 die Annexion des Territoriums. Seitdem wurden Hunderttausende Sahrauis aus ihrer Heimat vertrieben. Sie leben in Flüchtlingslagern in Algerien, oft getrennt von ihren Familienangehörigen, die zurückblieben. Diejenigen, die nicht vertrieben wurden oder geflohen sind, müssen abgeriegelt hinter einem 2 700 Kilometer langen elektronisch gesicherten und verminten Wall leben. Sie sind den alltäglichen Schikanen und Diskriminierungen der marokkanischen Polizei und Besatzungsbehörden ausgesetzt. Regelmäßig kommt es zu willkürlichen Inhaftierungen und Anklagen. Hinsichtlich Inhaftierter berichtet Amnesty International über Folter. Prozesse insbesondere gegen Sahrauis, die sich für die Unabhängigkeit der Westsahara aussprechen, halten laut zahlreichen Menschenrechtsorganisationen nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren stand. Sowohl der Hungerstreik der Menschenrechtsaktivistin Aminatou Haidar im November/Dezember 2009, aber auch der Protest von circa 20 000 Sahrauis im Oktober 2010 in dem „Camp der Würde“ drängte den letzten Kolonialkonflikt in Afrika in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Diese protestierten friedlich gegen ihre soziale Benachteiligung, gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen durch die marokkanischen Sicherheitsbehörden und die Besetzung. Am Morgen des 8. November 2010 räumten marokkanische Sicherheitskräfte gewaltsam das Protestcamp in der Wüste vor den Toren der Stadt El-Aaiún. Dabei starben nach sahrauischen Angaben zwölf Menschen, Marokko spricht von zwei getöteten Polizisten und einem Feuerwehrmann. Mehrere Hundert Demonstranten wurden schwer verletzt. Das Camp wurde dem Erdboden gleichgemacht, die Zelte in Brand gesteckt. Dabei haben diese Menschen zu Recht gegen die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara durch Marokko, gegen die illegale Plünderung ihrer Naturschätze sowie gegen ihre Diskriminierung protestiert. Das alles passierte und passiert in unmittelbarer Nachbarschaft der EU, unweit von beliebten Reisezielen auch deutscher Touristinnen und Touristen wie den Kanarischen Inseln. Und die Bundesregierung schweigt. Aber sie schweigt nicht nur und schaut nicht einfach nur weg. Nein, die Bundesregierung belohnt auch noch Marokko dafür, dass es durch die Besatzung Völkerrecht bricht und sich kontinuierlich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig macht. Sie lässt die sahrauische Bevölkerung für die schmutzigen Dienste Marokkos bei der vermeintlichen Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Flüchtlingsabwehr bezahlen. Die Linke sagt deutlich, wie die Bundesregierung Marokko belohnt: Die Bundesregierung belohnt Marokko, indem sie seit 1966 militärische Ausbildungshilfe für die marokkanischen Streitkräfte leistet, obwohl sie an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere haben Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr und Studiengänge an den Hochschulen der Bundeswehr absolviert. Die Bundesregierung belohnt zusammen mit der EU Marokko durch Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für marokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte, also genau jene, die auch an der Räumung des „Camps der Würde“ und den Gewalttaten gegen die sahrauische Bevölkerung beteiligt waren und sind. Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, indem sie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zugunsten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 eingestellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten 100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung mehr für die Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe wurde bereits 2007 eingestellt. Und auch die EU belohnt Marokko - mit wohlwollender Zustimmung der Bundesregierung - seit Jahren in der EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobenen Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen 1 Milliarde Euro allein zwischen 2007 und 2010. Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völkerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der Flüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Verlängerung des EU-Fischereiabkommens - und das trotz der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiabkommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in 2002. Damit missachten Bundesregierung und EU die unveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohne Selbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Das meint auch der Juristische Dienst des Europaparlaments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass der Fischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko weder in Konsultation mit der sahrauischen Bevölkerung der Westsahara stattfindet, noch die Bevölkerung die Einnahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichen Fischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völkerrechtswidrig. Alle diese erwähnten Belohnungen waren nicht umsonst und sollen es natürlich auch in Zukunft nicht sein. Die reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollen weiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflotten und internationalen Konzernen preisgegeben werden. