Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten
können, müssen wir noch eine Reihe von Nachwahlen
zu Gremien durchführen. Die Fraktion der CDU/CSU
hat mitgeteilt, dass der Kollege Leo Dautzenberg aus
dem Gremium gemäß § 10 a des Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzes ausscheidet. Als sein Nachfolger
wird der Kollege Klaus-Peter Flosbach vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist der Kollege Flosbach hiermit gewählt.
Es wird ferner vorgeschlagen, den Kollegen KlausPeter Flosbach auch zum Nachfolger des Kollegen
Dautzenberg im Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht zu wählen. Neues
stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Antje
Tillmann werden. Sind Sie mit diesen Vorschlägen
ebenfalls einverstanden? - Auch das ist offenkundig der
Fall. Dann sind die beiden Kollegen hiermit gewählt.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt vor, die
Kollegin Ingrid Nestle zum ordentlichen Mitglied im
Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität,
Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen und
die Kollegin Kerstin Andreae zum stellvertretenden
Mitglied zu wählen. Sind Sie auch mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die beiden Kolleginnen gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Die öffentliche Diskussion über die Falschund Nichtunterrichtung des Deutschen Bundestages durch den Bundesverteidigungsminister zu Vorfällen in der Bundeswehr
({0})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 24
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen
durch mehr Fachpersonal für Hygiene und
Prävention
- Drucksache 17/4452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Schlaglochchaos beenden - Kommunale Finanzen stärken
ZP 4 Vereinbarte Debatte
Tunesien - Jetzt Grundlage für stabile Demokratie schaffen
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausbau der erneuerbaren Energien in
Deutschland und Europa sicherstellen
- Drucksache 17/4527 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europas Energiezukunft erneuerbar und sicher gestalten
- Drucksache 17/4544 Redetext
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Bildungsbericht 2010 - Bildung in
Deutschland
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 17/3400 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({4}), Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungsberichte nutzen - Bildungssystem gerechter und besser machen
- Drucksache 17/4436 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Bundesministerin Professor Dr. Annette
Schavan das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Nationale Bildungsbericht, den Bund und Länder zum dritten Mal vorlegen,
enthält zentrale Botschaften zur Leistungsfähigkeit des
Bildungssystems in Deutschland, zeigt Perspektiven unseres Bildungssystems im demografischen Wandel und
geht auf die wichtigsten Problemlagen ein. Zusammen
mit der zuletzt vorgestellten PISA-Studie kann er auch
als so etwas wie eine Bilanz über zehn Jahre Bildungsreform in Deutschland gewertet werden.
Beide Studien zeigen, dass die Reformbemühungen
zu positiven Ergebnissen führen. Ich sage vor allem mit
Blick auf unsere Schulen: Wer immer den Eindruck erweckt, dass sich in diesen zehn Jahren nichts verändert
hat, der ignoriert die Anstrengungen in unseren Schulen.
Anstatt anzufangen, uns über Bildungspolitik zu streiten,
sollten wir den vielen Lehrerinnen und Lehrern an diesen Schulen für ihre erheblichen Anstrengungen danken,
die in den letzten Jahren zu Verbesserungen geführt haben.
({0})
Wir wissen zugleich, dass es Problemlagen gibt, mit
denen wir uns schon geraume Zeit befassen und bei denen wir noch nicht am Ziel sind. Auch deshalb räumt die
christlich-liberale Koalition der Bildungs- und Hochschulpolitik Priorität ein und setzt Schwerpunkte dort,
wo wir noch nicht gut genug sind. Ich appelliere ausdrücklich an die Länder, es ebenso zu tun. Bildungspolitik muss überall Priorität haben, braucht nicht immer
neue ideologische Debatten, braucht nicht immer neue
Alleingänge, die den Bürgern gar keine Chance mehr geben, den Überblick zu behalten. Vielmehr muss alles,
was in der Bildungspolitik in Deutschland geschieht, mit
mehr Gemeinsamkeit unter den Ländern, mehr Vergleichbarkeit und dem konsequenten Abbau von Mobilitätshindernissen verbunden sein.
({1})
Die zentralen Botschaften des Nationalen Bildungsberichts lauten kurz zusammengefasst: mehr Krippenund Kindergartenplätze, mehr Ganztagsschulen, bessere
Schulleistungen in Mathematik, den Naturwissenschaften und auch bei der Lesekompetenz, deutlich mehr Studienplätze, mehr Ausbildungsplätze, weniger Schulabbrecher. Genau mit diesen Themen haben wir uns in den
letzten Jahren befasst. Genau dazu haben Bund und Länder eine Qualifizierungsinitiative gestartet. Sie zeitigt
erste Erfolge. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
({2})
Diese Stichworte - ich könnte noch mehr nennen; ich
sage aber nur noch wenige Sätze dazu - zeigen auch:
Wir können vor allen Dingen Erfolge sehen, wo sich
Bund und Länder jenseits von Parteigrenzen und jenseits
aller möglichen ideologischen Kämpfe durchgerungen
haben, zu gemeinsamen Strategien zu kommen.
Ich nenne beispielhaft Bildung und Betreuung vor der
Schule. Das Krippenprogramm - alle haben miteinander
gerungen und es dann durchgesetzt - führt dazu, dass in
Deutschland so viele Erzieherinnen wie noch nie zuvor
in den Kitas tätig sind. Oder: Jede zweite Schule im Primar- und Sekundarbereich in Deutschland ist bereits
eine Ganztagsschule. Die Zahl der Schülerinnen und
Schüler, die eine solche Schule besuchen und an den Angeboten teilnehmen, hat sich verdoppelt.
Deutschland gilt in der OECD als ein Land mit signifikanten Verbesserungen in der mathematischen und naturwissenschaftlichen Bildung. Darüber hinaus liegt uns
allen besonders am Herzen, dass die Zahl der SchulabBundesministerin Dr. Annette Schavan
brecher kontinuierlich sinkt. Wir wollen eine konsequente weitere Verringerung, weil wir wissen, dass der
Schulabschluss für jeden Jugendlichen die Eintrittskarte
für eine Ausbildung ist. Deshalb müssen wir das schaffen. Deshalb haben wir uns das mit Priorität vorgenommen. Deshalb gibt es Bildungsketten, Bildungslotsen
und viele andere Programme, damit in Deutschland jeder
Jugendliche die Voraussetzung hat, um eine gute Ausbildung zu beginnen.
({3})
Wenn wir uns an die Debatte über den Ausbildungsmarkt vor sechs bis sieben Jahren erinnern, ist jedem,
auch jedem Fachpolitiker, klar, dass sich die Situation
grundlegend verändert hat. Es gibt wesentlich mehr Ausbildungsplätze und durch die demografische Entwicklung weniger Bewerbungen. Also liegt der Schwerpunkt
des Ausbildungspakts jetzt - auch das ist übrigens eine
gemeinsame, ressortübergreifende Initiative von Bund
und Ländern - auf der Qualifizierung, damit sich jeder
Jugendliche erfolgreich auf eine Ausbildungsstelle bewerben kann. Das gesamte Potenzial auszuschöpfen, ist
ein ganz wichtiger Beitrag mit Blick auf den Fachkräftemangel. Der Qualifizierung gilt vor allen weiteren Maßnahmen der Zuwanderung unsere besondere Verantwortung. Die Verantwortung dieses Parlaments, dieser
Regierung und jeder Landesregierung besteht darin, dafür zu sorgen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zunächst eine gute Chance für Ausbildung und Studium
bekommt.
({4})
Ich habe in dieser Woche die Bilanz des Hochschulpakts gezogen. Die erheblichen Bemühungen der Länder
und des Bundes tragen Früchte. Statt geplanter
90 000 Studienplätze sind es 180 000 geworden. Studieren ist attraktiv. Noch nie haben so viele junge Leute in
Deutschland studiert wie im Moment. Wir sind bei
46 Prozent. Jeder hier im Haus erinnert sich daran, dass
wir uns jahrelang das Ziel gesetzt haben, die 40-ProzentMarke zu erreichen. Jetzt stehen die Universitäten vor
einer anspruchsvollen Aufgabe, zumal aufgrund der
Aussetzung der Wehrpflicht zusätzliche Studienanfänger
kommen. Ich sage es auch an dieser Stelle: Wir lassen
die Studierenden nicht im Stich. Jetzt ist es wichtig, alle
Anstrengungen zu unternehmen, damit diese positive
Entwicklung auch in den nächsten Jahren weitergehen
kann.
Zum deutlich gewachsenen Interesse am Studium haben ganz gewiss auch die deutlichen Verbesserungen bei
der Studienfinanzierung beigetragen. Ich nenne das
BAföG, das Deutschlandstipendium und das Aufstiegsstipendium. Die Studierenden, die jungen Leute spüren,
dass die Grundlagen für die Finanzierung ihres Studiums
vielfältiger, elterneinkommensunabhängiger und damit
für sie attraktiver geworden sind. Auf diesem Weg werden wir weitergehen.
({5})
Dessen ungeachtet zeigt der Bericht, wo wir noch
besser werden müssen, welche Problemlagen wir abbauen müssen. Das alles überragende Thema ist die Entkoppelung von sozialer Herkunft und schulischer Leistung.
({6})
Die Überwindung von Bildungsarmut, das ist unser großes Thema.
({7})
- Schön, dass jetzt die Kollegen von der SPD klatschen.
({8})
- Herr Schulz, ich wollte gerade sagen, dass das erstaunlich ist, weil die damalige rot-grüne Bundesregierung,
als sie über Regelsätze nachgedacht hat, die Bildung
schlicht vergessen hat.
({9})
Ich finde es bedauerlich, dass das, worüber am meisten geredet wird, wenn es um das Handeln geht, schlicht
ignoriert wird.
({10})
Deshalb sage ich auch: Wenn wir das jetzt korrigieren
- das tun wir gerade; die Kollegin von der Leyen sowie
die Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen arbeiten im Vermittlungsausschuss daran -,
({11})
dann sollten Sie wenigstens aufhören, zu blockieren. Wir
wollen das korrigieren. Hören Sie auf, das Zustandekommen des Bildungspakets weiter zu verzögern!
({12})
Die Überwindung von Bildungsarmut ist kein gutes
Thema für Rhetorik.
({13})
Es müssen Fakten geschaffen werden.
({14})
Helfen Sie deshalb mit und hören Sie auf, zu blockieren
und zu feilschen! Vergessen Sie nicht, dass Sie selbst damals gar nichts zuwege gebracht haben!
({15})
Wir werden über das Bildungspaket hinausgehend mit
Allianzen für Bildung Bildungspartnerschaften vor Ort
auf den Weg bringen, weil für uns völlig klar ist, dass die
Gruppe der Kinder, die mit Risikolagen leben und des9714
halb eine schwierigere Bildungsbiografie haben, weit
über die Gruppe der Hartz-IV-Kinder hinausgeht. Deshalb werden wir in den nächsten Wochen in Kooperation
mit Sportvereinen, Bibliotheken, der Stiftung „Lesen“,
den Einrichtungen der kulturellen Bildung und mit vielen anderen Partnern Allianzen für Bildung vor Ort
schaffen. Wir wollen eine gesellschaftliche Bewegung
für Bildung mit dem Ziel einer besseren Bildungsteilhabe. Bildung ist nicht nur eine Frage des Staates. Das
ist auch eine Anfrage an unsere Gesellschaft, die eine
bildungsbegeisterte und bildungshungrige Gesellschaft
werden muss.
({16})
Wir werden die Integration durch Bildung weiter verstärken. Nehmen Sie die Akzente, die wir im Bereich der
frühkindlichen Bildung setzen - ihr Erfolg ist augenscheinlich -: die flächendeckende Sprachförderung, die
Erzieherinnenfortbildung, die Häuser der kleinen Forscher. Jedes Kind hat Talente. Wir wissen, je stärker wir
unsere Kindertagesstätten bei der frühkindlichen Bildung unterstützen, umso besser werden die Voraussetzungen zu Schulbeginn sein und umso größer ist die
Chance, dass sich die Bildungsbiografien der Kinder gut
entwickeln.
Das Thema Weiterbildung wird uns auch aufgrund
des demografischen Wandels in den nächsten Jahren
stärker beschäftigen als in der Vergangenheit. Der
Schwerpunkt des Nationalen Bildungsberichtes ist das
Bildungssystem im demografischen Wandel. Der demografische Wandel wird vor allen Dingen bei Standortfragen im ländlichen Raum Konsequenzen haben. Wir
brauchen Veränderungen in der beruflichen Bildung. Wir
müssen von der Spezialisierung der Ausbildungen weg
und hin zu den Berufsfeldern. Das werden wir im Laufe
des Jahres angehen. Wir werden dafür sorgen müssen,
dass der Hochschulpakt weiterentwickelt wird. Wir werden sehr genau beobachten, wie mit der demografischen
Rendite in den Ländern umgegangen wird. Es ist wichtig, dass das Geld trotz rückläufiger Schülerzahlen weitestgehend im System bleibt. Wir halten am 10-ProzentZiel für Bildung und Forschung in den nächsten Jahren
fest.
({17})
Alle Akteure im Bildungssystem - der Bund befindet
sich da in einem guten Dialog mit einer Reihe von Ländern - werden darauf achten müssen, dass die Wege hin
zur Bildungsrepublik Deutschland zu mehr Leistungsfähigkeit, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Vergleichbarkeit
und zu weniger Alleingängen führen. Eltern müssen sich
darauf verlassen können, dass ihre Kinder, egal wo sie
zur Schule gehen, ob in Hamburg, in Dresden oder in
Berlin, vergleichbare Leistungen, vergleichbare Bildungsabschlüsse und vergleichbare Schulmaterialien haben. Das muss in einer globalen Welt so sein, und das ist
auch eine Frage der Gerechtigkeit.
Deshalb lade ich Sie parteiübergreifend ein: Lassen
Sie uns - dies hat sich in mancher Region in Deutschland schon bewährt - mit möglichst viel Konsens die
Wege hin zur Bildungsrepublik Deutschland gestalten.
({18})
Das Wort hat jetzt der Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Thüringen, Christoph
Matschie.
({0})
Christoph Matschie, Minister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Das ist die dritte Auflage des Bildungsberichts. Er zeigt nicht nur den aktuellen Zustand, sondern
auch die zentralen Herausforderungen; Sie haben das
eben erwähnt. Demografischer Wandel, Fachkräftebedarf, Integration, Bildung als soziale Frage - es mangelt
wahrlich nicht an neuen Herausforderungen, die wir anpacken müssen.
Die Bundesregierung hat Antworten formuliert. Sie
hat die Bildungsrepublik ausgerufen und eine Qualifizierungsoffensive mit den Ländern gestartet. Das eine oder
andere gemeinsame Programm ist sicher gut auf dem
Weg.
({2})
Wenn man der Bundesregierung dafür ein Zeugnis ausstellen müsste, würde wahrscheinlich darin stehen: Sie
hat sich bemüht.
({3})
Die Frage ist nur: Reicht das aus? Die Hauptlast der Bildung tragen Länder und Kommunen. Deutlich über
90 Prozent aller Aufwendungen für Bildung sind Aufwendungen von Ländern und Kommunen. Der Bund
trägt 7,8 Prozent. Deshalb sage ich hier ganz klar und
deutlich: Frau Kollegin Schavan, neue Sonderprogramme des Bundes, die die Bildungspolitik in Randbereichen der Bildung vorantreiben sollen, helfen nicht in
allen Fällen. Manchmal mutet das an, als würden Sie
versuchen, im Winterdienst auf der Autobahn mit dem
Handwagen das Streusalz zu verteilen. Nein, Frau Kollegin Schavan, wir brauchen eine andere Art von gemeinsamer Bildungsanstrengung, wenn wir Bildung in
Deutschland voranbringen wollen.
({4})
Die Sonderprogramme haben auch das Problem, dass sie
auf äußerst unterschiedliche Situationen in den Bundesländern stoßen. Sie wissen ganz genau: In einem Bundesland liegt der Schwerpunkt vielleicht auf der Schulentwicklung, für die zusätzliche Mittel benötigt werden;
in einem anderen Bundesland sind es gerade die Kindergärten oder die Hochschulen. Sonderprogramme nivellieren diese unterschiedlichen Entwicklungen, die in den
Bundesländern vorangetrieben werden müssen.
Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen, bei
dem jeder Experte nur noch mit dem Kopf geschüttelt
hat. Sie haben im Rahmen der Qualifizierungsoffensive
vorgeschlagen, lokale Bildungsbündnisse mit 1 Milliarde
Euro zu fördern; das klingt erst einmal gut. Aber dass
der Bund jetzt plötzlich versucht, über Schulvereine loMinister Christoph Matschie ({5})
kale Bildungsbündnisse zu organisieren, haben alle Experten als abenteuerlich eingeschätzt.
({6})
Das Gleiche gilt für Ihr eben angesprochenes Bildungspaket. Frau Kollegin Schavan, es geht nicht darum, ein
sinnvolles Bildungspaket zu blockieren, sondern es geht
darum, ein sinnvolles Bildungspaket überhaupt erst auf
den Weg zu bringen.
({7})
Schauen Sie sich doch noch einmal an, was vorgeschlagen war. Da sollte eine Chipkarte oder ein Bildungsgutschein ausgeteilt werden. Ich frage mich
manchmal, wie lebensfremd eigentlich die Vorstellungen
sind, die Sie in Ihrem Hause ausbrüten. Wie lebensfremd
ist das denn! Es hilft doch keinem Kind, wenn ich ihm
eine Chipkarte oder einen Bildungsgutschein in die
Hand drücke. Das Einzige, was wirklich hilft, ist, Strukturen vor Ort zu verbessern,
({8})
ganztägige Angebote zu machen und mehr Sozialarbeiter in den Schulen vorzuhalten. Darum geht es doch.
Jetzt greife ich Ihr Angebot auf, 1 Milliarde Euro in
lokale Bildungsbündnisse zu stecken. Warum nehmen
Sie nicht diese 1 Milliarde Euro und investieren sie in
mehr Sozialarbeiter in den Schulen? Wir würden die
Schulentwicklung auf einen Schlag wirklich voranbringen können.
({9})
Aber nein, genau an dieser Stelle blockiert bisher Ihre
Kollegin Frau von der Leyen die Gespräche. Ich glaube,
man kann zu einer sinnvollen Vereinbarung zum Bildungspaket kommen. Das setzt aber auch voraus, dass
wir die Lebenswirklichkeit der Menschen ernst nehmen
und nicht Programme ins Leben rufen, die über die
Köpfe hinweggehen und am Ende niemandem etwas
nutzen.
Der Bildungsgipfel und das 10-Prozent-Ziel sind
eben noch einmal angesprochen worden. Die Länder haben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um den Anteil ihrer Bildungsausgaben an
den Gesamthaushalten zu steigern. 1995 machten die
Bildungsausgaben 29 Prozent in den Gesamthaushalten
der Länder aus. 2008 waren es 34 Prozent. Ich sage aber
auch: Die Länder geraten hier an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Ich will das einmal am Beispiel eines Bundeslandes wie Thüringen deutlich machen. Wir haben
zusätzliche Mittel in die Hand genommen, um in die
Kindergärten zu investieren. Über 100 Millionen Euro
zusätzlich fließen in den Ausbau der Kindertagesstätteninfrastruktur, und das tun wir trotz schwieriger Haushaltslage.
Nun schaue ich mir an, was in den nächsten Jahren
auf ein Bundesland wie Thüringen zukommt. Nach der
mittelfristigen Finanzplanung werden die Einnahmen
des Landes aus Steuern, aus Bundeszuweisungen, aus
Solidarpaktmitteln und aus europäischen Strukturfondsmitteln von 9 Milliarden Euro in diesem Jahr auf etwa
7,5 Milliarden Euro im Jahre 2020 sinken. Das heißt,
Thüringen und andere neue Bundesländer müssen in den
kommenden Jahren mit sinkenden Haushaltseinnahmen
operieren. Gleichzeitig sind wir verpflichtet - und das
wollen wir auch -, die Schuldenbremse des Grundgesetzes bis 2020 einzuhalten. Nun frage ich Sie: Wie soll
man angesichts einer solchen Situation in den Ländern
aus eigener Kraft die Bildungsfinanzierung ausweiten?
Es wird nicht funktionieren, Frau Kollegin Schavan. Da
hilft auch keine schöne Rede, mit der Sie hier mehr Gemeinsamkeit einfordern. Da hilft nur eines: dass sich der
Bund endlich dazu bekennt, die Länder stärker bei der
Bildungsfinanzierung zu unterstützen. Das ist der Weg,
den wir gehen müssen.
({10})
Ich sage deshalb hier ganz deutlich: Der Bildungsgipfel im vergangenen Jahr ist klar gescheitert. Er ist gescheitert, weil die Bundesregierung nicht bereit war, die
Länder bei dieser Aufgabe stärker zu unterstützen. Sie
können doch nicht ernsthaft versuchen, die Bildungsprobleme in Deutschland zu lösen, indem Sie immer neue
Sonderprogramme auf den Weg bringen, anstatt die Länder in ihrer Kernaufgabe zu unterstützen. Ich darf Sie an
dieser Stelle vielleicht daran erinnern,
({11})
dass Sie es waren, Frau Schavan, die im Zusammenhang
mit der Föderalismusdebatte darauf bestanden hat, dass
die Länder noch mehr Kompetenzen in der Bildung bekommen, dass noch weitere Rahmenkompetenzen vom
Bund abgezogen werden. Ich glaube - und ich sage das
hier sehr deutlich -, dass die Entscheidung falsch war, so
vorzugehen; das sage ich auch als Ländervertreter. Wir
brauchen in der Bundesrepublik Deutschland mehr gemeinsame Rahmenbedingungen für die Bildung. Nur so
können Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit wirklich
garantiert werden.
({12})
Wir brauchen einen neuen Bildungsgipfel, und zwar
einen Bildungsgipfel, der ehrliche Antworten gibt, der
ehrliche Antworten gibt auf die offenen Finanzierungsfragen, der ehrliche Antworten gibt auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Uns helfen
keine neuen Sonntagsreden, mit denen Gemeinsamkeit
beschworen wird. Ja, ich will, dass wir diese Aufgabe
gemeinsam anpacken; denn es geht darum, über die Zustände im Bildungssystem zu diskutieren und Lösungen
zu finden, statt sich über Zuständigkeiten zu streiten.
Das geht aber nur, wenn sich der Bund endlich bewegt.
Also sorgen Sie dafür, Frau Schavan, dass ein neuer Bildungsgipfel einberufen wird und dass der Bund die Länder bei der Finanzierung unterstützt! Diese Forderung
wird von allen Ländern klar artikuliert. Die Länder brauchen höhere Steueranteile, um dann diese Mittel in die
Bildung investieren zu können. Machen Sie endlich
Ernst mit Ihren Sonntagsreden und helfen Sie den Ländern bei ihrer Kernaufgabe Bildung!
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Meinhardt von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Matschie, Sie haben sich bemüht.
({0})
Ich habe gerade gedacht, dass ich hier wirklich in der
falschen Veranstaltung sitze. Wir müssen in diesem Land
klar anerkennen, welche Bildungsleistungen wir hier gemeinsam erbringen. Diese Bundesregierung hat wie
keine andere Bundesregierung vor ihr Bildungsinvestitionen auf den Weg gebracht. Die Ausgaben für Bildung
und Forschung werden in dieser Legislaturperiode um
12 Milliarden Euro gesteigert; das ist die größte Steigerung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland je gegeben hat.
({1})
Das ist eine Leistung, die anerkannt werden muss.
({2})
Wir können sehr gerne darüber diskutieren, was letztes Jahr beim Bildungsgipfel gut und was schlecht gelaufen ist. Sie haben hier Ihre Sichtweise dazu dargelegt.
Ich erinnere mich sehr gut an den Bildungsgipfel im letzten Jahr. Ich erinnere mich sehr gut, wer auf diesem Bildungsgipfel blockiert hat: in erster Linie die sozialdemokratisch regierten Länder, an vorderster Stelle Sie, Herr
Matschie. Das ist Realität; das muss klar angesprochen
werden. Ein Bildungsgipfel kann nur dann zu einem Erfolg führen, wenn Bund und Länder bereit sind, aufeinander zuzugehen, und nicht, wenn auf beiden Seiten
Blockaden aufgebaut werden.
({3})
Es ist wichtig und richtig, dass wir hier darüber diskutieren - das ist ein Ergebnis der Einführung des Nationalen Bildungsberichtes -, wie wir die Finanzbeziehungen
stärken können, mit welchen Maßnahmen wir das 10-Prozent-Ziel erreichen können. Aber eines kann und darf
nicht sein: Während der Bund Investitionen tätigt, schaffen Länder, beispielsweise Nordrhein-Westfalen, von
sich aus die Studiengebühren ab - das kostet in Nordrhein-Westfalen 250 Millionen Euro jährlich - und erheben am gleichen Tag die Forderung an den Bund, für die
Kosten, die durch die Abschaffung entstehen, einzuspringen und die entsprechenden Gelder zuzuweisen. So
darf Bildungspolitik in diesem Land nicht laufen.
({4})
Zu den lokalen Bildungsbündnissen. Ich bin der
Ministerin und der Regierungskoalition sehr dankbar,
dass wir eine Debatte darüber führen, wie wir die gesamtgesellschaftlichen Kräfte dieses Landes in einer Allianz für Bildung zusammenbringen können, damit es in
den Regionen und insgesamt vernetzte Angebote geben
kann. Dort, wo ehrenamtliche Arbeit in Schulfördervereinen geleistet wird, wo Elternarbeit in besonderem
Maße geleistet wird, müssen wir sie stärken; dort, wo
das noch nicht der Fall ist, müssen wir die Menschen aktivieren. Das ist die Aufgabe der Politik: Wir müssen all
diejenigen stärken, die sich zusammen mit uns auf den
Weg machen. Das ist in lokalen Bildungsbündnissen
möglich. Sie sind integraler Bestandteil einer erfolgreichen Bildungspolitik dieser Bundesregierung.
({5})
Man sollte den Nationalen Bildungsbericht - da es
der dritte ist, kann man schon von einer Tradition sprechen - kritisch betrachten. Man sollte schauen, an welchen Stellen wir Dinge auf den Weg gebracht haben. Ich
finde, es war ein tolles Zeichen, dass wir nach unseren
Beratungen, die 2001 und 2002 im Deutschen Bundestag
stattgefunden haben, trotz verschiedener Anträge - am
Anfang stand der Antrag der FDP aus dem Jahr 2001 am Schluss gemeinsam die Einführung eines Nationalen
Bildungsberichts beschlossen haben. Damit können wir
immer wieder gemeinsam überprüfen, an welchen Stellen wir stärker vorangehen müssen, an welchen Stellen
es gut läuft und wo wir wirklich noch eine Schippe
nachlegen müssen. Ich sage es einmal so: Schon der
Zeitpunkt, zu dem wir diese Debatte führen, stellt eine
positive Veränderung dar. Der erste Nationale Bildungsbericht ist nachts um 2.30 Uhr aufgerufen worden. Heute
sind wir in der Kernzeitdebatte. Vielleicht ist das auch
ein Zeichen dafür - jedenfalls würde ich mir das wünschen -, dass die Bildung im Zentrum der gesellschaftspolitischen Diskussion angekommen ist.
({6})
Ein Bildungsbericht muss aber auch Raum dafür lassen, darüber nachzudenken, wo noch Verbesserungsmöglichkeiten für die Zukunft gegeben sind. Es ist richtig, dass wir noch sehr viel intensiver und kritischer auf
all die Entwicklungen schauen müssen, bei denen wir
Verbesserungen brauchen. So sehr wir uns darüber
freuen, dass die Zahl der Schulabbrecher rückläufig ist:
Es ist trotzdem notwendig, immer wieder gemeinsam
darüber zu diskutieren, was möglich ist. Wir haben die
Chance, gemeinsame Anliegen nach vorne zu bringen.
Ein Nationaler Bildungsbericht muss aber auch die
Eckpunkte dafür liefern. Beispielsweise war eines der
zentralen Ergebnisse aller PISA-Untersuchungen der
letzten Jahre, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Eigenverantwortung von Bildungseinrichtungen einerseits - der Eigenverantwortung von Schulen, der Eigenverantwortung von Hochschulen, der
Eigenverantwortung von Kindergärten - und dem Bildungserfolg andererseits gibt. Deshalb wünsche ich mir,
dass der Grad der Eigenverantwortung - was geleistet
wird und wo wir uns noch auf den Weg machen müssen endlich Bestandteil des Nationalen Bildungsberichtes
wird. Denn mehr Bildungsfreiheit vor Ort zu schaffen, ist
eine Kernbotschaft aller PISA-Ergebnisse. Das muss sich
auch endlich im Nationalen Bildungsbericht widerspiegeln.
({7})
Zoni Weisz hat uns vorhin in seiner sehr bewegenden
Rede als eine Botschaft seines Lebens weitergegeben,
dass nur Bildung und Entwicklung der Weg in eine gute
Zukunft sind. Was er vorhin für sich selbst in sehr besonderer Art und Weise beschrieben hat, muss auch die
Grundlage für uns hier in der Bundesrepublik Deutschland sein.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Das Wort für die Fraktion der Linken hat jetzt der
Kollege Dr. Gregor Gysi.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Recht,
Herr Meinhardt, haben Sie auf die Worte von Herrn
Weisz hingewiesen. Mich hat es auch beeindruckt, dass
er gesagt hat: Die zentrale Frage bei den Entwicklungschancen von Kindern ist die Bildung. - Aber die
Situation in Deutschland ist so, dass Sie ein klares Umdenken fordern müssen, statt sich in irgendeiner Form
bestätigt zu sehen.
({0})
Der Bildungsbericht nennt drei Risikolagen: Arbeitslosigkeit der Eltern, geringes Einkommen der Eltern und
schlechte bzw. keine Berufsausbildung. Der Bildungsbericht sagt: Diese drei Problemlagen setzen sich dann bei
den Kindern fort. Aber er sagt nicht, was eigentlich geplant ist, wirksam dagegen zu tun. Das ist unsere Kritik.
29 Prozent der 13,6 Millionen Kinder in Deutschland
- das sind 4 Millionen Kinder - befinden sich in einer
der drei Risikolagen. 29 Prozent der Kinder! Ich bitte
Sie, darüber nachzudenken.
({1})
Darunter sind 1,1 Millionen Kinder von Alleinerziehenden; das ist fast die Hälfte der Kinder von Alleinerziehenden. Darunter sind 1,7 Millionen Kinder mit Migrationshintergrund; das ist fast die Hälfte der Kinder mit
Migrationshintergrund. Die Situation bezüglich der Risikolagen hat sich nicht geändert unter der Regierung von
SPD und Grünen, nicht geändert unter der Regierung
von Union und SPD und nicht geändert unter der Regierung von Union und FDP. Die Problemlagen sind überall
die gleichen geblieben.
({2})
Sie können das ganz einfach sortieren: Kinder von
reichen Familien gehen in der Regel auf höhere Schulen
oder auf Privatschulen, Kinder armer Familien haben
diesbezüglich viel schlechtere Chancen.
Was übrigens auch interessant ist: In der Weiterbildung setzt sich das fort. Nichterwerbstätige oder Leute
mit geringer Bildung haben viel schlechtere Chancen auf
Weiterbildung als andere. Das System, das, wenn man so
will, schon in der Kindertagesstätte beginnt, setzt sich
also bis zum Ende des Lebens fort. Ich möchte auf die
Unterschiede in der frühkindlichen Bildung hinweisen.
Die Angebote im Osten sind viel verbreiteter als die Angebote im Westen. Das hat etwas mit der Geschichte zu
tun. Es wird höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass die Zahl
der Kindertagesstätten in den alten Bundesländern mindestens so hoch ist wie in den neuen Bundesländern, obwohl auch dort ausgebaut werden muss.
({3})
Jetzt gibt es ein Gesetz, das besagt: Für 35 Prozent
der Kinder müssen bis 2013 Kitaplätze entstanden sein.
Heute glaubt wohl so gut wie keiner mehr daran, dass
das zu schaffen ist. Nicht einmal die Hälfte der Jugendämter geht davon aus, dass Sie das wirklich realisieren.
Warum wird hier viel zu wenig getan?
Das Entscheidende ist und bleibt die soziale Ungleichheit. Sie setzt sich fort. Ich habe hier vor kurzem
gesagt: Zwischen den Chancen zweier Neugeborener liegen tausend Welten. - Nur, Neugeborenen kann man
noch nichts vorwerfen. Nicht einmal die FDP kann ihnen
Leistungsdefizite vorwerfen;
({4})
sie sind ja gerade erst herausgekommen und haben noch
nichts gemacht. Ich sage Ihnen: Für linke Politik ist ein
ganz entscheidendes Ziel, Chancengleichheit für Kinder
zu erreichen, und zwar gerade und in erster Linie auch in
der Bildung.
({5})
Herr Matschie, was Sie wahrscheinlich nicht mitbekommen haben: Dass der Bund für die Schulbildung
nicht mehr zuständig ist, liegt an einer Grundgesetzänderung, mit der der Rest seiner Zuständigkeit gestrichen
wurde. Diese Grundgesetzänderung kam aber nur durch
die Stimmen von Union und SPD zustande; sonst gäbe
es sie gar nicht. Hier wäre also Selbstkritik in jeder Hinsicht angesagt.
({6})
Das Kooperationsverbot ist übrigens völlig falsch; das
sehen inzwischen selbst Bildungspolitiker der Union so.
Nun möchte ich drei konservative Thesen aufstellen.
Wissen Sie: Ich bin ja nicht konservativ. Aber ich bin ein
Logiker. Ich finde, selbst konservative Thesen müssten
in sich logisch sein.
Ihre erste These lautet: Die Deutschen haben zu wenige Kinder. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber eines
weiß ich: Sie haben es nicht handwerklich verlernt.
({7})
Das heißt, Sie von der Union müssten einmal über die
Gründe nachdenken.
Ihre zweite These lautet: Wir brauchen einen flexiblen Arbeitsmarkt. Das heißt, die Lehrerin und der Architekt müssen immer dorthin gehen, wo sie gerade gebraucht werden. Sie wohnen also einmal in Thüringen;
wenn sie einen Job in Bayern kriegen, gehen sie nach
Bayern; dann gehen sie nach Schleswig-Holstein, und
dann gehen sie nach Berlin. Sie müssen immer ganz flexibel sein und umziehen.
Jetzt füge ich Ihre beiden Thesen zusammen: Dieses
Paar hat drei Kinder und soll ständig umziehen, weil
beide am Arbeitsmarkt flexibel sein sollen. Erklären Sie
mir doch einmal, wie Ihre dritte These dazu passt: dass
wir Wettbewerb brauchen und deshalb, weil wir
16 Bundesländer haben, 16 verschiedene Schulsysteme
haben. Das heißt, dass sich diese Eltern, die Sie gerade
überall herumschicken, gegenüber ihren Kindern völlig
verantwortungslos verhalten müssen. Bringen Sie doch
wenigstens eine Logik in Ihre Politik! Dann müssten
auch Sie sagen: Das mit den 16 Schulsystemen läuft
nicht.
({8})
Jetzt will ich es konkret machen: Nehmen wir einmal
an, ein Kind aus Bayern beginnt gerade mit der sechsten
Klasse und zieht nach Berlin um.
({9})
Dieses Kind war schon im Gymnasium und muss in Berlin wieder in die Grundschule gehen - leicht abenteuerlich.
({10})
Aber - passen Sie auf! - der umgekehrte Fall ist noch
schlimmer: Ein Kind aus Berlin zieht zu Beginn der
sechsten Klasse nach Bayern, kommt dort auf ein Gymnasium und hat im Vergleich mit den anderen Kindern
zunächst gar keine Chance, weil die das Gymnasium
schon ein Jahr lang kennengelernt haben, das Kind aus
Berlin aber aus der Grundschule kommt.
({11})
Jetzt komme ich zum zweiten Beispiel - da sehen Sie
nicht so gut aus -: Ein Kind - sagen wir einmal, es ist in
der neunten Klasse - zieht von Bayern nach SachsenAnhalt. Dieses Kind aus Bayern ist fremdsprachlich etwas besser ausgebildet. Aber es hat ein Problem: Es
hatte noch nie Chemieunterricht; der beginnt in Bayern
erst in der neunten Klasse. In Sachsen-Anhalt hatten
aber alle Kinder schon seit der siebten Klasse, seit zwei
Jahren, Chemieunterricht. Das heißt, dieses arme Kind
aus Bayern hat wegen Ihres komischen flexiblen Arbeitsmarktes überhaupt keine Chance.
({12})
Sagen Sie mal: Was soll dieser ganze Unsinn?
({13})
Warum sind wir denn nicht in der Lage, ein Top-Bildungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern
zu schaffen, sodass man umziehen kann, ohne sich gegenüber seinen Kindern verantwortungslos zu benehmen?
({14})
Jetzt gibt es noch eine neue Perversion - das alles
muss man den Leuten erzählen -: private Agenturen, die
Umziehende bei der Wahl der richtigen Schule unterstützen.
({15})
Ich bitte Sie! Wo soll denn das alles enden?
({16})
Jetzt kommt eines hinzu: Unsere 16 Bundesländer
sind unterschiedlich finanzstark. Wenn Sie sagen, es sei
reine Ländersache, dann sagen Sie ja, man könne Glück
oder Pech haben. In einem reicheren Bundesland gibt es
vielleicht mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter,
mehr Lehrerinnen und mehr Lehrer, und in einem ärmeren weniger. Interessant ist, dass es so direkt nicht funktioniert. Berlin ist vieles,
({17})
aber sehr arm im Vergleich zu Bayern. Bayern ist auch
vieles, aber vor allen Dingen deutlich reicher. Trotzdem
wird in Berlin pro Kind für Bildung mehr ausgegeben als
in Bayern. Darüber sollten Sie bei der CSU einmal nachdenken.
({18})
- Passen Sie auf! Ich liebe Bayern: schöne Landschaft,
schöne Städte. Ich mag auch München. Aber eine Metropole kennen Sie nicht. Das können Sie nur in Berlin kennenlernen; das ist noch etwas anderes.
({19})
Das heißt übrigens, dass es bei den Ländern doch
mehr um die Einstellung der Landesregierung zu Bildungsfragen als ums Geld geht, wobei das Geld natürlich auch eine Rolle spielt, Herr Matschie. Die Grundgesetzänderung gab es nur mithilfe der SPD.
Dann haben Sie die Schuldenbremse beklagt. Die
steht im Grundgesetz. Ohne die Stimmen der SPD gäbe
es sie gar nicht; ich muss das einmal ganz klar sagen.
({20})
So, und jetzt, Herr Matschie, werfen Sie es der Frau
Bundesministerin vor und sagen, sie solle das Geld an
die Schulen schaffen und solle dort Sozialarbeiterinnen
und Sozialarbeiter beschäftigen. Ja, toll! Das würde ich
auch sagen.
({21})
Aber das Grundgesetz erlaubt das wegen der Änderung,
die Sie katastrophalerweise mitgemacht haben, nicht
mehr.
({22})
- Ich wollte ja, dass Sie sich aufregen. Dass mir das immer wieder gelingt, darauf bin ich schon ein bisschen
stolz.
({23})
Aber nun zu den Hauptschulen. Ich sage Ihnen: Die
Hauptschulen sind ein einziger sozialer Skandal. Ein
Kind, das zur Hauptschule geht, ist schon sozial ausgegrenzt. Es wird abgeschrieben. Weil der Druck so zunimmt, entscheiden sich jetzt fast alle Bundesländer,
Hauptschulen und Realschulen zusammenzulegen. Ich
sage Ihnen erst einmal, was dabei herauskommt; nur
Beispiele. Wie heißt diese zusammengelegte Haupt- und
Realschule in Deutschland, in den einzelnen Bundesländern? Sekundarschule oder Mittelschule oder Oberschule oder Regelschule oder verbundene Haupt- und
Realschule
({24})
oder erweiterte Realschule oder Stadtteilschule oder Regionalschule oder Realschule Plus oder Mittelstufenschule? Erklären Sie den Leuten diesen Schwachsinn
einmal! Die wissen ja gar nicht, wohin sie ihre Kinder
schicken sollen.
({25})
- Ja, das sage ich Ihnen gleich; das kann ich Ihnen gleich
sagen. Zu meinen Konsequenzen komme ich noch.
Die Hauptschülerinnen und Hauptschüler haben es
bei der Zusammenlegung aber nicht leichter, weil sie in
eine Hauptschulklasse kommen und damit genauso ausgegrenzt und abgegrenzt bleiben wie früher.
In Sachsen-Anhalt regieren übrigens Union und SPD.
Erstmalig in diesem Jahr ist es dort so, dass die Zahl der
Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss
oder nur mit Hauptschulabschluss größer ist als die Zahl
derjenigen, die mit Abitur abgehen. Das ist neu. Deshalb
sage ich Ihnen: Es wird in Sachsen-Anhalt höchste Zeit,
dass die LINKE regiert.
({26})
- Ich wusste, dass Sie sich darüber freuen.
In Bayern und in Baden-Württemberg ist das aber
nicht neu. In Bayern und Baden-Württemberg ist das seit
Jahren so. Jetzt sage ich Ihnen nur die Zahl für Bayern
von 2009: Mit Hauptschulabschluss bzw. ohne jeden
Abschluss verließen 44 552 Schülerinnen und Schüler
die Schule und mit Hochschulreife - einschließlich
Fachhochschulreife - nur 33 188. Auch das ist ein Skandal. Es ist der Beginn und die Fortsetzung der sozialen
Ausgrenzung.
({27})
Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Zeit jetzt weit
überschritten.
({0})
Gut, dann sage ich Ihnen als Letztes, was wir brauchen.
Noch einen Satz.
Ein letzter Satz: Wir brauchen bildungsträchtige Kitas, eine Förderung jedes Kindes und Jugendlichen. Wir
brauchen Gemeinschaftsschulen, wie es sie schon in großer Zahl in Berlin gibt.
({0})
Es ist gut, Herr Gysi.
Bringen Sie auch den Kindern aus reichen Familien
das soziale Leben bei! Isolieren Sie sie nicht, wie Sie das
organisieren.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Priska Hinz von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Dass ich das einmal von der Seite höre,
Priska Hinz ({0})
({1})
finde ich irgendwie amüsant. Herzlichen Dank.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Gysi, Sie können, wortreich geschickt und rhetorisch gut, am Redepult ja immer Ungereimtheiten aufzeigen, aber leider sind Ihre Vorschläge ganz zum
Schluss dann gemessen daran doch etwas sehr schwach.
({2})
Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie hier ein paar
mehr und besser fundierte Vorschläge machen.
({3})
Frau Schavan, durch den Bericht werden Verbesserungen aufgezeigt, die es im Bildungswesen gegeben
hat; das ist richtig. In dem Bildungsbericht wird aber
nach wie vor auch aufgezeigt - ich finde, darum sollten
wir uns insbesondere kümmern -, wo in Deutschland
Bildungsungerechtigkeiten bestehen und wo Kinder von
der Teilhabe ausgegrenzt sind. Vor allen Dingen wird
aufgezeigt, dass es auch aufgrund der demografischen
Entwicklung nottut, alle Anstrengungen für Qualifizierung zu unternehmen, und zwar in Bezug auf die gesamte Bildungsbiografie, weil wir auf einen Fachkräftemangel zusteuern. Das ist wirklich das Gebot der
Stunde: Qualifizierung von der Kita bis zur Weiterbildung.
({4})
Ich möchte hier kurz eine aktuelle Debatte aufgreifen,
weil Sie darauf eingegangen sind, Frau Ministerin, nämlich auf das Bildungspaket, über das jetzt gerade im
Zuge der Hartz-IV-Reform verhandelt wird. Die Union
hat das alles damals im Vermittlungsausschuss übrigens
mit ausgehandelt und im Bundesrat mit beschlossen.
Deswegen müssen Sie sich hier nicht so aufplacken.
Viel wichtiger ist aber der Vorschlag, der jetzt von der
Sozialministerin gemacht worden ist. Sie hat nicht nur
einfach die Bildungschipkarte vorgeschlagen, sondern
sie hat schlicht und einfach gedacht und gesagt: 10 Euro
pro Kind für die Vereinstätigkeiten reichen aus. - Für individuelle Förderung und für Bildungsteilhabe reicht das
aber nicht aus. Es ist notwendig, zu verhandeln, damit
mehr Angebote schulnah gemacht werden können, sodass wir zu Bildungspartnerschaften zwischen den Kommunen, der Jugendhilfe und den Schulen kommen, damit
die Kinder tatsächlich individuell gefördert werden können.
({5})
Hier brauchen wir noch Bewegung; hier müssen Sie
noch etwas dazutun.
Gemäß dem Bildungsbericht befindet sich ein Drittel
der Kinder noch in Risikolagen. Das ist das große Problem der mangelnden Teilhabe. Wir brauchen hier bessere Kitas, eine gute frühe Förderung und bessere und
noch mehr Ganztagsschulen.
Frau Ministerin, Sie sagen, 52 Prozent der Schulen
seien Ganztagsschulen. 52 Prozent der Schulen haben
Angebote im Ganztagsbetrieb, aber das sind noch keine
Ganztagsschulen in dem Sinne, dass die Vormittage und
Nachmittage verbunden sind und eine echte Lernförderung stattfindet. Hier besteht noch Nachholbedarf. Das
wird aber nur funktionieren, wenn wir es schaffen, dass
Bund und Länder die Finanzierung gemeinsam stemmen.
In diesem Sinne habe ich mich heute Morgen darüber
gefreut - gestern schon, aber heute Morgen war es öffentlich -, dass Herr Rupprecht im Deutschlandfunk erzählt hat, dass die CDU/CSU jetzt auch dafür ist, das
Kooperationsverbot zu lockern. Wunderbar!
({6})
Es ist natürlich falsch, dass die Bildungspolitikerinnen
und Bildungspolitiker schon immer gegen das Kooperationsverbot waren. Richtig ist aber - deswegen bin ich
nicht nachtragend -,
({7})
dass es gelockert werden muss. Insofern sollten wir jetzt,
da alle Fraktionen im Bundestag dieser Meinung sind,
doch gemeinsam an die Arbeit gehen.
({8})
Lieber Herr Bildungsminister aus Thüringen, Sie sollten dafür sorgen, dass die SPD-Ministerpräsidenten endlich auch verstehen,
({9})
dass man zu einer gemeinsamen Förderung nur kommen
kann, wenn man das Grundgesetz in diesem Punkt auch
gemeinsam wieder ändert. Das ist Ihre Aufgabe. Dazu
haben Sie hier heute leider nichts gesagt.
({10})
Meine Damen und Herren, wir verschenken Bildungspotenziale bei Migranten in höchstem Maße.
31 Prozent der jungen Menschen mit anderer Herkunft
zwischen 20 und 30 Jahren haben keinen beruflichen
Abschluss. 31 Prozent der 20- bis 30-Jährigen! Das ist
eigentlich ein Skandal für diese Bildungsrepublik.
({11})
Herr Rupprecht, das hat nichts mit Multikulti zu tun.
({12})
Priska Hinz ({13})
Es hat vielmehr etwas damit zu tun, dass wir geringqualifizierte Menschen ins Land geholt haben und dass es
viele Jahre eine Familienideologie gab, die davon ausgegangen ist, dass zum einen die Familien irgendwann
wieder in ihre Heimat zurückkehren und Bildung insofern nicht so wichtig ist und dass zum anderen die Kinder nicht den Familien entfremdet werden sollen.
({14})
Sie haben sich noch bis ins Jahr 2000 hinein gegen
Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen gesträubt.
Es ist wichtig, dass wir gute Bildungsangebote starten, und zwar von der frühkindlichen Bildung über die
Schule bis zu Ausbildungs- und Weiterbildungsmodulen,
mit denen wir jungen Menschen eine zweite Chance bieten, sich zu qualifizieren und am Erwerbsleben teilhaben
zu können.
({15})
Wir verschenken Bildungspotenzial bei Menschen
mit ausländischen Bildungsabschlüssen. Die Ministerin
tourt seit eineinhalb Jahren durch die Bundesrepublik
und kündigt ein Gesetz an, durch das alles besser werden
soll. Inzwischen machen Sie Gott sei Dank keine Versprechungen mehr in der Frage, wann der Gesetzentwurf
endlich vorgelegt wird. Denn bisher haben Sie jeden Termin platzen lassen und jedes Versprechen gebrochen.
Wir verschenken aber nicht nur Zeit, sondern auch
Bildungspotenzial von Menschen, die qualifiziert sind
und gerne hier in ihrem Beruf arbeiten wollen. Es tut
dringend not, dass Sie endlich zu Potte kommen und uns
einen Gesetzentwurf präsentieren, damit die Qualifikation dieser Menschen endlich anerkannt wird.
({16})
Es gibt aber auch ein Problem bei Jungen und jungen
Männern, die zum Teil nicht in dem Maße an der Bildungsexpansion der letzten Jahre teilgehabt haben wie
die jungen Frauen. Mädchen sind gut in der Schule;
Frauen sind in der Ausbildung oder im Studium gut.
Junge Männer sind in höherem Maße unterqualifiziert
und ohne beruflichen Abschluss. Ich glaube, dass hier
zielgruppenspezifische Angebote notwendig sind und
dass wir auch einen Gender-Blick auf die Schule richten
müssen.
({17})
Wir müssen aber nicht nur für die Jungen im Bildungsbereich etwas tun, sondern wir müssen auch etwas
für die jungen Frauen tun, die gut ausgebildet in den Beruf kommen und dann entweder an die gläserne Decke
stoßen, weil sie nicht ihrer Qualifikation entsprechend
eingesetzt werden, oder nicht weiter arbeiten können,
weil es an den Rahmenbedingungen - Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen - fehlt.
Die Familien- und Frauenministerin sagt, dass sie mit
Feminismus nichts am Hut hat. Das mag zwar ihre persönliche Meinung sein, aber es ist ihre Aufgabe, sich für
die Gleichberechtigung von Frauen einzusetzen. Diese
Aufgabe hat sie bislang sträflich vernachlässigt.
({18})
Herr Präsident, ich sehe das Signal. Ich komme zum
Schluss. Schade, ich hätte noch einige gute Vorschläge
zu machen.
Ich hoffe, dass wir den Bildungsbericht nicht nur einmal im Ausschuss behandeln, sondern auch, wie in den
Vorjahren, eine Anhörung dazu durchführen. Er ist es allemal wert, dass wir ihn uns zu Gemüte führen und uns
mit der Frage befassen, welche politischen Handlungsmöglichkeiten wir aufgrund dieses Berichtes haben und
wo wir bei entsprechenden Vorschlägen zusammenkommen können.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die Ministerin hat in ihrer Rede deutlich gemacht, dass es nach zehn Jahren Bildungsreform an der
Zeit ist, Bilanz zu ziehen. Der Dank an die Bildungsbeteiligten - Lehrer, Erzieher und andere, die in der Bildung aktiv sind - ist richtig; das muss unterstrichen werden. Es ist aber für uns im Bundestag auch an der Zeit,
nach fünf Jahren Amtszeit der Bildungsministerin
Schavan Bilanz zu ziehen. Es ist eine gute Bilanz mit
großen Erfolgen auch im Bildungsbereich.
({0})
Als junge Väter - es gibt einige jüngere Väter unter
uns - mussten wir ein bisschen lächeln, als Herr Gysi
das Thema Handwerk mit dem Kinderkriegen kombiniert hat. Auch im Bildungsbereich kann man sagen: Es
gibt ein Handwerk guter Bildungspolitik. Großes Mundwerk - gutes Handwerk: Das unterscheidet uns seit Jahren in der Bildungspolitik. Die Ergebnisse sind auch angekommen.
({1})
Es geht nicht nur um den Bildungsbericht, über den
wir heute debattieren. Man kann auch auf die PISA-Ergebnisse verweisen oder den Berufsbildungsbericht mit
heranziehen. Wenn man sich das Gesamtkonstrukt anschaut und sich fragt, was passiert ist, dann muss man
sagen: Seit 2005 haben wir eine sukzessive, deutlich
positive Entwicklung hin zu einer Bildungsrepublik.
Marcus Weinberg ({2})
Wenn man sich die Leitlinien der verschiedenen Fraktionen hier im Hause anschaut - da wird es doch etwas
politisch -, dann muss man feststellen, dass es deutliche
Unterschiede gibt.
({3})
Für uns gilt: Mit den Maßnahmen, die wir ergriffen haben, wollen wir eine Aufstiegsgesellschaft entwickeln,
in der Chancengerechtigkeit mit Leistung kombiniert
wird. Das ist der Unterschied zu Ihrem Bild von Bildung, Herr Gysi. Sie verfechten den Gleichheitsansatz,
Sie wollen Gleichmacherei; wir aber wollen Chancengerechtigkeit und Leistung. Das unterscheidet unsere Leitlinien im Wesentlichen voneinander. Darin besteht die
Abgrenzung zu Ihnen.
({4})
Auch wir sind für Teilhabe und für Anerkennung. Die
Kollegin Hinz, mit der ich bald wieder befreundet sein
werde,
({5})
sprach vorhin vom Anerkennungsgesetz. Ja, auch wir
warten darauf. Im März möchten wir etwas sehen. In der
Hinsicht sind wir durchaus einer Meinung. Wir wollen
auch - Herr Meinhardt hat das angesprochen -, dass die
Vielfalt im Bildungssystem gestärkt wird und nicht die
Gleichmacherei, wie andere das wollen.
Wenn man das möchte und diesen Weg beschreitet,
muss man zunächst einmal die finanziellen Mittel zur
Verfügung stellen. Ich weiß, dass Sie es nicht mehr hören können, ich sage es aber trotzdem noch einmal:
12 Milliarden Euro zusätzlich werden bereitgestellt, im
Etat 2011 11,65 Milliarden Euro für den Bereich Bildung. Verzeihung, liebe Opposition: Das sind 54 Prozent
mehr als unter der letzten rot-grünen Regierung. Das ist
ein deutlicher Unterschied. Hierauf haben wir die Priorität gesetzt.
({6})
Schauen wir uns an, wie sich das Konzept von Chancengerechtigkeit und Leistung in der Politik der Bundesregierung konkretisiert! Bei der Vergabe der Bundesmittel werden insbesondere im Hochschulbereich diese
beiden Ziele verfolgt. Ich nenne die BAföG-Erhöhung
und den Hochschulpakt mit den Ländern. Damit wird in
Kooperation mit den Ländern mehr jungen Menschen
die Chance gegeben, zu studieren.
({7})
Auch wurde ein nationales Stipendienprogramm aufgelegt, um deutlich zu signalisieren, dass der Leistungsgedanke bei uns einen hohen Stellenwert hat. Das sind die
Maßnahmen.
Jetzt kommen wir zum Ergebnis. Die Wirkung der
Maßnahmen war, dass die Studienanfängerquote 2009
43 Prozent betrug.
({8})
Damit haben wir die Ziele deutlich übertroffen. Jetzt,
nach fünf Jahren, kann man sagen: Frau Ministerin
Schavan, darauf können wir aufbauen.
({9})
Richtig ist aber auch, dass wir im Bildungsbereich
- auch das zeigt der Bildungsbericht - weiterhin vor großen Herausforderungen stehen. Bleiben wir bei den Herausforderungen - da sind wir in diesem Hause weitestgehend einer Meinung -: Ein großes Problem ist, dass
jedes dritte Kind unter 18 Jahren in einer Risikofamilie
lebt und wir den Bildungserfolg noch nicht vom sozialen
Status der Familie lösen konnten. Trotzdem sei eine Zahl
genannt - ich beziehe mich auf PISA -: Es geht um
Leistungsunterschiede im Lesen zwischen guten und
schwachen Schülern. Wir haben es geschafft, die Zahl
der schwachen Schüler von 22,6 Prozent auf 18,5 Prozent zu reduzieren. Das sind nach wie vor zu viele, aber
die Reformen wirken allmählich. Das spricht für eine
Verbesserung im Bildungssystem. Oder schauen Sie sich
die Naturwissenschaften an! Der Anteil der Schüler mit
geringen Kompetenzen in den Naturwissenschaften - ich
beziehe mich wiederum auf die PISA-Studie - hat sich
auf 14,8 Prozent reduziert. Der OECD-Durchschnitt
liegt bei 18 Prozent.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, betreffen insbesondere die soziale Herkunft und den Migrationshintergrund. Herr Gysi fragte, was wir denn machen. Wir machen zwei Dinge: Wir fördern zielgenauer
und früher. Es geht um den Ausbau im Bereich der Kindertagesbetreuung. Man sollte sich die Zahlen einmal
anschauen und diese dann bewerten, Herr Gysi. Wir als
Bund geben 4 Milliarden Euro dafür aus. Schauen Sie
sich den Bildungsbericht an! Die Bildungsbeteiligung
der unter Dreijährigen ist um 7 Prozent gestiegen, bei
den Zweijährigen hat sich die Bildungsbeteiligung von
17 Prozent auf 30 Prozent deutlich erhöht. Mittlerweile
sind 95 Prozent der Vier- und Fünfjährigen in der Bildungseinrichtung Kita.
({10})
Und wenn man dann als Minister hier ankommt und
nur die Folie aufzieht: „Wir brauchen mehr Geld; der
Bund muss uns Geld geben, sonst schaffen wir das alles
nicht“, dann muss ich sagen: Man muss auch seine eigene Verantwortung wahrnehmen. Ich kann für mein
Bundesland sagen: Wir haben damals den Etat im Bereich der Kindertagesbetreuung von 300 Millionen Euro
auf über 460 Millionen Euro erhöht. Damit haben wir einen Schwerpunkt gesetzt. Für solche Maßnahmen hat
ein Minister - in diesem Falle ein Senator - die Verantwortung.
({11})
Wir im Bund haben die Länder bei der frühen Förderung
unterstützt. Wir erwarten von den Ländern aber auch,
dass sie die Maßnahmen umsetzen. Es geht nicht, dass
Marcus Weinberg ({12})
sie das Geld nehmen und gleich neue Forderungen stellen.
({13})
Ein nächster Schritt wird sein - das gilt gerade für den
Bereich der frühen Förderung -, von der Quantität zur
Qualität zu kommen. Von der Ministerin wurde bereits
das „Haus der kleinen Forscher“ angesprochen. Die Medienkompetenz wird gestärkt. Ich erinnere daran, dass
400 Millionen Euro über vier Jahre hinweg in die frühkindliche Sprachförderung investiert werden. Das heißt,
auch hier hat der Bund Akzente gesetzt, früher und zielgenauer zu fördern.
Wir wollen mehr Männer in den Kitas und möchten,
dass die Tagespflege qualitativ ausgebaut wird. Um dies
zu erreichen, haben wir mit dem Aktionsprogramm
„Kindertagespflege“ und dem Programm „Mehr Männer
in Kitas“ bedarfsorientiert und zielgenauer gehandelt.
Auch zu dem großen und umfangreichen Bereich des
Ausbildungsmarktes könnte man noch Stellung nehmen.
Die Verlängerung des Ausbildungspaktes, in den wir das
Thema Migration aufgenommen haben, zeigt, dass wir
die Probleme und Herausforderungen erkannt haben und
dass wir sie sukzessive lösen bzw. dass wir uns ihnen
stellen.
Bleibt als Fazit - Herr Präsident, ich komme zum
Schluss -: Dieser Bildungsbericht dokumentiert stärker
als alle anderen Bildungsberichte, dass wir in der Bundesrepublik in der Bildung insgesamt vorangekommen
sind. Da haben auch die Länder gut gearbeitet. Er dokumentiert aber eines insbesondere, nämlich dass wir in
den letzten fünf Jahren auf Bundesebene neue Impulse
hin zu einer Aufstiegsgesellschaft erlebt haben. Die
Bundesregierung wird diesen Weg weitergehen, allerdings nicht im Sinne der Opposition, sondern im Sinne
der jungen Menschen. Ihnen müssen wir über Leistungsund Chancengerechtigkeit eine Chance geben. Diesen
Weg werden wir weitergehen.
Herzlichen Dank.
({14})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dr. Rosemarie Hein von der Fraktion Die
Linke.
Herr Weinberg, Sie haben gerade die Leistungsgerechtigkeit angesprochen und uns vorgeworfen, wir seien für
Gleichmacherei. Nun muss ich Ihnen aber sagen: Das
Schulsystem, das Sie präferieren, bietet weder Leistungsgerechtigkeit, noch ist es chancengerecht; es ist nicht einmal chancengerecht und chancengleich schon gar nicht.
Wenn nämlich ein Viertel der Hauptschülerinnen und
Hauptschüler und ein Viertel der Realschülerinnen und
Realschüler genauso gut auf der jeweils höheren Schulform sein könnte, wie die PISA-Studie dies nachweist,
dann hat das mit Leistungsgerechtigkeit überhaupt nichts
zu tun. Wenn man aber in einer Gemeinschaftsschule, wo
man nach der vierten Klasse nicht aussortiert und entscheidet, wen man hierhin oder dorthin verortet, eine
wirklich individuelle Förderung einführt, dann ist das
keine Gleichmacherei, sondern ein ganz individuelles
Eingehen auf die unterschiedlichen Fähigkeiten und
Möglichkeiten jedes einzelnen Kindes. Das ist viel weniger Gleichmacherei als das, was Sie mit Ihren drei Schulformen machen.
Was die frühe Förderung und Ihren Vorschlag betrifft,
man müsse jetzt von der Quantität zur Qualität kommen
- einmal abgesehen davon, dass uns auch bei der Quantität noch ein ganzes Stück fehlt -, gebe ich Ihnen selbstverständlich recht. Aber das werden Sie nicht mit
Sprachförderungsprogrammen hinbekommen, sondern
das bekämen Sie nur mit mehr besser ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern hin. Zwar hat die CDU/CSU
im letzten Haushalt ein Programm für mehr Erzieher in
Kindertagesstätten aufgelegt, aber unseren Vorschlag,
das auch für Erzieherinnen zu tun, haben Sie gestern im
Ausschuss abgelehnt. Da frage ich Sie schon, wie Sie
das mit der Qualität meinen.
({0})
Herr Kollege Weinberg, zur Erwiderung.
Als Hamburger - dort wollten wir einmal eine Schulform mit einer sechsjährigen gemeinsamen Schule auf
den Weg bringen - kann ich nur Folgendes sagen: Hinsichtlich der Einheitsschule muss man die Frage stellen,
wie man im Bildungsbereich mit Heterogenität in der Gesellschaft, mit Migration und mit immer weiter auseinanderklaffenden Bildungsbiografien umgeht. Da ist der Ansatz falsch, zwanghaft zu sagen, alle Kinder müssten in
einer Einheitsschule unterrichtet werden. Vielmehr muss
man sie individueller fördern. Da stimme ich Ihnen zu; da
sind wir gar nicht weit auseinander.
({0})
Dann entwickeln sich doch Schulsysteme.
({1})
Als Hamburger kann ich sagen: Wir haben noch eine
Zweigliedrigkeit. Wir haben eine sogenannte Stadtteilschule - Herr Gysi hat es dankenswerterweise vorgelesen -, und wir haben auch das Gymnasium. Es gelingt
uns bestens, die Heterogenität der Gesellschaft genau in
diesen Schulformen widerzuspiegeln, auch bei der Frage
von Talenten und Begabungen. Deswegen muss man
aber nicht zwanghaft Einheitsschulen entwickeln, nur
weil man das Motto hat: Ich will Gleichheit schaffen, wo
keine Gleichheit ist.
({2})
Wir sprachen von Chancengerechtigkeit. Die Grundlage für Chancengerechtigkeit wird im frühkindlichen
Bereich geschaffen. Da muss man mehr investieren, und
da braucht man auch mehr Qualität. Zwar ist auch mehr
Quantität erforderlich, aber im frühkindlichen Bereich
Marcus Weinberg ({3})
braucht man in den nächsten Jahren zunächst einmal
mehr Qualität, um später Chancengerechtigkeit zu ermöglichen.
Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher haben
Sie selbst angesprochen. Die Bundesregierung hat
Programme aufgelegt, um auch die Länder dabei zu
unterstützen, so beispielsweise das Aktionsprogramm
„Kindertagespflege“, dessen eine Säule sich auf die Qualifizierung in der Kindertagespflege bezieht.
Wir alle haben im Ausschuss eines gesagt: Wir diskutieren gerne darüber, wie wir den Ländern finanzielle
Mittel bereitstellen und wie wir sie mit Kooperationen
unterstützen können. - Das alles ist richtig. Aber eines
muss man auch sagen: Die Länder haben weiterhin die
Verantwortung. Alle Fraktionen - außer Ihrer Fraktion haben das hinsichtlich Ihres Antrags auch kritisch bemerkt. Wir wollen, dass die Länder sich an diesem Punkt
einbringen, dass sie Geld investieren. Wir, der Bund,
werden das Ganze weiterhin begleiten und zielgenau fördern; aber wir sind nicht diejenigen, die kompensatorisch Aufgaben der Länder übernehmen können.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat, der
Bildungsbericht zeigt, dass wir wesentliche Verbesserungen im Bildungswesen erreicht haben; das muss man
als Allererstes positiv bemerken. Das ist zunächst das
Verdienst all derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die
sich im Bildungswesen engagieren,
({0})
in Kitas, in Schulen, in Hochschulen, bei der beruflichen
Ausbildung. Ihnen gebührt zuallererst unser Dank.
({1})
Der Bildungsbericht ist ein Stück weit eine politische
Bilanz, und zwar in erster Linie der Arbeit der Großen
Koalition; schließlich können die Daten, die in diesem
Bildungsbericht verarbeitet werden, so frisch, so aktuell
nicht sein. Darin zum Ausdruck kommen auch Weichenstellungen, die wir unter Rot-Grün vorgenommen haben.
Zu der Bilanz gehört das, was gut gelaufen ist, aber auch
das, was mit neuen Herausforderungen verbunden ist,
bzw. all die alten Probleme, die wir noch nicht ganz lösen konnten.
Die Debatte über einen solchen Bildungsbericht ist
der richtige Zeitpunkt, um Schritt für Schritt zu prüfen,
was die neue Regierungskoalition von CDU/CSU und
FDP tut, um den beschriebenen Herausforderungen gerecht zu werden. Das will ich einfach einmal systematisch tun.
Es wird der Bereich der frühkindlichen Bildung angesprochen. Der Bericht würdigt Verbesserungen. Diese
Verbesserungen haben wir unter Rot-Grün begonnen und
in der Großen Koalition fortgeführt. Dieser Bericht besagt - ich zitiere -:
Um das Ziel eines bundesdurchschnittlichen Platzangebots von 35 Prozent für unter 3-Jährige bis
2013 zu erreichen, sind allerdings noch erhebliche
Anstrengungen notwendig … Insgesamt müssen …
weitere Qualitätsverbesserungen der Kindertageseinrichtungen erreicht werden.
Wir haben entsprechende Konzepte. Wir wollen mehr
und verbesserte frühkindliche Bildung. Wir wollen zum
Beispiel eine gebührenfreie Kindertagesstätte, damit
keine Hürden aufgebaut werden. Was macht die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP? Fast nichts
über das hinaus, was wir in der Großen Koalition vereinbart haben. Das Einzige, worauf sie besonders Wert legt,
ist das berühmte Betreuungsgeld. Ich will noch einmal
sagen: Das ist wirklich Irrsinn.
({2})
Sie wollen Eltern dafür Geld geben, dass sie ihre Kinder
nicht in eine Bildungseinrichtung schicken. Das ist der
falsche Weg. Frau Schavan, Herr Kollege Weinberg,
wenn Sie sagen, wie wichtig die frühkindliche Bildung
ist, dann frage ich Sie: Warum schreiten Sie an dieser
Stelle nicht ein? Warum verfolgen Sie da keinen vernünftigen Kurs?
({3})
Stichwort „Schule“: Es gibt eindeutig Verbesserungen; das hat auch die PISA-Studie, die wir bereits debattiert haben, gezeigt. Wir haben unter Rot-Grün ein Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht, das erheblich
dazu beigetragen hat. Gleichwohl gibt es noch einiges zu
tun. Im Bildungsbericht heißt es:
Eine zentrale Herausforderung bleibt der nach wie
vor zu hohe Anteil an Schülerinnen und Schülern,
die ohne Abschluss die Schule verlassen.
Etwa ein Drittel der Kinder sind in sogenannten Risikolagen. Wir von der SPD wollen dahin kommen, dass
wirklich alle optimal gefördert werden.
({4})
Wir haben vorgeschlagen, dass es an allen Schulen
Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter geben
soll. Wir wollen hin in Richtung Ganztagsschulen.
Was macht diese Regierungskoalition? Sie verweigert
sich dem.
({5})
Wir sehen das jetzt gerade im Vermittlungsausschuss:
Die zuständige Ministerin von der Leyen blockiert
Swen Schulz ({6})
Schulsozialarbeit. Ich habe Sie, Frau Schavan, im letzten
Jahr im Ausschuss gefragt: Was ist mit dem Thema
Ganztagsschulen? Planen Sie da eine Initiative? Sie haben gesagt: Nichts gibt’s. - Das ist Arbeitsverweigerung.
Das kann so nicht bleiben.
({7})
Stichwort „berufliche Ausbildung“: Es gibt eine Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt. In diesem Bericht
heißt es zu Recht:
Die Verbesserung der Ausbildungsmarktsituation
gibt allerdings keinen Anlass zur Entwarnung.
Insofern haben politische Bemühungen um berufliche
Integration der Jugendlichen nichts an Aktualität eingebüßt. Wir von der SPD haben noch mit unserem damaligen Arbeitsminister Olaf Scholz die Förderung, die Unterstützung von Jugendlichen, die in Schwierigkeiten
sind, ausgeweitet. Wir haben ein Recht auf das Nachholen eines Schulabschlusses verankert. Was macht diese
Regierungskoalition? Sie streicht die Qualifizierungsmaßnahmen zusammen, und sie will das Recht auf
Nachholen eines Schulabschlusses kippen. Das ist der
falsche Weg. Das sind Rückschritte. So kommen wir in
der Bildungsrepublik Deutschland nicht voran.
({8})
Mein nächster Punkt - man kann das tatsächlich
Punkt für Punkt durchdeklinieren - ist die Hochschule.
Es gibt mehr Studierende. Das ist wunderbar. Wir haben
auch einiges dafür getan. Für die Ausweitung des
BAföG und den Hochschulpakt haben wir in der Großen
Koalition die Weichen entsprechend gestellt. Aber zu
Recht wird im Bildungsbericht darauf hingewiesen, dass
es eine soziale Selektivität beim Übergang in die Hochschule gibt.
Ein großer Teil der … Studienberechtigten, die sich
gegen ein Studium entscheiden, betont neben dem
Wunsch, möglichst bald selbst Geld zu verdienen,
vor allem Finanzierungsprobleme … Hier zeigt
sich, wie wichtig verlässliche Bedingungen der Studienfinanzierung sind.
Deswegen wollen wir das BAföG deutlich ausweiten.
({9})
Sie kleckern beim BAföG, klotzen aber bei den Stipendien, obwohl diese keine verlässlichen Rahmenbedingungen setzen.
({10})
Damit locken Sie niemanden, der finanzielle Schwierigkeiten hat, an die Hochschulen. Damit lösen Sie keine
Probleme.
In den letzten Jahren ist im Bildungsbereich tatsächlich eine ganze Menge erreicht worden. Doch anstatt daran anzuknüpfen, anstatt weiterzumachen, steuern CDU/
CSU und FDP zusehends in die falsche Richtung. Ich
will gar nicht sagen, dass alles schlecht ist, was Sie machen; das wäre übertrieben.
({11})
- Ja, ich möchte ganz fair Bilanz ziehen. Aber von dem
Richtigen machen Sie zu wenig, etwa beim BAföG, teilweise machen Sie nichts - Thema Schulsozialarbeit und
Ganztagsschule -, und leider machen Sie häufig das Falsche wie beim Betreuungsgeld und dem Streichen der
Mittel für das Projekt „Zweite Chance“.
Sie betonen, dass Sie eine Menge Geld im Etat zur
Verfügung haben. Aber dieses Geld muss auch richtig
ausgegeben werden.
Herr Schulz.
Wir fürchten, dass Sie das gute bildungspolitische
Erbe schlichtweg verschleudern.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Canel von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
schon erstaunlich, dass man heutzutage immer noch
denkt, dass man Schule ganz von oben, ganz zentral und
ganz allein regulieren kann. Ich denke, das ist effektiv
der falsche Weg. Im Moment haben wir 16 Bildungsmonarchien. Auch wenn wir eine einzige hätten - diesen
zentralen Ansatz hat Herr Gysi vorgestellt -: Ich kann
mir nicht vorstellen, dass ein solches Vorgehen wirklich
erfolgreich sein kann.
({0})
Der Nationale Bildungsbericht bringt ein bisschen
Licht, aber auch nicht mehr, in den Dschungel des deutschen Bildungssystems. Diese aktuelle Bestandsaufnahme zur Entwicklung des Bildungswesens macht
deutlich, vor welchen großen Herausforderungen wir angesichts des demografischen Wandels stehen. Bis 2025
wird sich die Zahl der Schüler um 15 Prozent verringern,
das heißt von 9 auf 7,3 Millionen fallen. In den Ballungsgebieten wird die Zahl vielleicht etwas steigen, in
den ländlichen Gebieten hingegen wird sie dramatisch
sinken.
Diese Entwicklung ist aber nicht nur in Deutschland
zu beobachten. Das Institut der deutschen Wirtschaft
schrieb in dieser Woche:
Zu den Megatrends, die für eine international stark
verflochtene Volkswirtschaft wie die deutsche merkliche ökonomische Auswirkungen haben, zählen
Wachstum und Alterung der Weltbevölkerung sowie die Urbanisierung.
Die Schlussfolgerung lautet dementsprechend:
Volkswirtschaften und Unternehmen, die sich rechtzeitig darauf einstellen, werden zu den Gewinnern
der Entwicklung gehören.
Ich möchte gerne, dass Deutschland zu den Gewinnern
gehört.
({1})
Wie stellen wir uns darauf ein? Der Nationale Bildungsbericht hat uns deutlich gezeigt, dass es positive
Ansätze gibt. Ich will sie nicht alle wiederholen, ich
habe auch nicht so viel Zeit. Es besteht jedoch deutlicher
Handlungsbedarf: Zwar haben wir auf der einen Seite
Fahrt aufgenommen und die Richtung stimmt, aber auf
der anderen Seite hat die Zahl der Ungelernten einen
neuen Höchststand erreicht. Das ist ein großes Problem.
Der Abstand zwischen denen, die bestehende Angebote
nicht annehmen und nicht erfolgreich nutzen können,
und den anderen, die Erfolg haben, wächst stetig, das
heißt, wir haben eine edukative Schere, die stetig auseinandergeht. Das können und das wollen wir uns in unserer Gesellschaft nicht leisten.
Der frühkindlichen Bildung kommt dabei eine ganz
besondere Rolle zu; denn die Potenziale aller Kinder
müssen genutzt werden, und jedes, absolut jedes Kind
hat ein Talent. Frühkindliche Bildung muss qualitativ
und quantitativ gestärkt werden. Hier liegt der Schlüssel.
Denn ob Sprache, Bewegung, Musik, Gestaltung oder
Erziehung: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans schwerer, länger und manchmal überhaupt nicht mehr.
Erfreulicherweise weist der Bildungsbericht für diesen Bereich eine starke Dynamik aus. Dennoch deckt
das Angebot nicht die Nachfrage. Die Qualität ist stark
zu verbessern. Außerdem erhöht sich das Alter der tätigen Fachkräfte weiter, während der Akademisierungsgrad leider gering bleibt. Der weitere Ausbau stellt daher
auch künftig eine der größten Herausforderungen für
diese Gesellschaft dar. Denn: Wir haben für alles Geld,
aber in der frühkindlichen Bildung kommt es komischerweise überhaupt nicht an.
({2})
Wer es mit der Chancengerechtigkeit, der Emanzipation und der Wissensgesellschaft ernst meint, kommt
nicht umhin, die frühkindliche Bildung zu professionalisieren und endlich zu einem exzellenten Bildungsangebot auszubauen.
Meine Damen und Herren, das Kooperationsverbot
hat eine ganz komische Attitüde. Kooperationsverbot
heißt nicht, dass die Länder untereinander nicht kooperieren dürfen und zu Gemeinsamkeiten kommen können.
({3})
So hat es 60 Jahre gedauert, gemeinsame Bildungsstandards in der KMK zu entwickeln. Mit dieser Geschwindigkeit können wir nicht erfolgreich sein.
({4})
Deshalb müssen wir in der Zukunft - meines Erachtens
sollten wir in die Zukunft schauen, anstatt uns gegenseitig
vorzuwerfen, was in der Vergangenheit versäumt worden
ist - eine bessere Kooperation ermöglichen. Wir sollten
Verbote aufheben und diese Kooperation nutzen, um einen gemeinsamen nationalen Rahmen in Bezug auf die
Bewertungsmaßstäbe, die Abschlussziele und die Bildungsstandards, die wir von den Schulen und allen anderen Akteuren verlangen, zu entwickeln.
({5})
Frau Canel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Sitte?
Ja, später; danach.
Nein, später ist das nicht mehr möglich, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist. Entweder jetzt oder gar nicht!
Na gut; wenn Frau Sitte das möchte, dann gerne.
({0})
Frau Canel, das ist nur ein Anfang, aber noch nicht
die Lösung. Sie haben jetzt über das Kooperationsverbot
und dessen Grenzen gesprochen. Ich hatte heute Morgen
das Vergnügen, Herrn Rupprecht, den bildungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, zum Thema
Kooperationsverbot zu hören. Er meinte, das Kooperationsverbot habe sich nicht bewährt. Jetzt sprechen Sie
die gleiche Problematik an. Kann ich also davon ausgehen, dass in dieser Wahlperiode von der Koalition das
Kooperationsverbot gemeinsam mit den anderen Fraktionen hier aufgehoben wird?
({0})
Ich denke, dass das einer Debatte in diesem Hause bedarf.
({0})
Ich stehe hier in erster Linie für mich sowie meine AG
Bildung und sage das, was ich als unabhängige Abgeordnete hier auch sagen darf.
({1})
- Ja, gerne. - Für vernünftige Lösungen erwarten wir natürlich auch Ihre Unterstützung.
({2})
Dann kommen Sie bitte auch zum Schluss, Frau
Canel.
Es ist sehr erfreulich, dass wir in diesem Punkt zueinanderkommen. Es darf kooperiert werden. Die Hoheitsrechte der Länder für die Bildung dürfen selbstverständlich nicht angetastet werden, weil wir die Länder
brauchen, um eine gute Qualität sicherzustellen und bildungsnah dort an den Problemen ansetzen zu können,
wo sie wirklich anfangen.
Außerdem ist - das haben wir im OECD-Bildungsbericht gelesen - ganz dringend eine Eigenständigkeit der
Schulen erforderlich.
Vielen Dank. Bis zum nächsten Mal!
({0})
Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
bildungspolitische Eifer der unterschiedlichen Bundesländer hat wahrscheinlich eine Ursache. Die Bildung ist
nämlich das letzte - und wichtigste - Feld, das den Ländern überhaupt geblieben ist.
Natürlich führt das zu einigen Blüten. Schauen wir
einmal in mein Bundesland.
({0})
In Rheinland-Pfalz geht es ständig um Strukturdebatten.
Eine Strukturreform wird von der nächsten gejagt. Beispielsweise wird die Hauptschule abgeschafft. Dabei
führt man aber keine besseren Strukturen ein. Vielmehr
macht man aus der Hauptschule die Realschule plus. Die
Klassenmesszahl erhöht sich. Es gibt nicht genügend Sozialarbeiter und keine Aufstockung. Das ist die Problematik, mit der wir es zu tun haben.
Ich komme auf ein Thema zurück, das schon angesprochen wurde. Wenn es um Bildungsinhalte geht,
muss man sich um das kümmern, was wirklich wichtig
ist.
({1})
Unsere Chance liegt darin, dass wir gemeinsam das aufgreifen, was Ministerin Schavan vorgeschlagen hat,
nämlich Deutschland Schritt für Schritt - also nicht von
heute auf morgen - zu einem Bildungsland zu machen,
wo der Umzug in ein anderes Bundesland nicht die Wirkung hat, als würde man den Kontinent verlassen.
({2})
Das ist eine große Chance. Die einzelnen Länder müssen
natürlich darauf achten, dass sie zunächst einmal ihre eigenen Hausaufgaben machen. Bevor also die SPD-Länder fordern, dass der Bund einheitliche Standards vorgeben soll, sollten sie zunächst ihre Hausaufgaben machen.
({3})
Ich schaue wieder nach Rheinland-Pfalz. Die Landesregierung weigert sich als Einzige, vergleichbare einheitliche Abschlüsse anzubieten
({4})
und sich gegenüber Anliegen der Arbeitgeber offen zu
zeigen. Für die Arbeitgeber gleicht es nämlich manchmal einem Lotteriespiel, sich auf die vermeintliche Qualifikation des Absolventen zu verlassen. Sie wissen
nicht, ob das Wissen, das mit dem Abschluss bescheinigt
wird, auch tatsächlich vorhanden ist. Es ist aber nicht
Aufgabe der Kammern und der ausbildenden Unternehmen, den Auszubildenden den Dreisatz sowie lesen und
schreiben beizubringen. Wenn wir unter Beachtung der
Subsidiarität, also einer Sichtweise von unten nach oben,
nicht bereit sind, uns dem Vergleich zu stellen,
({5})
dann handelt es sich bei den Reden hier im Deutschen
Bundestag nur um Fensterreden. Sie lassen sich hier für
Ihre Ideen feiern, aber blockieren in Ihren Bundesländern letztlich das, was Fortschritt schafft.
({6})
Was letztlich zählt, ist das, was herauskommt. Es geht
nicht um die Struktur. Denn es ist doch unerheblich, wie
der betreffende Schultyp heißt. Wichtig ist vielmehr, was
in der Schule passiert. Es ist wichtig, was am Ende herauskommt. An die Adresse des selbsternannten Logikers
Herrn Gysi - ich sollte vielmehr sagen: Logistikers - will
ich sagen: Herr Gysi, tauschen Sie doch einmal Ihre Logik gegen eine allgemeingültige Logik. Wenn Berlin pro
Schüler mehr Geld ausgibt als Bayern, aber dennoch weniger dabei herauskommt, dann heißt die Gleichung
doch:
({7})
Wo die Roten ihre Ideologie hineinstecken, kommt trotz
mehr Geld nicht mehr heraus. Das ist doch die Wahrheit.