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, erstellt wurde und ganz selbstverständlich Standorte in der Westsahara miteinschließt, soll deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Einführung und Privatisierung erneuerbarer Energien durch gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die als Vorstufe des Desertec-Projektes gelten. Der Plan des von deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Münchener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bank dominierten und von der Bundesregierung unterstützten Projekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der in Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen in Nordafrika zu beziehen - ohne Befragung und Hinzuziehung der Saharauis oder deren Interessenvertretungen bei den Planungen. Die Linke lehnt das Projekt „Desertec“ ab. Dieses Projekt wirft neben umweltpolitischen vor allem außenpolitische, menschenrechtliche und entwicklungspolitische Fragen auf, die auch mit der von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara zusammenhängen. Die Bundesregierung darf nicht weiter die sahrauische Bevölkerung für die schmutzigen Dienste Marokkos bei der vermeintlichen Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der Flüchtlingsabwehr und den Profitinteressen der deutschen Wirtschaft opfern. Sie muss endlich die permanenten Rechtsverletzungen der marokkanischen Regierung deutlich öffentlich verurteilen und Konsequenzen ziehen. Sie darf Marokko nicht weiter darin bestärken, ungehindert das seit über 20 Jahren fällige Referendum über den Status der Westsahara und damit das Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, das ihnen im Zuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zu können. Ich stelle nun dar, welche Konsequenzen die Linke fordert: Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass Marokko endlich die Resolution 690 des UN-Sicherheitsrates vom 29. April 1991 umsetzt und das Referendum über die Zukunft der Westsahara unter UNAufsicht nicht weiter blockiert. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die gewaltsame Auflösung des Protestcamps Anfang November 2010 und die Niederschlagung der anschließenden Demonstrationen zu verurteilen und eine internationale Untersuchung der Vorfälle einzufordern. Jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für marokkanische Polizei- und Armeekräfte ist einzustellen. Wir fordern, dass sich die Bundesregierung innerhalb der EU endlich energisch dafür einsetzt, dass das Assoziationsabkommen der EU mit Marokko sowie der fortgeschrittene Status der Beziehungen zur EU zumindest solange ausgesetzt werden, bis Marokko seine völkerrechtswidrige Besatzung beendet hat. Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sich in der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiabkommen bis zum 27. Februar 2011 gekündigt wird, damit es sich nicht automatisch verlängert. Eine automatische Verlängerung des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko muss so lange verhindert werden, wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertrag ausgeschlossen ist. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, insbesondere im Lichte der aktuellen Ereignisse in Tunesien und Ägypten, ihre Unterstützung gegenüber autoritären Regimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orientieren.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Beide vorliegenden Anträge benennen die Schikanen und Menschenrechtsverletzungen durch marokkanische Behörden in Westsahara und die unerträgliche Situation, in der große Teile des Volkes der Sahrauis seit Jahrzehnten leben und weisen darauf hin, dass der Staat Marokko sich beharrlich weigert, die UN-Resolution 690 aus dem Jahre 1991 umzusetzen. Zu Protokoll gegebene Reden Schon in den 70er-Jahren habe ich den Befreiungskampf der Frente POLISARIO gegen die Kolonialherrschaft Spaniens mit großem Interesse verfolgt. Wir haben versucht, diesen solidarisch zu unterstützen. Als Bundestagsabgeordneter befasse ich mich seit vielen Jahren mit der verzweifelten Lage der Sahrauis und dem ungelösten Problem des politischen und rechtlichen Status der Westsahara. Die Repression des marokkanischen Staates hat ständig zugenommen, wie auch die Ungeduld und Unzufriedenheit der Sahrauis. Ich war im Gebiet Westsahara. Dort gibt es einen unpassierbaren Schutzwall, der Westsahara teilt. Die 140 000 Flüchtlinge, die in Lagern in der Sahara leben, können nicht ins Gebiet Westsahara reisen, Besucher der Lager werden nicht durchgelassen. So hätte auch ich Tausende von Meilen fliegen müssen, um über Algier zu den Flüchtlingen zu gelangen. Ich bin im andauernden Kontakt mit dem Vertreter der POLISARIO. Ich habe mich 2009 mit der Menschenrechtsaktivistin Frau Haidar solidarisiert, als diese über 30 Tage im Hungerstreik in Lanzarote festsaß, weil ihr die Rückkehr in ihre Heimat Westsahara von Marokko verweigert wurde. Ich weiß, dass 1991 die POLISARIO den Kampf eingestellt und einen Waffenstillstand verkündet hatte, weil die UNO einen Friedensplan vorgelegt hatte, der dem sahrauischen Volk versprach, mit einer Volksabstimmung darüber entscheiden zu können, ob es in einem eigenen Staat oder im Staat Marokko mit einem autonomen Status leben will. Dieses Versprechen wurde vom Weltsicherheitsrat der UN in der Resolution 690 bekräftigt. 20 Jahre warten die Sahrauis auf die Einlösung dieses Versprechens der Völkergemeinschaft vergebens. Marokko weigert sich, überhaupt ernsthaft über die Volksabstimmung zu reden. Die Sahrauis sind wütend und enttäuscht, auch von der UN und dem Sicherheitsrat. Sie sehen sich von der Völkergemeinschaft, der UNO im Stich gelassen, von der EU, den Regierungen der europäischen Länder verraten und vergessen. Zu Recht. Ich habe auch mit Vertretern Marokkos gesprochen, nicht nur mit dem Botschafter in Berlin, und auch mit Marokkanern in Marokko. Daher weiß ich, wie schwer eine Lösung des Problems heute ist. Durch das lange Zuwarten mit der Umsetzung der UN-Resolution ist großer Schaden entstanden. Große Teile der Bevölkerung Marokkos sehen heute Westsahara als untrennbaren Teil des eigenen Landes. Das gilt nicht nur für den König und die Regierung Marokkos. Schon 1975 hatte der König 350 000 Marokkaner nach Westsahara in Marsch gesetzt. Seither ist weit mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Viel hat sich geändert. Es wurden Fakten geschaffen. Viele Marokkaner wurden inzwischen in Westsahara angesiedelt. So ist es zum Beispiel heute ein Problem, zu bestimmen, wer in Westsahara bei dem Referendum abstimmungsberechtigt ist. Die Zugehörigkeit von Westsahara zu Marokko ist zur nationalen Frage hochstilisiert worden. Schon als Kinder haben die Marokkaner in der Schule gelernt, dass Westsahara ein Teil Marokkos ist. Ein durchaus liberal eingestellter Regierungsvertreter Marokkos hat mir dazu gesagt, keine Regierung könnte sich im Amt halten, die der Loslösung der Westsahara von Marokko zustimmen würde. Die Propaganda ist allgegenwärtig. Die Überhöhung der Westsahara-Frage habe ich in Marokko in den Medien, in der Öffentlichkeit und in der Bevölkerung vielfach bestätigt gefunden. Gerade das macht heute eine vernünftige Lösung so schwer. Kein Premier verhandelt gern über eine Lösung, die seinen Sturz bedeutet. Das heißt nicht, dass die Verschleppung des Referendums honoriert werden darf, weil die Durchsetzung schwieriger geworden ist. Das rechtfertigt vor allem nicht die Aufrechterhaltung der Vertreibung von 160 000 Sahrauis in Lager in der Wüste Sahara, nicht die Gewalt gegen die 15 000 Menschen in dem Zeltlager bei El Ajun, die Tötung des 14-jährigen Nayem El-Garhi, die willkürliche Verhaftung von Sahrauis durch marokkanische Sicherheitskräfte, die Einschränkung der Medienfreiheit und all die vielen Menschenrechtsverletzungen. Marokko tut seinen wohlverstandenen Interessen keinen Gefallen und verspielt sein internationales Prestige. Immer mehr Verbote, Repression und Gewalt sind falsche Reaktionen auf das Freiheits- und Unabhängigkeitstreben der Sahrauis. Deshalb fordern wir die marokkanische Regierung auf: Öffnet den Schutzwall zwischen den Flüchtlingslagern und dem übrigen Land. Auch diese Mauer muss weg. Alle Sahrauis, Journalisten, humanitären Organisationen, internationalen Beobachter und Abgeordnete müssen freien Zugang nach Westsahara und die Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen. Gefängnisse und Strafverfahren müssen internationalen Standards entsprechen. Die Meinungs- und Pressefreiheit muss auch in Westsahara und für Sahrauis gelten. Diese Forderungen zu erfüllen, ist eine Selbstverständlichkeit und im Interesse Marokkos. Das wäre der richtige Beitrag zur Deeskalation. Die Bundesregierung muss das deutsche Verhältnis zu Marokko von der Erfüllung dieser Forderung abhängig machen. Ansehen und Glaubwürdigkeit der UNO und der Völkergemeinschaft leiden, wenn UN-Beschlüsse durch jahrzehntelanges Nichtstun und Nichtbefolgung faktisch außer Kraft gesetzt werden können und stattdessen Menschenrechte verletzt werden. Deshalb sollte die UNO ihre Verantwortung wahrnehmen, die Ereignisse der letzten Monate, die Todesfälle und das Verschwinden von Personen durch ein internationales Gremium untersuchen, die Einhaltung der Menschenrechte überwachen und eine konstruktive Rolle bei der Lösung des Westsahara-Konflikts übernehmen. Das heißt, Gespräche und Verhandlungen müssen aufgenommen werden, um eine faire, dauerhafte und für alle Seiten akzeptable politische Lösung im Einklang mit den UN-Resolutionen zu erreichen. Die Bundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrates muss die Initiative dafür ergreifen. Ehemals reiche Fischgründe und Ölfunde vor der Küste Westsaharas sowie Bodenschätze im Land dürfen Zu Protokoll gegebene Reden nicht zum Fluch werden, sondern können eine große Chance für die geschundene sahrauische Bevölkerung und die Lösung der Probleme sein. Auch Marokko könnte davon profitieren. Der Westsahara-Konflikt muss auf der Tagesordnung bleiben, hier und international, bis er gelöst ist.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 17/4271 und 17/4440 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Die Überweisungen sind so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Wertpapierhandelsgesetzes - Drucksache 17/4053 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 17/4507 Berichterstattung: Abgeordnete Ralph Brinkhaus Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zielt darauf ab, die Situation von Anlegern zu verbessern, die Ansprüche aus Falschberatung geltend machen wollen. Ziel des Gesetzentwurfes ist es, einer bestimmten Gruppe von Anlegern eine längere Verjährungsfrist für die Geltendmachung Ihrer Schadensersatzansprüche zu gewähren. Hintergrund des Gesetzentwurfes ist, dass Schadensersatzansprüche aus Falschberatung bis zum 4. August 2009 einer Sonderverjährungsfrist von drei Jahren ab Entstehung des Anspruchs unterlagen. Durch das Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung wurde diese Sonderverjährung abgeschafft. Damit gilt grundsätzlich auch im Bereich der Falschberatung das allgemeine Verjährungsrecht. Nach der damals mitbeschlossenen Übergangsregelung gilt für bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes entstandene Ansprüche die alte Sonderverjährungsfrist. Für nach dem 4. August 2009 entstandene Ansprüche gilt die regelmäßige Verjährungsfrist. Der vorliegende Gesetzentwurf will auch Ansprüche, die vor dem 4. August 2009 entstanden und noch nicht verjährt sind, den allgemeinen längeren Verjährungsfristen unterstellen. Von dieser Gesetzesinitiative würden insbesondere Geschädigte aus der Insolvenz von Lehman profitieren. Denn eine erhebliche Zahl der später ausgefallenen Lehman-Zertifikate wurde Anfang 2008 auf den Markt gebracht. Mögliche Ansprüche gegen die Banken, die diese Zertifikate vertrieben haben, würden nach geltendem Recht gegebenenfalls in den nächsten Monaten verjähren. Diesem Umstand möchten die Grünen durch ihren Gesetzentwurf zur Verlängerung der Verjährungsfristen abhelfen. Leider ist der vorliegende Gesetzentwurf nur sehr schwer verständlich und so, wie er formuliert ist, nicht umzusetzen. Trotzdem möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Argumente für und wider diesen Gesetzentwurf gegenüberzustellen. Für den Antrag sprechen die erheblichen Auswirkungen der Finanzkrise auf Privatanleger. Das gilt insbesondere für die Insolvenz von Lehman. Durch