({8})
Herr Matschie hat heute als Kultusminister im Deutschen Bundestag gesprochen. Er hat aber nicht über Bildung, sondern über Geld geredet und angekündigt, dass
sein Bundesland in den kommenden Jahren weniger
Geld für Bildung ausgeben wird.
({9})
Das ist nicht in Ordnung; das ist nicht richtig. Sozusagen
mit Schallgeschwindigkeit immer nach Berlin zu
schauen, zeigt, dass Sie überfordert sind.
({10})
In dieser Überforderung liegt die Chance der unionsregierten Länder. Ich bedanke mich bei den Unionsländern - sei es Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oder
Sachsen -, die sich darauf geeinigt haben, gemeinsam
ein Abitur zu entwickeln, das vergleichbar ist.
({11})
Wir wollen gemeinsam Bildungsstandards entwickeln.
Wer das nicht will, will auch nicht die Bildungsrepublik
Deutschland.
({12})
Ich bin für einheitliche, vergleichbare Standards. Es
geht nämlich um den Rucksack, der den Kindern für ein
Leben mit gleichen Chancen gepackt wird. Aus diesem
Grund ist die Bildungspolitik keine Spielwiese für das
Ausprobieren von Ideologien.
({13})
Es geht jetzt um die Frage, wie wir es schaffen, dass
das, was für Kinder angedacht wird, auch bei ihnen ankommt. Wer das Bildungspaket blockiert - Bildung ist
mehr, als nur in die Schule zu gehen - und auf Kosten
der Kinder Parteipolitik betreibt,
({14})
dem geht es nicht um die Sache, sondern um die Wirkung und um Muskelspiele im Bundesrat.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zukunft der
Kinder entscheidet sich nicht erst in der Schule. Die Zukunft der Kinder entscheidet sich bereits im Kindergarten und in den Kindertagesstätten.
({16})
Deshalb ist es wichtig, dass wir bei den Kindern schon
im frühen Alter verbindliche Sprachtests einführen. Das
gilt nicht nur für Kinder aus Migrantenfamilien, sondern
für alle Kinder. Ich schlage vor, dass dies ab dem vierten
Lebensjahr geschieht, damit man zwei Jahre vor der Einschulung noch genügend Zeit hat, um kontinuierlich,
aber vor allen Dingen auch individuell fördern zu können. Die Kinder sollen in der ersten Klasse nicht erst
Sprachhindernisse überwinden müssen, bevor mit dem
Vermitteln des Lehrinhalts begonnen werden kann.
({17})
Da müssen Sie sich öffnen. Herr Gysi, hier wünsche ich
mir, dass Berlin auf Rheinland-Pfalz einwirkt. Rheinland-Pfalz hatte einen Bildungsminister, der nach Berlin
gegangen ist. Dort hat er Sprachtests ab dem Alter von
drei Jahren eingeführt, während das in Rheinland-Pfalz
abgelehnt wird, weil das menschenverachtend sei. Ich
muss sagen: Man muss sich auf eine Richtung einigen.
Ich finde es kinderunterstützend, sich darauf einzulassen, sie frühzeitig zu befähigen, dem Unterricht folgen
zu können.
({18})
Wir stellen fest, dass gerade in SPD-regierten Ländern die Ausgaben der Eltern für Nachhilfe immens
hoch sind.
({19})
- In Rheinland-Pfalz zahlen die Eltern 40 Millionen
Euro für Nachhilfe. - Wir sind dafür, dass die Bildungschancen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
({20})
Ich danke zum Schluss allen Erzieherinnen und Erziehern. Ich danke den Lehrern. Sie haben es nicht immer
einfach.
({21})
Wenn etwa der Ministerpräsident aus Rheinland-Pfalz
sagt, er habe dienstags schon das gesamte Pensum erreicht, das Lehrer in der ganzen Woche machen,
({22})
ist das unanständig. Ich schaue auf die Schüler, die morgen ihre Halbjahreszeugnisse bekommen. Ich wünsche
ihnen alles Gute und eine bessere Bildungspolitik.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Klöckner, jeder hat durchschaut, was
Ihre Absicht war.
({0})
Ich glaube, der gemeinsame Wunsch im Hause war: Wären Sie doch im Verbraucherministerium weiterhin für
dioxinbelastete Eier zuständig geblieben.
({1})
Weil Sie immer über Rheinland-Pfalz gesprochen haben, möchte ich nur folgende kleine Anmerkung machen: Rheinland-Pfalz ist bundesweit dafür bekannt,
dass es den Spitzenplatz beim Krippenausbau einnimmt,
dass es kostenfreie, frühkindliche Bildung hat,
({2})
dass es mehr Ganztagsschulen als viele andere Bundesländer hat,
({3})
dass es die Umgestaltung des Schulsystems im Konsens
erreicht hat. Deshalb nehmen Sie es mir bitte bei allem
Charme, um den Sie sich bemüht haben, nicht übel,
({4})
wenn ich sage: Im Bundestag haben wir die satisfaktionsfähige Diskussion im Spannungsfeld zwischen Frau
Schavan und Herrn Gysi.
Ich komme auf zwei aus dem Bildungsbericht abgeleitete Fragestellungen von Frau Schavan und von Herrn
Gysi zu sprechen: Erstens ist Bildung bei uns immer
noch an soziale Verhältnisse gekoppelt. Zweitens haben
wir in Deutschland komplexe Bildungsorganisationsverhältnisse zwischen Bund und Ländern.
Zum ersten Punkt hat Kollege Schulz herausgearbeitet, was Konsens werden kann: Natürlich muss frühkindliche Bildung vor allen Dingen in Bezug auf Kinder mit
Einwanderungshintergrund qualifiziert und ausgebaut
werden. Er hat ausgeführt, dass wir die Chance haben,
jetzt bei der Schulsozialarbeit und dem Ganztagsschulausbau große Schritte voranzukommen. Er hat noch einmal gesagt - auch das zeigt der Bildungsbericht auf -,
dass in der Lebensbiografie die berufliche Bildung nicht
von der Weiterbildung abgekoppelt sein darf. Wir haben
nicht die Zeit, nur über gute Primärausbildung zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen. So weit die klare
Zielrichtung, die wir hoffentlich nicht nur parteiintern,
sondern auch parteiübergreifend haben.
Aber jetzt zum Zweiten: Ich fand es bemerkenswert,
Frau Schavan, dass Sie durchaus auch das Mobilitätsproblem in Deutschland ansprachen. Es geht um - um einmal Zahlen zu nennen - 100 000 Kinder, die Jahr für
Jahr von einem Bundesland in ein anderes umziehen.
Herr Gysi, Sie haben das sehr beredt im Detail ausgeführt. Aber die Antwort auf die Frage nach möglichen
Verbesserungen sind Sie schuldig geblieben. Deshalb
nehme ich gern auf, was Frau Schavan gesagt hat: Wir
registrieren positiv, dass es gemeinsame Bildungsstandards gibt, die vertieft werden. Es wird auch eine Entwicklung hin zu gemeinsamen Prüfungspools geben. Es
wird aber aufgrund unserer föderativen Verfasstheit mit
16 Bundesländern und verschiedenen Ferienregelungen
in Deutschland keinen Zentraltag für das Abitur geben
können.
Wenn wir gemeinsame Qualitätsstandards und gemeinsame Prüfungspools haben, ergeben sich zwei offene Fragen: Weshalb haben wir nicht auch einen Konsens in Bezug auf die Schulstrukturen? Da hat Herr Gysi
recht: Wer oft umzieht, erlebt bei 16 Bundesländern
100 verschiedene Schultypen.
Wir Sozialdemokraten bieten an, was in Hamburg
nicht durch Bürgerentscheid abgeschafft worden ist,
nämlich das Zweiwegemodell mit dem Gymnasium mit
G 8 und der Stadtteilschule mit G 9. Dieses Zweiwegemodell beinhaltet also zwei Schularten, die alle Abschlüsse anbieten. Bei den Abschlüssen gibt es zwar
durchaus noch Differenzierungen, sie sind aber nicht
mehr hierarchisch zu verstehen. Es wäre eine Chance,
wenn wir nicht nur gemeinsame Bildungsstandards und
Prüfungspools, sondern auch das Zweiwegemodell als
im Konsens vereinbarte Struktur hätten. Aktuell scheitert das noch daran, dass, um es polemisch auszudrücken, die „Lega Süd“ in Deutschland - Bayern, BadenWürttemberg und Hessen - nicht mitmacht. Aber es gibt
eine Chance, das Zweiwegemodell im Konsens voranzubringen. Das Zweiwegemodell steht dafür, dass Umzug
keinen Verlust von Schulerfahrung bedeutet.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, der vielleicht auch einen Konsens erfordert; denn er ist brisant.
Die Ministerin hat uns schon manchmal darauf hingewiesen - auch das macht der Bericht deutlich -, dass wir
in Deutschland bei den Konzepten, die infolge des
PISA-Schocks gemeinsam erarbeitet worden sind, ein
Desiderat haben. Das betrifft die Lehrerausbildung und
die Lehrerweiterbildung. Auch an dieser Stelle kann
man an Hamburg anknüpfen. Hamburg hat unter
Schwarz-Grün etwas Wichtiges auf den Weg gebracht,
nämlich die Weiterbildungspflicht für Lehrer, 30 Stunden jedes Jahr.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Den Gedanken möchte ich gerne zu Ende führen. Diese 30 Stunden jedes Jahr sind nicht unproblematisch,
weil es nicht unbedingt populär ist, für 800 000 Lehrkräfte eine Weiterbildungspflicht festzuschreiben. Wenn
wir das aber im Konsens tun, wenn SPD, CDU und andere sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, dann
haben wir in Zukunft einen ganz großen Pluspunkt bei
der Qualifizierung der Lehrer. Dann haben wir eine bessere Lehrerausbildung, eine bessere Lehrerauswahl und
auch eine Weiterbildungspflicht. Dann wäre auch der
Staat verpflichtet, gute Weiterbildungschancen zu eröffnen. Das wollen wir gerne in die Debatte einbringen. Ich
weiß, dass das nicht populär ist, aber es ist wichtig. So
etwas muss aus einem solchen Bildungsbericht erwachsen.
({0})
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin
Hein zur Verlängerung Ihrer Redezeit? - Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, Sie kommen
aus dem Land Schleswig-Holstein. Sie haben gesagt,
dass wir Alternativen und Vorschläge brauchen. Eine
solche Möglichkeit, die wir bekanntlich vertreten, ist die
Gemeinschaftsschule, wie es sie in Schleswig-Holstein
bislang, glaube ich, noch gibt. Das ist das erste Land, das
versucht hat, in diese Richtung zu gehen. Heute Morgen
las ich in der Presse, dass in Kiel ein neues Schulgesetz
verabschiedet worden ist, nach dem Gemeinschaftsschulen und Regionalschulen zusammengefügt werden sollen. Nach dem, was Sie zu Hamburg gesagt haben, frage
ich Sie, ob Sie - ich weiß, dass Sie dort keine Verantwortung tragen, aber genau deshalb frage ich Sie - es
nicht für einen Rückschritt halten, wenn die Schulen
jetzt zu einer Schule zusammengelegt werden, die zwar
den Haupt- und den Realschulabschluss anbietet, aber
eben nicht das ist, was eine Gemeinschaftsschule eigentlich sein sollte.
({0})
Wenn ich im Landtag wäre, dann würden Sie jetzt
eine Philippika gegen das hören, was in Schleswig-Holstein leider passiert. Dort wird gegen den Willen der
CDU das Rad zurückgedreht. Das ist zwar ein Erfolg der
FDP, doch insgesamt ist das ein Rückschritt. Diese Philippika will ich aber nicht halten. Lieber werbe ich für
das Zweiwegemodell, auf das wir uns in Deutschland
hoffentlich im Konsens einigen können.
Weil mir das wichtiger ist als die kleine Münze
Schleswig-Holstein, nehme ich noch einen anderen Gedanken aus dem Bildungsbericht auf. Die Bildungskooperation ist das Formale. Wir werden es erleben, dass
Sie Ihre CDU- und CSU-Ministerpräsidenten und wir
unsere SPD-Ministerpräsidenten überzeugen. Dann haben wir es geschafft. Dann können wir uns freuen. Jetzt
sollten wir nicht wechselseitig mit dem Finger aufeinanderzeigen. Sie und wir müssen das jetzt gemeinsam aus
dem Bundestag heraus schaffen. Die Bildungskooperation muss aber auch gelebt werden, und zwar insbesondere an einer Stelle, die der Nationale Bildungsbericht
aufgezeigt hat; denn wir können es uns angesichts des
Fachkräftebedarfs nicht leisten, dass 1,5 Millionen junge
Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne Ausbildung
sind.
({0})
Wenn es eine Aufgabe für die nächsten Jahre gibt,
dann ist es die, diesen jungen Menschen in ökonomischer, persönlicher und pädagogischer Hinsicht eine
Chance zu geben. Das ist die gemeinsame Aufgabe der
Länder und des Bundes. Dafür möchten wir ausdrücklich und nachdrücklich werben. Das ist die Botschaft
dieses Bildungsberichts. Lasst es nicht dazu kommen,
dass sich eine Perspektivlosigkeit dieser jungen Menschen verfestigt. Das zu sagen, war mir wichtig.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben als christlich-liberale Koalition in unserem
Koalitionsvertrag die Bildungsrepublik ausgerufen. Der
vorliegende Bildungsbericht zeigt uns, dass wir diesem
Ziel Stück für Stück näher kommen. Immer weniger
Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Der Trend
geht zu immer höheren Abschlüssen. Noch nie haben so
viele junge Menschen eines Jahrgangs mit einem Hochschulstudium begonnen wie in diesem Jahr. Für diejenigen, die sich nicht für ein Hochschulstudium entscheiden, steigt die Chance auf einen Ausbildungsplatz. Ich
erwähne das deswegen als Erstes, weil wir in der Bildungspolitik oft zum Schlechtreden neigen. Natürlich
zeigt uns der Bildungsbericht auch Punkte auf, wo wir
besser werden müssen. Genau das ist ja der Sinn eines
solchen Berichts. Auf diese Punkte komme ich gleich zu
sprechen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter den guten Statistiken, die der Bericht enthält, zahlreiche Schüler, Studenten, Lehrer, Erzieher, Eltern, Betriebe und viele andere Aktivposten im Bildungssystem stehen, die durch
ihr großartiges Engagement und ihre individuelle Anstrengung dafür sorgen, dass wir insgesamt besser werden.
({0})
- Der Applaus ist berechtigt.
({1})
Diese Leistungen müssen wir positiv herausstellen,
und wir müssen die Menschen ermutigen, auf diesem
Weg weiterzumachen. Das darf in einer solchen Debatte
nicht zu kurz kommen.
Der Bericht zeigt uns auch Bereiche, in denen wir
besser werden müssen; das wurde heute häufig angesprochen. Wir erleben, dass die Kluft zwischen den Bildungsverläufen zunimmt. Der Bildungserfolg ist leider
immer noch zu eng mit der sozialen Herkunft verknüpft,
und fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren wächst in sozialen, finanziellen und/oder kulturellen Risikolagen auf.
Besonders häufig sind Kinder mit Migrationshintergrund
davon betroffen. Um diese müssen wir uns noch besser
kümmern, und zwar von Anfang an.
Der Schlüssel dazu liegt in der Sprache. Als die CSU
vor einigen Jahren gefordert hat, dass jedes Kind
Deutsch können muss, bevor es in die Schule kommt,
wurden wir noch verlacht.
({2})
Heute ist es fast flächendeckend Praxis, dass an Kindergärten Sprachtests und entsprechende Fördermaßnahmen durchgeführt werden. Aber das reicht noch nicht.
Hier müssen wir besser werden. Vor allem müssen wir
die Eltern von Kindern in Risikolagen sensibilisieren
und ihnen sagen, welche Chancen sie ihren Kindern verbauen, wenn sie ihnen nicht schon möglichst früh eine
individuelle Förderung zukommen lassen.
Der Bund stellt für den Ausbau der Kinderbetreuung
bis 2013 insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung.
Überall im Land sehen Sie, dass neue Krippenplätze entstehen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass
wir bis 2013 insgesamt 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung zur Verfügung stellen. Gerade auch
vor dem Hintergrund, dass in allen anderen Bereichen
eingespart werden muss, um die Schuldenbremse einzuhalten, sehen Sie, welchen Stellenwert wir diesem
Thema zumessen. Wir setzen auch unsere Politik der
Förderung von Familien fort. Denn der Bildungsbericht
zeigt: Überall dort, wo Familienstrukturen intakt sind,
steigt die Chance auf eine gute Bildung.
({3})
Aber die Probleme sind nicht allein mit Geld zu lösen.
Unsere Kinder brauchen Vorbilder, denen sie mit Ehrgeiz nacheifern können. Genauso wie im Sport müssen
Leistung und Erfolg im Bildungssystem positiv belegt
und erstrebenswert sein.
({4})
Das müssen wir vor allem bei den Kindern und Jugendlichen unterstützen, denen Bildungsvorbilder im Elternhaus fehlen und die auch in ihrem nächsten Umfeld niemanden haben, dem sie im Bildungsbereich nacheifern
können.
An dieser Stelle möchte ich beispielhaft die Kampagne „Raus mit der Sprache. Rein ins Leben“, die die
„Deutschlandstiftung Integration“ seit letztem Jahr
durchführt, herausstellen. Prominente Sportler wie
Jérôme Boateng und Musiker wie Sido werben bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund dafür, die deutsche Sprache zu lernen. Die Botschaft ist: Wer gut
deutsch spricht, kann den sozialen Aufstieg schaffen.
Solche Botschaften brauchen wir in unserem Land. Damit kommen wir auf unserem Weg zur Bildungsrepublik
Deutschland ein Stück weiter.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3400 und 17/4436 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Elke Ferner, Bärbel Bas, Dr. Edgar Franke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einführung einer Kopfprämie in der gesetzli-
chen Krankenversicherung
- Drucksachen 17/865, 17/3130 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen
Krankenversicherung wiederherstellen
- Drucksachen 17/879, 17/4476 Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Ulrike Flach für die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin der SPD für die heutige Debatte äußerst dankbar. Da
Ihr Antrag und Ihre Anfrage fast ein Jahr alt sind, geben
Sie uns damit die Gelegenheit, einmal zu vergleichen,
welche Befürchtung - man kann eigentlich auch „Panikmache“ sagen - hier verbreitet wurde und was die Bundesregierung wirklich gemacht hat.
Zunächst einmal zum Titel „Paritätische Finanzierung
in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen“. Man muss an dieser Stelle schon sehr klar sagen:
Es war die SPD-Gesundheitsministerin, die die paritätische Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
aufgegeben hat.
({0})
Wir haben dieses Modell fortentwickelt und damit den
Faktor Arbeit nachhaltig entlastet. Das war unser ausdrückliches Ziel, das Sie übrigens in Sonntagsreden sehr
gerne fordern, aber werktags offensichtlich gerne wieder
vergessen.
Die Große Anfrage der SPD trägt den schönen Titel
„Einführung einer Kopfprämie in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Eine Kopfprämie - das will ich diesmal wirklich zum letzten Mal sagen - hat niemand von
uns eingeführt, auch nie gewollt, und das ist hier auch
immer so diskutiert worden, liebe Kollegen.
({1})
Vielmehr haben wir die Zusatzbeiträge, die es übrigens schon bei Ulla Schmidt gegeben hat, genau so, wie
es im Koalitionsvertrag stand, fortentwickelt, und das
wurde Gesetz: Jede Kasse entscheidet nun selbst, ob und
in welcher Höhe sie von ihren Mitgliedern Zusatzbeiträge erhebt, und damit gibt es das, was für die FDP immer sehr wichtig war: Es gibt wieder mehr Beitragsautonomie bei den Kassen und wieder mehr Wettbewerb für
die Versicherten.
({2})
Einen sozialen Ausgleich für Geringverdiener haben
wir hinzugefügt. In Ihrer Anfrage wird interessanterweise noch behauptet, es gebe kein Konzept für den Sozialausgleich. Inzwischen, liebe Kollegen von der SPD,
steht es im Gesetz, und das Gesetz ist in Kraft. So weit
zur Aktualität Ihrer Großen Anfrage.
Ihr Antrag ist längst von der Realität überholt worden; da sind wir uns Gott sei Dank auch einmal mit den
Grünen und den Linken einig, wie die Beschlussempfehlung des Ausschusses zeigt. An der Stelle herrscht also
große Einigkeit im Hause. Auch Ihre Angstmacherei ist
von der Gesetzgebung und der Koalition längst überholt
worden.
Wenn man in Ihren Antrag schaut, kann man sich
freuen, dass alles nicht so gekommen ist, wie es die SPD
prophezeit hat. Es ist nicht zur Masseninsolvenz der gesetzlichen Krankenkassen gekommen. Im Gegenteil: Die
GKV baut wieder Reserven auf. Es kommt durch den
Sozialausgleich auch nicht zu einer sozialen Umverteilung von unten nach oben.
Nun möchte ich - schließlich nehmen Sie für sich immer so schön in Anspruch, alles besser zu wissen - Ihre
eigenen Ideen einem Realitätstest unterziehen.
({3})
- Das wird sehr schwierig. Da hat Herr Lanfermann völlig recht.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine solidarische Bürgerversicherung. Sie haben über ein Jahr gebraucht, um darüber nachzudenken. Jetzt haben Sie vor wenigen Tagen
Eckpunkte veröffentlicht, die allerdings deutlich von
dem abweichen, was Sie in Ihrem alten Antrag formuliert haben. Neuerdings sprechen Sie sich für eine
Steuerfinanzierung aus - eine höchst interessante Entwicklung -, und zwar erstaunlicherweise mit der Begründung, dass das Steuersystem die Bürger nach ihrer
Leistungsfähigkeit belaste und deshalb gerechter sei.
Das haben wir, liebe Kollegen von der SPD, allerdings
schon lange erkannt. Deshalb haben wir den Sozialausgleich genau dort hingelegt, wo er hingehört, nämlich ins
Steuersystem, und das haben Sie an dieser Stelle oft genug für Teufelszeug erklärt.
({4})
Die SPD legt Eckpunkte vor. Sie legen aber kein
durchgerechnetes Modell vor. Das erstaunt uns wiederum nicht. Denn auch etwas anderes versprechen Sie
nun schon seit einem Jahr.
({5})
Ihr Modell einer Bürgerversicherung löst keines der
Probleme. Denn es bleibt konjunkturanfällig - das ist einer der Hauptfaktoren, die wir mit unserem Modell vermeiden -, weil eine höhere Arbeitslosigkeit negativ auf
die Finanzierungsgrundlagen durchschlägt. Darüber hinaus bleibt es verfassungsrechtlich bedenklich, weil Sie
in den Tätigkeitsbereich der PKV eingreifen.
Hingegen kann man unser Modell jetzt jeden Tag in
der Realität besichtigen. Jeder weiß, dass Gesundheit in
einer alternden Gesellschaft mit einer wachsenden medizinischen Leistungsfähigkeit zwar nicht billiger werden
kann, aber bezahlbar bleiben muss. Diese Koalition sorgt
dafür, dass Gesundheit bezahlbar bleibt.
({6})
Nur unser Freund Karl Lauterbach merkt das leider
nicht: Kaum erkennen wir bei den Kassen bessere Zahlen, kommt er als Kai aus der Kiste und fordert Beitragssenkungen. Lieber Herr Lauterbach, Sie müssen sich
schon einmal entscheiden, auf welchen Zug Sie gerade
aufspringen wollen. Offensichtlich springen Sie auf jeden Zug auf, der gerade vorbeifährt, und wundern sich
dann, dass Sie nie ankommen.
({7})
Zum Schluss meiner Rede möchte ich den Präsidenten des Bundesversicherungsamtes zitieren. Er hat gestern Folgendes zu den merkwürdigen Verlautbarungen
gesagt, die Sie bei Ihrem letzten medialen Ausflug gemacht haben:
Der Gesundheitsfonds sichert die finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung im Interesse aller Versicherten. Dies darf nicht durch
kurzfristige Maßnahmen leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
Herr Lauterbach, das sollten Sie sich hinter die Ohren
schreiben. Es würde Sie von unüberlegten Presseerklärungen abhalten.
Ansonsten sind wir optimistisch: Wir gehen in ein erfolgreiches Jahr. Ich freue mich auf die Debatte.
({8})
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freut es mich, dass wir die FDP heute zum
ersten Mal in der Stärke sehen, in der wir sie in der
nächsten Legislaturperiode sehen wollen: Sie sind gerade einmal fünf Leute; das wird bald üblich sein. Der
Wähler wird die gut gelaunte Polemik, mit der Frau
Flach und Herr Lanfermann hier über die wichtigen Themen hinwegwischen, nicht akzeptieren; dafür werden
Sie die Quittung bekommen. Erinnern Sie sich an meine
Worte:
({0})
Wenn Sie nach der nächsten Wahl überhaupt noch hier
sitzen werden, dann erreichen Sie gerade einmal 5 Prozent.
({1})
Was ist zum Jahreswechsel beschlossen worden? Die
Vorkasse ist eingeführt worden.
({2})
Es gibt Mehrzahlungen für Arzneimittel und Generika.
Es gibt eine schnellere Zulassung von Krebsmedikamenten; dadurch werden weniger sichere Mittel zugelassen.
({3})
Die kleine Kopfpauschale ist eingeführt worden. Bei der
privaten Krankenversicherung hat es Vergünstigungen gegeben: Ein Wechsel in die private Krankenversicherung
ist schneller möglich; die Arzneimittelrabatte der gesetzlichen Krankenversicherungen werden sozusagen auf die
privaten übertragen. Im Prinzip haben wir mehr Zweiklassenmedizin bekommen.
In der Medienpause gab es von Herrn Spahn und anderen in der Union den Vorschlag, die Vierbettzimmer
abzuschaffen. Damit soll demnächst die Möglichkeit gegeben werden, sich im Zweibettzimmer ein bisschen von
der verschärften Zweiklassenmedizin, die Sie selbst eingeführt haben, zu erholen. Das ist doch lächerlich; das ist
Kosmetik bei den Betten. Wenn Sie ernsthaft an einem
Abbau der Zweiklassenmedizin interessiert wären, dann
würden Sie sie nicht verschärfen. Lenken Sie nicht von
den Verschärfungen ab, die Sie selbst eingeführt haben.
({4})
Demnächst sollen sich die Krankenkassen stärker dafür engagieren, dass man einen Termin bei einem Spezialisten bekommt. Weshalb führen Sie, wenn Sie daran
wirklich ein Interesse haben, die Vorkasse ein, die dazu
führen wird, dass derjenige, der nicht in Vorleistung treten kann, demnächst noch schlechter einen Termin bekommt? Sie wollen doch nur davon ablenken, dass Sie
die Zweiklassenmedizin in vielerlei Hinsicht verschärft
haben. Der Vorschlag, die Termine bei Spezialisten
schneller zu vergeben - er stammt von Wilfried Jacobs
von der AOK Rheinland/Hamburg -, ist nur Kosmetik.
Die Wahrheit ist - jeder erkennt sie -: Sie wollen Vergünstigungen für die PKV und Verschlechterungen für
die gesetzlich Versicherten.
Im Übrigen sollen die Verschlechterungen bei der
FDP hängen bleiben; während die Union für die kleinen,
kosmetischen Verbesserungen eintritt. Dieses System
kennen wir noch aus der Großen Koalition; die FDP,
auch Herr Bahr, wird es noch lernen müssen. Wer zusammen mit der Union regiert hat, der versteht das System: Die Union ist immer für das wenige Gute, für die
Kosmetik zuständig; der Partner wird geschleift und
steht für all das, was in der Bevölkerung unbeliebt ist.
Das ist das Prinzip der Union.
({5})
Herr Lindner und Herr Bahr, Sie werden das noch lernen
müssen.
({6})
Ich komme jetzt zu der Beitragssatzlüge. Herr Rösler,
Herr Bahr und die Union haben immer gelogen, die SPD
habe ein riesiges Defizit zurückgelassen; es wurde von
11 Milliarden Euro gesprochen. Die Wahrheit ist, dass
im nächsten Jahr zum Jahresende 6,3 Milliarden Euro
übrig bleiben werden.
({7})
Davon sind 3 Milliarden Euro die Liquiditätsreserve.
3 Milliarden Euro nehmen Sie durch die Erhöhung des
Beitragssatzes zusätzlich ein, um damit den Sozialausgleich für die Kopfpauschale aufzubauen.
Das war doch von vornherein die Absicht. Sie wollen
den Sozialausgleich für die Kopfpauschale in Wirklichkeit doch gar nicht mit Steuermitteln bezahlen, denn das
würde auch den PKV-Versicherten und den Gutverdiener
belasten. Das sollen die gesetzlich Versicherten zum
Schluss selbst bezahlen. Darum geht es doch. Es geht um
das übliche Anliegen: Wie kann ich Arbeitgeber und Privatversicherte schonen, und wie kann ich die gesetzlich
Versicherten doppelt belasten? Sie werden für ihre eigene Kopfpauschale und für den eigenen Sozialausgleich bezahlen müssen. Darüber wird hier doch gesprochen, und davon wollen Sie ablenken.
Die unsoziale Kopfpauschale soll durch einen ebenfalls unsozial finanzierten Sozialausgleich mitbezahlt
werden. Das halten wir für falsch. Das ist eine Trickserei
und eine Lügerei!
({8})
An dieser Stelle auch eine Bemerkung in Richtung
der Grünen: Die Grünen sagen, der Beitragssatz soll
nicht um 0,3 Prozentpunkte gesenkt werden, damit man
Zusatzbeiträge verhindert. Damit macht ihr euch aber im
Prinzip zum Steigbügelhalter der Kopfpauschale.
({9})
Denn die Kopfpauschale kann doch nur eingeführt werden, wenn ein Sozialausgleich erst einmal da ist. Normalerweise müsste folgendermaßen argumentiert werden:
Eine unsoziale Kopfpauschale wird nicht durch einen
unsozialen Sozialausgleich gerechter.
({10})
Es wird darauf hinauslaufen, dass die Beitragssätze
steigen werden. Es wird darauf hinauslaufen, dass wir
keine sinkenden Steuern haben. Die mittleren Einkommen werden stärker belastet und nicht entlastet. Wir werden sehen, dass die mittleren Einkommen weniger Netto
vom Brutto haben. Wir werden sehen, dass die FDP sich
über diese Politik weiter komplett diskreditiert. Denn es
werden nur die mittleren Einkommen belastet. Wer bezahlt denn am Ende den Sozialausgleich durch die Beitragssatzerhöhung? Das sind die mittleren Einkommen.
Die FDP ist angetreten und hat laut getönt, die mittleren Einkommen sollten entlastet werden. Die Grünen haben mitgezogen. Die Wahrheit ist aber, dass wir nur zusätzliche Belastungen der mittleren Einkommen sehen.
Es gibt überhaupt keine Entlastung. Somit kommt zur
allseits bekannten Steuerlüge der FDP die Beitragssatzlüge hinzu. Das ist meine feste Überzeugung, und das
wird der Bürger auch verstehen. Die Union macht sich
einen schlanken Fuß und pflegt die beschriebene Arbeitsteilung.
Was wir in Wirklichkeit brauchen, ist ein paritätisch
finanziertes System. Wir wissen, dass wir uns von der
Parität verabschiedet haben. Da brauchen wir nicht die
ständigen Ermahnungen und Erinnerungen von der
Linkspartei.
({11})
Wir haben keine Amnesie. Wir haben aber auch nie gesagt, dass wir abgewählt worden sind, weil wir alles
richtig gemacht haben. Es ist klar, dass wir zurück zur
Parität wollen. Wir wollen das System unbürokratisch
um eine Steuerkomponente ergänzen. Es ist übrigens
auch völlig unwahr, zu sagen, dass wir erst jetzt auf
diese Idee gekommen sind. Schon in unserem ursprünglichen System der Bürgerversicherung hatten wir zwei
Modelle: entweder die anderen Einkommen direkt verbeitragen oder eine Steuerkomponente. Das ist sozusagen ein altes System. Wir haben uns jetzt dafür entschieden, die Steuern stärker heranzuziehen, sodass auch
Gutverdiener unbürokratisch und gerecht belastet werden.
Im Sinne der Abschaffung der Zweiklassenmedizin
treten wir in unserem Antrag dafür ein, dass die Honorare bei gesetzlich und privat Versicherten angeglichen
werden. Das ist ein gerechtes System. Unbürokratisch,
Parität, Steuerkomponente, ein Honorarsystem für alle:
Das führt zu einer Entlastung der mittleren Einkommen.
Diesbezüglich sind, ehrlich gesagt, auch die Grünen
auf dem Holzweg. Wenn man die anderen Einkommen
verbeitragt und gleichzeitig die Beitragsbemessungsgrenze anhebt, dann trifft das fast nur die mittleren Einkommen.
({12})
Da man an die jetzt privat Versicherten nicht herankommt, werden diese geschont. Daher halte ich das
SPD-Konzept für das einfachste, unbürokratischste und
gerechteste. Unser System wird auch das sein, das wir
zum Schluss durchsetzen, wenn die Abwahl dieser erschöpften schwarz-gelben Koalition vollzogen ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Ersten - das will ich vorneweg sagen - gibt uns die
Debatte heute morgen die Gelegenheit, auf das, was wir
in dieser Koalition beschlossen haben, zurückzuschauen:
auf das GKV-Finanzierungsgesetz. Die Frage lautet:
Was ist damit eigentlich erreicht worden?
({0})
Wir haben es geschafft - das zeigen die Zahlen ganz
offensichtlich -, dafür zu sorgen, dass das drohende Defizit von gut 10 Milliarden Euro, das, wenn wir nichts
getan hätten, entstanden wäre, nicht entstehen wird
({1})
und dass die Krankenkassen stabil dastehen. Wir stellen
einen Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung, um die nötige Unterstützung zu geben.
Wichtig finde ich auch, dass die Zusatzbeiträge - das
haben die Zahlen von gestern und vorgestern gezeigt die Lenkungswirkung, die Steuerungswirkung entwickeln, die wir uns von ihnen erhofft haben. Es entsteht
ein neues Preisbewusstsein. Anders als damals bei den
prozentualen Beitragssätzen, als die Beiträge direkt vom
Lohn abgezogen wurden, als keiner so recht wusste:
„Was kostet meine Kasse eigentlich?“ und man einen
Dreisatz berechnen musste, um zu ermitteln: „Was bringt
es eigentlich, die Kasse zu wechseln?“, haben die Zusatzbeiträge in festen Eurobeträgen eine ganz andere
Preissignalwirkung. Man überlegt sich: Ist mir meine
Kasse die 5 Euro, die 8 Euro oder die 12 Euro, die ich
zahlen muss, wert? Wenn ja, dann bleibt man bei der
Kasse, wenn nein, dann wechselt man. Das ist auch für
den Wettbewerb zwischen den Kassen ein wichtiges
neues Instrument, das wir weiterentwickelt und auf sichere Füße gestellt haben.
({2})
Aber man fragt sich: Warum führen wir heute zur besten Zeit 75 Minuten lang diese Debatte über einen Antrag, lieber Kollege Lauterbach, der sich völlig überholt
hat?
({3})
Das Gesetz ist erstens beschlossen, und zweitens haben
Sie Ihren eigenen Antrag selbst überholt.
({4})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Steuerfinanzierung
sei schlecht. Auch in Ihrem Antrag vom letzten Jahr
steht, Steuerfinanzierung habe keine Zukunft und sei
ganz furchtbar, weil der Finanzminister das Geld nicht
zur Verfügung stellen werde.
Wenige Wochen oder Monate später legten Sie gemeinsam mit Frau Kollegin Nahles ein Papier vor, in
dem es heißt:
Eine nachhaltige Finanzierung der Bürgerversicherung kann … nur über Steuermittel erreicht
werden …
Sie haben es geschafft, Ihren eigenen Antrag innerhalb
von sechs Monaten zu überholen.
({5})
Aber es ist Ihnen nicht einmal peinlich, zur besten Zeit
diese Debatte für eine Dauer von 75 Minuten anzusetzen.
({6})
Wie soll denn der Bürger, wie sollen wir überhaupt noch
verstehen, wo Sie hinwollen?
({7})
Sie scheinen es selbst nicht zu wissen. Das, lieber Kollege Lauterbach, ist in den Debatten, die wir führen, das
Problem.
({8})
Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Debatte zum
Thema Beitragssatzsenkung,
({9})
die wir in diesen Tagen führen.
({10})
- Herr Präsident, ich glaube, der Kollege Lauterbach hat
eine Frage. Ich würde sie auch zulassen, wenn Sie sie zuließen.
({11})
Dann lasse ich sie nach Ihrer Bitte allergnädigst zu.
({0})
Herr Spahn, Sie müssen doch einräumen,
({0})
dass es ein Unterschied ist, ob man Steuermittel verwenden will, um damit die demografischen Herausforderungen zu bewältigen und das Geld für die Versorgung einzusetzen, oder ob man damit einen überflüssigen
Sozialausgleich für die Kopfpauschale bezahlen will.
({1})
- Herr Lanfermann, ich habe sogar Frau Flach zugehört,
was nicht leicht war.
({2})
In unserem Antrag unterscheiden wir. Wir lehnen lediglich den Einsatz zusätzlicher Steuermittel für einen
überflüssigen Sozialausgleich zur Einführung der Kopfpauschale ab,
({3})
weil wir die wertvollen Steuermittel dort für verschwendet halten.
({4})
Wir sind aber nicht der Meinung, dass der Einsatz von
Steuermitteln für die Versorgung und für die Bewältigung der demografischen Herausforderungen überflüssig ist; dafür sind Steuermittel geeignet.
({5})
Aber es ist doch ein Unterschied, ob man diese Mittel für
einen überflüssigen Sozialausgleich verschwendet oder
ob man sie sinnvoll für die Versorgung einsetzt.
Lieber Herr Kollege Lauterbach, Sie haben es innerhalb von zwei Monaten geschafft, schon wieder Ihre Begründung zu verändern.
({0})
In Ihrem Schreiben, das Sie gemeinsam mit der Kollegin
Nahles verfasst haben, steht:
Steuermittel für das Gesundheitssystem, um alle
Einkommen unbürokratisch und sozial gerecht an
der Finanzierung zu beteiligen.
({1})
So werden auch die hohen Einkommen und Vermögen gerecht einbezogen.
Das heißt, Ihre Intention bei der Steuerfinanzierung ist
ganz offensichtlich, einen Sozialausgleich durchzuführen.
Die Argumentation ist ja richtig: Geht es um die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, werden nur
die abhängig Beschäftigten und die Lohnbestandteile herangezogen. Bei einer Finanzierung über das Steuersystem werden aber auch Mieteinkünfte, Zinseinkünfte und
übrigens auch Unternehmensgewinne herangezogen, und
zwar nach der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Die Argumentation ist richtig. Was an dieser Stelle aber so verlogen ist - das zeigt sich jetzt übrigens schon wieder -:
Sie ändern alle zwei Wochen Ihre Argumentation in dieser Frage. Wir dagegen reden nicht nur über Dinge, sondern setzen sie um, in dem Falle, weil wir es für richtig
halten, eine bessere Steuerfinanzierung zu haben.
({2})
Das Gleiche passiert in diesen Tagen in der Beitragssatzdebatte. In Ihrem Antrag, über den wir heute debattieren und der aus dem März 2010 stammt - Sie wollten
ihn vorher nicht aufgesetzt haben; wir haben es Ihnen
mehrfach angeboten -, malen Sie ein Szenario von
wachsenden Ausgaben an die Wand. Sie malen ein Szenario an die Wand, das besagt: Für 2010, 2011 und 2012
muss auf Teufel komm raus gespart werden; die Koalition tut zu wenig. Sie haben hier mehrfach gesagt, wir
sollten größere Anstrengungen beim Sparen unternehmen, weil es in 2011 so furchtbar wird.
Wir haben das, was wir für richtig halten, in einem, wie
ich finde, ausgewogenen Maß gemacht - Sparmaßnahmen,
aber eben auch eine ausgewogene Beitragserhöhung und sind zum alten Beitragssatz von 15,5 zurückgekehrt.
Jetzt ist es glücklicherweise so, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen stabil dastehen, dass wir im Gesundheitsfonds eine Liquiditätsreserve haben, die gesetzlich
- von uns gemeinsam in der Großen Koalition - vorgeschrieben worden ist, um auch Schwankungen ausgleichen zu können. Nun, da wir endlich Stabilität ins System
der gesetzlichen Krankenversicherung gebracht haben,
nehmen Sie von Ihren Horrorszenarien Abschied, wie
furchtbar das bei den Ausgaben alles wird, und wollen auf
einmal die Beiträge senken. Wer, bitte schön, Herr Kollege Lauterbach, soll Ihnen denn da noch folgen können?
Wo ist denn da Verlässlichkeit in Ihrer Politik? Sie sind
nicht Kai aus der Kiste; Sie sind Karl aus der Kiste: Sie
ändern täglich nur der Überschrift wegen die Richtung.
Das ist aber nicht konsistent, das ist nicht vertrauenerweckend, und deswegen ist es gut, dass Sie da sitzen, wo Sie
sitzen, nämlich auf der Oppositionsbank. Da kann man
tatsächlich ohne Folgen jeden Tag etwas anderes behaupten, als man vorher gesagt hat.
({3})
- Ja, man hat manchmal tatsächlich den Eindruck: Sie
verwirren sich an dieser Stelle selbst.
({4})
Dann - das setzt dem Ganzen die Krone auf - können
wir in diesen Tagen ein Konzept der SPD lesen und können sehen, wie sie jetzt in die Fläche gehen will, um eine
Kampagne zu machen, bei der es rundgehen soll. Wir
können in Ihrem Antrag vom März letzten Jahres lesen,
was wir alles tun sollen. Wir finden, dass wir ausgewogen und vernünftig vorgegangen sind und die richtige
Richtung eingeschlagen haben. Als Stichworte sind zu
nennen: Umgang mit dem Defizit, Steuerfinanzierung.
Dazu kommt die Frage, wie wir es langfristig schaffen
können, von der strikten Lohnbezogenheit der Gesundheitsfinanzierung wegzukommen, sodass die steigenden
Gesundheitsausgaben den Lohn nicht automatisch immer teurer machen. Wir finden, was wir vorgelegt haben,
ist ein gutes Gesetz. Das können Sie kritisieren, keine
Frage.
Aber jetzt machen Sie von der SPD eine Kampagne.
Sie sind sich mal wieder nicht zu schade, die Menschen
bewusst und wider besseres Wissen, Herr Professor
Lauterbach, in die Irre zu führen. Das macht allein der
Begriff „Vorkasse“ deutlich, den Sie heute schon wieder
verwendet haben. Sprechen Sie einmal mit schwerkranken Menschen, mit Krebskranken, mit HIV-Infizierten,
mit Aidskranken.
({5})
Die haben Angst; das merkt man, wenn man mit denen
spricht. Ich war letzte Woche auf einer Diskussion in einer Parkinson-Selbsthilfegruppe. Die haben Angst, weil
Sie ihnen suggerieren, sie müssten ihre Behandlung und
ihre Medikamente in Zukunft zunächst selbst bezahlen,
und irgendwann später würden sie das Geld wiederbekommen. Sie wissen, dass das nicht stimmt, aber Sie
nehmen billigend in Kauf, schwerkranke Menschen zu
verängstigen, nur um populistisch einen Punkt zu machen. Das ist völlig inakzeptabel, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD.
({6})
Das Gleiche gilt für das Gerede von der Drei-Klassen-Medizin. Sie wissen genau, was zur Kostenerstattung im Gesetz steht. Es ist übrigens - das merken Sie,
wenn Sie einmal genau hinschauen - zu 70 bis 80 Prozent das, was wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, weil wir es für richtig gehalten haben, dass die
Menschen ein Wahlrecht haben sollen. Diejenigen, die
es wollen - keiner muss -, können sich für die andere
Regelung entscheiden und sich die Rechnung schicken
lassen. Die allermeisten Menschen werden sich wahrscheinlich tatsächlich für das Sachleistungsprinzip entscheiden.
Was dem Ganzen dann aber die Krone aufsetzt - jenseits dieser Diffamierung, die Sie wider besseres Wissen
betreiben -, ist, dass wir in dem Schreiben Ihres Parteivorsitzenden lesen können, dass Sie Verbände - Wohlfahrtsverbände, die ohne Zweifel jederzeit berechtigt
sind und die Legitimation haben, Gesundheitspolitik zu
kritisieren, konstruktive Vorschläge zu machen und andere Vorstellungen von Gesundheitspolitik zu haben; das
ist überhaupt keine Frage - als Kooperationspartner vereinnahmen.
({7})
Wie sieht es denn mit der parteipolitischen Neutralität
von AWO, von Caritas, von der Diakonie und von anderen Wohlfahrtsverbänden aus? Ich wundere mich schon.
Die Pflegeeinrichtungen, die Krankenhäuser und die Behinderteneinrichtungen sind nicht Eigentum der SPD;
das ist parteipolitisch neutraler Boden.
({8})
Deswegen gehört sich eine solche Kampagne nicht, die
Sie hier an dieser Stelle versuchen quer durch die Republik zu betreiben. Wir werden das nicht akzeptieren nicht von Ihnen und auch nicht von den Wohlfahrtsverbänden.
({9})
Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Wir akzeptieren Kritik von jeder Seite.
({10})
- Stellen Sie sich einmal vor, was Sie für ein Theater
machen würden, wenn wir so etwas machen würden! Sie
halten sich immer für die Gutmenschen, für die Richtigen und Guten, die zum Wohle für alle durch die Welt
unterwegs sind, und wenden dabei Methoden an - das
gilt im Übrigen auch für Ihre Wortwahl; ich nenne das
Beispiel „Vorkasse“ -, durch die Sie bewusst mit den
Ängsten spielen. Das ist völlig inakzeptabel für einen
konstruktiven Umgang in einer demokratischen Auseinandersetzung. Das werden wir auch genau so benennen, und wir werden den Finger an dieser Stelle in die
Wunde legen. Darauf können Sie sich verlassen.
({11})
Seien Sie versichert: Wir werden hier keiner Debatte
aus dem Weg gehen, weil wir der festen Überzeugung
sind, dass wir die besseren Argumente auf unserer Seite
haben. Wir haben die besseren Argumente in der Debatte
über die Frage, warum wir die gesetzliche Krankenversicherung so finanzieren, wie wir sie in Zukunft finanzieren wollen, nämlich eben nicht mehr rein lohnabhängig,
sondern so, dass über den Steuerausgleich alle Einkommensarten mitberücksichtigt werden.
Nachdem wir so viel über Ärztehonorare, Krankenhausabrechnungen, Apothekenabschläge und die Pharmaindustrie geredet haben, halten wir es übrigens auch
für richtig - Herr Kollege Lauterbach, auch dagegen haben Sie sich gewandt -, auch einmal über die Versorgungsrealität der Patienten und darüber zu reden, was sie
im Alltag tatsächlich erleben. Dabei geht es um monatelange Wartezeiten, die Krankenhaushygiene und die
Frage, wie es in den Krankenhäusern vor Ort aussieht.
Darüber wollen wir reden.
Wir wollen in diesem Jahr auch über Patientenrechte
reden. Gestern fand eine Anhörung statt, in der es um einen Antrag der SPD zu diesem Thema ging. Es war
überschaubar, wie viele von Ihnen bei Ihrer eigenen Anhörung waren. Sie waren tatsächlich auch kurz da. Wir
wollen in diesem Jahr auch die Frage in den Mittelpunkt
stellen, wie der Patient die Versorgungsrealität erlebt
und wie wir die Situation für ihn ganz konkret verbessern können. Dazu brauchen wir natürlich die Hilfe und
Unterstützung der Leistungserbringer. Ich fände es richtig, wenn Sie bei diesem Perspektivwechsel ein Stück
weit stärker mitmachen würden.
Es wäre doch schön, wenn Sie sich wenigstens an diesen Debatten beteiligen würden, da Sie das letztes Jahr
bei den Debatten über die Finanzierung schon nicht hinbekommen haben. Durch Ihren alten Antrag vom
März 2010 - ich sage es noch einmal: Er ist durch Ihre
eigenen Äußerungen überholt und wird aufgrund Ihres
Wunsches erst jetzt beraten - machen Sie deutlich, wie
weit Sie sich noch in den Debatten der Vergangenheit
befinden. Es wäre schön, wenn Sie sich mit uns an den
Debatten der Zukunft für eine gute Versorgung der Patienten beteiligen würden. Dann würden wir schon einen
großen Schritt nach vorne kommen. Hinsichtlich der
Krankenhaushygiene können Sie das schon im ersten
Halbjahr beweisen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Spahn, wenn
ich mich richtig erinnere, haben Sie die Anhörung gestern auch nicht ganz bis zum Ende mitgemacht. Daran
will ich nur einmal ganz kurz erinnern.
({0})
- Nein, nein, nein, ich glaube, meine Beobachtung war
doch etwas genauer, Herr Lanfermann.
({1})
Zu dem Antrag der SPD. Er hat ja schon ein bisschen
Patina angesetzt. Nachdem ich ihn gefunden hatte,
musste ich den Staub ein wenig wegblasen. Schließlich
stammt er aus einer Zeit, als wir noch heftig um die Einführung bzw. Verhinderung der Kopfpauschale gerungen
haben. Daher steht in dem Antrag auch die Forderung an
die Bundesregierung, sie möge bis Ende 2010 ein Konzept für eine Bürgerversicherung vorlegen. Das ist ja in
der Tat nun wirklich überholt. Wir haben etwas ganz an9738
deres vorgelegt bekommen, nämlich etwas, was weitaus
schlechter ist.
Dennoch danke ich der SPD, dass die Diskussion über
diesen Antrag heute auf die Tagesordnung gesetzt wurde;
denn so haben wir die Gelegenheit und einen weiteren guten Anlass, über die katastrophale schwarz-gelbe Gesundheitspolitik zu reden. Wir haben dadurch aber auch
die Möglichkeit, hier über die veränderte SPD-Position
zur Bürgerversicherung zu sprechen.
Der Kurs der SPD in Sachen Bürgerversicherung hat
sich in der Tat verändert. Das ist gerade ja auch schon
dargestellt worden. Aus meiner Sicht besteht der Kurs
nun aus einer konsequenten Inkonsequenz.
({2})
Außerdem - das muss man auch sehen - ist die Partei
ganz offensichtlich gespalten. Das will ich Ihnen auch
gerne begründen.
Auf der einen Seite gibt es die Arbeitsgemeinschaft
für Arbeitnehmerfragen in der SPD, die AfA. Das war
einst eine mächtige und einflussreiche Arbeitsgemeinschaft. Herbert Wehner hat sie einmal als „lebenswichtiges Organ der SPD“ und zugleich „Auge, Ohr und Herzkammer der Partei“ bezeichnet. Als ich damals noch
Juso war - ich weiß, das sieht man mir jetzt nicht mehr
an, aber ich war es einmal -,
({3})
habe ich nicht in jedem Punkt mit den Vorsitzenden der
Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD
übereingestimmt. Aber jemand wie Rohde oder Dreßler
stellte in der SPD etwas dar.
Auch der jetzige Vorsitzende Ottmar Schreiner genießt meine volle Hochachtung. Aber er hat leider in seiner Partei nichts mehr zu sagen. Diese Partei hat sich
dank Schröder, Clement, Müntefering, Steinmeier und
Co. weitgehend von der Wahrung der Arbeitnehmerinteressen verabschiedet.
({4})
In der modernen Sozialdemokratie der Standortlogik
gibt eine Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen
nicht mehr den Ton an. So ist es möglich, dass zunächst
Ottmar Schreiner als AfA-Vertreter, also als Vertreter der
Arbeitsgemeinschaft, das Positionspapier der DGB-Reformkommission unterschrieben hat. Dieses Papier ist in
Sachen Bürgerversicherung beachtenswert und wegweisend, wenn man eine solidarische und gerechte Finanzierung will. Hier wird also der Schulterschluss mit guten
gewerkschaftlichen Positionen geübt. Aber kaum hatte
Ottmar Schreiner das DGB-Reformkonzept unterschrieben, verkündeten Frau Nahles und Herr Lauterbach ganz
„basisdemokratisch“ von oben herab, dass wesentliche
Punkte des bisherigen Bürgerversicherungskonzeptes
der SPD von den Füßen auf den Kopf gestellt werden
sollen. Die beiden wollen im Gegensatz zum DGB, den
Grünen und uns keine Kapitaleinkünfte mehr zur Finanzierung heranziehen, sondern alle künftigen Mehrausgaben der Krankenversicherung über Steuern finanzieren.
({5})
Die SPD will also eine zunehmend steuerfinanzierte
Bürgerversicherung. Das ist ein Widerspruch in sich.
Dabei hat Herr Lauterbach selber noch 2004 in einem
Aufsatz zutreffend geschrieben, dass eine Steuerfinanzierung Probleme bereitet. Er schrieb von der - ich zitiere - „Einheitsversorgung eines Steuersystems“ und
von „Haushaltsabhängigkeiten“ bei einer stärkeren Steuerfinanzierung.
({6})
Recht hatte er aus unserer Sicht: Ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem ist immer auch ein Gesundheitssystem, in dem Leistungen nach Kassenlage gewährt
werden können und der Finanzminister der heimliche
Gesundheitsminister wird.
({7})
Deshalb lehnen wir die Steuerfinanzierung ab und sind
für eine Beitragsfinanzierung.
({8})
Nahles und Lauterbach fordern also ein mehr und
mehr steuerfinanziertes Gesundheitssystem. Gleichzeitig
schreibt die SPD in dem vorliegenden Antrag völlig zu
Recht, dass die Steuerfinanzierung des schwarz-gelben
Sozialausgleichs bei der derzeitigen Haushaltslage und
den Steuerplänen der FDP ein Wolkenkuckucksheim sei.
Ja, was denn nun? Sie müssen schon erklären, warum
Ihre Milliarden an frischen Steuermitteln dauerhaft und
solide finanzierbar sein sollen, wenn das für ähnliche
Gesetze der Bundesregierung nicht gelten soll.
({9})
- Ja, mir ist es auch so gegangen, Herr Spahn, als Sie
hier geredet haben, dass ich nämlich - leider - an vielen
Stellen zugestehen musste, dass der inkonsequente Kurs
der SPD von Ihnen durchaus richtig beschrieben worden
ist.
Fazit: Man weiß derzeit immer genau, woran man bei
der SPD nicht ist. Erst führt sie Zusatzbeiträge und die
Praxisgebühr ein und schafft die Parität mit ab; jetzt will
sie das Gegenteil. Das ist zu begrüßen. Das finden wir
gut.
({10})
Erst will sie eine Bürgerversicherung; jetzt will sie Steuerfinanzierung. Das ist schlecht. Das lehnen wir ab.
({11})
Für die SPD ist insgesamt nur zu hoffen, dass sie zu den
Positionen der DGB-Kommission zurückfinden wird,
die mit unseren Vorstellungen weitgehend übereinstimmen.
({12})
Klar ist nun: Wer keine Bürgerversicherung extra
light, sondern eine echte Bürgerversicherung will, muss
sich an die Linke halten. Die SPD darf nicht auf halbem
Weg stehen bleiben.
({13})
Diesen Weg zu einer echten Bürgerversicherung sollte
sie weiter ausprobieren. Man sollte sie dabei zum Jagen
tragen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Reden wir
einmal über Schwarz-Gelb!
({0})
Ihr Motto lautet: Es soll keiner merken, dass wir tatsächlich ein Kopfpauschalensystem planen. - Dafür haben
Sie, Frau Kollegin Flach, vorhin wieder ein gutes Beispiel geliefert. Sie versuchen nämlich, zu verschleiern,
dass Sie den größten Systemwechsel aller Zeiten planen.
({1})
Noch nie ist ein Sozialversicherungssystem in Deutschland so gründlich und dabei so lautlos umgekrempelt worden, wie Sie es mit Ihrer jüngsten Finanzierungsreform
gemacht haben. Das ist kein Kompliment. Es bedeutet
nämlich, dass Sie sich den Versicherten und damit auch
den Wählerinnen und Wählern nicht wirklich stellen und
ihnen nicht klarmachen, was es bedeutet, wenn zunächst
der Weg beschritten wird, den Arbeitgeberbeitrag einzufrieren, und dabei das Ziel einer Finanzierung über Kopfpauschalen verfolgt wird, bei der die Geringverdienenden
und die Gutverdienenden das Gleiche bezahlen. Dann
entsteht ein Arbeitgeberparadies, allein finanziert von den
Versicherten. Das ist Ihr Weg, und den werden wir bekämpfen.
({2})
Sie stellen sich vor, weil man jetzt so schleichend vorgeht, dass Sie obendrein die Schuld auf die Krankenkassen abwälzen können. Herr Kollege Spahn hat dafür vorhin ein gutes Beispiel geliefert, indem er das ach so
schöne Wettbewerbsinstrument der kleinen Kopfpauschale, also des Zusatzbeitrages, gepriesen hat. Da müssen Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben, und SchwarzGelb lehnt sich zurück und sagt: Wir haben doch den Beitragssatz gar nicht erhöht. Wenn die Krankenkasse zu
teuer wird, müssen Sie sie wechseln. - Aber in Wirklichkeit ist genau das der Weg, den Sie beschreiten wollen.
Diese Strategie des Tarnens und Täuschens findet sich
auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der SPD zur Einführung einer Kopfprämie. Da
heißt es ganz treuherzig:
Eine vollständige Umstellung der einkommensabhängigen Beiträge auf einkommensunabhängige
Prämien ist … nicht beabsichtigt.
Deswegen könne man auch - leider, leider - detaillierte
Fragen zu den Auswirkungen von Kopfpauschalen nicht
beantworten.
Ist das wirklich so? Dann hieße das, dass die Bundesregierung eine Komplettumstellung der Krankenversicherung betreibt, ohne belastbare Daten zu deren Auswirkungen zu haben.
({3})
Also behaupten Sie, Sie kennen weder die entstehenden
Ent- noch die Mehrbelastungen einzelner Versichertengruppen; Sie wissen weder etwas über die benötigten Finanzmittel für den Sozialausgleich noch über dessen Gegenfinanzierung. Ich fürchte beinahe, dass das wirklich
so ist. Das interessiert Sie nämlich nicht wirklich.
({4})
Was Sie interessiert, ist die Entlastung der Arbeitgeber
und der Besserverdienenden und die Bedienung Ihrer
Klientel in der Pharmaindustrie, der privaten Krankenversicherung und der Ärzteschaft. Alles andere rangiert
unter „politischen Peanuts“, die man gar nicht klären
muss.
({5})
Aus dieser Perspektive würde man nur Unruhe hervorrufen, wenn man zugibt, was man eigentlich vorhat. Aber
ganz aberwitzig wird es, wenn Staatssekretär Bahr in einem Interview sagt, anders als bei vorherigen Reformen
würde diese Gesundheitsreform nicht zu höheren Zuzahlungen führen. Dazu kann ich nur sagen: Herr Staatssekretär, Ihre Reform wird in den nächsten Jahren zu einer
Verschiebung der Belastung von Arbeitgebern zu Versicherten und von Gut- und Durchschnittsverdienenden zu
Geringverdienern führen wie keine andere Gesundheitsreform vorher. Diese soziale Schieflage führen Sie ganz
gezielt herbei. Sie sollten wenigstens politisch dazu stehen.
({6})
Die Kanzlerin aber möchte das lieber so. Sie hat schon
einmal ihre Erfahrungen im Bundestagswahlkampf 2005
gemacht und erlebt, wie unpopulär ein Angriff auf das
Solidarsystem ist. Sicher passt es Ihnen gut, dass nach
den neuesten Berechnungen des Schätzerkreises so viel
Geld im Gesundheitsfonds ist, dass zunächst Zusatzbeiträge nicht in großem Umfang zu erwarten sind und das
Geld sogar noch für den Sozialausgleich reicht.
Allerdings, lieber Kollege Lauterbach, sollte man daraus nicht den Schluss ziehen, zu fordern, das Geld
gleich wieder wegzunehmen, damit Zusatzbeiträge
schneller kommen und womöglich kein Geld für den Sozialausgleich zur Verfügung steht, und somit eine Art
politische Verelendungsstrategie betreiben. Das halten
wir ausdrücklich für falsch.
({7})
Es ist wichtig, dass wir die Kopfpauschale immer
wieder zum Thema machen und Ihnen diese Durchtauchstrategie nicht durchgehen lassen. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, heute über diesen Antrag der SPD
zu debattieren, auch wenn man ihm anmerkt, dass er
schon etwas älter und in einigen Punkten überholt ist. Es
gibt richtige Ziele, nämlich die Wiederherstellung der
Parität oder die Leitidee, dass die gesamte Gesellschaft
für die Finanzierung des Gesundheitswesens zuständig
ist. Deswegen teilen wir auch die Forderung nach einer
Bürgerversicherung. Wir haben dafür ein Konzept vorgelegt.
({8})
Aber andere Berichte - das wurde schon angesprochen - lassen vermuten, dass die SPD hinter den Stand
ihrer eigenen Erkenntnisse, die in diesen Antrag eingegangen sind, wieder zurückgefallen ist. In dem Antrag
steht richtig, es müsse in den nächsten Jahren im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden
Euro geschlossen werden, wenn die Schuldenbremse
eingehalten werden solle. Dies mache deutlich - ich zitiere -, „dass von einem steuerfinanzierten Sozialausgleich nach dem derzeitigen Stand nicht ausgegangen
werden kann“. Zu Deutsch: Das Geld ist nicht da. Auch
wir sehen das so. Aber wenn das so ist, dann ist natürlich
auch kein Geld für die Finanzierung der Bürgerversicherung über den Bundeshaushalt da. Das heißt, eine nachhaltigere und gerechte Finanzierung der gesetzlichen
Krankenversicherung wird vornehmlich über Beiträge
stattfinden müssen. Deswegen ist unsere Bürgerversicherung auch ein beitragsfinanziertes System.
({9})
Unsere Zustimmung zu dem SPD-Antrag ist als Ermunterung an die Kolleginnen und Kollegen von der
SPD gedacht, die Kohärenz und Konsistenz ihrer Politik
zu überprüfen.
({10})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sowohl die Debatte als auch der Antrag zeigen eines ganz deutlich: Die SPD ist noch immer nicht in ihrer
Oppositionsrolle angekommen. Herr Gabriel und Herr
Lauterbach machen immer mit; Hauptsache, die Regierung wird kritisiert. Eine konsistente Linie ist jedoch
nicht erkennbar. Die bisherige Debatte hat das eindrücklich gezeigt.
({0})
Ihr Antrag, aber auch Ihre Rede, lieber Herr
Lauterbach, soll offensichtlich nur eines zeigen: Sie wollen die letzten neun Jahre, in denen die SPD Verantwortung in der Gesundheitspolitik getragen hat, vergessen
machen. Was haben wir denn vorgefunden, als wir den
Schlüssel für das Gesundheitsministerium bekommen
haben?
({1})
Wir haben ein Milliardendefizit für das Jahr 2010 und
ein Milliardendefizit für das Jahr 2011 vorgefunden. Wir
haben ein Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung vorgefunden, das nicht in der Lage war,
ein solches Milliardendefizit zu schultern. Wenn wir
nichts getan hätten, wenn wir also das beibehalten hätten, was die SPD vorbereitet hat - Gesundheitsfonds,
Zusatzbeiträge, Finanzierungssystem -, dann hätten wir
Krankenkasseninsolvenzen erlebt. Die Versicherten hätten sich nicht mehr auf das Gesundheitswesen und auf
ihre Krankenversicherung verlassen können.
Es war unsere Leistung, dass die Menschen in
Deutschland in diesem Jahr, Anfang 2011, wissen: Sie
können sich auf ihre Krankenversicherung und auf das
Gesundheitswesen verlassen. - Das ist nicht Ihre Hinterlassenschaft gewesen. Ihre Politik hätte dazu geführt,
dass die Krankenkassen teilweise zusammengebrochen
wären. Das hätte Versorgungsprobleme mit sich gebracht.
({2})
Wir hingegen haben dafür gesorgt, dass das Konzept mit
Zusatzbeiträgen und anderem überhaupt erst tragfähig
wird. Sie diskreditieren das alles mit Begriffen wie
„Kopfpauschale“ und „Vorkasse“.
Gucken wir uns doch einmal an, was die SPD in
Deutschland eingeführt hat: In Deutschland müssen
Menschen unabhängig von ihrem Einkommen und ihrer
sozialen Situation zunächst 10 Euro bezahlen, wenn sie
zum Arzt gehen, bevor sie den Arzt überhaupt erst sehen.
({3})
Das ist die Kopfpauschale und Vorkasse, wie sie die
SPD in Deutschland mit der Praxisgebühr eingeführt hat.
Das, was wir machen, ist etwas völlig anderes.
({4})
- Das scheint wehzutun, Frau Ferner. Es scheint Ihnen
richtig wehzutun, dass hier endlich einmal die Wahrheit
darüber gesagt wird, wer Vorkasse und Kopfpauschale in
Deutschland eingeführt hat.
({5})
Was machen wir denn? Wir führen eine gerechtere
Beitragsfinanzierung für die Bürgerinnen und Bürger
ein.
Herr Präsident, ich muss daran erinnern, dass Herr
Lauterbach eine Frage stellen möchte.
Man muss nicht gleich in Sekundenschnelle darauf
reagieren, Herr Kollege.
({0})
Bitte schön, Herr Lauterbach.
Herr Bahr, ist es denn nicht richtig, dass die Länder,
in denen die FDP mitregiert, im Bundesrat der Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro zugestimmt haben? In NRW
beispielsweise haben Sie mit zugestimmt. Ist es nicht
auch richtig, dass Sie fast anderthalb Jahre Zeit gehabt
hätten, die Praxisgebühr wieder abzuschaffen, wenn sie
Ihnen nicht gefällt?
({0})
Lieber Herr Lauterbach, es tut mir leid, Sie korrigieren zu müssen, aber die schwarz-gelbe Regierung in
NRW gab es leider erst ab 2005. Wir hätten sie gerne
schon früher gehabt. Bis 2005 gab es in NRW noch eine
rot-grüne Regierung. Sie hat der Praxisgebühr im Bundesrat in der Tat zugestimmt. Wie gesagt, damals war die
FDP nicht in der Regierung, sondern SPD und Grüne.
Sie müssen also noch einmal nachschauen, wer im Bundesrat zugestimmt hat.
Die FDP hat der Praxisgebühr im Bundesrat nicht zugestimmt. Sie hat sie damals als einzige Partei im Deutschen Bundestag abgelehnt, weil sie gesagt hat: Das ist
keine Eigenbeteiligung, die wirklich einen Anreiz
schafft. - Natürlich brauchen wir eine Eigenbeteiligung;
da haben Sie völlig recht. Aber die Praxisgebühr ist eben
keine steuernde Eigenbeteiligung, die einen Zusammenhang zur Leistung bringt, sondern sie ist eine Vorkasse
ohne Zusammenhang zur Leistung und unabhängig von
der sozialen Situation. Das ist eine Kopfpauschale. Das,
was Sie kritisieren, haben in Wahrheit Sie in Deutschland eingeführt, lieber Herr Lauterbach.
({0})
Ich möchte auf die anderen Punkte zu sprechen kommen, die genannt worden sind. Wir haben ein gerechtes
Beitragsfinanzierungssystem zustande gebracht, damit
die Versicherten in Euro und Cent vergleichen können,
was sie die Krankenversicherung kostet und was sie von
ihr bekommen. Die ersten Erfolge zeigen sich: Die
Krankenkassen, die jetzt zum Teil 8 Euro als - so nenne
ich es - Ulla-Schmidt-Gedächtnis-Preis verlangen, den
Zusatzbeitrag, unterscheiden sich von anderen Krankenkassen zum Beispiel bei den Verwaltungskosten. Wenn
man das einmal vergleicht, stellt man fest: Die eine hat
möglicherweise um 10 Euro höhere Verwaltungskosten
pro Beitragszahler als die andere. Hätte also die Kasse,
die 8 Euro verlangen muss, nicht so hohe Verwaltungskosten wie die andere, müsste sie die 8 Euro gar nicht
verlangen. Da ist es doch eine Form des Wettbewerbs,
wenn die Versicherten vergleichen und schauen können,
was ihnen die Leistungen der Krankenkassen wert sind.
Wir wollen im Interesse der Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, dass Unterschiede erkennbar werden.
Das ist ein fairer Wettbewerb.
Das, was Sie im Kern wollen, lieber Herr Lauterbach,
ist ja nicht konsistent. Sie haben erkannt, dass die Ursprungsidee der Bürgerversicherung tot ist, dass das
Ganze nicht umsetzbar ist, zu viel Bürokratie, zu einem
enormen Aufwand für die Krankenkassen führt, sodass
Krankenkassen zu zweiten Finanzämtern werden: Die
Oma muss sozusagen erst einmal ihre Sparbuchzinsen
der Krankenkasse zum Zweck der Beitragserhebung zeigen. Diesen Irrweg haben Sie erkannt und deswegen
korrigiert.
Was Sie jetzt wollen, ist doch in Wahrheit der Einstieg in ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen, in ein
staatliches, zentralistisches Gesundheitswesen, in dem
der Finanzminister jedes Jahr entscheidet, wie viel Geld
es zusätzlich für den Gesundheitsfonds, für das Gesundheitswesen gibt. Die Höhe der Mittel ist dann abhängig
von der Haushaltslage. Das, was Sie hier vorantreiben
wollen, ist eine Gesundheitspolitik nach Kassenlage.
Das zeigt auch Ihr aktueller Vorschlag. Er wird in einer Situation gemacht, in der wir froh sein können, dass
wir die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung
stabilisiert haben. Sie hingegen rufen nach einer Beitragssenkung, die nicht zu finanzieren ist. Das zeigt die
Unseriosität der SPD, nicht der Opposition; denn die
Grünen sind da seriöser. Sie haben erkannt, dass man für
die Menschen in Deutschland verlässlich bleiben muss.
Sie von der SPD fordern eine Beitragssenkung, ohne
hier eine seriöse Finanzierung auf den Weg zu bringen.
Wir können froh sein, dass wir einen Puffer haben. Ein
Puffer ist allemal besser als eine Politik, die auf Kante
näht. Das war bekanntermaßen die SPD-Politik der Vergangenheit, und daran orientieren wir uns nicht.
({1})
Zur Wahrheit gehört: Ja, wir brauchen eine gerechtere
Finanzierung. Wir brauchen mehr Wettbewerb zwischen
den Krankenkassen, damit die Versicherten entscheiden
können. Wir bringen das auf den Weg, damit die Versicherten sehen können, was ihre Krankenversicherung
kostet und was sie dafür leistet. Das, was wir als deutsches Gesundheitswesen zu schätzen wissen und wofür
uns die Länder um uns herum beneiden, wird nicht zum
Nulltarif zu haben sein; es wird im Hinblick auf den medizinisch-technischen Fortschritt und die alternde Bevöl9742
kerung in den nächsten Jahren seinen Preis haben. Wir
haben für eine stabile Finanzierung in den nächsten Jahren gesorgt, während Sie immer noch kurzsichtig sind.
Das bedeutet für die Bürgerinnen und Bürger keine Verlässlichkeit in der Gesundheitspolitik, und deswegen
sollten die Bürgerinnen und Bürger eher Union und FDP
ihr Vertrauen in der Gesundheitspolitik schenken.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit keine Legenden entstehen: Die festen Zusatzbeiträge
sind von Ihnen, von der CDU/CSU, gekommen.
({0})
Wir wollten einkommensabhängige Zusatzbeiträge. Ich
erkläre nur, woher diese Beiträge kommen. Nicht alles
kann man der SPD ans Bein binden.
({1})
Ich muss einer weiteren Legende widersprechen. Wie
ist es denn mit der Praxisgebühr? Die Praxisgebühr ist
von der CSU erdacht worden. Wir haben ein Hausarztmodell vorgeschlagen. Aber wie es so ist im politischen
Geschäft - das wissen auch Sie, Herr Spahn -: Man einigt sich am Ende irgendwo. Die Verantwortung für solche Entscheidungen allerdings ganz abzulehnen, das
geht definitiv nicht.
({2})
Was ebenfalls nicht geht, ist, uns die Kooperation mit
Sozialverbänden vorzuwerfen. Auf gut Bayerisch gesagt: Sie packeln mit der Atomindustrie, mit der Pharmalobby, mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie. Auch wir suchen uns unsere Bündnispartner, und
die finden wir eben bei den Sozialverbänden.
Ein weiterer Aspekt ist der Zeitablauf. Es ist in der
Tat so, dass die Große Anfrage, die wir heute ebenfalls
besprechen, schon im Februar 2010 in das parlamentarische Verfahren eingebracht worden ist. Wenn Sie ein
knappes Dreivierteljahr brauchen, um diese Große Anfrage zu beantworten, und wir diesen Antrag zusammen
mit der Antwort auf die Große Anfrage behandeln wollen, dann ist es nicht ganz fair, uns Vorwürfe zu machen.
Das Problem lag wohl eher im Gesundheitsministerium.
({3})
Zum Thema Kopfpauschale ist schon viel gesagt worden. Ich benutze dieses Wort nach wie vor, weil das nach
meiner Auffassung eine Kopfpauschale ist. Tatsache ist:
Die unbegrenzt wachsende Höhe der Kopfpauschalen,
die durch die steigenden Kosten in der Gesundheitswirtschaft verursacht werden, und die Verabschiedung der
Arbeitgeber aus der Finanzierung künftiger Ausgabensteigerungen bergen die Gefahr - jedem, der rechnen
kann, ist das klar -, dass die Bürger massiv belastet werden. Dies alles ist - das muss man deutlich sagen - von
Ihnen in der Zwischenzeit beschlossen worden.
Am Anfang hat es viel Theater gegeben, weil Sie
noch nicht wussten, was Sie wollten. Deswegen haben
wir die Große Anfrage zum Thema Kopfpauschale eingebracht. Zum einen haben Sie eine große Kopfpauschale vorgesehen, zum anderen haben Sie etwas von einer kleinen Kopfpauschale erzählt. All das war nichts
Festes. Mit dem Theater um die große Kopfpauschale
wollen die meisten Menschen nichts mehr zu tun haben.
({4})
Sprechen Sie mit den Menschen; dann werden Sie feststellen, dass die Kopfpauschalen von den Menschen abgelehnt werden.
Ich führe nochmals das Problem der Rentnerinnen
und Rentner an. Eine Rentnerin bzw. ein Rentner kann
sich heute noch nicht vorstellen, 30 bis 40 Euro zusätzlich zu zahlen, ohne - wenn er bzw. sie Pech hat - einen
Cent Sozialausgleich zu bekommen. Das wird Ihnen
noch auf die Füße fallen. Da bin ich ganz sicher.
({5})
Sie schlagen vor, dass der Rentner bzw. die Rentnerin
die Kasse wechseln soll. Das macht deutlich, wie weit
Sie von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt
sind. Gerade Ältere oder Hochaltrige sind absolut überfordert damit, von einer Krankenkasse zur nächsten zu
hüpfen und bald wieder zurück. Ihre Politik respektiert
nicht die Lebensrealität der Menschen.
Herr Spahn, Sie haben ausgeführt, dass die alten
Menschen Angst haben. Sie haben zu Recht Angst: zum
einen vor der Vorkasse - die kommen wird; das ist gar
keine Frage -,
({6})
zum anderen wenn sie verfolgen, wie die Debatte über
die Folgen der demografischen Entwicklung in unserer
Gesellschaft geführt wird. Alte Menschen sagen mir:
Wir sind doch nicht schuld daran, dass wir so alt geworden sind. Warum diskutiert ihr die ganze Zeit so, als wären wir die Schuldigen an den Ausgabensteigerungen im
Gesundheitswesen? - Das gibt mir schon zu denken. Die
alten Menschen haben ein schlechtes Gefühl. Dabei haben sie viel für unser Land getan und viel erlitten. Wir
sind davon überzeugt: Um mehr Solidarität in das System zu bekommen, ist die Bürgerversicherung der richtige Weg.
Zur Bürgerversicherung. Viele Wege führen nach
Rom. Wir werden einen detaillierten Vorschlag unterbreiten, über den wir diskutieren können. Wir können all
Angelika Graf ({7})
die Probleme und Argumente aufnehmen, die vonseiten
der Grünen, der Linken oder von Ihrer Seite vorgetragen
worden sind.
({8})
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Stephan Stracke für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Seit 1998, liebe Frau Kollegin Graf,
versprechen Sie uns in diesem Hohen Hause, dass Sie etwas vorlegen, das mit der Bürgerversicherung in Einklang zu bringen ist, irgendetwas Greifbares, ein Konzept; aber nichts dergleichen kam. Nun kündigen Sie an,
dass Sie das im April dieses Jahres machen wollen. Ein
Schelm, wer Böses dabei denkt. Am 27. März sind Wahlen. Sie sagen sich, dass man mit der Bürgerversicherung
gut Wahlkampf betreiben kann.
({0})
Deswegen sparen Sie es sich, ein Konzept vorzulegen.
Von Ihnen kommt nichts Konkretes, nichts Umsetzbares,
nichts Tragfähiges.
Wir als christlich-liberale Koalition hingegen haben
gehandelt und das Preismonopol der Pharmaindustrie
gebrochen.
({1})
Das hat dazu geführt, dass gerade für die Versicherten
Einsparungen in Milliardenhöhe erzielt werden können.
Wir haben das Defizit von 10 Milliarden Euro erfolgreich bekämpft, und zwar durch einen Mix, der sowohl
die Einnahme- als auch die Ausgabenseite betrifft, und
das ohne Leistungsausgrenzung, ohne Priorisierungen
und ohne den Leistungskatalog einzuschränken. Was wir
hier vorgelegt haben, ist wirklich à la bonne heure.
Jetzt erklären Sie hier, mit dem Zusatzbeitrag hätten
Sie nichts zu schaffen. Haben Sie denn mitgestimmt,
oder haben Sie nicht mitgestimmt? Natürlich haben Sie
im Rahmen der Großen Koalition dafür gestimmt. Wir
haben diesen Zusatzbeitrag jetzt weiterentwickelt und
ihn sozial flankiert,
({2})
nämlich mit einem über Steuern organisierten solidarischen Sozialausgleich. Ich halte das insgesamt für richtig und berechtigt.
In Ihrem Antrag fordern Sie uns als christlich-liberale
Koalition auf, Ihre kruden Ideen einer Bürgerversicherung umzusetzen.
({3})
Es ist sicherlich nicht unsere Aufgabe, hierzu ein Konzept
vorzulegen. Unsere Aufgabe ist es aber, einmal darauf
hinzuweisen, was das, was Sie mit Ihrer Bürgerversicherung einführen wollen, bedeutet. Im Ergebnis bedeutet es
nämlich eine schlechtere Versorgung der Patienten in
ganz Deutschland;
({4})
denn die Leitidee, die diese Bürgerversicherung durchwabert, ist Staatsdirigismus.
({5})
Sie wollen zunächst einmal möglichst viel Geld von den
Versicherten einnehmen, um es dann wieder zu verteilen.
Ihre Idee bedeutet Staatsmedizin.
({6})
Das gilt schon für die Positivliste, die von Ihnen immer
wieder ins Feld geführt wird. So etwas bedeutet eine
ganz klare Begrenzung der Therapiefreiheit.
Die sieben Eckpunkte, die Sie hier angedacht haben,
führen zu alles anderem als zu den paradiesischen Zuständen und elysischen Verhältnissen, die Sie meinen. Es
sind nicht sieben Brücken in solche Verhältnisse, sondern vor allem sieben Krücken in eine schlechtere Versorgung in Deutschland.
({7})
Zunächst einmal versprechen Sie, im Rahmen einer
Bürgerversicherung die Parität zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer wiederherzustellen. Das klingt beim
ersten Ton gut, wird aber sehr schnell dissonant, weil Sie
die Entkopplung zwischen steigenden Gesundheitskosten auf der einen Seite
({8})
und steigenden Arbeitskosten auf der anderen Seite nicht
hinbekommen.
({9})
Aufgrund der demografischen Entwicklung werden die
Gesundheitskosten nämlich steigen. Diejenigen, die sich
nicht zutrauen, den Menschen die Wahrheit zu sagen,
sind im Ergebnis diejenigen, die die Bürger hinters Licht
führen.
({10})
Wir halten das, was wir auf den Weg gebracht haben,
für sinnvoll. Damit wird nämlich nicht die Einnahmeseite untergraben. Genau das wäre aber das Ergebnis der
Umsetzung Ihrer Forderung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weinberg?
Ja, gerne.
Werter Herr Kollege Stracke, ist Ihnen bekannt, dass
in den letzten 10 bis 15 Jahren die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, die Quote von 6,5 Prozent niemals überschritten haben
({0})
und immer gleichbleibend waren? Wieso reden Sie in
diesem Zusammenhang von steigenden Gesundheitskosten? Können Sie mir das bitte erklären?
Ein solcher Vergleich im Rahmen des Bruttoinlandsprodukts ist durchaus richtig. Allerdings müssen Sie
auch auf diejenigen schauen, die das Ganze erwirtschaften, und berücksichtigen, wie die Lohnentwicklung insgesamt verläuft. Deswegen ist es durchaus sinnvoll, alles
dafür zu tun, dass Arbeit in diesem Land geschützt und
gestützt wird.
({0})
Gerade deshalb ist es der richtige Ansatz, hier die Parität
aufzuheben. Das tun wir, damit möglichst viele Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und damit auch ein entsprechendes Beitragsaufkommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kollegin Graf?
Ja. - Frau Kollegin, bitte schön.
Herr Kollege Stracke, wenn Sie sich schon so um die
Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sorgen: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass die flächendeckende Einführung eines Mindestlohns ein Weg
dahin wäre?