diese Insolvenz ist gerade Kleinanlegern ein erheblicher Schaden entstanden. Viele Anleger wussten definitiv nicht, was für ein Risikopapier sie gekauft haben. Darunter sind tragische Fälle: Bürgerinnen und Bürger, die teilweise ihre kompletten Ersparnisse verloren haben. Besonders betroffen sind ältere Menschen, die ihre Altersversorgung auf diese Zertifikate aufgebaut und einen erheblichen Schaden erlitten haben. Aufgrund ihres Alters haben sie in ihrem Leben nicht mehr die Chance, das verlorene Geld wieder hereinzuholen. Sie haben bisher nie etwas mit Gerichten zu tun gehabt und sind verständlicherweise mit ihrer Situation überfordert. Für die schwierige Situation dieser Anleger habe ich allergrößtes Verständnis. Ihre Bank oder ihr Finanzdienstleister haben sie in vielen Fällen nicht richtig beraten und über die Risiken der Anlage aufgeklärt. Sie stehen jetzt vor der schwierigen Frage, ob sie - trotz der Kosten einer Klage und deren ungewissen Erfolgsaussichten - gerichtlich gegen ihre Bank oder ihren Finanzdienstleister vorgehen sollen. Auf den ersten Blick würde ihnen eine Verlängerung der Verjährungsfrist für die Klageeinreichung durchaus helfen, vor allem helfen, wenn man davon ausgehen könnte, dass durch die Entscheidung bereits anhängiger Klagen bzw. durch höchstrichterliche Rechtsprechung mehr Klarheit für die Betroffenen entsteht. Was wären aber die Nachteile einer Verlängerung der Verjährungsfristen? Die Verjährungsvorschriften dienen dem Zweck, Rechtsfrieden herbeizuführen. Unjuristisch ausgedrückt heißt das: Irgendwann soll es dann auch einmal gut sein. Verjährungsfristen an sich sind daher nicht zu kritisieren. Zu kritisieren war aber, dass für Wertpapiergeschäfte abweichend von anderen Rechtsgebieten eine kurze dreijährige Sonderverjährungsfrist galt. Aufgrund der Erfahrungen aus der Finanzkrise hat man daher im Sommer 2009 den die Sonderverjährungsfrist begründenden § 37 a WpHG abgeschafft. Für alle Fälle vor dem Inkrafttreten des Gesetzes am 4. August 2009 sollte aber aus Gründen der Rechtssicherheit die alte Verjährungsfrist von drei Jahren weitergelten. In diesem Zusammenhang hat sich der Gesetzgeber bewusst für die jetzt geltende Übergangsregelung mit dem Stichtag 4. August 2009 entschieden. Er hätte sich damals auch anders entscheiden und alle noch nicht verjährten Ansprüche dem allgemeinen Verjährungsrecht unterstellen können. Dies hat er aber gerade nicht getan. Es sollte einen klaren Schnitt geben. Eine nachträgliche Änderung dieser Übergangsvorschrift ist grundsätzlich möglich, auch wenn eine Übergangsregelung bisher wohl kaum jemals nachträglich noch einmal geändert worden ist. Durch jede Änderung des Verjährungsrechts entsteht aber Unsicherheit. Es bedarf daher gewichtiger Gründe für Änderungen. Gegen die Annahme gewichtiger Gründe spricht, dass nur verhältnismäßig wenige Anleger von dieser Änderung profitieren würden. Denn auch bei einem schnellen Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfes wären wohl nur Ansprüche betroffen, die zwischen Frühjahr 2008 und Anfang August 2009 entstanden sind. Im Fall Lehman dürfte es sogar nur um Ansprüche gehen, die bis September 2008 entstanden sind. Denn nach der Eröffnung des Lehman-Brothers-Insolvenzverfahrens dürfte es kaum noch neue Fälle in diesem Zusammenhang geben. Allen Anlegern, die bereits vor dem Frühjahr 2008 Lehman-Zertifikate erworben haben, hilft der Gesetzentwurf nicht mehr. Ihre Ansprüche wären, sofern sie in den letzten Jahren nichts unternommen haben, zum Zeitpunkt eines möglichen Inkrafttretens dieses Gesetzesvorschlags bereits verjährt. Aber auch der Gruppe Anleger, die ab Frühjahr 2008 Lehman-Zertifikate erworben haben, hilft der Vorschlag nur sehr begrenzt. Die Regelverjährung träte nach dem vorliegenden Entwurf in den meisten Fällen nicht mehr im Laufe des Jahres 2011, exakt drei Jahre nach dem Entstehen ihres individuellen Anspruchs, sondern erst mit Ablauf des 31. Dezember 2011 ein. Sie gewännen also lediglich einige Monate. Doch selbst für diese begrenzte Anzahl von Fällen und diesen begrenzten Zeitraum könnte man ja eine Gesetzesänderung in Betracht ziehen, wenn die Betroffenen dadurch etwas gewännen. Aber auch dagegen sprechen gute Argumente: Denn es ist nicht zu erwarten, dass sich ihre unbefriedigende Situation im Hinblick auf die oben angesprochene Rechtsunsicherheit in diesen Monaten entscheidend klärt. Zwar ist ein Verfahren vor dem BGH anhängig. Allerdings betrifft es eine sehr spezielle Rechtsfrage, die nur für einen Teil der Anleger relevant ist. In den meisten Schadensersatzfällen dürfte es auf die Frage der individuellen Anlagesituation und -beratung ankommen. In diesen Fällen ist von anderen Verfahren keine Klärung der Erfolgsaussichten zu erwarten. Daher würde es durch die vorgeschlagene Änderung der Übergangsvorschrift auch nicht einfacher, eine individuelle Entscheidung über die Klageerhebung zu fällen. Weiterhin ist zu beachten, dass viele Anleger diese Entscheidung trotz unsicherer Erfolgsaussichten bereits getroffen und Klagen eingereicht haben. Ihnen droht daher keine Verjährung mehr. Aber auch Anlegern, die mit ihren Banken über mögliche Ersatzansprüche verhandelt haben, droht oftmals keine sofortige Verjährung. Denn diese Verhandlungen - auch die im Rahmen eines Kulanzverfahrens mit Beteiligung der Verbraucherzentrale, eines Güteverfahrens oder Ombudsmannverfahrens - hemmen gegebenenfalls ebenso den Eintritt der Verjährung. Anleger hatten und haben also vielfältige Möglichkeiten, den Eintritt der Verjährung zu verhindern, auch kostengünstiger als mit einer Klage. Verbraucherschützer und Rechtsanwälte, die Anleger vertreten, können bestätigen, dass die Verjährung von Ersatzansprüchen nicht das entscheidende Problem ist. Denn in vielen Fällen haben in irgendeiner Form Verhandlungen beziehungsweise Güteverfahren stattgefunden. Durch die intensive Berichterstattung in den Medien wissen viele Anleger von ihren Ansprüchen - und auch von der Verjährungsproblematik. Schwieriger als die Vermeidung des Verjährungseintritts ist aber die Beweisführung für einen schadensersatzauslösenden Beratungsfehler der Bank. Dieses Problem wird vom vorliegenden Gesetzentwurf nicht gelöst. Die Situation der Betroffenen würde sich daher durch die vorgeschlagene Änderung der Übergangsvorschrift nicht wesentlich verbessern. Für eine Neubewertung der Übergangsregelung besteht auch deshalb kein Grund, weil alle Umstände, die wir heute diskutieren, auch schon im Sommer 2009 bekannt waren. Die grundsätzliche Verlängerung der Verjährungsfrist von drei auf maximal zehn Jahre erfolgte im Übrigen nicht, um dem Anleger die Gelegenheit zu geben, länger darüber nachzudenken, ob er in das Klagerisiko geht. Die Verlängerung erfolgte deshalb, weil Schäden aus Falschberatung vom Anleger oftmals erst Jahre nach dem Beratungsvorgang entdeckt werden. Daher beginnt die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist jetzt erst mit Kenntnis des Anlegers von allen anspruchsbegründenden Umständen. In den Lehman-Fällen dürfte allen Betroffenen aber zumindest seit dem Zusammenbruch bekannt sein, dass sie möglicherweise Ansprüche aus Falschberatung haben. Im Übrigen ist es schwer zu erklären, warum ein Anleger, der im Frühjahr 2008 ein Lehman-Zertifikat erworben hat, anders behandelt werden sollte als ein Anleger, der im Januar 2008 oder Herbst 2007 Zertifikate erworben hat. Einen sachlichen Grund dafür gibt es nicht. Dem Gesetzentwurf stehen somit gewichtige Argumente entgegen. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Vorteile, die mithilfe des Gesetzesvorschlages erreicht würden, sind sehr begrenzt. Für wenige Anleger würde der Ablauf der Verjährungsfrist hinausgezögert, für die meisten von ihnen wohl auch nur um einige Monate. Dies können Betroffene aber auch auf anderen Wegen kostengünstig erreichen. Auf der anderen Seite ist aber zu bedenken, dass Verjährungsfristen unabhängig vom Ansehen der Parteien Rechtssicherheit schaffen und den Rechtsfrieden schützen sollen. Der Gesetzgeber hat sich im Sommer 2009 bewusst dafür entschieden, die Aufhebung der Sonderverjährung auf neue Sachverhalte zu beschränken. Zu Protokoll gegebene Reden Diese beiden Aspekte, die möglichen Vorteile für geschädigte Anleger und die Nachteile aufseiten der Rechtssicherheit, sind gegeneinander abzuwägen. Die Richtung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen ist nachvollziehbar. Ich denke, wir haben alle sehr großes Verständnis für jeden einzelnen von der Lehmann-Insolvenz betroffenen Kleinanleger. Es sprechen aber sehr gewichtige Argumente gegen den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen. In Abwägung der verständlichen Interessen der Anleger und der Argumente gegen eine Änderung haben wir uns daher entschlossen, den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Damit aber eine derartige Häufung von Fällen von Falschberatungen, wie wir sie mit Anlagen in LehmanZertifikaten erlebt haben, nicht wieder vorkommt, haben wir einiges für den Verbraucherschutz im Finanzbereich getan: So beraten wir aktuell das Anlegerschutzgesetz, das wir in der nächsten Sitzungswoche verabschieden wollen. Ganz ausschließen können wir Beratungsfehler auch durch dieses Gesetz nicht; das können wir nie. Aber wir sind auf einem guten Weg, Strukturen zu schaffen, die eine bessere Beratungsqualität ermöglichen. Das hilft den Lehman-Altanlegern aber nicht weiter. Ich weiß, dass sich gerade einige dieser Anleger erhofft haben, dass durch den Antrag der Grünen die Verjährungsfrist verlängert wird. Es ist bedauerlich, dass wir diese Erwartung nicht erfüllen können. Ich denke aber, die Argumente gegen eine Änderung überwiegen, wie ausführlich ausgeführt, eindeutig.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Jahr 2009, in den Hochzeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, hat die Große Koalition das sogenannte Schuldverschreibungsgesetz auf den Weg gebracht, das eine ganze Reihe von Verbesserungen für die Anlegerinnen und Anleger zum Inhalt hatte. So wurde damals unter anderem die Protokollpflicht bei der Anlageberatung eingeführt und damit einhergehend auch Beweiserleichterungen für die Anlegerinnen und Anleger, sollten sie falsch beraten worden sein. Außerdem hat die SPD damals gegen den Widerstand der Union das Sonderverjährungsrecht für die Banken bei Falschberatung abgeschafft. Jetzt haben potenzielle Geschädigte bis zu zehn Jahre Zeit, ihre Ansprüche durchzusetzen. Davor waren es maximal drei Jahre. In der Gesetzesbegründung hieß es damals: … teilweise kann ein Anleger erst nach Jahren erkennen, dass er nicht richtig beraten wurde. Es ist deshalb sachgerecht, für den Beginn der dreijährigen Verjährung an die Kenntnis des Anlegers anzuknüpfen. Das gilt noch heute. Von dieser Regelung profitieren schon heute viele Anlegerinnen und Anleger und werden das auch in Zukunft tun. Die Große Koalition hat damit eine Menge geschafft. Das sehen offenbar auch die Grünen so, die in einem Punkt das umfassende Gesetzesvorhaben aus dem Jahr 2009 behutsam weiterentwickeln wollen: Bisher profitieren nur die Anlegerinnen und Anleger von der verlängerten Verjährungsfrist, die nach dem 5. August 2009 falsch beraten wurden. Der vorliegende Gesetzentwurf will die Verjährungsvorschrift noch weiter ausdehnen und auch Fälle erfassen, in denen der Wertpapierkauf ab 1. Januar 2008 stattfand. Gerade die viel zitierten Lehman-Zertifikate wurden in den Jahren 2007 und 2008 verkauft. Wenn Sie sich jetzt nicht mit einer Klage beeilen, sind die Ansprüche verjährt und nicht mehr einklagbar. Wie lief denn damals die Beratung? Da kamen - so ist der Bankjargon - die „A&D-Kunden“, die „Alt-unddumm-Kunden“, in die Bank und wollten ihre Ersparnisse für die Altersvorsorge