({0})
Meine sehr verehrte Kollegin, Sie wissen, dass der
Mindestlohn viel debattiert und derzeit auch im Rahmen
anderer Sachzusammenhänge behandelt wird. Im Bereich des Gesundheitswesens hat diese Debatte - mit
Ausnahme der Pflegeversicherung, wo wir sie mit auf
den Weg gebracht haben - meines Erachtens keine zielgreifende Fundierung.
({0})
Entscheidend ist, dass das, was Sie als Bürgerversicherung verkaufen, ein breit angelegtes Belastungsprogramm für die Bürgerinnen und Bürger ist. Sie schröpfen
in erster Linie die Mittelschicht in diesem Lande.
Schauen Sie sich nur einmal den Vorschlag der Grünen
an, die Beitragsbemessungsgrenze um 47 Prozent zu erhöhen.
({1})
Sie haben ja eine Erhöhung von 3 750 Euro auf
5 500 Euro beschlossen. Das ist eine enorme Belastung,
({2})
nicht überwiegend für die Privatversicherten, sondern
zunächst einmal für die freiwillig gesetzlich Versicherten. Dieser Personenkreis, der zusätzlich belastet würde,
umfasst 4 Millionen Menschen. Es träfe gerade diejenigen, die tagtäglich in der Früh aufstehen und zur Arbeit
gehen, also die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
({3})
Sie arbeiten Tag für Tag dafür, dass die sozialen Sicherungssysteme erhalten bleiben.
({4})
Die Bürgerversicherung ist ein Enteignungsinstrument;
({5})
denn Sie wollen sie auf sämtliche Einkommensarten erstrecken: auf Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung sowie auf Zinsen. Das trifft nicht überwiegend die
Vermögensmillionäre. Ganz im Gegenteil: Der Dumme
ist der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer; es ist
die breite Mittelschicht in unserem Land. Sie führen damit eine Sondersteuer ein, wohl wissend, dass sie einen
erheblichen bürokratischen Aufwand und damit eine Erhöhung der Abgabenlast mit sich bringt, ganz zu schweigen von der damit ausgelösten Kapitalflucht.
Was das Thema „Einbeziehung der Privatversicherten“ angeht, bin ich sehr zurückhaltend. Ich glaube Ihnen
nicht, dass Sie den Vertrauensschutz und die verfassungsrechtlichen Bedenken beachten werden.
({6})
Sie wollen an die Rückstellungen der privaten Krankenkassen heran und damit an das Geld derer, die diese Beiträge erarbeitet haben. Sie werden alles probieren und
verfassungsrechtlich austesten, wie weit Sie gehen können.
Auch die Erweiterung des Kreises der versicherten
Personen, wie es bei der Bürgerversicherung der Fall
wäre, ist keine Lösung; denn aus Beitragszahlern werden
Kranke. Man muss sich nur einmal die Altersstruktur der
Beamten anschauen. Man muss auch einmal darüber diskutieren - ich verweise in diesem Zusammenhang auf den
verfassungswidrigen Haushalt von NRW, den Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zu verantworten hat -, welche Mehrausgaben dies für die Länder bedeuten würde.
Die Bürgerversicherung, so wie die Grünen sie angedacht haben, ist nicht zuletzt ein Angriff auf Ehe und Familie.
({7})
Sie haben schon im Zusammenhang mit dem Steuerrecht
gesagt, Sie wollten das Ehegattensplitting abschaffen.
({8})
Genau diesen Gedanken übertragen Sie nun auf die gesetzliche Krankenversicherung. Damit nehmen Sie Ungerechtigkeiten zwischen kinderlosen Ehepaaren und
nichtehelichen Lebensgemeinschaften in Kauf. Das Entscheidende ist aber: Die Abschaffung des Ehegattensplittings an den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu koppeln, untergräbt unser Verständnis von
Ehe und Familie. Es entspricht nicht unserem Verständnis von Verantwortungsgemeinschaft. Mit Ihrer Forderung bestrafen Sie im Ergebnis diejenigen, die Kinder
erziehen wollen. Sie wollen die Kinder in die Obhut des
Staates geben und Helfershelfer bei der Erziehung sein.
({9})
Das ist Hedonismus pur und nichts, was unsere Gesellschaft zusammenhält.
({10})
Die Bürgerversicherung ist ein Irrweg. Deswegen machen wir ihn nicht mit. Wir haben für die gesetzliche
Krankenversicherung einen stabilen Finanzrahmen geschaffen. Wir werden mit dem Versorgungsgesetz den
Weg, den wir uns vorgenommen haben, nämlich vom
Patienten aus zu denken und Versorgungsstrukturen entsprechend zu gestalten, konsequent weitergehen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kathrin Vogler für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Nachdem uns die Kollegin Flach und der Kollege Bahr von
der FDP hier so schön mit Nebelkerzen beworfen haben,
möchte ich einmal daran erinnern, worum es der FDP in
dieser Debatte eigentlich geht. Dazu zitiere ich aus einer
Zeitung, die Ihnen sicherlich deutlich nähersteht als uns,
nämlich aus der Welt vom 9. Februar 2009:
Die FDP will bei einer Regierungsbeteiligung nach
der Bundestagswahl die gesetzliche Krankenversicherung abschaffen.
({0})
Weiter heißt es:
Die FDP tritt seit längerem für die Privatisierung
des gesamten Krankenversicherungssystems ein.
({1})
Das hat sich aber kein Journalist ausgedacht, sondern der
damalige gesundheitspolitische Sprecher Ihrer Fraktion,
der heutige Staatssekretär Daniel Bahr,
({2})
der jetzt im Gesundheitsministerium daran arbeitet,
diese radikalen Pläne zur Zerschlagung unseres Gesundheitssystems umzusetzen.
({3})
Entsolidarisieren, Privatisieren, Ruinieren - das ist der
gruselige Dreisatz der FDP für unser Gesundheitswesen.
({4})
Das kann man mit uns wirklich nicht machen.
({5})
Statt eines solidarischen Systems, in dem Starke für
Schwache und Gesunde für Kranke einstehen, wollen
Sie ein System, in dem alle gemeinsam - von der Friseurin bis zum Bankmanager - die Renditen der Versicherungskonzerne steigern. Es ist aber so, dass die Friseurin
mit ihrem Gehalt nur einen Basisschutz finanzieren
kann, während sich der Bankmanager alles dazukaufen
kann, was er möchte. Herr Bahr, Sie müssen ganz enttäuscht gewesen sein, dass dieses Konzept dem AllianzVersicherungskonzern nicht mehr als eine Spende in
Höhe von 50 000 Euro für den Wahlkampf wert war, wo
doch SPD, CDU, CSU und die Grünen jeweils
60 000 Euro bekommen haben.
Dann haben Sie auch noch von der CSU - der Kollege Stracke hat gerade gesprochen ({6})
ordentlich Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen. „Wildsau“ hat es geheißen, als Herr Seehofer
die Kopfpauschale als genau das bezeichnet hat, was sie
ist, nämlich als zutiefst unsozial.
({7})
Auch hier möchte ich zitieren: „Kopfpauschale bringt
zu hohe Belastung“ und „Die CSU lehnt eine Kombination aus Beitragserhöhung und Kopfpauschale ab“. Das
stand im Juni 2010 auf Ihrer Website www.csu.de, und
im September hat Herr Söder das Ganze noch einmal
bestätigt. Da möchte ich Ihnen doch fast die Website
www.wegweiser-demenz.de des Familienministeriums
empfehlen;
({8})
denn schon zwei Monate später, im November, haben
alle CSU-Abgeordneten in diesem Haus beim GKV-Finanzierungsgesetz genau für das gestimmt, was sie vorher kritisiert haben:
({9})
eine Kombination aus Beitragserhöhung und Kopfpauschale. Vielleicht war bei Ihrer Meinungsbildung auch
der erneute Scheck von der Allianz vom Juli 2010 behilflich?
({10})
Aber Sie würden das am liebsten vergessen. Deswegen
haben Sie den Text von der Homepage gelöscht.
Jetzt kommt der Kollege Spahn von der CDU daher
und versucht, sich mit großem Getöse populistisch als
Rächer der gesetzlich Versicherten und Vertreter der Patientenrechte darzustellen.
({11})
Mich interessiert, Herr Spahn: Warum profilieren Sie
sich als Wahrer der Interessen von Patientinnen und Patienten und haben gleichzeitig in der gestrigen Anhörung, in der es um die Patientenrechte ging, mit keiner
einzigen Organisation gesprochen, die die Interessen der
Betroffenen vertreten hat? Stattdessen haben Sie dem
Verband der privaten Krankenversicherung viel Raum
gegeben, um darzustellen, was er unter Patientenrechten
versteht. Dafür sind Ihnen bzw. Ihrer Partei wahrscheinlich auch 2011 wieder die 60 000 Euro von der Allianz
sicher.
({12})
Ich kann Ihnen versprechen: Die Linke wird weiterhin für ein solidarisches und soziales Gesundheitswesen
kämpfen. Dafür verzichten wir als einzige Partei in diesem Haus gern auf den jährlichen Scheck von der Allianz.
({13})
Die Linke und die Gesundheit haben nämlich eines gemeinsam: Beide kann man nicht kaufen; beide sind unbezahlbar.
({14})
Das Wort hat nun Lothar Riebsamen für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nichts könnte anschaulicher machen als diese Vorlagen,
die wir heute diskutieren, wie entscheidend und zukunftsweisend die christlich-liberale Koalition im abgelaufenen Jahr 2010 im Gesundheitswesen für unser Land
vorangekommen ist. Wenn man die Große Anfrage und
den Antrag liest, wird deutlich: Sie sind von der Geschichte längst überholt. Auf Schwäbisch würde man sagen: Sie sind so aktuell wie die alte Fastnacht.
Genau in den von Ihnen angesprochenen Punkten haben wir das Gesundheitswesen in unserem Land ein
Stück weit zukunftsfester gemacht. Wir haben die Arbeitskosten entlastet, nicht von den Kosten, die wir bisher im Gesundheitswesen hatten, sondern von den zukünftig anfallenden Kosten, die aufgrund der
demografischen Entwicklung und des medizinischen
Fortschritts entstehen. Diese Kosten wollen wir nicht zusätzlich in den Arbeitskosten haben. Zudem haben wir
Entscheidendes für die Solidarität in diesem System zwischen den Gesunden, den Kranken, den Reicheren und
den Ärmeren getan.
({0})
Wenn man Ihre Vorlagen liest, wird nicht deutlich,
wie Sie reagieren und was Sie tun wollen. Sie akzeptieren, dass Jahr für Jahr die Gesundheitskosten deutlich
steigen. Sie müssen auch akzeptieren, dass sie in Zukunft noch viel deutlicher und progressiver steigen werden. Sie haben nichts anderes anzubieten, als zusätzlich
Steuermittel ins System zu pumpen, ohne zu sagen, woher diese Steuermittel kommen sollen - vermutlich aus
Steuererhöhungen -, oder diese Kosten zusätzlich auf
die Arbeitskosten abzuwälzen.
({1})
Wir können den Herausforderungen nicht begegnen,
indem wir die Produktivität und damit die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes belasten. Es ist doch kein Zufall, dass wir heute nur noch 3 Millionen Arbeitslose
oder weniger haben und Vollbeschäftigung anstreben,
während wir zum Ende der rot-grünen Regierungszeit
5 Millionen Arbeitslose hatten. Es ist doch auch kein Zufall, dass unsere deutsche Volkswirtschaft nach dieser
Krise im Vergleich mit allen anderen Euro-Ländern am
besten dasteht; ein Stück weit gilt das sogar im weltweiLothar Riebsamen
ten Vergleich. Wir wollen die Volkswirtschaft unseres
Landes wettbewerbsfähig halten. Dazu beigetragen haben auch die Tarifpartner, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die in der Krise Lohnzurückhaltung geübt
haben und die Lohnkosten dadurch nicht zusätzlich belastet haben. Das hat uns starkgemacht und gut aus dieser Krise herauskommen lassen.
({2})
Sie selbst haben diesen Weg einst als richtig erkannt.
Die rot-grüne Regierung hat die Kosten um 0,9 Prozentpunkte in Richtung Arbeitnehmer verschoben,
({3})
und während der Großen Koalition wurden die Arbeitgeberbeiträge eingefroren. Auch dies geschah mit der Absicht, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die
Arbeitsplätze in unserem Land zu erhalten.
({4})
Sie ignorieren die demografische Entwicklung. Wir
hingegen haben im vergangenen Jahr zwei Gesetze verabschiedet, die deutliche Fortschritte bringen. Dem Defizit von 9 Milliarden Euro, das zu erwarten war, sind wir
dadurch begegnet, dass wir den Zwangsrabatt auf
16 Prozent erhöht haben und wir weniger im Bereich der
ambulanten und stationären Einrichtungen gegeben haben. Das waren die kurzfristigen Maßnahmen.
Durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz haben wir einen Paradigmenwechsel auf der Kostenseite
erreicht.
({5})
Wir haben das erreicht, was unter einer sozialdemokratischen Ministerin elf Jahre lang nicht erreicht wurde: Die
pharmazeutische Industrie und die gesetzlichen Krankenversicherungen begegnen sich auf Augenhöhe,
({6})
wenn neue Medikamente eingeführt werden. Grundlage
dieser Verhandlungen ist der sogenannte Mehrnutzen.
Das war ein ganz entscheidender Fortschritt im vergangenen Jahr, den wir uns zugutehalten können. Es ist gut,
dass wir im vergangenen Jahr die Regierungsverantwortung hatten. So konnten wir diesen Schritt gehen.
({7})
Sie preisen immer wieder die Solidarität, die in früherer Zeit angeblich herrschte. Dazu muss ich Ihnen sagen:
So weit war es mit der Solidarität nicht her. Die Solidarität galt bis zur Beitragsbemessungsgrenze von
3 750 Euro. Darüber hinaus gab es sie nicht. Die Solidarität galt nicht beim Zusatzbeitrag, den es damals schon
gab. Wir haben zum ersten Mal einen Sozialausgleich
eingeführt, der aus Steuermitteln finanziert wird.
({8})
Die reicheren Privatversicherten und die Wirtschaft
müssen sich an diesem Sozialausgleich beteiligen.
({9})
Wir haben keine Kopfprämie eingeführt. Ich sage es
noch einmal: Für uns ist dies ein Stück weit auch Familienpolitik. Mit uns ist es nicht zu machen, dass Kinder
auf der Grundlage einer Kopfprämie veranlagt werden.
Das wollen wir schon aus familienpolitischen Gründen
nicht.
({10})
Es ist schlicht infam, diesen Punkt immer wieder anzusprechen; denn das ist schlicht und ergreifend unwahr.
({11})
Die SPD weiß nicht, was sie will. Sie nimmt Abschied von Hartz IV, sie nimmt Abschied von der Rente
mit 67,
({12})
sie nimmt auch ein Stück weit Abschied von der Schuldenbremse. Nun geht sie auch noch auf Distanz zur Bürgerversicherung, zumindest was die Lesart der Grünen
anbelangt. Der Begriff „Bürgerversicherung“ ist eigentlich durch die Grünen besetzt.
({13})
Sie müssen sich einen neuen Begriff überlegen. „Bürgerverunsicherung“ wäre ein guter Begriff. Das wäre mein
Rat.
({14})
- Oder „Schildbürgerversicherung“. - Wenn die Grünen
die Dagegen-Partei sind, dann ist die SPD die Rollerückwärts-Partei. Das klingt zwar sehr sportlich, ist aber
nur Ausdruck dafür, dass sie das vorwärts nicht kann.
({15})
Das Wort hat nun Mechthild Rawert für die SPDFraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf den
Antrag eingehe, möchte ich auf einige der Äußerungen
eingehen, die hier gemacht wurden.
({0})
Ich fange mit der Förderung im Bereich der Familienpolitik an. Ihnen ist - ich empfehle Ihnen, es zu lesen 9748
das Sachverständigengutachten für den ersten Gleichstellungsbericht bekannt. Ihre Ministerin war zu feige, es
persönlich entgegenzunehmen.
({1})
- Sie haben nur eine vermeintliche Frauenministerin. Sie
heißt Kristina Schröder. - In diesem Gutachten für den
Gleichstellungsbericht - es wurde übrigens von Frau von
der Leyen in Auftrag gegeben - wird Ihnen eine Frauenquote empfohlen. Darin wird Ihnen auch empfohlen,
über das Ehegattensplitting nicht nur nachzudenken,
sondern es auch zu reformieren. Ich sage ausdrücklich:
Am besten wäre eine Abschaffung.
({2})
Das steht in dem Ihnen vorgelegten Sachverständigengutachten für den Gleichstellungsbericht. Es ist eine gute
Lektüre.
Zweiter Punkt, Staatsobhut. Ich habe gerade einmal
nachgeschaut, Herr Stracke: Sie sind Ende Dreißig, geben an, ledig zu sein; ob Sie Kinder haben, weiß ich
nicht. Ich empfehle Ihnen: Machen Sie es vor! Machen
Sie private Väterobhut! Schimpfen Sie aber nicht auf
gute öffentliche Kitas, von denen Bayern mehr bräuchte,
und auf gute Ganztagsbetreuung; denn diese dienen der
Bildung der Kinder und der Emanzipation der Frauen.
({3})
Zu einem weiteren Vorwurf. Es wurde gesagt, der Antrag und die Anfrage seien alt. Ja, sie sind nicht mehr
jüngsten Datums; das gebe ich unumwunden zu. Aber
Ihre Beantwortung unserer Großen Anfrage mit 28 Fragen hat sieben Monate gedauert.
({4})
Das Allerschärfste kommt noch: Sie sind noch nicht einmal in der Lage, alle 28 Fragen zu beantworten.
({5})
Bei den Fragen 4 bis 14 haben Sie es sich leicht gemacht
und jeweils als Antwort geschrieben: „Siehe Antwort zu
Frage 2“.
({6})
Mit diesen Vorwürfen wäre ich also sehr vorsichtig,
wenn Sie nicht einmal eine Große Anfrage beantworten
können. Außerdem zeigt dies, dass Sie unwillig sind,
Transparenz zu schaffen und Ihre Politik auf den Prüfstand zu stellen.
({7})
Jetzt kommen wir zum Antrag „Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen“. Sie haben abgelehnt, unseren Vorschlägen
nachzukommen, und sind der Meinung, dass Ihr GKVFinanzierungsgesetz von Ende 2010 besser sei. Nein, das
ist natürlich nicht so. Wir wollen die paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wir wollen auch einen
solidarischen Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und
privater Krankenversicherung.
Noch eines: Sie beschimpfen die Verbände der Liga,
egal ob Caritas, AWO, Jüdische Gemeinde oder ähnliche, und stellen diese als willfährige Bündnispartner anderer Parteien dar. Das zeigt eindeutig mangelnden Respekt vor der Fachlichkeit und Autonomie der Sozialverbände.
({8})
- Nein, nein. Wir arbeiten mit allen Fachverbänden zusammen, aber mit Respekt vor deren Autonomie und
Fachlichkeit.
({9})
Sie bekennen sich zu kassenindividuellen Zusatzbeiträgen, zur Kopfpauschale.
({10})
Sie bekennen sich auch zur Vorkasse. Darauf sind Sie
auch noch stolz; dies war den Äußerungen von Herrn
Spahn und Frau Flach vorhin zu entnehmen. Das Ganze
ist eine Ausräuberung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ihr Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge
zeigt eindeutig, dass Sie Ihre Aussage „mehr Netto vom
Brutto“, wenn überhaupt, nur für Hoteliers, Erben und
Arbeitgeber wahrmachen wollen, aber auf keinen Fall
für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
({11})
Ein neuer Punkt: In den Medien war gestern und
heute zu lesen, dass durch die gute und vorausschauende
Steuer- und Arbeitsmarktpolitik der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise der Gesundheitsfonds 2010 gut
gefüllt war. Wir haben jetzt einen Überschuss von
3,9 Milliarden Euro.
({12})
Ich bin übrigens der Meinung, Sie sollten sich bei Ulla
Schmidt für diese gute und vorausschauende Politik bedanken.
({13})
- Sie haben eine gut gefüllte Kasse vorgefunden. Sie reklamieren hier ständig ein Defizit. Sie reden von
10 Milliarden Euro. Es waren 6,9 Milliarden Euro.
({14})
Ein anderer Punkt: Sie verschleiern die zukünftigen
Ausgabensteigerungen, die auf die Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen, aber auch - das finde ich perfider auf die Niedrigverdienerinnen und -verdiener, also auf
Rentner, auf Alleinerziehende und auf Empfänger von
ALG II, zukommen.
Sie wissen - wir wissen es auch -, dass die Kassen
schon jetzt Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, also
auch Erwerbslose, drängen, die Kassen zu wechseln.
Warum reklamieren Sie für die einen das Recht auf freie
Kassenwahl, nehmen aber billigend in Kauf, dass andere
zu einem Kassenwechsel gezwungen werden? Das kann
einfach nicht sein. Das ist wirklich nicht in Ordnung.
Sie machen es doch wie folgt - ich nenne ein Beispiel -:
Ein Mensch sitzt im Wartezimmer seines Hausarztes.
Der Doktor kommt. Er sagt aber nicht mehr: Der
Nächste, bitte! Er sagt eindeutig: Der Reichste, bitte!
({15})
Das ist eindeutig Zweiklassenmedizin.
({16})
Sie halten zwar an Steuersenkungen fest, aber diese
nützen den Menschen mit geringem Einkommen nichts.
({17})
Ihre Mär, Sie seien so gerecht und so sozial, wird gerade
auch an diesem Punkte immer wieder deutlich. Denn
das, was Sie an Entlastungen proklamieren, kommt bei
den Bürgerinnen und Bürgern mit geringem Einkommen
nicht an.
Wir bieten mit unserem Antrag zur paritätischen Finanzierung eine klare Alternative, und zwar im Interesse
von Bürgerinnen und Bürgern. Wir stehen für die paritätische, wir stehen für die solidarische Finanzierung des
Lebensrisikos Krankheit.
({18})
Wir entlassen die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verantwortung. Denn wir sind der Meinung, dass die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung einer der
Grundpfeiler eines solidarisch verfassten Gemeinwesens
ist. Wir brauchen dieses gerechte System für einen gerecht finanzierten Sozialstaat, für eine soziale Marktwirtschaft. Ihre Umverteilung von oben nach unten bedeutet Zweiklassenmedizin, Vorkasse, Verunsicherung;
all das kam schon.
Wir werden Ihnen das Konzept der Bürgersozialversicherung in Kürze vorlegen,
({19})
und Sie werden vor allen Dingen überrascht sein, wie
dies durchgerechnet ist,
({20})
während Sie - ich komme auf die Beantwortung der
Großen Anfrage zurück - einfach lapidar feststellen:
Längerfristige Prognosen werden von der Bundesregierung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung insbesondere aufgrund der spezifischen
Unsicherheiten im Ausgabenbereich nicht erstellt.
Das heißt, Ihnen fehlen Daten, Ihnen fehlen Zahlen.
Sie machen eine unklare Gesundheitspolitik. Wir hingegen werden ab 2013 eine klare sozialdemokratische Alternative bieten.
Herzlichen Dank.
({21})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kollegin Karin Maag für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lauterbach, das war wohl nichts: Trost, Rat und
Zuspruch von den Linken, ein bisschen Angriff von Ihnen, die Grünen spendeten eher Trost. Diese 75 Minuten
hätten Sie sich schenken können.
({0})
Ich kann dazu einen Kinderreim bemühen: Getretener
Quark wird breit, nicht stark.
({1})
Frau Rawert, da hilft auch das Ausweichen in Ihr
Lieblingsthema „Gender“ nichts. Es wird einfach nicht
besser.
({2})
Ihre Anträge waren bestenfalls überholt; sie waren von
Anfang an ungeeignet und überflüssig.
Ich will es an dieser Stelle konkret zusammenfassen.
Noch im März 2010 haben Sie einen „Finanzausgleich
zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung“ beantragt, ebenso die Streichung der kassenindividuellen Zusatzbeiträge, die Sie übrigens mit uns eingeführt haben, und die Rückkehr „zu paritätisch finanzierten
Beitragssätzen“,
({3})
von denen Sie sich aus guten Gründen mit uns abgekehrt
haben. Darüber hinaus haben Sie die Bundesregierung
aufgefordert, „ein Konzept zur Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung“ vorzulegen. Sie kündigen
seit 1998 - Herr Stracke hat es bereits gesagt - ein solches Konzept an, aber konnten es bisher nicht vorlegen.
({4})
Jetzt, nachdem wir, die christlich-liberale Koalition,
die Finanzierung der gesetzlichen Kassen mit unserem
Konzept in den Griff bekommen haben, kommen Sie
und sagen, wir hätten alles ganz falsch gemacht: Eigentlich habe es gar kein Defizit gegeben; wir hätten zu viel
Geld gespart und es auch noch von den falschen Zahlern
eingenommen, also zu wenig Strukturen geändert und zu
viel gespart. Ich zitiere hier aus Ihrem eigenen Antrag.
Jetzt gibt es angeblich Probleme bei der „Kopfpauschale“ - so nennen Sie es - und bei den Effizienzreserven - da sind Sie in der letzten Ausschusssitzung „umgeswitcht“ -, die angeblich noch nicht gehoben worden
sind. Jetzt, nachdem erstmals Planungssicherheit eingetreten ist, wollen Sie dem Gesundheitsfonds Mittel entziehen. Ihr Petitum ist weder aktueller noch besser geworden, aber populistischer; und das war Sinn und
Zweck der Übung.
In Ihrem Antrag ist ausschließlich die von Ihnen genannte Tatsache richtig, dass es Effizienzreserven im
Gesundheitssystem gab und gibt. Genau deshalb haben
wir damit begonnen, diese Effizienzreserven zu heben,
Ausgabenblock für Ausgabenblock. Wir haben mit den
Arzneimitteln begonnen; auch das ist heute schon gesagt
worden. Erstmals werden Arzneimittel einer Nutzenbewertung unterzogen. Erst wenn Medikamente einen zusätzlichen Nutzen haben, besser sind als diejenigen, die
bereits auf dem Markt sind, wird mit der Pharmaindustrie überhaupt über einen Preis verhandelt. Bisher konnten die Pharmaunternehmen ohne Verhandlung jeden
Preis durchsetzen. Das ist Innovation; das ist eine echte
Strukturänderung, mit der wir angefangen haben.
({5})
Nun zum Finanzierungsdefizit. Der Schätzerkreis ging
im März 2010 - das ist das Datum Ihres Antrags - von
einem Defizit in Höhe von 7,9 Milliarden Euro aus; im
Sommer waren es dann schon 9 bis 11 Milliarden Euro.
Deshalb haben wir mit dem GKV-Finanzierungsgesetz
reagiert: Wir haben die Ausgaben gesenkt und die Einnahmen erhöht. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, stellt der Schätzerkreis in seiner aktuellen
Prognose fest, dass der Gesundheitsfonds 2010 nicht
mehr defizitär ist, die gesetzliche Mindestreserve erreicht
wird und sie 2011 - das ist natürlich auch der guten wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet - voraussichtlich
sogar überschritten wird. Die Mindestreserve liegt übrigens bei einem Fünftel der Monatsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir reden hier also noch
nicht von einem Juliusturm.
Unser Konzept funktioniert also. Wir haben es endlich erreicht, wieder Planungssicherheit für mehrere
Jahre zu schaffen.
({6})
Da werfen Sie, die um das dramatische Defizit der GKV
wussten und im eigenen Antrag sogar schriftlich darauf
hingewiesen haben, uns vor, dass die Rückkehr zu dem
Beitragssatz, der vor der Krise galt, nicht notwendig
war; wir hätten das nur beschlossen, damit keine Kasse
einen Zusatzbeitrag verlangt. Das ist doch absurd und
widersinnig; das muss gar nicht weiter kommentiert werden.
({7})
Die Reserve ist dafür gedacht, schwankende Einnahmen der Kassen auszugleichen. Wir wollen die Sicherheit für Patienten und Steuerzahler nicht wieder aus der
Hand geben. Ihre Forderung, die Beiträge jetzt zu senken, ist für mich bestenfalls nicht nachvollziehbar;
schlimmstenfalls handelt es sich um den Ihnen schon
eingangs vorgeworfenen Populismus.
Jetzt beklagen Sie die angebliche Abkehr von der solidarischen Finanzierung. Es war aber richtig, dass wir
vor zwei Jahren gemeinsam - wohlgemerkt: gemeinsam die Finanzierung der GKV umgestellt und sie damit von
den Arbeitskosten gelöst haben, indem wir den Anteil
der Arbeitgeber am Beitragssatz eingefroren haben.
({8})
- Herr Weinberg, hören Sie einfach zu. Dann wird es
auch Ihnen klar. ({9})
Wenn Sie von der SPD bei Ihrer Kehrtwende bleiben würden, müssten Sie weiter mit den früheren Kostendämpfungsgesetzen und Budgets leben. Sie würden nur Verlierer
produzieren. Sie würden damit der Gesundheitswirtschaft, einem Wachstumsmarkt, die Daumenschrauben
anlegen. Sie könnten dann die Leistungserbringer, die
Ärzte, das Pflegepersonal, das Klinikpersonal, nicht annähernd leistungsgerecht bezahlen. Die Patienten und die
Versicherten würden dann Arbeitsplätze verlieren, weil
unsere Wirtschaft infolge der hohen Lohnkosten im Export nicht mehr wettbewerbsfähig wäre und ins Ausland
abwandern würde.
({10})
Nachdem all Ihre Vorwürfe ins Leere gelaufen sind,
haben Sie die Themen umgestellt, Herr Lauterbach. Jetzt
versuchen Sie, ein Alternativkonzept vorzulegen. Dazu
kann ich Ihnen nur sagen - das ist heute schon mehrfach
angesprochen worden -: Nachdem die Regierung Ihnen
bei Ihren falschen Ideen nicht behilflich sein wollte, hat
Ihr Präsidium sieben Eckpunkte für die Bürgerversicherung vorgelegt. Inhaltlich gibt es aber weder konkrete
Aussagen noch Gesetzesvorschläge.
({11})
Die Idee der Verbreiterung der Einkommensarten - das
war übrigens der Wesenskern der Bürgerversicherung wird bereits jetzt, zwei Monate später, nicht mehr weiterverfolgt. Sie sagen, es sei sehr bürokratisch, den
Krankenkassen die Funktion von Finanzämtern zuzuweisen. Genau das haben wir auch gesagt. Die Realität
hat Sie auch diesbezüglich eingeholt.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Wir
haben bereits Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsreserven
erschlossen. Wir werden auch weitere erschließen. Wir
haben den Weg für eine tragfähige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung geebnet. Wir haben die
Einnahmen und die Ausgaben stabilisiert. Wir haben das
System der GKV zukunftsfest gemacht.
({12})
Unser System funktioniert. Die Bürgerversicherung ist
weder geeignet noch notwendig.
Vielen Dank.
({13})
Ich schieße die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD
mit dem Titel „Paritätische Finanzierung in der gesetzli-
chen Krankenversicherung wiederherstellen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4476, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/879 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der
SPD und der Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkten 24 a bis c sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
24 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({0}), Friedrich Ostendorff, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schenkelbrand bei Pferden verbieten
- Drucksache 17/4438 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innovationsreport
Stand und Bedingungen klinischer Forschung
in Deutschland und im Vergleich zu anderen
Ländern unter besonderer Berücksichtigung
nichtkommerzieller Studien
- Drucksache 17/3951 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Berichts gemäß § 56 a GO-BT des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4})
Technikfolgenabschätzung ({5})
Politikbenchmarking
Medizintechnische Innovationen - Herausforderungen für die Forschungs-, Gesundheitsund Wirtschaftspolitik
- Drucksache 17/3952 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Bas, Mechthild Rawert, Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Besserer Schutz vor Krankenhausinfektionen
durch mehr Fachpersonal für Hygiene und
Prävention
- Drucksache 17/4452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 a bis o auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie
im Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsicherheitsgesetz und zur Änderung des Verwaltungskostengesetzes
- Drucksache 17/3983 9752
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7})
- Drucksache 17/4559 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner ({8})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/4559, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/3983 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen von
Linken und Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({9}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Anpassung chemikalienrechtlicher Vorschriften an die Verordnung ({10})
Nr. 1005/2009 über Stoffe, die zum Abbau der
Ozonschicht führen, sowie zur Anpassung des
Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung an Änderungen der Gefahrstoffverordnung
- Drucksachen 17/4142, 17/4292 Nr. 2.1,
17/4523 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Frank Schwabe
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4523, der Verordnung auf
Drucksache 17/4142 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({11}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch der Kommission
Optionen für die Einführung eines Europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und
Unternehmen KOM ({12}) 348 endg.; Ratsdok. 11961/10
- Drucksachen 17/2994 A 16, 17/4565 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Christine Lambrecht
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({13}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Modernisierungspartnerschaft mit Russland Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stärkere Kooperation und Verflechtung
- Drucksachen 17/1153, 17/1822 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Franz Thönnes
Dr. Bijan Djir-Sarai
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({14})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1822, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/1153 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und
Linken gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Marieluise Beck ({16}), Volker Beck ({17}),
Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Modernisierung braucht Rechtsstaatlichkeit Partnerschaft mit Russland fördern
- Drucksachen 17/2426, 17/4560 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Franz Thönnes
Michael Link ({18})
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({19})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4560, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2426 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP
und Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 200 zu Petitionen
- Drucksache 17/4454 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 200 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 201 zu Petitionen
- Drucksache 17/4455 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 201 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 202 zu Petitionen
- Drucksache 17/4456 Wer stimmt dafür? - Enthaltungen? - Wer stimmt dagegen? - Sammelübersicht 202 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 203 zu Petitionen
- Drucksache 17/4457 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 203 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 204 zu Petitionen
- Drucksache 17/4458 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 205 zu Petitionen
- Drucksache 17/4459 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 206 zu Petitionen
- Drucksache 17/4460 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 206 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 207 zu Petitionen
- Drucksache 17/4461 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 207 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 208 zu Petitionen
- Drucksache 17/4462 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 208 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von
SPD und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 209 zu Petitionen
- Drucksache 17/4463 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen
der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den
Zusatzpunkt ZP 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Schlaglochchaos beseitigen - Kommunale Finanzen stärken
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Katrin Kunert für die Fraktion der Linken.
({30})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
Deutschlands Straßen ist der Teufel los. Wer von uns
täglich auf die Straße geht oder die Straße bzw. den Fußgängerweg benutzen muss oder mit Radfahrern ins Gespräch kommt, muss erkennen, dass Autos, Busse, Fahrräder und auch Kinderwagen stark gefährdet sind, ganz
zu schweigen von dem Leben der Betroffenen. Überall
Schlaglöcher und Risse auf den Straßen - das ist ein unglaublicher Zustand in diesem reichen Land.
({0})
Der Verkehrsminister sagt, er mache zusätzlich
2,2 Milliarden Euro für die Sanierung der Straßen locker. Was er nicht sagt, ist, dass diese 2,2 Milliarden
Euro bereits im Haushalt stehen, und er sagt nicht, dass
dieses Geld nur für Bundesstraßen verplant ist.
({1})
Auf den anderen 80 Prozent der Straßen, den kommunalen Straßen, dürfen wir die Schlaglöcher noch etwas länger genießen. Die Städte, Gemeinden und Landkreise
stehen mit dem Rücken zur Wand. Das heißt, dass sie
nicht einmal die nötigsten Reparaturen erledigen können.
Die ganze Sache treibt paradoxe Blüten. Im letzten
Winter hat ein thüringischer Ort seine Schlaglöcher verkauft, um die Sanierungskosten einzutreiben. Ich weiß,
Sie können es nicht mehr hören, aber die Kommunen
sind am Ende - durch Ihre Politik.
({2})
Das Schlimme ist, dass sich daran nichts ändert, Herr
Döring. Die Linke sagt: Die Kommunen müssen finanziell endlich so ausgestattet werden, dass sie alle ihre öffentlichen Aufgaben ordentlich erledigen können.
({3})
Die Bundesregierung hat unter dem Motto „Wenn ich
mal nicht weiter weiß, dann bilde ich einen Arbeitskreis“
eine Gemeindefinanzkommission ins Leben gerufen, die
geheim tagt. Aber anscheinend weiß auch sie nicht wirklich weiter. Ergebnisse der wichtigsten Arbeitsgruppe
dieser Kommission sollen nun erst im Juni vorliegen. Ich
bin einmal gespannt, was dabei herauskommt; denn es
scheint weniger um die Ausstattung der Kommunalfinanzen zu gehen, als darum, wer dort am schadlosesten
herauskommt: Land oder Bund. Das geht nun einmal gar
nicht. Der Finanzminister hat zwar kürzlich sein Herz
für die Kommunen entdeckt und meint, die Kommunen
brauchten natürlich einen größeren finanziellen Spielraum, aber getan hat er nichts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Schlaglöchern. Dresden braucht nur für Notreparaturen
1,5 Millionen Euro, Zwickau 1 Million Euro, die Stadt
Halle 2,2 Millionen Euro, und die Stadt München - so
wird durch die CSU im Stadtrat gefordert - braucht
10 Millionen Euro als Sofortprogramm. Eine goldene
Straßenbauregel besagt, dass pro Jahr pro Quadratmeter
Straße 1,30 Euro ausgegeben werden muss, um intakte
Straßen zu haben. Da die Kommunen aber klamme Kassen haben, können sie nur die Hälfte davon aufbringen.
Das bedeutet, dass 40 Prozent aller Straßen als schwer
geschädigt eingestuft werden; das sagt der TÜV.
Die Überschriften überschlagen sich derzeit - und die
Regierung auch. Die Wirtschaft boomt, sagen alle. Aber
warum kommt dieser Aufschwung nicht in den Kommunen an, frage ich Sie.
Herr Brüderle hat beim Jahreswirtschaftsbericht seine
Einschätzung vorgetragen: in Deutschland regiere die
Zuversicht; in Deutschland regierten das Wachstum und
der Fortschritt. Wenn Sie das mit Blick auf die Kommunen so einschätzen, haben Sie anscheinend wirklich
noch kein Schlagloch erwischt. Ich sage: Sie haben
keine Ahnung, was in den Kommunen tatsächlich los ist,
und so sieht leider auch Ihre Politik aus.
({4})
Noch vor 20 Jahren zahlte der Bayer-Konzern
110 Millionen Euro Gewerbesteuern an die Stadt Leverkusen; heute sind es gerade noch 20 Millionen Euro.
Fakt ist, dass die bisherigen Bundesregierungen durch
ihre Steuersenkungspolitik Großkonzerne in enormen
Größenordnungen entlastet haben, dass sie dadurch jedoch Steuereinbrüche bei den Kommunen verursacht haben.
({5})
- Frau Kollegin, Sie sind nachher dran. - Alleine im
Zeitraum von 2008 bis 2009 gibt es für die Kommunen
vorausberechnet bis 2013 ein Minus von 19 Milliarden
Euro.
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, riss allein in 2010
ein Loch von 6 Milliarden Euro in die kommunalen Kassen. Da wundert es mich überhaupt nicht, dass die Kommunen das Jahr 2010 finanziell als das bisher schlechteste Jahr der Nachkriegsgeschichte abgeschlossen
haben. Spätestens jetzt müssten Sie doch endlich in Ihrer
Politik umsteuern.
({6})
Aber nein, Sie machen weiter so. Nach wie vor werden
hier im Haus mit Ihrer Mehrheit Gesetze verabschiedet,
die immer zulasten der Kommunen ausgehen. Allein der
elektronische Personalausweis bedeutet für die Stadt
Köln eine Mehrausgabe in Höhe von 1,25 Millionen
Euro.
Als ob das nicht reicht, kürzen Sie auch noch im
Haushalt 2011.
({7})
Ich will Ihnen einige Beispiele nennen: Sie kürzen bei
der CO2-Gebäudesanierung um 460 Millionen Euro, bei
den Eingliederungsleistungen für Langzeitarbeitslose
um 1,3 Milliarden Euro und beim Programm „Soziale
Stadt“ um 67 Millionen Euro. Für Sachsen-Anhalt sind
das 900 000 Euro. Wir hatten im Land bisher 3 Millionen Euro für das Programm „Soziale Stadt“ zur Verfügung. Für Halle-Neustadt bedeutet dies das Aus für das
Quartiersmanagement, das Aus für interkulturelle Wochen, das Aus für die Stadtzeitung und das Aus für die
Bürgerbeteiligung bei der Sanierung von Straßen, Fußund Radwegen.
({8})
- Sie können gerne mit den Betroffenen darüber reden,
was hier Quatsch ist, Herr Kollege.
({9})
Die Linke fordert die Aufstockung der Mittel für das
Programm „Soziale Stadt“ mindestens auf das Niveau
von 2010, und die Linke unterstützt ausdrücklich das
Bündnis für eine Soziale Stadt.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen
sind die Lebensadern der Gesellschaft, und die Situation
der Haushalte muss endlich grundlegend verbessert werden. Die Linke will endlich auch Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission auf dem Tisch haben, und die
Linke will ein Sofortprogramm für die Sanierung der
kommunalen Straßen in Höhe von 500 Millionen Euro.
({11})
Wir sagen auch: Sanierung muss vor Neubau gehen und
Vorfahrt für Fußgänger und für Radfahrer!
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass die SEDNachfolgepartei
({0})
diese Aktuelle Stunde auf die Tagesordnung gesetzt hat,
ist besonders pikant. Viele von uns wissen noch sehr gut,
wie die Straßen in den neuen Ländern unmittelbar nach
dem Zerfall des Sozialismus ausgesehen haben. Frau
Kollegin, Sie wären deshalb besser still gewesen.
({1})
Die aktuellen winterbedingten Straßenschäden in
Deutschland werden von den Kommunen auf etwa
2,3 Milliarden Euro geschätzt. Das ist viel Geld. Wenn
wir nach draußen schauen, wissen wir: Der Winter ist
noch nicht beendet. Eine funktionstüchtige Verkehrsinfrastruktur ist volkswirtschaftlich ein bedeutender Standortfaktor, und dazu tragen die Kommunen maßgeblich
bei.
95 Prozent unserer Straßen sind kommunale Straßen,
also in der Trägerschaft von Städten, Gemeinden und
Landkreisen. Auch wenn wir in Berlin als Bund weder
für kommunale Straßen noch für Schlaglöcher zuständig
sind, machen wir uns um die Entwicklung der Gemeindefinanzen insgesamt große Sorgen.
({2})
Bei den Kommunen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein enormer Investitionsstau aufgebaut - übrigens nicht nur beim Straßenbau. Allein damit, Schlaglöcher zu stopfen, ist es schon lange nicht mehr getan. In
den meisten Fällen hilft wegen fehlender regelmäßiger
Straßenunterhaltung nur noch eine Generalsanierung,
und die ist bekanntermaßen besonders teuer. Das ist kein
Vorwurf gegenüber den Kommunen, sondern die Konsequenz der permanenten Unterfinanzierung kommunaler
Haushalte.
Meine Damen und Herren, die Ursachen gehen weit
zurück in die kommunalfeindliche Politik der SchröderRegierung, als die Verschuldung in den Städten und Gemeinden von Jahr zu Jahr stieg und stieg. Davon haben
sich bis heute viele noch nicht erholt. Das rächt sich jetzt
zunehmend.
({3})
- Das stimmt, auch wenn Sie von der SPD es nicht mehr
hören können.
({4})
Trotz aller Anstrengungen der unionsgeführten Bundesregierung kann dieser Rückstand nicht in wenigen Jahren aufgeholt werden,
({5})
zumal die finanziellen Spielräume durch die weltweite
Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise auf allen politischen
Ebenen inzwischen weggebrochen sind.
Das Ganze wird noch verschärft,
({6})
wenn die nach unserem Grundgesetz für die Gemeindefinanzen verantwortliche Landespolitik auch noch kommunalfeindlich ist. Schauen Sie nach Rheinland-Pfalz;
dort wird das besonders deutlich. Das dortige Oberverwaltungsgericht hat der rheinland-pfälzischen Landesregierung erst vor wenigen Wochen die rote Karte gezeigt
und festgestellt, dass die Schlüsselzuweisungen gegen
den verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine angemessene kommunale Finanzausstattung verstoßen. Das
heißt, die SPD-geführte Landesregierung von Rheinland-Pfalz lässt die Kommunen nachweislich, durch Gerichtsurteil belegt, am langen Arm verhungern.
({7})
Alle staatlichen Ebenen müssen den Kommunen
durch stabile Gemeindefinanzen wieder Luft zum Atmen
verschaffen. Das gilt für den Bund und vor allem aber
auch für die dafür eigentlich zuständigen Länder.
Trotz schwierigster Haushaltslage, in der wir uns befinden, sollten wir prüfen, wie wir die Kommunen bei den
steigenden Sozialausgaben entlasten können. Gleichzeitig müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, um die
strukturellen Defizite der Kommunalfinanzen zu beseitigen. Die von Finanzminister Wolfgang Schäuble eingesetzte Gemeindefinanzkommission beschäftigt sich mit
dieser Aufgabe. Wir erwarten noch in diesem Frühjahr
konkrete Vorschläge.
({8})
Uns war es wichtig, dass die kommunalen Spitzenverbände in dieser Kommission von Anfang an beteiligt
sind und konkret und aktiv mitwirken.
({9})
Mit den kommunalen Spitzenverbänden ist verabredet,
dass keine Entscheidungen gegen die Kommunen getroffen werden. Das sollten wir dankbar zur Kenntnis nehmen.
({10})
Wir wollen den Gemeinden mehr Eigenverantwortung geben und dadurch die kommunale Selbstverwaltung stärken, damit die vielen ehrenamtlichen Räte in
den Gemeinden, Städten und Kreisen ihre Heimat eigenverantwortlich und motiviert gestalten können. Bei gutem Willen aller - dazu zähle ich auch Sie - kann dies
gelingen. Ich fordere Sie deshalb im Interesse der Städte
und Gemeinden eindringlich dazu auf.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Carsten Sieling
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Götz, draußen droht in der Tat der
nächste Winter. Die Straßen sind schon aufgerissen und
haben tiefe Löcher, und in den Rathäusern schlackern
den Bürgermeistern und Kämmerern die Hosen vor
Angst davor, wie sie die Haushalte realisieren sollen.
Sie aber erzählen uns hier das Märchen, Rot-Grün
hätte die Löcher in die Haushalte der Kommunen gerissen.
({0})
Das ist die größte Märchengeschichte; denn es waren
Rot-Grün und anschließend noch zum Teil die Große
Koalition, die vor allem auf Druck der SPD dafür gesorgt haben, dass sich die öffentlichen Finanzen in den
Kommunen, in den Städten und Dörfern, verstetigen
können, Herr Götz.
({1})
Auch das sollten Sie sagen, lieber Kollege; denn Sie waren ein gutes Stück weit dabei. Das ist notwendig, weil
es der Ehrlichkeit dient.
({2})
Aber ich weiß, warum Sie das so aufblasen und warum die Aufregung vor allem aufseiten der Liberalen,
aber auch bei der CDU/CSU so groß ist: Weil diese Koalition, festgehalten in ihrem Koalitionsvertrag, die Basis für die Dörfer, Städte und Landkreise kaputtmachen
will, indem sie die Gewerbesteuer, die deren zentrale
Einnahmequelle ist, kaputtmachen will.
({3})
Dagegen müssen wir gemeinsam stehen.
Wer die Löcher in den Straßen stopfen will, muss bereit sein, die Löcher in den kommunalen Haushalten zu
stopfen und dafür zu sorgen, dass investiert werden
kann.
({4})
Das ist ganz einfach. Es gibt drei Ansätze, wie man das
macht, Kollege Götz. Der erste Schritt ist: Sie müssen
die Einnahmen der öffentlichen Hände auf der kommunalen Ebene stabilisieren.
Ich bitte Sie: Lassen Sie Ihre Pläne sausen! Schließen
Sie sich dem Kommunalmodell an, das die Kommunen
unterstützen! Das bedeutet die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbesteuer für die Kommunen, indem auch die Freiberufler einbezogen werden.
({5})
Sie können dadurch die Einnahmen stabilisieren und erhöhen. Lassen Sie die Finger von der Streichung der
Hinzurechnung! Das ist ein Fehler. Finger weg von der
Gewerbesteuer!
({6})
Das ist der erste Schritt, um die Löcher in den Straßen
stopfen zu können.
({7})
Der zweite Schritt ist, eine Entlastung bei großen
Ausgabenpositionen anzugehen. Es ist richtig - Sie haben es angesprochen -: Die Kosten für Unterkunft, aber
auch die Grundsicherung im Alter müssen angegangen
werden. Ich bin entsetzt. Die Rheinische Post hat in einer
Meldung berichtet, dass sich das Bundesfinanzministerium endlich mit 1,9 Milliarden Euro an den Kosten der
Unterkunft beteiligen will, Herr Koschyk.
({8})
- Genau. Sie sagen es, Kollegin Kressl. - Kaum war die
Meldung raus, wurde schon dementiert, dass an dieser
Stelle etwas getan werden soll.
Entlasten Sie die Kommunen von den Soziallasten!
Dann werden Mittel frei, um die Infrastrukturmaßnahmen anzugehen.
({9})
- Gut, dass Sie die elf Jahre ansprechen. Damit komme
ich zu dem dritten Schritt. Wir brauchen in Deutschland
eine Infrastrukturoffensive. Es zeigt sich sehr deutlich:
Wir brauchen wieder Investitionsmittel und eine Investitionsgrundlage auch für die Städte und Gemeinden, damit sie in die Infrastruktur investieren können. Dazu
kann ich nur sagen: Minister Ramsauer ist vielleicht
nicht als Mitglied des Kabinetts, aber doch als Mitglied
des Koalitionsausschusses in den vier Jahren zwischen
2005 und 2009 bei Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz
und Peer Steinbrück in die Lehre gegangen und hat gesehen, was man mit einem klugen Konjunkturprogramm
und einem Investitionsprogramm zugunsten der Kommunen bewegen kann. Damals handelte es sich um ein
Konjunkturprogramm, jetzt brauchen wir - davon bin
ich überzeugt - ein Sanierungsprogramm für die öffentliche Infrastruktur in den Kommunen und Städten.
Knüpfen Sie an das Konjunkturprogramm an. Die Große
Koalition hat 10 Milliarden Euro bereitgestellt. Damit ist
für die öffentliche Infrastruktur, insbesondere im Bereich der Schulen, aber auch in vielen anderen Bereichen, viel Gutes getan worden. Diese Koalition tut nichts
mehr in dieser Richtung. Tun Sie etwas, damit die öffentlichen Investitionen in Deutschland verstärkt werden. Das ist die wichtige Aufgabe, an der man arbeiten
muss.
Daher sage ich zum Schluss: Die Löcher in den Straßen werden immer größer, in der Tat. Aber diese Regierung sorgt dafür, dass die Löcher auch in den Haushalten
der Kommunen und der Städte immer größer werden
und Deutschland in die Gefahr gerät, eine Bröckelrepublik zu werden. Das passiert, wenn Ihre Politik fortgesetzt wird. Unterstützen Sie endlich das, was notwendig
ist; dann haben wir auch vernünftige Verhältnisse im
Verkehr und überall dort, wo die Menschen leben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe mir jetzt die ersten drei Beiträge in dieser Debatte
angehört und zumindest bei zwei Rednern, nämlich
Herrn Sieling und Frau Kunert, festgestellt, dass sie ganz
offensichtlich weder willens noch in der Lage sind, die
Debatte, die berechtigt ist, wenigstens ein bisschen in die
aktuelle Finanz- und Haushaltslage dieser Republik einzuordnen. Vielleicht ist es Ihnen entgangen, dass dieses
Parlament, das die Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland trägt, eine Neuverschuldung von etwas
mehr als 50 Milliarden Euro zu schultern hat. Angesichts
dessen hier neue Konjunkturprogramme auf Pump zu
fordern, finde ich schon bemerkenswert, Herr Kollege
Sieling.
({0})
Wer uns solide und kluge Politik ansonsten immer gerne
abspricht, will jetzt das Defizit der Republik erhöhen.
Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist.
({1})
Natürlich sind 11 Milliarden Euro Neuverschuldung
in den Kommunen im Jahr 2009 auch ein Rekordwert,
aber im Vergleich zu den über 50 Milliarden Euro, die
wir als gewählte Parlamentarier hier zu vertreten haben,
gilt der Satz: Die Kommunen sind immer noch die am
wenigsten verschuldete staatliche Ebene in der Republik.
({2})
Ich war lang genug Mitglied eines Rates und Fraktionsvorsitzender. Sie alle wissen doch genau, dass es sehr
unterschiedliche kommunale Situationen gibt. Es gibt
übrigens auch schuldenfreie Städte und Gemeinden in
Deutschland,
({3})
weil sie kluge Politik gemacht und sich von überflüssigen Vermögenswerten getrennt und ihre Schulden abgebaut haben. Das hat zum Beispiel in Düsseldorf zur Entschuldung geführt.
({4})
Wir können uns jeden Problempunkt in Deutschland
einzeln anschauen, und jeder gibt darauf eine wie auch
immer geartete isolierte Antwort. Ich aber sage Ihnen
ganz ehrlich: Wer die Entwicklung der Gewerbesteuer
verfolgt hat, wer die Erosion der Körperschaftsteuer
nach der falschen Körperschaftsteuerreform von RotGrün verfolgt hat, der stellt doch fest, dass die Gewerbesteuer das Gegenteil einer soliden Finanzausstattung der
Kommunen ist. Sie ist viel zu konjunkturanfällig, viel zu
schwankend und viel zu wenig planbar für die Kämmerer, die Ratsfrauen und die Ratsherren.
({5})
Deshalb ist es gut, dass diese Koalition gemeinsam mit
dem Bundesfinanzministerium und Experten ein neues
System einführen will. Die Kommission wird alsbald Ergebnisse vorlegen. Ich sage aber auch: Es ist natürlich
im hohen Maße scheinheilig, wenn sich hier Teile der
Opposition über die Investitionstätigkeit des Bundes kritisch äußern, ohne bereit zu sein, zu schauen, was sie in
ihrem Verantwortungsbereich machen.
Diese Koalition hat trotz Sparetats und trotz größter
Anstrengungen, die Neuverschuldung so gut es geht herunterzufahren, beim Erhalt für Straßen in der Verantwortung des Bundes 100 Millionen Euro draufgelegt. Im
Land Berlin und im Land Brandenburg gehen die Investitionen in die Straßen ausweislich des Berichts des Landesrechnungshofs seit Jahren kontinuierlich zurück. Das
ist die politische Realität. Man sollte also aufpassen,
wenn man solche Aktuellen Stunden beantragt.
({6})
Dass man Haushaltskonsolidierung betreiben und Investitionen erhöhen kann, beweisen zum Beispiel die
Freundinnen und Freunde in Hessen. Bei Regierungsübernahme wurden 30 Millionen Euro und in diesem
Jahr werden 151 Millionen Euro für Landesstraßen zur
Verfügung gestellt. Zudem wurde die Verschuldung zurückgefahren.
Wenn man mit dem vorhandenen Geld, das die Bürgerinnen und Bürger dem Staat zur Verfügung stellen,
richtige Akzente setzt, dann kann man die Investitionsprobleme offensiver angehen, als das die Ministerinnen
und Minister von Sozialdemokraten und Linken in ihrem
Verantwortungsbereich bisher getan haben.
({7})
Deshalb bleiben wir dabei: Es ist klug und vernünftig,
zu konsolidieren und die Verschuldung in unseren öffentlichen Haushalten - egal an welcher Stelle - abzubauen. Dafür brauchen wir eine solide Einnahmebasis.
Die beste Einnahmebasis, die beste Entlastungspolitik
für die Kommunen ist die Wirtschaftspolitik dieser Regierung, die jeden Tag dafür sorgt, dass ein paar Hundert
Menschen weniger arbeitslos sind, sondern ihr eigenes
Leben besorgen und finanzieren können, dass weniger
soziale Hilfe in Anspruch genommen wird und dass weniger Menschen die Kosten der Unterkunft überhaupt in
Anspruch nehmen müssen, weil sie einen Arbeitsplatz
haben und ihr Leben gestalten können.
({8})
Das ist die Politik dieser Regierung. Wir wollen weniger
Menschen in sozialen Sicherungssystemen. Das ist die
beste Entlastungspolitik für Kommunen, die man machen kann. Das ist das Leitmotiv der nächsten Monate.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Toni Hofreiter von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben jetzt von den Regierungsfraktionen
erfahren, dass die Ursache für die Misere der kommunalen Finanzen an Regierungen liegt, die schon sehr lange
nicht mehr regieren. Wir haben davon erfahren, dass untergegangene Staaten daran schuld sein sollen. Wir haben von der jetzigen Regierung erfahren, dass Kommissionen eingesetzt werden sollen. Ich frage mich, wie Sie
mit diesen Aussagen vor die Leute, vor Bürgermeister
und Gemeinderäte treten wollen, die im Moment Probleme bei sich vor Ort haben.
({0})
Das ist gar kein triviales Problem. Die Frage ist: Wo bekommt der Bürger unseren Staat mit? Wo nimmt er die
öffentliche Hand wahr? Wo nimmt er Demokratie am
stärksten wahr? In unseren Kommunen vor Ort.
Wenn man sich einmal anschaut, dass es viele Kommunen gibt, in denen die gewählten Vertreter de facto
nicht mehr viel zu entscheiden haben, weil die Kommunen alle in der Haushaltssicherung sind und letztendlich
keinen genehmigten Haushalt mehr haben, dann stellt
man fest, dass wir nicht nur ein Problem mit Schlaglöchern, sondern ein Problem mit der Akzeptanz der Leistungen der öffentlichen Hand haben. Und was geben Sie
für dieses Problem als Antwort? Irgendwer in der Vergangenheit war schuld - als wenn Sie gar nicht regieren
würden -, und wir haben eine nette Kommission. - Das
ist armselig.
({1})
Wenn man sich die Kommunen anschaut, dann stellt
man fest: Es mag zwar sein, dass die Kommunen im Vergleich zum Bundeshaushalt im Schnitt weniger Schulden
aufnehmen, aber man muss die Kommunen einzeln betrachten. Es gibt Kommunen, die völlig überschuldet
sind, und es gibt Kommunen, die in der sogenannten
Vergeblichkeitsfalle stecken. Sie haben in der Vergangenheit aufgrund der vielleicht nicht gerade intelligentesten Politik oder aufgrund von Umständen, für die sie
wenig können - zum Beispiel wegen des Sterbens ganzer Industriebereiche -, so viele Schulden aufgenommen, dass sie, egal was sie tun, nicht mehr aus ihren
Schulden herauskommen. Dafür gibt es eine ganze Reihe
von Beispielen.
Was können wir diesen Kommunen anbieten? Diesen
Kommunen müssen wir etwas anbieten. Wir müssen ihnen eine vernünftige Altschuldenhilfe anbieten, damit
sie überhaupt die Chance haben, aus der Vergeblichkeitsfalle herauszukommen. Da hilft es nichts, wenn
man nur von Kommissionen spricht.
({2})
Ich komme jetzt zu dem eigentlichen Thema dieser
Aktuellen Stunde: Schlaglöcher beseitigen. Man kann
sich fragen, ob dieses Thema wirklich vordringlich,
eines für eine Aktuelle Stunde ist. Das gilt vor allem,
wenn man bedenkt, wie eng bemessen in dieser Hinsicht
der Bundeshaushalt ist. Die Lösungsvorschläge, die hier
gemacht worden sind, bestanden vor allem darin, dass
man irgendwie mehr Geld für Straßen ausgeben, dass
man irgendwie mehr Straßen bauen sollte. Die Bundesrepublik und Holland haben gemeinsam das dichteste
Straßennetz aller Flächenländer weltweit. Dennoch wird
vorgeschlagen, noch mehr Straßen zu bauen. Was ist die
Folge, wenn das Straßennetz bei abnehmender Bevölkerungszahl noch engmaschiger wird? Danach gäbe es pro
Mensch, der das Sozialprodukt mit erarbeiten muss, immer mehr Straßenkilometer. Das hieße, dass die Unterhaltskosten in Zukunft immer höher würden. Es ist doch
völlig logisch, dass ein größeres Straßennetz mehr Unterhaltskosten bedeutet als ein kleineres. Ihr Vorschlag
ist, noch mehr Straßen zu bauen.
Was ist unser Vorschlag?
({3})
Es gibt einen ganz einfachen Weg. Es ist dringend notwendig, Geld für den Neubau und den Ausbau von Straßen endlich so umzuwidmen, dass es für den Unterhalt
von Straßen zur Verfügung steht.
({4})
Aber warum passiert das so selten? Weil wir ein Verkehrsministerium haben, das unter Verkehrspolitik vor
allem versteht, fröhlich einzelne Projekte zu verwirklichen und glücklich mit der Schere Bänder durchzuschneiden. Das ist keine Verkehrspolitik, das ist eine feudale Einzelprojekt-Baupolitik, die den Staatshaushalt
langfristig eher ruiniert, als dass sie ihm hilft.
({5})
Um den Kommunen trotz aller verfassungsrechtlichen Probleme, die man sich in der Vergangenheit mit
den Föderalismusreformen geschaffen hat, konkret zu
helfen, sollte man sich etwas überlegen. Es gibt zum
Beispiel eine Regelung, dass die Baulast für Bundesstraßen in Kommunen mit über 80 000 Einwohnern komplett bei den Kommunen liegt. Es gibt Unmengen von
Kommunen mit 100 000, 200 000 Einwohnern, die
große Schwierigkeiten haben. Warum nimmt der Bund
den Kommunen nicht - das wäre verfassungsrechtlich
unproblematisch - die Baulast für die Bundesstraßen ab?
Dann wären zumindest die verkehrswichtigsten Bundesstraßen erhaltungsfähig. Dieses Beispiel könnte man
ohne Grundgesetzänderung sofort in die Tat umsetzen.
Der Verkehrsminister könnte dann zwar nicht mehr ganz
so viele Bändchen durchschneiden, aber die bedeutenden Straßen in den Städten wären dann endlich gut unterhalten. Setzen Sie diesen Vorschlag um, dann haben
Sie unsere Unterstützung.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
„Schlaglochchaos“, „Schneechaos“, „Bahnchaos“, ich
finde, die Linken gehen in letzter Zeit sehr leichtfertig
mit dem Wort „Chaos“ um.
({0})
Jedes Problem, jede Schwierigkeit wird von Ihnen immer gleich als „Chaos“ bezeichnet. Was sollen die Menschen in Haiti oder in Pakistan oder anderswo auf der
Welt denken, die tatsächlich Chaossituationen erlebt haben oder erleben?
({1})
Ich finde, es ist das Normalste auf der Welt, dass es einmal harte und kalte Winter gibt. Das war vor 30 Jahren
so, das ist heute so, und es wird auch in Zukunft so sein.
Jeder Winter verursacht Schnee- und Eisglätte. Jeder
Winter bringt das eine oder andere Problem mit sich, und
jeder Winter beeinträchtigt die Verkehrsstruktur - mal
mehr und mal weniger. In diesem Winter, zum Beispiel
bei 20 Zentimeter Neuschnee, haben wir keine Chaossituation oder Katastrophe; vielmehr ist es ein ganz normaler Winter.
({2})
- Ja, kommen Sie einmal und schauen Sie sich das bei
uns an.
Es ist richtig, zu behaupten, dass jeder Winter Schäden auf unseren Straßen verursacht hat. Vielerorts sind
Schlaglöcher entstanden, die nun schnellstmöglich beseitigt werden müssen. Hier aber gleich von einem
Schlaglochchaos zu sprechen, ist übertrieben. Vielleicht
hätte man in der ehemaligen DDR von einem Schlaglochchaos sprechen können. - Das ist der erste Punkt.
({3})
Ich möchte nun auf den zweiten Punkt, die Kommunalfinanzen, eingehen. Als langjähriger Bürgermeister
einer kleinen Gemeinde bin ich mit Leib und Seele
Kommunalpolitiker. Gerade deshalb ist mir die aktuelle
Finanzsituation der Kommunen bestens bekannt. Natürlich würde ich gerne ein Schlaglochsanierungsprogramm
oder Ähnliches fordern bzw. mir wünschen, aber wir
müssen auch realistisch bleiben. Wir können nicht nach
jedem harten Winter ein Sonderprogramm fordern oder
als Staat auflegen.
({4})
Das ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht
möglich, da der Bund infolge der Föderalismusreform II
den Kommunen kein Geld zur Verfügung stellen darf.
Außerdem wäre es angesichts der eingangs erwähnten
Tatsache, dass wir auch in Zukunft harte Winter haben
werden - vielleicht schon der nächste -, unverhältnismäßig, jedes Jahr ein Konjunkturprogramm für die Straßensanierung aufzulegen. Dies hätte im Übrigen auch nichts
mit nachhaltiger und verlässlicher Politik zu tun.
({5})
Vielmehr brauchen wir sichere Kommunalfinanzen, und
zwar unabhängig von kalten Winterperioden und unabhängig von der aktuellen Schlaglochsituation. Ich
glaube, das ist eindeutig. Nur mit dauerhaft verlässlichen
Einnahmen kann nachhaltige und verlässliche Politik gemacht werden.
({6})
Wir haben bereits verlässliche Einnahmen, die den
Kommunen zugute kommen, die zum Beispiel für den
Unterhalt der Straßen oder für Neubauten verwendet
werden können. Der Bund stellt den Ländern 1,3 Milliarden Euro jedes Jahr im Rahmen des Entflechtungsgesetzes zur Finanzierung der kommunalen Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung. Zudem erhalten die Städte und
Gemeinden aus dem Aufkommen der Länder an der
Kfz-Steuer Finanzhilfen. In Bayern etwa zahlt der Freistaat den Gemeinden jährlich 1 200 Euro Straßenunterhalt pro Kilometer Orts- und Gemeindeverbindungsstraße. Außerdem erhalten die Landkreise Mittel für den
Erhalt der Kreisstraßen.
({7})
Letztlich kommt es darauf an, was die einzelnen Länder für ihre Kommunen tun. So etwa hat Bayern kürzlich
ein Sonderprogramm für die Beseitigung der Straßenschäden auf Staatsstraßen in Höhe von 30 Millionen
Euro aufgelegt. Das könnte ein Ansporn für andere Bundesländer sein, zum Beispiel Berlin oder Brandenburg.
Außerdem steigert der Bund den Ansatz für die Erhaltung der Bundesfernstraßen und damit auch für die Ortsdurchfahrten in den Kommunen in diesem Jahr um
100 Millionen Euro von 2,1 auf 2,2 Milliarden Euro. Damit können und sollen auch die Winterschäden finanziert
werden. Wie bereits im vergangenen Winter wird das
Bundesverkehrsministerium die Länder auch in diesem
Jahr anweisen, mit den Erhaltungsmitteln vorrangig die
Frostschäden zu beseitigen.
Dennoch ist mir bewusst, dass die genannten Maßnahmen angesichts der angespannten Finanzsituation der
Kommunen nicht ausreichen.
({8})
Im Rahmen der geplanten Gemeindefinanzreform müssen wir daher für ein dauerhaft stabiles Fundament der
Kommunalfinanzen sorgen.
({9})
Hierzu brauchen wir zum einen auch in Zukunft die Gewerbesteuer als zentrale Einnahmequelle der Kommunen. Eine Abschaffung dieser Steuer ist daher aus unserer Sicht inakzeptabel.
({10})
Zum anderen brauchen wir eine Entlastung der Kommunen bei den Sozialausgaben. Die Überprüfung der Gemeindefinanzkommission hat ergeben, dass die Ausgaben der Kommunen vor allem für soziale Leistungen seit
Jahren so stark angestiegen sind wie kein anderer Ausgabenblock. Sie belaufen sich inzwischen jährlich auf über
50 Milliarden Euro. Wenn man die Landes- und Bundesbeteiligungen abzieht, bleiben am Ende immer noch
4,65 Milliarden Euro übrig.
Eine signifikante und nachhaltige Verbesserung der
kommunalen Finanzen setzt daher zwingend Verbesserungen im Bereich der Sozialausgaben voraus. Neben einer Reform auf der Einnahmeseite der Kommunen muss
es gelingen, dass der Bund sein finanzielles Engagement
im Bereich der Sozialausgaben spürbar und dauerhaft erhöht. Wenn wir dies schaffen und den Kommunen damit
dauerhaft solide Finanzen ermöglichen, dann brauchen
wir keine Schlaglochbeseitigungsprogramme und auch
keine Chaosbegriffe - wie von den Linken verwendet für einen ganz normalen Winter, wie wir ihn heuer haben.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegen Kirsten Lühmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Unsere dreijährige Enkeltochter hat letztens mal
wieder die Sendung mit der Maus gesehen. Da hat sie
gelernt: Im Winter gibt es Schlaglöcher auf den Straßen,
und sie hat auch gelernt, wie sie entstehen. Wenn also
selbst Dreijährige wissen, dass das so ist, dann können
wir voraussetzen, dass das eigentlich Allgemeinwissen
sein sollte.
({0})
Insofern fragt man sich: Warum haben wir zu diesem
Thema eine Aktuelle Stunde? Sie ist aktuell; denn wir
haben Winter.
Bei dieser Diskussion komme ich mir allerdings ähnlich vor wie bei dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier; denn vor zwölf Monaten standen wir alle auch
schon einmal hier. Es war ebenfalls Winter. Es waren
dasselbe Thema, derselbe Ort und augenscheinlich auch
dieselbe Finanzlage der Kommunen.
Darum möchte ich die Finanzlage der Kommunen
einmal etwas näher beleuchten. Dazu nehme ich mein
Bundesland Niedersachsen als Beispiel. In den letzten
20 Jahren sind die Einnahmen der Kommunen in Niedersachsen um circa ein Drittel gestiegen, und zwar,
Herr Döring, trotz oder vielleicht sogar aufgrund der Gewerbesteuer. Allerdings sind in dieser Zeit auch jede
Menge Aufgaben dazugekommen. Diese Aufgaben sind
nicht mit Haushaltsmitteln unterlegt worden.
Schauen wir uns dann einmal an, was die Kommunen
im Rahmen ihrer Bautätigkeit tun. Das Schlaglochchaos,
das angeblich nur herbeigeredet wird, scheint immerhin
so wichtig zu sein, dass der Verkehrsgerichtstag sich damit beschäftigt und auch der ADAC deutliche Maßnahmen in diesem Bereich fordert.
Leider müssen wir feststellen, dass die Ausgaben der
Kommunen im Baubereich im selben Zeitraum um ein
Drittel zurückgegangen sind. Die Kommunen können
die Löcher in den Straßen nicht stopfen, weil es die Löcher in ihren Haushalten nicht zulassen.
({1})
In diesem Bereich gibt es einige kreative Lösungen.
Eine wurde bereits angesprochen, nämlich das Programm „Teer muss her“, bei dem Bürgerinnen und Bürger Geld zum Stopfen der Löcher spenden können. Ich
nenne Ihnen ein anderes Beispiel aus meinem Wahlkreis.
Beim „Bürgerpfad“ in Stadensen wird über Patenschaften die erforderliche Kofinanzierung für einen dringend
notwendigen Fahrradweg am Rande einer vielbefahrenen Kreisstraße aufgebracht.
Das sind löbliche Beispiele. So etwas kann für uns
aber keine dauerhafte Lösung sein.
Ein Weg zu einer dauerhaften Lösung - der Kollege
Hofreiter hat es angesprochen - führt über die Altschuldenproblematik. Wir alle wissen, dass alle Ebenen - Bund,
Länder und Kommunen - 1,8 Billionen Euro Schulden
haben.
Blicken wir noch einmal nach Niedersachsen. Dort
müssen im Haushalt 2011 2,3 Milliarden Euro Zinszahlungen für Altschulden vorgesehen werden. Die Neuverschuldung Niedersachsens beträgt - Sie ahnen es 2,3 Milliarden Euro. Das heißt, wir müssen uns weiter
verschulden, um unsere Schulden zu zahlen.
An dieser Stelle hilft auch die hier immer wieder angeführte Schuldenbremse nicht weiter; denn damit sollen
nur die Ausgaben mit den Einnahmen in einen Ausgleich
gebracht werden. Die Zinslast, die die Handlungsfähigkeit der Kommunen deutlich einschränkt, bleibt bestehen.
Wir müssen einmal offen über Wege sprechen, wie
wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen können. Hier
muss die Frage erlaubt sein, wie wir das tun können und
ob ein Altschuldenfonds uns weiterhelfen kann, um die
Schulden dann gezielt mit Einnahmen aus bestimmten
Quellen zu tilgen.
Ein Beispiel für solche nationalen Anstrengungen
gibt es in unserer Geschichte. Ich verweise hier auf das
Lastenausgleichsgesetz, das gleich zweimal in diesem
Bereich gute Hilfen geleistet hat, und zwar - das möchte
ich ganz deutlich sagen - mit den Mitteln einer Vermögensabgabe. Dieses Wort sollten wir auch wieder öfter in
den Mund nehmen.
({2})
Das geht aber nur, wenn über Egoismen und Partikularinteressen hinweg gemeinsame Lösungen gefunden
werden. Leider erleben wir auf Länderebene gerade das
genaue Gegenteil. Einzelne Länder haben nämlich die
Solidarität im Länderfinanzausgleich aufgekündigt. So
kann es nicht gehen. Wir müssen offen an das Problem
der Altschulden herangehen. Ich habe das Gefühl, dass
wir im Moment versuchen, den Schwarzen Peter weiterzuschieben und die Kosten einfach zu verlagern. Wir
brauchen eine dauerhafte Lösung, um den Kommunen
wieder Handlungsfreiheit zu geben.
Was trägt diese Bundesregierung dazu bei? Sie hat für
einen Zeitraum von zwölf Monaten eine Gemeindefinanzkommission eingerichtet. Wenn es Lösungen gab,
wurden sie ignoriert oder innerhalb der Regierung zerredet.
Das geht nicht. Die ausgefahrenen Fahrspuren führen
uns nicht weiter. Lassen Sie uns neue Wege bauen. Wir
sollten nicht warten, bis wir uns auf den Schlaglochpisten der Haushaltskonsolidierung die Achsen brechen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Birgit Reinemund
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben jedes Jahr die gleiche Situation: Der
Winter kommt, und der Frost frisst tiefe Löcher in die
Straßen und noch tiefere in die kommunalen Finanzen.
Das ist keine Überraschung, und es ist eigentlich auch
keine neue Erkenntnis. Es stellt sich daher die Frage, wie
aktuell diese Aktuelle Stunde heute ist.
Niemand bestreitet die angespannte, bisweilen dramatische, aber auch sehr unterschiedliche Lage der Kommunen. Niemand bestreitet das strukturelle Defizit über
Jahrzehnte, und niemand bestreitet, dass die Infrastruktur chronisch unterfinanziert ist und dass wir hier einen
enormen Investitionsstau haben. Die KfW schätzt ihn allein im Bereich der kommunalen Verkehrsinfrastruktur
auf 24 Milliarden Euro und im gesamten Infrastrukturbereich auf 75 Milliarden Euro. Diese gigantischen Beträge haben sich über viele Jahre aufsummiert, unabhängig von jeder Wirtschaftskrise und unabhängig von
dieser guten Regierung. Es wurden in den vergangenen
20 Jahren horrende Summen aus der Gewerbesteuerumlage zum Aufbau der Infrastruktur der neuen Länder aufgewendet. Das war richtig und notwendig; darüber gab
es Konsens.
In der Antwort der letzten Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion wurden die
Finanzierungsbeteiligungen der Kommunen der alten
Länder für das Jahr 2006 mit 572 Millionen Euro für den
Fonds „Deutsche Einheit“ und mit 2,4 Milliarden Euro
für den Solidarpakt beziffert. Auch der Länderfinanzausgleich verursacht Finanzströme, unabhängig von der Eigenleistung der Teilnehmer. Manch eine Kommune
muss sich jedoch auch fragen lassen, ob sie immer ganz
verantwortungsvoll mit den Steuergeldern umgegangen
ist.
({0})
Zur kommunalen Selbstverwaltung gehört auch eine
kommunale Selbstverpflichtung zu einem sorgsamen
Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln.
({1})
Als Stadträtin weiß ich davon ein Lied zu singen. Meine
Heimatstadt Mannheim hat erst vor wenigen Wochen außerplanmäßig ein Kunstwerk für über eine Viertelmillion
Euro erstanden. Wie viele Schlaglöcher hätte man damit
stopfen können!
({2})
Im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler sind unzählige ähnliche Beispiele enthalten.
Dass Sie mich jetzt nicht falsch verstehen: Wir haben
unbestritten eine akute finanzielle Notlage der Kommunen. Schlaglöcher haben wir allerdings deutlich länger.
Das mag auch mit der Prioritätensetzung in manchen
Gemeinderäten zusammenhängen. Es gibt sicher prestigeträchtigere Projekte als Straßensanierung.
({3})
Wir sind uns alle einig: Die Kommunen haben, was die
Finanzierung angeht, ein strukturelles Defizit. Zur Behebung brauchen wir strukturelle Lösungen.
Wir alle wissen um die Schwankungsanfälligkeit der
Gewerbesteuer und deren ungleiche Verteilungswirkung.
Die Prognosen besagen: Die kommunalen Steuereinnahmen werden im Bundesdurchschnitt bereits 2012 wieder
das Niveau des Rekordjahres 2008 erreichen, wie gesagt: im Bundesdurchschnitt. Die Situation der Kommunen ist aber sehr unterschiedlich. Ludwigshafen beispielsweise hat bereits im Jahr 2010 Rekordeinnahmen
bei der Gewerbesteuer - doppelt so hoch wie erwartet verzeichnet, und zwar aufgrund eines einzelnen Gewerbesteuerzahlers, nämlich der BASF. Die Nachbarstadt
Mannheim kann davon nur träumen. Sie wird deutlich
länger brauchen, als es der Bundesdurchschnitt vermuten lässt.
Diese Defizite der Gewerbesteuer sind seit Jahrzehnten bekannt. Nicht umsonst hat diese Regierung eine
Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen eingesetzt. Sie soll im Rahmen eines Gesamtkonzepts Vorschläge zur Sanierung der kommunalen Finanzen erarbeiten, die beides umfassen: verlässlichere Einnahmen
und Entlastung auf der Ausgabenseite.
({4})
Die Kommission tritt seit Monaten auf der Stelle - richtig. Leider haben die kommunalen Spitzenverbände seit
Beginn der Verhandlungen ihre Position zementiert und
bewegen sich keinen Zentimeter.
({5})
Ein Kompromiss erscheint äußerst mühsam. Wenn es
keine Bewegung gibt, dann bewegt sich auch nichts nach
vorne. Ob das tatsächlich im Interesse der gebeutelten
Kommunen ist? Die Bundesregierung ist bereit, den
Kommunen kurzfristig unter die Arme zu greifen - bei
einer Einigung. Das hat Minister Schäuble mehrfach betont.
({6})
Meine Damen und Herren, die AG „Kommunale Finanzen“ der Kommission wird morgen, am 28. Januar,
ihre abschließende Sitzung haben. Wir alle warten auf
den Abschlussbericht und auf die ausstehenden Berechnungen. Daraus erhoffen wir weitere Lösungsansätze,
vielleicht Bewegung und vor allen Dingen neue Erkenntnisse.
({7})
Welche neuen Erkenntnissen diese Aktuelle Stunde
heute bringen soll, erschließt sich mir nicht wirklich.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
der einen Seite hören wir, dass wir eine chronische Unterfinanzierung der Kommunen haben. Auf der anderen
Seite hören wir, das Thema sei nicht aktuell. Die Aktualität zeigt sich im Augenblick unter anderem daran, dass
Schlaglöcher nicht mehr repariert werden können. Dabei
geht es nicht um Neu- oder Ausbau, sondern nur um ein
Schlaglochprogramm; das schlagen wir vor. Man hätte
auch beliebige andere Felder nehmen können, um zu zeigen, dass Kommunen nicht mehr in der Lage sind, ihre
Pflichtaufgaben zu erfüllen.
({0})
Uns ist wichtig, nicht in eine Situation zu kommen,
von der man gestern bei Spiegel Online lesen konnte:
Klamme Kommune - Britische Stadt will Schwimmbad mit Krematorium heizen
Sparen bis zum bitteren Ende: Eine britische Stadt
will ihr Freizeitbad mit Abwärme aus dem Krematorium heizen. Das diene auch dem Klimaschutz,
werben die Verantwortlichen. Gewerkschafter kritisieren den Sparvorschlag als „krank“.
Wir dürfen nicht in eine solche Situation kommen. Deswegen müssen wir etwas tun. Ich möchte kurz zurückschauen. Dass es den Kommunen so schlecht geht, hängt
in der Tat mit der Steuerpolitik seit dem Jahr 2000 zusammen. Das muss man immer wieder sagen und in Erinnerung rufen.
Weil ich gerade an einem Aufsatz über die Schuldenbremse arbeite, habe ich mir das genauer angeschaut.
Wäre nicht eine solche Steuerpolitik seit dem Jahr 2000
betrieben worden, hätten die Kommunen in den Jahren
2006 bis 2009 überhaupt keine Neuverschuldung nötig
gehabt, sondern Schulden abbauen können. Im großen
Krisenjahr 2010 hätten die Schulden dann gerade einmal
3,8 Milliarden Euro und nicht über 12 Milliarden Euro
betragen. Es liegt also an den massiv gesunkenen Steuereinnahmen, die die Kommunen nicht kompensieren können. Deswegen ist es notwendig, strukturell für Steuermehreinnahmen zu sorgen und Mindereinnahmen zu
bekämpfen.
({1})
Die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen
ist bisher keinen Schritt weitergekommen. Morgen findet
eine vorläufige Zwischensitzung statt, bei der erst einmal
die beiden Rechenmodelle vorgestellt werden. Aber es
wurde schon gesagt, dass die nächsten Rechenmodelle in
Auftrag gegeben worden sind. Dann wird es weitergehen.
Wir kommen keinen Schritt weiter. Der Minister hat erneut angeboten, den Kommunen ein Zuschlagsrecht zur
Einkommensteuer zu geben, wenn sie teilweise auf Gewerbesteuereinnahmen verzichten. Das ist für uns völlig
unakzeptabel. Denn es bleibt dabei: Ein solches Einkommensteuerzuschlagsrecht führt dazu, dass die reichen
Kommunen reicher und die armen Kommunen noch ärmer werden.
({2})
Wenn man wirklich eine Verbesserung herbeiführen
will, dann darf man nicht an der Gewerbesteuer festhalten, sondern muss sie reformieren und weiterentwickeln.
Ich habe mit Interesse von Herrn Holmeier gehört, dass
zumindest die Union eindeutig sagt: Mit uns gibt es
keine Abschaffung der Gewerbesteuer. - Ich bin gespannt, wie Sie dann im Bundestag abstimmen werden.
({3})
Ich hoffe, dass Ihre Fraktion die Abstimmung freigibt.
Dann kann man schauen, was dabei herauskommt. Aber
zu befürchten ist, dass man an die Gewerbesteuer herangeht.
Aus unserer Sicht ist Folgendes zu tun - das habe ich
schon früher ausgeführt -: Es gibt eine Empfehlung führender Raumwissenschaftlerinnen und Raumwissenschaftler der Bundesrepublik, was zu tun wäre. Das sind
im Wesentlichen die folgenden Punkte: Erstens ist bei
besonders hoch verschuldeten Kommunen zu prüfen, ob
man einen Entschuldungsfonds auf Länderebene auflegt,
damit diese Kommunen überhaupt wieder eine Chance
haben.
Zweitens ist eine grundlegende Reform der Gewerbesteuer vorzunehmen, die auch Selbstständige und Freiberufler einbezieht und die langfristig die Gewerbesteuerumlage abschafft.
Drittens spricht sich die Kommission ausdrücklich
gegen Hebesatzrechte aus.
Ferner brauchen wir Entlastungen auf der Ausgabenseite. Das betrifft insbesondere die Kosten der Unterkunft
für Langzeitarbeitslose und - das ist auf Dauer wahrscheinlich noch wichtiger - die Grundsicherung im Alter;
denn das ist der Posten, der sich im Augenblick am dynamischsten entwickelt. Letztlich ist dann wieder die „alte“
Sozialhilfe für Ältere gefordert, die ausschließlich von
den Kommunen zu tragen ist. Dann sind wir genau an dem
Punkt, von dem wir eigentlich weg sein wollten. Deswegen kann ich Sie nur auffordern, jetzt wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Die Kommunen und die Bürgermeister
der CDU - von der FDP gibt es nicht so viele -,
({4})
die diese Debatte verfolgen, werden über diese Debatte
enttäuscht sein. Wir müssen dringend ein Sofortprogramm auflegen, um die Kommunen wieder handlungsfähig zu machen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
knüpfe an die Ausführungen meines Vorredners, Herrn
Götz, an, der, wie ich finde, zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es ein Ding ist, dass ausgerechnet die Linke
eine Aktuelle Stunde zum Thema „Schlaglöcher in Straßen“ beantragt hat. Ich will gar nicht auf die Vergangenheit verweisen. Nur so viel: Wir alle kennen die Schlaglochstraßen, die es in den 90er-Jahren in den neuen
Bundesländern gab. Das war das Ergebnis der Wirtschaftspolitik bzw. des wirtschaftspolitischen Konzepts,
das Sie noch heute vertreten und letzten Endes immer
noch anstreben. Das haben wir auch in der letzten Woche
hier erfahren, als wir in der Aktuellen Stunde am Freitag
über das Thema Kommunismus debattiert haben.
({0})
Von daher ist es schade, dass Ihre wirtschaftspolitische
Expertin, die Vorsitzende der Kommunistischen Plattform, Frau Wagenknecht, der Debatte heute leider nicht
beiwohnen kann. Es wäre spannend gewesen, zu hören,
was sie uns zur Lösung der Probleme mitgeteilt hätte.
({1})
Ich habe von Ihnen heute nichts anderes als Ausgabenvorschläge gehört. Die Finanzlage der Kommunen
hat es nicht verdient, dass wir in dieser Schlichtheit darüber sprechen; denn die Lage ist tatsächlich kritisch. Sie
ist ernst. Die Kommunen haben ein strukturelles Defizit.
Das lässt sich auch nicht wegdiskutieren. Das hängt aber
nicht nur mit der Einnahmeseite, sondern vor allem mit
der Ausgabenseite zusammen; das ist von einigen Rednern hier zu Recht angesprochen worden. Das hängt vor
allem mit den gestiegenen Sozialausgaben zusammen.
Ich erinnere daran, dass die Kommunen im Jahr 2008,
als die Gewerbesteuer ihre wesentliche Einnahmequelle
war, einen erheblichen Überschuss erwirtschaftet haben,
und zwar aufgrund der sprudelnden Einnahmen aus der
Gewerbesteuer.
Damit bin ich beim nächsten Punkt. Sie haben gesagt,
diese Bundesregierung sei aufgrund der Steuersenkungen, die sie vorgenommen habe, für die derzeit kritische
Lage der Kommunen verantwortlich. Das genaue Gegenteil ist der Fall.
({2})
Wirtschaft ist keine statische Veranstaltung, bei der wir
den einen Geld wegnehmen, um es den anderen zu geben, bei der wir nur Geld von einem Topf in den anderen
verschieben. Die Tatsache, dass wir zum Jahresanfang
2010 eine Entlastung in Höhe von 24 Milliarden Euro
gewährt haben - das geschah auch auf Basis der Beschlüsse, die wir mit Ihnen gefasst haben, Herr Sieling -,
wirkt sich wirtschaftlich aus. Das sehen wir auch an den
aktuellen Zahlen. Auch mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir den Leuten doch kein Geld weggenommen. Wir haben den „ganz normalen“ Menschen,
den Familien in diesem Land 4,8 Milliarden Euro als
Kaufkraft zur Verfügung gestellt, insbesondere über eine
Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages.
({3})
Ein großer Teil des Wachstums von 3,6 Prozent, das wir
im letzten Jahr hatten, ist darauf zurückzuführen.
({4})
Natürlich ist das auch auf eine florierende Wirtschaft
und eine gute Exportquote zurückzuführen.
Fragen Sie die Volkswirte! Die sagen unisono: Die
Binnennachfrage zieht an.
({5})
Das hängt doch auch mit der Kaufkraft zusammen, mit
Wachstumseffekten, die wir auslösen, mit mehr Mitteln,
die der Einzelne zur Verfügung hat, mit mehr Menschen,
die wir in Arbeit bringen. Wir haben in diesem Jahr
wahrscheinlich eine Arbeitslosenzahl von 2,7 Millionen
im Schnitt zu erwarten. Ich greife Ihr schönes Stichwort
von der „Bröckelrepublik“ auf, Herr Sieling: Als Sie die
politische Verantwortung trugen, hatten wir 5 Millionen
Arbeitslose in diesem Land.
({6})
Das wirkt sich auf die kommunalen Kassen ganz brutal
aus, gerade wegen der steigenden Sozialausgaben. Wer
ist denn verantwortlich für die „Bröckelrepublik“? Das
ist Ihre „Bröckelrepublik“.
({7})
Die Gewerbesteuer ist hier schon verschiedentlich angesprochen worden. Ich finde, dass die Gewerbesteuer
einige Schwächen hat. Diese Schwächen sind schon thematisiert worden. Ich finde Ihre Vorschläge erstaunlich,
Herr Sieling. Ich erinnere daran, dass Ihre Partei, als sie
in der Regierung war, die Gewerbesteuerumlage erhöht
hat. 2005 haben Sie rückwirkend den Bundesanteil an
den Kosten der Unterkunft auf null gesetzt.
({8})
Ich weise Sie auf das hin, was der Städte- und Gemeindebund zu Ihren Forderungen im Hinblick auf
Hartz IV gesagt hat. Wörtlich wurde gesagt, die von der
SPD geforderten Korrekturen an den Hartz-Gesetzen
seien unbezahlbar. Das ist das Urteil über Ihre Vorschläge. Ich finde es ziemlich heftig, dass Ihr Finanzminister in Nordrhein-Westfalen durch die Gegend läuft
und sich damit brüstet, dass er etwas für die Kommunen
leistet, dass er Hunderte Millionen Euro für die Kommunen zur Verfügung stellt; denn das geschieht auf der Basis eines höchstwahrscheinlich verfassungswidrigen
Haushalts. Man kann Ihnen wirklich nur raten, erst einmal die Verhältnisse vor Ort in Ordnung zu bringen und
sich dann als Ratgeber auf bundespolitischer Ebene zu
empfehlen.
({9})
Ich glaube, wir sind mit der Kommission, die der
Bundesfinanzminister eingerichtet hat, auf dem richtigen
Weg.
({10})
Es dauert etwas länger, weil die Fronten verhärtet sind.
Ich gehe aber davon aus, dass wir einen brauchbaren
Kompromiss erzielen werden. Wenn sich die Kommunen bei dem Thema Hinzurechnung bewegen, dann wird
es auch auf der anderen Seite Bewegung geben, entweder in Richtung eines Anteils an der Einkommensteuer
mit Zuschlagsrecht oder - das hat der Finanzminister in
jedem Fall in Aussicht gestellt - in Richtung zusätzlicher
Beiträge und eines zusätzlichen Engagements des Bundes bei den sozialen Ausgaben, bei der Grundsicherung
im Alter und bei der Integration Erwerbsgeminderter.
Das halte ich für eine vernünftige Linie. Diese sollten
wir jetzt mit aller Sachlichkeit und Nüchternheit verfolgen.
Danke.
({11})
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Petra Hinz von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eigenverantwortung übernehmen - das ist immer dann das Stichwort, wenn es darum geht, dass Sie
den Kommunen Mittel entziehen. Es geht hier nicht um
Eigenverantwortung, sondern darum, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt hier zuhören, täuschen
wollen. Das versuchen Sie, seit Sie in der Verantwortung
sind. Sie behaupten, durch das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz sei der Konsum gesteigert worden. Ich bezweifle, dass falsche Aussagen durch permanentes Wiederholen wahrer werden.
({0})
Ich sage Ihnen: Durch die Gesetze, die Sie, seitdem Sie
mit der FDP in der Verantwortung sind, beschlossen haben, entziehen Sie den Kommunen Finanzkraft. Um
nichts anderes geht es hier.
({1})
Sie können Ihre Behauptung hier permanent wiederholen; das glaubt Ihnen draußen niemand mehr.
({2})
Kann es sein, dass das marode Straßennetz - das Gefühl hat man, wenn man die Diskussion zwischen CDU/
CSU und FDP hört - ein Spiegelbild dieser Albtraumkoalition ist? Sie bewirken, dass die Kommunen handlungsunfähig werden. Es hilft nicht, darauf zu verweisen, dass es auch reiche Kommunen gibt. Ja, da haben
Sie völlig recht. Aber die überwiegende Zahl der Kommunen - gerade dort, wo es einen Strukturwandel gegeben hat - ist derzeit am Limit. Sie haben auch keine weiteren Einsparmöglichkeiten mehr. Ich frage mich, ob es
Ihnen wirklich um die Kommunen geht. Über alle Regierungen hinweg haben wir hier Gesetze beschlossen,
die die Kommunen letzten Endes finanziell belastet haben.
({3})
Das betrifft die Menschen vor Ort.
Seitdem Sie in Verantwortung sind, haben Sie die
Menschen im Stich gelassen und durch Entscheidungen
bzw. Nichtentscheidungen die Kommunen gezwungen,
Kürzungen vorzunehmen bzw. die Gebühren oder - im
Rahmen Ihrer Möglichkeiten - die Steuern zu erhöhen.
Das zahlen letzten Endes die Bürgerinnen und Bürger
vor Ort. Sie versprechen ständig Steuererleichterungen.
Diese werden aber dadurch kompensiert, dass die Bürgerinnen und Bürger wesentlich mehr Gebühren und Abgaben zahlen müssen; auch das muss deutlich gesagt werden.
({4})
Kommen wir zurück zu den Schlaglöchern. Meine
Kollegin hat schon auf ihr Bundesland aufmerksam gemacht. Ich möchte gerne konkret meine Stadt, die Stadt
Essen, als Beispiel nennen. Das Problem der Schlaglöcher haben wir nicht nur in diesem Jahr, sondern - darauf haben alle Redner hingewiesen - wir hatten es be9766
Petra Hinz ({5})
reits in zurückliegenden Jahren. Meine Kommune
schreibt mir dazu ganz klar: Im letzten Jahr waren es
2,3 Millionen Euro. In diesem Jahr geht es um weitere
2,3 oder 2,5 Millionen Euro. Das sind kumuliert rund
4,5 Millionen Euro. Die Kommune wird diese Gelder
gar nicht aufbringen können. Das heißt unter dem Strich
- auch das hat mir die Baudezernentin in der Beantwortung meiner Fragen geschrieben -, dass man den Anliegern die Kosten des Straßenbaus und der Straßengestaltung im Rahmen des KAG in Rechnung stellen wird.
Das heißt, die Menschen vor Ort werden das bezahlen,
weil sich unser Verkehrsminister herauszieht und sich einen schlanken Fuß macht.
({6})
Er begründet es damit, dass wir den Kommunen aufgrund der Fördersystematik nicht helfen können.
({7})
- Wir haben schon ganz viele Förderprogramme aufgelegt, obwohl wir originär gar nicht zuständig sind. Wenn
wir gemeinsam etwas wollen, dann können wir es auch
auf den Weg bringen.
Wir haben im Rahmen der Haushaltsberatungen allerdings sehr deutlich feststellen können, in welche Richtung Herr Ramsauer geht. Vom Finanzministerium kam
ein ganz klares Nein zur Gewerbesteuer. Ich höre von Ihnen keine Alternative zur Gewerbesteuer. Ich höre nur:
Warten wir erst einmal ab! - Wir warten eigentlich seit
September, nein, seit Oktober, nein, seit November, nein,
seit Dezember letzten Jahres. Nun sind wir im neuen
Jahr und warten weiter ab, ob die Kommission einen Bericht vorlegt. Wenn die Kommission ein Ergebnis vorlegt, das nicht Ihren Vorstellungen - Wegfall der Gewerbesteuer - entspricht, dann bin ich sehr gespannt, ob Sie
dann frei abstimmen dürfen.
({8})
- Wie dieser parlamentarische Prozess abläuft, liebe
Kollegin, erleben wir im Finanzausschuss immer wieder,
wenn es um Teilhabe und Informationsaustausch geht.
Dann wird lediglich mit Mehrheit beschlossen.
({9})
Ich komme auf Ihr großartiges „Wachstumsverhinderungsgesetz“ und die Mehrwertsteuersenkung zurück. Sie
behaupten, dadurch sei der Konsum gesteigert worden.
Sie haben letzten Endes dazu beigetragen, dass den Kommunen 1,6 Milliarden Euro fehlen. Unter dem Strich
kann man sagen: Wer bei Ihnen keine Lobby hat, der bekommt von der Regierung keinen Cent und keinen Euro
und der wird weder unterstützt noch gefördert.
({10})
Ich fasse schnell zusammen; denn ich sehe, dass
meine Zeit abläuft. Erstens. Bund und Länder müssen alles Mögliche tun, um die Substanz des Straßennetzes zu
erhalten und Reparaturen vorzunehmen. Hier erwarte ich
vom Verkehrsminister eine intelligente Lösung und nicht
nur die Aussage, was alles nicht geht.
Zweitens. Nehmen Sie die Mittelkürzung beim Städtebauförderungsprogramm zurück! Denn das Programm
„Soziale Stadt“ muss fortgesetzt werden. Es war ein Erfolgsmodell, allerdings nicht Ihr Modell.
({11})
Drittens. Die Gewerbesteuer muss erhalten werden,
um den Kommunen Planungssicherheit zu geben.
Viertens. Nehmen Sie die Gesetze zurück, die dazu
geführt haben, dass Mindereinnahmen das Handeln der
Kommunen bestimmen!
Fünftens. Ihre sogenannten Steuererleichterungen
dürfen nicht zulasten der Kommunen gehen.
({12})
Sechstens. Stärken Sie die Kommunen! Das bedeutet
zugleich eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Brackmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Alle Jahre wieder rieselt der Schnee. Alle
Jahre wieder gibt es Frost, und es kommt zu Frostaufbrüchen. Alle Jahre wieder gibt es diese Debatte, und in diesem Jahr stehen besonders viele Landtagswahlen an.
Wenn ich mir diese Debatte hier vor Augen führe, dann
stellt sich mir die Frage - und die Kollegen der SPD haben schon darauf hingewiesen -, was daran eigentlich
aktuell ist. Die Kommunen haben sich darauf eingestellt,
dass es Frostschäden gibt. Eigentlich sind zwei Dinge
neu: Erstens. Die Frostschäden erfordern - der Kollege
Götz hat darauf hingewiesen - einen Aufwand von
2,3 Milliarden Euro. Das ist viel Geld.
Zweitens. Laut der neusten Steuerschätzung vom November kommt es aufgrund der super Politik, die diese
Regierung macht,
({0})
bei den Kommunen zu Mehreinnahmen von 3,6 Milliarden Euro. Es wäre typisch für Sie gewesen, wenn Sie darüber nachdenken würden, was man mit dem Differenzbetrag machen könnte. Sie, Frau Kunert, stellen sich
dann hier hin und sagen, die Kommunen seien am Ende.
({1})
Dann schauen wir einmal zurück. Warum sind sie
denn am Ende? - Wir wissen, worüber wir reden, wenn
wir über Schlaglöcher in den Straßen reden. Straßen haben eine Lebensdauer von 30 Jahren.
({2})
- Ja, da lachen Sie noch. Ihr Erinnerungsvermögen wird
Sie auch nicht verlassen.
Die Steuerreform hat im Jahre 2000 dazu geführt ({3})
- das ist nur ein Drittel der Zeit -, dass der größte Eingriff
bei der Gewerbesteuer und der Körperschaftsteuer erfolgte. Die Einnahmen sind von 50 Milliarden Euro - ich
habe mir die Zahlen noch einmal geben lassen - auf
25 Milliarden Euro gesunken. Wenn man das bis heute
hochrechnet, dann stellt man fest, dass den Kommunen
120 Milliarden Euro weniger zur Verfügung stehen, die
sie in die Straßen hätten investieren können. Das ist
schon bemerkenswert. Ich wäre aufseiten der Linken etwas vorsichtig. Seinerzeit hat die Bundesregierung die
Zustimmung des Bundesrates mit ein paar Ortsumgehungen für das Land Mecklenburg-Vorpommern erkauft,
das von Rot-Rot regiert wurde. Damit sind Sie geradezu
mitverantwortlich dafür, dass es diesen Aderlass gegeben hat.
Sie sprechen von einem reichen Deutschland, in dem
eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen eigentlich kein Problem sein dürfte. Sie müssen sich aber
auch vergegenwärtigen, dass wir hier mit unterschiedlichen Welten konfrontiert werden. Wenn wir in den Kommunen diskutieren - das wissen wir alle -, ist die Diskussionslage immer dieselbe: Gerade von den Linken,
aber auch von anderen Parteien, die hier in der Opposition sitzen, bekommen wir immer wieder den Hinweis,
wir sollten bloß nicht so viel Geld in die Unterhaltung
der Straßen stecken, sondern dieses Geld viel lieber für
Investitionen im sozialen Bereich verwenden, damit es
letztlich den Konsum steigert. Hinterher wundern wir
uns, dass Sie sich hier hinstellen und davon reden, dass
es sich die Kommunen nicht mehr leisten können, die
Schlaglöcher ordentlich zu sanieren. In den Kommunen
schimpfen Sie auf den Bund, der sich darum kümmern
soll. Das ist ein falsches Spiel; das sind Taschenspielertricks, die wir hier im Bundestag nicht anwenden sollten.
Stattdessen sollte jeder in seinem Zuständigkeitsbereich
für ordentliche Straßen sorgen.
({4})
Man muss einmal deutlich darauf hinweisen, dass der
Bund hier seiner Verpflichtung nachkommt. Es ist ein
deutliches Signal, dass trotz der schwierigen Haushaltslage der Etat für die Sanierung der Fernstraßen von
2,1 Milliarden Euro um 100 Millionen Euro aufgestockt
wurde.
({5})
- Es ist eine deutliche Erhöhung. - Obendrein hat der
Bundesverkehrsminister angewiesen, den Erhalt von
Straßen dem Neubau vorzuziehen. Das ist ein deutliches
Signal dafür, dass wir den Bestand in der Bundesrepublik sichern wollen.
Sie haben in der Föderalismuskommission mitgewirkt. Sie wissen also: Der Bund dürfte, selbst wenn er
wollte, die Gemeindestraßen gar nicht finanzieren; er
könnte das aber aufgrund der Anforderungen auch nicht
leisten. Der Bund tut bei den Bundesstraßen genau das,
was richtig ist, nämlich alles erdenklich Mögliche, um
auf den Schlaglochpisten keine Straßenkaries aufkommen zu lassen. Dafür sei dem Verkehrsminister gedankt.
Danke schön.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
Tunesien - Jetzt Grundlage für stabile Demokratie schaffen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen, die nicht daran teilnehmen wollen, den Plenarsaal
zu verlassen, damit die anderen den Ausführungen in
Ruhe folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in diesen
Tagen, welche Kraft die Idee der Freiheit entfalten kann.
Wir erleben das nicht nur in Tunesien, sondern zurzeit
auch in Ägypten. Als diese Debatte vereinbart worden
ist, hatte man noch die Ereignisse in Tunesien im Kopf.
Mittlerweile sehen wir, dass auch in anderen Ländern
derartige Demonstrationen, mindestens aber derartige
Diskussionen in der Gesellschaft stattfinden. Das ist die
andere Seite der Globalisierung, die oft vergessen wird:
Es ist eine Globalisierung der Werte, eine Globalisierung
demokratischer Prinzipien. Es geht um den Respekt vor
den Menschenrechten und den Bürgerrechten. Hier haben wir über alle Parteigrenzen hinweg eine gemeinsame
Haltung. Die deutsche Bundesregierung und - ich habe
keinen Zweifel daran - auch der Deutsche Bundestag
stehen ohne Wenn und Aber an der Seite und auf der
Seite der Demokratie - sei es in Tunesien, sei es in
Ägypten.
({0})
Ich will fünf Bemerkungen machen, weil es natürlich
ein Prozess sein wird, der uns noch lange beschäftigt,
und zwar nicht nur im Deutschen Bundestag, nicht nur in
der Arbeit der Regierung, sondern natürlich darüber hinaus in Europa und im gesamten Westen, der zu Recht ja
auch als Wertegemeinschaft bezeichnet wird.
Erstens. Was wir derzeit erleben, widerlegt die Behauptung, dass Demokratie und dass Freiheitsrechte
Länder instabil machen würden. Wir erleben hier das
glatte Gegenteil. Nicht die Bürgerfreiheiten machen
diese Länder instabil, nicht die Gewährung von Freiheit
macht diese Länder instabil, sondern die Verweigerung
von Bürgerfreiheiten, die Verweigerung von Bürgerrechten destabilisieren diese Länder. Das ist auch ein klarer
Auftrag für uns, da, wo wir es können, auf Demokratisierung zu setzen. Der Weg zur Stabilität führt über die
Demokratie. Das ist der Grund dafür, dass wir uns auch
als Europäer hier besonders engagieren.
({1})
Dazu zählt die Wahrung der Menschenrechte, dazu
zählt der Respekt vor den Bürgerrechten, und dazu zählen ausdrücklich auch die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Das ist die Botschaft, die von Tunesien ausgegangen ist, und das ist die Botschaft, die jetzt
auch in Ägypten gehört werden soll; Demokratie, Freiheitsrechte, Bürgerrechte, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, das sind genau die Rechte,
die jetzt von den Bürgerinnen und Bürgern auf der
Straße verlangt und eingeklagt werden. Diejenigen, die
diese Rechte wollen, haben unsere Solidarität und unsere
politische Unterstützung.
({2})
Wir sind eine Wertegemeinschaft, und diese Werte wollen wir auch verbreiten.
Zweitens. Sehr oft wird als Rechtfertigung für Gewalt
erklärt, dass man diese Gewalt zur Unterdrückung einsetzen müsse, um der Gefahr einer Islamisierung, um der
Gefahr von Fundamentalismus entgegenzutreten. Genau
das ist etwas, was in diesen Tagen auch widerlegt wurde
und gerade widerlegt wird.
Diejenigen, die jetzt Gewalt gegen ihre Bürgerinnen
und Bürger und deren Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie einsetzen, fördern Islamismus und Radikalität;
denn sie treiben diejenigen dahin, die aus einer ganz normalen Mittelschicht heraus in Wahrheit nach Bildung,
Freiheit und Aufstieg drängen; sie sorgen dafür, dass genau diese moderaten Kräfte geschwächt und die radikalen gestärkt werden. Nicht der, der Gewalt einsetzt, bekämpft den Islamismus, sondern der, der jetzt Gewalt
gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger einsetzt,
sorgt für Fundamentalismus, Islamismus und eine Radikalisierung in diesen Gesellschaften.
({3})
Drittens. Wir werden am Montag im europäischen
Kreis in Brüssel besprechen, wie wir in Tunesien konkret helfen können. Natürlich ist es jetzt, bevor diese
Maßnahmen gemeinsam verabredet sind, zu früh, Einzelheiten zu nennen. Aber ich kann Ihnen versichern
- das habe ich auch in meinem Telefongespräch mit meinem tunesischen Amtskollegen noch einmal deutlich gemacht -: Wenn Tunesien den Weg in Richtung Demokratie geht, dann werden wir nicht nur als Deutschland,
sondern auch als Europäische Union bei diesem Prozess
behilflich sein.
Wichtig ist eine unabhängige Justiz. Dort, wo jetzt
eine unabhängige Justiz als wesentliche Voraussetzung
für Stabilität aufgebaut wird, werden wir mit Rat und Tat
- auch mit Ratgebern und praktischer Hilfe - dabei sein
und unterstützend mitwirken.
Viertens. Man erkennt, dass in unserem elektronischen Zeitalter Meinungen eben nicht mehr allein über
das Staatsfernsehen kontrolliert werden können. Das ist
eine ganz neue Realität der Gedankenfreiheit. Deswegen: Wenn ich von Pressefreiheit spreche, dann meine
ich damit auch die Freiheit im Internet. Sie ist ganz augenscheinlich auch ein Motor für Demokratisierung geworden. Wir begrüßen diese Entwicklung und appellieren deswegen auch an die Regierung in Kairo, die
Freiheit im Internet nicht durch Abschalten zu beeinträchtigen.
({4})
Fünftens und letztens möchte ich mich bedanken, vor
allen Dingen für die Zusammenarbeit mit sehr vielen
Kolleginnen und Kollegen hier, aber, wenn Sie mir erlauben, auch für die Zusammenarbeit mit Reiseveranstaltern, für das Engagement unserer Diplomaten, unserer deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger vor
Ort.
Bitte vergessen wir nicht, was es für eine großartige
Leistung war, dass 7 000 deutsche Touristen innerhalb
eines Wochenendes, so sie es wollten, ausgeflogen werden konnten. Das war eine gigantische logistische Leistung. Deswegen erlauben Sie mir bitte, dass ich schließe
mit einem Dank an die Beamten, die das organisiert haben, aber natürlich auch an unsere Mitarbeiter in den
Ländern, die unter persönlicher Gefahr dort arbeiten,
und insbesondere an die Reiseveranstalter und die vielen
Unternehmen, die daran mitgewirkt haben, dass unsere
Staatsangehörigen unversehrt zurückkehren konnten, sofern sie dies wollten.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gloser für die SPDFraktion, dem ich herzlich zu seinem heutigen Geburtstag gratuliere.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Aber den akademischen Titel habe ich immer noch nicht erworben.
({0})
Dann müssen Sie mit Ihrer Geschäftsführung klären,
was sie meldet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mutige Bürgerinnen und Bürger Tunesiens haben ein
Wunder bewirkt. Die sogenannte Jasminrevolution ist
auch ein historischer Einschnitt in der Geschichte Tunesiens. Wenn man im Lexikon „Arabischer Jasmin“ nachschlägt, dann liest man dort: Er wächst als aufrechter
und kletternder Strauch. - Ich meine, viele tunesische
Bürger können aufgrund ihres Mutes aufrecht gehen. Ihr
Mut ist auch ein Beispiel für andere. Wir wissen: Der
Strauch klettert weiter. Aus den Bewegungen in Ägypten
und im Jemen wissen wir das.
Heute ist vielleicht auch ein kurzer Augenblick des
Gedenkens an die vielen Opfer dieser Revolution angezeigt. Unsere Wünsche zur Genesung gehen an die vielen Verletzten. Noch immer steht das Land vor schwierigen Herausforderungen. Dazu gehören der Aufbau von
handlungsfähigen Strukturen, auch einer handlungsfähigen Übergangsregierung, die Organisation von Wahlen,
die Herausbildung einer freien Zivilgesellschaft, aber
auch die unumkehrbare Sicherung der Grundfreiheiten.
Jetzt gilt es, seitens der Europäischen Union, seitens
Deutschlands ein wichtiges Zeichen zu setzen. Es ist
richtig: Die Tunesier haben die Umwälzung allein geschafft. Es war ihr Mut, gegen Missstände aufzubegehren, um sich endlich die Luft zum Atmen der Freiheit zu
verschaffen. Dennoch: Gerade während dieses historischen Umbruchs genügen warme Worte nicht. Wenn
nicht jetzt, wann dann erfolgt die Unterstützung dieses
Landes?
({0})
Angesichts der Demonstrationen in anderen arabischen Ländern kristallisieren sich übereinstimmende
Forderungen heraus. Die Menschen, insbesondere die
jungen Menschen, wollen politische, wirtschaftliche und
soziale Teilhabe. Sie wollen Grundfreiheiten in Anspruch nehmen. Sie wollen sich eigene Perspektiven erarbeiten können.
Die Menschen, die in verschiedenen Orten Tunesiens
auf die Straße gegangen sind, nehmen eigentlich nur das
in Anspruch - vielleicht haben wir das vergessen -, was
die Staats- und Regierungschefs des Nordens und des
Südens in der Erklärung von Barcelona am 27./28. November 1995 vereinbart haben: die Verpflichtung auf die
Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte, die Anerkennung der
Menschenrechte und der Grundfreiheiten wie der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit. In dieser
Erklärung ist aber auch von der Entwicklung der Demokratie die Rede. Es ging also nicht, wie mancher Kritiker
sagt, nur um finanzielle und wirtschaftliche Partnerschaft.
Unstrittig: Letztere hat natürlich auch die Entwicklung in Tunesien befördert. Dieses Land hat eben zwei
sehr unterschiedliche Gesichter - dies sollte bei all den
Umwälzungen und in so manchem klugen Leitartikel
nicht vergessen werden -: Zum einen gibt es das Land,
in dem im Vergleich zu anderen arabischen Ländern eine
bessere Rechtsstellung und Lage der Frauen, eine verhältnismäßig gute Ausbildung, Infrastruktur - ja, es gibt
auch einen Mittelstand - und die Trennung von Religion
und Staat vorhanden sind, und zum anderen gibt es das
Urlaubsland Tunesien.
Heute geht so mancher kritische Kommentar zur Situation Tunesiens auch in Richtung der Politik. Ich erinnere daran, dass in der Lektüre der letzten Jahre Tunesien immer unter einem bestimmten Bild zu finden war,
nämlich als Touristenland auf den Reiseseiten der Zeitungen, aber nie mit dem anderen Gesicht.
Ich bin froh darüber, dass wir Sozialdemokraten bei
unseren Begegnungen kritische Themen nicht ausgespart
haben. Ja, wir mussten auch mit der Regierung sprechen;
aber genauso trafen wir uns mit Vertretern der Opposition - wohlgemerkt: nicht nur der Opposition, die von
Ben Ali zugelassen war - und auch mit vielen NGOs mit
Menschenrechtsaktivitäten. Noch im Dezember letzten
Jahres habe ich in Tunis mit Vertretern dieser Opposition
gesprochen. Zwei davon waren für 24 Stunden Mitglieder der Übergangsregierung. Ich hoffe, sie kehren unter
anderen Umständen wieder zurück.
Wir haben mit verschiedenen Ministern und der RCD
über diese Themen gesprochen, vor allem unsere Erwartungen in Bezug auf eine gesellschaftliche Öffnung formuliert, gerade vor dem Hintergrund der Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen. Die Kolleginnen und
Kollegen aus allen Fraktionen, die bei dem Besuch der
Parlamentariergruppe des tunesischen Parlaments im
November letzten Jahres dabei waren, wissen, wie wir
das deutlich gemacht haben.
In den letzten Monaten wollte die Regierung Tunesiens Unterstützung bei den Verhandlungen mit der EU
über einen privilegierten Status. Ich denke, eine solche
Unterstützung sollte grundsätzlich gewährt werden. Sie
muss aber mit den Forderungen einhergehen, die wir als
Europäische Union haben. Herr Außenminister, wenn
am kommenden Montag die Entscheidungen des Außenministerrates getroffen werden, halte ich es für wichtig,
dass hier Zeichen gesetzt werden, damit nicht der Eindruck entsteht, wir brächen an dieser Stelle Verhandlungen einfach ab, die wir zuvor geführt haben. Wir müssen
Perspektiven aufzeigen. Möglicherweise kann dann eine
neue Regierung eine neue Vereinbarung treffen.
Jetzt äußern sich auf einmal viele klug, als hätten sie
schon immer alles gewusst. Ich stelle noch einmal fest:
Angesichts der vielen Verflechtungen, angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft, aber auch angesichts vieler
gemeinsamer Themen mussten wir auch mit den Regierungen reden, sei es nun in Tunis, in Algier oder in Kairo ob es uns gefiel oder nicht.
Die Frage ist doch: Sprechen wir nur mit der Regierung oder auch mit den anderen, den kritischen Gruppen? Hinterfragen wir kritische Situationen oder biedern
wir uns an? Tunesien liegt für uns nur etwa zwei bis drei
Flugstunden entfernt. Das ist nicht weit weg. Diese geografische Nähe legt nahe, viele Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Unser in Europa vorhandenes Bedürfnis nach Sicherheit in unserem sogenannten
Vorgarten in den südlichen Regionen darf nicht als Vorwand für Repression der dortigen Bevölkerung genommen werden. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um auf die
grundlegenden Vereinbarungen zwischen dem Norden
und dem Süden im Rahmen des Barcelona-Prozesses zurückzukommen.
Auch wenn es ein heißes Eisen ist, müssen wir uns
doch selbstkritisch fragen, wie wir es mit einer Überprüfung der europäischen Flüchtlingspolitik halten.
({1})
Angesichts der Perspektivlosigkeit von 60 bis
70 Prozent der Jugendlichen und jungen Menschen unter
30 Jahren in Nordafrika müssen wir uns auch dem
Thema der möglicherweise temporären Öffnung der legalen Migration widmen. Ich weiß, das ist ein schwieriges Feld.
Dennoch, sehr geehrter Herr Außenminister, haben
Sie seitens der SPD - ich glaube, ich kann das sagen die volle Unterstützung, wenn Sie sich, wie ich erfahren
habe, gegenüber manchem südlichen Nachbarn in der
Zielrichtung durchsetzen. Es ist nicht hinnehmbar, dass
noch vor wenigen Tagen eine Außenministerin Unterstützung für ein System Ben Alis gegeben hat.
({2})
Ich glaube, das sollte schnellstmöglich korrigiert werden.
Es ist wichtig, die Vielzahl der Menschen, die auf die
Straße gegangen sind, die diese Umwälzung herbeigeführt haben, auch in der Zukunft zu unterstützen. Ich
habe eingangs das Beispiel vom Jasmin genannt. Über
den Arabischen Jasmin heißt es aber auch: Er ist ein einheimisches und kein importiertes Gewächs. - Vielleicht
war die Jasminrevolution gerade deshalb so erfolgreich,
weil sie sich von innen heraus entwickelte und nicht von
außen erzwungen worden ist.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Polenz für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Arbeit, Freiheit, Würde - das waren die zentralen Forderungen, für die die Tunesierinnen und Tunesier mutig
auf die Straße gegangen sind. Ihre Forderung war: Ende
der Korruption und der Unterdrückung. Sie haben für
Meinungsfreiheit gestritten, und sie wollten freie und
faire Wahlen. Die Tunesier wollen selbst entscheiden,
wer regieren soll.
Wir haben diese Debatte heute deshalb vereinbart,
weil wir das Signal senden wollen: Ja, wir unterstützen
diese Forderung nach einem Rechtsstaat und einer Demokratie, nach einer Gesellschaft, in der jeder und jede
in Würde leben kann und die Armut und Arbeitslosigkeit
überwindet.
({0})
Wir wollen ein Signal dafür senden, dass wir Respekt
haben und dass wir die mutigen Tunesierinnen und Tunesier bewundern, die sich nicht haben einschüchtern
lassen, als sie auf die Straße gegangen sind, und die auch
erfolgreich darin waren, den autoritären Machthaber Ben
Ali zu stürzen.
Wir sollten uns aber auch selbstkritisch noch einmal
vergegenwärtigen, dass wir uns vielleicht zu lange vor
eine falsche Alternative gestellt haben, weil wir der Meinung waren, in der Region des Nahen und Mittleren Ostens im Grunde nur die Alternative zwischen autoritären
Regierungen und islamistischem Chaos zu haben.
({1})
Ich glaube, wenn man das richtig durchdenkt, dann
kommt man sehr schnell zu dem Ergebnis, dass eine autoritäre Herrschaft nicht vor Islamismus schützt, sondern
im Gegenteil eher wie ein Brutkasten für Islamismus
wirkt.
Warum ist das so? Autoritäre Regierungen lassen
keine Meinungsfreiheit, keine politische Opposition und
keine politische Diskussion in der Öffentlichkeit zu. Die
Bevölkerungsmehrheit ist muslimisch, und den Glauben
kann auch eine totalitäre Regierung nicht verbieten. DesRuprecht Polenz
halb verlagert sich die politische Diskussion dann in die
noch einigermaßen geschützten Räume der Moscheen.
Man kann das ein bisschen mit dem vergleichen, was wir
in den 80er-Jahren in der DDR in den Kirchenräumen erlebt haben. Durch diese Verlagerung der Diskussion in
die Moscheen wandelt sich die politische Bewegung natürlich ein Stück weit auch in Richtung religiöser Bewegung.
Es kommt dann noch dazu, dass autoritäre Regierungen dabei versagen, die Grundfunktionen in Sachen Bildung und soziale Sicherheit zu erfüllen, die alle vom
Staat erwarten. Wir alle wissen, dass es zum Handwerkszeug der islamistischen Bewegung gehört, Kindergärten,
Schulen und Krankenhäuser zu offerieren. Dies ist das
zweite Element, durch das autoritäre Herrschaft Islamismus begünstigt.
Wenn man dann noch sieht, dass alle diese Länder im
Grunde auf der Suche danach sind, welche Staats- und
Regierungsform zu ihnen passt, dann verfängt natürlich
so eine einfache Formel wie „Der Islam ist die Lösung“.
Wir müssen also lernen, dass diese Alternative, die uns
natürlich auch von den autoritären Herrschern eingeredet
worden ist - autoritär oder islamistisch -, in Wirklichkeit
keine ist.
Die Tunesier haben sich jetzt die Chance auf eine demokratische Entwicklung selbst erkämpft, und wir sollten sie auf diesem weiteren Weg unterstützen.
({2})
Wir sollten unsere Hilfe allerdings - auch dazu möchte
ich etwas sagen - an klare Bedingungen knüpfen. Es gibt
jetzt eine Übergangsregierung, die im Grunde zwei Aufgaben hat: Sie muss für Sicherheit und Ordnung sorgen,
und sie muss den Übergang vorbereiten, sprich: freie
und faire Wahlen sowohl für das Präsidentenamt, aber,
ich denke, alsbald auch für ein neues Parlament organisieren.
Das kann nach so langer Unterdrückung ohne politische Diskussion nicht innerhalb ganz kurzer Frist geschehen; denn dann hätten nur die Kräfte der alten Zeit
eine Chance, organisiert anzutreten. Deshalb wird man
einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr brauchen.
Länger sollte es aber auch nicht dauern. Wir müssen von
dieser Übergangsregierung einen klaren Zeitplan für
diese Wahlen erwarten.
Natürlich müssen dann Parteien neu gegründet und
zugelassen werden. Sie brauchen ein Wahlgesetz. Dabei
kann die Europäische Union und können wir technische
Hilfe anbieten. Es gehört eine Amnestie für die politischen Gefangenen dazu,
({3})
übrigens auch für diejenigen, die aus Angst vor dem Regime ins Ausland geflohen sind und jetzt gerne zurückkehren würden.
({4})
Jetzt will ich etwas sagen, was vielleicht nicht jeder
teilt. Ich glaube, wir sollten uns aktiv darum bemühen,
dass sich auch islamistische Parteien an diesem Prozess
beteiligen.
({5})
Warum? Nach demokratischen Wahlen sind die Probleme ja nicht weg. Es hat ja nicht sofort jeder Jugendliche einen Job, und es bricht nicht im ganzen Land sofort
der Wohlstand aus. Dann ist es wichtig, dass der Streit
über den richtigen Weg dahin in einem Parlament mit allen politischen Kräften ausgetragen wird, statt dass
Kräfte außerhalb dann das ganze System diskreditieren
und das, was man in der Vergangenheit zu Recht der autoritären Herrschaft angelastet hat, der neuen Demokratie anlasten.
Deshalb sollten wir aktiv dafür werben, dass auch islamistische Parteien in diesen Prozess einbezogen werden. Dafür sind allerdings klare Vorbedingungen nötig.
Erstens. Jeder, der sich am politischen Prozess beteiligt, muss sich dazu bekennen, zur Durchsetzung seiner
politischen Ziele ausschließlich friedliche Mittel anzuwenden.
Zweitens. Jeder, der sich daran beteiligt, nach diesen
Regeln Politik zu machen, muss die Regeln auch gegen
sich gelten lassen, wenn er die Mehrheit einmal verlieren
sollte. Das heißt, die Bereitschaft, sich abwählen zu lassen, ist für demokratische Parteien konstitutiv.
Drittens. Das kommt in Tunesien dazu: Es gibt einen
sehr fortschrittlichen Code du Statut Personnel, der für
die Gleichberechtigung der Frauen enorm viel bewirkt
hat. Wir sollten, weil sich diese Frage islamistischen
Parteien gegenüber stellt, von vornherein von ihnen verlangen, dass sie ihn unangetastet lassen. Er gehört praktisch zum Verfassungskonsens der tunesischen Gesellschaft.
({6})
Lassen Sie mich noch ein Wort zu Ägypten sagen.
Dort gehen die Demonstranten auf die Straße, und zwar
nicht mit der Parole „Der Islam ist die Lösung“, sondern
mit der Parole „Tunesien ist die Lösung“.
({7})
Wir müssen der ägyptischen Regierung sagen: Keine
Gewalt gegen friedliche Demonstranten! Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht, das ihr eurer Gesellschaft eröffnen müsst!
({8})
Wir müssen auf Meinungsfreiheit und die freie Nutzung
des Internets drängen. Es ist ein Skandal, dass Facebook
und andere Möglichkeiten, miteinander zu kommunizie9772
ren, abgeschaltet worden sind. Wir müssen fordern, dass
die Präsidentschaftswahlen, die in diesem Jahr turnusgemäß anstehen, fair und frei verlaufen.
({9})
Die Europäische Union hat sich im Zuge der Entwicklung der Mittelmeerunion leider immer stärker auf
eine eher technische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Region fokussiert. Im Barcelona-Prozess hat
man seinerzeit noch stärker das Ziel verfolgt, wirtschaftliche Reformen mit politischer Öffnung zu verbinden.
Zu dieser Politik muss auch die Europäische Union wieder zurückfinden, Herr Außenminister.
({10})
Welches Fazit ist als Zwischenergebnis zu ziehen?
Erstens. Stabilität kann trügerisch sein. Autoritäre Regime garantieren keine nachhaltige Stabilität.
({11})
Zweitens. Die Annahme, es gäbe Völker, die für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht geeignet sind, ist
überheblich und falsch.
({12})
Lassen Sie mich mit einem Zitat des tunesischen
Schriftstellers Abdelwahab Meddeb schließen, das ich
heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen
habe:
Für das Verlangen nach Demokratie ist kein Volk zu
unbegabt. Das tunesische muss nun in seiner demokratischen Ungeduld nur noch lernen, dass nach der
Schnelle des Aufbruchs die Langwierigkeit der
Übergangsphasen mit Vertretern des Regimes und
neubekehrten Glaubenseiferern kommen wird. Wir
werden es meistern.
Ich füge hinzu: Wir sollten dabei unsere Hilfe und
Unterstützung anbieten.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Movassat
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gute
Nachricht vorweg: Die tunesische Bevölkerung hat erfolgreich den jahrelang von der Europäischen Union unterstützten Diktator Ben Ali aus dem Land gejagt. Die
Linke erklärt sich mit dieser Revolution solidarisch, wie
sie sich auch mit den Protesten solidarisch erklärt, die
derzeit in Ägypten gegen Mubarak stattfinden.
({0})
Ben Ali war für Vetternwirtschaft, Unterdrückung
und Inhaftierung politischer Gegner wie auch für die
Chancenlosigkeit der Jugend verantwortlich. Tunesien
hat jetzt die Chance auf Freiheit, Demokratie und soziale
Gerechtigkeit.
({1})
Aber worüber wir hier und heute reden müssen, ist die
Rolle Deutschlands und der Europäischen Union. Natürlich, wir alle kennen die unsägliche Story - sie wurde
schon angesprochen - der französischen Außenministerin, die Ben Ali kurz vor seiner Flucht, nachdem bereits
mehrere Demonstranten erschossen worden waren, das
Know-how ihrer Sicherheitskräfte zur Verfügung stellen
wollte. So heftig ging es in der deutschen Politik nicht zu
- keine Frage -, aber man duckte sich weg. Als man die
Revolution in Tunesien nicht mehr ignorieren konnte,
übte man sich in lauwarmen Phrasen. Erst am Tag vor
der Flucht Ben Alis haben Sie, Herr Westerwelle, sich
einen Kommentar entlocken lassen und forderten
schwammig ein Ende der Gewalt. Bei der Kanzlerin
dauerte es mit einer Wortmeldung gar bis einen Tag nach
der Flucht. Wenn man dann noch weiß, dass auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes steht: „Die Beziehungen zwischen Deutschland und Tunesien sind gut und intensiv“, muss sich einem der Eindruck aufdrängen, dass
man es sich mit dem geschätzten Partner Ben Ali nicht
verderben wollte, solange noch die Möglichkeit bestand,
dass er im Amt bleibt.
Wie sah es eigentlich in den letzten Jahrzehnten aus?
Warum hat die Bundesregierung gemeinsame Sache mit
einer der schlimmsten Diktaturen dieser Welt gemacht,
obwohl Sie, Herr Westerwelle, hier heute gesagt haben,
dass wir eine Wertegemeinschaft sind und dass wir Demokratie und Freiheit unterstützen? Deutschland ist drittgrößter Handelspartner Tunesiens. Die EU hat Tunesien
sogar in die Euro-Mediterrane Partnerschaft aufgenommen und so der Diktatur einen privilegierten Status zu Europa verschafft. Gekoppelt war dies eigentlich an die Einhaltung von Menschenrechten und Demokratie. Doch
man pickte sich heraus, was einem wichtig war - die
Wirtschaftspartnerschaft -, und ignorierte die Menschenrechtsverletzungen in Tunesien. Auch Rüstungsgüter lieferte man - wie übrigens auch in andere Diktaturen in der
Region wie Ägypten, Saudi-Arabien und Jemen. Auch
wenn es darum geht, afrikanische Flüchtlinge, die vor
Krieg, Verfolgung und Hunger fliehen, von Europa fernzuhalten, hat man kein Problem damit, mit den nordafrikanischen Diktaturen zusammenzuarbeiten. Was allerdings als Grund für die Unterstützung Ben Alis viel
schwerer wiegen dürfte: Er war ein stabiler Bündnispartner im sogenannten Kampf gegen den Terror. Dafür
wurde gelassen in Kauf genommen, dass Tausende Menschen unrechtmäßig gefangen gehalten wurden, dass Millionen unterdrückt wurden und dass es Folter und Tötungen gab. Das ist wirklich eine Schande.
({2})
Eine ähnliche Politik verfolgen Sie von der Bundesregierung auch in Ägypten, wo Mubarak unterstützt und
mit Waffen beliefert wird, solange er nur die muslimische Opposition unterdrückt. In der deutschen Außenpolitik galt bisher: Was „muslimisch“ im Namen trägt,
ist potenziell terroristisch. - Null Differenzierung, null
Kenntnis. Diese pauschalen Vorverurteilungen derer, die
nicht sehen, dass es verschiedene Parteien und verschiedene Strömungen gibt, stärken am Ende die wirklich
fundamentalistischen Kräfte. Da muss endlich ein Kurswechsel stattfinden. Herr Westerwelle, lassen Sie Ihren
heutigen Worten Taten folgen!
({3})
Tief blicken lässt übrigens auch die Einschätzung des
Vizepremierministers der sogenannten einzigen Demokratie im Nahen Osten - Israel -, der sagte, es würde die
israelische Sicherheit gefährden, wenn autoritäre Regime der Region durch Demokratien ersetzt werden würden. Da sich die Bundesregierung im Gegensatz dazu,
wie heute deutlich wurde, über die Demokratiebewegung freut, sind wir gespannt, wie die Bundeskanzlerin
dieses Thema bei der deutsch-israelischen Kabinettssitzung Ende Januar zur Sprache bringen wird.
Die Bundesregierung spricht Demokratie und Menschenrechte anscheinend nur dann offensiv an, wenn es
im eigenen Interesse ist, wie beispielsweise beim Iran.
Aber was war - bisher jedenfalls - mit Ägypten, wo
Mubarak seit Jahrzehnten die Opposition unterdrückt
und wo Gegner der Diktatur jahrelang in dunklen Zellen
verschwinden und gefoltert werden? Was ist mit SaudiArabien, wo Parteien verboten sind und Peitschenhiebe
eine normale Strafe darstellen? Was ist mit dem Jemen,
wo Präsident Salih regelmäßig Proteste blutig niederschlagen lässt? All diese Regime werden als verlässliche
Partner eingestuft. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
sind dann wohl verzichtbar.
Unter Rot-Grün war es übrigens nicht anders.
Schließlich hat Ex-Außenminister Fischer gegenüber
Ben Ali, Mubarak und Co. dieselbe Bündnispolitik betrieben wie die Bundesregierung heute. Wir haben es
hier insgesamt in der deutschen Außenpolitik mit einem
instrumentellen Verhältnis zu Menschenrechten zu tun.
Das lehnt die Linke ganz klar ab.
({4})
Wie sagte doch der Afrika-Beauftragte der Bundesregierung Nooke letzte Woche? Man kann künftig nicht
mehr die Augen vor undemokratischen Entwicklungen
verschließen. - Das heißt doch im Klartext, dass man genau dies jahrzehntelang getan hat. Man hat bewusst die
Augen verschlossen.
Was hat es nun auf sich mit dieser vordergründigen
Selbstkritik? Man könnte sich darüber freuen, wäre sie
nicht so durchsichtig. Jetzt, da der EU und Deutschland
die Felle davonschwimmen und nicht mehr zu verheimlichen ist, dass man Ben Ali jahrzehntelang unterstützt
hat, jetzt, da hoffentlich eine Regierung in Tunesien geschaffen wird, die mit Ben Ali nichts mehr zu tun hat,
schaut man kritisch auf die Ära zurück.
Herr Westerwelle, Sie haben heute angeboten, den
Übergangsprozess hin zur Demokratie aktiv zu unterstützen. Das ist schön und gut. Aber glauben Sie denn,
dass noch irgendwer in Tunesien oder im Nahen Osten
Ihre Hilfe haben will, nachdem sich die deutsche Politik
durch jahrelanges Schweigen vollkommen diskreditiert
hat und jetzt schon wieder drauf und dran ist, die Marionettenregierung des alten tunesischen Regimes als Übergangsregierung zu akzeptieren? Wenn Sie Ihre Glaubwürdigkeit wiederherstellen wollen, dann ziehen Sie
jetzt die richtigen Konsequenzen: Beenden Sie Ihre Kooperation mit Diktatoren!
({5})
Belassen Sie es im Fall von Ägypten nicht bei ein paar
Worten, sondern entziehen Sie Mubarak sofort die komplette Unterstützung und machen Sie sich dafür auch in
der EU stark! Dann wird er sich nicht mehr lange halten
können.
({6})
Dann werden sich auch andere Diktaturen in der Region
nicht mehr lange halten können.
Die Menschen, die sich nun auch in Ägypten, Jordanien, Jemen, Marokko und der Westsahara unter Lebensgefahr gegen ihre Unterdrücker erheben und für das
kämpfen, was in Tunesien bereits erreicht worden ist,
verdienen Respekt und Unterstützung. Wir Linke sind
solidarisch mit dem Kampf gegen jede diktatorische
Herrschaft.
({7})
An die verbliebene alte Garde Ben Alis in Tunesien,
an Mubarak und alle anderen Herren Diktatoren: Macht
den Weg frei für Demokratie von unten! Eure Zeit ist
vorbei.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin, gute Besserung! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann vieles teilen, was Sie in Ihren
Vorreden hier gesagt haben. Die Menschen der Jasminrevolution in Tunesien haben Geschichte geschrieben.
Sie haben das Regime Ben Ali quasi über Nacht friedlich
gestürzt. Wir müssen zunächst einmal ganz bescheiden
einsehen, dass kaum jemand in Europa - sei es die Politik oder seien es Experten - damit gerechnet hat.
Möglicherweise steht die gesamte arabische Welt am
Anfang einer neuen Ära. Ich glaube, heute kann und
wird niemand mehr voraussagen, ob das vielleicht so ist,
obwohl die Situation in den verschiedenen Ländern
Kerstin Müller ({0})
schwer vergleichbar ist. Mit Blick auf die heutigen und
gestrigen Demonstrationen in Ägypten kann wohl niemand voraussagen, ob die friedliche Revolution in Tunis
nicht doch auf andere Länder der Region übergreift
({1})
und ob Tunis am Ende nicht doch so etwas wie das Danzig des Nahen Ostens wird. Wir haben das in Osteuropa
einmal erlebt. Ich habe in dieser Woche mit Experten
gesprochen, die gesagt haben: Ich würde meine Hand
nicht mehr dafür ins Feuer legen, dass das nicht passiert. - Egal, mit wem man spricht - beispielsweise
mit Menschen aus der Region -, stellt man fest, dass
die Menschen elektrisiert sind. Sie hoffen auf eine
Chance.
Fest steht: Ob Tunesien zu einer Erfolgsgeschichte
wird oder erneut in einer autoritären Herrschaft endet, ist
für die gesamte Region und auch für uns, auch für Europa von entscheidender Bedeutung. Deshalb - dies ist
mein erstes Anliegen - müssen wir, muss die Europäische Union jetzt alles tun, damit das Land eine Chance
auf eine dauerhafte Demokratisierung erhält, damit dieser Prozess unumkehrbar wird und vielleicht auch die
Nachbarstaaten eine Chance auf den Wandel erhalten.
({2})
In Tunesien wurde die Revolution von allen Teilen
der tunesischen Gesellschaft getragen, vor allen Dingen
auch von einer gut ausgebildeten Mittelschicht, von Geschäftsleuten und Rechtsanwälten. Das mag in vielen
Nachbarstaaten anders sein, beispielsweise in Algerien,
aber auch in Ägypten scheint sich so etwas anzubahnen.
Fest steht: Die Probleme, die Auslöser für die
schreckliche Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers waren, sind Probleme vieler Araber: hohe Arbeitslosigkeit und hohe soziale Ungleichheit, vor allem
bei gut ausgebildeten unter 30-Jährigen, Dominanz von
Sicherheitsdiensten und Militär, Folter und Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Machtmissbrauch
bei gleichzeitigem völligen Fehlen von politischen
Rechten.
Im Zeitalter von Internet, Twitter und Facebook
kommt hinzu, dass nicht mehr geheim bleibt, was die
Regime alles beiseiteschaffen. Über WikiLeaks sind Korruptionen und Bereicherungen bekannt geworden. Über
Facebook und Twitter wurde die Demonstration
organisiert. Al-Dschasira und andere Sender haben diese
Bilder in der gesamten arabischen Welt verbreitet. Das
wäre vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen.
Jetzt steht die fragile Übergangsregierung vor der
Aufgabe, faire und freie Wahlen zu organisieren, und
zwar in einer Situation, in der sich die demokratische
Opposition erst formieren muss. Geht das schief, dann
hätte das eine verheerende Wirkung auf künftige Demokratisierungsprozesse in der Region.
Meine Kritik richtet sich in erster Linie an die Europäische Union. Wir dürfen diese Debatte nicht wie
Buchhalter führen. Auch dürfen wir uns nicht - wie
Lady Ashton - mit feinziselierten Erklärungen hervortun. Ich glaube, die Menschen in der Region erwarten einen Kurswechsel, eine entschlossene, umfassende Unterstützung, und zwar jetzt.
({3})
Die bisherige Politik der Europäischen Union gehört
grundsätzlich auf den Prüfstand. Wann, wenn nicht jetzt,
müssen wir einsehen, dass die Strategie des Westens in
dieser Region - Herr Polenz, Sie haben es angesprochen;
ich teile Ihre Auffassung völlig -, den Islamismus zu bekämpfen, indem man auf säkulare, aber autoritäre und
korrupte Regime setzt, gescheitert ist? Es ist eben nur
eine vermeintliche Stabilität ohne Demokratie und
Rechtsstaat. Sie steht auf tönernen Füßen. Irgendwann
klagen die Menschen ihre Rechte ein und fegen Regime
wie dieses hinweg. Außerdem liefert eine Diktatur geradezu den Nährboden für Radikalisierungen jedweder
Art; Herr Polenz, Sie haben das Wort „Brutkasten“ benutzt. Die bisherige Strategie muss beerdigt werden; wir
müssen jetzt einen Strategiewechsel einleiten. Das erwarten die Menschen in der Region.
({4})
Unser stärkster Partner in der EU, Frankreich, ist
am Rande erwähnt worden. Ich fände es begrüßenswert
- auch das kann man im Bundestag einmal sagen -,
wenn Frankreich jetzt einmal in die zweite Reihe treten würde. Die Behauptung, man habe vom Ausmaß und
der Brutalität des Regimes nichts gewusst, ist nicht
glaubwürdig. Wir brauchen eine neue Politik gegenüber
Tunesien, gegenüber allen Ländern in dieser Region.
Frankreich wird eine solche Politik nicht glaubwürdig
betreiben können.
Was Tunesien angeht, teile ich vieles, was hier gefordert wurde. Wir müssen den Demokratisierungsprozess
massiv unterstützen. Das heißt, wir müssen finanzielle
und institutionelle Hilfe für den Aufbau demokratischer
Strukturen leisten. Wahlvorbereitungen und Wahlbeobachtungen sollten schon jetzt angegangen werden. Wir
müssen dabei alle Kräfte in den Demokratisierungsprozess einbinden, auch die moderaten Islamisten; wir stimmen Ihnen zu, Herr Polenz. Wir müssen auch an dieser
Stelle die Strategie verändern; das wäre das richtige Zeichen. Wir müssen aber auch die Zivilgesellschaft fördern, damit nicht wieder dasselbe passiert. Die eingeleiteten Prozesse müssen unumkehrbar werden. Gefördert
werden müssen auch Projekte zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Die Mittelmeerpartnerschaft - sie ist hier nicht erwähnt worden - gehört auf jeden Fall auf den Prüfstand.
Herr Außenminister - Sie haben dazu leider nichts gesagt -, ich wüsste gerne einmal, was aus der Mittelmeerunion - von Sarkozy geboren, von Frau Merkel abgesegnet - geworden ist. Eigentlich müsste die Mittelmeerpartnerschaft jetzt eine Sternstunde erleben. Gestern las
man aber, dass just jetzt der Generalsekretär der Mittelmeerunion zurückgetreten ist, weil die Aktivitäten lahmgelegt seien, kein Geld fließe und alle Gipfeltreffen abgesagt worden seien; deshalb hat er jetzt aufgegeben.
Kerstin Müller ({5})
Die Mittelmeerpartnerschaft ist also ein Potemkin’sches
Dorf. Da passiert gar nichts, und das ist total bedauerlich.
Wir brauchen jetzt einen Strategiewechsel im Hinblick auf diese Region. Das heißt - ähnlich dem, was
man beim Barcelona-Prozess gesagt hat -: Wirtschaftliche und politische Reformen müssen miteinander verbunden werden. Wir dürfen eben nicht mehr in hohem
Umfang Budgethilfe oder gar Militärhilfe leisten, ohne
auf demokratische Reformen und auf die Einhaltung von
Menschenrechten zu bestehen. Dahin müssen wir kommen.
({6})
Der Lackmustest für einen solchen Strategiewechsel
wird die Entwicklung in Ägypten sein. Ist die EU zu
dem bereit, was ich gefordert habe, oder nicht? Die Menschen gehen jetzt auf die Straße. Sie haben es erwähnt,
Herr Polenz: Diese Menschen werden brutal niedergeschlagen. Wir müssen jetzt von Mubarak fordern: Das
muss beendet werden. Mubarak muss freie und faire
Wahlen zulassen. Er könnte einen guten Beitrag dazu
leisten, indem er nicht seinen Sohn als seinen Nachfolger installiert oder sich selbst erneut als Kandidat zur
Verfügung stellt. Ich wiederhole: Es muss dort faire und
freie Wahlen geben. Die EU muss klarmachen: Es gibt
keine Hilfen mehr, wenn das Regime in Ägypten keine
freie Wahlen zulässt.
Zum Schluss. Wir können aus unseren Fehlern lernen,
und wir müssen jetzt handeln. Ich glaube, die EU hat
eine riesige historische Chance. Wir dürfen diese nicht
leichtfertig durch Zaudern und Zögern verspielen.
Vielen Dank.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Stinner
das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch von mir beste
Wünsche für Ihre Stimme. Ich kann Ihnen sagen: Wir
von der FDP haben seit Jahren gute Erfahrungen mit der
Zweitstimme gemacht.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gestern
Abend im Fernsehen eine sehr interessante und sehr bewegende Sendung über die Journalisten in Tunesien gesehen. Sie sind jetzt dabei, in einem Selbstfindungsprozess zu überlegen: Wie gehen wir mit der neuen
Situation eigentlich um?
Was schreiben wir in die Zeitung hinein? Wer bestimmt,
was hineinkommt? Welche Tendenzen schreiben wir hinein? Können wir offen schreiben? Es war berührend, zu
sehen, wie dieser Selbstfindungsprozess bei den Journalisten vorangeht.
Das ist das Thema insgesamt. Dieses Land befindet
sich in einem beeindruckenden Selbstfindungsprozess,
von dem wir alle noch nicht wissen, wo er enden wird.
Wir sind guter Hoffnung, und wir rufen denjenigen zu,
die dieses ermöglicht haben: Sie haben unsere volle Unterstützung! Wir unterstützen sie dabei, diesen Prozess
fortzusetzen. Tunesien soll selbst entscheiden, wie es in
die Zukunft gehen möchte, wobei wir sehr deutlich machen möchten: Welche Ordnung sich auch immer in Tunesien künftig durchsetzt, es soll sichergestellt sein - der
Außenminister ist darauf eingegangen -, dass die Möglichkeit einer Veränderung in demokratischer Weise
auch in Zukunft gegeben ist. Wir werden nicht akzeptieren und wir werden es nicht unterstützen, dass ein autoritäres Regime durch ein anderes ersetzt wird.
({1})
Glücklicherweise gibt es dafür bisher keine Ansatzpunkte, aber man weiß nie, wie es ausgeht. Wir müssen
alle abwarten, wie es ausgeht.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie
gehen wir damit um? Was können wir konkret tun? Es
wurde bereits gesagt - ich unterstütze das voll -, dass die
Europäische Union in zwei Richtungen unmittelbar helfen kann, nämlich erstens Hilfe beim Prozess der Selbstfindung, der Organisation von demokratischen Strukturen, von Rechtsstaatsstrukturen, von Wahlen etc. anzubieten. Aber, Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch eine zweite Möglichkeit, nämlich
dass wir Tunesien in Handelsfragen konkret entgegenkommen.
({2})
In Tunesien gibt es bereits einen freien Handel, was Industriegüter angeht. Ich plädiere aber nachhaltig dafür,
dass wir das erweitern und uns dafür einsetzen, dass wir
das endlich auch auf landwirtschaftliche Güter ausdehnen.
({3})
Das wäre eine konkrete Maßnahme, die wir einleiten
könnten, um Tunesien aktuell zu helfen.
Lassen Sie mich eines deutlich sagen: Der Fall Tunesien, aber auch die Situation beispielsweise in Ägypten
und im Jemen, sollte für uns Anlass sein, uns selbstkritisch mit der Rolle der Europäischen Union in den letzten zehn Jahren zu beschäftigen.
({4})
Das gilt für alle, die in unterschiedlicher Kombination
über die Jahre hinweg Regierungsverantwortung getragen haben.
Im Prinzip haben wir immer drei Instrumente diskutiert: erstens den Barcelona-Prozess, von dem man sagt,
er sei tot. Zweitens haben wir die Mittelmeerunion, von
der man sagt: Gut gemeint, aber schlecht ausgeführt.
Drittens wir haben die Europäische Nachbarschaftspolitik, unter deren Dach die Mittelmeerunion gegründet
worden ist, bei der wir selbstkritisch feststellen müssen,
dass nicht genug dabei herausgekommen ist.
Ich habe mir die Projekte der Europäischen Nachbarschaftspolitik angeschaut. Es gibt 39 Projekte, die auch
für Tunesien Gültigkeit haben. Ich bezweifle, dass diese
Projekte alle sinnvoll sind, und ich bezweifle vor allem,
dass sie konsequent durchgeführt und zum Nutzen Tunesiens eingesetzt werden. Ich bitte die Bundesregierung
dringend, im Rahmen der Europäischen Union darauf zu
drängen, dass wir unsere Instrumente schärfen, dass wir
sie fokussieren und konzentriert einsetzen, um den Prozess in Tunesien entsprechend zu unterstützen.
Es wurde darauf hingewiesen, dass das, was in Tunesien passiert, Auswirkungen auf die Region hat. Auch
hier wissen wir noch nicht, ob es ein gutes Ende nehmen
wird, aber ich sage in Bezug auf Tunesien und auch auf
andere Staaten: Beurteilen wir die Spieler, die sich in
dem Selbstfindungsprozess positionieren, nicht danach,
was obendrauf steht, sondern danach, was drin ist, was
sie inhaltlich wirklich machen. Herr Ghannouchi zum
Beispiel, der 22 Jahre lang unter dem Siegel des Islamismus in London residiert hat, kehrt dieser Tage nach Tunesien zurück. In seinem Interview im Spiegel konnte
man nachlesen, dass er unter dem Label des Islamismus
durchaus einige Grundfesten europäischer Werteordnung verinnerlicht hat, nämlich das demokratische System und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Deshalb
plädiere ich dafür, genau zu beobachten, was passiert
und nicht anhand von Überschriften zu argumentieren.
Unsere Hoffnung ist, dass Tunesien den richtigen
Weg geht. Wir Europäer wollen das; denn es ist in unserem europäischen Interesse, dass wir um die EU herum
ein Cordon von Staaten legen, die am Ende des Tages so
ähnlich funktionieren wie wir. Wir wollen keinen Regimewechsel von außen, wir wollen aber, dass sie so
ähnlich funktionieren wie wir. Dafür sollten wir gemeinsam die Bundesregierung unterstützen und sie bitten,
nachhaltig und nachdrücklich in der EU daran zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin WieczorekZeul das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle haben in dieser Diskussion unsere Bewunderung für den Mut und das Engagement der tunesischen
Bevölkerung ausgedrückt. Was wir tun können, damit
diese Revolution ein Erfolg wird, sollten wir alle tun;
denn Tunesien hat dank seiner engagierten Zivilgesellschaft, dank seiner engagierten Männer und Frauen, eine
große Chance, die historische Wende unumkehrbar zu
machen.
Übrigens waren an dieser Revolution keine Islamisten
oder islamistischen Gruppen beteiligt. Es ist wichtig, das
einmal zu erwähnen.
Es zeigt sich, dass in Zeiten der grenzüberschreitenden Informationsmedien die nationale Unterdrückung
der Meinungsfreiheit nicht mehr funktioniert. Das ist gut
so. Wir sollten dies weiterhin unterstützen.
({0})
Die über Jahre hinweg immer wieder aufgestellte Behauptung, in den arabischen Ländern sei der Wunsch
nach Freiheit und Demokratie nicht verbreitet, ist schon
im Jahr 2004 durch eine Untersuchung des World Values
Survey widerlegt worden, bei der festgestellt wurde,
dass die arabischen Staaten an der Spitze der Länder lagen, die sich für die Ablösung von Despoten und eine
demokratische Regierungsführung engagierten. Ich halte
es für wichtig, unsere Wahrnehmung in dieser Richtung
zu verändern.
Wie hier von allen gesagt wurde, ist es jetzt wichtig,
den Öffnungs- und Übergangsprozess transparent zu gestalten, alle zu beteiligen sowie Rat und Tat wie gewünscht zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel zur Vorbereitung der Gesetze zur Medienfreiheit oder der
Wahlgesetze.
Zwei weitere Aspekte halte ich ebenfalls für wichtig.
So sollten die Guthaben des geflohenen Präsidenten in
den europäischen Ländern eingefroren werden und im
Sinne der Initiative zur Rückführung von Potentatengeldern der tunesischen Bevölkerung zurückgegeben werden. Das kann von der Europäischen Union entsprechend beschlossen werden.
({1})
Der Aufstand war ein Aufstand der Jungen für Arbeit
und gegen Perspektivlosigkeit. Worte sind wichtig. Da
stimme ich Herrn Stinner zu. Unterstützung ist ebenfalls
wichtig. Es ist aber auch wichtig, dass die Europäische
Union praktisch handelt. Ob sie dies ernst nimmt, wird
sich daran zeigen, ob das Abkommen, mit dem der Export von landwirtschaftlichen Gütern aus Tunesien erleichtert werden soll, schnell beschlossen wird, um so
die ökonomische Entwicklung in Tunesien zu stabilisieren. Wir erwarten, dass die Regierung das entsprechend
aufnimmt.
Die anhaltenden Demonstrationen und Proteste in
Ägypten zeigen, dass auch dort die Menschen Beteiligungschancen und eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse wollen. Angesichts der Verschlechterung der
Lebensverhältnisse der ärmeren Schichten ist das ganz
besonders verständlich. Es ist völlig unbegreiflich, dass
in einem potenziell wohlhabenden Land wie Ägypten,
das im Übrigen eines der NEPAD-Gründungsländer ist,
rund 40 Prozent der Bürger von 2 US-Dollar am Tag leben müssen.
Wenn sich die ägyptische Regierung und Staatspräsident Mubarak nicht für die Prinzipien verantwortlicher
Regierungsführung öffnen und nicht für freie und ungehinderte Wahlen eintreten, laufen sie Gefahr, dass ein
Aufstand der Jugend und ein Aufstand des Zorns für eine
Öffnung von unten sorgen.
Deshalb rufen wir die ägyptische Regierung auf: Verschließen Sie sich nicht dem Demokratiewillen der Menschen. Setzen Sie auf Kooperation und Respektierung
der Menschenrechte statt auf Gewalt und Repression.
({2})
Die Haltung der Europäischen Union und der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Region sollte von
dem geprägt sein - schließlich versuchen wir heute, eine
gemeinsame Grundposition zu finden -, was Amartya
Sen vor vielen Jahren wie folgt ausgedrückt hat: Entwicklung ist ein Prozess der Ausweitung der realen Freiheiten für die Menschen.
Gegen diese Position haben Teile der internationalen
Gemeinschaft - unter anderem die USA, aber auch viele
arabische Länder - in den zurückliegenden Jahren verstoßen. Vermeintliche geostrategische Stabilität - Sie haben es angesprochen, Herr Polenz - wurde auf Kosten
der politischen Entwicklung erkauft. Das gilt zum Beispiel für Ägypten. Dieses Handeln muss der Vergangenheit angehören; es ist ein Irrweg, der überwunden werden muss.
Dabei wurden vor allem die Hoffnungen und Erwartungen von Jugendlichen, die Jobs und Bildung verlangen, enttäuscht und missachtet. In vielen arabischen
Ländern haben die Menschen unter 18 Jahren einen Anteil von bis zu 40 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Es
wächst die jüngste Generation heran, die in dieser Region jemals lebte.
Ich bin froh, dass wir zu unserer Regierungszeit im
Entwicklungsministerium Initiativen aus der arabischen
Region unterstützt haben. Sie stehen für das, was mancher hier als neue Erkenntnis verkauft. In dem letzten
Arab Human Development Report von 2009, den zu lesen ich Ihnen allen ans Herz legen möchte, wird gesagt,
dass bis 2020 in den arabischen Ländern 51 Millionen
neue Jobs geschaffen werden müssen.
Wie können wir dazu beitragen, den Prozess zur Ausweitung der realen Freiheiten in diesen Ländern zu fördern? Seit 2002 gibt es diese Berichte über die menschliche Entwicklung in den arabischen Ländern, die von der
UN und arabischen Fachleuten aus der Region erstellt
werden. Deren Überzeugungen sollten wir zur Grundlage unseres Handelns machen. In dem Bericht von 2009
wird gefordert: Respektierung des Selbstbestimmungsrechts aller Menschen, Respektierung der Menschenrechte und öffentlicher Respekt vor unterschiedlichen
Religionen und Denkschulen, funktionierende parlamentarische Systeme, Garantie der politischen Rechte und
politischer Pluralismus. Ich füge hinzu: Das gilt aber
auch für andere Fälle.
Allerdings gilt: Wenn demokratische Wahlen stattgefunden haben, dann gehört es zur Demokratie, dass die
internationale Gemeinschaft anschließend nicht entscheidet, ob sie das Wahlergebnis akzeptiert oder nicht.
Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, wie wir bezogen
auf Palästina erlebt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob der Demokratisierungsprozess in den südlichen Nachbarländern Europas gelingt, hängt also auch vom Verhalten der Europäer
ab. Aufgrund meines langjährigen Engagements in diesem Bereich kann ich sagen, dass die wunderbare
Chance besteht, dass wir durch Zusammenarbeit die Reformkräfte in den Zivilgesellschaften und die Reformkräfte in den jeweiligen Regierungen stärken können.
Das ist das Prinzip „Wandel durch Zusammenarbeit“. Es
besteht eine wunderbare Chance für die Europäische
Union: Durch eine Partnerschaft für nachhaltige Energieerzeugung und -versorgung kann das gemeinsame Interesse an Klimaschutz und Ressourcenschonung, an Arbeits- und Ausbildungsplätzen in allen Ländern der
Region gefördert werden. Wir sollten diese Chance ergreifen und sollten alles vermeiden, was diese Chance in
irgendeiner Form mindern könnte.
Vielen Dank.
({3})
Für die Unionsfraktion hat die Kollegin Pfeiffer das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin 1951 geboren. Ich kenne keine andere Staatsform als die Demokratie. Es gibt nur einige wenige von
uns - im Moment sitzt anscheinend niemand von ihnen
hier -, die sich noch daran erinnern können, wie es anders war.
Manchmal frage ich mich: Wissen wir eigentlich,
welch kostbares Gut es ist, in einer Demokratie zu leben?
Dazu gehören freie Wahlen, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung, die die Grundrechte eines
jeden Einzelnen schützt. Wir sollten ein wenig Demut
zeigen und die Demokratie als Geschenk begreifen.
Auch dieser Aspekt gehört zu der Debatte über ein Land,
dessen Menschen genau dieselben Chancen haben wollen, die wir eigentlich als selbstverständlich annehmen.
Wir merken jedoch, dass dieses Demokratieverständnis
sogar in unserem Land - übrigens können wir nur deswegen hier sitzen - nicht überall gleich ausgeprägt ist.
Deshalb ist es eigentlich eine wunderbare Sache, was
in Tunesien passiert. Ich hätte mir gewünscht, dass der
gesellschaftliche und der gesellschaftspolitische Umbruch in Tunesien so erfolgt, wie es 1989 beim Mauerfall passiert ist, als die Menschen in der DDR genau das
haben wollten, was wir schon lange hatten, nämlich Freiheit und Demokratie.
Wir wissen auch, dass noch nicht einmal die Hälfte
aller Staaten auf dieser Welt eine Demokratie hat. Daher,
lieber Kollege Movassat, können wir uns unsere Partner
nicht immer so aussuchen, wie wir es gerne hätten. Das
heißt aber nicht, dass wir es fraglos hinnehmen, wenn
Demokratie nicht stattfindet und wenn Menschenrechte
nicht beachtet werden. Dies nicht hinzunehmen, ist Teil
unserer politischen Arbeit.
Aber bei Bewegungen wie zum Beispiel in Tunesien
oder in Algerien - laut heutiger Tickermeldung passiert
auch etwas im Jemen - stellt sich die Frage, wie unterstützend wir eigentlich tätig sein können. Können wir als
Deutschland und als Europa anderen die Demokratie
aufdrücken? Nein, sie muss aus dem Volk selbst kommen. Sie muss gewollt sein. Aber wenn sie dann gewollt
ist, ist die Frage: Wie können wir unterstützend tätig
sein?
({0})
Natürlich können wir helfen. Wir können Hilfe bei
der Vorbereitung der Wahlen anbieten. Darin sind wir
doch wirklich ganz gut, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Wir können natürlich auch bei der
Erarbeitung einer Verfassung mithelfen. Auch bei Wahlen können wir durch Wahlbeobachtung und Ähnliches
tätig werden, wenn es darum geht, die sich im Moment
in Tunesien etablierende Demokratiebewegung zu unterstützen, damit sie nachhaltigen Bestand hat.
Auch auf europäischer Ebene können wir etwas tun.
Der Staatsvertrag in Bezug auf die privilegierte Partnerschaft mit Tunesien, die die EU vor einiger Zeit angestrebt hat, ist letztlich an der Diskussion um Menschenrechte und Demokratie gescheitert. Wenn es dort jetzt
Stabilität in dieser Richtung gibt, ist die Frage, ob die
EU dies als Basis für die privilegierte Partnerschaft ansehen kann. Sie sieht es vielleicht auch ein kleines bisschen als Anreiz oder als Bonbon und verspürt vielleicht
auch Dankbarkeit über die dortigen Geschehnisse. Ich
glaube, das können wir tun.
Aber wir können auch versuchen, die vor Ort lebenden
Menschen - viele junge Menschen sind bestens durch ein
Hochschulstudium und Ähnliches ausgebildet - in Arbeit, Lohn und Brot zu bekommen. Es gibt nichts Frustrierenderes als Menschen, die ausgebildet sind, keine
Arbeit haben und ihre Familien nicht selbst ernähren
können.
Das heißt, wir müssen auch dort unterstützend tätig
werden, wo es darum geht, Unternehmensgründungen zu
begleiten. Wir müssen kleine Unternehmen unterstützen,
deren Start gefährdet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute habe ich auch
etwas Tolles gehört. Herr Gloser, Sie waren dabei. Zwei
große deutsche Unternehmen haben versprochen, ihre
Produktion in China aufzugeben, um sie in Tunesien einzurichten.
Liebe Zuhörer, liebe Zuschauer, liebe Unternehmerinnen und Unternehmer, liebe Manager deutscher Unternehmen, die irgendwo im Ausland investieren wollen,
schauen Sie sich junge Demokratien an. Schauen Sie
sich Länder an, die demokratische Bewegungen haben,
und prüfen Sie, ob man dort investieren kann. Nutzen
Sie die Gelegenheit, um zusammen mit der Politik die
Menschen zu unterstützen, die nichts anderes wollen, als
in ihrem Land zu leben, die jedoch auch ihr Aus- und
Einkommen haben möchten. Sie wollen auch, dass die
Menschenrechte beachtet werden, und sie wünschen sich
demokratische Strukturen.
Ich glaube, es ist es wert, darüber nachzudenken, wo
man investiert und dass es unter Umständen auch eine
gute Idee sein kann, in solchen Ländern zu investieren.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Götzer für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das tunesische Volk hat durch eine Revolution, die
im arabischen Raum einmalig ist und wohl die allermeisten ausländischen Beobachteter überrascht hat, seinen
diktatorischen Staatspräsidenten Ben Ali aus eigener
Kraft gestürzt und das Land innerhalb weniger Tage
grundlegend verändert.
Auch wenn es sicherlich zu früh ist, um endgültig zu
beurteilen, ob sich die Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie in Tunesien erfüllen werden, kann man heute
schon sagen: Es besteht eine echte Chance für einen
politischen Neuanfang des Landes. Die Bildung einer
Übergangsregierung unter Einbeziehung der Opposition
ist ein erster wichtiger Schritt hin zu einem nachhaltigen
und dauerhaften Reformkurs, dessen Ziel ein demokratischer Rechtsstaat sein muss.
Von entscheidender Bedeutung wird dabei die rasche
Schaffung eines echten Mehrparteiensystems sein, in
dem sich verschiedene Ansichten und Überzeugungen in
einem pluralistischen Miteinander widerspiegeln und behaupten. Unabdingbar sind neben der Entwicklung demokratischer Parteistrukturen der Aufbau eines unabhängigen Justizwesens und einer ordnungsgemäßen
Verwaltung sowie die Gewährleistung von Meinungs-,
Presse- und Versammlungsfreiheit, um nur einige der
wichtigsten Grundpfeiler zu nennen. Die künftige tunesische Regierung muss des Weiteren umgehend konkrete
Maßnahmen ergreifen, um Polizei und Armee an die
neuen, demokratischen Grundlagen zu binden und um
die im Land herrschende Korruption erfolgreich zu bekämpfen.