anlegen. Und der Berater hatte einen schicken Hochglanzprospekt von der Lehman-Bank. Die ging pleite und die Altersvorsorge war futsch. Das sind Geschäftsgebaren, die unverantwortlich sind. Dem wollen wir entgegentreten. Jetzt sagen manche, die Pleite von Lehman hat ja niemand vorhersehen können. Das stimmt. Aber wenn in Deutschland eine Bank pleitegeht, dann greift die Einlagensicherung, die für jeden Kunden mindestens 50 000 Euro absichert, seit diesem Jahr sogar 100 000 Euro. Aber eine solche notwendige Einlagensicherung gab es für die Lehman-Bank nicht. Das stand natürlich nicht in dem glänzenden Prospekt, nicht einmal im Kleingedruckten. Das hat kein Bankberater den Kunden gesagt. Das war schlicht Fehlberatung der Banken. Von den Koalitionsfraktionen wird jetzt kommen: Die Opfer hätten doch in den letzten Monaten schon längst klagen könnten. Längere Fristen braucht es nicht. - Das zeigt wieder einmal: Die Koalitionsfraktionen haben das Problem nicht verstanden. Eine Klage gegen eine Bank muss gut vorbereitet sein, die Beweislage ist schwierig, ganz zu schweigen von den drohenden Kosten. So eine Entscheidung und Vorbereitung braucht Zeit, die wir den Menschen geben müssen, die um ihre gesamten Ersparnisse bangen. Die Koalition hat in der Plenardebatte und im Ausschuss auch immer wieder das Argument der Rechtssicherheit vor sich hergetragen. Doch das Argument ist wirklich schief: Rechtssicherheit ist das Argument für jede Verjährungsvorschrift, gleich welcher Dauer. Und wenn man sich die Genese der Sonderverjährungsvorschriften im Bankenbereich einmal genauer anschaut, dann hat das auch nicht viel mit Rechtssicherheit zu tun: Für die § 34 b Abs. 4 und § 34 c Abs. 4 Wertpapierhandelsgesetz wurde mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz die absolute Verjährung von drei Jahren eingeführt, für § 46 Börsengesetz, § 13 Abs. 5 Verkaufsprospektgesetz und § 127 Abs. 5 Investmentgesetz wurden die Verjährungsfristen dagegen von sechs Monaten auf ein Jahr verlängert. Die Sonderverjährung des § 37 d Abs. 4 Wertpapierhandelsgesetz wurde wiederum 2007 abgeschafft. Für § 37 a Wertpapierhandelsgesetz hat das die SPD, wie schon erwähnt, gegen den Widerstand der Union in der Großen Koalition dann 2009 gemacht. Das ist mittlerweile auch mehr als unübersichtlich und trägt sicher nicht unbedingt zum Rechtsfrieden bei - gerade wenn man erst nach Jahren merkt, dass man falsch Zu Protokoll gegebene Reden beraten wurde. Deshalb fordert die SPD: Weg mit allen Sonderverjährungsvorschriften für die Banken und Anpassung an die normalen Verjährungsfristen des bürgerlichen Rechts. Was in diesem Zusammenhang auch immer wieder gesagt wird: Rückwirkende Verlängerungen von Verjährungsvorschriften gehen rechtlich nicht. - Das ist nun wirklich juristischer Unfug. Auf diesem Niveau müssen wir nicht diskutieren. Ursprünglich hatte das Finanzministerium im aktuellen Anlegerschutzgesetz immerhin die Streichung der Sonderverjährung bei falschem Börsenprospekt vorgesehen. Die ist sang- und klanglos wieder aus dem Gesetz herausgeflogen - wie die ganze Regulierung des grauen Kapitalmarkts, die jetzt auf Druck der betroffenen Lobby und des Wirtschaftsministeriums den Gewerbeämtern überlassen werden soll. Das hat wenig mit umfassendem Anlegerschutz zu tun. Deshalb setzt sich die SPD hier für ein Gesamtkonzept ein, das alle Produkte und Vertriebswege umfasst und geeignet ist, die Transparenz, Verständlichkeit und Sicherheit für die Anleger zu erhöhen. Das hierzu notwendige Maßnahmenpaket, das wir „Finanz-TÜV“ nennen, bezieht mit den Finanzvermittlern und -beratern, den Instituten, der Finanzaufsicht und den Verbraucherorganisationen alle Akteure ein und stellt auf ihre spezifische Rolle bei der Vermögensanlage der Privatanleger ab. Die von den Grünen mit diesem Gesetzentwurf vorgeschlagene behutsame Weiterentwicklung des Gesetzes der Großen Koalition ist auf diesem Weg ein richtiger Schritt. Deshalb stimmen wir der Vorlage zu.

Holger Krestel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004205, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Übergangsvorschrift im § 43 des Wertpapierhandelsgesetzes ist eine breite Lösung, die kleine und private Sparer und Anleger vor den Folgen von Fehlberatung auf weiter Ebene schützt, indem die regelmäßige Verjährungsfrist aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur Basis genommen wird. Die Änderungswünsche der grünen Fraktion, die noch weitere Einzelfallgerechtigkeit herstellen möchte, sind zwar sicherlich gut gemeint, wirken in diesem Fall aber leider kontraproduktiv. Es können durchaus viele weitere Szenarien existieren, welche von der Übergangsregelung nicht im Detail abgedeckt werden. Wenn man nun diesen ersten Schritt geht und dann beginnt, für alle weiteren Einzelfälle Sonderregelungen zu finden, so entsteht zum einen eine bürokratische Zumutung, deren Verwaltung wohl mehr Kosten verursacht, als sie Nutzen bringt. Zum anderen treffen die vom Finanzminister geäußerten Bedenken zu, dass ein rückwirkender Eingriff in den Anlegerschutz nur noch weiter das Vertrauen der Anleger in eine stabile Situation untergräbt und damit womöglich viel Schaden für einen verhältnismäßig kleinen, da selten auftretenden Nutzen und politische Profilierung in Kauf genommen wird. Die für jeden Bürger bestehende Rechtsweggarantie mag wie hier für Einzelne auch mal etwas ungünstigere Rechtswege bereithalten; diese Wege stehen ihnen gleichwohl offen. Wenn es, wie von den Grünen in der ersten Beratung vorgetragen, an den nötigen Mitteln für einen Rechtsstreit fehlt, blieb es ihnen unbenommen, in der dreijährigen Verjährungsfrist einen Zusammenschluss zu bilden und einen Musterprozess zu führen. Einfach nur abzuwarten, dass andere die juristischen Kastanien aus dem Feuer holen, war vielleicht doch etwas überschlau; und das kann dann auch einmal schiefgehen. Wir werden den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen daher ablehnen.