Ich glaube, wir sind uns einig, dass sich die Vergangenheit in Tunesien nicht wiederholen darf. Ich möchte
daran erinnern, dass die Einheitspartei RCD ursprünglich ebenfalls als fortschrittlich galt und schließlich in einem diktatorischen, korrupten System endete. Uns muss
klar sein: Tunesien braucht bei seinem DemokratisieDr. Wolfgang Götzer
rungsprozess umfassende und rasche Hilfe. Auch die
ökonomischen Probleme, insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit, wird die neue Regierung nicht allein
und nicht von heute auf morgen lösen können. Auch
hierbei ist Tunesien auf die Unterstützung durch andere
Länder angewiesen. Deutschland und die EU müssen ihren Beitrag leisten; denn die neue Demokratie wird erst
dann gefestigt sein und von breiten Schichten der Bevölkerung akzeptiert werden, wenn mit der Demokratie
auch eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse
einhergeht.
Ich möchte in Stichworten das anführen, was in diesem Zusammenhang angedacht werden kann und muss:
das Wiederaufgreifen der privilegierten Partnerschaft
- das hat meine Vorrednerin gerade angesprochen -, die
Beseitigung von noch bestehenden Handels- und Exportrestriktionen, möglicherweise die Einrichtung eines Notfinanzierungsfonds für Tunesien für den Fall, dass die
auf kriminelle Weise ins Ausland gebrachten Staatsgelder nicht rechtzeitig zurückgeholt werden können. Man
könnte auch an steuerliche Sonderabschreibungen für
Unternehmen aus Europa denken, die jetzt in Tunesien
investieren wollen. Das sind nur einige Beispiele für
eine ökonomische Unterstützung des Landes.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Tunesien hat das
Potenzial, sich zu einem demokratischen Land zu entwickeln; denn es hat nicht nur eine Mittelschicht, ein
Wirtschaftswachstum und ein hohes Bildungsniveau
vorzuweisen, sondern vor allem auch eine engagierte Jugend und aktive Intellektuelle. Kurz gesagt: Tunesien hat
eine Zivilgesellschaft - so ist das schon formuliert worden -, auf der man aufbauen, mit der man arbeiten kann,
die dieses Land gestalten kann und will.
Dieser Demokratisierungsprozess bedarf - ich sage es
noch einmal - der tatkräftigen Unterstützung Deutschlands und der Europäischen Union. Eine demokratische
Entwicklung in Tunesien ist auch im Interesse Deutschlands und Europas. Die Vorgänge in Tunesien müssen
uns bewusst machen: In diesen Tagen besteht die historische Chance, ein neues Kapitel der Beziehungen Europas mit der arabischen Welt zu beginnen. Bislang haben
die radikalen Islamisten in Tunesien keine Chance. Sie
haben auch bei der Revolution keine Rolle gespielt. Damit es so bleibt, muss der Demokratisierungsprozess
weitergehen. Ich stimme dem Bundesaußenminister uneingeschränkt zu, wenn er sagt: Autoritäre Systeme verhindern nicht den radikalen Islamismus, sondern sind im
Gegenteil ein Nährboden dafür.
Ich möchte noch einmal festhalten: Die zum Sturz der
Diktatur führenden Proteste waren zu keiner Zeit religiös
motiviert, sondern sie waren Ausdruck der Unzufriedenheit mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnissen. Die Tageszeitung Die Welt schreibt heute
dazu - ich zitiere -:
In den vergangenen Jahren ist diese Region
- gemeint ist der Nahe Osten vor allem durch ihre Radikalen aufgefallen, deren
Anschläge und Hassausbrüche im Westen Furcht
vor dem auslösten, was auf die autoritären Regime
noch folgen könnte. Nun jedoch artikulieren sich
auch all die anderen Araber, die ihr Heil nicht in
Revolutionen nach iranischem Vorbild suchen. Sondern die endlich die Sonderstellung der arabischen
Welt überwinden möchten.
Wir müssen Tunesien nun aktiv dabei unterstützen,
mit der Tradition autoritärer Strukturen zu brechen. Das
Land muss sich eine Gesellschaftsordnung geben, in der
sich alle Bürger wiederfinden, vor allem auch die bislang Benachteiligten, eine Gesellschaftsordnung, in der
Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sind und sich Wohlstand entwickeln kann. Das
sind die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für
politische Stabilität und eine gute Zukunft für die Menschen im Land.
Der Wandel in Tunesien kann Vorbildcharakter für
andere Länder in der Region haben. Ich zitiere abschließend noch einmal Die Welt vom heutigen Tage:
Es weht ein Hauch von 1989 durch den Nahen Osten.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Heinrich, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitäreinrichtungen - Versorgung
weltweit verbessern
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Tom
Koenigs, Marieluise Beck ({1}), Volker
Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Anerkennung des Menschenrechts auf
sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung weiterentwickeln
- Drucksachen 17/2332, 17/3652, 17/1779,
17/4526 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Pascal Kober
Annette Groth
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Dreiviertelstunde zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie
einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Marina Schuster für die FDPFraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sauberes Trinkwasser ist die elementare Voraussetzung für unser Leben. Doch nach wie vor haben
fast 900 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und 2,6 Milliarden Menschen keinen
Zugang zu ausreichend hygienischer Abwasserentsorgung. Angesichts dieser Zahlen, dieses Zustands war es
umso wichtiger, dass der Menschenrechtsrat im September 2010 eine von Deutschland und Spanien initiierte
Resolution „Menschenrechte und Zugang zu sauberem
Trinkwasser und Sanitäranlagen“ verabschiedet hat. Sie
folgt der Resolution der Generalversammlung vom Juli
letzten Jahres. Ich glaube, das ist ein weiterer Schritt hin
zur weltweiten Anerkennung des Menschenrechts auf
sauberes Wasser und Sanitäranlagen.
In der neuen Resolution des Menschenrechtsrats wird
auch die juristische Herleitung aus dem VN-Sozialpakt
klargestellt. Mir ist bewusst, dass es gerade bei diesem
Punkt keinen Konsens hier im Haus gibt. Die Grünen
fordern zum Beispiel ein eigenes Zusatzprotokoll. Für
uns ist das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
aber bereits ein Bestandteil des Menschenrechts auf einen angemessenen Lebensstandard. Jetzt muss es um die
politische Umsetzung gehen. Eine juristische Neukodifizierung durch ein Zusatzprotokoll würde eine Schwächung bedeuten und den ganzen Prozess quasi wieder
auf Null setzen. Man müsste von vorne anfangen. Dadurch wird dem Menschenrecht auf Wasser nicht zu
mehr Anerkennung verholfen.
({0})
Es ist also unerlässlich, dass sich mehr und mehr Entscheidungsträger weltweit für dieses Menschenrecht einsetzen und es Schritt für Schritt praktisch umsetzen.
Hierauf sollten wir unsere Kraft und Energie verwenden.
In diesem Punkt sind wir uns in den verschiedenen Anträgen, die heute zur Debatte vorliegen, einig. Ziel muss
es sein, dass alle Menschen Schritt für Schritt diesen Zugang bekommen. Die Situation ist in den jeweiligen
Ländern sehr unterschiedlich. Dies liegt sowohl am Bedarf als auch an den klimatischen Verhältnissen. Auch
die Bedürfnisse der Menschen ändern sich. Je nach Aufenthaltsort und Kulturkreis wird es unterschiedliche
Wege geben, um das Ziel, diesen Zugang zu gewährleisten, zu erreichen.
Die Bundesregierung hat dieses wichtige Thema vor
langer Zeit erkannt und sich entschlossen, einvernehmlich dafür zu kämpfen und für eine weitere Umsetzung
zu werben. So haben die Bundesminister Westerwelle
und Niebel dieses Thema gemeinsam angepackt, und wir
unterstützen die Expertinnen - sei es beim Deutschen Institut für Menschenrechte, sei es bei der Hochkommissarin für Menschenrechte in Genf. Wir unterstützen es
politisch, aber natürlich auch finanziell.
Wir unterstützen ausdrücklich, dass die bisherige
Unabhängige Expertin der UN, Frau Catarina de
Albuquerque, nun auch zu einer Sonderberichterstatterin
werden soll; das wird auf einer der nächsten Sitzungen in
New York entschieden. Denn dieses Mandat verleiht ihr
und dem Thema noch mehr Bedeutung.
Ich freue mich sehr, dass es die Aufklärungskampagne „WASH United“ gibt. Diese war hier sehr aktiv, als
wir die Fußball-WM in Deutschland ausgerichtet haben.
Ich freue mich, dass alle Fraktionen bei dieser Kampagne aktiv sind. Wir werden diese Aktionen natürlich
auch im Rahmen der Fußball-WM der Frauen hier in
Deutschland unterstützen. Diesen Weg werden wir gemeinsam gehen. Die politische Umsetzung Schritt für
Schritt in den jeweiligen Ländern - davon bzw. dafür
müssen wir andere überzeugen und gewinnen. Ich freue
mich, dass wir diesen Weg gemeinsam konsequent gehen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Ullrich Meßmer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Vorrednerin hat es schon gesagt: Wasser ist
die Quelle allen Lebens, gleichzeitig aber auch - und darauf sollte man immer wieder hinweisen - der größte
Krankheitsüberträger auf der Welt. Schmutziges Wasser
und mangelnde sanitäre Versorgung töten alle zwanzig
Sekunden ein Kind. Es sterben also mehr Kinder an
schlechtem Wasser, an schlechter Sanitärversorgung als
an Malaria, Masern oder HIV.
Die Unabhängige Expertin für Wasser und Sanitärversorgung der Vereinten Nationen, Catarina de Albuquerque,
beschreibt daher die Entscheidung - diese haben Sie
eben auch angesprochen -, das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung als Menschenrecht anzuerkennen, nicht
umsonst als bahnbrechende Entscheidung, die die Kraft
hat, das Leben von Millionen Menschen zu verändern,
die noch immer keinen ausreichenden Zugang zu Wasser
und sanitärer Versorgung haben.
Erst der Status als Menschenrecht sichert für alle
Menschen, also auch für jeden ganz persönlich, eine Anspruchsgrundlage gegen ihren jeweiligen Staat. Aber
was viel wichtiger ist: Die Staaten wiederum erhalten so
die unumstößliche Verpflichtung, das Menschenrecht
auf Wasser und Sanitärversorgung zu schützen, zu erfüllen und vor allen Dingen auch die nichtstaatlichen AkUllrich Meßmer
teure zur Einhaltung dieses Menschenrechts zu verpflichten.
Damit kommen wir zum Wesentlichen, nämlich zur
schnellen Umsetzung dieses Themas. Es muss schnell
gelingen, hier eine Wende herbeizuführen. Wenn Aussagen von „Brot für die Welt“ stimmen, wird sich die sanitäre Lage weiter, und zwar dramatisch, verschlechtern.
Bevölkerungswachstum und Klimawandel tun ein
Weiteres dazu, dass der Druck auf die Ressource Wasser
zunimmt. Immer häufiger gelangen unzureichend oder
nicht gereinigte Abwässer zu den Quellen des Trinkwassers. Dies löst einen Kreislauf aus, der Krankheiten und
Epidemien verbreitet, und diesen Kreislauf gilt es dringend zu durchbrechen.
Wir von der SPD wissen auch, dass es dies nicht kostenlos gibt. Die Deutsche Bank schätzt den jährlichen
globalen Investitionsbedarf im Wassersektor auf über
500 Milliarden Euro. Das können Entwicklungs- und
Schwellenländer alleine nicht heben. Dies führt dazu
- und hier gibt es den einen oder anderen Unterschied;
das werden wir gleich hören -, dass viele Länder dazu
übergehen, ihre Wasserversorgung zu privatisieren. Ob
das ein Königsweg ist, wage ich zu bezweifeln.
Die Erfahrungen vieler NGOs, die sich in diesem Bereich engagieren, zeigen, dass es nicht entscheidend ist,
ob die Wasserversorger staatlich oder privat sind. Vielmehr ist entscheidend, ob sie einer staatlichen Aufsicht
unterliegen und effizient arbeiten. Die Erfahrungen zeigen aber auch - um das nur einmal am Rande zu sagen -,
dass die privaten Einrichtungen nicht immer effizienter
sind als staatlich organisierte.
Es besteht auch die Gefahr - das ist einer der Gründe,
weshalb wir diesem Thema kritisch gegenüberstehen -,
dass menschenrechtliche Verpflichtungen hinter privatem Gewinnstreben zurückstehen würden. Wir als Sozialdemokraten lehnen die Privatisierung der Wasserversorgung allerdings nicht grundsätzlich ab.
Wir definieren aber in unserem Antrag ziemlich genau,
welche Verpflichtungen Private bei der Versorgung der
Bevölkerung erfüllen müssen. Wir wollen sicherstellen,
dass die menschenrechtlichen Verpflichtungen tatsächlich eingehalten werden. Der Zugang zu sauberem
Trinkwasser und sanitärer Versorgung muss - das ist unabdingbar - diskriminierungsfrei gewährt werden. Er
muss für alle Bürger eines Landes bezahlbar und zugänglich sein; er muss für alle Gruppen, auch für kleine
Minderheiten, jederzeit verfügbar sein.
Die Ausgangslage - meine Vorrednerin, Kollegin
Schuster, hat darauf hingewiesen - ist zurzeit nicht
schlecht: Der UN-Sozialpakt weist einen erfreulich hohen
Ratifizierungsstand auf. Der Prozess der Zeichnung und
Ratifizierung des Zusatzprotokolls über ein Individualbeschwerdeverfahren ist mittlerweile gut vorangekommen.
Hier würden wir uns wünschen, dass auch die Bundesregierung endlich diesen Schritt tut, um allen Menschen
dieses Individualrecht zu eröffnen, vor allen Dingen aber,
um anderen Staaten ein gutes Beispiel zu geben.
({0})
Wir sehen die Frage eines weiteren Zusatzprotokolls
ähnlich wie meine Vorrednerin: Auch wir meinen, dass es
sinnvoller wäre, einen allgemeinen Kommentar zu verfassen, der die besten Beispiele für die Entwicklung des
Rechts auf Wasser und Sanitärversorgung sammelt, um
daraus möglichst konkrete Pflichten der Staaten abzuleiten und diese möglichst genau zu definieren. Ein neues
Verfahren der Erstellung und Ratifizierung eines Zusatzprotokolls würde nach unserer Auffassung zu einer weiteren Verzögerung führen. Deshalb sollte dies nicht
vorangetrieben werden.
Erst wenn befriedigende Lösungen in der Frage der
sanitären Versorgung gefunden sind und der Teufelskreis
von verunreinigtem Wasser, Krankheiten und erneuter
Wasserbelastung durchschlagen wird, haben die Menschen eine sichere Zukunft. Wir fordern von der Bundesregierung, die Möglichkeiten als nichtständiges Mitglied
im UN-Sicherheitsrat zu nutzen und die begonnene Politik, die übrigens schon von mehreren Regierungen verfolgt worden ist - auch unter der spanischen EU-Ratspräsidentschaft -, fortzusetzen und zu verstärken, also
sicherzustellen, dass das Recht auf Wasser und sanitäre
Versorgung durchgesetzt wird und sich viele Staaten anschließen.
Ich persönlich freue mich sehr darüber, dass wir uns
in dem Ziel sehr einig sind. Vielleicht gelingt es uns, bei
Gelegenheit zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen;
denn ich meine schon - Kollege Heinrich, Sie werden sicherlich gleich darauf eingehen -, dass sich bei dieser
Frage eine ganze Menge entwickelt hat. Vielleicht gelingt es uns, erst einmal gemeinsam das Ziel zu formulieren, die richtigen und schnellen Wege zu gehen. Dann
werden wir bei dieser Frage weltweit Erfolg haben;
Deutschland kann hier ein gutes Beispiel abgeben.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Frank Heinrich für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden hier von einer Problematik, die uns
selber selten zum Problem geworden ist. Dafür können
wir aus unserer Perspektive dankbar sein. Heute geht es
um das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser. Wasserknappheit und Unterversorgung mit sauberem Trinkwasser
haben verschiedene Ursachen. Eine Ursache ist: Der weltweite Wasserverbrauch stieg in den letzten Jahrzehnten unter anderem wegen des Bevölkerungswachstums an. Nach
Zahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung werden
wir in diesem Jahr die Weltbevölkerungszahl von 7 Milliarden übertreffen. Hinzu kommen Verstädterung und
ein hoher Lebensstandard; das schlägt auf unserer Seite
zu Buche. Eine weitere Ursache ist: Der Klimawandel
und geografische Ereignisse verursachen in verschiedenen Regionen unserer Welt niedrige und sinkende Niederschlagsmengen.
Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung kann dem Spagat entgegenwirken, der
sich daraus ergibt. Deshalb ist diese Debatte sehr gut.
Herr Meßmer, ich gebe Ihnen recht, dass wir da eine sehr
große Schnittmenge haben. Das macht mich hoffnungsvoll, dass wir tatsächlich an einer Stelle landen, an der
wir bei diesem Thema wirklich etwas bewegen können.
Ich will aber nicht sagen, dass wir nicht schon jetzt etwas bewegen können; ich werde gleich darauf zu sprechen kommen.
Das Wasser spielt - das habe ich bei vielen Auseinandersetzungen und Gesprächen immer wieder gehört nicht nur buchstäblich eine lebenswichtige Rolle; hinzu
kommt, dass Wasser in vielen Kulturen, in den Religionen, in Ritualen eine hohe Bedeutung hat. Es ist eine
große Metapher im Christentum, und es gibt Waschungen im Judentum und im Islam. Es geht dabei im übertragenen wie im direkten Sinne um ein Lebenselixier:
das Wasser. Die Oase in den Bereichen unserer Welt, wo
es nur wenig Wasser gibt, ist nicht nur der Punkt, wo
man tatsächlich Wasser bekommt, sondern auch der
Punkt, wo Begegnungen stattfinden; das ist weit mehr
als Wasser.
Ich möchte auf drei Punkte eingehen. Erstens: Wasser
als Menschenrecht; das ist auch die Formulierung des
heutigen Antrags. Zweitens: Wasser als ein Schwerpunkt
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit; dazu möchte
ich ein paar Zahlen nennen. Drittens: Wasser und konkrete Projekte und das, was möglicherweise auch wir
- und zwar nicht nur wir als Abgeordnete, sondern auch
wir als Bürger und Käufer - mit bewegen können.
Erstens: Wasser als Menschenrecht. Frau Schuster hat
angesprochen, dass wir im letzten Jahr in den Vereinten
Nationen die allgemeine Erklärung aufgenommen haben,
dass reines Wasser jetzt Menschenrecht genannt wird.
1,1 Milliarden Menschen - 18 Prozent der Weltbevölkerung - haben laut offizieller UN-Statistik keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Trinkwasser; das wären circa
70 bis 80 von uns 600 Abgeordneten. 2,6 Milliarden
Menschen - 42 Prozent der Weltbevölkerung - haben
keinen Zugang zu sanitärer Versorgung; das wären schon
250 von uns.
90 Prozent - ich glaube, Sie haben die Zahl eben schon
genannt - aller tödlichen Durchfallerkrankungen sind auf
verunreinigtes Trinkwasser, fehlende Sanitärversorgung
bzw. mangelnde Hygiene zurückzuführen. Durch schmutziges Wasser sterben mehr Menschen - ich glaube, Sie haben das gerade schon gesagt, Herr Meßmer - als an AIDS,
Malaria und Masern zusammen. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben täglich 5 000 Kinder daran; das ist ungefähr alle zwanzig Sekunden eines. Es ist die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersgruppe.
In Ländern mit Wasserknappheit hängt der Zugang zu
Wasser von verschiedensten Faktoren ab. Erstens: Ist es
verfügbar? Ist irgendwo ein Brunnen oder ein Gewässer?
Zweitens: Sind Investitionen aus privater oder öffentlicher Hand vorhanden, damit das Wasser auch nutzbar
wird? Drittens: Welche Belastungen kommen insbesondere auf Frauen zu, die in der Regel viel Zeit damit verbringen, zum Wasser zu gehen und es zu holen? Viertens: Welche Preise müssen die Haushalte bezahlen?
Was muss dafür aufgebracht werden? Fünftens: Welche
verfügbaren Wasserquellen, die der Trinkwasserversorgung dienen könnten, werden durch andere Nutzungszwecke blockiert?
Ein erstes Fazit: Das Menschenrecht auf Wasser ist
ein Instrument, mit dem Regierungen an ihre menschenrechtliche Verantwortung erinnert und zur Rechenschaft
gezogen werden können. Wir wollen Regierungen damit
herausfordern, und das tun wir auch. Ich bin dankbar,
dass unsere Regierung das immer wieder tut, dass auch
bei knappen Ressourcen die Mittel prioritär für besonders benachteiligte Gruppen eingesetzt werden. Das
Recht auf Wasser ist ein besonders für arme Gruppen
wichtiges Instrument. Das internationale Recht stärkt
insbesondere das Selbstbewusstsein derer, die in einem
vielleicht nicht hinreichend funktionierenden Rechtsstaat leben.
Bei den verschiedenen Anträgen, die uns vorliegen,
gibt es sehr viele Unterschiede, aber lange nicht so viele
Unterschiede wie Gemeinsamkeiten. Das haben Sie vorhin richtig bestätigt. Es ist sehr gut, dass wir, grob gesehen, schon in eine Richtung unterwegs sind, und zwar
sowohl was den Inhalt der Anträge als auch was den
Austausch in unseren Ausschüssen angeht.
Das Menschenrecht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser leitet sich aus Art. 11 und 12 des UN-Sozialpakts
sowie aus dem Allgemeinen Kommentar Nr. 15 des Sozialpaktausschusses ab. Daraus lässt sich auch das Menschenrecht auf sanitäre Grundversorgung ableiten. Mit
der Verabschiedung der genannten Resolution Mitte letzten Jahres wurde kein neues Menschrecht geschaffen.
Vielmehr erkennt die Generalversammlung damit ausdrücklich an, dass ein Menschenrecht auf Zugang zu
sauberem Wasser und angemessenen sanitären Einrichtungen bereits existiert.
Zu dem Antrag von Ihnen, liebe Kollegen von der
SPD, in dem gefordert wird, die UN-Sonderbeauftragte
Catarina de Albuquerque nachdrücklich zu unterstützen,
ist Folgendes zu sagen: Die Bundesregierung betont genau das. Auch in unserem Antrag gehen wir darauf ein.
Im Rahmen der Berichterstattung hat sie deutlich gemacht, dass ihr das besonders wichtig ist. Schon bei ihrer
Installierung, aber auch im Hinblick auf ihre mögliche
Weiterbeschäftigung, zu der es hoffentlich kommen
wird, wurde der entsprechende Wille gezeigt. Da sind
wir uns einig.
Zur Forderung Ihres Antrags hinsichtlich der Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls. Hier sind
wir, wie Sie treffend gesagt haben, auf die laufenden
Ressortabstimmungen, die noch nicht abgeschlossen
sind, angewiesen. An dieser Stelle sollten wir deswegen
keinen besonders großen Druck machen. Hier ist keine
Eile geboten. Ich hoffe, dass dabei ein gutes Ergebnis
herauskommt.
Weiterhin zu Ihrem Antrag. Dieses Thema wird meines Erachtens - Sie wissen das; das habe ich auch in
meiner Stellungnahme im Ausschuss deutlich gemacht unzulässigerweise mit dem Individualbeschwerdeverfahren verknüpft. Dadurch könnte es zu einer Instrumentalisierung kommen, die ich Ihnen zwar nicht direkt unterstellen will, die aber zumindest möglich ist, auch
wenn die Zielrichtung natürlich absolut legitim ist und
ich sie mittragen kann.
Zweiter Punkt. Das Thema Wasser ist ein Schwerpunkt
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Wenn man
zurückschaut, kann man auch ein bisschen stolz darauf
sein, was in und von unserem Land beim Thema Wasser
schon geleistet wurde. Die GIZ sagt, dass heute 1,6 Milliarden mehr Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben als noch vor 20 Jahren. Damit sich diese positive Entwicklung fortsetzt, engagiert sich die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit lokal, national und international.
Ich will die Unterschiede kurz benennen. Die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit engagiert sich lokal, damit
Finanzierungen zur Unterstützung konkreter Projekte vor
Ort möglich werden und damit die Bevölkerung mit
Trinkwasser und Toiletten versorgt werden kann, sie engagiert sich national in beratenden Institutionen, um die
Wasserpolitik in Partnerländern zu verbessern, und sie
engagiert sich international - dieses Engagement kann in
der Zukunft sogar noch stärker werden - bei der Klärung
globaler Fragen, die zum Beispiel durch den Klimawandel ausgelöst wurden oder Handelsfragen betreffen.
Schließlich sagen viele, es könnte auch zu Kriegen ums
Wasser kommen. Das ist nicht nur eine Zukunftsvision.
Letztes Jahr wurde dieses Konfliktpotenzial zum Beispiel
in Nordkenia sehr deutlich, als sich Nomaden und Bauern
handfeste Auseinandersetzungen geliefert haben.
Die deutschen Akteure engagieren sich schon seit
Jahrzehnten im Bereich der Trinkwasser- und Sanitärversorgung. Heute gibt es auf diesem Gebiet allerdings
noch mehr bedeutende Herausforderungen. Für den
Schutz, die effektive Nutzung von Wasserressourcen und
die Abwasserreinigung müssen Versorger, private oder
öffentliche, Behörden, aber auch die Bürger sensibilisiert werden. Wer sich, wie die Mitglieder unseres Ausschusses, im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit
engagiert, der weiß, dass das vor Ort in den Köpfen der
Nutzer von Wasser in vielen Ländern noch lange nicht
präsent ist.
Das BMZ ist im Wassersektor mit 350 Millionen
Euro in 28 Schwerpunktländern engagiert. Damit ist
Deutschland der zweitgrößte bilaterale Geldgeber in diesem Sektor, in diesem Fall nach Japan.
Was die Millenniumsentwicklungsziele betrifft, muss
ich sagen: Auch wenn es beim siebten Ziel konkret um
Wasser geht, sind auch alle anderen Ziele direkt mit diesem Thema verknüpft. Auch das Ziel der Senkung der
Kindersterblichkeit, das fünfte Ziel, die Senkung der
Müttersterblichkeit, und die Förderung der Grundschulbildung, all dies hat direkt mit dem Zugang zu gesundem, sauberem Wasser zu tun. Deshalb spielt es eine
wichtige Rolle, sich für die Einhaltung unserer Versprechen einzusetzen.
Initiativen wie die vor kurzem vorgestellte Micha-Initiative sollten unsere Unterstützung erfahren. Sie, Frau
Schuster, haben die Initiative „WASH United“ erwähnt,
die bei der Fußball-WM eine Rolle spielte und die, wie
ich glaube, auch bei der Cricket-WM in Pakistan eine
große Rolle spielen soll. Sie hat einen großen Unterschied gemacht. Wenn man Menschen auf diese Initiative im letzten Jahr anspricht, dann ist dieses Thema auf
einmal präsent.
Wichtig ist aber auch, was die Bürger und Bürgerinnen tun können. Damit bin ich beim dritten Punkt: bei
konkreten Projekten, bei denen wir als Abgeordnete,
aber auch als Bürger und Käufer ins Spiel kommen. Es
geht darum, im Rahmen von Bürgerinitiativen Verletzungen des Rechts auf Wasser zu dokumentieren, sei es,
wenn bei uns Wasser verschwendet wird, sei es, dass
man auf Reisen darauf hinweist und die Untätigkeit von
Regierungen dokumentiert.
Für uns Verbraucher bedeutet dies, dass wir mit der
Ressource Wasser verantwortungsvoll umgehen. Dabei
weiß ich natürlich, dass die Hauptverbraucher von Wasser nicht die privaten Haushalte sind. Wir müssen aber
auch als Käufer und Kunden bei unseren Einkäufen aufmerksam sein. In dem Zusammenhang möchte ich ein
Stichwort nennen, das ich selbst in der Auseinandersetzung mit diesem Thema gelernt habe, nämlich das Stichwort „virtuelles Wasser“. In den letzten Jahren sind wir
immer wieder auf den Carbon Footprint, also den Kohlenstofffußabdruck, hingewiesen worden. Dieser besagt,
dass wir durch unser Nutzerverhalten, beispielsweise bei
Flugreisen, einen Fußabdruck hinterlassen. Dadurch
wird der negative Einfluss, den jeder von uns auf die
Umwelt hat, dokumentiert.
Stichwort: virtuelles Wasser. Damit ist die unsichtbare Wasserlast in Lebensmitteln und Industriegütern
gemeint; der World Wildlife Fund hat das wie folgt definiert: Man versteht darunter die Menge an sauberem
Frischwasser, die zur Herstellung eines bestimmten Produkts verwendet wurde, das dafür verbraucht, verdunstet
oder verschmutzt wurde.
Hierzu möchte ich einige Beispiele nennen. Die für
0,2 Liter Orangensaft aufgewendete Wasserlast beträgt
170 Liter. Die Menge virtuellen Wassers, die für die Produktion eines T-Shirts aufgewendet wird - denken Sie
nur an die Bewässerung der Baumwolle -, beträgt circa
4 000 Liter, und bei einem einfachen Hamburger sind es
2 400 Liter Wasser.
Es lohnt sich also, auf sein Kaufverhalten zu achten.
Es lohnt sich auch, regional einzukaufen. Langfristig
sollte es unser zentrales Ziel sein, den sparsameren Umgang mit Wasser zu erlernen und zu lehren. Das muss für
den alltäglichen Wassergebrauch und auch in Bezug auf
den Import von Lebensmitteln gelten.
({0})
Ich persönlich habe einen starken Fokus auf das
Thema Afrika; das kann auf verschiedene Initiativen
übertragen werden. Vor kurzem hatten wir einen runden
Tisch zum Thema Wasserknappheit, bei dem Botschafter
aus den verschiedensten Ländern mit uns zusammensa-
ßen. Viele afrikanische Länder sind diesbezüglich noch
nicht untereinander vernetzt. Es wurde von einem sehr
positiven Beispiel berichtet, in dem Fall aus Marokko,
wo innerhalb der letzten 15 Jahre durch Partizipation der
Bevölkerung der Zugang zum Trinkwasser von 13 Pro-
zent auf 88 Prozent gesteigert wurde.
Jetzt gilt es, solche Ergebnisse zu multiplizieren. Wir
reden hier von einer Nord-Süd-Süd-Kooperation. Davon
können andere profitieren. Momentan beginnen wir da-
mit auf unserer nördlichen Seite. In meinem Wahlkreis
in Chemnitz haben wir einen runden Tisch ins Leben ge-
rufen. Verschiedene Firmen kamen aufgrund dieser Ini-
tiative auf uns zu und sagten: Wir verfügen über Know-
how auf diesem Feld, sei es logistisch, sei es im Klima-
bereich, sei es in der Verwaltung oder bei den unter-
schiedlichsten Themen. Hier gilt es, eine Sensibilisie-
rung zu erreichen, Ressourcen zu bündeln und mit dem
Gegenüber ins Gespräch zu kommen. Das Know-how-
Wachstum kann auf der einen Seite in den Bereichen
Technik oder Wissenschaft möglicherweise Arbeits-
plätze schaffen, auf der anderen Seite kann es, beispiels-
weise in Afrika, Investitionen ermöglichen.
Ich möchte zum Schluss kommen. Die Schnittmenge
der Gemeinsamkeiten führt mich nicht nur dazu - die
große Schnittmenge in den verschiedenen Anträgen
möchte ich bei 95 Prozent ansetzen -, zu sagen: Weiter
so! Sie macht auch nicht nur dankbar und stolz, dass von
unserem Lande so viele Impulse ausgehen. Vielmehr
möchte ich auch sagen: Wir dürfen an dieser Stelle nicht
Halt machen. Das ist auch der Grund für den Antrag un-
serer Fraktion. Genug ist es letztlich erst dann, wenn je-
der wirklich Zugang zu Trinkwasser hat. Genug ist es
erst dann, wenn niemand mehr aufgrund mangelnden
Zugangs zu sauberem Wasser und sanitärer Versorgung
sterben muss. Mögen Sie von der Regierung, mögen wir
als Abgeordnete des Bundestages und als Bürger dieses
Landes Vorbild sein für a) die Bewertung dieses Anlie-
gens, b) die Kommunikation dieses Themas und c) die
Nutzung dieses Lebenselixiers auf verantwortliche
Weise.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bald ist
wie jedes Jahr wieder Valentinstag. Abertausende Rosen
werden wieder an die Liebsten verschenkt werden. Kenia ist das Land, aus dem zwei Drittel der in Deutschland
jährlich verkauften Rosen herkommen. Gerade zurzeit,
kurz vor dem Valentinstag, blühen dort die Rosen besonders intensiv, und auf den Blumenfarmen herrscht
Schichtbetrieb.
Was hat das mit dem heutigen Thema, dem Menschenrecht auf Wasser, zu tun? Viel, ganz viel; denn in Kenia
herrscht das ganze Jahr über Wasserarmut. 40 Prozent der
Kenianer haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Dies
muss man wissen, und man muss auch wissen, dass
5 Liter Wasser nötig sind, um eine einzige Rose zu produzieren. Das ist eine Schande!
({0})
Sicherlich ist Kenia nur eines von vielen Beispielen
für die Verletzung des Menschenrechts auf Wasser, aber
es ist besonders dramatisch, da genügend Wasserquellen
vorhanden sind, um alle Kenianer mit sauberem Trinkwasser zu versorgen. Doch das Wasser wird an den Menschen vorbei auf die Blumenfarmen umgeleitet oder
dort, wo es noch vorhanden ist, durch die Abwässer aus
den europäischen Blumenplantagen verunreinigt. Damit
hier also schöne Rosen verkauft werden können, wird
dort den Menschen das Wasser weggenommen und verdreckt. Das sind unhaltbare Zustände.
({1})
Weltweit leiden heute 884 Millionen Menschen unter
mangelndem Zugang zu sicherem Trinkwasser. 2,6 Milliarden Menschen sind nicht mit grundlegenden Hygieneeinrichtungen, wie einer Toilette, versorgt. Opfer von
Wasserverunreinigungen sind vor allem Kinder unter
fünf Jahren. Bei ihnen sind Durchfallerkrankungen weltweit die zweithäufigste Todesursache. Diese Kinder
würden noch leben, hätten sie Zugang zu sauberem Wasser und einer Sanitärversorgung.
Doch während in Kenia mit dem sauberen Trinkwasser die Blumenfarmen bewässert werden, trinken die
Kinder in den Slums aus Pfützen. Sie schöpfen Wasser
aus Teichen, in denen sie sich auch waschen, aus denen
Tiere trinken und die mit Chemikalien verseucht sind.
Wir wären wochenlang krank, würden wir nur einen einzigen Schluck von diesem Wasser trinken. In den Ländern des Südens ist selbst dieses schmutzige Nass kostbar. Für diese katastrophale Situation sind die Blumenfarmen und damit auch deutsche Unternehmen verantwortlich. Sie müssen endlich zur Rechenschaft gezogen
werden.
({2})
Die Annahme der UN-Resolution im letzten Jahr, mit
welcher das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung
festgeschrieben wird, ist ohne Frage zu begrüßen. Bei
dieser Resolution darf es angesichts der Zustände wie in
Kenia aber nicht bleiben. Wir brauchen die völkerrechtliche Verbindlichkeit dieses Rechts, damit das Recht auf
Wasser so umgesetzt wird, dass es einklagbar und nicht
nur ein Papiertiger, sondern eine reale Verbesserung ist.
({3})
Dazu muss Deutschland endlich das Zusatzprotokoll
zum UN-Sozialpakt ratifizieren, mit dem die Rechte
zum Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Lebensbereiche und damit auch das Recht auf Trinkwasser
einklagbar gemacht werden.
({4})
Die Bundesregierung widersetzt sich der Ratifizierung
aber. Daher ist der Koalitionsantrag leider nur ein Lippenbekenntnis.
Dabei ist diese Forderung gerade vor dem Hintergrund des zunehmenden Handels mit Wasser besonders
dringlich. Der Wassersektor ist ein gigantischer Markt,
auf den immer mehr private Unternehmen drängen. Das
ist eine Tatsache, die Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, aber auch von der SPD, in Ihren Anträgen
sogar unterstützen. Töchter großer internationaler Konzerne, wie zum Beispiel der deutschen RWE, haben bereits die Wasserversorgung zahlreicher Städte in den
Entwicklungsländern übernommen. Beim Kauf der Wassernetze versprechen sie hohe Investitionen, die sie jedoch oft nicht tätigen. Stattdessen erhöhen sie die Wasserpreise um ein Vielfaches und erschweren so der
armen Bevölkerung den Zugang zu sauberem Wasser.
Wasser ist ein grundlegendes Gut. Die Erfahrungen
mit dem privatwirtschaftlichen Engagement im Wassersektor sind durchweg erschreckend. Daher muss eine
Privatisierung der Wasserversorgung generell abgelehnt
werden, und die bestehenden Verträge müssen zurückgenommen werden;
({5})
denn Unternehmen wie Nestlé und Coca-Cola haben
sich mittlerweile die Nutzungsrechte an Trinkwasserressourcen gesichert und verkaufen Wasser in Flaschen bis
zu 40-mal teurer als Leitungswasser. Diese Privatisierungspolitik ist eine Katastrophe. Internationalen Konzernen und lokalen Eliten wird es dadurch ermöglicht,
die Wasserversorgung zu Profitzwecken zu drosseln.
Daher steht fest: Das Menschenrecht auf Wasser kann
und wird nicht durch private Investoren durchgesetzt
werden.
({6})
Die einzelnen Staaten und die internationale Gemeinschaft müssen gewährleisten, dass jeder Mensch mit
Wasser versorgt wird. Der Zugang zu Wasser muss deshalb auch in diesem Hause mehr Priorität erhalten. Nicht
zuletzt deshalb werden wir dem Antrag der Grünen zustimmen.
Die Erklärung des Rechts auf Wasser hat einen hohen
symbolischen Wert. Die Anstrengungen zu einer weiteren Verbesserung müssen jedoch noch verstärkt werden.
Denn Wasser ist kein Privileg; es ist auch keine Ware. Es
ist ein Menschenrecht.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Tom Koenigs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Über das Menschenrecht auf Wasser im Allgemeinen besteht offensichtlich Konsens. Damit dies auch
im Konkreten erreicht wird, muss es normiert werden.
Deshalb ist mit der Resolution der UN-Generalversammlung und der Resolution des UN-Menschenrechtsrates vom vergangenen Jahr ein großer Fortschritt erzielt
worden, der auch von Ihnen, Frau Schuster, Herr
Heinrich und Herr Meßmer, angesprochen wurde.
Einen Fortschritt sehe ich auch darin, dass zum ersten
Mal das Recht auf Sanitärversorgung explizit als Menschenrecht anerkannt wird. Das hat die internationale
Staatengemeinschaft bisher noch nicht getan. Es reicht
aber noch nicht aus, dieses Recht im Allgemeinen und
an sich anzuerkennen; es fehlt noch die eindeutige Klärung, welche Inhalte dieses Recht umfasst und welche
menschenrechtlichen Pflichten sich hieraus für die verschiedenen Akteure ergeben.
Genau diese Aufgabe erfüllt üblicherweise der General Comment, der Allgemeine Kommentar, der vom UNSozialpakt-Ausschuss zu den einzelnen Rechten des Sozialpaktes erstellt wird, so auch zum Menschenrecht auf
Trinkwasser. Das ist der Allgemeine Kommentar Nr. 15,
der schon seit dem Jahr 2002 existiert. Dieser Kommentar hat wesentlich zur Konkretisierung des Menschenrechts auf Wasser beigetragen und ist eine wichtige
Orientierungshilfe bei dessen Umsetzung, wie es zum
Beispiel Herr Heinrich eben zu den verschiedenen Bereichen geschildert hat.
SPD und Grüne sind sich einig, dass ein Allgemeiner
Kommentar auch für das Menschenrecht auf Sanitärversorgung hilfreich wäre.
({0})
Der Antrag der Regierungsfraktionen ist zwar in allen
Punkten richtig, aber dieser Punkt fehlt. Wir werden dem
Antrag der Regierungsfraktionen zwar zustimmen, haben aber deshalb selber einen weiter gehenden Antrag
vorgelegt.
Ich will noch einmal erklären, warum der Allgemeine
Kommentar zur Sanitärversorgung, zu dem zwischen
SPD und Grünen Konsens besteht, sehr wichtig ist. Dafür gibt es fünf Gründe. Er ist erstens wichtig, damit die
Staaten ihre rechtlichen Pflichten kennen. Denn erst
dann können sie diese in nationale Gesetzgebungen umsetzen. Zweitens, damit kontrolliert werden kann, ob
Staaten ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen einhalten. Drittens, damit Einzelpersonen ihre Rechte im
Bereich der Sanitärversorgung kennen. Denn erst dann
können sie zum Beispiel ihr Recht auf erschwingliche
und menschenwürdige sanitäre Anlagen einklagen. In
diesem Zusammenhang spielt das erwähnte Zusatzprotokoll zum Sozialpakt eine wesentliche Rolle. Wir hoffen,
dass die Bundesregierung nicht bis zum Sankt-Nimmer9786
leins-Tag prüft und prüft, wie sie das bisher sehr lange
gemacht hat, sondern endlich entscheidet. Er ist viertens
wichtig, damit ein diskriminierungsfreier Zugang zu sanitären Anlagen sichergestellt wird. Fünftens trägt er
dazu bei, dass Sanitärversorgung in unmittelbarer Nähe
von Haushalten, öffentlichen Institutionen und Schulen
zur Verfügung steht und zum Beispiel Kinder nicht mehr
weite Strecken zu sanitären Anlagen zurücklegen müssen und ihren Unterricht verpassen.
All dem dient ein Allgemeiner Kommentar, der allerdings nicht von heute auf morgen zustande kommt. Er
wird vom UN-Sozialpakt-Ausschuss verfasst. Das ist ein
unabhängiges internationales Fachgremium, das aber
bisher noch keinen offiziellen General Comment zur Sanitärversorgung, sondern nur ein Statement verfasst hat.
Das Gremium ist unabhängig. Trotzdem kann die
Bundesregierung etwas dazu beitragen, indem sie dem
Sozialausschuss systematisch über die Umsetzung des
Rechtes berichtet. So kann der Ausschuss Beispiele von
Best Practices sammeln und daraus menschenrechtliche
Pflichten ableiten.
Im letzten deutschen Staatenbericht von 2008 kam
das Recht auf Sanitärversorgung leider gar nicht vor.
Außerdem: Deutschland kann im Rahmen des allgemeinen periodischen Überprüfungsverfahrens bei den
Berichten der anderen Staaten zum Menschenrecht auf
Wasser und zur Sanitärversorgung immer wieder Nachfragen stellen und dieses zur Diskussion stellen. Schließlich kann Deutschland das Thema Sanitärversorgung immer wieder auf die Tagesordnung des Menschenrechtsausschusses setzen. Das alles dient zur weiteren Formalisierung des Rechts. Ich glaube, ohne einen allgemeinen
Kommentar als eine Art Gebrauchsanleitung für das
Menschenrecht auf Sanitärversorgung kommen wir bei
der Umsetzung dieses Rechts nicht voran. Deshalb bitte
ich Sie gerade dabei um Unterstützung.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Menschenrechtspolitik ist mehr als der Appell an
Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit. Menschenrechtspolitik kann sehr konkret werden. Der Einsatz für
Menschenrechte und auch für das Menschenrecht auf
sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung kann sehr
konkret werden. Ich möchte das am Ende dieser Debatte,
in der sich im Grundsatz alle Fraktionen dazu bekannt
haben, dass das Menschenrecht auf Trinkwasser und Sanitärversorgung durchgesetzt werden muss, an einem
konkreten Beispiel deutlich machen.
Ich war gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen
der Oppositionsfraktionen zusammen mit dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, in Südamerika. Nun ist Südamerika nicht unbedingt der Kontinent, den man als Erstes
mit Wassermangel in Verbindung bringt. Aber tatsächlich ist es so, dass 20 Prozent der Peruanerinnen und Peruaner keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
In den Städten, in denen es Wasserleitungen und eine
Wasserversorgung gibt, gehen bis zu 60 Prozent des sauberen Trinkwassers durch löchrige Leitungen verloren.
Wir haben uns gemeinsam mit dem Bundesminister dort
ein Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
angeschaut. Dort hat die Bundesregierung zwei Partner
zusammengebracht, einerseits einen Wasserversorger vor
Ort in Tarapoto, andererseits ein kleines, innovatives
deutsches Familienunternehmen, das Geräte herstellt,
die Lecks durch die geschlossene Straßendecke aufspüren können; dann kann die Straßendecke aufgebrochen
werden, und die Lecks können repariert werden. Das ist
ein konkretes Beispiel deutscher Entwicklungszusammenarbeit, die Partner auf Augenhöhe zusammenbringt,
um ein Menschenrecht wie das Menschenrecht auf
Trinkwasser zu verwirklichen.
({0})
Binnen kurzer Zeit konnte tatsächlich der Wasserverlust
reduziert werden. 85 Lecks wurden bis heute schon gefunden, und der Wasserversorger konnte seine Einnahmen stabilisieren, um weitere Investitionen in das Wasserversorgungsnetz zu tätigen. Somit ist die Abwärtsspirale gestoppt und eine Aufwärtsspirale in Gang gesetzt worden.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir als Menschenrechtspolitiker den Appell an Gesprächspartner in der
Welt richten. Es ist wichtig, dass wir Dialoge führen. Es
ist auch wichtig, dass wir unter Umständen zu menschenrechtspolitisch motivierten Sanktionen greifen. Es
ist aber auch wichtig, dass wir an solchen Beispielen lernen, wie Menschenrechte tatsächlich konkret umgesetzt
werden. Das war ein kleines Beispiel, das zeigt, wie wir
zusätzliche Potenziale heben können, nämlich indem wir
die Neugierde und Innovationskraft kleiner Unternehmen aus Deutschland nutzbar machen, wenn wir sie motivieren, sich in der Welt zu engagieren.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Oliver Kaczmarek für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich, dass wir einige der wenigen Gelegenheiten
haben, im Bundestag einmal über Wasser zu reden; denn
das ist ein Thema, das für viele in Deutschland selbstverOliver Kaczmarek
ständlich ist, weil es hier überall Wasser gibt, in höchster
Qualität und zu bezahlbaren Preisen. Aber Wasser ist
nicht nur eine lebensnotwendige Ressource, sondern
auch eine hochsensible. Ich möchte mich als letzter Redner in dieser Debatte bemühen, einen weiteren Aspekt
hinzuzufügen; denn die Ressource Wasser gerät weltweit
unter großen Druck.
Die Auswirkungen des Klimawandels belasten den
Wasserhaushalt und die Verfügbarkeit von Wasser zusätzlich. Wir haben anhaltende Trockenperioden und
saisonal schwankende Niederschläge, die sich auf das
Süßwasserdargebot erheblich auswirken werden. Abschmelzende Gletscher beeinflussen den Wasserstand
der Flüsse. Allein in den Gletschern Zentralasiens lagert
Wasser, das Flüsse speist, die rund 2 Milliarden Menschen und zahlreiche Ökosysteme versorgen. Durch das
Ansteigen des Meeresspiegels ergibt sich das Problem,
dass ganze Landstriche unter Wasser gesetzt werden und
Salz in Süßwasservorräte gerät.
Diese klimatisch bedingten Zuspitzungen betreffen
häufig Länder, die ohnehin schon durch die demografische Entwicklung und die fortschreitende Urbanisierung
unter erhöhtem ökologischen Druck stehen. Wenn wir
also über das Menschenrecht auf Trinkwasser und sanitäre Versorgung sprechen, dann müssen wir auch über
die ökologischen Herausforderungen reden; denn Wasser steht an der zentralen Stelle unserer Ökosysteme.
Wir brauchen deshalb meiner Überzeugung nach ein
integriertes Verständnis einer Politik für Wasser; denn
das Menschenrecht auf Wasser ist eine entwicklungspolitische und humanitäre, aber auch eine ökologische und
umweltpolitische Herausforderung, der wir uns ganzheitlich stellen müssen.
Ich möchte drei Anmerkungen zu einer integrierten
Politik für das Recht auf Trinkwasser und sanitäre Versorgung machen.
Erstens - das zu sagen, ist fast banal -: Politik für
Wasser kann man nur international machen. Oberflächengewässer und Grundwasserspeicher halten sich
nicht an nationale Grenzen. Wasser kann nur einmal verteilt werden, und Wasser kann nicht eingezäunt werden.
Das sehen wir nicht zuletzt bei den vermehrt auftretenden Hochwasserereignissen und ihren Folgen, die wir in
den letzten Jahren beobachten konnten. Deshalb ist eine
international vereinbarte und zwischenstaatliche Politik
unter dem Dach der Vereinten Nationen absolut notwendig. Ich sage das auch, weil Foren wie das Weltwasserforum und andere hilfreiche Beiträge liefern, aber eben
nicht an die Stelle der politischen Mechanismen der Vereinten Nationen treten können.
({0})
Zweite Anmerkung. Wenn man international glaubwürdige Politik betreiben will, dann muss man das halten, was man einmal zugesagt und versprochen hat. Ich
habe zu Anfang gesagt: Durch den Klimawandel kommen zusätzliche Anforderungen an die Bereitstellung
von Trinkwasser und die sanitäre Versorgung auf ökologisch ohnehin schon belastete Regionen zu. Gerade das
zeigt - das, was Herr Heinrich gerade zu der zusätzlichen Belastung ausgeführt hat, war sehr anerkennenswert -, dass die Bundesregierung falsch handelt, wenn
sie ihre Zusagen aus dem Klimagipfel in Kopenhagen
nicht einhält. Zur Erinnerung: Dort hatte Deutschland
den Entwicklungsländern versprochen, von 2010 bis
2012 pro Jahr zusätzlich 420 Millionen Euro, also insgesamt mehr als 1,2 Milliarden Euro, bereitzustellen, um
Anpassungs- und Klimaschutzmaßnahmen zu finanzieren. Doch bereitgestellt hat die schwarz-gelbe Koalition
lediglich 150 Millionen Euro, nicht pro Jahr, sondern
insgesamt. 150 Millionen Euro statt 1,2 Milliarden Euro,
die zugesagt waren - das ist beschämend, meine Damen
und Herren.
({1})
Schlimmer noch: Mit diesem Buchhaltertrick ist das internationale Ansehen Deutschlands beschädigt worden;
denn damit sind die Staaten getäuscht worden, die die
Folgen eines Klimawandels bewältigen müssen, den
nicht sie, sondern die Industriestaaten wesentlich verursacht haben. Das ist kein Umgang zwischen Staaten, der
in Ordnung ist.
Dritte und letzte Anmerkung.
Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein
ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss.
Das ist der erste Satz aus der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie. Dieser Satz beschreibt für uns, dass Wasser eben keine Ware ist und auch nicht so behandelt werden darf. Deshalb darf es aus unserer Sicht keine
Fixierung auf die Privatisierung der Wasserwirtschaft
geben. Stattdessen müssen wir dafür Sorge tragen, dass
es einen staatlichen Rahmen gibt, der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, hohe Qualität von Wasser und akzeptable
Wasserpreise garantiert, und zwar egal, in welcher
Rechtsform die Wasserwirtschaft organisiert ist.
Das Menschenrecht auf Trinkwasser und sanitäre Versorgung darf keine reine Deklaration sein, gerade für
Deutschland nicht. Das ist ein politischer Auftrag; denn
jeder Mensch bekommt damit das Recht auf Trinkwasser, egal wo er lebt. Ich sehe für uns an einigen Stellen
noch Handlungsbedarf.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 17/4526. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/2332 mit dem Titel „Menschenrecht auf
sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen - Versorgung weltweit verbessern“. Wer stimmt für diese Be9788
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3652 mit dem Titel
„Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wir sind uns
hier im Sitzungsvorstand über das Ergebnis der Abstimmung nicht einig.
({0})
Das heißt, ich kann Ihnen ein bisschen Gymnastik nicht
ersparen und muss Sie um Geduld bitten. Wir werden
auszählen, um das Ergebnis deutlich feststellen zu können. Ich bitte Sie, dafür den Saal zu verlassen, bis ich Sie
wieder hereinbitte.
Haben nun alle Kolleginnen und Kollegen den Saal
verlassen? - Das ist der Fall. Sind an jeder der Eingangstüren Schriftführer? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich
die Abstimmung.
Darf ich nachfragen, ob noch Kolleginnen und Kollegen vor der Tür stehen? ({1})
Ich darf diese Kolleginnen und Kollegen bitten, in den
Plenarsaal zu kommen.
Sind alle Kolleginnen und Kollegen, die vor der Tür
standen, nun im Saal? - Das ist der Fall. Dann schließe
ich die Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas
Aufmerksamkeit. Es gibt aufgrund der Mitteilungen der
Schriftführer eine Unklarheit; denn auf zwei Zetteln sind
Jastimmen mit jeweils unterschiedlichem Ergebnis notiert. Ich bitte Sie deshalb um Verständnis, dass ich die
Schriftführer, die an den Türen standen, jetzt bitte, kurz
zu mir zu kommen; denn ohne Rücksprache kann ich das
Ergebnis nicht feststellen.
Jetzt haben wir das aufgeklärt. Es hat sich herausgestellt, dass einer der Schriftführer auf dem Zettel „Jastimmen“ vermerkt hat, obwohl es die Neinstimmen waren. Das kann vorkommen.
Ich gebe Ihnen nun das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstimmung bekannt: Für die Beschlussempfehlung haben
223 Abgeordnete gestimmt, gegen die Beschlussempfehlung 138; es gab 40 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit für eine weitere Abstimmung. - Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/1779 mit dem Titel „Die Anerkennung des Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke sowie bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, bitte ich
die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte folgen
wollen, Platz zu nehmen. Diejenigen, die anderes zu tun
haben, bitte ich, sich dieser Arbeit außerhalb des Plenarsaals zu widmen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung
- Drucksachen 17/2218, 17/4332 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Ihre
Gespräche vor dem Plenarsaal zu führen. Das gebietet
der Respekt vor den Rednern. Wir wollen uns auf die
Debatte konzentrieren. - Frau Kollegin, ich denke, dass
es jetzt ruhig genug ist.
Danke, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Praxisgebühr und Zuzahlungen müssen weg,
ohne Wenn und Aber. Das fordert die Linke.
({0})
Dieses Erfordernis belegt auch die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage, die wir anlässlich
des Europäischen Jahres zur Bekämpfung von Armut
und sozialer Ausgrenzung im Jahr 2010 an die Bundesregierung stellten. Die Bundesregierung ist sich in etlichen Antworten mit uns einig, beispielsweise darüber,
dass Menschen mit niedrigem Einkommen kränker sind
als Menschen mit hohem Einkommen. Sie schreibt, dass
für sozial Benachteiligte das Risiko, einen Herzinfarkt
zu erleiden, an Diabetes mellitus oder Lungenkrebs zu
erkranken, bis zu zweieinhalbmal höher ist. Die Bundesregierung ist sich mit uns einig, dass sozial benachteiligte Menschen stärkeren Gesundheitsbelastungen ausgesetzt sind durch den Arbeitsplatz, durch die Umwelt,
durch die Wohnbedingungen und vieles andere. Dies alDr. Martina Bunge
les führt dazu, dass Menschen mit niedrigem Sozialstatus im Durchschnitt bis zu zehn Jahre früher sterben als
Menschen mit hohem Sozialstatus. Wenn Sie in Berlin
beispielsweise vom reichen Zehlendorf in das ärmere
Marzahn fahren, können Sie das abzählen: Von S-BahnStation zu S-Bahn-Station sterben die Menschen im
Schnitt ein Jahr früher.
Die Bundesregierung weiß das alles; aber sie tut
nichts dagegen. Suchen Sie beispielsweise einmal ein
Zitat von Minister Rösler, in dem er diesen Missstand
benennt oder anprangert. Fehlanzeige! Ich habe gegoogelt. Der Minister verdankt es unserer Anfrage, dass
er im Internet überhaupt im Zusammenhang mit sozialer
Ungerechtigkeit auftaucht. Das ist allerdings nicht sehr
schmeichelhaft. „Rösler lässt Armut kalt“, heißt es dort.
Soziale Ungleichheit führt zu ungleicher Gesundheit.
Um das umfassend zu ändern, müssen wir die Lebensbedingungen der Menschen ändern. Das kann die Gesundheitspolitik in der Tat nicht allein; aber sie kann ihren
Teil dazu beitragen.
({1})
Das Mindeste ist doch wohl, dass unser Gesundheitssystem das Problem, dass unterschiedliche Gesundheitschancen bestehen, nicht noch verstärkt. Darin müssten wir doch übereinstimmen.
({2})
Dazu müssen alle Menschen den gleichen Zugang
zum Gesundheitssystem haben. Das steht auch im jüngsten Bericht der Weltgesundheitsorganisation - ich darf
zitieren -:
Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen auf
die Gesundheit. Menschen im Moment der Inanspruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davor
ab, Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Die WHO sagt, dass solche Zahlungen vor allen Dingen
arme Menschen betreffen. Praxisgebühr und Zuzahlungen in Deutschland sind solche Zahlungen. Sie verstärken die Ungleichheit bei den Gesundheitschancen noch
mehr. Das können wir doch wohl nicht wollen.
({3})
Praxisgebühr und Zuzahlungen sind allein von gesetzlich Versicherten zu zahlen und nicht von Privatversicherten, wenn ich von den Beihilfeberechtigten einmal
absehe. Diejenigen, die zumeist sehr gut verdienen,
brauchen also nichts zu zahlen. Das ist total ungerecht.
({4})
Praxisgebühr und Zuzahlungen wurden eingeführt, weil
man die Anzahl angeblich unnötiger Arztbesuche verringern wollte. Aber keine Studie kann diesen positiven Effekt nachweisen. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass
arme Menschen notwendige Arztbesuche verschieben.
Die Bundesregierung weiß das; aber es bleibt dabei.
Schließlich kommen 5 Milliarden Euro rein - von den
Kranken allein.
Was hat die Bundesregierung im Europäischen Jahr
zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
getan? Mit den Zusatzbeiträgen als Kopfpauschale durch
die Hintertür setzt sie bei der sozialen Ungerechtigkeit
noch eins drauf. Sie haben zutiefst versagt. Sie haben
nicht zum Wohle der Mehrheit der Bevölkerung gehandelt. Deshalb fordern wir Sie heute auf, wenigstens einen
kleinen Schritt zu unternehmen und die Praxisgebühr
und sämtliche Zuzahlungen sofort abzuschaffen. Eine
Finanzierungsmöglichkeit haben wir aufgezeigt: die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze. Geben Sie sich
einen Ruck, und stimmen Sie zu!
Danke.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Stefanie Vogelsang
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Vorbemerkungen in dieser Großen
Anfrage der Linksfraktion anschaut und sich, Frau
Dr. Bunge, Ihre Rede anhört, dann könnte man meinen,
wir diskutierten hier über das Gesundheitssystem eines
Entwicklungslandes und nicht über das der Bundesrepublik Deutschland, nicht über das Gesundheitssystem, um
das uns die meisten Menschen dieser Welt beneiden.
Wenn man sich dann etwas genauer mit Ihren Fragen
beschäftigt, werte Frau Kollegin, stellt man fest, dass Sie
fleißig waren: eine Große Anfrage, unterteilt in 209 Unterfragen. Allerdings sagt die Quantität noch lange
nichts über die Qualität aus.
({0})
Ich habe mich etwas intensiver mit dem Inhalt Ihrer Fragen beschäftigt. Rund 140 Fragen sind Wissensabfragen.
Nun könnte man die Hoffnung haben, dass Sie aus diesem gewonnenen Wissen etwas Produktives für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung entwickeln.
Aber ich bin zugegebenermaßen skeptisch geblieben;
denn über 60 Fragen dieser 209 Fragen
({1})
bedienen allein ideologische Positionen.
({2})
Ich war gespannt, was Sie mit diesem gewonnenen,
für Sie neuen Wissen anfangen. Wird sich die Linke intensiv mit ihrem Erkenntnisgewinn auseinandersetzen?
({3})
Wird es hier und da einen an den Interessen der Menschen und nicht an ihrer Ideologie ausgerichteten Vorschlag geben? Gestern haben Sie dann die Katze aus
dem Sack gelassen; gestern lag mir Ihr Entschließungsantrag zu dieser Großen Anfrage vor. Ich hätte lachen
können, wenn es nicht so bitter gewesen wäre. Ihnen
geht es wieder einmal nicht um eine ernsthafte Diskussion. Ihnen geht es wieder einmal nicht um das Wohl der
Menschen.
({4})
Ihnen geht es wieder einmal nicht um die Zukunft unserer Gesundheitsversorgung. Ihnen, meine Damen und
Herren von der Linken - ich werde Ihnen das gleich dezidiert aufzeigen -, geht es wieder einmal nur um die
Fortsetzung Ihrer Sozialneiddebatte und um billigen parteipolitischen Klamauk.
({5})
Sie fordern zum hundertsten Mal die Abschaffung der
Praxisgebühr und die völlige Koppelung der Gesundheitskosten an den Faktor Arbeit.
({6})
Alle gesundheitlichen Belastungen der Menschen führen
Sie darauf zurück, dass es Menschen mit mehr und Menschen mit weniger Einkommen gibt. Die Wurzel allen
Übels ist aus Ihrer Sicht, dass die Politik der Bundesrepublik Deutschland davon ausgeht, dass derjenige, der
arbeitet, mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet.
({7})
Letzten Freitag haben wir hier im Hause über Ihre
Wege zum Kommunismus debattiert. Im Konsens aller
Demokraten ist deutlich geworden, dass Sie mit diesem
Weg hier alleine dastehen. In Ihren Fragen zur gesundheitlichen Situation in Deutschland vermeiden Sie zwar
das Wort Kommunismus; aber in jeder dritten Frage unterstellen Sie den Weg der Gleichmacherei als den besseren.
({8})
In diesem Haus will außer Ihnen, meine Damen und
Herren von den Linken, niemand zurück zu einem System, in dem einige gleicher sind als andere und in dem es
den normalen Bürgern gleich geht, und zwar allen gleich
schlecht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das System der
Gleichmacherei jämmerlich und schändlich gescheitert
ist.
({9})
Frau Kollegin, es gibt zwei Bitten um eine Zwischenfrage, und zwar von Frau Kollegin Vogler und von Frau
Dr. Bunge.
Ja, gerne.
Lassen Sie beide zu?
Aber selbstverständlich.
Frau Vogler, bitte.
Liebe Kollegin Vogelsang, stimmen Sie mit mir darin
überein, dass man soziale Ungleichheit nicht mit mehr
sozialer Ungleichheit bzw. mehr sozialer Ungerechtigkeit bekämpfen kann? Ich verstehe Ihre Argumentation
insofern überhaupt nicht,
({0})
als Sie uns unterstellen, wir wollten alle gleichmachen.
In Wirklichkeit ist es diese Regierungskoalition, die für
alle den gleichen Krankenkassenbeitrag und die gleichen
Praxisgebühren erheben möchte, egal ob sie sich das
leisten können oder nicht.
({1})
Wenn wir feststellen müssen - das hat die Bundesregierung getan -, dass das ärmste Zehntel der Bevölkerung durchschnittlich zehn Jahre eher stirbt als das
reichste Zehntel der Bevölkerung, muss dann nicht unsere Schlussfolgerung sein, dass es darum geht, soziale
Ungleichheiten bzw. soziale Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, um für alle eine bessere Gesundheit zu erwirken?
({2})
Es geht hier doch darum, die Auswirkungen dieser Situation so zu diskutieren, dass wir Wege finden, damit
sich auch die Ärmsten der Bevölkerung guter Gesundheit und einer möglichst langen Lebenszeit erfreuen können.
({3})
Wenn ich jetzt das Wort zur Antwort auf Ihre Frage
habe, Frau Kollegin: Ich teile mit Ihnen die Überzeugung, dass sich der Staat um Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände gesundheitliche Defizite aufweisen, kümmern muss. Ich bin Bürgerin von
Berlin. Ich weiß ganz genau, was es bedeutet, in einer
Stadt zu leben, in der eine Gesundheitssenatorin von den
Linken seit zehn Jahren Verantwortung trägt. Im Laufe
meiner Rede werde ich darauf sehr dezidiert zurückkommen.
({0})
Nun Frau Dr. Bunge.
Frau Kollegin Vogelsang, Sie haben uns vorgeworfen,
in der Großen Anfrage eine übergroße Anzahl, ich nenne
es jetzt einmal so, ideologischer Fragen gestellt zu haben.
Sie meinten, wir wollten das hier nur ansprechen, um im
Zusammenhang mit Armut den Mindestlohn als nächste
Forderung zu bringen. Stimmen Sie mir zu bzw. was sagen Sie dazu, dass sich die Hartz-IV-Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss als ein zähes Ringen gestalten,
um etwas Angemessenes zu finden? Haben wir tatsächlich ein Riesenproblem, oder stellen alle Länder lediglich ideologische Forderungen?
Wir diskutieren hier über die gesundheitliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2010.
({0})
- Nein, Ihre Anfrage bezieht sich auf das Europäische
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung sowie auf
die Auswirkungen auf die Gesundheit. Das war das Jahr
2010, und in diesem Zusammenhang diskutieren wir
heute Ihren Antrag.
Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass sich diejenigen, die in den Ländern, und diejenigen, die im Bund
Verantwortung haben, einigen werden und dass wir mit
den Hartz-IV-Reformen ein gutes Paket für die Menschen in der Bundesrepublik schnüren werden.
({1})
Unser Gesundheitssystem, meine Damen und Herren,
ist bei allen Problemen, um deren Lösung wir hier
selbstverständlich miteinander ringen müssen, immer
noch ein System, um das wir weltweit beneidet werden.
Zu einer flächendeckenden gesundheitlichen Versorgung
kombiniert mit weltweit führender medizinischer Spitzentechnologie hat in Deutschland jeder - hören Sie gut
zu - unabhängig vom sozialen Status jederzeit Zugang.
({2})
Im Ernstfall erhält bei uns jeder - egal ob er arm ist
oder reich, ob er jung ist oder alt, ob er stark ist oder
schwach - die bestmögliche medizinische Versorgung.
Niemand fragt hier: Lohnt sich das bei dem noch? Das
unterscheidet unser System von denen in vielen anderen
Ländern. Darauf können wir stolz sein, und wir müssen
dafür arbeiten, dass das auch so bleibt. Genau dafür steht
unsere Koalition, die christlich-liberale Koalition.
({3})
Von Ihnen kam kein einziges Wort zum rasanten medizinischen Fortschritt in Deutschland. Krankheiten, die
man vor 30 oder 40 Jahren noch nicht einmal feststellen
konnte, sind heute heilbar. Hier wird die soziale Frage
nach Lebensqualität oder sogar nach zusätzlichen Lebensjahren auch mit deutscher Spitzentechnologie beantwortet. Vieles von dem, was früher noch unvorstellbar war,
ist heute möglich, und wir alle wissen: Diese Entwicklung geht rasant weiter. Das ist gut für die Patienten. Das
ist aber auch gut für die gesunden Menschen, die wissen,
dass sie im Fall der Fälle anständig und bestmöglich versorgt werden.
Klar ist allerdings auch: Diesen Fortschritt gibt es
nicht zum Nulltarif. Vielmehr verursacht er enorme Kosten.
({4})
Wir wissen, vor welch enorme Herausforderungen uns
der demografische Wandel - auch darauf beziehen sich
etliche Fragen von Ihnen - im Gesundheits- und Pflegebereich in Zukunft stellen wird. Dass vor diesem Hintergrund und dem Ziel, auch in Zukunft alle Menschen in
Deutschland daran teilhaben zu lassen, die Gesundheitskosten nicht sinken werden, wird inzwischen nicht einmal mehr von Ihnen bestritten.
Wir alle wissen, welche Finanzierungslücken bei der
gesetzlichen Krankenversicherung bestanden haben. Wir
haben das ganze letzte Jahr immer wieder an dieser
Stelle gekämpft. Wir haben beispielsweise das Reformgesetz zur gesetzlichen Krankenversicherung und auch
das Arzneimittelneuordnungsgesetz verabschiedet. Damit haben wir einen weiteren Beitrag dazu geleistet, den
Kollaps in unserem System zu verhindern.
In diesem Jahr werden wir weitere Probleme in den
Griff bekommen, Lösungen gründlich erarbeiten und
dann auf den Weg bringen: im Bereich der Versorgungssicherung, im Bereich der Pflege und vieles andere mehr.
Frau Kollegin, natürlich wissen wir, dass gebildete
und informierte Menschen gesünder leben als ungebildete. Wir wissen, dass ärmere Menschen im Durchschnitt kränker sind als die Mittelschicht. Wir wissen
aber auch, dass wir mit unseren Präventionskampagnen
der Vergangenheit hauptsächlich die ohnehin schon Interessierten erreicht haben, dass wir Menschen, die im unteren Einkommensbereich liegen, schlechter oder gar
nicht erreichen; das betrifft auch viele Kinder mit Migrationshintergrund.
({5})
Selbstverständlich wissen wir, dass wir uns darum kümmern müssen. Selbstverständlich wissen wir, dass es ein
Auftrag an die Regierungskoalition ist, in diesem Bereich Abhilfe zu schaffen und Lösungen anzubieten.
Solche Lösungen können aber nicht nur aus einem
Flyer bestehen, den man herumschickt; denn es gibt tiefergehende Ursachen für die Probleme. Deshalb haben
wir jetzt mit der großen Initiative der Bundesregierung
im Bereich der Versorgungsforschung einen riesigen
Schritt gemacht. Wir wollen dem Problem in der Versorgungsforschung näher kommen und das Dilemma lösen.
({6})
Es ließen sich noch viele weitere Punkte aufzählen, nur
reicht meine Redezeit dafür nicht aus.
Es ist mir wichtig, auf einen anderen Punkt zu sprechen zu kommen, und zwar auf die Verantwortung von
Ländern und Kommunen. Im Antrag der Linksfraktion
heißt es - ich zitiere -:
Das Gesundheitssystem kann natürlich nicht alle
Folgen sozialer Ungleichheit ausgleichen. Die Minimalforderung muss aber lauten, dass die Unterschiede durch das Gesundheitssystem nicht verstärkt werden.
Frau Dr. Bunge, Sie haben vorhin die gleiche Passage zitiert.
({7})
Vor diesem Hintergrund ist es doch besonders interessant, sich einmal anzuschauen, ob Sie von der Linkspartei hier in Berlin, wo Sie seit zehn Jahren Regierungsverantwortung tragen, Ihre eigene Minimalforderung
umgesetzt haben.
Hier in Berlin wurden von Rot-Rot Zigmillionen Euro
für Gesundheitsprojekte gestrichen. Sowohl die Sozialsenatorin als auch die Gesundheitssenatorin werden seit
zehn Jahren von Ihrer Partei, von den Linken, gestellt.
Die Streichliste lässt sich beliebig fortsetzen: Sie haben
Sozialhilfe und Pflegeleistungen gekürzt. Sie haben das
Blindengeld gestrichen. Sogar bei der Beförderung behinderter Menschen haben Sie zugelangt und die Eigenbeteiligung der Betroffenen insgesamt um über 1 Million
Euro erhöht; damit haben Sie die Betroffenen an ihre
Wohnungen gefesselt. Sie haben Beratungsstellen für
Sehbehinderte und Tuberkulosefürsorgestellen geschlossen. Sie haben die Streichung der zahnärztlichen Versorgung für schwerstbehinderte Kinder betrieben. Sie haben
Beratungsangebote für Sinnesbehinderte aufgehoben
und die Gesundheitsförderung - koste es, was es wolle gestrichen.
Es ist ein echter Skandal, wie die Linkspartei mit den
Gesundheitseinrichtungen in den Berliner Bezirken, also
in den Kommunen, umgeht. Die Aufgaben der dortigen
Gesundheitsämter reichen von Präventionsprojekten bis
hin zu Kinderschutzmaßnahmen, zum Infektionsschutz
und zur Einschulungsuntersuchung. Rot-Rot hat allein
hier 550 Stellen gestrichen, mit dem Ergebnis, dass die
Einschulungsuntersuchungen in Berlin zum Teil erst
dann stattfinden, wenn die Kinder schon längst eingeschult sind. Sie haben die Ausgaben für Kinder aus sozial schwachen Familien reduziert, deren Eltern nicht
mit ihnen zum Arzt gehen, die sich nicht um die zahnmedizinische Versorgung kümmern.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rawert?
Ja, klar. Aber ich möchte einen letzten Satz zu dieser
Passage sagen. Dann bin ich mit diesem Teil fertig.
Ich finde, dass man bei dem, was Sie in Berlin in der
Gesundheitspolitik hingelegt haben - auch Frau Kollegin Rawert kommt aus Berlin -, eine desaströse Bilanz
ziehen muss.
({0})
Frau Kollegin Rawert, bitte.
Frau Kollegin Vogelsang, Sie waren Bezirksstadträtin
für Gesundheit und Soziales in Berlin-Neukölln. Heißt
das, Sie haben eine desaströse Bilanz hingelegt?
({0})
Frau Rawert, ich danke Ihnen geradezu für diese Zwischenfrage. Ich war ab 1995, als die Regierungsverantwortung in Berlin noch von anderen getragen wurde, Bezirksstadträtin für Gesundheit und Soziales. Nachdem
ich eine Zeit lang ausgeschieden war, wurde ich Bezirksstadträtin für Gesundheit. Sie wissen ganz genau, dass
ich über ein Jahr lang dafür kämpfen musste, dass der
SPD-geführte Senat, Ihre Regierung, überhaupt einen
einzigen Kinderarzt im öffentlichen Gesundheitsdienst
zugelassen hat.
({0})
Frau Vogelsang, Frau Kollegin Rawert möchte gerne
nachfragen.
War Ihre persönliche Bilanz also desaströs?
Nein, meine persönliche Bilanz war von großem Engagement und inhaltlicher Auseinandersetzung mit den
Leistungen des SPD-geführten Senats geprägt.
({0})
Interessant ist es auch, sich das in der letzten Woche vorgestellte Monitoring „Soziale Stadtentwicklung 2010“
anzuschauen. Die Zahlen belegen: Wo die Linkspartei
Regierungsverantwortung trägt, werden die Menschen
arm und krank.
Unsere Hauptstadt, meine Damen und Herren, ist eine
tolle Hauptstadt. Sie entwickelt Strahlkraft, sodass Menschen aus aller Welt sie besuchen. Aber die Menschen,
die in Berlin leben, werden durch Ihre Politik ärmer und
ärmer. Wir hatten heute die Schlagzeile in der Berliner
Morgenpost, dass Berlin auch die Hauptstadt der GeringStefanie Vogelsang
verdienerhaushalte ist. In Berlin leben über 600 000
Menschen von Transferleistungen. Das ist auch das Ergebnis Ihrer Politik.
({1})
Frau Kollegin Vogelsang, jetzt muss ich Sie noch einmal unterbrechen, weil die Frau Kollegin Graf noch eine
Zwischenfrage stellen möchte.
Bitte schön. Aber danach bitte keine Fragen mehr. Ist
das okay?
Sie entscheiden.
Frau Kollegin Vogelsang, wenn Sie die segensreiche
Einrichtung „Soziale Stadt“ so loben und sagen, dass sie
so wichtig ist, können Sie mir dann erklären, warum die
jetzige Bundesregierung die Mittel für das Programm
„Soziale Stadt“ gekürzt hat?
({0})
Ich bin sehr froh, Frau Kollegin, dass der nächste Teil
meiner Rede nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Als Antwort möchte ich Ihnen gerne die Position der
Linksfraktion dazu nennen. Die Linke sagt nämlich, dass
durch die Maßnahme „Soziale Stadt“ in einzelnen Bereichen eine Aufwertung von Quartieren stattgefunden
hätte und dass es zu Gentrifizierung gekommen wäre.
Sie fragt, wie die Bundesregierung die Probleme der
Gentrifizierung in einzelnen Stadtteilen von großen Ballungsräumen lösen will. Schließlich hätte der Bund diese
mit seinem Programm „Soziale Stadt“ verursacht.
({0})
Ich bin noch nicht allzu lange Mitglied des Deutschen
Bundestags. Seit etwas mehr als einem Jahr höre ich mir
hier Ihre Anträge und Ihre Ideologien immer wieder an.
Dort, wo Sie regieren und Verantwortung tragen,
herrscht aber organisierte Verantwortungslosigkeit.
({1})
Mit Blick auf Ihre Leistungen für die Berlinerinnen und
Berliner würde ich mich an Ihrer Stelle eher schämen als
lachen.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Liebich das Wort.
({0})
- Herr Kollege Liebich, die Kurzintervention erfolgt
vom Platz aus.
Das ist das Problem, wenn man so lange im Berliner
Abgeordnetenhaus war. Das passiert mir immer wieder,
weil die Kurzinterventionen dort vom Rednerpult aus erfolgen.
Weil ich so lange im Berliner Abgeordnetenhaus war
- 15 Jahre; davon 7 Jahre in der Regierung und davon
wiederum lange Zeit als Fraktionsvorsitzender -, kenne
ich die Berliner Politik natürlich gut. Ich kenne auch die
Arbeit von Frau Vogelsang. Ich kenne da bessere und
schlechtere Beispiele - je nach politischer Bewertung.
Ich will jetzt aber etwas zu den Gruselgeschichten sagen,
die Sie hier über Berlin erzählen, nicht nur etwas zu Ihnen.
Erstens zum Programm „Soziale Stadt“. Die Linkspartei und die SPD, die zusammen in Berlin regieren,
halten die Kürzungen bei dem Programm „Soziale
Stadt“ für falsch und haben deshalb einen Antrag im
Bundesrat eingebracht, die Kürzungen zurückzunehmen.
Dem hat der Bundesrat zugestimmt. Das heißt, der Bundesrat ist auf der gleichen Seite wie das Land Berlin und
die Linkspartei. Sie folgen nur nicht den Vorschlägen,
die der Bundesrat unterbreitet.
({0})
Zweitens. Bei Ihnen beginnt die Berliner Gruselgeschichte immer im Jahr 2002. Was Sie dabei ausblenden
ist der Grund, aus dem die Linkspartei - damals noch
PDS - in Berlin in die Regierung gekommen ist. In einer
Stadt, die zu zwei Dritteln aus Westberlin besteht und in
der früher Eberhard Diepgen unangefochten regiert hat,
hat man ja nicht unbedingt erwartet, dass ausgerechnet
die PDS regiert.
Da müssten Sie sich einmal selbst befragen. Es ist die
CDU gewesen, die zusammen mit der SPD in dieser
Stadt einen Schuldenberg von 50 Milliarden Euro angehäuft hat. 50 Milliarden Euro!
({1})
Dann sind wir in die Regierung gekommen. Es stimmt,
dass wir in dieser Stadt eine Menge Entscheidungen getroffen haben, die sehr schmerzhaft waren. Darüber gab
es auch durchaus Auseinandersetzungen.
Aber wissen Sie, was bei genau dem Haushalt passiert
ist, auf den Sie Bezug genommen haben, in dem wir das
Blindengeld übrigens nicht gestrichen haben, sondern
das sehr breit gefächerte Geld für Behinderte zwar in der
Breite, aber - zugegeben - in der Höhe nicht ganz erhalten haben? In Berlin hatten wir nämlich, wie es in Berlin
oft der Fall ist, von allem das Höchste: die höchsten Gel9794
der, die meisten Betroffenengruppen. Wir mussten diese
Gelder reduzieren - eine schmerzhafte Entscheidung.
Wir haben diesen Haushalt beschlossen. Was hat Ihre
Partei gemacht? Sie, die FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben gegen diesen Haushalt geklagt und gesagt,
wir hätten zu wenig gespart und wir sollten noch mehr
sparen. Das war Ihre Position.
({2})
Weil Sie über Gesundheitspolitik gesprochen haben,
noch ein Drittes. Als wir in Berlin an die Regierung gekommen sind, waren die Privatisierungspläne für den
großen Berliner Krankenhauskonzern Vivantes fertig.
Vivantes war von der Rechtsform her bereits umgewandelt und stand kurz vor der Privatisierung. Finanziell war
der Konzern natürlich am Boden. SPD und Linkspartei
- damals hieß sie noch PDS - haben sich entschieden,
den größten Krankenhauskonzern, den es deutschlandweit gibt, nicht zu privatisieren, sondern in öffentlicher
Hand zu behalten.
({3})
Das haben wir durchgesetzt. Das ist bis heute so. Heute
steht der Konzern gesund da. Deswegen: Wir machen in
Berlin eine gute Gesundheitspolitik. Ihre Partei steht in
aktuellen Umfragen in Berlin völlig zu Recht bei
17 Prozent,
Sie haben Ihre Redezeit ausgeschöpft, Herr Liebich.
- das bürgerliche Lager insgesamt bei 20 Prozent. Ich
halte Ihre Einlassung zur Berliner Politik für völlig abwegig.
({0})
Wollen Sie antworten, Frau Kollegin?
Ja, sehr gerne, Frau Präsidentin.
Bitte sehr.
Herr Liebich, ich habe fast damit gerechnet, dass Sie
nach meiner Rede eine Kurzintervention machen. Aber
Sie haben jetzt schon wieder so viele Fehlinformationen
breitgetreten, dass ich überhaupt nicht weiß, auf welche
ich in der kurzen Zeit reagieren soll.
Der Unternehmenskonzern Vivantes, gebildet aus vielen städtischen Kliniken in Berlin, hat eine private
Rechtsform bekommen. Es gab weder zu den Zeiten des
Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen noch danach die Absicht, dieses Krankenhaus zu verkaufen oder
sonstige Dinge damit zu machen.
({0})
Der Wohnungsverkauf und die Privatisierungspolitik
gehen von Ihrem Senat aus.
({1})
Ihr Senat hat Tausende von Wohnungen, auch in sozial
schwierigen Gebieten, auch in Gebieten, in denen Menschen wohnen, die arm sind, die einen schlechten Gesundheitszustand haben und denen man helfen müsste,
an Hedgefonds verkauft.
({2})
Aber jetzt stellen Sie sich hier hin, klagen über Gentrifizierung und beklagen sich noch dazu, dass Sie dafür Prügel bezogen haben.
Der Unternehmenskonzern Vivantes feiert in den
nächsten Tagen seinen zehnten Geburtstag. Dass dieser
Unternehmenskonzern gesund ist, sagen Sie. Ich sage
aber genau das Gegenteil. Das Land Berlin, das, wie alle
anderen Bundesländer auch, die Verpflichtung hätte, seinen landeseigenen Krankenhäusern Geld zur Verfügung
zu stellen, stellt die Investitionen hier fast auf null, sodass der Unternehmenskonzern Vivantes gezwungen ist,
sich auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
der Krankenschwestern und der Krankenpflegeschülerinnen zu sanieren. Da die benötigten Investitionen vom
Senat nicht getätigt werden, muss der Konzern gegensteuern. Das geschieht auf Kosten des Personals und am
Ende auf Kosten der Qualität der Pflege und der Versorgung kranker Menschen.
Über das Gesundheitssystem und über die Gesundheitssituation in Berlin, lieber Herr Liebich, können wir
beide lange diskutieren. Aber bevor Sie gegen mich auch
nur einen einzigen Punkt machen würden, würde ich Ihnen eher eine Kiste Champagner ausgeben.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
({0})
Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht hier nicht um Champagner. Es geht hier um Armut.
({0})
Wir alle hier im Hohen Hause sollten uns einig sein: Armut ist in diesem reichen Land eine Schande. Da wetten
wir nicht um Champagner.
({1})
Wir müssen feststellen, dass die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitsrisiken in unserem Land und
in unserer Gesellschaft etwas ist, was uns wirklich beschäftigen muss.
({2})
Wir wissen: Die Ungleichheiten nehmen zu.
({3})
Forschungen belegen: Die höhere Gefährdung unterer
Statusgruppen ergibt sich unter anderem aus deren geringer Teilhabe an Präventionsmaßnahmen, aus schlechterer Sanierung von kranken Zähnen, aus weniger häufigen Besuchen beim Facharzt und aus aufgrund von
Kostengründen vermiedenen Arztbesuchen. Wir haben
- übrigens unter Rot-Grün - im Jahre 1999 in § 20 SGB V
erstmals festgeschrieben, dass sozial bedingte ungleiche
Gesundheitschancen benannt werden und den Krankenkassen der Auftrag erteilt wird, durch ihre Leistungen
dazu beizutragen, solche Ungleichheiten zu vermindern.
({4})
Das war ein guter Schritt. Uns als Sozialdemokraten
geht dieser Schritt aber noch nicht weit genug. Zur Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit braucht es aus
unserer Sicht Weichenstellungen in den unterschiedlichsten Bereichen. Das ist wichtig, und darüber sind wir
uns hoffentlich einig - vielleicht Sie nicht. Der erste
Schritt ist eine Bürgerversicherung zur Bekämpfung einer Zweiklassenmedizin und zur Vermeidung einer Dreiklassenmedizin.
({5})
Wir wollen eine Garantie für die öffentliche Infrastruktur, die wohnortnahe, niedrigschwellige Gesundheitsversorgung und die Gesundheitsprävention. Wir
wollen den Zugang zu einer barrierefreien Bildung und
Betreuung für alle, auch zur Stärkung der Kompetenzen
und zum verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit. Wir wollen eine Gesundheitswirtschaft, die attraktive Beschäftigungsverhältnisse anbietet, und zwar
sozialversicherungspflichtige und von einem Mindestlohn geprägte Beschäftigungsverhältnisse. Wir wollen
natürlich auch Maßnahmen zur Überwindung der materiellen Armut und der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen gegen Ausgrenzung verschiedenster Personen- bzw. Bevölkerungsgruppen aufgrund von Alter, Geschlecht und
Bildungsstand, aufgrund ethnischer Zugehörigkeit, der
Muttersprache oder aufgrund des sozialen Status. Das
darf es in unserem Land nicht geben.
({6})
Jeder braucht den gleichen Zugang zu bezahlbarer
Bildung und zu bezahlbarer Gesundheit. Denn wir wissen: Armut, Bildung und Gesundheit lassen sich wie
Perlen auf eine Schnur ziehen und gehören damit zusammen. Wenn ich das eine Übel bekämpfe, muss ich die
beiden anderen Aspekte ebenfalls berücksichtigen.
Welchen Beitrag leistet nun Ihre Große Anfrage und
der Entschließungsantrag, um diesen Weichenstellungen
näherzukommen? Die Große Anfrage - da muss ich etwas Wasser in Ihren Wein gießen - ist eine Fleißarbeit,
bei der meines Erachtens am Ende jeglicher Zusammenhang mit den grundlegenden Strukturen der Ausgestaltung des Sozialstaates und des Gesundheitssystems verloren gegangen ist. Wer sich mit der Großen Anfrage
und mit der Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage näher beschäftigen will, versinkt in einem Meer
aus insgesamt 209 Fragen. Wir haben alle Fragen gelesen. Sie sind zum Teil mit einer Vielzahl von Spiegelstrichen versehen und wurden entsprechend beantwortet.
Das Thema der Anfrage verschwimmt im Ozean der
Differenzierungen und Details. Sowohl die Vorbemerkung zu den Fragestellungen als auch die Antwort der
Bundesregierung hinterlässt mehr Ratlosigkeit, als dass
sie die erwünschte Aufklärung schafft. Die vielfältigen,
ausufernden Aspekte, die in der Anfrage aufgelistet sind,
schrumpfen dann im Entschließungsantrag auf nur noch
zwei Forderungen zusammen.
({7})
Das, muss ich sagen, ist mir etwas zu dünn. Dadurch
misslingt im Entschließungsantrag eine logische Ableitung der Großen Anfrage. Es gelingt kein umfassender
Problemaufriss.
Unter Schwarz-Gelb wird die gesundheitliche Ungleichheit weiter zunehmen.
({8})
Die Politik der Bundesregierung wird mit ihren Ideen
von Kopfpauschale und Vorkasse eine Dreiklassenmedizin etablieren. Immer größeren Bevölkerungsgruppen
wird der Zugang zur medizinischen Versorgung und die
Teilhabe am medizinischen Fortschritt verwehrt werden.
Die Antworten der Bundesregierung auf diese Große
Anfrage sind wie gewöhnlich verteidigungspragmatische Mischungen: teils verschleiernd, teils beschönigend. Die meist benutzte Antwort lautet: „Darüber liegen keine Angaben vor.“
({9})
Was die Bundesregierung auf die Worte für Taten folgen lässt, belegt folgende Antwort - ich zitiere -:
Es gilt, die Chancen von Kindern aus niedrigen sozialen Schichten umfassend zu stärken. Die verstärkte Integration dieser Kinder in vorschulische
Angebote und ihre individuelle Förderung im
Schulsystem und im Freizeitbereich sind Herausforderungen, denen sich die Bundesregierung bereits stellt. Mit dem im Entwurf des Gesetzes zur
Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung
des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch angekündigten Bildungspaket für hilfebedürftige Kinder wird dazu ebenfalls ein Beitrag geleistet.
Wer auch nur ein bisschen Zeitung liest und mitbekommt, was im Vermittlungsausschuss zu dem passiert,
was das Bundesverfassungsgericht der Regierung aufgetragen hat, der muss schon sagen: Dort wird ein Missbrauch von Worten betrieben. Das hat nichts damit zu
tun, die Herausforderungen, die Sie selber formulieren,
anzunehmen. Ich muss sagen: Das ist mehr als peinlich.
Abschließend möchte ich gerne betonen, dass wir die
Grundbotschaft, die in der Großen Anfrage enthalten ist,
teilen. Gesundheitsrisiken und Krankheiten sind nicht
rein zufällig über die gesamte Gesellschaft verteilt, sondern verlaufen entlang der Grenzen sozialer Gruppierungen. Die Verhinderung von Krankheiten ist nicht nur abhängig vom medizinischen Bereich, sondern wird im
Wesentlichen auch durch die Lebenssituationen und Lebenslagen beeinflusst, in denen die Menschen lernen, arbeiten, leben. Die wichtigsten Einflussfaktoren auf die
Gesundheit finden sich außerhalb der traditionellen Gesundheitssysteme und werden von der Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmarktpolitik, der Finanzpolitik, der Sozialpolitik, der Regionalpolitik und allen anderen
Politiken beeinflusst und geprägt.
Deshalb: Dass Sie diesen breiten Ansatz von
209 Fragen auf zwei Forderungen „zusammenkneten“,
lässt sogar Wohlmeinende zu der Beurteilung kommen,
dass die Große Anfrage eher eine Praktikumsarbeit ist
und die Fraktion mit gleichlautendem Entschließungsantrag nur Routineaussagen von sich gibt.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Deshalb möchte ich wenigstens etwas versöhnlich
schließen.
Auf die Frage 4 der Linken zu den Thesen von
Wilkinson nimmt die Bundesregierung nicht Stellung.
Wilkinson und Pricket haben in ihrer Untersuchung mit
Datenmaterial aus vielen Ländern nachgewiesen, wie
wachsende Ungleichheit schadet. Die Eindeutigkeit dieses Befundes ist beeindruckend.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Sie sagen und belegen: In
ungerechten Gesellschaften ist die Selbstmordrate höher,
ist die Depressionsrate höher, ist die Kriminalitätsrate
höher usw. Egal wie reich die Gesellschaft insgesamt ist:
Frau Kollegin, die Ankündigung, dass Sie zum
Schluss kommen, reicht nicht.
Durch Ungleichheit werden Ungerechtigkeit, ungerechte Lebensverhältnisse und weit auseinanderliegende
Lebenssituationen produziert.
Frau Kollegin, ich bitte Sie wirklich, jetzt zum
Schluss zu kommen.
Deshalb sage ich zum Schluss: Machen Sie die Gesellschaft gerechter. Das ist kostengünstiger, hilft allen
und macht die Gesellschaft gesünder.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Große Anfrage der Linken zum
Thema „Gesundheitliche Ungleichheit im europäischen
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ gibt uns die
Möglichkeit, über die Faktoren zu sprechen, die Einfluss
auf unsere Gesundheit haben. Auf der einen Seite sind
die genetischen Faktoren zu nennen und auf der anderen
Seite das Gesundheitsverhalten jedes einzelnen Menschen. Letzteres ist auch abhängig von der Bildung und
der Stellung in der Arbeitswelt.
({0})
Auf den ersten Punkt, die genetischen Faktoren, hat
der Mensch nur sehr geringe Einflussmöglichkeiten. Ich
möchte der Diskussion in diesem Hohen Hause nicht
vorgreifen. Wir werden uns noch mit der Präimplantationsdiagnostik auseinandersetzen. Das wird eine Möglichkeit sein, diesen Faktor mit zu beeinflussen.
({1})
Für den zweiten Punkt, das Gesundheitsverhalten, das
von Bildung und Arbeit abhängig ist, tut die Bundesregierung, tut unsere Koalition sehr viel.
({2})
Im Bildungsbereich werden wir 12 Milliarden Euro ausgeben. 12 Milliarden Euro sollen in die Hochschulen
investiert werden. Im Bildungsbereich wird es keine
Kürzungen geben. In allen anderen Etats müssen wir
einsparen. Die Weltwirtschaftskrise zwingt uns dazu.
Aber im Bildungsbereich wird es nicht dazu kommen.
Auch im Zuge der Hartz-IV-Reformen wird ein Bildungspaket auf den Weg gebracht werden, das besonders
den Kindern zugutekommt.
Auch was die Arbeitsplätze anbetrifft - ein Arbeitsplatz ist wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen -,
bin ich froh, dass sich die Arbeitsmarktzahlen sehr gut
gestalten. Nur noch 3,5 Millionen Menschen sind ohne
Job. Diese Zahl kann sich sehen lassen. Das ist der niedrigste Stand der Arbeitslosenzahlen seit langer Zeit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gerne.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Ackermann, ich habe eine Nachfrage. Wir reden heute
über Armut und Gesundheit. Können Sie uns bitte noch
einmal auseinandersetzen, wie Sie mit der PID das Problem Armut angehen wollen? Das ging so schnell und
kam sehr lasch daher. Haben Sie eine besondere Vorstellung davon, wie Sie das machen wollen?
Sehr gerne, Herr Kollege Terpe. Ich gehe auf die Fragen der Fraktion Die Linke und auf die Antworten der
Bundesregierung auf die Fragen ein. Die Fragen waren,
was unsere Gesundheit beeinflusst und wo es zu Ungleichheiten in der Gesundheit kommt. Dabei muss man
auch über die Faktoren sprechen, die die Gesundheit der
Menschen beeinflussen.
Diese Faktoren - das geht auch aus der Antwort der
Bundesregierung hervor - sind zweierlei. Der erste
Faktor - dafür kann der Mensch nichts - sind die genetischen Bedingungen. Der andere Faktor, der zu gesundheitlicher Ungleichheit führt, ist das Gesundheitsverhalten jedes einzelnen Menschen. Ich wollte auf den ersten
Faktor, weshalb es zu Krankheiten kommen kann, nur
sehr bedingt eingehen, weil wir die Diskussion darüber
in diesem Hohen Hause noch führen werden.
Die genetischen Faktoren, die in uns angelegt sind
und zu Erkrankungen führen können, kann der Mensch
nur sehr bedingt beeinflussen. Wann eine Erbkrankheit
auftritt oder nicht, kann man durch Früherkennungsuntersuchungen herausfinden. Auch die Präimplantationsdiagnostik - ({0})
Der Kollege Ackermann hat jetzt das Wort.
Ich wollte der Diskussion nicht vorgreifen, Herr Kollege Terpe. Ich wollte nur auf Ihre Frage antworten.
Stichwort Arbeitsplätze: Ob jemand einen Job hat, ist
wichtig für das gesundheitliche Wohlergehen. Deshalb
bin ich froh, dass wir eine gute wirtschaftliche Entwicklung und niedrige Arbeitslosenzahlen haben. Wir lassen
auch diejenigen nicht im Stich, die noch ohne Arbeit
sind.
Die Fragen der Linksfraktion, die suggerieren, dass
wir die Arbeitslosen im Stich lassen, sind falsch und
nicht hinnehmbar.
({0})
Der Staat unterstützt jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und auch denjenigen, der in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihm zusammenlebt.
Ich möchte das kurz aufzählen. Er unterstützt den
Menschen bei der Ernährung, bei der Kleidung, bei der
Körperpflege, beim Hausrat, bei Energie, bei der Heizung, er ermöglicht ihm Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, und er fördert die berufliche Eingliederung. Unser Ziel ist es, die Teilhabe dieser Menschen zu
verbessern und sie aus der Abhängigkeit von staatlicher
Fürsorge herauszuholen. Summa summarum: Unser
Staat hat die Schwachen im Blick. Er gibt Hilfe und Unterstützung in großem Umfang. Wir sind an einem Punkt
angelangt, wo wir auch diejenigen nicht aus dem Blick
verlieren dürfen, die das alles erwirtschaften. Das gehört
zur Gerechtigkeit dazu.
Zum Gesundheitswesen im Speziellen: Wenn wir von
guten Gesundheitschancen für alle Menschen sprechen,
müssen wir die Finanzierung und die Vorsorge im Auge
haben. Wir haben die Herausforderung des demografischen Wandels und die Herausforderung des medizinisch-technischen Fortschritts zu bewältigen. SchwarzGelb hat mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial
ausgewogenen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung einen Beitrag dazu geleistet. Was die Vorsorge betrifft: Jeder Einzelne ist jetzt gefordert, durch
sportliche Aktivitäten und durch gesunde Ernährung zu
seiner Gesunderhaltung beizutragen. In einigen Bereichen ist noch Motivation und Aufklärung wichtig und
nötig, und ich bin froh, dass das Gesundheitsministerium
im ganz konkreten Fall mit den Betrieben vor Ort Prävention und Aufklärung betreibt.
({1})
Wenn man über soziale Ungleichheit oder Unterschiede im Gesundheitswesen spricht, muss man auch
ansprechen, dass es einen unterschiedlichen Zugang zu
medizinischer Versorgung gibt.
Kollege Ackermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?
Aber bitte.
Ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass ich
dabeibleibe, dass wir maximal zwei Fragen in jedem Redebeitrag zulassen, damit wir die Debattenzeit nicht verdoppeln.
Jetzt haben Sie es provoziert, Herr Ackermann. Sie
sprachen vom BMG, vom Bundesministerium für Gesundheit, das Angaben gemacht hat, und es fiel das
Stichwort Prävention. Gestern gab es eine öffentliche
Anhörung der Kinderkommission über Prävention und
gesundes Aufwachsen von Kindern, bei der gerade die
Bezüge zur sozialen Struktur in den Familien hergestellt
wurden. Dort waren etliche Sachverständige. Wir hatten
tollerweise auch ein Schreiben unseres Bundesgesundheitsministers, des Herrn Rösler, in dem er zu dem fraktionsübergreifenden Antrag von 2002, in dem Präventivmaßnahmen im Bereich der Pädiatrie gefordert wurden,
sagte: Es ist nichts weiter erforderlich als das, was bis
jetzt gelaufen ist. Gerade auch im Hinblick auf den demografischen Wandel und die sinkenden Kinderzahlen
müssen wir im Bereich der Pädiatrie und Prävention
nichts machen. - Alle Sachverständigen haben gesagt,
das ist definitiv falsch. Einer hat sich nach der Sitzung
sogar bereit erklärt, das Wörtchen „Lüge“ zu verwenden.
Da frage ich mich natürlich: Wie können Sie sich hinstellen und solche Aussagen über das Gesundheitsministerium machen? Was hat man von solchen Aussagen zu
halten? Ist es ähnlich wie beim Verteidigungsministerium? Wird hier das Parlament wieder falsch informiert?
Jedenfalls was die Prävention und das gesunde Aufwachsen von Kindern betrifft, haben dieser Gesundheitsminister und dieses Gesundheitsministerium nach der
gestrigen Anhörung nach meiner vollen Überzeugung
und der der übrigen Mitglieder der Kinderkommission
- davon muss ich ausgehen - versagt.
({0})
Herr Kollege Wunderlich, Ihre Frage macht unsere
unterschiedliche Weltanschauung deutlich.
({0})
Gerade auch im Zusammenhang mit der Prävention bei
Kindern ist es meine Auffassung, dass man die Verantwortung der Eltern nicht außen vor lassen kann. Man
kann nicht erlernen, wie die gesunde Lebensweise eines
Kindes aussieht, indem man es in staatliche Hände gibt.
Die Eltern haben auch eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder. Sie müssen ihnen Vorbild sein. Sie müssen ihnen in
den Kindergarten und in die Schule ein gutes Pausenbrot
mitgeben.
({1})
Ich möchte nicht, dass das vom Staat übernommen wird.
Jede Familie hat ihre Fürsorgepflicht.
Die Maßnahmen, die das Ministerium im Bereich der
Prävention ergreift und die ich angesprochen habe, sind
motivierende und sehr zielgenaue Maßnahmen. Diese
werden auch mit den Betrieben vor Ort ergriffen, weil
natürlich auch die Arbeitgeber ein Interesse daran haben,
dass sich die Arbeitnehmer gesund erhalten, damit der
Betrieb weiterläuft. Es handelt sich um motivierende
und informative Maßnahmen, wie sich der einzelne
Mensch gesund ernähren und wie er mit Sport seine eigene Lebensweise so gestalten kann, dass er gesund
bleibt.
({2})
Der Unterschied ist, dass wir das dem Individuum überlassen wollen. Sie wollen es dem Kollektiv überlassen.
Das sind die Unterschiede zwischen uns beiden.
({3})
Unterschiede bestehen in der medizinischen Versorgung - dies habe ich gesagt - zwischen Stadt und Land.
Dieses Problem wollen wir angehen. Wir wollen ein Versorgungsgesetz auf den Weg bringen, das Ärzte- und
Fachkräftemangel auch in ländlichen Regionen bekämpft.
In den Vorbemerkungen der Großen Anfrage der Linken stehen einige Dinge, über die ich nur den Kopf
schütteln kann. Dort ist zu lesen, dass sich seit fast einem halben Jahrhundert auf dem Gebiet der gesundheitlichen Ungleichheit nichts verbessert habe. Das ist
schlicht falsch. Das Robert-Koch-Institut hat veröffentlicht, dass sich die Lebenserwartung verbessert hat. So
musste ein ostdeutscher Mann 1990 noch 3,2 Jahre früher sterben als ein westdeutscher, und eine ostdeutsche
Frau ist 1990 2,3 Jahre früher gestorben als eine westdeutsche. Das hat sich verbessert. Ich bin dankbar dafür,
dass sich auf diesem Gebiet etwas getan hat.
({4})
Die Hauptursache für die gesundheitliche Ungleichheit, für die unterschiedliche Entwicklung in den Einkommen, in den Lebensbedingungen und in der Umwelt
- hier ist Berlin angesprochen worden - ist ja wohl die
Berliner Mauer. Ihre Politik der Unfreiheit führte zu Unterschieden, die Sie heute beklagen.
({5})
Insofern, meine Damen und Herren von den Linken,
stellen Sie Fragen zu Problemen, die wir ohne Sie gar
nicht hätten.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Klein-Schmeink für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsidentin! Diese halbe Stunde war eigentlich eine verschenkte halbe Stunde, weil man darüber hätte reden
können: Was tun wir alle gemeinsam hier im Saal gegen
Armut und gegen den engen Zusammenhang zwischen
Armut und Gesundheitschancen? Wie gehen wie vor?
Was machen wir in der Prävention? Geben wir den
Kommunen ausreichend Mittel, um in den Kitas, in den
Schulen und in den Altenheimen präventiv tätig zu werden? Wie schaffen wir es, eine vernünftige betriebliche
Gesundheitsförderung hinzubekommen? Wie schaffen
wir es, Arbeitslose zu erreichen, die heute von präventiven Maßnahmen so gut wie gar nicht erreicht werden?
Das sind Fragen, denen wir uns hätten stellen können.
({0})
Wir hätten uns weiterhin die Frage stellen können:
Was machen wir eigentlich mit den Ursachen von Armut
insgesamt? In den nächsten Wochen haben Sie einen wesentlichen Schlüssel für die Bekämpfung von Armut in
der Hand, und zwar bei den Verhandlungen über den Regelsatz und bei den Verhandlungen über einen Mindestlohn sowie eine ausreichende Bildungsausstattung in den
Kommunen. Das sind die eigentlichen Fragen.
Was haben wir hier erlebt? Ich weiß gar nicht, was die
Leute oben auf den Rängen denken. Ist überhaupt über
Armut und Gesundheit geredet worden? Ich habe gehört,
dass es um eine Sozialneiddebatte, um eine Kommunismusdebatte geht. Insgesamt hatten wir eine Debatte über
Berliner Verhältnisse. Aber eigentlich geht es doch darum, die Notwendigkeiten zu erkennen, die uns mittlerweile seit Jahrzehnten durch verschiedenste Gesundheitsberichte, durch Gutachten immer wieder deutlich
vor Augen geführt werden und bei denen wir bislang zu
keinen vernünftigen Lösungen gekommen sind. Das ist
die Wahrheit, mit der wir uns als Fachpolitik endlich einmal hätten auseinandersetzen müssen. Diese Chance
wurde wieder einmal massiv vertan.
({1})
Und warum? Weil Sie sich vonseiten der Regierungskoalition letztendlich nicht darüber einig sind, mit welchen Verfahren und welchen Mitteln Sie Prävention voranbringen wollen. Es stellt sich die Frage, ob Sie sich
überhaupt eingestehen wollen, dass es bei der Gesundheit so etwas wie eine soziale Benachteiligung gibt, oder
ob es nicht mehr darum geht, dass jeder eigenverantwortlich sein Leben gestalten muss. Das sind die Fragen,
die Sie bewegen.
({2})
Die anderen wiederum haben eine weitere Chance
vertan. Natürlich müssen wir über die Praxisgebühr reden. Natürlich müssen wir über Zuzahlungen reden.
Aber dafür haben Sie einen Antrag laufen. Dafür ist
noch eine Anhörung im Spiel. Warum inszenieren Sie
hier eine Entscheidung, durch die die fachliche Auseinandersetzung vorweggenommen wird? Ich kann das
nicht nachvollziehen.
({3})
Jetzt kommen wir zum eigentlichen Punkt. Was werden Sie im nächsten halben Jahr tun? Wie werden Sie die
Prävention voranbringen? Bisher habe ich noch nichts
außer lauen Worten über Vorhaben gehört. Sie sagen,
dass Sie das, was da ist, auf den Prüfstand stellen und
schauen, was Sie daraus machen.
({4})
Was wir eigentlich brauchen, ist eine wirkliche Präventionsoffensive gemeinsam mit Bund, Ländern, Kommunen, mit den Betrieben, mit den Krankenkassen, ein
Konzept, aus dem hervorgeht, wie Sie die Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen zustande bringen wollen.
Außerdem müssen Sie mit uns eine Auseinandersetzung
darüber führen, ob es ein Präventionsgesetz braucht. Wir
sind jederzeit bereit, uns anzuhören, welche Vorschläge
Sie an den Tag legen, um das Ganze wirklich voranzubringen. Wir glauben, ohne ein Präventionsgesetz werden wir das nicht schaffen.
({5})
Ich bin gespannt, was Sie uns in den nächsten Wochen und Monaten vorlegen. Herr Singhammer, Sie sind
der Einzige, der bislang vorangegangen ist und immerhin eingestanden hat, dass es so etwas wie eine gesundheitliche Unterversorgung von sozial Benachteiligten
gibt. Ich hoffe, dass Sie in den beiden Regierungsfraktionen als Trendsetter und Meinungsbildner wirken können.
({6})
Wir werden die Meinungsbildung jedenfalls massiv unterstützen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4556. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Eckhard Pols,
Vizepräsidentin Petra Pau
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam
Gruß, Florian Bernschneider, Dr. Stefan Ruppert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Programme zur Bekämpfung von politischem
Extremismus weiterentwickeln und stärken
- Drucksache 17/4432 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke
Rix, Daniela Kolbe ({1}), Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Demokratieoffensive gegen Menschenfeindlichkeit - Zivilgesellschaftliche Arbeit gegen
Rechtsextremismus nachhaltig unterstützen
- Drucksache 17/3867 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dorothee Bär für die Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selbstverständlich begrüßen wir es als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages, wenn sich Menschen politisch engagieren,
und zwar völlig unabhängig davon, ob sie sich in Initiativen oder Parteien engagieren, ob sie in der Mitte der Gesellschaft stehen bzw. rechts oder links von der Mitte.
Das gilt natürlich nur dann, wenn diese Initiativen, diese
Parteien auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, sprich: dem demokratisch
legitimierten Spektrum angehören. Für uns macht es
nämlich schon einen großen Unterschied - den Unterschied zum SPD-Antrag werde ich herausarbeiten -, ob
jemand politisch rechts oder links steht. Für uns ist das,
offensichtlich anders als für die Kolleginnen und Kollegen der SPD, nicht das Gleiche. Etwas vollkommen anderes ist es natürlich, politisch rechts- oder linksextremistisch zu sein.
Wir sind in unserem demokratischen Verfassungsstaat
Demokraten genug, um Links- und Rechtsextremisten
abzulehnen. Diese sind nicht bereit, ihre politischen Auffassungen im demokratischen Ringen mit Andersdenkenden auszutauschen. Auch wir wissen - auch das erkennt die christlich-liberale Koalition an -, dass diese
Art der Auseinandersetzung immer mehr zunimmt. Das
belegt natürlich auch die wachsende Zahl politisch motivierter Gewalttaten. Wir sind aufgerufen, uns dieses Problems anzunehmen. Darüber hinaus werden wir das
Ganze mit den Programmen, die wir schon ins Leben gerufen haben, fortführen.
({0})
Deswegen haben wir einen Antrag vorgelegt, und wir
haben für die Bekämpfung von politischem Extremismus sehr viel Geld in die Hand genommen. Im Haushalt
unseres Familienministeriums sind insgesamt 29 Millionen Euro für Präventionsprogramme zur Verfügung
gestellt. Es gelingt natürlich nicht allein mit einer Maßnahme, den Extremismus zu bekämpfen, weil wir ein
Zusammenspiel verschiedener Maßnahmen brauchen.
Ich möchte das an drei Punkten festmachen. Punkt eins:
Jugend- und Präventionsarbeit. Punkt zwei: Förderung
des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Punkt drei: Die
konsequente Verfolgung politisch motivierter Straftaten.
Wir haben das bereits in unserem Koalitionsvertrag festgehalten.
Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP haben
wir die Entwicklung und Stärkung von Toleranz und Demokratieverständnis als unser zentrales Ziel der Kinderund Jugendpolitik festgeschrieben. Wir wollen Unterstützungsprogramme etablieren. Die sollen kontinuierlich evaluiert werden und besonders Kinder und Jugendliche in ihrem Engagement für Vielfalt, Toleranz und
Demokratie, Menschenwürde und Gewaltfreiheit motivieren - und damit natürlich auch stark gemacht werden.
Wir beziehen das Ganze nicht nur auf Rechtsextremismus und Linksextremismus, sondern wir beziehen es
natürlich auch auf religiös motivierten islamistischen
Extremismus. Die Bilanz der Ende 2010 ausgelaufenen
Programme unseres Ministeriums „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ und „kompetent. für Demokratie - Beratungsnetzwerke gegen
Rechtsextremismus“ kann sich wirklich sehen lassen. In
den letzten drei Jahren - von 2007 an - haben wir über
90 lokale Aktionspläne mit fast 5 000 Einzelprojekten
unterstützt. Damit haben wir weit über 2 Millionen Menschen erreicht.
({1})
Wir haben uns jetzt aber entschlossen, diese Programme unter dem Dach „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ zu einem Programm zusammenzuführen.
Für dieses Programm haben wir in den Haushalt 2011
24 Millionen Euro eingestellt.
({2})
Die bisherigen Aktivitäten zur Extremismusprävention
des Familienministeriums haben wir aber auf die Bereiche Linksextremismus und islamistischer Extremismus
ausgeweitet.
({3})
Diese Neuausrichtung und Bereitstellung von zusätzlich
5 Millionen Euro begrüßen wir als CDU/CSU und FDP
ausdrücklich.
({4})
Ich komme jetzt zu den großen Unterschieden. Diese
Koalition ist eben nicht auf einem politischen Auge
blind.
({5})
Wir sehen, dass der Demokratie Gefahr von vielen Seiten droht. Wenn ich mir den Antrag der Kolleginnen und
Kollegen der SPD anschaue, sehe ich, dass er sich allein
der Bekämpfung des Rechtsextremismus widmet und
unser Vorgehen diskreditiert.
({6})
Dazu muss man ganz einfach sagen: Sie haben es nicht
kapiert.
({7})
Der Antrag der SPD ist unsäglich. Die Linke hat hier den
Begriff des Kommunismus wieder neu in die Debatte gebracht. Wir wollen eben, dass unser demokratischer Verfassungsstaat durch Demokraten geschützt wird. Extremismus kann nicht mit Extremisten bekämpft werden.
({8})
Aber leider Gottes sind auch einige da, die eher unter
dieses Spektrum fallen.
({9})
- Ja, ich weiß, dass die sich bei Ihrer Strategie freuen.
Wir aber bestärken die Bundesregierung mit unserem
Antrag, bei ihrer Strategie zu bleiben und konsequent
dafür Sorge zu tragen, dass sowohl die Träger von Maßnahmen als auch die Partner finanziell unterstützt werden.
Ich wundere mich schon: Wir werden nächste Sizungswoche wieder an derselben Stelle zu demselben
Thema sprechen, weil die Grünen und auch die SPD, soweit ich weiß, nächste Woche Anträge vorlegen werden,
({10})
etwa „Demokratieinitiative nicht verdächtigen, sondern
fördern - Bestätigungserklärung im Bundesprogramm
‚Toleranz fördern - Kompetenz stärken‘ streichen“,
({11})
weil sie der Meinung sind, man müsse sich nicht zu unserem Grundgesetz bekennen.
({12})
Das ist natürlich wirklich unsäglich. Wir werden das
nächste Woche erneut diskutieren. Niemand hat Geld
vom Steuerzahler verdient, wenn er sagt, dass er nicht
auf dem Boden des Grundgesetzes steht, und wenn er
sich nicht zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt.
({13})
Sie haben es einfach nicht verstanden, wenn Sie sagen:
Da werden Leute unter Generalverdacht gestellt. - Wenn
unsere Minister hier ihren Eid schwören und auch sagen,
dass sie ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes
widmen werden, dass sie das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren wollen, dann wird auch keiner
sagen: Warum sollen die das in Zukunft denn machen?
({14})
Deswegen muss man ganz ehrlich feststellen, dass sie im
Idealfall am Schluss sagen: So wahr mir Gott helfe. Und
deswegen - ({15})
Tut mir leid, Sie müssen zum Schluss kommen, da Sie
leider die Redezeitverlängerung mit Unterstützung des
Kollegen Beck nicht mehr in Anspruch nehmen können.
Sie sind schon über die Zeit.
Der macht dann bestimmt eine Kurzintervention,
dann werde ich ihm antworten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Genau. - Das Wort zu einer Kurzintervention hat der
Kollege Beck.
Nur eine kurze Frage: Wenn Sie es für notwendig erachten, dass sich jeder, der Geld von Staat nimmt, zum
Grundgesetz bekennen muss, verlangen Sie das dann
auch von den Zuwendungsempfängern des Bundes der
Vertriebenen und seiner Mitgliedsverbände? Dort gab es
in der Vergangenheit nämlich die einen oder anderen
Ausrutscher. Das wäre dann nur konsequent.
({0})
Frau Bär, Sie haben das Wort.
Ich hätte nicht gedacht, dass wir schon Fasching haben. Diese Frage muss gar nicht beantwortet werden,
weil die Antwort darauf eine Selbstverständlichkeit ist.
Es ist eine Frechheit, so etwas überhaupt infrage zu stellen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rix für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fahrten nach Auschwitz, Zeitzeugengespräche mit
Schülerinnen und Schülern, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen über Verfolgte im Dritten Reich, Konzerte
und Festivals gegen Rechtsextremismus, Vorträge, Demokratiecamps usw., all das sind Aktionen und Projekte,
die aus der Zivilgesellschaft heraus von Bürgerinnen und
Bürgern zum Schutz der Demokratie und zur Förderung
von Toleranz ins Leben gerufen werden. Kirchen, Gewerkschaften, Vereine, Verbände, Gruppeninitiativen
und Kommunen beteiligen sich an solchen Aktionen.
Wir, der Bundestag, und natürlich auch die Bundesregierung stellen dafür im Haushalt des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mittel zur Verfügung. Den Menschen ist es wichtig, dass sie für ihr
Engagement Anerkennung bekommen und gewürdigt
werden. Deshalb an dieser Stelle ein Dankeschön an all
diejenigen in der Zivilgesellschaft, die solche Aktionen
durchführen.
({0})
Wir sollten diesen Menschen nicht nur am heutigen
Tag, an dem wir der Opfer des Naziregimes gedenken, in
dieser Debatte oder in unseren Sonntagsreden danken.
Unser Dank sollte sich auch anhand unserer politischen
Tätigkeiten bemerkbar machen. Die Verantwortung, die
wir aufgrund der Geschichte tragen - der Bundestagspräsident hat das heute deutlich gemacht -, tragen wir
als Bund und als Bundestag natürlich auch. Deshalb haben wir unter Rot-Grün, unter der Großen Koalition und
auch unter Schwarz-Gelb Mittel für Demokratie und Toleranz im Bundeshaushalt für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend bereitgestellt. Ich muss Ihnen sagen: Wir
waren positiv überrascht, dass Schwarz-Gelb zumindest
an der Summe nicht viel verändert hat und diese Gelder
auch weiterhin bereitstehen. Ich bin froh, dass wir in diesem Hause einen Konsens haben.
Über die Jahre haben sich aber die Programme und
die Ansprüche, die man an die Zivilgesellschaft hat, verändert. Deshalb werden wir die Programme Jahr für Jahr
neu gestalten. Es ist wichtig, dass wir das gemeinsam
mit der Zivilgesellschaft tun. Das ist bei der Ausarbeitung der neuen Programme leider nicht genügend getan
worden. Das kritisieren wir hier an dieser Stelle.
Im Laufe der Jahre ist auch klar geworden, wie sehr
wir Kontinuität brauchen. Das haben wir bereits 2008,
als wir uns um das Thema Antisemitismus gekümmert
haben, festgestellt. Wir brauchen Kontinuität in der Förderung. Das gilt auch für Projekte gegen Rechtsextremismus. Das ist eine dauerhafte Aufgabe. Deshalb sollten wir uns gemeinsam daranmachen, dies in eine
dauerhafte Finanzierung zu überführen, und den an den
Projekten Beteiligten nicht jedes Jahr Angst machen.
({1})
Das bedeutet natürlich auch, dass wir Projekte fördern. Wir dürfen ihnen nicht unterstellen, im Gegensatz
zu anderen Institutionen, denen wir Geld geben, nicht
auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Denn denjenigen, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen
und Projekte starten, das zu unterstellen, ist infam.
({2})
Einen letzten Satz noch: Wir diskutieren im Hinblick
auf die sogenannten Extremismusprogramme immer
wieder über die Unterschiede zwischen Links- und
Rechtsextremismus. Uns liegt jetzt ein Antrag der Sozialdemokraten vor, der sich mit dem Thema Rechtsextremismus, aber eben nicht mit dem Thema Linksextremismus beschäftigt. Einen solchen Antrag können
wir gerne jederzeit auch vorlegen.
({3})
Dies aber miteinander zu vermischen und zu sagen:
„Es sind quasi die gleichen Dinge, die wir mit den gleichen Mitteln bekämpfen können“, das geht auf keinen
Fall.
({4})
Rechtsextremismus ist eine menschenverachtende
Ideologie. Um dagegenzuhalten, brauchen wir einen
breiten zivilgesellschaftlichen Konsens. Wir brauchen
auch einen breiten Konsens in diesem Hause im Hinblick auf effektive Strukturen zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Bernschneider hat für die FDP das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute unter anderem über einen Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP,
der es Ihnen und uns als demokratische Fraktionen dieses Hauses ermöglicht, einem ganzheitlichen Ansatz im
Kampf gegen Extremismus in diesem Land zuzustimmen. Wenn ich „ganzheitlich“ sage, dann meine ich damit zunächst einmal, dass dieser Antrag die erste Initiative innerhalb der aktuellen Diskussion ist, mit der
ressortübergreifend versucht wird, die bestehenden Programme im Familien- und Innenministerium sowie im
Arbeits- und Sozialministerium bestmöglich aufeinander
abzustimmen
({0})
und Verbesserungspotenzial aufzuzeigen, um Reibungsverluste oder Doppelungen zu vermeiden und so die
bestmögliche Aufstellung gegen Extremismus zu erreichen. Allein das zeigt, wie ernst wir dieses Thema nehmen.
({1})
Wenn ich „ganzheitlich“ sage, meine ich aber auch,
dass wir uns allen Gefahren für unsere Demokratie entgegenstellen müssen. Es ist nicht einmal eine Woche her,
dass das Plenum des Deutschen Bundestages über die
Äußerungen der Parteivorsitzenden der Linken diskutiert
hat, die nach neuen Wegen zum Kommunismus sucht.
Wir alle - SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP - waren uns
einig, dass diese neuen Wege zum Kommunismus am
Ende immer zu Gewalt, Unterdrückung und weg von all
dem führen werden, was uns als Demokraten am Herzen
liegt.
({2})
Ich habe mich über die Einigkeit, die wir an dieser Stelle
erreichen konnten, gefreut. Deswegen bitte ich Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Grünen und SPD: Zeigen
Sie heute Mut und Verantwortung, indem Sie sagen, dass
das Handeln der Koalition, nämlich gegen die Gefahren
des Linksextremismus, aber eben auch des religiösen
Extremismus im Rahmen der Präventionsarbeit anzugehen, genau der richtige Weg ist.
({3})
Dass die Linke dem nicht zustimmen kann, kann ich gut
verstehen. Wenn es uns nämlich tatsächlich gelingt,
junge Menschen für Demokratie, Toleranz und Vielfalt
zu begeistern, dann sind sie eben weniger empfänglich
für die unbefleckte Utopie, die Ihre Parteivorsitzende zu
verkaufen versucht.
Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, verlieren Sie sich doch in dieser Frage bitte nicht in philosophischen Debatten, was wir mit Linksextremismus meinen, wo er anfängt und wo wir da die Grenze ziehen nach dem Motto „Können Sie das definieren, Herr
Bernschneider?“.
({4})
Ich hatte das Gefühl, dass wir uns am vergangenen
Freitag sehr einig darin waren, wo wir da die Grenze zu
ziehen haben.
({5})
Deswegen lade ich Sie ein: Lassen Sie uns gemeinsam
darüber sprechen, welche Initiativen und Programme wir
brauchen, um den Gefahren von Linksextremismus und
religiösem Extremismus bestmöglich zu begegnen.
Schauen Sie nicht länger weg, wenn Frau Lötzsch beim
kommunistischen Kaffeekränzchen sitzt und draußen
vor der Tür wehrlose Demonstranten zusammengeschlagen werden!
({6})
Ich sage aber auch: Nehmen Sie die Aufrufe von Islamisten bei YouTube genauso ernst wie rechte SchulhofCDs!
({7})
Am Ende möchte ich noch auf einen Punkt eingehen,
den wir in den Debatten über Prävention viel zu selten
ansprechen. Die Aussicht auf Arbeits- und Ausbildungsplätze und auf Wachstum, das am Ende auch sozialen
Aufstieg ermöglicht, ist ein weiteres gutes Mittel gegen
Extremismus.
({8})
Bildung, Arbeit und Ausbildung sind wichtige Voraussetzungen für Teilhabe in der Gesellschaft. Diese Teilhabe wirkt am Ende wie ein Anker in der Mitte unserer
Gesellschaft und ist damit ein gutes Mittel gegen Extremismus. Ganz gleich, von wem der aktuelle wirtschaftliche Aufschwung kommt, von Rot-Grün mit den mutigen
Arbeitsmarktreformen von Herrn Schröder, von denen
die SPD sowieso nichts mehr wissen will, von der Großen Koalition oder von uns: Wir als Fachpolitiker im Bereich Prävention können froh darüber sein; denn er ist
ein gutes Mittel in der Präventionsarbeit.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Korte für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es war wieder einmal dieselbe Platte; es wird langsam
ein bisschen eintönig.
({0})
Um eines klarzustellen: Die Verhältnisse infrage zu stellen und Armut und Reichtum zu thematisieren, ist dringend notwendig, aber kein Extremismus. So viel zu Ihrem Gelaber.
({1})
Zunächst will ich im Namen der Linksfraktion herzlich Dank sagen für die couragierte Arbeit der Projekte,
Vereine und Verbände, die hervorragend und unter großem persönlichem Einsatz für die Zivilgesellschaft streiten.
({2})
Heute liegen zwei Anträge vor: zum einen ein Antrag
der Koalitionsfraktionen, der eher ideologisch ausgerichtet ist,
({3})
und zum anderen ein Antrag der SPD-Fraktion, der die
Sache trifft und deswegen unsere volle Unterstützung erhalten wird.
({4})
Die Vermischung verschiedenster Programme und
Ansätze sowie eine von Ihnen geschaffene Misstrauenskultur sind falsch und im Übrigen auch wissenschaftlich
nicht haltbar.
({5})
Deswegen ein Ratschlag: Lesen ist sinnvoll!
({6})
Wenn man diese wissenschaftlichen Erhebungen von
Heitmeyer und anderen ernst nimmt, kann man feststellen, dass Rassismus, Antisemitismus und andere menschenfeindliche Strömungen nicht nur Phänomene am
Rand der Gesellschaft sind, sondern dass man sie ebenso
in der Mitte der Gesellschaft finden kann. Das ist das
Kernproblem. Deswegen hat Gesine Schwan natürlich
recht.
({7})
Ich darf sie zitieren:
Wie irreführend die Verwendung des Extremismusbegriffs ist, kann man u. a. an den neuesten empirischen Befunden zum Rechtsextremismus erkennen,
die diese antidemokratische Einstellung soziologisch eben nicht an den „extremen Rändern“ der
Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte vorgefunden
haben.
Das sollte uns doch umtreiben und nicht zu solchen ideologischen Spielchen führen.
({8})
Dazu will ich Folgendes sagen - das ist im Moment
Ihre Dauerplatte; eine andere haben Sie nicht mehr -: Es
ist in Ordnung, wenn Sie sich mit uns auseinandersetzen,
uns beschimpfen und uns gewisse Dinge unterstellen.
Sie setzen sich gern mit der Linkspartei auseinander.
({9})
Dafür gibt es ein paar Indizien. Das alles können Sie
gern tun. Das ist Demokratie. Da muss man halt durch.
Nutzen wird es Ihnen im Übrigen nichts. Es ist jedoch
nicht akzeptabel, dass Sie dieses Spielchen bei der Auseinandersetzung mit der Linken auf dem Rücken von
Projekten und Initiativen austragen; das geht nicht.
({10})
Deswegen freue ich mich darüber, dass heute - die Presseerklärung ist eben verschickt worden - die Sozialsenatorin des Landes Berlin, Carola Bluhm, Rechtsmittel gegen Ihre sogenannte Demokratieerklärung eingelegt hat.
Ich hoffe, sie wird erfolgreich sein.
({11})
Fassen wir zusammen: Man muss um eine Langfristigkeit der Projekte kämpfen und die Angestellten aus einer temporären Prekarität herausholen. Das wurde im
SPD-Antrag richtig aufgelistet. Das unterstützen wir.
Das ist eine ganz entscheidende Frage. Sorgen wir alle
gemeinsam dafür, dass nicht immer wieder am Beginn
eines neuen Jahres die Finanzierung infrage gestellt
wird! Gestatten Sie einen guten Hinweis, um die Zivilgesellschaft zu stärken: Verballern Sie das Geld nicht für
Junge-Union-Kaffeefahrten zu besetzten Häusern nach
Berlin! Das ist völlig sinnlos.
({12})
Eine Frage interessiert mich; vielleicht wird sie noch
beantwortet. Ich bin offen und nicht ideologisch wie Sie.
({13})
Wenn Sie empirische Befunde liefern, denke ich darüber
nach. Mich interessiert, wo Sie eigentlich Islamismus im
ländlichen Raum ausgemacht haben und wo Sie dort
Gelder aufwenden. Wenn ich das weiß, diskutiere ich
diese Fragen auch weiter mit Ihnen. Uns geht es hier
nicht um Ideologie wie Ihnen,
({14})
sondern uns geht es um eine engagierte Zivilgesellschaft.
Schönen Dank.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Lazar für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der beeindruckenden Gedenkstunde heute Morgen
habe ich gehofft, dass diese Diskussion auf einem anderen Niveau stattfindet. Ich beginne mit dem Positiven.
Schön ist, dass jetzt von allen Fraktionen in diesem
Hause Anträge zur Demokratiestärkung vorliegen. Ein
Vergleich zeigt, dass es durchaus gemeinsame Ansätze
gibt. Das ist positiv. Aber es gibt natürlich gravierende
Unterschiede; das zeigt die Diskussion. Sie sind bekannt.
Das Themenfeld ist wichtig und brisant. Ein geeintes
Vorgehen, auch im Parlament, wäre wünschenswert.
Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz und eine
freie Entfaltung der Persönlichkeit sollten in unserer Gesellschaft für alle gegeben sein. Dieses Ziel wird von allen hier selbstverständlich geteilt. Doch zu viele Menschen in unserem Land teilen dies nicht. Es ist nicht nur
so, dass die NPD und ihre Verbündeten in Landtagen
und Kommunalparlamenten vertreten sind und - wie die
Statistik zeigt - die rechte Gewalt auf hohem Niveau
bleibt, sondern es gibt auch Orte in unserem Land, in denen die Rechtsextremen das öffentliche Bild maßgeblich
prägen. Ein Beispiel ist das Dorf Jamel in MecklenburgVorpommern, in dem der Rechtsextremismus zum Alltag gehört. Dort lebt Sven Krüger, der zum NPD-Kader
gehört und mit seinen Kameraden versucht, das Dorf
aufzukaufen. Unerwünschte, die nicht ausziehen wollen,
werden terrorisiert. Derartige Zustände findet man zumeist in ländlichen und strukturschwachen Gegenden
vor.
Orte, in denen vermeintlich Linksextreme oder Islamisten das gesamte öffentliche Leben dominieren, kenne
ich nicht. Deshalb ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, dass die Koalition in ihrem Antrag Rechts- und
Linksextremismus in einem Atemzug nennt.
({0})
Immerhin gesteht sie in einem Halbsatz zu, dass „die
Mehrheit der extremistischen Kriminalität ihren Ursprung im ‚rechten‘ Milieu hat“. Doch leider geht sie
dem Problem nicht auf den Grund, sondern schwenkt
wieder zu altbekannten Extremismusformen über.
Es ist aber dringend notwendig, die Unterschiede zu
benennen. Sonst kommen praxisferne Konzepte dabei
heraus, und man stellt Verbündete unter Verdacht. Ein
Indiz dafür ist die heute schon zitierte sogenannte Extremismuserklärung, die Initiativen und Kommunen, die
Fördermittel von Bund und einigen Ländern haben wollen, unterzeichnen und so für sich und ihre Partner verbindlich versichern müssen, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen.
({1})
Wie macht man das? Ein kleiner Tipp der Ministerin
Schröder, den sie in der gestrigen Sitzung des Familienausschusses gab: Man soll seine Partner googeln. - Ich
finde das armselig.
({2})
Diese Klausel ist ein Misstrauensvotum gegen die Zivilgesellschaft und völlig unnötig. Das Bekenntnis zur
Demokratie ist nicht das Schlimme. Wenn schon eine
solche Erklärung unterzeichnet werden muss, dann sollen sich bitte auch andere - das hat der Kollege Beck
vorhin erwähnt -, zum Beispiel der Bund der Vertriebenen, zur Demokratie erklären. Es geht um das Misstrauen gegenüber den Initiativen, die auch noch ihre
Partner ausspionieren sollen. Das ist rechtlich fragwürdig und praktisch kaum umsetzbar.
Eine Blüte der Absurdität trieb das Verfahren in der
sächsischen Stadt Riesa, die Fördermittel beantragt hat
und sich jetzt zur Verfassung bekennen muss.
({3})
Der Riesaer Finanzbürgermeister zeigte sich zu Recht irritiert, weil er sich mit seiner Unterschrift automatisch
auch für die Grundgesetztreue der NPD-Stadträte verbürgen musste. Liebe Koalitionskolleginnen und -kollegen, das ist doch kontraproduktiv. Liebe Kollegen von
der Koalition, ein solches Verfahren ist eine Farce und
ist völlig an den Haaren herbeigezogen.
({4})
Bündnis 90/Die Grünen stehen auf der Seite der
Kommunen und der zivilgesellschaftlichen Initiativen,
die sich mutig und engagiert gegen Rassisten und Antisemiten stellen. Wir vertrauen diesen Akteuren und unterstützen sie. Wir freuen uns, dass sich in diesem Punkt
alle Oppositionsfraktionen einig sind. Eine solche Unterstützung würde ich mir auch von den Koalitionsfraktionen wünschen.
Über den Antrag der Grünen und den der Linksfraktion haben wir hier schon vor einigen Wochen diskutiert.
Heute reden wir nicht nur über den Koalitionsantrag,
sondern auch über den Antrag der SPD, den wir für unterstützenswert halten.
({5})
Erfolg können unsere Vorschläge allerdings nur haben,
wenn sie in eine gesamtgesellschaftliche Demokratieinitiative eingebunden sind. Dazu gehört, dass sich Demokratinnen und Demokraten nicht gegenseitig des
Extremismus verdächtigen, sondern vertrauensvoll zusammenwirken. Ich wünsche mir und hoffe gerade an
diesem Tag, dass wir in den Beratungen zu tragfähigen
Ergebnissen kommen.
Danke.
({6})
Der Kollege Pols hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2009
gab es insgesamt circa 25 000 politisch motivierte Straftaten in Deutschland. Das sind für uns 25 000 Gründe,
den Extremismus weiter zu bekämpfen. Nach wie vor
stellt der Rechtsextremismus eine große gesellschaftliche Bedrohung dar. Zwar ist das Personenpotenzial der
rechtsextremen Szene nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes zurückgegangen, aber deshalb dürfen wir
im Kampf gegen Rechtsradikale nicht nachlassen.
Wir haben im vergangenen Jahr die beiden Programme „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz
und Demokratie“ und „kompetent. für Demokratie - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ auslaufen
lassen. Wir haben - Frau Bär hat das schon gesagt 5 000 Einzelprojekte gefördert und weit über 2 Millionen Menschen damit erreicht. Im Abschlussbericht steht
sogar, dass hier von vielversprechenden Modellprojekten auszugehen ist. An dieser Stelle sage auch ich Dank
an alle Initiativen, die dazu ihren Beitrag geleistet haben.
({0})
Diesen guten Weg wollen wir fortsetzen. Wir als christlich-liberale Koalition wollen ab 2011 diese Programme
unter einem Dach - dem Bundesprogramm „Toleranz
fördern - Kompetenz stärken“ - weiterführen. Wir werden in diesem Jahr 24 Millionen Euro allein für den
Kampf gegen Rechtsextremismus zur Verfügung stellen.
Auch halten wir als christlich-liberale Koalition an
der Extremismusklausel für die Projektträger fest. Wir
wollen verhindern, dass sich extreme Kräfte unter dem
Deckmantel des Antifaschismus Steuergelder erschleichen und damit ihren Kampf gegen unseren Staat finanzieren.
({1})
Ein klares Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung sollte für Initiativen, die sich dem Kampf
gegen politischen Extremismus verschrieben haben, eine
Selbstverständlichkeit sein, Frau Lazar.
({2})
Dies hat überhaupt nichts mit Misstrauen zu tun.
({3})
Der Steuerzahler hat ein Recht darauf, zu wissen, wohin
sein Geld geht und dass es für ihn ausgegeben wird und
nicht gegen ihn.
({4})
„Linke Gewalt erlebt eine Renaissance“, stellte der
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herr
Fromm, in einem Interview mit der Berliner Zeitung
fest. Dass dies so ist, belegen nicht nur zahlreiche von
linken Chaoten gelegte Pkw-Brände in den Großstädten
und auch in der Provinz, in meiner Heimatstadt, sondern
dies wird auch und vor allem durch einen massiven Anstieg der Zahl linker Gewalttaten belegt. Wir dürfen den
Linksextremismus nicht unterschätzen. Er ist - wie auch
der Rechtsextremismus - kein Randphänomen.
({5})
Mit der Initiative „Demokratie stärken“ wird deshalb die
Extremismusprävention des Bundesfamilienministeriums
auf die Bereiche Linksextremismus und islamistischer
Extremismus erweitert. Dafür werden weitere 5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Ausweitung des
Programms auf andere Extremismusarten bedeutet im
Übrigen nicht, liebe Freunde von der SPD, dass der
Rechtsextremismus dadurch automatisch verharmlost
wird, wie Sie es in Ihrem Antrag behaupten.
({6})
Die SPD bleibt in ihrem Antrag leider die Antwort
schuldig, wie sie gegen Linksextremismus und Islamismus vorgehen will. Auch wenn Sie in drei Ländern in
der Bundesrepublik mit der Partei koalieren, die dem
Kommunismus zum Comeback verhelfen will, liegt es
doch bestimmt nicht in Ihrem Interesse, dass linksextreme Ideologien in Deutschland wieder Fuß fassen.
({7})
Deutschland ist schon länger im Visier islamistischer
Terroristen. Dies haben uns die Schreckensmeldungen
über die Bedrohungslage in Deutschland vom vergangenen Herbst noch einmal deutlich gemacht. Selbst der
Reichstag, in dem wir heute diskutieren, ist zum gefährdeten Ort geworden. Diese Bedrohung ist nicht nur eine
Bedrohung von außen, sondern auch von innen. Islamismus gibt es ebenso wie Links- und Rechtsextremismus
innerhalb unserer Gesellschaft. Deshalb ist es gut, dass
das Bundesinnenministerium im Sommer 2010 das Aussteigerprogramm HATIF gestartet hat. Ich bin vor allem
dankbar, dass muslimische Organisationen in unserem
Land dies nach Kräften unterstützen.
Wie kommt es zu Extremismus? Herr Bernschneider
hat dies kurz angesprochen. Extremismus hat seinen
Nährboden in Perspektivlosigkeit. Junge Menschen brauchen eine Perspektive; denn das macht sie immun gegen
totalitäre Ideologien. Dazu bedarf es zuallererst einer soliden Finanz-, Wirtschafts- und Bildungspolitik, wie sie
von der christlich-liberalen Koalition gestaltet wird.
({8})
Aber auch damit erreichen wir nicht alle Menschen in unserer Gesellschaft. Bei vielen Jugendlichen ist die rassistische und antidemokratische Ideologie schon sehr verfestigt. Von heute auf morgen werden sie ihre Gesinnung
sicherlich nicht ablegen. Hier setzen wir auf das Programm „Xenos - Leben und Arbeiten in Vielfalt“ und das
Xenos-Sonderprogramm „Ausstieg zum Einstieg“. Jugendliche und junge Erwachsene, darunter auch Aussteiger, sollen mit berufsbezogenen Maßnahmen wieder in
den Arbeitsmarkt integriert werden. Dabei werden sie mit
Maßnahmen für Toleranz, Demokratie und Vielfalt begleitet. Hier können wir uns gut eine Förderung aus dem
Europäischen Sozialfonds vorstellen.
({9})
Junge Menschen müssen gegen extremistische und
totalitäre Ideologien aus allen Richtungen immun werden.
({10})
Mit unserem Antrag verfolgen wir deshalb einen ganzheitlichen Ansatz. Ich finde es schade, Herr Rix, dass in
dem Antrag der SPD Linksextremismus und Islamismus
nicht aufgegriffen werden. Ich glaube, hier sind Sie ein
bisschen zu kurz gesprungen. Es ist richtig und wichtig,
null Toleranz gegen Extremismus jeglicher Art zu haben. Das sollte Konsens aller demokratischen Fraktionen
in diesem Hause sein.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Kolbe für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich war gestern Podiumsgast auf einer Veranstaltung der Friedrich-EbertStiftung zur FES-Studie „Die Mitte in der Krise“. Diese
Veranstaltung war sehr gut besucht. Bei den Teilnehmenden hat sich angesichts der Zahlen dieser Studie eine pessimistische bis irritierte Stimmung breitgemacht. In der
Bevölkerung gibt es Zustimmungsraten von 30 Prozent
und mehr bei rassistischen, ausländerfeindlichen Aussagen. Die Zustimmung zu chauvinistischen, antisemitischen Aussagen ist eklatant hoch. Ebenso erschreckend
ist die Zustimmung zur Verherrlichung der NS-Diktatur.
Ich habe versucht, dieser pessimistischen Stimmung
({0})
ein bisschen Optimismus entgegenzusetzen. Ich bin
nämlich der Auffassung, dass die Gesellschaft und wir in
der Politik in der Tat etwas gegen diese manifesten Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft tun können.
({1})
Das können wir durch die Förderung der Beteiligung
und mehr Demokratie erreichen. Laut der Studie haben
nämlich 90 Prozent der Bevölkerung den Eindruck, dass
sie Politik nicht mitgestalten können. Wir können es aber
auch durch gute politische Bildung, durch Programme,
die die Zivilgesellschaft stärken, erreichen; denn - das
ist meine persönliche Erfahrung und vielleicht auch die
Erfahrung anderer - die Nazis sind insbesondere dort
stark, wo die Zivilgesellschaft schwach ist.
({2})
Deshalb sind die Programme, die Rot-Grün ins Leben
gerufen hat, die die Große Koalition fortgeführt hat und
die auch Sie fortsetzen wollen, so positiv zu bewerten.
Ich möchte Ihnen zugestehen und positiv hervorheben,
dass Sie genau das erkannt haben.
({3})
Schön an Ihrem Antrag fand ich auch, dass Sie gerade
die Bundeszentrale für politische Bildung
({4})
als einen Initiator von sehr guter politischer Bildung bewertet haben. Ich hoffe daher, dass wir alle gemeinsam
in den nächsten Haushaltsberatungen gegen die angekündigten Kürzungen des Innenministeriums streiten
wollen. Die Mittel für die Bundeszentrale sollen auf den
Stand von vor der Wiedervereinigung gekürzt werden.
Wenn Sie es mit Ihrem Engagement gegen Extremismus
wirklich ernst meinen, dann lassen Sie uns bitte gemeinsam dagegen einsetzen.
({5})
Bei all dem Positiven gibt es im Bereich „Kampf gegen Rechtsextremismus“ zwei Dinge, die mir Sorgen machen. Das eine klingt ein wenig wie eine Krankheit: Projektionitis. Die herrscht nämlich, wenn es um Förderung
im Kampf gegen Rechtsextremismus geht. Unglaublich
gute Träger, die bereits seit Jahren eine sehr gute, nachhaltige Arbeit machen, hüpfen von Programm zu Programm und haben nicht die Möglichkeit, eine stetige Finanzierung zu erhalten. Das betrifft auch Träger, die nicht
nur in einem Bundesland, sondern bundesweit aktiv sind.
Wir haben in unserem Antrag Vorschläge gemacht, wie
wir etwas dagegen tun können.
Als weiteres Problem sehe ich den Diskurs. Ihre
Ministerin und auch die Koalition bestehen offenbar darauf, in jedem Satz, in dem das Wort „Rechtsextremismus“ vorkommt, auch die Begriffe Linksextremismus,
Ausländerextremismus - oder was auch immer - unterzubringen. Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, dass Sie
Links- und Rechtsextremismus gleichsetzen wollen. Bei
vielen Leuten kommt es allerdings genauso an. Nicht nur
das: Sie manifestieren den Eindruck, dass es sich bei Extremismus und insbesondere beim Rechtsextremismus
um ein randständiges Problem handelt, das nur an den
Enden der Gesellschaft vorkommt. Aber gerade die
„Mitte-Studien“ der Friedrich-Ebert-Stiftung widersprechen dem. Wir haben heute den 27. Januar. An diesem
Tag gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus.
Man kann aus der Geschichte, aus dem, was damals aus
der Mitte der Gesellschaft heraus passiert ist, durchaus
etwas lernen, und genau das tun die Träger, die Sie mit
einer „Demokratieerklärung“ hier unter Generalverdacht
stellen.
Daniela Kolbe ({6})
({7})
Diese Träger fördern Demokratie
({8})
und arbeiten gegen Menschenfeindlichkeit. Sie beraten
Opfer und Kommunen. Bitte tun Sie alles, damit diese
Träger weiterhin ihre Arbeit verrichten können. Sie verlieren hier viele schöne Worte über die Träger, aber mit
Ihren Taten diskreditieren Sie sich selbst.
({9})
Der Kollege Dr. Ruppert hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bin an einem solchen Tag nach wie vor bestürzt, wenn ich lese, dass in Deutschland etwa 15 Prozent der Menschen auf die Frage, ob Juden in dieser Gesellschaft zu viel Einfluss haben, eine positive Antwort
geben. Das Phänomen des Antisemitismus ist in unserer
Gesellschaft leider - das muss man an einem solchen
Tag einmal sagen - nach wie vor weit verbreitet. Deswegen ist es mein Anliegen - so mein Appell -, genauer zu
schauen, wo Antisemitismus, Extremismus und Rassismus ihre Wurzeln haben.
({0})
Ich gestehe, dass mich die heutige Debatte in dieser
Hinsicht etwas enttäuscht hat. Es ist einfach schade, dass
man in das klassische Links-rechts-Schema verfällt.
({1})
Es ist schade, dass man sich nicht traut, genau hinzuschauen, wo Straftaten und Mentalitäten auftreten, die
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung diametral
zuwiderlaufen.
Die Ebene der Straftaten ist nur eine Ebene. Ich kann
Ihnen sagen: Ich bin mehrfach Opfer linksextremer Gewalt geworden. Dann redet man über ein solches Thema
anders, als wenn man einfach das Gefühl hat, die Menschen täten einem nichts.
({2})
Die Geschäftsstelle in meinem Wahlkreis ist zerstört
worden. Ich bin bedroht worden, weil ich hier ein bestimmtes Abstimmungsverhalten an den Tag gelegt
habe. Ich bitte Sie, gerade die Vertreter der Grünen und
der SPD, eindringlich: Verschließen Sie nicht die Augen! Keiner will das schlimme Phänomen des Rechtsextremismus in irgendeiner Form verniedlichen; keiner
will so tun, als ob das nicht das vorrangige Problem sei.
Wir müssen aber einfach einen realistischeren Blick auf
all diese Gegebenheiten richten, als Sie es leider in dieser Debatte - vielleicht mit Ausnahme der letzten Rednerin der SPD - getan haben.
({3})
Ich verstehe, dass die Bekämpfung der rechtsextremen Gesinnung gerade in Ihren Parteien, die große Verdienste bei der Bekämpfung dieser Gesinnung erworben
haben, deren Mitglieder oft auf die Straße gegangen sind
und sich bei Demonstrationen persönlich eingesetzt haben, die Wurzel des Kampfes gegen Extremismus darstellt. Aber schauen Sie bitte hin! Schauen Sie hin, wenn
Straftaten geschehen, wenn es Überzeugungen gibt, die
weit über das hinausgehen, was wir auf linker Seite akzeptieren können.
({4})
Bitte hören Sie auf, Anträge zu stellen, in denen ein einseitiger und empirisch nicht fundierter Extremismusbegriff auftaucht.
({5})
- Das ist eine interessante Frage.
({6})
Das Phänomen des Linksextremismus in Deutschland ist
durchaus sehr disparat. Ich gebe Ihnen recht: Es ist nicht
die Übertragung der Mittel von rechts auf links; es sind
andere Milieus.
({7})
- Ja. Das heißt aber nicht, dass es diese Milieus nicht
gibt.
({8})
- Ja, man muss sie auch anders bekämpfen. Dafür muss
man dieses Phänomen zur Kenntnis nehmen und es ernst
nehmen.
({9})
Ich komme zum Schluss. Ich würde mich freuen, einmal sachlich und ruhig darüber zu reden. Vielleicht ist
der Ausschuss dafür der bessere Ort; dann müssen Sie
nicht diese Bekenntnisse ablassen. Die Linke hat sich in
der Debatte leider, wie so häufig, völlig diskreditiert;
aber von ihr war auch nicht mehr zu erwarten.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4432 und 17/3867 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsame Europäische Agrarpolitik nach
2013 - Förderung auf nachhaltige, bäuerliche
Landwirtschaft ausrichten
- Drucksache 17/4542 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinsame europäische Agrarpolitik nach
2013 weiterentwickeln
- Drucksache 17/2479 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Versetzen wir uns doch einmal in das Jahr
2020 und fliegen über die ländlichen Räume Europas!
Was sehen wir unter uns? Sehen wir vielfältige Landschaften, gegliedert durch Hecken, Bäume, Bäche und
Dörfer, vielseitige Feldfrüchte, Wiesen und Weiden, belebt von Tieren?
({0})
Oder sehen wir in den fruchtbaren Gebieten vor uns ausgeräumte Landschaften, Maismonokulturen, hier und da
eine Tierfabrik, die weniger fruchtbaren Gebiete verödet
und ehemals grüne Mittelgebirge verbuscht und verwaldet?
Beides ist möglich. In den nächsten Monaten werden
die Weichen dafür gestellt, welche Richtung die Gemeinsame Agrarpolitik und damit die Landwirtschaft in
Europa nach 2013 nehmen wird. Bäuerliche Landwirtschaft oder Agrarindustrie? Das ist die Frage, über die
wir hier heftig streiten, weil sie keine Geschmacksfrage,
sondern die landwirtschaftliche Zukunftsfrage ist.
({1})
Spätestens seit dem Dioxinskandal pfeifen doch die
Spatzen von den Dächern, dass etwas faul ist im Staate
Sonnleitner,
({2})
dass die alte Agrarpolitik an ihr Ende gekommen ist und
dass es Zeit ist für einen Neuanfang, Zeit für die Agrarwende 2.0.
({3})
Die Entscheidung der Bundeskanzlerin, als Antwort
auf die Dioxinkrise Herrn Kollegen Bleser, der wie
kaum ein anderer die Kumpanei zwischen CDU, Großgenossenschaft und Bauernverband verkörpert, zum
Staatssekretär im BMELV zu machen, ist entweder
dumm oder dreist.
({4})
Kollege Ostendorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bleser?
Ich sage noch einen Satz; dann haben wir den Zusammenhang, damit der Kollege Bleser alles bearbeiten
kann. - In jedem Fall zeigt es uns, dass die CDU die Zeichen der Zeit nicht einmal ansatzweise verstanden hat.
({0})
Jetzt der Kollege Bleser.
Bitte.
Herr Kollege Ostendorff, können Sie mir sagen, warum Sie so verbittert sind und gegen die Genossenschaften wettern, die im vorletzten Jahrhundert als Notgemeinschaften der Bauern gegründet wurden und in
denen die Landwirte - etwa in Molkereigenossenschaften oder Warengenossenschaften - ihren Absatz selbst
organisieren? Halten Sie es für falsch, dass in den Führungsgremien dieser Genossenschaften nicht Vertreter
von irgendwelchen Kapitalgesellschaften sind, sondern
Bauern, die für ihre Mitglieder dafür sorgen, dass das
entsprechende Geschäftsgebaren eingehalten wird?
({0})
Gestatten Sie, Herr Kollege Bleser, dass ich Ihre Fragen in umgekehrter Reihenfolge beantworte. Ja, ich halte
es für falsch, dass gewählte Vertreter der Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes gleichzeitig interessengeleitete Aufsichtsratsvorsitzende in sehr großen Genossenschaften sind. Das halte ich in der Tat für falsch.
({0})
Schon aus politischer Hygiene sollten wir eine gewisse
Distanz an den Tag legen und uns entscheiden, ob wir
Interessenvertreter einer Genossenschaft, eines Wirtschaftsunternehmens sind oder ob wir unseren Auftrag
gegenüber dem deutschen Volk wahrnehmen.
({1})
- Ich bin noch nicht fertig. Bitte bleiben Sie noch stehen.
Sonst kann ich Ihre erste Frage nicht beantworten. Jetzt läuft aber meine Redezeit schon wieder.
So ist es; denn ich kenne die Großzügigkeit, mit der
bei Zwischenfragen wechselseitig gerne gearbeitet wird.
Gut, dann antworte ich in meiner Redezeit.
Ja, ich bin Genosse. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.
Ich habe im letzten Jahr mit 49 anderen Bäuerinnen und
Bauern eine neue Genossenschaft gegründet.
({0})
Das ist eine Genossenschaft, in der alle mitreden und
alle etwas zu sagen haben. Den Filz, Herr Bleser, den Sie
und Leute wie Sie verkörpern, haben die Leute aber endgültig satt.
({1})
Niemals zuvor sind in Deutschland wie am Samstag
20 000 Menschen mit dem Motto „Wir haben es satt!“
auf die Straße gegangen, weil sie eine andere Landwirtschaft und eine andere Agrarpolitik wollen. Nie zuvor
gab es ein so breites Bündnis gesellschaftlicher Gruppen, die wollen, dass aus dem Subventionsbetrieb Agrarpolitik ein Gestaltungsinstrument für Europas Landschaft und Landwirtschaft wird, ein starkes Instrument
für gesunde Ernährung, fairen Handel und lebendige
Dörfer.
Der Vorschlag von EU-Kommissar Ciolos für eine
Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik liegt auf dem
Tisch.
({2})
Ob es ein großer Schritt vorwärts oder ein Schritt in die
Vergangenheit wird, hängt entscheidend davon ab, wie
sich Deutschland verhält. Bisher zeigen Sie wenig Mut
und reden den Ewiggestrigen das Wort.
({3})
Bisher ist Deutschland der schwerste Klotz am Bein der
Reformkräfte. Die Bundesregierung ist leider auch hier
wieder auf dem besten Weg, eine historische Reform zu
verhindern,
({4})
weil sie nicht den Willen und den Mumm hat, dem alten
System Paroli zu bieten,
({5})
jenem System, das uns gerade wieder Gift in Eiern aufgetischt hat.
({6})
Nein, meine Damen und Herren, Rumeiern gilt heute
nicht mehr.
({7})
Wer jetzt den Bäuerinnen und Bauern und den Bürgerinnen und Bürgern sagt, dass alles so bleiben kann, wie es
ist, der muss auch ehrlich sein und sagen, was das bedeutet. Das bedeutet: kein Klimaschutz, kein Tierschutz,
({8})
kein Artenschutz, kein Wasserschutz, keine Kühe auf der
Weide, keine Bauernhöfe, keine internationale Fairness,
kein Ende der Lebensmittelskandale, keine gemeinsame
Perspektive für das ländliche Europa.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns eine mutige
Agrarreform wagen, damit der ländliche Raum eine
große Zukunft hat!
({9})
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Josef Rief für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Koalition ist an einer zukunftsgerechten Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik gelegen. Ja,
wir werden alles tun, damit die Landwirtschaft, der ländliche Raum Zukunft behält. Wir sind selbstverständlich
für eine europäische Landwirtschaft im Wettbewerb, die
nicht nur die europäische Bevölkerung sicher mit NahJosef Rief
rungsmitteln versorgt, sondern auch einen Beitrag zur
Welternährung und zur umweltgerechten Energieversorgung liefert.
({0})
Was wäre denn die Alternative? Die Vorschläge der
SPD und der Grünen würden zu geringeren Direktzahlungen für die deutschen Bauern führen und die bürokratischen Lasten für die Betriebe zusätzlich erhöhen. Deshalb lehnen wir diese Vorschläge ab.
({1})
Wir müssen dafür kämpfen, dass die Direktzahlungen
nicht vermindert werden und kein europaweiter Sockelbetrag, wie Sie ihn nennen, eingeführt wird - und das alles noch vor dem Hintergrund, dass sich dadurch die
Nettozahlerposition Deutschlands massiv verschlechtern
würde.
({2})
Natürlich - ich möchte das gar nicht kleinreden - profitieren wir von der EU. Wir sollten und müssen auch
unserer Wirtschaftsleistung und Bevölkerungszahl entsprechend zum Haushalt der Union beitragen. In meinem Wahlkreis gibt es viele mittelständische Unternehmen wie den Baumaschinenhersteller Liebherr oder den
Pharmaproduzenten Boehringer Ingelheim, die weit über
die Hälfte ihrer Produkte ins europäische Ausland exportieren. Nur, eines geht nicht: Eine Verschlechterung unserer Nettozahlerposition darf nicht auf dem Rücken der
Bauern ausgetragen werden.
({3})
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen jetzt einmal
etwas als praktizierender Landwirt: Für viele meiner Berufskollegen machen die Direktzahlungen bis zu
50 Prozent der Einkommen aus. Deswegen: Bitte mehr
Sensibilität bei diesem Thema!
({4})
Es gibt nur Leistungen, wenn der Landwirt nicht weniger als 2 680 Auflagen und 590 Standards, sogenannte
Cross-Compliance-Regelungen, einhält, Auflagen, die
von Tier- und Pflanzengesundheit über Lebensmittelsicherheit bis hin zu Umweltschutz und Tierschutz reichen. Die Zahlungen sind auch keine Geschenke. Dafür
pflegen die Landwirte die Landschaft, damit wir alle sie
genießen können.
({5})
Und von wegen, die ökologische Landwirtschaft
werde zu wenig gefördert! Schon jetzt erhält zum Beispiel jeder ökologisch wirtschaftende Betrieb in BadenWürttemberg eine um durchschnittlich 190 Euro höhere
Förderung pro Hektar als der Betrieb des konventionell
wirtschaftenden Kollegen.
({6})
Sollte die Höhe der Direktzahlungen auf europäischer
Ebene vereinheitlicht werden und sinken, werden noch
mehr Höfe aufgeben müssen. Wollen Sie wirklich, dass
der ländliche Raum ausblutet? Wir wollen das jedenfalls
nicht.
({7})
Ohnehin war der Strukturwandel, also die Aufgabe von
Betrieben, in der rot-grünen Regierungszeit - ich kann
Ihnen das nicht ersparen - um 50 Prozent höher als in
den letzten Jahren.
({8})
Meine Damen und Herren, es geht hier aber nicht um
ein Ausspielen der konventionellen Landwirtschaft gegen die ökologische Landwirtschaft. Wir sind gegen die
Ausspielerei.
({9})
Von einer Umverteilung der Mittel oder - ich sage es
klar - von einer Kürzung der Mittel wären beide Bereiche betroffen. Nach der BSE-Krise - das ist schon einige
Jahre her, aber ich bin sicher, die Bürgerinnen und Bürger wissen das noch - haben SPD und Grüne schon einmal die Agrarwende ausgerufen.
Gebracht hat es gar nichts.
({10})
Bezahlt aber haben es die Bauern mit geringeren Einkommen und die Verbraucher mit Verunsicherung. Das
ist doch die Wahrheit!
({11})
Meine Damen und Herren, die Probleme in der Biobranche sind heute weitgehend dieselben wie in der konventionellen Landwirtschaft; denn auch beim Biomarkt
wird das Preisniveau von Lieferanten aus dem Ausland
begrenzt. Woher sollen die Milliarden für eine noch stärkere Förderung der Ökolandwirtschaft kommen? Ich
sehe das Geld in Brüssel nicht.
Wir brauchen konventionelle und ökologische Landwirtschaft. Jeder - das ist meine Auffassung - soll seinen Betrieb führen, wie er es möchte. Auch für die Bauern muss gelten: Jeder soll nach seiner Fasson
wirtschaften. Am Ende wird ohnehin der Verbraucher
entscheiden, wofür es einen Markt gibt und wofür nicht.
({12})
Wir treten klar ein für Qualität in Freiheit und sind gegen den Zwang zum Ökosozialismus.
({13})
Es ist einfach falsch, die ökologische Landwirtschaft
als Allheilmittel zur Welternährung anzupreisen und bei
jeder Debatte die Systemfrage zu stellen. Gleichzeitig
wird bei einem - zugegebenermaßen umfangreichen Skandal, der wohl, so habe ich es gelesen, von einem
Mann mit Stasivergangenheit verursacht wurde, der
Weltuntergang beschworen und den Menschen suggeriert, alle gewöhnlichen Lebensmittel seien schädlich.
Damit helfen wir niemandem.
({14})
Was soll das anderes sein als Wahlkampf pur? So geht
das nicht.
({15})
Die Unionsfraktion wird sich in den nächsten Monaten bei Gesprächen auf EU-Ebene für eine umsichtige
Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik einsetzen, die für Verbesserungen offen ist und an Bewährtes anknüpft. Wir fordern die Beibehaltung des ZweiSäulen-Modells mit starker erster Säule und die Beibehaltung des bisherigen Gesamtbudgets für die GAP. Verschiebungen zwischen den Säulen lehnen wir ebenso ab
wie eine weitere Belastung mit Cross Compliance.
Sogenannte Fachpolitiker, die von vornherein, also
noch bevor die eigentlichen Verhandlungen beginnen,
auf viel Einkommen der Landwirtschaft verzichten und
dabei noch die Nettozahlerposition Deutschlands verstärken wollen, gehören - mit Verlaub gesagt - aus Respekt vor unserem ehemaligen Ministerpräsidenten nicht
zum Teufel gejagt, aber doch mit viel Wasser in die politische Wüste geschickt.
Herzlichen Dank.
({16})
Lieber Kollege Rief, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen im Namen des Hauses
herzlich gratuliere.
({0})
Ich erteile nun das Wort als nächstem Redner dem
Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier für die SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht
auch von mir Glückwünsche von hier vorne an den Kollegen Rief, wenn er denn zuhört.
Noch eine kurze Bemerkung aus dem grünen Idyll
von „Kater Krümels Bauernhof“, den der Kollege
Ostendorff hier beschrieben hat: Kräht der Rief auf dem
Mist, ändert sich die deutsche Agrarpolitik oder sie
bleibt, wie sie ist.
({0})
Das ist mein Fazit der Rede.
({1})
Wenn wir uns mit dem Thema einmal ernsthaft auseinandersetzen, dann erkennen auch Sie, dass wir Sozialdemokraten im Hinblick auf die Reform der GAP doch
einiges vorzuweisen haben. Wir haben Ihnen bereits vor
fast einem Dreivierteljahr - vor allen anderen Parteien
hier im Hause und auch vor vielen Verbänden - ein entsprechendes Konzept dazu vorgelegt und in unseren Vorschlägen eine ganz klare Linie dafür formuliert, wo es
mit der Agrarpolitik in Zukunft hingehen könnte. Dies
haben wir auch aus der Erkenntnis heraus getan, dass die
Akzeptanz der jetzigen Agrarpolitik in verschiedenen
Bereichen - auch in der Gesellschaft - weitestgehend
verlorengegangen ist.
Darum begrüße ich natürlich auch das Konsultationsverfahren, das der EU-Agrarkommissar eingeleitet hat.
6 000 Stellungnahmen aus ganz Europa sind schon ein
Erfolg. Ich kann Ihnen sagen: Wir waren auch dabei.
Deshalb freuen wir uns, dass wir den mit den Bürgern
begonnenen Dialog auch auf der politischen Ebene zielgerichtet zu Ende führen können. Es wird nach meiner
Einschätzung keinen radikalen Bruch geben, und es ist
hier auch nicht unbedingt die Systemfrage zu stellen,
aber es muss dringend Veränderungen geben; denn es
besteht ein großer Korrektur- und Handlungsbedarf.
Wenn man sich das von uns vorgelegte Papier anschaut, dann sieht man, dass darin schon die zentrale
Forderung enthalten ist, über die heute in Europa diskutiert wird, nämlich die „Begrünung“ der Gemeinsamen
Agrarpolitik. Für uns gilt primär der Grundsatz „Öffentliches Geld für öffentliche Güter“. Die Begrifflichkeit
dieses Grundsatzes lassen wir uns von Frau Höhn natürlich nicht stehlen. Das steht in unserem Papier und nicht
in dem Papier der Grünen.
Wir müssen wegkommen von der Belohnung für die
Einhaltung an sich selbstverständlicher fachlicher Vorgaben und hinkommen zu einer wirklichen Entlohnung
konkreter gesellschaftlicher Leistungen, was der Steuerbürger in Europa auch erwarten kann und von der Landwirtschaft erwarten muss.
({2})
Für uns ist nicht allein die Systematik der ersten und
zweiten Säule ausschlaggebend, sondern das Ergebnis
der Reform dieser Strukturen. Das ist für uns das Entscheidende. Insofern ist das von uns vorgeschlagene
Modell an sich weiß Gott kein Dogma, aber am Ende
muss doch ein gesellschaftlicher Mehrwert für alle MenDr. Wilhelm Priesmeier
schen in Europa stehen. Das sollte uns bei der Reform
der europäischen Agrarpolitik antreiben.