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bei dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht es um die Verjährungsfrist bei Falschberatung. Dies ist ein berechtigtes Anliegen bei der Verbesserung des Anlegerschutzes. Denn in der Tat steht die Bundesregierung hier nach wie vor in der Bringschuld. Das, was sie bislang in Sachen Anlegerschutz auf den Weg gebracht hat, ist völlig unzureichend. Lehren aus Falschberatungen etwa bei Lehman-Zertifikaten wurden nicht gezogen, dem milliardenschweren Verlust vieler privater Kleinanlegerinnen und Kleinanleger zum Trotze. Hier setzt die Initiative von Bündnis 90/Die Grünen an: Sie schafft auf kurze Sicht mehr Rechtssicherheit für die hiervon betroffenen Anleger entgegen der bisherigen ({0})Regelung, welche die Anlagebanken begünstigt. Dieser Schritt geht zweifelsohne in die richtige Richtung. Doch reicht er auch aus, um Anlegern bei Produkten mit längeren Laufzeiten angemessene Sicherheit zu bieten? Zunächst einmal muss man sich Folgendes zur gegenwärtigen Rechtslage vor Augen führen: Nach der letzten einschlägigen Gesetzesänderung verjähren Schadensersatzansprüche nicht mehr drei Jahre nach Erwerb eines Wertpapiers, sondern drei Jahre, nachdem der bzw. die Geschädigte von der Schädigung Kenntnis erlangt hat. Spätestens aber endet die Frist nach zehn Jahren ab dem schadensbegründenden Ereignis - der Falschberatung bzw. dem anschließenden Erwerb. Diese zweifellos bessere Rechtslage kommt aber nur für solche Fälle zur Anwendung, in denen die Falschberatung nach dem 4. August 2009 stattgefunden hat. Für all diejenigen Anleger, bei denen die Falschberatung bis zu diesem Datum geschah, gilt weiter die alte Rechtslage. Vonseiten der Koalitionsfraktionen war in der Debatte über den Gesetzentwurf mit der rechtlichen Unvereinbarkeit einer Rückwirkung argumentiert worden, gemäß dem Motto: Wir würden ja, wenn wir könnten. - Doch dass Sie tatsächlich wollen, nehmen wir Ihnen nicht ab - das geäußerte Verständnis mit der Gruppe der Lehman-Geschädigten in allen Ehren. Denn rechtlich gesehen dürften sich überhaupt keine Bedenken stellen: Es soll nämlich nicht die Rechtslage für gegenwärtig bereits abgeschlossene Sachverhalte verändert werden, also nach der bisherigen Rechtslage endgültig verjährte Ansprüche. Nein, die Regelung soll nur für solche Ansprüche gelten, bei denen die Verjährungsfrist noch läuft, wegen noch nicht eingetretenem Schadensereignis oder aus Unkenntnis der Betroffenen von ihrer eigenen Schädigung, die aber demnächst verjähren könnte. Zu Protokoll gegebene Reden Ein solches Herumreden um den heißen Brei benachteiligt eine ganze Reihe von Kleinanlegern, die damit um die Möglichkeit gebracht werden, einen Anspruch wegen Falschberatung geltend zu machen. Doch darf aus unserer Sicht gerade beim Anlegerschutz nicht in zu kurzen Fristen gedacht werden. Zu bedenken ist, dass im Zuge der privaten Altersvorsorge viele Menschen dazu übergehen, auch Papiere mit einer viel längeren Laufzeit als zehn Jahre zu erwerben. Die „Stiftung Warentest“ hat 2010 errechnet, dass Bundesbürgern jährlich Schäden von insgesamt 700 Millionen Euro durch Riester-Verträge mit zu hohen Dispozinsen und Abgabegebühren entstehen. Stellen Sie sich vor, Sie bemerken eine derartig hohe Schädigung erst nach Ablauf dieser Zeitspanne von zehn Jahren. Der Gesetzentwurf nützt Ihnen dann gar nichts. Aus diesem Grund haben wir in unserem Antrag vom März 2010 gefordert, dass die Verjährungsfrist bei Falschberatung und fehlerhafter Information auf 30 Jahre ab Kaufdatum des Finanzprodukts zu erhöhen ist. Verbraucherinnen und Verbrauchern muss ein fairer Umgang garantiert werden, auf den sie gegenwärtig als Anlegerinnen und Anleger nachweislich nicht vertrauen können. Hierzu gehören lange Fristen, um Falschberatung und Ansprüche auf Schadensersatz geltend machen zu können. Auch sind längere Fristen aus Verbrauchersicht noch am ehesten dazu geeignet, das Dilemma einer angemessenen Anlegerberatung zu lösen. Dieses Dilemma besteht einerseits darin, dass für den Kleinanleger zu viele Informationen nicht mehr zu bewältigen sind. Und andererseits verweisen übersichtliche Informationen dann vielleicht doch nicht auf die entscheidenden Risiken.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte heute erneut dafür werben, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen und damit einen Fehler zu korrigieren, welcher der Großen Koalition im Rahmen der Novellierung des Schuldverschreibungsrechts unterlief. Damals wurde die kurze Sonderverjährungsfrist des § 37 a Wertpapierhandelsgesetz gestrichen. Das war zu begrüßen, da Sonderverjährungsfristen im Kapitalmarktrecht vor allem im Hinblick auf das mit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz verfolgte Ziel der Vereinheitlichung aller zivilrechtlichen Verjährungsfristen keine Rechtfertigung haben. Vor allem das immer wieder ins Feld geführte Argument der Schnelllebigkeit des Geschäftsverkehrs als besondere Gegebenheit des Wertpapierbereichs sprach seit jeher eher für eine Verlängerung als für eine Herabsetzung der Verjährungsfristen. Ganz konkret war die Aufhebung der kurzen Sonderverjährungsfrist von § 37 a Wertpapierhandelsgesetz aber deshalb erfreulich, weil Schadensersatzansprüche wegen schuldhafter Verletzung von Beratungspflichten fortan nicht länger bereits drei Jahre nach Erwerb des Wertpapiers, sprich regelmäßig dem Zeitpunkt der Falschberatung, verjährten, sondern die Dreijahresfrist erst dann zu laufen begann, wenn die Anlegerin oder der Anleger von dem schadensbegründenden Ereignis erfuhren. Unabhängig von der Kenntnis bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis der fehlerhaften Beratung verjähren die Ansprüche seitdem spätestens in zehn Jahren. Damit eröffnete man Verbraucherinnen und Verbrauchern eine faire Chance, Schadensersatzansprüche zu erkennen und durchzusetzen. Bis dato waren die Auswirkungen einer Fehlberatung - infolge der Langfristigkeit einer Finanzanlage - oftmals erst nach Ablauf der alten an objektive Umstände anknüpfenden Verjährungsfrist zu erkennen. Ein gesetzgeberischer Fehler war es jedoch, die neue, günstigere Verjährungsfrist lediglich für jene Anlageberatungen einzuführen, die ab dem 5. August 2009 stattfanden. Denn damit kann all jenen, die vor diesem Stichtag falsch beraten wurden, nach wie vor seitens der Bank die kurze Sonderverjährung entgegengehalten werden. Das heißt, dass vor allem die Verbraucherinnen und Verbraucher, die am meisten unter den Folgen der Finanzkrise zu leiden haben, nach wie vor einem drastischen zeitlichen Druck für die Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche ausgesetzt sind. Revidieren kann man diesen gesetzgeberischen Fehler, indem die Verjährungsfrist für - jedenfalls heute noch nicht verjährte - Schadensersatzansprüche aus Falschberatung, die vor dem 5. August 2009 entstanden sind, rückwirkend verlängert wird. Diese Korrektur bedarf keines großen Aufwandes und ist verfassungsrechtlich keinen Bedenken ausgesetzt. Sie würde jedoch Tausenden von Anlegern helfen, zu ihrem Recht zu kommen. Denn wenn die hier in Rede stehende Änderung zum 1. Februar 2011 in Kraft treten würde, käme die günstigere kenntnisabhängige Verjährung immerhin all jenen Ansprüchen zugute, die zwischen dem 1. Februar 2008 und dem 4. August 2009 entstanden sind. Nun wird seitens der Koalitionsfraktionen eingewendet, dass Verbraucherinnen und Verbraucher, die innerhalb von drei Jahren nicht ihr Recht wahrgenommen haben, mögliche Falschberatungen im Wege einer Klage überprüfen zu lassen, auch infolge einer Verjährungsverlängerung nicht klagen würden. Dem ist insofern zuzustimmen, als dass man Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich nicht zwingen kann, ihr Recht einzufordern. Allerdings ist es Aufgabe des Parlaments, den Ordnungsrahmen dafür zu setzen, dass die Anlegerinnen und Anleger Beratungssituationen überhaupt gerichtlich überprüfen können. Zudem gibt es Gründe, warum geschädigte Anlegerinnen und Anleger zunächst davon absehen, ihre Schadensersatzansprüche im Wege der Klageeinreichung oder der Einleitung eines förmlichen Güteverfahrens zu verfolgen. Für sie ist es infolge der hohen finanziellen Verluste, die sich gerade aus den Falschberatungen ergeben, oftmals ein extrem hohes Risiko, die Prozesskosten aufzubringen. Deshalb verzichten sie auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche trotz des zeitlichen Drucks und warten höchstrichterliche Entscheidungen ab, um beurteilen zu können, ob die Chancen auf eine erfolgreiche Schadensersatzklage das Risiko der Prozesskosten überwiegen. Das ist auch sehr verständlich und aus den individuellen Umständen nachvollziehbar. Zu Protokoll gegebene Reden Und ein Blick auf die Rechtsprechung zeigt, dass es hinsichtlich der Feststellung von Pflichtverletzungen durch Banken im Rahmen von Anlageberatungen zu den Lehman-Zertifikaten keinerlei Tendenz gibt. Gegenteilig spitzt sich die Rechtsunsicherheit derart zu, dass teilweise einzelne Kammern innerhalb eines Gerichtes unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten. Fraglich ist beispielsweise nach wie vor, inwieweit die sogenannte Kick-Back-Rechtsprechung bzw. die hinter dieser Rechtsprechung stehenden Gedanken auf die LehmanVerfahren und das Verschweigen von Gewinnmargen Anwendung finden. Immerhin ist bezüglich dieser Frage nunmehr die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen, der wohl im Frühsommer dieses Jahres entscheiden wird. Darüber hinaus wird seitens des Bundesfinanz- und Bundesjustizministeriums argumentiert, mit einer rückwirkenden Verlängerung der Verjährungsfristen gehe stets eine Störung des Rechtsfriedens einher. Zwar mag es stimmen, dass jede Änderung des Verjährungsrechts Unsicherheiten in der Rechtsanwendung mit sich bringt. Letztlich vermag der Einwand jedoch nicht zu überzeugen. Denn es ist gleichfalls ein wichtiger Bestandteil des Rechtsfriedens, jenen die Möglichkeit auf rechtliches Gehör einzuräumen, die so zahlreich Opfer von Falschberatung wurden. Rechtsfrieden verlangt immer einen Blick auf beide Seiten möglicher rechtlicher Auseinandersetzungen. In der Gesamtschau zeigt sich zum Ersten ein offenkundiger Befund, nämlich, dass im Rahmen einer Gesetzesänderung etwas übersehen wurde. So etwas sollte man als Gesetzgeber doch eingestehen können und eine Korrektur ermöglichen. Zum Zweiten besteht eine gegenwärtige Notwendigkeit, diesen Fehler zu korrigieren. Und darüber hinaus - drittens - liegt uns die juristische Einschätzung vor, dass eine rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist noch nicht verjährter Ansprüche keinerlei rechtlichen Bedenken ausgesetzt wäre. Insofern stellt sich die Frage, wie man diesem Gesetzentwurf überhaupt ablehnend gegenüberstehen kann. Wer diesem Gesetzentwurf nicht folgt, kann es mit dem Anlegerschutz nicht ernst meinen. Ein trauriges Zeugnis wäre das vor allem für eine Koalition, die sich - dem Koalitionsvertrag nach - dem Anlegerschutz verpflichtet fühlt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4507, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4053 abzulehnen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Für den Gesetzentwurf gestimmt haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die SPD-Fraktion. Abgelehnt haben den Gesetzentwurf die Koalitionsfraktionen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Damit sind wir auch schon am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. ({0}) - Ich sehe, Sie bedauern das. Ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Abend. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Januar 2011, um 9 Uhr, ein. Ich schließe die Sitzung.