Wir freuen uns, dass unsere Vorschläge in der Weise
eingeflossen sind, dass wir fast alles aus unserem Papier
in dem Ciolos-Vorschlag wiederfinden. Leider ist die
Position der Bundesregierung nicht klar erkennbar. Man
sieht zwar, dass es Diskussionen und Handlungsbedarf
gibt, aber bislang gibt es keine konkreten Vorstellungen.
Ich habe den Eindruck, als sei die Position der Bundesregierung völlig identisch und deckungsgleich mit der
Position des Deutschen Bauernverbandes. Ich weiß
nicht, ob das der richtige Ansatz ist. Das liegt aber wahrscheinlich daran, dass die Ministerin und die Bundesregierung keine eigene Strategie haben.
({3})
Ich sage dazu nur: einfallslos, ideenlos und vielleicht
auch - zumindest habe ich die Befürchtung - erfolglos.
({4})
Das ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt das
Ergebnis der schwarz-gelben Koalition. Ich finde, das ist
aufgrund der Rolle, die Deutschland bei Agrarverhandlungen und am Brüsseler Tisch immer gespielt hat, ein
Armutszeugnis und der deutschen Landwirtschaft mit ihrem Einfluss und ihrer Bedeutung auch nicht angemessen.
Die Ministerin hat wohl den falschen Kurs eingeschlagen. Sie fährt auf der falschen Spur, sie fährt in die
falsche Richtung, sie erkennt den Gegenverkehr nicht,
und wenn sie nicht aufpasst, dann fährt sie zumindest
den Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik, der uns betrifft,
an die Wand. Das ist das typische Verhalten, das Geisterfahrer zeigen.
Paris, Warschau, Rom: Wo ist das Konzept? Ich
glaube, mit der gemeinsamen Positionierung von Frankreich und Deutschland hat die Ministerin für die weitere
Diskussion auf der europäischen Ebene mehr Schaden
angerichtet als Nutzen gestiftet.
Uns allen ist klar: Wir brauchen eine grundlegende
Reform des Systems. Man kann im Zusammenhang mit
den landwirtschaftlichen Einkommen darüber philosophieren, ob wir eine Grundsicherung brauchen. Wir haben sie in Form eines Sockelbetrags vorgeschlagen.
Klar ist aber auch: Agrarpolitik ist keine Sozialpolitik. Insofern ist das nach dem Subsidiaritätsprinzip Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten und kann nicht zur
Gänze aus dem Agrarhaushalt dargestellt werden. Das
gilt auch im Hinblick auf die erforderlichen Konsolidierungsbemühungen, die wir alle zu leisten haben, sei es in
unseren Haushalten, in den Haushalten der anderen
EU-Mitgliedstaaten oder im EU-Haushalt. Der Handlungsrahmen ist sehr begrenzt. Deshalb brauchen wir ein
Konzept, um unter Umständen auch mit einem bisschen
weniger ein bisschen mehr zu erreichen.
Für uns ist es wichtig, dass die Werte und öffentlichen
Güter, die die Landwirtschaft bietet, honoriert und anerkannt werden, zum Beispiel die Sicherheit unserer Lebensmittel, die Kulturlandschaft in Europa. Höhere Produktionskosten müssen berücksichtigt werden. Auch
dafür gibt es in unserem Modell einen entsprechenden
Vorschlag.
({5})
Wir müssen aber auch im Hinblick auf die zweite
Säule die Ausrichtung der europäischen Agrarpolitik reformieren. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen erster und zweiter Säule. Das lässt sich
aber erst dann darstellen, wenn wir den konkreten Finanzierungsrahmen kennen. Auch hierzu machen wir konkrete Vorschläge. Wir wollen, dass die zweite Säule so
ausgestaltet ist, dass wir eine echte Politik zu einer integrierten Entwicklung in den ländlichen Räumen darstellen können. Das ist die unbedingte Voraussetzung.
Für uns als Sozialdemokraten zählt nicht so sehr die
ideologische Auseinandersetzung über Groß oder Klein;
für uns zählen vielmehr die Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen. Das unterscheidet uns von den Grünen,
({6})
deren Modell vielleicht nicht mehr so typisch ist. Man
muss sich aber den Herausforderungen stellen und sich
dazu bekennen, dass man gelegentlich nachsteuern oder
auch umsteuern muss.
In Deutschland gilt es für uns auch in der Konsequenz
aus der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik, unser zentrales Instrument vor allem in der Umsetzung der zweiten Säule, die GAK, gezielt weiterzuentwickeln. Wir müssen in der Perspektive die Synergien
zwischen ELER und EFRE nutzen. Aus diesem Grunde
fordern wir die Weiterentwicklung der GAK zu einer
Gemeinschaftsaufgabe für ländliche Räume.
({7})
Auf all die offenen Fragen der Landwirte, aber auch
der Gesellschaft haben Sie bisher keine Antwort angeboten. Welche Strategien haben Sie zum Beispiel angesichts des demografischen Wandel in den ländlichen
Räumen? Ich nehme an, dass das in Bayern nicht anders
ist als in Niedersachsen.
Mit unserem Antrag und unserer Positionierung zur
Gemeinsamen Agarpolitik haben wir eine klare Roadmap
vorgelegt, an der Sie sich orientieren können, wenn Sie
den Kurs verloren haben. In dem Zusammenhang kann
ich Sie nur auffordern, das, was wir vorlegen, ernsthaft in
Ihre Überlegungen einzubeziehen und dafür zu sorgen,
dass es in Europa umgesetzt wird.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Dr. Edmund Geisen ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Internationale Grüne Woche, die uns alle im Augenblick
fest im Griff hat,
({0})
zeigt wieder einmal eindrucksvoll, welches Potenzial in
der Landwirtschaft liegt. Sie ist eine Schlüsselbranche,
ohne die die großen Herausforderungen der kommenden
Jahrzehnte - Klimaschutz, Welternährung, Energieversorgung, Erhaltung der Artenvielfalt - nicht zu lösen sind.
({1})
Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir eine
Gemeinsame Agrarpolitik - kurz: GAP -, die die moderne, effiziente und nachhaltig wirtschaftende Landwirtschaft stärkt.
Die FDP-Fraktion steht für eine zukunftsfeste, unternehmerische und marktorientierte Landwirtschaft. Eine
nach der Produktionsweise differenzierte Subventionspolitik mit staatlicher Gängelung - wie in den vorliegenden Anträgen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert - ist für uns definitiv keine Lösung.
({2})
Die Gemeinsame Agrarpolitik war ein Kernelement
der Römischen Verträge von 1957.
Es ging damals vor allem um die Verbesserung der
landwirtschaftlichen Produktivität. Einige von Ihnen
werden sich noch gut an damals erinnern. Es war eine relativ arme Zeit, mit sehr viel Handarbeit verbunden, die
Produkte der Landwirtschaft dienten in erster Linie der
Selbstversorgung, der Versorgung von Mensch und Tier.
Die Produktpalette war primitiv, die Qualitätsstandards
ließen viel zu wünschen übrig. Ich selbst erinnere mich
als Kind der Landwirtschaft an Missernten und an viele
Krankheiten bei Pflanzen und Tieren. Es gab noch richtige Mangelperioden.
Warum sage ich das? Weil ich klarmachen will: Wer
die Vergangenheit idealisiert, der irrt. Die Zukunft darf
niemals wieder in die Verhältnisse der Vergangenheit
münden.
({3})
Technische Entwicklungen, Nährstofftransfers, Züchtungsmethoden und Krankheitsbekämpfung haben uns in den
vergangenen vier Jahrzehnten in Westeuropa Wohlstand
und natürlich auch Überschüsse beschert. Bei der Lösung des Problems der Überschüsse hat sich die EU
lange mit Lagerhaltungsmethoden und Mengenbegrenzungen über die Zeit gerettet, ohne dabei dem Problem
des Welthungers zu begegnen und ohne die EU-Landwirtschaft auf die Zukunft auszurichten. Unsere jetzige
Devise muss lauten: Lasst uns aus der Vergangenheit lernen und die Zukunft neu ausrichten!
({4})
Unsere Parameter sind die rasant steigende Weltbevölkerung mit ihrem Bedarf an Nahrungsmitteln und
Energie sowie der Klimaschutz. Für die FDP heißt die
Zukunft: Stärkung der bäuerlich-unternehmerischen Landwirtschaft, die standortgerecht, nachhaltig und effizient
wirtschaftet, die arbeitsteilig, technisiert, tier- und umweltgerecht ist, kurz: die gemäß dem Leitbild der guten
fachlichen Praxis arbeitet.
({5})
Landwirtschaft ist kein Wirtschaftszweig wie jeder andere; das wird in der öffentlichen Diskussion oft vergessen. Landwirtschaft ist für Mensch und Tier von existenzieller Bedeutung, die Produktionsverfahren sind - wie
sonst nirgendwo - abhängig von stetig vorhandenen Klimaschwankungen und lebenden Organismen. Gleichzeitig ist Landwirtschaft verantwortlich für den Erhalt unserer Kulturlandschaften und der attraktiven ländlichen
Räume. Diese gesamtgesellschaftlichen Leistungen müssen auch weiterhin in der ersten Säule der GAP honoriert
werden.
({6})
Natürlich müssen diese Prämien an die Einhaltung von
Umwelt- und Tierschutzstandards gebunden sein, den sogenannten Cross-Compliance-Vorschriften. Sie dürfen aber
erstens nicht zu noch mehr Bürokratie auf den heimischen
Höfen führen und müssen zweitens für alle EU-Mitgliedstaaten gleich gelten.
({7})
Ich jedenfalls wende mich entschieden gegen eine sogenannte Flatrate, die in allen Mitgliedstaaten gleich ist.
Dafür sind die Kaufkraftunterschiede noch zu groß, wodurch es zu Wettbewerbsverzerrungen käme.
Mit der zweiten Säule der GAP sind besondere, darüber hinausgehende gewünschte Leistungen zu begleiten, um eine flächendeckende Landwirtschaft und prosperierende ländliche Räume zu erhalten und weitere
freiwillige Umweltmaßnahmen zu unterstützen.
Die europäische Landwirtschaft ist seit der GAP-Reform 2003 eigentlich auf einem guten Wege. Sie muss
jetzt nicht wieder neu erfunden, sondern lediglich weiterentwickelt und optimiert werden. Sie wissen: Nichts
ist so gut, als dass man es nicht noch verbessern könnte.
Nehmen wir das von Kommissar Ciolos immer wieder
eingeforderte Greening der GAP. Das unterstützen wir,
solange anerkannt wird, dass unsere heimische Landwirtschaft schon weiter ist als andere. Wir in Deutschland haben zum Beispiel bereits Sachkundenachweise in
allen Produktionssparten, die uns zu nachhaltigem Wirtschaften gemäß guter fachlicher Praxis befähigen.
({8})
Wir haben auf die Flächenprämie umgestellt. In keinem
anderen EU-Mitgliedstaat werden Ackerland und Grünland völlig gleich behandelt. Schätzungsweise die Hälfte
der deutschen landwirtschaftlichen Fläche unterliegt beDr. Edmund Peter Geisen
reits jetzt einem Greening. Wir in Deutschland haben
schon heute die geringsten Emissionen zum Beispiel pro
Kilogramm Milch EU-weit. Ich sage Ihnen: Die deutsche Landwirtschaft ist gelebtes Greening.
({9})
Ideologisierung und Emotionalisierung der landwirtschaftlichen Produktion führen ganz sicher nicht zu besseren Produkten, eher zur Verblendung der Verbraucher.
Stattdessen wollen wir die europäische Landwirtschaft
zukunftsfest machen, indem wir die Chance zu einem
grünen Wachstum ermöglichen - nachhaltig, effizient,
qualitativ hochwertig. Die heimische Landwirtschaft ist
auf einem guten Weg. Sie kann sich der Unterstützung
der FDP-Fraktion auch künftig sicher sein.
Uns allen möchte ich noch Folgendes empfehlen: Wir
sollten uns nicht immer darüber beschweren, dass die
Rosen Dornen tragen, sondern wir sollten uns auch einmal darüber freuen, dass die Dornen Rosen tragen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Steffen Bockhahn für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir alle kennen den Wert der Landwirtschaft für unser Land: Ohne gute Landwirtschaft haben wir alle nichts Gutes zu essen.
Wir sprechen heute darüber, wie die gemeinsame europäische Planung, die Förderpolitik für die Landwirtschaft aussehen soll. Wir sprechen über den einzigen
Politikbereich, in dem es eine wirkliche Harmonisierung
der Politik in ganz Europa gibt. Angesichts dessen,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen, muss ich mit
einiger Überraschung feststellen, dass es der Koalition
scheinbar nur darum geht, deutsche Interessen durchzusetzen, anstatt über eine gemeinsame europäische Agrarpolitik zu sprechen. Das finde ich ein bisschen schwach.
({0})
Klar ist wohl, dass wir die Förderung der Landwirtschaft auch über das Jahr 2013 hinaus brauchen, und
zwar auch und gerade durch Europa und mit Mitteln aus
dem europäischen Haushalt.
Die Frage ist aber: Welche Landwirtschaft wollen wir
denn fördern? Wir, die Linke, wollen eine Landwirtschaft, die gesunde Produkte aus gesunder Natur von
Menschen erzeugt, die gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen haben.
({1})
Das ist kein Wolkenkuckucksheim, sondern das ist real
möglich. Das bedeutet für uns, dass wir landwirtschaftliche Betriebe fördern wollen, die in der Hand der Landwirte und nicht in der Hand von großen Kapitalgesellschaften oder von Menschen sind, die Landwirtschaft
nur als Hobby betreiben, aber damit kein echtes Produktionsinteresse verfolgen. Wir wissen, dass gerade Produktionsgenossenschaften am verantwortungsvollsten
mit den Böden und mit der Natur umgehen und dass sie
sich am verantwortungsvollsten darum bemühen, tatsächlich gute Produkte zu erzeugen.
({2})
Gerade deswegen wollen wir diese Produktionsgenossenschaften fördern.
Wir wollen aber große Agrarunternehmen, die in Produktionsgenossenschaften organisiert sind, und den ökologischen Landbau nicht gegeneinander ausspielen. Wir
glauben, dass beides geht und dass beides nebeneinander
existieren kann und muss. Das heißt, dass wir schon deswegen jeden Versuch kategorisch ablehnen werden, die
Zahlungen von der Größe der bewirtschaftenden Fläche
abhängig zu machen - Stichwort „Degression“ oder
„Kappung“. Das würde gerade ostdeutsche Landwirtschaftsbetriebe diskriminieren und ist in der Sache auch
unbegründet.
({3})
Wir wollen - das ist ganz klar - die Landwirtschaft
weiter unterstützen; denn flächendeckende, gute Landbewirtschaftung ist nicht selbstverständlich. Die Kulturlandschaft zu erhalten, ist eine wichtige Aufgabe, um die
sich gerade die Bäuerinnen und Bauern in Deutschland
verdient machen. Dabei müssen wir sie weiterhin unterstützen. Wir brauchen eine gute Landwirtschaft, um
auch die ländlichen Räume zu erhalten und lebenswert
zu halten.
({4})
Die Linke schlägt Ihnen deswegen in ihrem Konzept
vor, die Fördermittel für die Landwirtschaft künftig zielgenauer an soziale und ökologische Leistungen zu binden. „Soziale Bindung“ heißt, die Zahl der Arbeitsplätze
zu berücksichtigen. Das würde tierhaltenden Betrieben
zugutekommen.
Selbstverständlich muss die Arbeit existenzsichernd
und, wo vorhanden, nach dem nationalen Mindestlohn
bezahlt werden. Das will auch die EU-Kommission, mit
der wir uns an der Stelle sehr einig sind. In Deutschland
sind wir aber die einzige Partei, die eine solche Bindung
will.
({5})
Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, die Umweltpolitik weiter auf die Förderprogramme für die ländlichen
Räume zu beschränken. Es muss Anliegen und Verantwortung aller Betriebe sein, die biologische Vielfalt auf
und neben dem Acker tatsächlich zu erhalten und einen
Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, zur Ressourcenschonung beizutragen und die Gewässer reinzuhalten.
Das alles sind Aufgaben, die für die europäische Landwirtschaftspolitik insgesamt gelten sollten.
Wir haben an dieser Stelle die Chance, mit deutschem
Know-how deutsche Unternehmen zu fördern und darüber hinaus gute Standards in ganz Europa zu verankern
und damit eine wirkliche gemeinsame europäische
Agrarpolitik zu ermöglichen.
({6})
Die bisher bekannten Vorstellungen der EU-Kommission - dies habe ich bereits kurz angesprochen - kommen unseren Vorstellungen schon sehr stark entgegen.
Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher fordern
eine Debatte über die Neuausrichtung der Agrarpolitik.
Ich denke - das muss man klar sagen -, dass auch bei
den Landwirten ein Umdenken erforderlich ist. Es gibt
ein großes Bedürfnis, einiges zu ändern; nicht alles, aber
einiges. Das sollte man wahrnehmen und ernst nehmen
und sich dann auch mit den Konsequenzen auseinandersetzen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst zum Kollegen Priesmeier: Ihre Rede kam mir
ziemlich konzeptlos vor.
({0})
Dass gerade Sie der Ministerin Vorwürfe machen, das
trifft den Nagel wirklich nicht auf den Kopf. Was glauben Sie, wozu unsere Ministerin Aigner pausenlos und
in jedem Mitgliedstaat unterwegs ist? Um ihr überzeugendes Konzept einer gemeinsamen Agrarpolitik vorzustellen!
({1})
Wer die Genossenschaften vor allem im Agrarbereich
an dieser Stelle schlechtredet, der soll mir erst einmal ein
besseres Modell nennen. Wir sollten froh sein, dass wir
es haben.
({2})
Nun zum Antrag der Grünen - ich kann nicht alles
aufgreifen -: Es ist schon eine Ungeheuerlichkeit, wenn
man lesen muss: „Die Landwirtschaft darf Biodiversität
nicht länger zerstören …“. Man muss lesen, dass die
Landwirtschaft Teil des Problems ist. Selbst wenn wir
Menschen allein auf dieser Welt wären, wären wir Konkurrenten zur Biosphäre.
({3})
Wir können in unserem Land und weltweit auf vieles
verzichten, aber nicht auf Nahrungsmittelerzeugung,
weil sie die Grundlage unserer Menschheit ist.
({4})
Deshalb ist die Landwirtschaft nicht das Problem, sondern sie ist Teil der Lösung.
({5})
Selbst das Europäische Parlament bestätigte letzte Woche die strategische Bedeutung des EU-Agrarsektors für
die Welternährung.
Zu Ihnen, Kollege Ostendorff, ganz persönlich: Auch
ich verarbeite in meinem Betrieb Bioprodukte; aber ich
habe einen anderen Anspruch und einen anderen Ansatz.
Ich bin nämlich Vertreterin einer Volkspartei, der Union,
und ich habe das Ganze im Blick. Das ist mein Anspruch.
({6})
Ich betreibe Politik nicht nur für eine Klientel, für
5 Prozent der Bauern, sondern für alle Bauern. Alle Bauern, die nach bestem Wissen und Gewissen wirtschaften,
das heißt, sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen, verdienen unsere Anerkennung.
({7})
Wissen Sie, was Sie für mich sind? Sie sind ein Nestbeschmutzer; ich möchte das ganz deutlich sagen.
({8})
Was Sie hier betreiben, ist Kulturkampf. Wir sollten endlich zur Kenntnis nehmen, dass wir alle in einem Boot
sitzen.
Übrigens - nehmen Sie es nicht persönlich -, auch
Ökoschweine müssen am Ende ihres Nutztierlebens geschlachtet werden.
({9})
Frau Kollegin Mortler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ostendorff?
Nein.
({0})
Das besprechen wir hinterher.
Selbst der größte Bioland-Geflügelbetrieb - auch das
gehört zur Wahrheit - hat immerhin 300 000 Nutztiere
im Stall.
({1})
Wenn wir über Landwirtschaft und gemeinsame Agrarpolitik reden, reden wir eben über Nutztierhaltung und
nicht über Kuscheltierhaltung.
({2})
Wir teilen an dieser Stelle selbstverständlich die drei
strategischen Ziele von EU-Kommissar Ciolos: Ernährungssicherheit, hochwertige und sichere Nahrungsmittel sowie Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im
ländlichen Raum erhalten. Wir sagen aber: Dieser Ansatz muss erweitert werden. Wir brauchen in Zukunft
mehr denn je eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft.
Wir teilen mit Ihnen den Ansatz einer nachhaltigen
Landwirtschaft. Vor allem geht es uns um eine flächendeckende Landwirtschaft.
({3})
Wir wollen eine Landwirtschaft, die modern, innovativ
ausgerichtet ist. Sie muss im Einklang mit Wissenschaft
und Forschung stehen; ihr sollten die neuesten Erkenntnisse zugrunde liegen. Sie muss darauf ausgerichtet sein,
Ressourcen zu sparen und so zur Optimierung beizutragen.
({4})
Es ist eben keine Frage von Klein oder Groß, sondern es
ist eine Frage von Können und Wissen.
({5})
In meinem alten Kuhstall zu Hause - er war wirklich
alt - hatten die Tiere fast keinen Platz. Er war dunkel
und miefig, und ich musste das Futter mit der Gabel
quasi über die Kühe hinüber schmeißen, weil so wenig
Platz war. Heute haben wir Ställe - und Möglichkeiten -,
in die ich gerne gehe und sage: Hallo, wie schön ist die
Welt auch für unsere Tiere.
({6})
Ich denke, wir haben ein gemeinsames Thema und
auch ein gemeinsames Anliegen: Das ist der Erhalt der
Gebietskulisse für benachteiligte Gebiete. Wenn Sie uns
wirklich helfen wollen, dann treten Sie mit dafür ein.
Wir wissen, was die Kommission hier vorhat. Wir wissen
aber auch, dass es hier maximalen Aufwand und am Ende
maximalen Ärger - zumindest aus deutscher Sicht - geben wird.
Noch eines: Nehmen Sie - auch auf der linken Seite
dieses Hauses - zur Kenntnis, dass mein Bundesland
Bayern seit vielen Jahren über 40 Prozent der Direktzahlungen, also der Zahlungen aus der ersten Säule, ins
Grünland, in den Bereich Leguminosen und in den Bereich extensive Bewirtschaftungsformen steckt. Das
heißt, wir haben mit der Ökologisierung längst begonnen. Wir sind den anderen Mitgliedstaaten viele Schritte
voraus, und wir wollen auch weiterhin Vorbild sein. Wir
lassen es aber nicht zu, dass Sie am Fundament unserer
bewährten Umweltprogramme rütteln, was die Folge Ihrer Ideen und Konzepte wäre.
({7})
Es ist und bleibt aus meiner Sicht unseriös, wenn Sie
behaupten, wir, Europa, würden die Märkte der Entwicklungsländer zerstören und zuschütten. Sie wissen, wir
sind ein Hochlohnland, und wir liefern in der Regel in
Hochlohnländer. Sie kennen natürlich die Fakten genau,
aber Sie unterstreichen auch mit diesen Falschaussagen
Ihr ideologisches Weltbild. Wirklich schade, meine Damen und Herren!
Ich komme zum Schluss. Unsere Landwirte brauchen
Planungssicherheit. Sie sind darauf angewiesen, dass das
Geldvolumen bekannt ist, bevor Gelder verteilt werden.
Wir setzen uns für sichere heimische Lebensmittel, für
eine gepflegte, schöne, flächendeckende Kulturlandschaft und auch dafür ein, dass Landwirtschaft in Zukunft ihren Beitrag zur Energieversorgung und zum Klimaschutz leistet.
Frau Kollegin.
Das heißt, wir kämpfen für eine starke europäische
Agrarpolitik auf einem soliden finanziellen Fundament.
Für diese starke europäische Agrarpolitik, Herr Präsident, wollen wir uns alle hier in dieser Koalition auch in
Zukunft gemeinsam einsetzen.
Danke schön.
({0})
Die Bereitschaft des Präsidenten, an dieser starken
europäischen Landwirtschaftspolitik mitzuwirken,
kommt auch in den Zuschlägen zu den Redezeiten eindeutig und eindrucksvoll zum Ausdruck - auch noch in
der Möglichkeit, die der Kollege Ostendorff jetzt noch
für eine Kurzintervention erhält.
Schönen Dank, Herr Präsident! - Nach diesem Feuerwerk an Angriffen auf mich lassen Sie mich einige wenige Anmerkungen machen. Ich glaube, dass bisher für
alle hier in diesem Haus unbestritten war, dass wir bis
zum Anfang des 20. Jahrhunderts im mitteleuropäischen
Raum die höchste Artendichte hatten. Das war, glaube
ich, der bisherige Erkenntnisstand - auch in Bayern und
in Franken, Frau Mortler.
Ich glaube auch, dass wir nach dem bisherigen Erkenntnisstand in der Agrarbiologie, im Naturschutz usw.
sagen können, dass durch die Intensivierung der Landwirtschaft Druck auf die Artenvielfalt entstand.
({0})
Ich denke, das ist der gemeinsam getragene Erkenntnisstand.
Wie Sie zu der Aussage kommen, dass der Mensch
durch sein Erscheinen auf der Erde die Artenvielfalt
nach unten gedrückt hat, entzieht sich meiner Kenntnis
und, ich glaube, auch der Erkenntnis der meisten Fachleute hier im Raum. Ich denke, dass die bäuerliche Bewirtschaftung - eine bestimmte Bewirtschaftungsform die höchste Artendichte geschaffen hat. Das ist das, was
bisher an Allgemeinwissen zur Verfügung steht. Wenn
Sie da widersprechen wollen, tun Sie es bitte energisch
oder schweigen Sie bei diesem Punkt.
({1})
Ich glaube, dass wir auch überlegen sollten, ob es
klug ist, zu versuchen, uns bzw. die Landwirtschaft von
der übrigen Gesellschaft abzugrenzen. Ich werbe ausdrücklich dafür, dass wir versuchen, mit den 20 000 Demonstranten vom Samstag einen konstruktiven Dialog
zu führen. Ich glaube, dass das für die Zukunft der Landwirtschaft wichtig ist. Ich würde mich auch freuen, eine
Aussage Ihrerseits darüber zu erhalten, wie Sie diese Bewegungen bewerten. Wenn Sie das aufrechterhalten,
dann bin ich stolz auf die Titulierung „Nestbeschmutzer“. Dann sage ich schönen Dank an Sie.
Zur Erwiderung Frau Kollegin Mortler.
Herr Kollege, ich werde Ihre verschiedenen Fragen
nicht in einem scharfen Ton, sondern in meinem Ton beantworten. Zur letzten Frage: Nein, ich war bei dieser
Bewegung bzw. dieser Demo nicht dabei. Das macht
deutlich, dass ich wenig davon halte. Denn ich stehe hinter der Mehrheit meiner Bäuerinnen und Bauern. Was
hier betrieben worden ist, war in hohem Maße Nestbeschmutzung und Verdummung der Leute. Wenn Sie
mehr darüber wissen wollen - damit beantwortet sich
schon die nächste Frage; Sie haben mir einfach nicht zugehört -, dann kommen Sie zu mir in die Nachhilfestunde.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4542 und 17/2479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entschädigungsleistungen für Opfer der
Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“ in
der Zeit des Nationalsozialismus
- Drucksache 17/4543 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir offenkundig so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, die laufenden monatlichen Leistungen für
Zwangssterilisierte und Überlebende von „Euthanasie“Maßnahmen nach den AKG-Härterichtlinien ab dem
1. Januar 2011 von monatlich 120 auf monatlich
291 Euro zu erhöhen.
Es ist kein Zufall, dass wir diesen Antrag heute, am
27. Januar 2011, in den Deutschen Bundestag einbringen. Denn gemeinsam mit den europäischen Juden, den
Sinti und Roma und anderen waren auch die auf der
Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses vom 14. Juli 1933 Zwangssterilisierten sowie die Betroffenen von „Euthanasie“-Maßnahmen Opfer nationalsozialistischen Unrechts.
Das sogenannte Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses wurde am 14. Juli 1933, kurz nach der
Machtergreifung der Nationalsozialisten, auf der Grundlage des seit März 1933 geltenden Ermächtigungsgesetzes von der Reichsregierung allein in Kraft gesetzt und
betraf die Sterilisation geistig Erkrankter und Schwerbehinderter, auch gegen deren Willen. Das Gesetz beruhte
nicht auf einem vorherigen preußischen Gesetzentwurf;
denn ein solcher hatte als unabdingbare Voraussetzung
noch die Einwilligung des zu Sterilisierenden gefordert.
Die Zielsetzung des Gesetzes war rassistisch, wie sich
aus einer Ausführungsverordnung eindeutig ergibt:
Ziel der dem deutschen Volk artgemäßen Erb- und
Rassenpflege ist eine ausreichend große Zahl erbgesunder, für das deutsche Volk rassisch wertvoller,
kinderreicher Familien zu allen Zeiten. Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassegedankens.
Aufgrund dieses Gesetzes wurden im Dritten Reich
bis 1945 circa 350 000 Menschen zwangssterilisiert, von
denen etwa 6 000 Frauen und 600 Männer an den Folgen
starben. Über 200 000 Menschen wurden im Rahmen sogenannter „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet.
Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai
1949 traten Rechtsnormen außer Kraft, die dem Grundgesetz widersprachen, so nach heutiger Rechtsauffassung auch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 2
Abs. 2 des Grundgesetzes. Die wenigen als Bundesrecht
fortgeltenden Regelungen über Unfruchtbarmachung
und Schwangerschaftsabbruch mit Einwilligung bei Lebens- und Gesundheitsgefahr sind endgültig durch Art. 8
Nr. 1 des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts
vom 18. Juni 1974 aufgehoben worden.
Der Deutsche Bundestag hat außerdem in seinen Entschließungen vom 5. Mai 1988 und 29. Juni 1994 festgestellt, dass die auf der Grundlage des Gesetzes zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses durchgeführten
Zwangssterilisationen nationalsozialistisches Unrecht
waren. Er ächtete in seinen Entschließungen diese Maßnahmen als Ausdruck der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom lebensunwerten Leben. Der
Deutsche Bundestag bekräftigte dies zuletzt in seiner
Entschließung vom 24. Mai 2007 erneut und bezeugte
den Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“
sowie ihren Angehörigen seine Achtung und sein Mitgefühl.
Den Opfern der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ werden ab 1980 durch einen Erlass des Bundesfinanzministeriums und ab 1988 nach den Richtlinien
der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von
nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen
des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes - AKG-Härterichtlinien - Leistungen gewährt. Nach den jetzt gültigen
Richtlinien können Opfer einmalige Beihilfen in Höhe
von 2 556 Euro, damals 5 000 DM, erhalten. Zusätzlich
können laufende monatliche Leistungen in Höhe von
120 Euro gezahlt werden. Für Opfer der Zwangssterilisierung und „Euthanasie“ kommen im Falle einer Notlage ergänzende laufende Leistungen in Betracht.
Die vier den Antrag einbringenden Fraktionen halten
unter Bezugnahme auf die Ächtung des Gesetzes zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses und in Anbetracht
der lebenslangen, schweren Beeinträchtigungen eine Erhöhung der monatlichen Leistungen auf 291 Euro ab
dem 1. Januar 2011 für erforderlich, wohlwissend, dass
natürlich auch mit diesem erhöhten Betrag das Unrecht
nicht wiedergutgemacht werden kann. Der Betrag orientiert sich an den Leistungen für jüdische Opfer des Nationalsozialismus, die Haft in einem Konzentrationslager
oder Getto erlitten und keine Leistungen aus dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten haben. Am Zweiten
Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes als Schlussgesetz halten wir fest.
Abschließend möchte ich auch namens meiner Fraktion den Opfern, von denen nur noch wenige leben, noch
einmal unser Mitgefühl und unsere besondere Solidarität
versichern. In diesem Sinne schließe ich mit einem Zitat
von Valentin Hennig, einem engagierten Vertreter für die
Rechte der Opfer von Zwangssterilisation in den 60erund 70er-Jahren: Unrecht kann Recht nicht verdrängen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält der Kollege Joachim Poß für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
legen heute diesen von vier Fraktionen getragenen Antrag vor, um, wie Kollege Kolbe erwähnt hat, zwei Gruppen von Opfern des Nationalsozialismus, den Zwangssterilisierten und den „Euthanasie“-Opfern, unseren
Respekt zu erweisen und sie auch finanziell etwas
besserzustellen.
({0})
Dabei wissen wir natürlich, dass nichts deren Leid aufwiegt. Herr Kolbe hat den Sachverhalt, der auch im Antrag beschrieben wird, erläutert.
Auch dieser Antrag zeigt indes, dass es jenseits des
von uns allen betriebenen politischen Kampfes gegeneinander auch wichtige Bereiche unseres Amtes als
Parlamentarier und Volksvertreter gibt, in denen wir
- zumindest mit großer Mehrheit - einmütig zusammenstehen. Auch das kennzeichnet den bundesrepublikanischen Parlamentarismus, dass es immer wieder Situationen und Entscheidungen auch jenseits historischer
Weichenstellungen gab und gibt, in denen wir einig und
geschlossen auftreten.
Ohne unsere heutige Debatte und das Anliegen unseres Antrags überhöhen zu wollen, bemerke ich nur
grundsätzlich: Ohne Probleme und mit Engagement sowie Überzeugung aller beteiligten Seiten wurde der fraktionsübergreifende Antrag einvernehmlich formuliert. Er
liegt jetzt dem Hohen Hause zur Abstimmung vor.
Es passt, dass wir ihn heute, am Tag des Gedenkens
an die Opfer des Nationalsozialismus, beraten. Die Opfergruppen erwarten zu Recht unsere Achtung und unser
Mitgefühl. Sie können das auch einfordern. Das ist sicherlich auch eine Frage des Gerechtigkeitsempfindens.
Wir sind fraktionsübergreifend zu der Auffassung gelangt, dass sich das auch in einer Anpassung der
Entschädigungsleistungen niederschlagen sollte. Die
„Euthanasie“-Opfer haben bisher keine monatlichen laufenden Leistungen bekommen. Das Parlament zeigt damit tätiges und aktiv gestaltendes Gedenken mit Bedeutung für das Alltagsleben. Es handelt sich um Menschen
mit lebenslangen schweren Beeinträchtigungen, deren
Los wenigstens ein bisschen erleichtert werden kann.
Unser Anliegen - da sind wir sicher - wird auch
durch die Bundesregierung geteilt werden. Wir stehen
alle in der Verpflichtung, darauf hinzuwirken, die überle9820
benden Opfer des Naziregimes und des Holocausts gerecht und ihrem Schicksal angemessen zu behandeln, soweit das überhaupt möglich ist.
Nicht nur wir auf sozialdemokratischer Seite werden
daran beständig und mit Nachdruck von Hans-Jochen
Vogel erinnert, der seit fast 20 Jahren gegen Vergessen
und für Demokratie mit der ihm eigenen Vehemenz und
Konsequenz eintritt. Auch für die Initiierung des heute
zu beratenden Antrags war Hans-Jochen Vogel maßgeblich mitverantwortlich.
Wir sollten die heutige Beratung nutzen, um uns zu
vergegenwärtigen, welch eine wichtige und großartige
Initiative der von Hans-Jochen Vogel und anderen überparteilich gegründete Verein „Gegen Vergessen - Für
Demokratie“ ist. Seinerzeit waren Hanna-Renate
Laurien von der CDU, die damals in Berlin war - vorher
war sie in Rheinland-Pfalz -, und andere dabei. Er wird
politisch und gesellschaftlich breit getragen und sollte
mit Blick auf die Vergangenheit sogar noch stärker getragen werden.
Großer Dank gebührt meinem Kollegen Michael
Meister, der als Vertreter der Regierungskoalition die
wesentlichen Recherchen und Abstimmungsarbeiten für
den Antrag geleistet hat. Er hat sich damit sehr für das
gemeinsame Anliegen des Gedenkens an die Opfer des
Nationalsozialismus eingesetzt.
Für die Fraktion der FDP sei dem Kollegen Volker
Wissing, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem
Kollegen Volker Beck gedankt, der sich auch in der Vergangenheit schon mit diesen Themen engagiert auseinandergesetzt hat.
({1})
Das war die Voraussetzung, damit wir gemeinsam diesen
Antrag dem Parlament zur Abstimmung vorlegen können. Allen, die daran mitgewirkt haben, gilt mein herzlicher Dank.
Vielen Dank.
({2})
Die Kollegin Gabriele Molitor ist nun die nächste
Rednerin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Auch heute fällt es schwer, die richtigen Worte
zu finden, wenn wir uns mit den Gewalttaten des Naziregimes befassen. So unfassbar und menschenverachtend sind die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus gewesen.
In der sehr bewegenden Feierstunde heute Morgen
haben wir gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus
gedacht. Heute Mittag fand eine Gedenkfeier des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung in der Tiergartenstraße 4 statt.
An diesem Ort verhängte das Naziregime den „Euthanasie“-Beschluss, der die systematische Massentötung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen in
Gang setzte. Von 1939 bis 1945 wurden mehr als
200 000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Leben
wurde als „lebensunwert“ bezeichnet. Ihre Ermordung
hieß „Euthanasie“. Allein dieser Begriff - „guter Tod“ zeigt, dass die damaligen Machthaber skrupellose Mörder waren, die kein Unrechtsbewusstsein hatten.
Schon 1933 verabschiedete die Reichsregierung ein
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Eine
zwangsweise durchgeführte Sterilisation sollte die Weitergabe von Erbkrankheiten auf die nächste Generation
verhindern. Unter die willkürliche Definition „erbkrank“
fielen Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung, aber auch sogenannte Asoziale, Hilfsschüler, Fürsorgezöglinge, Tuberkulosekranke und Alkoholabhängige. Mehr als 350 000 Frauen und Männer mussten sich
einem erniedrigenden Eingriff unterziehen. Ihnen wurde
das Recht abgesprochen, zu heiraten, weiterführende
Schulen zu besuchen oder einen Beruf im Bildungs- oder
Sozialbereich zu ergreifen.
Warum gehe ich so ausführlich auf diese Hintergründe ein? Ich tue dies, weil wir die Erinnerung an
diese furchtbaren Verbrechen wachhalten müssen. So etwas darf sich niemals wiederholen.
Heute reden wir über einen fraktionsübergreifenden
Antrag, der höhere Entschädigungsleistungen für die
Menschen fordert, die der Zwangssterilisation und der
„Euthanasie“ in der NS-Zeit zum Opfer fielen. In den
80er-Jahren und erneut 2007 hat der Bundestag bekräftigt, dass das für die „Euthanasie“-Morde wegbereitende
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von
1933 ein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz war. Seit
1980 bzw. 1988 werden Entschädigungsleistungen für
Opfer von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ über das
Allgemeine Kriegsfolgengesetz geleistet.
Ich bin sehr froh, dass wir gerade heute, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, über diesen
fraktionsübergreifenden Antrag beraten. Die Entschädigungsleistung für die Opfer der Zwangssterilisation zu
erhöhen, ist richtig. Wir wissen, dass die seelischen Folgen der Misshandlungen und das zugefügte Leid nicht
mit Geld aufzuwiegen sind. Viel wichtiger ist es, den
Menschen zu zeigen, dass wir ihnen beistehen und aus
der Geschichte lernen. Für Bürger wie Politiker heißt
das: Wir müssen alles tun, um Intoleranz, Ausgrenzung
und Benachteiligung zu verhindern.
In den vergangenen 60 Jahren hat sich zwar viel getan, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Erst seit den
90er-Jahren denken wir in Richtung Inklusion. Nicht der
behinderte Mensch hat sich auf die Bedingungen der Gesellschaft einzustellen, sondern die Gesellschaft hat solche Rahmenbedingungen zu schaffen, dass die Behinderung nicht als Beeinträchtigung verstanden wird.
1994 wurde in Art. 3 des Grundgesetzes die Formulierung aufgenommen:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
2002 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft.
In der UN-Behindertenrechtskonvention sind die Rechte
von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben. Sie
sind geltendes Menschenrecht. Deutschland hat diese
Konvention 2009 unterschrieben.
„Euthanasie“ war und bleibt ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und darf nie wieder passieren. Orte der
Erinnerung, Mahnmale, Gedenkstätten und Ausstellungen ermahnen uns, das nicht zu vergessen. Es muss für
uns eine immerwährende Aufgabe sein, mit jungen Menschen über die NS-Zeit zu sprechen, damit die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte nicht in Vergessenheit geraten.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sogenannte Euthanasie war ab 1934 eines der ersten furchtbaren Vernichtungsprogramme der Nazis. Hunderttausende Menschen wurden zwangsweise sterilisiert. Viele
starben dabei. Über 200 000 Menschen wurden im Rahmen der „Euthanasie“-Maßnahmen ermordet. Vernichtung angeblich lebensunwerten Lebens - schon dieser
Begriff ist so ungeheuerlich, dass einem beinahe die
Sprache fehlt.
Natürlich stimmt die Linke heute dafür, die Opferrente für Zwangssterilisierte von 120 auf 291 Euro zu erhöhen und diese Regelung auf die Opfer von „Euthanasie“-Maßnahmen auszudehnen. Das ist das Mindeste,
was wir für die Überlebenden bzw. Angehörigen tun
können.
({0})
Es hat viel zu lange gedauert, bis das Erbgesundheitsgesetz hierzulande als NS-Unrecht erkannt worden ist.
Die Opfer wurden nicht als NS-Verfolgte anerkannt, und
sie erhielten - dies ist übrigens bis heute so - keine Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, weil dieses Gesetz eine Frist enthielt, die längst abgelaufen ist.
Erst seit Ende der 90er-Jahre erhalten die Betroffenen
kleine Opferrenten. Für SS-Mitglieder und Nazibeamte
wurden solche Befristungen im Übrigen nie eingeführt.
Auch das ist ein Unrecht, das benannt werden muss.
({1})
Die Vorstellung, es gebe Menschen, die ein größeres
Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben als andere, ist auch heute leider nicht überwunden. Ich will nur
daran erinnern, dass der CDU-Abgeordnete Philipp
Mißfelder hier vor einigen Jahren die Auffassung vertreten hat, dass alten Menschen keine künstlichen Hüftgelenke mehr zu gewähren seien. Gesundheitspolitik nach
dem Geldbeutel ist leider auch die Linie dieser Bundesregierung. Ausreichende medizinische Versorgung nur
noch für jene, die über entsprechende Einkommen verfügen und die ihre Versorgung privat finanzieren können das ist weit entfernt von dem, wozu die NS-Verbrechen
mahnen, nämlich zu einer Gesundheitsversorgung, die
sich eben nicht an Nützlichkeit, sondern an Menschlichkeit orientiert.
({2})
Es ist sehr bedauerlich - ich finde es gerade am heutigen Gedenktag sehr beschämend -, dass alle Fraktionen
dieses Hauses die Linke bei der Einreichung dieses Antrags wiederum ausgegrenzt haben. Gerade die Linke hat
sich in den vergangenen Jahren immer auf die Seite der
NS-Opfer gestellt, und viele meiner Kolleginnen und
Kollegen haben frühzeitig und seit Jahren immer wieder
- ich selber übrigens auch - für die Entschädigung der
Zwangsarbeiter, aber auch anderer Opfer gekämpft.
({3})
Gerade deswegen wäre es an dem heutigen Tag sinnvoll
gewesen, ein Zeichen des gesamten Hauses zu setzen
und, liebe Kollegin, eben nicht mit Ausgrenzung zu arbeiten. Sie haben es ja eben selbst moniert.
({4})
Ich will zum Schluss sehr deutlich machen, dass es
immer noch viele NS-Opfer gibt, die bis heute nicht entschädigt worden sind. Ich will an die Massaker der SS
und der Wehrmacht, beispielsweise in Distomo in Griechenland, erinnern. Auch die italienischen Militärinternierten, die Zwangsarbeit für die Nazis und die Rüstungsindustrie leisten mussten, sind bis heute nicht entschädigt
worden.
Ich denke, es ist eine zynische Missachtung, dass man
aufgrund des häufig öffentlichen Drucks immer wieder
Gruppen herausgegriffen und in Entschädigungsrechte
einbezogen, aber andere immer wieder ausgegrenzt hat.
Deswegen sage ich für meine Fraktion: Hören Sie auf,
die Opfergruppen zu spalten, und geben Sie den Opfern
das, was für ihre Anerkennung und Entschädigung notwendig ist. Dazu gehört eben nicht Ausgrenzung. Alle
müssen einbezogen werden.
Danke schön.
({5})
Nun hat das Wort der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfangs
gesagt: Auch ich finde es unnötig und albern, dass man
die Linke bei so etwas außen vor lässt. Aber ich muss
Volker Beck ({0})
auch sagen: Beim Mittelteil Ihrer Rede haben Sie sich
selbst ein bisschen aus dem Zentrum der Debatte katapultiert.
({1})
Mit dem heutigen Beschluss des Deutschen Bundestages gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt bei der
Anerkennung und Entschädigung der Zwangssterilisierten und der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wir haben, auch unter Rot-Grün, lange darum gerungen, die
Leistungen sukzessive zu verbessern. Ich bin froh, dass
wir es heute schaffen, die außergesetzlichen Leistungen
auf das Niveau der Leistungen anzuheben, die jüdische
Opfer, die in Konzentrationslagern waren oder 18 Monate
in einem Ghetto gelebt haben, bekommen können. Es sind
sehr geringe Leistungen - das wollen wir uns auch eingestehen -, aber ich bin froh, dass das heute gelingt.
Gleichwohl bleiben wir den Opfern des „Euthanasie“Programms und den Zwangssterilisierten eines nach wie
vor schuldig: Damit meine ich nicht Geld, sondern die
Aussage, dass sie rassisch Verfolgte sind. Die Nichtanerkennung der rassischen Verfolgung für die der Opfer des
Erbgesundheitsgesetzes ist die Rechtsgrundlage gewesen, warum sie nicht Opfer im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes waren. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz können seit 1969 keine neuen Anträge mehr
gestellt werden. Deshalb wäre es eigentlich ein Leichtes,
dass der Deutsche Bundestag hier eine klare Aussage
trifft. Das ist in dem Antrag leider noch nicht gelungen;
das kann man allerdings auch ohne Kostenrelevanz zu
einem späteren Zeitpunkt nachholen.
({2})
Was die Geschichte angeht, so ist das Erbgesundheitsgesetz, das unmittelbar nach der Machtergreifung 1933
in Kraft gesetzt wurde, das erste Rassegesetz der Nationalsozialisten gewesen. Ärzte waren nun verpflichtet,
Menschen zu ihrer Sterilisation zu melden, und sie taten
dies mit unterschiedlich viel Eifer. Mehr als 5 000 Menschen starben an diesen Eingriffen. Andere suchten den
Freitod. Über 400 000 Menschen wurden zwangsweise
unfruchtbar gemacht. 90 Prozent von ihnen waren
Frauen.
Einer der eifrigen Ärzte hat mit der Nichtanerkennung dieser Opfergruppe sehr viel zu tun. Es war der
Psychiater Werner Villinger, der als Chefarzt in einer
Anstalt in Bethel bei Bielefeld praktizierte. In der Zeit
zwischen 1934 und 1936 meldete allein er 2 854 Menschen zur Zwangssterilisation - 2 854 Menschen, die
heute keine Enkelkinder haben und meist allein ihr restliches Leben verbringen müssen, sofern sie noch leben.
Ärzte wie Villinger gab es viele, und wie er machten
viele in der jungen Bundesrepublik - auch das gehört zur
traurigen Kontinuität unserer Geschichte dazu - Karriere,
statt vor Gericht für ihre Verbrechen zur Verantwortung
gezogen zu werden. Ein Skandal! Und ein noch größerer
Skandal: Als Sachverständiger des Ausschusses des
Deutschen Bundestages für Wiedergutmachung wandte
sich Werner Villinger damals vehement gegen eine finanzielle Entschädigung seiner Opfer und tat deren Entschädigungsbegehren als „Entschädigungsneurose“ ab.
Villinger wurde Rektor der Universität Marburg und bekam das Große Bundesverdienstkreuz.
Er war der Ratgeber für unser Haus - auch das gehört
zu unserer Geschichte als Deutscher Bundestag dazu -,
und da sind wir dem Falschen gefolgt. Ich finde, wir haben diesbezüglich etwas historisch aufzuarbeiten und
wiedergutzumachen. Deshalb appelliere ich an alle Fraktionen, die den Antrag heute getragen haben, eine weitere Initiative auf den Weg zu bringen, um deutlich zu
sagen, dass wir anerkennen: Die Opfer des „Euthanasie“-Programms, die Zwangssterilisierten waren rassisch
Verfolgte, und die frühere Falscheinteilung durch den
Bundesgerichtshof, durch den Deutschen Bundestag war
ein historischer Fehler. Insofern hat sich unser Haus gegenüber diesen Opfern schuldig gemacht.
({3})
Zur ganzen Wahrheit gehört übrigens, dass diese
schreckliche Geschichte der Ausgrenzung der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten nicht nur
ein Fehler der Bundesrepublik Deutschland war. Vielmehr wurden die Zwangssterilisierten auch in der DDR
1952 sogar ausdrücklich aus der Liste der NS-Verfolgten
gestrichen. Daher konnten sie in der DDR keinen Anspruch auf Entschädigung verwirklichen.
Überlebende dieses Unrechts, wie die Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“Geschädigten und Zwangssterilisierten, kämpfen bis
heute um diese Anerkennung. Es leben nur noch wenige
Dutzend der Opfer des „Euthanasie“-Programms. Wir
sollten mit der klaren Aussage, wie wir zu diesem historischen Sachverhalt stehen, nicht warten, bis die Letzten
gestorben sind.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter
Aumer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
In der Verblendung, Leben könne lebensunwert
sein, wurden in der Zeit des Nationalsozialismus
638 Frauen, Männer und Jugendliche von hier aus
nach Hartheim bei Linz gebracht und ermordet,
mehr als fünfhundert weitere gegen ihren Willen
sterilisiert. Viele hundert Menschen litten und starben in diesem Krankenhaus an den Folgen staatlich
verordneter extremer Überbelegung und Mangelernährung.
Gedenket der Opfer … und derer, die in der Not geholfen haben!
Sie alle waren Menschen wie wir.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine Tafel mit dieser Inschrift wurde im Jahr
1990 in einem Klinikum in meinem Wahlkreis angebracht, im Gedenken an die Transporte aus dieser Klinik
im Rahmen des zynisch als „Euthanasie“ bezeichneten
menschenverachtenden und verbrecherischen Mordprogramms und zur Zwangssterilisierung.
Dieses Beispiel aus meinem Wahlkreis ist im damaligen Deutschland sicher nur eines von vielen gewesen.
Mit einem auf den 1. September 1939 rückdatierten Erlass gab Hitler persönlich den schändlichen Auftrag zur
Tötung allen nicht arbeitsfähigen „lebensunwerten Lebens“. Für mich stellt sich die Frage: Was kann überhaupt „lebensunwertes Leben“ sein? Kann es so etwas
geben? Leben kann niemals lebensunwert sein. Leben ist
nicht nur um der Arbeit willen lebenswert. Der große
Philosoph Immanuel Kant drückt es treffend aus:
Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner
Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst.
Jedes Leben ist lebenswert. Deswegen ist die Achtung
vor dem anderen, die Anerkenntnis seines Rechts, zu existieren, und die Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen Fundament eines guten und
tragfähigen Miteinanders.
({0})
Unser Grundgesetz gibt die richtige Antwort:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Herr Kollege Aumer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Nein. - Diesem Auftrag sind wir alle verpflichtet.
Wir bringen heute, am 27. Januar, am Gedenktag der
Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, einen
fraktionsübergreifenden Antrag ein, um die Entschädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisierung und
der „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus zu
erhöhen. Wir wissen, dass keine Entschädigung das himmelschreiende Unrecht, das furchtbare Leid und das
grenzenlose Unheil ausgleichen kann, das die Nationalsozialisten bei der Verfolgung ihrer Rassenziele über
Menschen und deren Angehörige gebracht haben.
Es ist richtig und gut, diese Entschädigungsleistungen
zu erhöhen. Es ist richtig und gut, sich an einem Tag wie
heute zu erinnern und Verantwortung zu übernehmen. Es
ist richtig und gut, den Betroffenen zu zeigen: Wir haben
das Schicksal, das ihnen widerfahren ist, nicht vergessen. Es ist richtig und gut, zu zeigen, dass solch tiefes
und erschütterndes Unrecht in Deutschland nicht mehr
möglich ist; denn wir haben aus unserer Geschichte gelernt.
Papst Benedikt XVI. hat bei seinem Besuch im Konzentrationslager Auschwitz im Jahr 2006 gesagt:
Das Vergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns
an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dürfen und welche wir suchen müssen.
Zukunft braucht Erinnerung.
Bundespräsident Roman Herzog hat bei der Einführung des heutigen Gedenktages im Jahr 1996 gesagt:
Wer Unfreiheit und Willkür kennt, der weiß Freiheit
und Recht zu schätzen.
({0})
Die Selbstverständlichkeit aber, mit der unser Volk
Freiheit und Recht erleben darf, vermittelt mitunter
zu wenig Gespür für die Gefahren von Willkür und
Unfreiheit.
Es ist unsere Aufgabe, diesem großen Auftrag gerecht
zu werden. Wir müssen mithelfen, die Lebensbedingungen in unserem Land weiter so zu gestalten, dass alle
Menschen in Einigkeit und Recht und Freiheit leben
können. Eingedenk unserer Geschichte und der Verantwortung, die daraus resultiert, müssen wir uns in einem
starken Europa gemeinsam für Frieden und Freiheit in
der Welt einsetzen.
Die Inschrift eines anderen Denkmals in meinem
Wahlkreis, das an die Verbrechen der Nationalsozialisten
erinnert, endet mit einem Zitat von Victor Hugo:
Die Vergangenheit nennt sich Hass, die Zukunft
heißt Liebe.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Seifert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Aumer
sprach gerade sehr salbungsvoll davon, dass wir einander achten sollen. Ja, das finde ich auch, Herr Aumer
und liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion. Aber Sie alle wissen so gut wie ich, dass die
Fraktion Die Linke und die Vorgängerfraktionen der
PDS in jeder vorherigen Wahlperiode ähnliche Anträge
eingebracht haben. Wir haben uns immer engagiert dafür
eingesetzt, dass die Nazi-Unrechtsgesetze für von Anfang an null und nichtig erklärt werden und dass den Opfern beizeiten ordentliche Entschädigungen geleistet
werden.
Jetzt grenzen Sie uns aus, wir dürfen noch nicht einmal auf Ihrem Antrag erscheinen. Wir stimmen ihm
selbstverständlich zu, weil er vernünftig ist. Aber wenn
Sie von Achtung voreinander sprechen, dann achten Sie
wenigstens Ihre Kollegen in diesem Hause. Achten Sie
unsere Arbeit, weil auch wir den Opfern helfen wollen.
Ich finde, es gehört zum Anstand in diesem Hohen
Hause, dass man einander achtet und die Arbeit der anderen nicht dadurch diskreditiert, dass man sie nicht einmal mitmachen lässt. Ich will ausdrücklich hinzufügen:
Gerade weil die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisierung in der DDR nicht gebührend geachtet und gewürdigt wurden, haben wir diese Anträge eingebracht.
Wir haben gelernt und wollen dieses Unrecht wiedergutmachen. Sie geben uns dazu aber keine richtige Chance.
Gehen Sie in sich und überlegen Sie sich, ob das wirklich sein muss.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/4543 mit dem Titel „Ent-
schädigungsleistungen für Opfer der Zwangssterilisie-
rung und der ,Euthanasie’ in der Zeit des Nationalsozia-
lismus“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Ist jemand
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dirk Becker, Hubertus Heil ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Energieeffizienz verbessern - Auf dem europäischen Sondergipfel zur Energiepolitik
am 4. Februar 2011 verbindliche Maßnahmen
vereinbaren
- Drucksache 17/4528 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
EU-Klimaschutzziel erhöhen
- Drucksache 17/4529 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Kelber, Rolf Hempelmann, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland und Europa sicherstellen
- Drucksache 17/4527 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europas Energiezukunft erneuerbar und sicher gestalten
- Drucksache 17/4544 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
dass Sie damit einverstanden sind. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das
Wort.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 4. Februar 2011 findet der EU-Sondergipfel zur
Energiepolitik statt. Und siehe da: Das ist kein Thema,
zu dem der Wirtschaftsminister oder die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung abgibt. Wir diskutieren das
auf Antrag von Fraktionen zu später Stunde. Aber das ist
natürlich leicht zu erklären: Die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen wissen selbst, dass sie auf
dem Gebiet der Energiepolitik nichts zu bieten haben.
({0})
Um Ihnen zu zeigen, dass Ihre Einsicht - wenn sie
denn vorhanden ist - berechtigt ist: Ein Schwerpunkt bei
diesem Gipfel wird die Energieeffizienz sein. Die Europäische Kommission hat eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten kritisiert, weil ihre eingereichten Energieeffizienzpläne nicht ausreichen, um die selbst gesetzten
Ziele zu erreichen. Insbesondere hat sie Deutschland kritisiert, weil die Pläne, die Sie eingereicht haben, bestenfalls reichen, um etwa 12 Prozent Effizienzerhöhung bis
zum Jahre 2020 zu erreichen. Mindestens 20 Prozent
waren das gesetzte Ziel; eigentlich hatten wir sogar noch
mehr vor.
({1})
Das zeigt, wie bescheiden Sie in Ihren Zielsetzungen
und Ihren Planungen geworden sind.
Noch deutlicher wird das an dem, was Sie in den letzten anderthalb Jahren Ihrer Regierungspolitik im Bereich
der Effizienzpolitik tatsächlich getan haben. Im Gebäudebereich gab es ein äußerst erfolgreiches Programm,
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Es hat sich über
die eingehenden Steuern selbst finanziert. Es hat mehr
als 200 000 Handwerker in Arbeit gebracht. 1 Million
Wohnungen wurden in wenigen Jahren saniert. Jetzt haben Sie die Mittel auf die Hälfte zurückgefahren, obwohl
alle Experten gesagt haben: Eher wäre es an der Zeit, das
Programm sogar auszuweiten. - Strukturen, die im
Handwerk entstanden sind, werden wieder schrumpfen.
Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir brauchen.
({2})
Auch auf der Erzeugungsseite greift Ihre sogenannte
Effizienzpolitik zu kurz. Ja, Sie bekennen sich lautstark
zur Kraft-Wärme-Kopplung. Aber was Sie tatsächlich
tun, ist das Gegenteil. Steuerlich stellen Sie sie schlechter. Auch den Ausbau der Fernwärmenetze belasten Sie
zusätzlich, sodass keiner in der Branche mehr glaubt,
dass die selbst gesetzten Ziele - 25 Prozent KraftWärme-Kopplung bis zum Jahre 2020 - von Ihnen erreicht werden.
Meine Damen und Herren, die SPD hat zu diesem
Thema einen Antrag eingebracht. Wir haben einen gründlich vorbereiteten Effizienzaktionsplan angemahnt: mit
verbindlichen Vorgaben, insbesondere für den Gebäude-,
aber auch für den Verkehrsbereich, mit einem klugen Mix
aus steuerlichen Anreizen, mit anderen Förderinstrumenten und, wo notwendig, auch mit Ordnungsrecht. Auch
die Entwicklung von Finanzdienstleistungen wird von
uns vorgeschlagen. Sie sind diesen Weg bisher nicht gegangen. Chancen, die zum Beispiel in Energiedienstleistungen, im Contracting, liegen, werden nicht wahrgenommen, obwohl viele Marktakteure schon lange darauf
warten.
Der zweite Schwerpunkt sind die erneuerbaren Energien; auch damit werden Sie sich auf dem Gipfel am
4. Februar dieses Jahres befassen. Was haben wir dazu in
letzter Zeit nicht alles gehört? Der Energiekommissar, ein
Deutscher, seines Zeichens ehemaliger CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Herr Oettinger, griff
das EEG an und sagte: Wir brauchen die Harmonisierung,
die Konvergenz der Förderinstrumente in Europa. - Jetzt
ist er zurückgerudert und hat gesagt: Das habe ich eigentlich nie so gemeint.
({3})
Er hat nämlich festgestellt, dass das in Europa überhaupt
nicht durchsetzbar ist.
Er hat vielleicht noch etwas anderes gemerkt: Wenn er
Harmonisierung und Konvergenz ernst nehmen würde,
dann müsste er eigentlich dafür sorgen, dass endlich auch
die 6 der 27 Mitgliedstaaten, die noch kein EEG haben,
ein solches Instrument einführen. Denn das EEG ist das
Regelinstrument, nicht etwa die Quote, die Sie so gerne
haben möchten.
({4})
Jedenfalls gilt in 21 Mitgliedstaaten von der Struktur
her genau das, was auch in Deutschland gilt, nämlich ein
Einspeisevorrang für erneuerbare Energien und feste
Entgelte für die Einspeisung mit einem Degressionspfad.
Dieses System - das wissen die anderen - müssen wir
erhalten, gerade wenn wir die Marktfähigkeit der erneuerbaren Energien vorantreiben wollen; auch das sagen
Ihnen mittlerweile viele Experten.
Erst jüngst ist ein Gutachten von Prognos vorgelegt
worden, das deutlich macht, dass in diesem Bereich ganz
erhebliche Chancen liegen. Wenn die Markt-, aber auch
die Systemintegration der Erneuerbaren mit den entsprechenden Instrumenten und gemeinsam mit den Marktakteuren vorangetrieben wird, dann erreichen Sie sowohl
ökologische als auch ökonomische Ziele. Die erneuerbaren Energien werden billiger und werthaltiger.
({5})
In dieser Prognos-Studie wird eines deutlich: Es wird
nichts passieren, wenn ein Akteur ausfällt. Dieser Akteur
ist die Politik. Wenn Sie nichts tun, wenn Sie die Akteure nicht an einen Tisch holen, wenn Sie nicht dafür
sorgen, dass sich das System zugunsten der Einspeisung
Erneuerbarer fortentwickelt und flexibler wird, dann
wird nichts passieren.
Die Akteure, um die es geht, werden in der Studie benannt. Es sind all diejenigen, die beim Netzausbau engagiert sind, und zwar auf der Übertragungs- wie auf der
Verteilebene.
({6})
Dazu gehören unter anderem die Stadtwerke. Bei der letzten Anhörung habe ich sehr deutlich gemerkt, welche
Aversionen viele von Ihnen gerade gegen diesen Marktakteur haben.
({7})
Es sind aber auch andere Anbieter, die sich insbesondere mit intelligenten Netzen, mit intelligenten Energiedienstleistungen befassen und sich im Grunde in ein
Boot mit den Kunden begeben wollen, indem sie nämlich Effizienz zu ihrem Geschäftsmodell machen. Das
tun die Großen, die Sie mit Ihrer Atompolitik unterstützen, nämlich gerade nicht. Sie wollen Mengen verkaufen, und das ist ein Prinzip, mit dem Ihre Ziele und unsere Ziele niemals erreicht werden.
({8})
Meine Damen und Herren, ökonomische und ökologische Chancen bleiben zurzeit leider ungenutzt. Ich kann
Sie nur auffordern, Ihre Politik zu ändern, einen Kurswechsel herbeizuführen. Sie haben ja gemerkt, in Europa
stoßen Sie auf Unverständnis. Man erwartet dort von
Deutschland eine ganz andere Rolle, eine führende
Rolle, eine, die auch dazu führt, was Sie ja angeblich
wollen, dass die Erneuerbaren demnächst 35 Prozent, irgendwann mehr als 50 Prozent und auch nach Ihren
Zielsetzungen einmal 80 Prozent Anteil am Strommarkt
haben. Wenn Sie das erreichen wollen, dann erhalten Sie
das EEG auf Sicht - so habe ich es genannt, nicht auf
Ewigkeit - in der Struktur und sorgen Sie dafür, dass die
notwendigen Instrumente zur Markteinführung entwickelt werden.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Thomas Bareiß ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Hempelmann, Sie
haben heute das hohe Ziel ausgerufen, dass zu diesem
Thema eine Regierungserklärung abgegeben werden
soll. Ich kann Ihnen nur entgegnen: Manchmal ist es gut,
wenn zu solchen Themen Fachpolitiker reden und das
Ganze auf eine sachliche Ebene bringen.
({0})
Aber leider hat Ihre Rede nicht dazu beigetragen, dass
das Thema fachlich angegangen worden ist. Ich sage
„leider“, weil ich eigentlich anderes von Ihnen gewohnt
bin.
Ich glaube, es ist richtig und gut, dass die SPD das
Ziel, über Energieeffizienz zu diskutieren, in ihrem Antrag thematisiert hat. Ich finde, Energieeffizienz - wir haben es hier im Hause schon unterschiedlich diskutiert - ist
enorm wichtig und kommt in den energiepolitischen Debatten sicherlich viel zu kurz. Wir werden es in den
nächsten 15 Jahren erleben, dass der Energiehunger in
der Welt sich gegenüber dem, was wir heute haben, um
50 Prozent steigern wird. Wir werden sehen, dass nach
wie vor ein großer Teil der Energieerzeugung auf endlichen Rohstoffen basiert.
Allein aus diesen Gründen ist es nicht nur notwendig,
sondern auch wirtschaftlich vernünftig, dass wir bei der
Energieeffizienz führend in der Welt und auch tonangebend sind. Ich glaube, es ist nicht nur ein sehr wichtiger
energiepolitischer, sondern auch wirtschaftspolitischer
Aspekt, den wir aufgreifen müssen. Es ist auch gut, dass
nicht nur wir in Deutschland uns um dieses Thema kümmern, sondern dass vor allen Dingen auch die Europäische Union dies tut.
Ich kann Ihnen sagen, lieber Herr Hempelmann: Wir
sind in Deutschland nicht nur auf einem guten Weg, sondern wir sind führend in Europa.
({1})
- Herr Kelber, das gilt auch für Sie. - Wir haben im letzten Jahr ein Energiekonzept vorgelegt, was Sie in acht
Jahren Regierung nicht hinbekommen haben, ein Energiekonzept, das einzigartig in Europa und in der Welt ist.
({2})
Die ganze Welt schaut auf Deutschland, wie es dieses
Energiekonzept umsetzt.
({3})
Beispielhaft sei erwähnt, dass bis 2020 35 Prozent des
Stroms aus erneuerbaren Energien stammen soll, dass
die CO2-Reduktion bis 2020 40 Prozent - unkonditioniert - betragen soll und dass der Verbrauch primärer
Energien in den nächsten zehn Jahren um noch einmal
20 Prozent reduziert werden soll.
({4})
Das sind Ziele, die gerade für eine Wirtschafts- und Industrienation wie Deutschland eine enorme Herausforderung darstellen.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr Kelber
möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein.
Nein.
({0})
Was das Thema Energiekonzept und Energieeffizienz
angeht, so sind wir derzeit schon sehr gut. 1,6 Prozent ist
nicht spitze in Europa.
({0})
Aber wenn man einmal sieht, von welchem Niveau wir
in Deutschland ausgehen, wie effizient unsere Wirtschaft
schon arbeitet und wie unsere energiepolitischen Weichenstellungen sind, dann muss man sagen, dass die
Zielsetzung, eine Steigerung der Energieeffizienz auf
2,1 Prozent zu erreichen, eine große Herausforderung
ist, die wir konsequent angehen. Das wird uns entsprechend nach vorne bringen, und wir werden auch Europa
in dieser Frage mitziehen.
({1})
Wir wollen aber nicht das, was Sie wollen, nämlich
Kompetenz an die Europäische Union abgeben, sondern
wir wollen nach wie vor, dass der Bereich der Energieeffizienz Kernbestandteil der nationalen Politik bleibt,
({2})
weil eine Verschiebung in die Europäische Union bedeuten würde, dass wir zwangsläufig solch unsinnige Dinge
wie die Glühbirnen-Verordnung
({3})
oder die Duschkopf-Verordnung bekämen. Das sind
Dinge, die ich in der Europäischen Union nicht will. Ich
glaube, wir können die Wettbewerber und die mündigen
Bürger auch dazu bringen, dass die Energieeffizienz verbessert wird.
Energieeffizienz hat viel mit innovativen Energietechnologien zu tun. Hier muss man beide Seiten - sowohl die Erzeugerseite als auch die Verbraucherseite sehen.
({4})
Zur Verbraucherseite. Damit komme ich auch gleich
zu Maßnahmen. Herr Hempelmann, darin sind wir uns
einig:
({5})
Der größte Bereich ist der Wärmebereich. 40 Prozent
des Primärenergiebedarfs entfällt auf die Wärme.
({6})
Deshalb brauchen wir auch im Bereich der Gebäudesanierung mehr Geld, um Anreize dafür zu schaffen, dass
etwas geht.
({7})
Ihr Herr Tiefensee hat 2009 aber alles Geld verbraten,
das für diese Aufgabe eigentlich vorgesehen war.
({8})
Auch aufgrund der Verlängerung der Laufzeiten haben wir den Energie- und Klimafonds mit Geld gefüllt,
sodass wir damit auch wieder mehr Geld für die Gebäudesanierungsprogramme zur Verfügung stellen können.
In diesem Jahr haben wir 500 Millionen Euro dafür eingestellt, und das werden wir in den nächsten Jahren weiterführen, damit die Gebäudesanierung nachhaltig und
gut finanziert wird.
({9})
Es geht aber nicht nur um die Nachfrageseite, sondern
auch die Erzeugerseite ist entscheidend. Ich schaue Sie
hier ganz genau an. Wir brauchen auch in Zukunft effiziente und gute Braun- und Steinkohlekraftwerke.
({10})
Das beste und effizienteste Kohlekraftwerk in Datteln,
die größte KWK-Anlage in Europa, wird nicht weitergebaut und nicht vorangebracht, weil Sie dieses Projekt in
der rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen verhindern.
({11})
Wir könnten etliche Kohlekraftwerke mit einer Effizienz
von 30 Prozent vom Netz nehmen und dafür dieses
hocheffiziente Kohlekraftwerk mit einem Wirkungsgrad
von knapp 50 Prozent ans Netz bringen.
({12})
Sie verhindern die effizienten Kraftwerke in Deutschland und verfolgen damit eine konsequente Linie: Sie sagen immer, wogegen Sie sind, aber nicht, wofür.
({13})
Damit wollen wir Schluss machen. Deshalb haben wir
ein Energiekonzept vorgelegt, durch das die Energiepolitik ordentlich und in sich stimmig angepackt wird.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wissen, Herr Röttgen ist dafür, die Bundesregierung
als Ganzes aber offensichtlich nicht. Um was geht es? Es
geht darum, die EU dazu zu bewegen, bis 2020 unkonditioniert nicht nur 20 Prozent, sondern 30 Prozent weniger Treibhausgase auszustoßen.
Natürlich ist es so, dass das Wirtschaftsministerium
Widerstand dagegen leistet. Eigentlich ist das seltsam;
denn neben dem Klimaschutz würden uns dadurch keine
Wettbewerbsnachteile, sondern im Gegenteil Vorteile
entstehen. Schließlich hat sich Deutschland ja zu minus
40 Prozent bis 2020 bekannt. Das EU-Ziel läge dann
also nicht mehr 20 Prozent, sondern nur noch 10 Prozent
unter den deutschen Ambitionen. Damit würde sich natürlich unsere Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU
verbessern. Sachverständige haben uns das auch schon
bestätigt.
Wir Linke fordern in unserem Antrag darum, dass
sich die Bundesregierung beim EU-Gipfel mindestens
dafür einsetzt, das 30-Prozent-Minderungsziel nicht
mehr abhängig davon zu machen, dass es auf der UNEbene zu einem Klimavertrag kommt. Wir meinen, EUweit wären sogar 40 Prozent weniger drin, wenn es den
politischen Willen dazu gäbe.
({0})
Ein Ziel zu vertreten, ist das eine. Die Frage, wie man
dahinkommt, ist das andere. Damit sind wir beim europäischen Sondergipfel zur Energiepolitik. Wie Sie wissen, hat EU-Energiekommissar Oettinger kürzlich eine
stärkere Harmonisierung der europäischen Fördersysteme für erneuerbare Energien ins Spiel gebracht; Kollege Hempelmann hat das bereits angesprochen. Gleichzeitig fordert Bundeswirtschaftsminister Brüderle im
Tagesspiegel, das Erneuerbare-Energien-Gesetz durch
eine Marktprämie zu ersetzen. Auch Niedersachsens
FDP-Umweltminister Sander will das EEG insgesamt
kippen. Aus den Reihen der CDU/CSU hören wir ständig, die nächste EEG-Novelle solle marktnähere Elemente enthalten.
Zählt man eins und eins zusammen, kommt man zu
dem Schluss: Hier braut sich etwas zusammen, das dem
wichtigen Treiber im Klimaschutz das Genick brechen
könnte: dem Ausbau der dezentralen regenerativen Energieerzeugung.
({1})
Sie können in Ihrer Rede darauf eingehen, Herr Nüßlein.
Der EU-Grünstromzertifikatehandel, welcher Oettinger
vorschwebt, ist nichts Neues. Er hätte zur Folge, dass nationale Anstrengungen zum Ausbau erneuerbarer Energien entwertet würden. Mit Mitteln der deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher würde dann nicht mehr
die Energiewende in Deutschland finanziert, sondern
vielleicht die in Spanien oder Dänemark, wo öfter die
Sonne scheint oder der Wind heftiger weht.
Wir haben nichts gegen einen grenzüberschreitenden
Austausch von Ökostrom. Er sollte aber ergänzend zur
nationalen Erzeugung erfolgen, sonst werden hierzulande über kurz oder lang Forschung und Produktion
zum Erliegen kommen. Viele Arbeitsplätze bei Herstellern und im Handwerk würden verloren gehen.
Um es unmissverständlich zu sagen: An den drei Eckpunkten des EEG - Einspeisevorrang, garantierte Einspeisevergütung und stufenweise Senkung der Vergütung - darf unserer Meinung nach nicht gerüttelt werden.
({2})
Sie sind die Erfolgsgarantien des EEG. Man kann nur
hoffen, dass sich hier die Vernunft durchsetzt. Das gilt
im Übrigen auch für die nächste EEG-Novelle: Absenken der Vergütung bei Solarstromeinspeisung und Grünstromprivileg ja, aber mit Augenmaß.
({3})
Was die EU zur Energieeffizienz sagt, ist meiner Meinung nach unmissverständlich, nämlich dass das, was
bislang passiert ist, enttäuschend ist.
({4})
Ich meine, dass auch die Vorgaben der EU sehr lau sind.
Herr Oettinger und Herr Brüderle sollten einmal gemeinsam in Klausur gehen und sich fragen, was Energieeffizienz wirklich bedeutet.
Im Übrigen stimmen wir den Anträgen von SPD und
Grünen zu.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Breil für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Morgen in einer Woche tagen in Brüssel die
Staats- und Regierungschefs, um über eine europäische
Energiestrategie zu beraten. In einem der hier zu beratenden Anträge fordert die SPD-Fraktion ein rechtsverbindliches EU-Ziel von 20 Prozent mehr Effizienz und
verbindliche Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz.
({0})
Das hört sich gut an, aber es ist ein entscheidender
Unterschied, ob wir uns national eine solche Orientierungsmarke im Energiekonzept gesetzt haben oder ob
wir uns gegenüber der EU dazu verpflichten. Ziele, die
um jeden Preis eingehalten werden müssen, fördern ein
Denken in dirigistischen Maßnahmen wie beim europäischen Glühbirnenverbot.
({1})
Sie führen dazu, dass die Wirtschaftlichkeit außer Acht
gelassen wird. Wir wollen nicht noch mehr europäische
Technikregulierung und von oben verordnete Effizienzmaßnahmen, die den Verbraucher gängeln.
({2})
Die deutschen Verbraucher sind energiebewusst und
zum Energiesparen bereit. Wir brauchen eine klare
Kennzeichnung des Energieverbrauchs von Produkten
und von Pkw, eine verbesserte Beratung über Energieeinsparmaßnahmen und mehr Beistand durch die neue
Bundesstelle für Energieeffizienz.
({3})
Sie kann helfen, wenn Bürger spezialisierte Energiedienstleister suchen.
({4})
- Hören Sie doch einmal zu. Hier können Sie etwas lernen.
({5})
Das sind nur wenige Beispiele, wie wir den Menschen
das freiwillige Energiesparen erleichtern.
Auch die Beratung mittelständischer Unternehmen
und effizientere Produktionsprozesse werden wir zusammen mit vielen anderen Maßnahmen mithilfe eines Energieeffizienzfonds fördern. Insgesamt kann in der Industrie ein jährliches Einsparpotenzial von geschätzten
10 Milliarden Euro gehoben werden.
({6})
Bekanntlich ist die Sanierung des Gebäudebestandes der
Schlüssel zur Erreichung jedes Klimaschutz- und Effizienzziels.
({7})
Die SPD findet das Energiekonzept der Bundesregierung
im Punkt Gebäudesektor so gut, dass sie es von der EU
für verbindlich erklären lassen will. Danke für dieses
Lob an dieser Stelle.
({8})
Aber wir werden unser Ziel eines klimaneutralen Gebäudes bis 2020 auch ohne die EU erreichen.
({9})
Die einzige Freiheit, die Parlamenten der Mitgliedstaaten nach Meinung der SPD noch bleiben soll, ist die Verteilung verbindlicher Effizienzziele auf einzelne Sektoren. Die Opposition will die Wirtschaft, den
Verkehrsbereich und die Gebäudeeigentümer mit einer
Vielzahl von staatlichen Effizienzvorgaben zupflastern.
Sie will die EU-Kommission als Kontrolleur einsetzen.
({10})
Das ist nicht unsere Vorstellung von Europa und auch
nicht von Subsidiarität. Das ist ökologische Planwirtschaft. Die wird es mit uns nicht geben.
({11})
Da wir schon beim Thema Planwirtschaft sind: In Ihrem eigenen Antrag fordern Sie grenzüberschreitende
Netze als starkes wettbewerbliches Instrument. In einem
anderen drängen Sie auf die Rekommunalisierung der
Netze. Sie wollen also das Gegenteil von dem, was Sie
am Montag im Wirtschaftsausschuss zum Anlass der
Anhörung machten.
({12})
- Hören Sie doch zu, Herr Hempelmann, Sie können etwas lernen.
({13})
Die Experten haben uns erklärt, dass das Klein-Klein
im Netzbetrieb zulasten von Effizienz und Wettbewerb
geht.
({14})
Sie ignorieren ökonomische Grundwahrheiten und bezeichnen dann auch noch die Erkenntnisse von Experten
als dumm. Das ist schon sehr bemerkenswert.
({15})
Sie ignorieren Grundwahrheiten immer dann, wenn sie
mit roten oder grünen Dogmen hausieren gehen.
Vielen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Nestle für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fast möchte ich diese Rede mit einem Lob beginnen, mit
einem Lob an die Regierung;
({0})
denn es ist richtig, aber auch höchste Zeit, dass Sie gegen eine schädliche EU-Harmonisierung der Förderinstrumente für erneuerbare Energien Position beziehen,
die von Anfang an als Attacke auf das ErneuerbareEnergien-Gesetz gedacht war, das EEG, das die größte
Technologieentwicklung der letzten zehn Jahre ausgelöst
hat, das unser bestes Klimaschutzinstrument ist und Zukunftsmärkte eröffnet. Das erfolgreiche EEG darf nicht
abgeschafft werden.
({1})
Leider ist diese Position gegen diese fatale Attacke, die
auch noch aus Ihren eigenen Reihen stammt, das einzig
Sinnvolle, was Sie zu diesem EU-Gipfel beizutragen haben.
Ich möchte einige Beispiele nennen. Es wurde heute
sehr viel über Energieeffizienz geredet. Beim EU-Gipfel
geht es darum, das 20-Prozent-Ziel verbindlich zu machen. Das ist ein unbürokratisches Instrument, weil jedes
Land selbst entscheiden kann, wie es dieses Ziel erreicht.
Es schafft dadurch Anreize für Kreativität, und es nutzt
unserem Standort. Was ist Ihre Reaktion darauf? Nein,
kein verbindliches Ziel. Lieber nur in die Richtung von
20 Prozent. - Stellen Sie sich einmal vor: 27 Firmen
wollen gemeinsam ein Projekt starten, und wenn man
über das Budget redet, dann heißt es: Na ja, vielleicht
gebe ich so in Richtung 20 000 Euro, aber verbindlich
festlegen will ich mich nicht. - Das ist doch absurd. Es
würde überhaupt nichts in der Wirtschaft passieren. Genau das ist die Durchschlagskraft, die Ihre Energiepolitik
hat.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege Staffeldt.
Liebe Kollegin Nestle, sind Sie in der Lage, mir zuzustimmen, wenn ich sage, dass es in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedliche Startvoraussetzungen
gibt? Das heißt, in Spanien, Italien, Portugal, Rumänien
oder sonst wo ist das Ziel von 20 Prozent relativ schnell
und einfach erreichbar. Bei uns in Deutschland ist es
aber deutlich schwieriger, weil wir gerade im Bereich
der Energieeffizienz, beispielsweise in der Industrie, bereits seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten sehr viel
aktiver sind als andere Länder, auch aus Kostengründen.
Insbesondere im Bereich der Gebäudesanierung machen
wir schon sehr viel mehr, als andere Länder gemacht haben. Aus diesem Grund können die 20 Prozent nur bei
gleichen Startvoraussetzungen gelten.
Werter Herr Kollege, ist Ihnen erstens bekannt, dass
das 20-Prozent-Ziel ein Ziel verglichen zu Business as
usual, zum normalen Pfad, und kein absolutes Ziel ist,
dass also jedes Land, verglichen mit seinem Pfad, das
hinterher abrechnen kann?
({0})
Ist Ihnen zweitens bekannt, dass es durchaus Debatten
dahin gehend gibt, unterschiedliche Ziele für unterschiedliche Staaten festzulegen? Auch beim Erneuerbare-Energien-Ziel haben wir ein verbindliches Ziel gehabt. Sie stellen sich aber grundsätzlich gegen ein
verbindliches Ziel und suchen gar nicht nach Lösungen
wie: Jeder Staat kann nach Business as usual abrechnen,
oder es gibt eventuell differenzierende Faktoren. - Sie
lehnen das einfach grundweg ab.
Bei den erneuerbaren Energien haben Sie sich zwar
noch dafür eingesetzt, aber bei Effizienz hört es ganz
schnell auf. Das ist sehr traurig. Bei Energieeffizienz
machen Sie den Mund am weitesten auf. Sie fordern
Energieeffizienz. Aber wenn es darum geht, etwas konkret zu machen und weiterzudenken, dann gibt es nur
dieses Abblocken.
({1})
Genau das haben wir heute in den Beiträgen gesehen.
Wenn wir nach konkreten Maßnahmen zur Energieeffizienz fragen, dann heißt es: Halbierung der Fördermittel
und neue Kohlekraftwerke. - Wir haben von einem klaren Pkw-Label gehört, das nach Ihren Vorstellungen Gewicht belohnt: Je schwerer das Auto ist, desto besser
steht es da. Gewicht wird also belohnt. Das ist eine absichtliche Falschinformation und kein klares Label, wie
Sie es gefordert haben.
({2})
Nicht zuletzt sieht man auch an den faktischen Zahlen, dass Ihre Politik nicht greift; denn Sie werden mit
Ihren Instrumenten gerade einmal 12 Prozent schaffen
und nicht die 20 Prozent, die wir brauchen. Sie sind die
Regierung des Stillstands.
({3})
Zweites Beispiel aus der EU, die Infrastruktur. Es geht
darum, den stockenden Ausbau der Stromnetze voranzubringen. Auch Sie finden das sehr wichtig. Die EU macht
einen Vorschlag, aber Sie lehnen den Vorschlag ab und
sagen: Nein, das sollen die Unternehmen finanzieren. Diese sind aber heute offensichtlich nicht in der Lage
oder nicht willens, dies zu tun. Sie bringen keine eigenen
Vorschläge ein. Sie sind die Regierung des Stillstands.
Wir hingegen haben vor zwei Wochen ein Stromnetzkonzept vorgelegt, das deutlich konkreter ist als alles,
was ich von Ihnen gehört habe, inklusive Ihres Energiekonzepts.
({4})
Drittes Beispiel, der Binnenmarkt. Warum haben Sie
das einzig wirklich wirksame Instrument, um in der EU
Wettbewerb zu schaffen, immer abgeblockt, nämlich die
eigentumsrechtliche Entflechtung von Netz und Erzeugung? Immer haben Sie sich dagegengestellt. So könnte
man aber Wettbewerb schaffen. Sie sind die Partei des
Stillstands und die Regierung des Stillstands. Wir kämpfen mit der eigentumsrechtlichen Entflechtung von Netz
und Erzeugung für wirklichen Wettbewerb.
({5})
Die Ölpreise haben sich verdreifacht. Was machen
Sie? Nichts.
Der Ausbau der Stromnetze stockt. Das ist ein Problem. Ihr Kommentar: Das sollen die Unternehmen irgendwie machen.
Effizienz ist unsere Zukunftschance. Wir können bares Geld sparen und Zukunftsmärkte erobern. Wir können Klimaschutz effektiv und kostengünstig gestalten.
Ihre Position: Bloß kein verbindliches Ziel; denn dann
müsste man womöglich wirklich etwas machen.
({6})
Eines kann ich Ihnen ganz konkret vorschlagen, was Sie
jetzt bei diesem EU-Gipfel machen können: Es gibt Regelungen zur energieeffizienten öffentlichen Beschaffung, die sich nur auf Neubauten beziehen, die sowieso
strikten Regeln unterliegen. Weiten Sie diese Regeln auf
den Bestand, auf die Altbauten und auf den öffentlichen
Bestand aus, dann haben Sie bei diesem EU-Gipfel etwas erreicht! Das möchte ich Ihnen mitgeben. Wenden
Sie sich von der rückwärtsgewandten Politik des Stillstands ab! Bringen Sie uns, Deutschland und Europa voran, aber bitte in die richtige Richtung!
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Es
gibt momentan zwei Politikfelder, die an Akzeptanz in
der Öffentlichkeit verlieren:
({0})
Das ist auf der einen Seite die europäische Politik, und
das ist auf der anderen Seite all das, was sich rund um
das Thema „erneuerbare Energien“ abspielt. Ich sage bei
beiden Themen: leider Gottes. Es ist an uns, an dieser
Stelle etwas zu tun. Wir reden heute über die Schnittmenge dieser beiden Politikfelder.
Ich will mit dem Thema Erneuerbare-Energien-Gesetz beginnen. Einiges wird unter dem beschönigenden
Oberbegriff „Harmonisierung“ diskutiert. Ich möchte einen Blick werfen auf die Wurzeln des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, nämlich auf das Stromeinspeisungsgesetz. Ich tue das nicht, weil ich, lieber Kollege Fell,
irgendjemandem die Vaterschaft an dieser Stelle absprechen möchte, sondern weil ich ganz deutlich den regulatorischen Ansatz herausstellen möchte, der seinerzeit
eine christlich-liberale Koalition bewegt hat, die Grundlagen für eine solche Systematik zu schaffen. Es ging darum, in einem Energiebereich, der von natürlichen Monopolen im Netz und von einer verdichteten
Versorgerstruktur gekennzeichnet ist - vier Anbieter produzieren heute 80 Prozent des Stroms -, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Mittelständler, Landwirte,
Produzenten von Wasserkraft und Windkraft in diesem
Konzert mitspielen können, dass sie die Chance haben,
einzuspeisen, und dass staatlich geregelt ist, zu welchen
Konditionen dies passiert.
({1})
Ich sage das ausdrücklich deshalb, weil es ein Hinweis
darauf ist, dass man so etwas aus regulatorischen Erwägungen braucht.
Wir haben über das Erneuerbare-Energien-Gesetz eine
Technologieeinführungskomponente dazubekommen, die
in weiten Teilen das Ihre leistet, auch wenn sie immer
wieder nachgesteuert werden muss. Wir werden das in
naher Zukunft in großer Einmütigkeit zwischen Regierung und Opposition - jedenfalls wird das momentan so
signalisiert - auch tun. Wenn man heute sieht, wie erfolgreich sich dieses ganze Thema entwickelt hat, dann
wird einem klar, dass Harmonisierung doch nicht heißen
kann, dass man jetzt über die Europäische Union versucht, dieses Erfolgsgesetz durch eine Quotenregelung
zu ersetzen. Durch eine Quotenregelung würden wir einen Strukturbeitrag und Wertschöpfung im eigenen Land
verlieren. Außerdem hätten wir bei einer Quotenregelung nicht mehr die Chance, durch Rohstoffe aus dem eigenen Land unabhängiger zu werden.
({2})
Ich sage das in dem Bewusstsein, dass man momentan ganz deutlich zeigen kann - jedenfalls besagen das
die Zahlen des Bundesumweltministeriums, das ebenfalls CDU-geführt ist -, dass die Alternativen keine Vorteile bringen. In Großbritannien kostet die Megawattstunde Windenergie 65 Euro. Dort hat man ein
Quotensystem mit Zertifikatehandel. In Italien, wo man
ein ähnliches System hat, kostet die Megawattstunde
Windenergie 85 Euro. In Deutschland mit seinem vielgescholtenen EEG kostet die Megawattstunde Windenergie
50 Euro.
({3})
Das heißt, wir haben politisch offenbar die Möglichkeit,
die Preise präziser zu steuern und darüber hinaus andere
politische Ziele zu erfüllen.
({4})
Ich sage das in dieser Deutlichkeit, weil man es dem
Kollegen Oettinger, der aus meiner Sicht auf einem
komplett falschen Dampfer ist, entgegenhalten muss.
({5})
Eine Quotenregelung würde weder ihm noch uns etwas
bringen. Sie würde gewachsene Strukturen kaputtmachen. Deshalb bin ich über das, was der ehemalige CDUMinisterpräsident an dieser Stelle vorschlägt, nicht so
begeistert. Das muss man ihm in dieser Klarheit sagen.
Ich hoffe, dass er sich, wenn er über Harmonisierung auf
der europäischen Ebene redet, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, das auf dem Stromeinspeisungsgesetz aus
der Ära Helmut Kohl fußt, zuwendet. Das halte ich für
ganz entscheidend.
({6})
Im Übrigen kann man zu dem Thema „europäische
Politik“ sagen: Die Versuche einer europäischen Angleichungspolitik - plötzlich will man den Wettbewerb der
Systeme nicht mehr; man stellt die Subsidiarität hintan halten wir, auch an anderen Stellen, für ausgesprochen
problematisch.
Ich sage Ihnen ganz offen: Beim Thema Klimaschutz
sehe ich das ganz genauso. - Da wird der Applaus auf
der linken Seite des Hauses etwas weniger werden. - Ich
habe immer geglaubt, dass ich beim Thema „Emissionshandel und Klimaschutz“ nicht erklären muss, dass man
so etwas nur international betreiben kann. Nun lese ich
mit großer Verwunderung im Antrag der Linken:
Auf internationale Vorgaben als Taktgeber für nationale oder EU-Klimapolitik zu setzen, wäre verhängnisvoll.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von ganz links,
verhängnisvoll wäre es, eben nicht auf internationale
Politik zu setzen, weil es doch eine Hybris ist, anzunehmen, Deutschland könne das Klimaproblem der Welt lösen. Das ist falsch. Gucken Sie sich doch einmal an, was
in China passiert. Die Chinesen haben von 2000 bis
2008 ihren CO2-Ausstoß verdoppelt. In der Zeit von
2006 bis 2008 war der Zuwachs an CO2-Emissionen größer als die gesamten CO2-Emissionen in Deutschland.
Herr Kollege Nüßlein, Sie sind zwar schon fast am
Ende Ihrer Redezeit. Frau Bulling-Schröter würde aber
gerne noch eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie
diese?
({0})
Herzlich gern.
Danke schön. - Kollege Nüßlein, es liegt mir fern, die
CDU/CSU zu ärgern.
Sie haben recht, wenn Sie sagen: Der CO2-Ausstoß
Chinas wird immer höher; er ist ungefähr so groß wie
der der USA. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass
die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, einen sehr guten Vorschlag gemacht hat, den wir vielleicht gemeinsam weiterverfolgen könnten. Dabei geht es darum, für jeden
Menschen den gleichen Umweltraum zu definieren.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Pro-KopfAusstoß an CO2 in der Bundesrepublik Deutschland oder
in den USA wesentlich höher ist als in China. Wie stehen
Sie denn dazu? Wir wissen alle, dass es mehr wird. Ich
bestreite nicht, dass wir auf internationaler Ebene etwas
machen müssen. Aber wenn Deutschland auf diesem
Gebiet die Vorreiterrolle behalten oder wiedererlangen
will, heißt das doch, dass wir jetzt auf EU-Ebene etwas
tun müssen. Es gibt genügend EU-Papiere, die belegen,
dass das 30-Prozent-Ziel auf EU-Ebene nicht so einfach
zu erreichen ist. Sie kennen diese Papiere sicher genauso
wie ich. Meine Frage: Wie schaut es denn mit dem ProKopf-Verbrauch aus?
Liebe Kollegin, ich habe ja nicht kritisiert - das läge
mir auch völlig fern -, was die Kanzlerin auf internationaler Ebene anstößt. Ich meine, da macht sie nicht nur
eine hervorragende Figur, sondern auch eine hervorragende Klimapolitik. Ich habe kritisiert, dass Sie uns in
Ihrem Antrag explizit zu nationalen Alleingängen aufrufen, ganz unabhängig von der Frage, ob andere mitziehen oder nicht. Genauso ist der Satz, den ich gerade angeführt habe, doch wohl zu verstehen.
Dazu sage ich ganz ehrlich: Das wird am Schluss in
keiner Weise zielführend sein; denn wenn wir etwas in
der Welt bewegen wollen, dann müssen wir doch in einem anderen Sinne Vorbild sein. Wir müssen nämlich
den Entwicklungsländern - damit komme ich auch zu
Ihrem Thema, dem Pro-Kopf-Kontingent - zeigen, dass
man auf der einen Seite wachsen und an Wohlstand gewinnen, auf der anderen Seite aber gleichzeitig das
Klima schützen und weniger Ressourcen verbrauchen
kann. Wenn uns bei unserer Klimapolitik genau dieser
Beweis misslingt, wenn es uns also nicht gelingt, zu zeigen, dass Ökologie und Ökonomie miteinander verzahnt
werden können, dann wird uns letztendlich auch niemand folgen.
({0})
Das ist doch genau der Punkt. Ich kann nur dazu raten,
({1})
zu verstehen, dass wir in Bezug auf die Ausgangslage
schon jetzt ein hohes Niveau haben und dass wir uns genau überlegen müssen, wie wir bei dieser Thematik weitermachen.
Wenn wir heute - lassen Sie mich das noch abschließend sagen - über das Thema „Vereinbarung eines EUweiten 30-Prozent-Zieles“ diskutieren, muss uns eines
klar sein: Es könnte für uns Deutsche, die wir momentan
das Ziel einer Reduktion von 20 Prozent erfüllen, aber
das 40-Prozent-Ziel anstreben wollen, ganz gut sein,
wenn die anderen nachziehen. Das Problem ist nur das
Solidaritätsprinzip in der EU; denn danach wird der Erfolg wieder nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
verteilt. Am Schluss heißt es dann wieder: Die Deutschen müssen mehr tun. Das ist auch in ökonomischer
Hinsicht eine Gleichmacherei, die zu einer DeindustriaDr. Georg Nüßlein
lisierung in Deutschland führt. Das wollen wir beim besten Willen nicht.
In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich für die
Aufmerksamkeit.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon bemerkenswert, dass der Redner der SPD hier erklärt, Deutschland sei vom Energieeffizienzziel von
20 Prozent weit entfernt.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle einfach einmal fragen: Wer
hat denn elf Jahre regiert? Wer hat sieben Jahre den
Wirtschaftsminister gestellt? Wer hat vier Jahre den Umweltminister gestellt? Es war die Sozialdemokratische
Partei. Es ist Ihre Bilanz, die Sie hier kritisieren.
({1})
Herr Kollege Kauch, darf ich Sie unterbrechen? Herr Kelber möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte fortfahren.
({0})
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat ein wesentliches Instrument der Energieeffizienz auf den Weg
gebracht, das hier von der gesamten versammelten Opposition kritisiert wurde. Der Energie- und Klimafonds
wird aus den Gewinnabschöpfungen der Kernkraftwerke
und erstmals aus 100 Prozent der Versteigerungserlöse
aus Emissionsrechten gespeist. Der Energie- und Klimafonds speist einen Energieeffizienzfonds, der so groß ist
wie kein Programm zuvor. Er sichert die Mittel für die
Gebäudesanierung über das Jahr 2011 hinaus; das ist ein
großer Erfolg. Das ist eine Maßnahme zur Energieeffizienz, die Sie vorhin eingefordert haben.
({1})
Schauen wir uns einmal an, was im Bereich der erneuerbaren Energien geschieht. Die SPD hat noch
schnell vor der Debatte einen Fünfzeiler aufgesetzt, der
besagt, was die Bundesregierung machen soll. Ich kann
nur sagen: Was Sie da fordern, tun wir bereits - deshalb
müssen wir Ihren Antrag auch nicht annehmen -; denn
wir - insbesondere meine Fraktion - haben im Energiekonzept verankert, dass der unbegrenzte Einspeisevorrang für erneuerbare Energien erhalten bleibt. Im Energiekonzept finden Sie ein klares Ja der FDP bzw. dieser
Koalition zum EEG. Sie führen hier Phantomdebatten,
die jeder realistischen politischen Grundlage entbehren.
({2})
Wir als FDP - das sage ich sehr deutlich - haben unterschiedliche Haltungen.
({3})
Es gibt aber einen klaren Parteitagsbeschluss mit einer Mehrheit von weit über 60 Prozent für das EEG im
Wahlprogramm und im Koalitionsvertrag, der von meiner Partei einstimmig angenommen wurde. In unserer
Partei kann jeder seine persönliche Meinung äußern.
Entscheidend ist aber, was auf dem Bundesparteitag beschlossen wird. Das ist pro EEG, meine Damen und Herren von den Grünen.
({4})
Ich möchte gern auf die Glaubwürdigkeit der Grünen
zu sprechen kommen. Frau Nestle sagt hier: Wir haben
ein tolles Netzkonzept.
({5})
- Ja, das haben Sie vielleicht. Ich habe es noch nicht gelesen;
({6})
aber es ist bestimmt ganz toll, da es ja von Ihnen kommt. Ihre Glaubwürdigkeit misst sich allerdings an dem, was
vor Ort passiert: In jeder Bürgerinitiative gegen den Netzausbau finden sich Ihre grünen Aktivisten.
({7})
Deshalb ist das, was Sie hier vertreten, eine unglaubwürdige Politik: hier für die erneuerbaren Energien, dort gegen die Netze. Aber wer die Netze nicht bekommt, wird
das Ziel im Bereich erneuerbarer Energien nicht erreichen.
({8})
Ihre Hintertür heißt dann hier in Berlin: Na ja, wenn
noch Atomstrom im Netz ist, können wir den Menschen
das ja auch nicht richtig verkaufen. - Das ist der Weg,
auf dem Sie Ihre unglaubwürdige Politik bis zum letzten
Tag verteidigen werden. Solange wir zu 99 Prozent und
nicht zu 100 Prozent erneuerbare Energien haben, werden die Grünen vor Ort immer gegen die Netze und damit gegen die erneuerbaren Energien sein.
({9})
Zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Kelber
das Wort.
Herr Kollege Kauch, unabhängig von dem, was wir
von der Bundesregierung einfordern, sprechen Sie immer eine Minute lang über die Frage „Wer hat denn elf
Jahre lang regiert?“.
Die EU-Kommission sagt, dass Deutschland bei der
Energieeffizienz deutlich schlechter als der Durchschnitt
aller Mitgliedsländer ist. Ich zitiere aus der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vom Montag:
Alle anderen EU-Staaten, die bisher ihre Energiesparpläne in Brüssel angemeldet haben, verfehlen
das 20-Prozent-Ziel klar. Frankreich und Spanien
liegen mit rund 16 Prozent aber immer noch über
dem deutschen Wert.
Dieser Wert liegt bei 12,8 Prozent.
Sie haben aus dem Anfangsteil hinsichtlich des Energiesparplans vielleicht mitbekommen, dass die EUKommission keine Bewertung der Politik der letzten
Jahre, sondern eine Bewertung dessen abgegeben hat,
was Ihr Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der
sich selber schon manchmal als kommender FDP-Parteichef feiern lässt, in Brüssel als Politik der Bundesregierung für die nächsten Jahre angemeldet hat. Die EUKommission hat dazu gesagt: Ihr schafft noch nicht einmal die Hälfte von dem, was ihr euch vorgenommen hat. Glauben Sie nicht, dass es für ein Hightechland, das
diese Technologie weltweit verkaufen will, ein Armutszeugnis ist, wenn es schlechter als der Durchschnitt der
Europäischen Union dasteht?
({0})
Ihre Antwort, Herr Kauch.
Lieber Herr Kelber, wir haben in den letzten Jahren
eine Politik erlebt
({0})
- das mag ja sein -, die auch Sie für richtig gehalten haben. Herr Gabriel, Ihr jetziger Parteivorsitzender, hat uns
erklärt, er sei der große Held der Umweltpolitik und
bringe die Sache jetzt voran. Die Maßnahmen, die Sie
mit dem Integrierten Klima- und Energieprogramm begonnen haben und die wir jetzt fortführen,
({1})
sind gemäß Ihrer Aussage offensichtlich falsch. Das
kann doch nicht sein.
Wir haben auf das IKEP die Projekte des Energiekonzeptes aufgesetzt.
({2})
Die Zeitperspektive für diese Projekte geht bis 2050. Wir
werden die Ziele in puncto Energieeffizienz und in Bezug auf erneuerbare Energien im Rahmen dieses Energiekonzeptes erreichen, Herr Kelber.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4528, 17/4529, 17/4527 und 17/
4544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/65/EG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen
für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren
({0})
- Drucksache 17/4510 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk das
Wort für die Bundesregierung.
({2})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf will die
Bundesregierung einen wichtigen Beitrag zur Stärkung
der Qualität des Investmentfondsgeschäftes, aber auch
einen Beitrag für die Verbesserung des Anlegerschutzes
in unserem Land leisten. Unter Anpassung an geänderte
europäische Vorgaben soll der Investmentfondsstandort
Deutschland durch eine Modernisierung des Aufsichtsund Regulierungsrahmens gestärkt werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die
neugefasste Investmentfonds-Richtlinie der EuropäiParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
schen Union umsetzen, die bis zum 1. Juli dieses Jahres
in nationales Recht umgesetzt werden muss. OGAW
- das ist die Abkürzung für „Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren“ - ist die europäische
Kunstbezeichnung für Wertpapier-Investmentfonds.
Man muss solche schönen Begriffe den Menschen draußen im Land erklären.
Das heute umzusetzende neue Konzept der Europäischen Union sieht Folgendes vor:
Es wird ein Kurzinformationsblatt mit den wesentlichen Anlegerinformationen eingeführt. Auf zwei Seiten
sollen dem Anleger prägnant die wesentlichen Merkmale
seiner Anlage erläutert werden. Beispielsweise sollen
Chancen und Risiken sowie die mit der Anlage verbundenen Kosten für den Anleger verständlich dargestellt
werden. Er soll auch einen Überblick über die bisherige
Wertentwicklung dieses Investmentfonds erhalten.
Ein wesentlicher Punkt zur Verbesserung der Effizienz des Investmentgeschäfts wird die Ermöglichung
grenzüberschreitender Fondsverwaltung sein. Damit
können künftig auch ausländische Fondsverwaltungsgesellschaften in Deutschland ohne inländische Tochtergesellschaft deutsche Investmentfonds auflegen. Ebenfalls
dürfen zukünftig aber auch deutsche Kapitalgesellschaften Investmentfonds im Nachbarland auflegen, ohne
durch eine eigene Gesellschaft vor Ort zu sein und ohne
dass dies mit Personalverschiebungen vom Inland ins
Ausland verbunden ist.
Eine wesentliche Verbesserung wird zudem beim
grenzüberschreitenden Fondsvertrieb eingeführt. Bisher
musste sich eine deutsche Fondsgesellschaft bei einem
Verkauf ihrer Produkte im Ausland mit ausländischen
Aufsichtsbehörden in einem mehrwöchigen Verfahren
bis zu zwei Monate über die Markteinführung auseinandersetzen. Zukünftig wird dieses bislang sehr bürokratische Verfahren im Sinne der Marktteilnehmer vereinfacht, ohne dass Anlegerschutzbelange vernachlässigt
werden. Die Fristen für die sogenannten Vertriebsanzeigen werden stark verkürzt. Erforderliche Unterlagen werden innerhalb der Aufsichtsbehörden übermittelt. Damit
werden im Sinne des europäischen Binnenmarktes die
Rahmenbedingungen für den grenzüberschreitenden Fondsverkauf ganz wesentlich verbessert, und es wird ein wesentlicher Beitrag zum Bürokratieabbau geleistet.
Fondsgesellschaften sollen zukünftig bessere Möglichkeiten bekommen, ihre Angebotspalette zusammenzufassen und effizienter zu verwalten. Hierzu sollen
grenzüberschreitende Fondsverschmelzungen und sogenannte Master-Feeder-Konstruktionen ermöglicht werden. Bei Letzterem handelt es sich um eine zweistöckige
Fondsstruktur. Hierbei investiert ein sogenannter Feederfonds nahezu sein gesamtes Vermögen in einen sogenannten Masterfonds. Beide Maßnahmen dienen ebenfalls der Effizienzsteigerung des Investmentgeschäfts.
Gleichzeitig wird die Anlegerinformation bei Nutzung
dieser neuen Möglichkeiten erheblich ausgebaut.
Vergleichbar dem bereits bestehenden Schlichtungswesen für Banken soll zudem ein Schlichtungswesen bei
Investmentfonds eingeführt werden, das dem Verbraucher eine einfache Möglichkeit bietet, sich über Missstände zu beschweren. Dies verbessert seine Position
deutlich, da er eine einfache Möglichkeit bekommt, sein
Recht durchzusetzen, ohne den Kosten des ordentlichen
Gerichtsweges ausgesetzt zu sein.
Der Gesetzentwurf sieht zudem eine deutliche Verbesserung des Anlegerschutzes im Bereich der Anlegerinformation vor. Wenn Fondsgesellschaften zukünftig
Kosten erhöhen oder ihre Anlagepolitik umstellen, soll
der Anleger direkt informiert werden. Gebührenerhöhungen, die der Anleger kaum wahrnimmt, weil sie nur
in Tageszeitungen oder im Bundesanzeiger veröffentlich
werden, sind in Zukunft nicht mehr möglich.
Ein wichtiger Punkt aus dem Koalitionsvertrag, der in
diesem Umsetzungsgesetz aufgegriffen wird, ist die Verbesserung der Rahmenbedingungen für sogenannte Mikrofinanzfonds. Hier sollen bestehende Hemmschwellen
abgebaut werden; denn die bisherigen restriktiven Anforderungen des Investmentgesetzes an Mikrofinanzinstitute
haben dazu geführt, dass keine Mikrofinanzsondervermögen in Deutschland aufgelegt wurden. Die Anforderungen an die Mikrofinanzinstitute werden deshalb durch
dieses Gesetz auf ein angemessenes Maß zurückgeführt.
Gestatten Sie zum Schluss noch den Hinweis, dass
das Gesetz neben den aufsichtsrechtlichen auch wichtige
steuerliche Regelungen enthält. Das betrifft insbesondere Anpassungen wegen der nach der OGAW-IV-Richtlinie zugelassenen grenzüberschreitenden Fondsverwaltung. Wichtig ist dabei der Hinweis auf eine steuerliche
Regelung, die keinen unmittelbaren Bezug zu dieser
EU-Richtlinie hat, die sich aber strikt gegen missbräuchliche Steuergestaltungen mit Aktienleerverkäufen richtet. Akteure der Finanzbranche versuchen gegenwärtig
nämlich, durch Auslandsgeschäfte mit deutschen Aktien
den deutschen Fiskus zu schädigen, indem ungerechtfertigte Quellensteuererstattungen veranlasst werden. Gegen solche missbräuchlichen Gestaltungen gehen wir mit
dem vorgelegten Gesetzentwurf unverzüglich und konsequent vor.
Wir sind davon überzeugt, dass mit den in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen die europäischen Vorgaben zur Steigerung der Effizienz des Investmentfonds
erreicht werden, der Investmentfondsstandort Deutschland gestärkt, aber auch der Anlegerschutz weiter entscheidend verbessert wird.
Ich bitte um zügige Beratung und dann um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Carsten Sieling.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Staatssekretär hat eben dargelegt, dass dieses Gesetzgebungsvorhaben, das auf eine Vorgabe der EU zu9836
rückgeht, unterschiedliche Facetten hat. Auf den ersten
Blick scheint dieser Gesetzentwurf sehr technisch zu
sein. Man hat insgesamt den Eindruck, dass er außerhalb
der Fondsbranche noch keine großen Wellen schlägt.
Herr Staatssekretär, wir stehen in der Tat am Anfang
der Beratungen. Ich will Ihnen an dieser Stelle gerne sagen, dass auch wir ein Interesse daran haben, diesen Gesetzentwurf zügig zu beraten. Ich kann Ihnen heute aber
noch nicht zusagen, dass wir auch Ihrem Wunsch entsprechen, zuzustimmen.
({0})
Wir müssen uns erst einmal die weiteren Schritte anschauen.
Wenn wir genauer hinschauen, stellen wir auf jeden
Fall fest, dass man diesen Gesetzentwurf keineswegs nur
als technisches Klein-Klein bezeichnen kann. Es ist schon
so, dass eine Reihe von Änderungen im Investmentbereich geplant sind, die immerhin einige Hunderttausende
Kleinanlegerinnen und Kleinanleger betreffen werden,
die ihr Geld in diesem Bereich investiert haben, und
zwar sehr oft als Altersvorsorge. Von daher ist das ein
Thema, dem wir uns sehr stark widmen müssen. Beim
Thema Investmentfonds wird man ohnehin hellhörig angesichts der Tatsache, dass mittlerweile etwa 25 Milliarden Euro Anlegergeld in kriselnden Fonds gesperrt sind.
Das muss man sich immer wieder vor Augen führen.
Das ist ein guter Grund, genau zu schauen, was wir hier
vorliegen haben.
Staatssekretär Koschyk hat die verschiedenen Aspekte vorgestellt; ich will das nicht wiederholen. Ich
möchte mich in dieser ersten Lesung auf zwei Punkte
konzentrieren und dazu einige Aspekte ansprechen. Zum
einen geht es mir um die Möglichkeiten der Fondsverschmelzung, um Übernahmemöglichkeiten und deren
Konsequenzen. Zum Zweiten geht es mir um den vom
Staatssekretär angesprochenen Beipackzettel, um das sogenannte Key Investor Document, KID genannt, das es
zukünftig geben soll und das für die Anlegerinnen und
Anleger eine Art Produktinformationsblatt darstellt.
Ich komme zum ersten Punkt, zur Möglichkeit der
Verschmelzung. Es ist deutlich gemacht worden, dass es
infolge der Richtlinie, die wir umsetzen sollen, für Fonds
einfacher wird, deutschland- und europaweit zu Verschmelzungen zu kommen. Es kann leichter zu gegenseitigen Übernahmen kommen. Das gesamte Vermögen
soll dann in sogenannten Master-Feeder-Konstruktionen,
deren genaue technische Ausgestaltung wir uns, glaube
ich, noch anschauen müssen, zusammengebracht werden. Die EU verspricht sich davon ausweislich der Vorlagen einen Effizienzgewinn in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Das ist eine Dimension, die uns dazu
bringen sollte, sehr genau hinzuschauen.
Wenn diese Fonds effizienter arbeiten können, dann
können sie auch mehr Geld für die Anlegerinnen und
Anleger ausschütten; das ist völlig klar. Ich glaube, darauf muss man hinweisen und hinarbeiten. Eine Gefahr
sehe ich darin - ich denke, im Gesetzgebungsverfahren
müssen wir sorgfältig darauf achten -, dass größere kriselnde Fonds versuchen könnten, sich sozusagen gesundzukaufen, indem sie sich kleinere, gut funktionierende Fonds einverleiben. Ich habe in einem Fachaufsatz
gelesen, dass diese Regelungen durchaus dazu führen
können, dass in Europa so etwas wie Fondsfabriken entstehen. Ich will hier sagen, dass wir diesen Aspekt genau
beachten müssen; denn wir können nicht wollen - das
wäre nicht im Interesse der Anlegerinnen und Anleger -,
dass gute Arbeit derart belastet wird.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen,
dass die Aufsicht in besonderer Weise strukturiert werden muss; denn gerade bei grenzüberschreitenden Fonds
wird man darauf achten müssen, dass dies sicher und ordentlich abläuft. Ich bin gespannt, welche Vorschläge
Sie machen werden und wie die BaFin gestaltet oder
strukturiert werden soll, damit sie dieses durchaus neue
Problem präzise erfassen kann.
Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte,
betrifft die Produktinformationsblätter. Das OGAW-IVUmsetzungsgesetz wird kein reines Anlegerschutzgesetz, sondern - das wurde richtig gesagt - soll die Fonds
stabiler machen. Nichtsdestotrotz möchte ich im Zusammenhang mit der von uns sehr intensiv geführten Diskussion über das Anlegerschutzgesetz der Bundesregierung sagen, dass es eindrucksvoll ist, was die EU auf
diesem Gebiet plant und wie sie versucht, das Produktinformationsblatt zu regeln. Sie sprechen von zwei Seiten;
aber diese zwei Seiten haben es in sich. Vor allen Dingen
an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
FDP gerichtet sage ich, dass wir einmal schauen müssen,
ob wir uns davon für das Anlegerschutzgesetz, das in
Beratung ist, nicht eine Scheibe abschneiden können.
Die Richtlinie der EU sieht vor, dass Angaben zur
Identität der Fonds gemacht werden und Anlageziele und
Anlagestrategien beschrieben werden. Die Risiken sollen
sehr detailliert und aufgeschlüsselt in Kreditrisiko, Liquiditätsrisiko, Ausfallrisiko usw. dargelegt werden. Die
Wertentwicklung muss sich in diesem Blatt gegebenenfalls in Performanceszenarien wiederfinden. Ebenso
müssen Kosten und Gebühren sowie Ausgabeauf- und
Rücknahmeabschläge dargestellt werden. Das ist eine
Lehre aus der Lehman-Pleite, aus dem Verlust, den viele
Menschen erlitten haben. Die Regelungen sind sehr weitreichend und umfassen immerhin 15 Seiten der Verordnung.
Wenn ich mir anschaue, was wir zurzeit bezüglich eines Produktinformationsblattes im Bereich Anlegerschutz beraten, muss ich sagen, dass das weit dahinter
zurückfällt. Dort heißt es nur dürr - sozusagen „Made by
Bundesregierung“ -, dass die damit verbundenen Risiken - ohne nähere Erläuterung - und die Kosten des Produkts - ohne nähere Aufschlüsselung - behandelt werden sollen. Ich denke, diese OGAW-Richtlinie kann ein
richtiger und wichtiger Schritt sein, um den Anlegerschutz in Deutschland zu verbessern.
Wenn gleich das Argument vorgebracht wird, man
mache das, wenn die sogenannte PRIPs-Initiative der
EU kommt, dann muss ich sagen: Es ist natürlich eine
Möglichkeit, abzuwarten. Die andere Möglichkeit wäre,
schon jetzt den vorliegenden Vorschlägen der Verbraucherverbänden und der Fraktionen hier im Hause, auch
von uns als SPD, zu folgen und den Anlegerschutz in allen Bereichen zu stärken; denn wir müssen - ich habe Ihren Koalitionsvertrag so verstanden, dass Sie dafür sorgen wollen; dann tun Sie das auch - für einen
einheitlichen Anlegerschutz und eine einheitliche Handhabung der Investmentfonds in Deutschland sorgen. Lassen Sie uns früh damit anfangen und es genau machen.
Wir befinden uns heute in der ersten Lesung. Es geht
darum, sich diesem Gesetzentwurf und den vielen verschiedenen Anforderungen zu nähern. Wir werden im
Finanzausschuss alsbald eine öffentliche Anhörung dazu
durchführen. Ich kann hier nur sagen: Wir als SPD werden sehr genau darauf schauen, wie dieses Umsetzungsgesetz für Deutschland aussieht; denn wir wollen eine
starke Investmentfondslandschaft mit einer effizienten
Aufsicht und geringen Kosten für die Anlegerinnen und
Anleger. Das muss dieses Verfahren hergeben. Wenn das
ermöglicht wird, dann können wir darüber reden, wie
wir eine gemeinschaftliche Beschlussfassung erreichen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Björn Sänger für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Investmentfonds hat unterschiedliche Dimensionen; eine Dimension ist die sozialpolitische. Investmentfonds bieten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Möglichkeit, sich aktiv am Produktivkapital zu
beteiligen. Der Investmentfonds stellt damit einen Erfolgsweg in der sozialen Marktwirtschaft dar. Die Form
der Beteiligung der Werktätigen am Kapital, Herr Kollege Koch, ist aus unserer Sicht erfolgversprechender als
andere Wege, bei deren Suche Sie sich gerne als Pfadfinder beteiligen.
Der Investmentfonds ist als Altersvorsorgeprodukt
sehr geeignet; denn auf lange Sicht lassen sich hiermit
gute Renditen erzielen. Auf die letzten 30 Jahre betrachtet schwanken diese je nach Produktklasse zwischen
5,5 Prozent und 8,8 Prozent. Deswegen wird er auch
sehr gerne beim Riester-Sparen eingesetzt.
Er hat eine finanzierungspolitische Dimension. Er
fungiert als Kapitalsammelstelle. Die Investmentfonds
nehmen eine Fristentransformation vor, die durchaus interessanter ist als die der Banken. Schließlich ist die
Fristentransformation bei Krediten auch mit Risiken behaftet.
Er hat einen volkswirtschaftlichen Nutzen bei der privaten Vermögensvorsorge bzw. -bildung. Mit kleinen
Beiträgen ist es den Anlegerinnen und Anlegern möglich, ein diversifiziertes Portfolio aufzubauen.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Umsetzung
der OGAW-Richtlinie dar. OGAW IV sagt ja schon aus,
dass dieser Gesetzentwurf eine lange Geschichte hat. Es
gab OGAW I und OGAW III; OGAW II ist ausgefallen.
Nun gibt es OGAW IV. Ich denke, im Prinzip sind alle
Umsetzungsgesetze - dies gilt sicherlich auch für dieses
vierte - von der Branche begrüßt worden, weil das Produkt und der Rechtsrahmen Stück für Stück weiterentwickelt wurden. Auch innerhalb der politischen Klasse ist
es nicht sonderlich umstritten.
Dieses Gesetz ist nicht der Finanzkrise geschuldet.
Vielmehr befand es sich ohnehin in der Pipeline, hat eine
lange Vorgeschichte und ist gewissermaßen Business as
usual, um den Investmentfonds attraktiver zu machen.
Allerdings sind auch in diesem Gesetzentwurf die Probleme der Finanzkrise aufgegriffen worden. Ein Kind
kommt auf die Welt: das KID, das Key Investor Document; auch Herr Staatssekretär Koschyk hat es erwähnt.
Insgesamt kann man feststellen: Die Branche wird
durch eine stärkere Europäisierung gestärkt. Es werden
Möglichkeiten geschaffen, vermehrt grenzübergreifend
zu investieren.
Wir müssen in den Beratungen schauen, ob die technische Umsetzung reibungslos gelingt: Erfüllen die Regelungen den Sinn, für den sie gedacht sind? Werden
nicht nutzlose Informationen geschaffen? Entstehen
nicht überflüssige Kosten? Schließlich knabbern zusätzliche Kosten sehr stark an der Rendite.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten
dieses Gesetz auch nutzen, um eine im Prinzip fertige
finanzpolitische Innovation dranzuhängen und den
Fondsstandort Deutschland und den Finanzplatz
Deutschland noch weiter zu stärken: Wir sollten darüber
nachdenken - das ist ebenfalls im Sinne der Bundesregierung; auch Staatssekretär Koschyk hat gesagt, der
Fondsstandort Deutschland solle gestärkt werden -, ob
wir nicht auch das sogenannte Pension Pooling in dieses
Gesetz integrieren.
Zurzeit ist es so, dass große, international tätige Konzerne ihre Altersvorsorgeeinrichtungen in den unterschiedlichen Ländern separat ansiedeln. Mithilfe eines
Pension Poolings würde man diese an einem Standort
bündeln können. Man würde weitere Effizienzgewinne
erzielen und damit schlussendlich auch die Rendite für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhen. Die
Rede ist von 0,5 Prozent Rendite; auf 30 Jahre betrachtet
ist dies doch schon einiges. In anderen Ländern wird das
schon gemacht. Belgien, Luxemburg, Großbritannien,
Irland und die Niederlande haben bereits entsprechende
Vorkehrungen getroffen.
Dabei gibt es möglicherweise eine Schwierigkeit; das
will ich gar nicht verschweigen. Denn die entsprechenden Regelungen müssen DBA-konform gestaltet werden. Dies bedürfte einer umfangreichen Prüfung und
wäre ein ambitioniertes Ziel. Wir sollten diese Chance
allerdings nutzen, um dieses Pension Pooling an das Gesetz anzudocken und einen weiteren Schritt hin zu einem
attraktiven Fondsstandort Deutschland zu machen.
Insgesamt freuen wir uns auf die weiteren Beratungen
und sind guter Hoffnung - ich denke, das zeigt auch die
bisherige Debatte -, dass wir am Ende zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen können.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Harald Koch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass
die Bundesregierung nichts aus der Finanzkrise gelernt
hat und weitermacht wie bisher, dann wäre dieser Gesetzentwurf der Beweis.
Teile der Fondsbranche werden zu Recht als Schattenbankensystem bezeichnet. Das bedeutet nichts anderes,
als dass jene Hochrisikogeschäfte, die bisher von Banken betrieben wurden und die Krise mit ausgelöst haben,
zunehmend von Investmentfonds und Hedgefonds ausgeübt werden. Exakt davor warnte am 20. Januar dieses
Jahres der Chefkorrespondent der Finanzzeitung Handelsblatt, Robert Landgraf:
Dieses gefährliche Ausweichmanöver muss gestoppt werden.
({0})
Schattenspieler sind harten Regeln zu unterwerfen.
Sonst werden die Schattenbanken von heute zum
Wachstumssektor der Finanzindustrie von morgen.
Niemand wird ernsthaft glauben, dass deren Risiken nur reiche Privatleute treffen, …
({1})
Meine Damen und Herren, dass Sie auf die Linke hören, erwartet ernstlich niemand. Aber nehmen Sie sich
doch wenigstens die Empfehlung Ihrer Hauspostille zu
Herzen.
Ich sage Ihnen: Vor lauter Effizienz- und Wettbewerbsdenken blenden Sie gesamtwirtschaftliche Risiken
wieder einmal völlig aus. Stattdessen tun Sie alles dafür,
dass sogenannte Feeder Fonds immer größer werdende
Master Fonds noch besser füttern können. Sie wollen,
dass bestehende Fonds noch besser über Grenzen hinweg miteinander verschmelzen können. Ihre größte
Sorge ist, dass die Aufsichten jener Länder, in die die
Fonds expandieren wollen, zu viele lästige Fragen stellen.
Sie geben folglich vor, Sie wollten mit dem Gesetz
den angeblich zu kleinteiligen Markt der Investmentfonds straffen, um Gebührensenkungen für die Anleger
zu erreichen. Wenn Sie das tatsächlich wollen, dann
schaffen Sie eindeutige und transparente Regeln über
Obergrenzen für Gebühren! Ebenso haben Sie es versäumt, die Kennzahl der Gesamtkostenquote zu überarbeiten, um eine umfassendere Kostentransparenz für die
Verbraucher herzustellen. Dazu müssten Ausgabeaufschläge, erfolgsabhängige Vergütungen und anderes
berücksichtigt werden. In Anbetracht dieser Unterlassungen ist die Einführung der „Wesentlichen Anlegerinformationen“ als Element des Verbraucherschutzes
nichts anderes als eine schlechtsitzende Tarnkappe zur
Verschleierung der weiteren Deregulierung.
({2})
Solange eine durchgreifende Finanzmarktregulierung
unterbleibt, die das Schattenbankensystem umfasst, so
lange können Sie dem Dilemma einer angemessenen
Anlegerinformation - zu viele Informationen sind für
den Kleinanleger nicht zu bewältigen; übersichtliche Informationen verweisen vielleicht doch nicht auf die entscheidenden Risiken - auch mit diesem Instrument nicht
entkommen.
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit fördert die
OGAW-IV-Richtlinie Konzentration und Monopolisierung im Fondssektor. Riesige Kapitalüberschüsse strömen auf der Suche nach Profit um den Globus. Aufgrund
dieser Überliquidität bilden sich immer neue, gefährliche Spekulationsblasen; das hatten wir schon einmal.
Die Überliquidität ist Folge der massiven, sich verschärfenden Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich.
Die neuen Vorschriften leisten dem Trend zu immer
größeren, scheinbar profitträchtigeren Fonds mit entsprechend größeren Hebelwirkungen Vorschub. Es ist
doch offensichtlich, dass zunehmend übermäßige Risiken eingegangen werden. Dementsprechend wird über
kurz oder lang viel Geld einer noch größeren Zahl von
Anlegern verbrannt. Verbraucherschutz sieht anders aus.
({3})
Auch werden immer größere Heuschrecken herangezüchtet. Hinterher, wenn die Heuschrecken solide Zielunternehmen ruinieren und auszehren, wird geklagt.
Wir brauchen endlich Rahmenbedingungen, die diese
Fonds zu längerfristigen Investments und zu weniger
spekulativem Agieren verpflichten. Wir brauchen stabile
Finanzmärkte und eine entsprechend strikte Regulierung.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Koch, jetzt war ich doch ein wenig überrascht. Ich
glaube, es ist nicht so ganz klar geworden, was genau Ihr
Wunsch ist, was man bei dem Gesetz, das hier vorliegt,
eigentlich anders machen sollte. Ich glaube, wir müssen
uns schon klarmachen: Wenn wir Konsequenzen aus der
Finanzkrise ziehen, dann hilft es nicht, auf der großen
Oberfläche zu bleiben; vielmehr geht es um ganz konDr. Gerhard Schick
krete Regeln. Dazu müssen Sie ganz konkrete Vorschläge machen.
({0})
Ich muss zugeben, dass ich dieses relativ dicke Gesetz
mit dem Datum 24. Januar 2011 - es ist noch nicht so
lange her, dass es eingebracht worden ist - noch nicht
vollständig durchdrungen habe. Ich glaube, dass ich damit nicht der Einzige bin, weil all die Fragen der grenzüberschreitenden Fusionen, Schließungen von Fonds
usw. eine relativ komplexe Materie sind, die nicht täglich bei uns aufschlägt.
Es gibt eine Herausforderung, bei der ich mir noch
nicht sicher bin, ob wir ihr gerecht werden können. Die
verschiedenen Gesetzgebungsprozesse, die auf der europäischen und auf der nationalen Ebene laufen, interagieren. Ich bin mir nicht sicher, ob wir es wirklich schaffen,
ein konsistentes Anlegerschutzrecht und eine konsistente
Finanzmarktregulierung sicherzustellen. Das ist eine
große Sorge. Ich glaube deswegen, dass wir im Rahmen
dieses Gesetzgebungsprozesses zu OGAW IV auch einen Input für den OGAW-V-Prozess brauchen, weil die
Sachen offensichtlich gerade parallel diskutiert werden,
wir gleichzeitig an zwei Schrauben drehen und wissen
müssen, was an welcher Stelle jeweils gemacht wird.
Ich will ein paar Punkte nennen, die für uns in der
Diskussion wichtig sein werden. Der erste Punkt wurde
schon genannt und betrifft die „Wesentlichen Anlegerinformationen“. Für uns ist es wichtig, dass es wirklich
zu einer knappen, präzisen, aber auch entscheidungsrelevanten Informationsgrundlage kommt und dass das mit
dem zusammenpasst, was wir den Anlegern bei anderen
Produkten vorschlagen.
Der zweite Punkt ist, dass wir Konsequenzen aus dem
Madoff-Skandal ziehen müssen. Bisher schien es so, als
würde das in der OGAW-V-Richtlinie angesprochen
werden. Wir müssen schauen, dass das Thema nicht untergeht. Denn ich befürchte, dass die Europäische Union
keine wirklichen Konsequenzen daraus zieht, dass es im
Bereich der Fonds eine Regulierungsarbitrage von
Luxemburg gibt. Diese ist bisher nicht abgestellt worden, und ich sehe keine konkreten Vorschläge, mit der
sie abgestellt werden kann. Das führt dazu, dass Anleger
- eher in Frankreich als in Deutschland; aber das hätte
auch umgekehrt sein können - einen Schaden aus diesem Anlagebetrug in den USA erlitten haben, weil Depotbanken in Luxemburg, von der luxemburgischen
Aufsicht durchaus bewusst nicht kontrolliert, ihre Arbeit
nicht getan haben. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden.
({1})
Bei der Fusion von Fonds ist die Frage zu regeln,
wann die Anleger Informationen bekommen müssen.
Das geschieht bisher zu spät. Es ist das Eigentum der
Anleger, mit dem gewirtschaftet wird. In dem Umsetzungsgesetz und der Richtlinie, die ihm zugrunde liegt,
ist diesbezüglich jetzt ein richtiger Schritt gegangen
worden. Wir werden schauen müssen, ob das so ausreicht oder ob man da nachsteuern muss.
Ich habe wahrgenommen, dass Sie beim REIT-Gesetz
jetzt noch einmal mit der Exit Tax nachsteuern. Da wäre
vielleicht die Frage zu klären, ob das heißt, dass Sie Ihren Fehler im Koalitionsvertrag, die Einbeziehung von
Wohnimmobilien, jetzt korrigieren und sich auf die vorgeschlagene Änderung beschränken oder ob Sie noch
Weiteres vorhaben.
Ich habe bereits im Ausschuss angesprochen, dass
auch die Frage zu klären ist, wie wir auf kritische Entwicklungen im Mikrofinanzbereich reagieren können.
Man hat inzwischen Erfahrungen, welche Modelle funktionieren und welche nicht. Wir sollten jetzt nicht nur auf
die deutsche Regulierung schauen, sondern auch berücksichtigen, was in den Zielländern der Investitionen vor
Ort im Einzelnen geschieht, damit wir ein sicheres Produkt schaffen, das seinem Zweck, der Förderung von
Mikrofinanzierungen, auch wirklich dient und nicht irgendwann, wie es in einzelnen Fällen von Mikrofinanzinstituten der Fall war, zu einem Nachteil für die Anleger
wird.
Es gibt viele andere - auch steuerlich relevante - Fragen, bei denen wir noch ganz stark in die Tiefe gehen
müssen. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, in dieser
ersten Lesung ein paar Punkte anzusprechen, die im
Rahmen dieser Diskussion eine Rolle spielen sollten.
Vielen Dank.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ralph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde beschäftigen wir uns hier mit einem Gesetz,
das - wenn man die Ausführungen meiner Vorredner
wahrgenommen hat - für den einen oder anderen sehr
esoterisch klingen mag. Es ist schon sehr speziell. Es ist
eine Sache, bei der man sagen könnte, es handele sich ja
nur um die Umsetzung von europäischem Recht, angereichert um einen Restanten aus dem Restrukturierungsgesetz: die Mikrofonds und die Schließung von Steuerschlupflöchern.
Aber ich glaube, es ist trotzdem wichtig, dass wir uns
hier an dieser Stelle mit diesem Gesetz beschäftigen,
weil ich es eigentlich nicht mag, wenn wir sagen: Das ist
ja nur die Umsetzung von europäischem Recht. - Zu sagen: „Das ist nur die Umsetzung von europäischem
Recht“, wertet dieses Haus ab. Wenn man sich die Quantität der Vorhaben, die wir uns hier vornehmen, ansieht,
stellt man fest: Das ist oftmals nur die Umsetzung von
europäischem Recht.
({0})
Wir Finanzpolitiker wissen, dass die Umsetzung von
europäischen Rechten ziemlich wichtig ist. Sie ist deswegen wichtig, weil wir in den letzten Jahren aus der
Krise gelernt haben, dass wir mit nationaler Gesetzgebung oft an unsere Grenzen stoßen. Was hätte es uns genutzt, Ratingagenturen nur in Deutschland zu regulieren,
nicht aber in anderen Ländern? Was würde es uns nutzen, Leerverkäufe hier zu verbieten, wenn die entsprechenden Finanzmarktakteure dann nach London abwandern? Was würde es uns nutzen, deutsche Banken mit
Eigenkapitalregelungen zu belasten, die in den USA so
nicht übernommen werden? Das Ganze könnte man beliebig weiterführen.
Meine Damen und Herren, wir haben die Erkenntnis
gewonnen, dass große Probleme eigentlich nur international zu lösen sind, am besten weltweit. Aber wir haben
auch lernen müssen, dass das nicht möglich ist. Es ist
deswegen nicht möglich, weil einige Länder sagen: Das
war damals eure Finanzkrise. Was interessiert uns eure
Regulierung? Wir brauchen das nicht.
Das geht auch deshalb nicht, weil es Länder gibt, leider auch in der EU, die mangelnde Regulierung - Herr
Schick hat es gerade angesprochen - als Standortvorteil
begreifen; man spricht in diesem Fall von Regulierungsarbitrage oder - böse - von Regulierungsdumping. Irland war kein gutes, sondern ein sehr schlechtes Beispiel
dafür.
Ich bin nachhaltig der Überzeugung: Wenn es uns
nicht gelingt, auf globaler Ebene Lösungen zu finden,
dann müssen wir uns bemühen, zumindest mit unseren
engsten Partnern, unseren Freunden in der Europäischen
Union, Lösungen zu finden, mit denen wir die Regelungen, die das OGAW-IV-Umsetzungsgesetz vorsieht, umsetzen. Wir müssen einen gemeinsamen Markt organisieren und ein Level Playing Field schaffen, mit gleichen
Standards, mit guter Aufsicht, mit Austausch von Informationen, mit Kommunikation.
Ich bin nachhaltig davon überzeugt, dass wir die
wichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betreffen, nur
europäisch lösen können. Ich wiederhole das: Wir können die wichtigen Fragen, die die Finanzmärkte betreffen, nur europäisch lösen. Dabei werden wir den einen
oder anderen Kompromiss, der nicht unbedingt deutschen Interessen entspricht, eingehen müssen, an dieser
Stelle und, wie ich befürchte, auch in dem einen oder anderen Bereich, über den momentan im europäischen
Kontext diskutiert wird.
Umso wichtiger ist es, dass wir als Parlament uns als
aktiven Teil dieses europäischen Richtlinien- oder Gesetzgebungsprozesses begreifen, so wie Art. 23 Grundgesetz das eigentlich auch vorsieht. Ich glaube, da haben
wir noch eine Menge Potenzial nach oben. Wir dürfen
uns zum Beispiel nicht erst dann mit den Richtlinien beschäftigen, wenn sie uns vorgelegt werden und kaum
noch zu ändern sind, sondern wir sollten uns früh einschalten. Wir als Deutscher Bundestag sollten unsere
Position deutlich machen, indem wir der Bundesregierung für die Diskussionen im Rat ein Mandat mitgeben.
Wir sollten den Dialog mit den Verantwortlichen in der
Kommission suchen und mehr als in der Vergangenheit
mit unseren Kollegen im Europäischen Parlament Hand
in Hand arbeiten. Ich denke, hier haben wir durchaus
noch einigen Nachholbedarf. Es ist wichtig, dass wir nie
sagen: Das ist ja nur die Umsetzung von europäischem
Recht.
Im Übrigen befreit uns die Nur-Umsetzung von europäischem Recht nicht von der Notwendigkeit, einen
sorgfältigen Gesetzgebungsprozess durchzuführen. Es
ist nämlich auch eine Herausforderung, die europäischen
Vorgaben an die nationalen deutschen Besonderheiten
anzupassen.
Ich bin sehr froh, Herr Sieling, Herr Schick, Herr Kollege Sänger - Herr Koch, was Sie betrifft, gilt das leider
ein bisschen weniger -, dass Sie diesen Prozess sehr
ernst nehmen und die Bereitschaft geäußert haben, das
Ganze nicht einfach nur durchzuwinken, sondern sich
durchaus auch mit den Details zu beschäftigen. Ich halte
das für richtig.
Sie haben es angesprochen: Wir werden am
23. Februar dieses Jahres eine Anhörung zu diesem
Thema durchführen. Wir werden die Anregungen und
Hinweise aus dieser Anhörung erwägen und bewerten.
Wir werden dieses Gesetz gegebenenfalls ändern. Wir
werden unsere Arbeit dann im Sinne von Herrn
Koschyk, der ein zügiges Vorgehen erbeten hat, aller Voraussicht nach Ende März dieses Jahres abschließen.
Wie ich gehört habe, werden wir das gemeinsam machen. Das ist gut und, wie ich glaube, auch ein gutes
Ende dieses Tages. In diesem Sinne freue ich mich auf
die Beratungen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4510 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit
sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zu einer
Reihe von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten,
bei denen keine Aussprache mehr vorgesehen ist. Darf
ich davon ausgehen, dass Sie einverstanden sind, wenn
ich die Namen derjenigen Kolleginnen und Kollegen,
die ihre Rede zu Protokoll geben, nicht jeweils vorlese?
Sie können sie dann im Protokoll nachlesen. - Das ist
der Fall.
Dann beginnen wir mit dem Tagesordnungspunkt 12:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Faire Mobilität und soziale Sicherung - Voraussetzungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 schaffen
- Drucksache 17/4530 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sind zu Protokoll gegeben worden.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4530 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
150 Jahre diplomatische Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Japan
- Drucksache 17/4545 -
Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben wor-
den.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4545 mit dem Titel
„150 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen
Deutschland und Japan“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der
SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Die Agrarwissenschaften in Deutschland auf
höhere Anforderungen ausrichten
- Drucksache 17/4531 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4531 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Volker Beck ({2}), Ingrid Hönlinger,
1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche stärken
- Drucksache 17/4546 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.4)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4546 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 16 a und
16 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine Unterstützung für die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Marokkos in der Westsahara
- Drucksache 17/4271 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({5}), Tom Koenigs, Marieluise Beck
({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtslage in Westsahara
- Drucksache 17/4440 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich der Deutsche
Bundestag heute mit dem Thema Westsahara beschäf-
tigt. Dieses Thema steht in Deutschland nicht unbedingt
ganz oben auf der Tagesordnung, obwohl es sich um ei-
nen Jahrzehnte andauernden regionalen Konflikt han-
4) Anlage 5
delt. Deshalb würde ich mir wünschen, wenn wir dies
mit dieser Debatte ein wenig ändern könnten.
Ich vertrete - ähnlich wie Volker Rühe das kürzlich
geäußert hat - die Auffassung, dass Deutschland sich in
den nächsten Jahren als Mitglied des Sicherheitsrates zu
Themen positionieren muss, denen wir Deutsche bisher
bequemerweise aus dem Wege gehen konnten. Die Frage
des Westsahara-Konflikts gehört sicherlich zu diesen
Themen.
Die Westsahara-Problematik ist eine zentrale Frage
für die Zukunft Marokkos und der gesamten Region von
Algerien bis Mauretanien. Sie bindet große militärische
Ressourcen, belastet die Beziehungen zwischen
Marokko und Algerien und steht der Kooperation und
Entwicklung im Maghreb entgegen. Es ist in einer
30 Minuten langen Debatte leider nicht möglich, die
Entwicklung des Konflikts mit seinen Ursachen und Ereignissen seit mehr als 30 Jahren zu analysieren. Deshalb möchte ich mich kurz fassen und zunächst auf die
Inhalte der Anträge eingehen:
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist aus meiner
Sicht tendenziös. Er richtet sich eindeutig gegen Marokko, wie schon der Titel belegt, in dem von „völkerrechtswidriger Besatzungspolitik“ die Rede ist.
Bedenklicher finde ich, dass im Antrag bei der Schilderung der Ereignisse im Lager Gdaim Izyk nahe
Laayoune verschwiegen wird, dass offenbar zehn der
zwölf Opfer marokkanische Sicherheitskräfte waren,
dass die Proteste also keineswegs so friedlich waren,
wie im Antrag der Linken hervorgehoben. Ich wundere
mich, dass diese auch im Antrag der Grünen erwähnte
Tatsache einfach verschwiegen wird. Das ist aus meiner
Sicht unredlich. Die marokkanische Seite spricht in diesem Zusammenhang übrigens von einer Situation, dass
sich eine Gruppe der Lagerinsassen während der Verhandlungen mit der marokkanischen Seite radikalisiert
habe und die Personen, die bereit waren, das Lager zu
verlassen, als Geiseln genommen habe. Erst daraufhin
hätten die Sicherheitskräfte ohne den Gebrauch von
Waffen eingegriffen.
Auch in der Frage des 14-jährigen getöteten Jungen,
der angeblich Nahrungsmittel und Medikamente in das
Lager Gdaim Izyk bringen wollte, gibt es andere Informationen. Diese berichten von bewaffneten Personen in
zwei Allradfahrzeugen, die einen Angriff gegen das
Wachpersonal in Laayoune ausübten und in deren Begleitung sich auch der Junge befand.
Ich möchte hier gar nicht den Richter spielen und die
Ereignisse jener Tage abschließend beurteilen, jedoch
möchte ich festhalten, dass es offensichtlich unterschiedliche Versionen gibt. Wir sollten uns als Deutscher Bundestag nicht dazu hinreißen lassen, die Darstellung einer Konfliktpartei eins zu eins für unsere
Argumentation zu übernehmen und daraus unrealistische Forderungen abzuleiten. Damit kommt die Linke
dem Ziel einer Lösung des Konflikts nicht näher, sie
sorgt nur für Radikalisierung und eine Verhärtung der
Positionen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen bildet eine
weit bessere Diskussionsgrundlage. Ich halte die Hervorhebung der Bedeutung der Menschenrechtslage in
der Westsahara zwar grundsätzlich für richtig, aber
dann muss man auch andere Fragen stellen, nämlich
nach der Rolle Algeriens in dem Konflikt oder der Situation in den von der POLISARIO geführten Flüchtlingslagern.
Es ist uns ja nicht einmal möglich, die Zahl der
Flüchtlinge in diesen Lagern unabhängig zu erfassen.
Im Antrag der Grünen steht eine Zahl von 160 000, in einem Bericht der damaligen Staatssekretärin Karin
Kortmann an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von 2008 heißt es jedoch:
„Die Weigerung der sahrouischen Behörden, einer Registrierung zuzustimmen, legt jedoch nahe, dass ihre
wirkliche Anzahl weit darunter und wahrscheinlich
kaum über 90 000 liegt.“
Wir müssen uns bei allen Fragen der Menschenrechte, wo ich mir auch vonseiten Marokkos Verbesserungen wünsche, auch nach grundsätzlichen Lösungsmöglichkeiten des Konflikts fragen.
Hier laufen ja derzeit die direkten Verhandlungen
zwischen der POLISARIO und Marokko unter dem
neuen UN-Vermittler Christopher Ross. Und hier haben
wir weiterhin die Situation, dass die Marokkaner von einer Souveränität Marokkos über die Westsahara ausgehen, während die POLISARIO ein Referendum mit Einschluss der Unabhängigkeit fordert. Da liegt dann der
Teufel im Detail über die Frage, wer dann abstimmen
darf und wie die Abstimmung erfolgt. Der Streit über
diese Frage hat letztlich ja schon früher ein Referendum
verhindert.
Marokko ist 2007 immerhin mit einem weitreichenden
Autonomievorschlag von seiner bisherigen harten Verhandlungslinie abgerückt, einem Vorschlag, den der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1871 vom April 2009
als „ernsthafte und glaubwürdige Bemühungen“ charakterisiert hat. Unter dem Aspekt der Menschenrechte
und der wirtschaftlichen Entwicklung einer von einem
jahrzehntelangen Konflikt betroffenen Region ist der
Autonomievorschlag eine mögliche Lösung. Schließlich
sind weitreichende Befugnisse für die Region in wirtschaftlichen, sozialen und Haushaltsfragen vorgesehen.
Ich möchte diese marokkanische Position nicht einfach übernehmen, vielmehr ist es immer Maßgabe deutscher Außenpolitik gewesen, die Bemühungen der Vereinten Nationen bei der Herbeiführung einer Lösung zu
unterstützen. Hier hat es ja durch die Wiederaufnahme
von vertrauensbildenden Maßnahmen in Form von Familienbesuchen und der wahrscheinlichen zukünftigen
Einigung über solche Familienbesuche auch auf dem
Landweg durchaus Fortschritte gegeben.
Wenn aber auch der neue UN-Vermittler Christopher
Ross bei der Suche nach einer Lösung letztlich nicht
weiterkommen sollte, halte ich es für wichtig, dass
Deutschland zukünftig klarer Position bezieht. Die
Frage der Menschenrechte in der Westsahara sollte dabei dann ebenso eine Rolle spielen, wie die Fragen der
Zu Protokoll gegebene Reden
Legitimation marokkanischer Ansprüche. Die Berechtigung der Vertretungsansprüche der POLISARIO für die
Bevölkerung in der Westsahara ist dabei auch zu hinterfragen, und schließlich sollte es natürlich auch um eine
realistische Einschätzung der machbaren Lösungswege
gehen.
Insofern begreife ich die heutige Debatte losgelöst
von Ihrem Anlass als einen Auftakt, sich auch im Deutschen Bundestag verstärkt mit den Fragen jenes über
Jahrzehnte schwelenden Konflikts zu beschäftigen. Vielleicht kann es uns Deutschen ja gelingen, hier eine Position zu entwickeln, die der Komplexität der Situation gerecht wird und letztlich dazu beiträgt, eine tragfähige
Lösung herbeizuführen.
Wir alle sind über das menschliche Leid, das durch
den Westsahara-Konflikt verursacht wird, tief betroffen.
Allein die jüngste Tragödie von Laayoune im Nordwesten der Sahara zeigt, welch dramatisches Ausmaß dieser
Konflikt angenommen hat. Die unzähligen Toten, die es
bei der Räumung eines Zeltlagers gegen die soziale und
wirtschaftliche Lage am 8. November 2010 durch marokkanische Sicherheitskräfte gab, zeigen das eindrücklich.
Dabei schwelt der Konflikt schon seit langem. Um ihn
besser verstehen zu können, lohnt ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Konflikts. Seit Mitte der 60er-Jahre
des letzten Jahrhunderts wurde Spanien wiederholt von
der UN aufgefordert, die Westsahara in die Unabhängigkeit zu entlassen. Parallel dazu gründete sich die
sahrauische Befreiungsfront Frente POLISARIO, die für
eine politische Unabhängigkeit der Westsahara kämpfte.
Nach dem Tod Francos 1975 zogen die Spanier ab, und
Mauretanien und Marokko besetzte den Großteil des Gebiets der Westsahara. 1976 erklärte Marokko die Annexion der nördlichen zwei Drittel des Westsahara-Gebietes und 1979 des restlichen Territoriums, nachdem sich
Mauretanien aus dem Gebiet zurückgezogen hatte.
Diese Annexionen wurden von den Vereinten Nationen
nicht anerkannt. Ebenso wenig wurden ohne die Abhaltung des von den Vereinten Nationen geforderten Referendums die Ansprüche der Demokratischen Arabischen
Republik Sahara auf das Gebiet der Westsahara anerkannt.
Zwar wurde 1991 eine Waffenstillstandsvereinbarung
zwischen Marokko und der POLISARIO geschlossen,
aber auch dies reichte nicht, um das geforderte Referendum abzuhalten. Daher leben bis heute etwa
100 000 Sahrauis in Flüchtlingslagern nahe der Stadt
Tindouf in der algerischen Sahara. Hinzu kommt, dass
das Gebiet von Westsahara aktuell durch eine befestigte
und verminte Grenzanlage geteilt ist, die von Marokko
entlang der Waffenstillstandslinie errichtet wurde.
Vor diesem Hintergrund scheint eine kurzfristige Lösung des Westsahara-Konflikts kaum realistisch. Trotz
aller Bemühungen sowohl der Bundesregierung als
auch der internationalen Gemeinschaft war es bislang
nicht möglich, die Konfliktparteien zu einer einvernehmlichen und friedlichen Lösung zu bewegen.
Woran liegt das? Zuallererst an den Konfliktparteien
selbst. Weder die Regierung Marokkos noch die Saharawi Liberation Movement, Frente POLISARIO, waren
und sind bis heute in der Lage, aufeinander zuzugehen
und in der Sache voranzukommen. Selbst die Resolution
1754 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, in der
die Konfliktparteien dazu aufgefordert wurden: „enter
into direct negotiations without preconditions and in
good faith“, führten bislang nur zu ergebnislosen
Gesprächen. Die Ursache dafür liegt in den unterschiedlichen Zielsetzungen, die die Konfliktparteien in
den Verhandlungen verfolgen. Marokko wäre bis zu einem gewissem Grad bereit, einen Autonomiestatus der
Region zu akzeptieren, solange dies innerhalb des marokkanischen Staatsverbandes geschieht. Die sahrauischen Aktivisten berufen sich aber auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und fordern einen unabhängigen
Staat Westsahara.
Dieses Dilemma von außen zu lösen, scheint kaum
möglich, und daher stellt sich die Frage, wie die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft mit
diesem Konflikt umgehen.
Zunächst einmal ist es eine Selbstverständlichkeit,
dass wir uns bemühen, das menschliche Leid zu lindern
und humanitäre Hilfe beispielsweise für die schon angesprochenen vier Flüchtlingslager in der Nähe der Stadt
Tindouf in der algerischen Sahara leisten. Auch engagieren wir uns im Rahmen von Familienzusammenführungsprogrammen und unterstützen die ständige VNBeobachtermission MINURSO, die seit dem Waffenstillstand und der Resolution 690 des Sicherheitsrats der
Vereinten Nationen vom 29. April 1991 im Land ist. Im
Rahmen des Programms Deutsche Akademische Flüchtlingshilfe beim UNHCR werden derzeit Stipendien für
mehr als 20 sahrauische Studierende finanziert, und das
Auswärtige Amt prüft, wie wir die Räumung von Minen
aus dem Westsahara-Konflikt in Mauretanien unterstützen können.
Neben all diesen humanitären und vertrauensbildenden Maßnahmen müssen wir alles tun, um das seit langem geforderte Referendum über die Zukunft der Westsahara und die entsprechenden Gespräche zwischen den
Konfliktparteien unter Einbindung von Algerien und
Mauretanien zu unterstützen - auch wenn sie bislang
nicht erfolgreich verlaufen sind.
Außer dieser Unterstützung arbeitet Deutschland besonders mit Blick auf Frankreich und Spanien an einer
kohärenteren Haltung der Europäischen Union zum
Westsahara-Konflikt und bemüht sich, auch Algerien
konstruktiv in die Gespräche einzubinden. Die Regierung in Algier unterstützt die Frente POLISARIO und
sieht den Westsahara-Konflikt hauptsächlich als Dekolonialisierungsproblem an.
Darüber hinaus gibt es aber kaum diplomatische
oder wirtschaftliche Hebel für die Bundesregierung,
eine der Konfliktparteien kurzfristig zu entscheidenden
Zugeständnissen zu drängen. Auch wenn dies vor dem
Hintergrund des menschlichen Leids schwer fällt zu akzeptieren, so müssen wir auch unseren Einfluss realistisch einschätzen und dürfen ihn nicht überbewerten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das wäre fatal und würde nur falsche Erwartungen und
Hoffnungen bei den Betroffenen und Opfern schüren.
Und das können wir auch nicht wollen.
Bis zum heutigen Tage ist es nicht zu einem wirklichen Durchbruch im Sinne einer dauerhaften, völkerrechtlich verbindlichen Verhandlungslösung für den
Konflikt um die Westsahara gekommen, der nun schon
seit 1975 andauert. Seit 1991 besteht zwar formell ein
Waffenstillstand zwischen der POLISARIO und Marokko. Der Konflikt und vor allem die durch ihn betroffenen Menschen in der Westsahara warten dennoch weiterhin auf eine dauerhafte und tragende Lösung. Ein
Referendum in der Westsahara wäre, im Sinne des
Selbstbestimmungsrechtes der Völker, ein wichtiger erster Schritt in Richtung einer Konfliktlösung gewesen.
Doch schon der Versuch des ersten Schrittes, ein Referendum auf dem Gebiet der Westsahara durchzuführen,
ist im Jahr 2000 am Streit über den Teilnehmerkreis gescheitert.
Die gewaltsame Räumung des Protestcamps im sahrauischen Camp Gdaim Izyk bei El Aaiun im November
2010 durch marokkanische Sicherheitskräfte zeigt, dass
der Konflikt auch 36 Jahre nach seinem Ausbruch noch
immer in tödliche Gewalt umschlagen kann. Dieser Gewaltausbruch am 8. November 2010 fiel ausgerechnet
mit dem Beginn der dritten Runde der informellen Gespräche über den Status der Westsahara zusammen, zu
denen sich Marokko, die POLISARIO und die Beobachterstaaten Algerien und Mauretanien in New York trafen.
Das Blutvergießen vom 8. November 2010 weckt
große Befürchtungen hinsichtlich einer neuen Eskalation des Konfliktes und muss alle Mitglieder des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung zu größter
Sorge veranlassen. Den Konfliktparteien - insbesondere
der Regierung des Königreiches Marokko - muss unmissverständlich erklärt werden, dass Gewaltverzicht
eine Conditio sine qua non für alle weiteren Schritte zur
humanitären Unterstützung und zur Konfliktbeilegung
ist. Hier sehe ich die Bundesregierung in der Pflicht.
Die erneute Gewalteskalation ist auch deshalb umso
bedauerlicher, da es in der Vergangenheit umfangreiche
Aktivitäten der Vereinten Nationen zur Einhegung und
Beilegung des Konfliktes gegeben hat: So haben die Vereinten Nationen 1991 eine eigene Mission für die Einhaltung des Waffenstillstandes und zur Verbesserung der
humanitären Situation, die MINURSO, ins Leben gerufen. Die Verlängerung des MINURSO-Mandates steht
für den April diesen Jahres an.
Im Zuge dieser Mandatsverlängerung besteht nun ein
Konflikt zwischen der POLISARIO und der marokkanischen Regierung über die Aufnahme eines Menschenrechtsmechanismus in das Mandat der MINURSO-Mission. Dieser Konflikt muss - im Sinne der Prävention
einer weiteren Eskalation und für die Verbesserung der
humanitären Lage der sahrauischen Bevölkerung - unbedingt schnell beigelegt werden.
Die Bundesregierung muss in dieser Situation alles
ihr Mögliche unternehmen, um die Verlängerung des
MINURSO-Mandates zu erreichen. Ohne dieses Mandat
wäre die Grundlage für das humanitäre Handeln der
Vereinten Nationen in der Westsahara-Region gefährdet.
Dies darf auf gar keinen Fall zugelassen werden.
Ich will es an dieser Stelle auch nicht versäumen, auf
die Baker-Pläne I und II hinzuweisen, in denen die Vereinten Nationen ein umfangreiches Konfliktlösungsszenario entwickelten. Ich halte deren Ziele nach wie vor
für aktuell:
Der Westsahara sollte entsprechend Baker-Plan II
eine weitgehende Autonomie unter marokkanischer Souveränität zugestanden werden. Wesentlicher Bestandteil
war ein Abkommen, das folgende Regelungen vorsah:
Freilassung der Verhafteten und Kriegsgefangenen.
Drei Monate nach Unterzeichnung des Abkommens
beidseitige Reduzierung der Streitkräfte. Nach einem
Jahr sollen ein Parlament und ein Oberhaupt der Exekutive gewählt werden. Sie sollen den territorialen Haushalt der Westsahara verwalten und für die Steuereinnahmen und die Polizei zuständig sein. Allerdings wäre der
marokkanische König der Souverän geblieben, der in
den Außenbeziehungen, in Verteidigungsfragen und bei
der Kontrolle der Waffen weisungsbefugt wäre. Vier
oder fünf Jahre nach der Unterschrift wäre nach dem
Baker-Plan II ein Referendum durchgeführt worden, in
dem die Wahlberechtigten über drei Optionen hätten abstimmen können: Erstens, ob die Westsahara einen Autonomiestatus innerhalb Marokkos erhält; zweitens Unabhängigkeit oder drittens die volle Integration in das
marokkanische Staatsgebilde.
Die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die
Grünen und FDP haben im Jahre 2004 in ihrem interfraktionellen Antrag „Eine politische Lösung für den
Westsaharakonflikt voranbringen - Baker-Plan unterstützen“, Drucksache 15/2391, eindringlich für diesen
Plan geworben. Obwohl die Vereinten Nationen mit ihrer Resolution 1495 vom 31. Juli 2003 alle Konfliktbeteiligten und Verhandlungspartner aufgefordert haben,
dem Plan zuzustimmen, ist dieser aufgrund der Vorbehalte Marokkos gegen den offenen Endstatus gescheitert. Dies soll mich hier aber nicht davon abhalten,
nochmals die Grundsätze und Forderungen des BakerPlanes und unseres Antrages von 2004 zu unterstreichen
und für ihre Umsetzung zu werben.
Die Vereinten Nationen verfolgen die Umsetzung der
Ziele des Baker-Planes nach dessen Scheitern durch direkte Verhandlungen. Hierin sind sie durch alle Bundesregierungen ebenso unterstützt worden wie bei den sogenannten „guten Diensten“ wie zum Beispiel diskreten
Verhandlungen um die Freilassung von gefangenen
POLISARIO-Kämpfern.
Die EU engagiert sich mit ihrem ECHO-Programm
seit vielen Jahren in der Konfliktregion in der humanitären Hilfe. Das Europäische Parlament hat in dem
interfraktionellen Entschließungsantrag zur Lage in der
Westsahara vom 24. November 2010 seine Besorgnis
über die jüngste Entwicklung in der Region zum Ausdruck gebracht.
Zu Protokoll gegebene Reden
In die Frage des Zuganges zu den Fischressourcen im
Atlantik vor der Küste der Westsahara ist Bewegung gekommen. Die Legitimität der Teilhabe der Sahrauis an
den Fischvorkommen des eigenen Lebensraumes steht
für mich außer Frage.
Die marokkanische Regierung hat nach dem Gemeinsamen Ausschuss von EU und Marokko im Februar
2010 die Frage immerhin aufgegriffen, und die EUKommission erwartet nun nach dem EU-Marokko-Assoziationsausschuss vom 28. Oktober 2010 eine Wirkungsanalyse von Marokko. Diese Analyse ist unbedingt einzufordern und seitens der EU und der Bunderegierung
kritisch zu begutachten.
Gerade angesichts der jüngst wiederaufflammenden
Gewalt muss erneut alles dafür getan werden, dass substanzielle Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien
über eine dauerhafte Lösung des Konfliktes unter dem
Dach der Vereinten Nationen auf den Weg kommen. Das
Format der Verhandlungen ist dabei nachrangig. Entscheidend ist es, dass sie - im Sinne der Krisenprävention und Deeskalation - zunächst eine Verbesserung der
Lebensbedingungen der Menschen in der Westsahara
erreichen.
Ich denke, dass alle, die sich länger mit dem Westsahara-Konflikt beschäftigt haben, nicht der Illusion anhängen, diesen Konflikt kurzfristig lösen zu können. Die
internationale Gemeinschaft muss den Westsahara-Konflikt aber wieder verstärkt auf die politische Agenda
setzen. In diesem Sinne appelliere ich an die Bundesregierung, in ihren Aktivitäten für die Menschen der Krisenregion im Rahmen der Vereinten Nationen, in der
Europäischen Union und auch bilateral nicht nur nicht
nachzulassen, sondern sie zu forcieren.
Ein Mehr an regionaler Stabilität im Nordwesten
Afrikas ist nicht nur im Interesse der EU und der gesamten Weltgemeinschaft, es sollte vor allem im Interesse
der Anrainerstaaten der Konfliktregion liegen. Die neuesten Entwicklungen im Maghreb zeigen, dass die Region in eine Phase sozialer und politischer Veränderungen eintritt. Aus diesem Grund liegt in der Verbesserung
der regionalen Integration des Nordwestens des afrikanischen Kontinentes eine Entwicklungschance - auch
für neue Wege zur Lösung der Westsahara-Frage. Die
Staaten der Region müssten erkennen, welche Vorteile
eine regionale Integrationspolitik zwischen den Nachbarn nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch und ökonomisch für sie brächte.
Die unbestreitbaren Vorteile der Geschichte der Integration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg könnten
für sie eine Inspiration für mehr regionale Integration
sein. Wir Europäer dürfen nicht müde werden, den größten Gewinn der EU-Integration, die Sicherung des Friedens innerhalb ihrer Grenzen, allen Weltregionen als
nachahmungswürdig zu empfehlen.
Daher möchte ich aus aktuellem Anlass mit dem Aufruf zu einer verbesserten Süd-Süd-Kooperation in Norden Afrikas enden.
Der Westsahara-Konflikt kann nur unter Beteiligung
der Vereinten Nationen gelöst werden, da er von vielen
ungeklärten Fragen geprägt ist. Die Rechtsauffassungen
divergieren, der völkerrechtliche Status der Westsahara
ist ungeklärt. Bereits der Titel des Antrags der Linken ist
tendenziös und der Antrag einer nachhaltigen Lösung in
diesem Konflikt abträglich.
Selbstverständlich ist der Westsahara-Konflikt regelmäßig Gegenstand politischer Gespräche und Kontakte
der Bundesregierung und in der Europäischen Union
mit Partnern in der Region. Auch in dem Fall der sahrauischen Aktivistin Aminatou Haidar haben wir Parlamentarier klar Position für Frau Haidar und für die
Menschenrechte bezogen.
Nach unserer Auffassung liegt der Schlüssel in einer
erfolgreichen politischen Vermittlung durch die Vereinten Nationen. Wir setzen daher weiterhin auf Bemühungen der Vereinten Nationen, im Einverständnis zwischen
den Beteiligten und auf Grundlage bestehender UN-Resolutionen, eine friedliche Lösung des Westsahara-Konflikts zu finden.
Der Sondergesandte der Vereinten Nationen für die
Westsahara, Christopher Ross, bereiste im Oktober
2010 erneut die Region. Er plant eine neue, dritte Runde
informeller Konsultationen im Laufe des Novembers.
Die zweite Runde informeller Konsultationen hatte Anfang Februar in den Vereinigten Staaten stattgefunden.
Neben Marokko und der POLISARIO waren auch Algerien und Mauretanien präsent. Es kam jedoch wiederum
nur zu einem Austausch bekannter Positionen. Die Konsultationen sollen auch zur Vorbereitung formeller Verhandlungen im Rahmen des sogenannten ManhassetProzesses dienen. Die FDP-Bundestagsfraktion appelliert daher an alle Parteien, die Gespräche unter der
Führung des Sondergesandten Christopher Ross so
schnell wie möglich fortzusetzen, um die Lösung des
Konflikts aus sich heraus zu lösen.
Ebenso wie die Resolution des Sicherheitsrates 1754
({0}) ruft die Resolution 1871 ({1}) die Parteien auf,
Verhandlungen direkt zu führen. Das Mandat der Vereinten Nationen für das Referendum in der Westsahara,
MINURSO, sichert diese Verhandlungen ab. Diesem
Aufruf schließt sich die FDP-Bundestagsfraktion vollumfänglich an.
Unabhängig vom völkerrechtlichen Status ist jedoch
eines klar: Auch auf dem Gebiet der Westsahara müssen
die Menschenrechte stärker geachtet und verteidigt werden. Es darf nicht sein - und wir werden dies nicht hinnehmen -, dass die Augen vor der Menschenrechtslage
verschlossen werden. Deswegen sind Menschenrechte
immer Thema bei Gesprächen mit Vertretern des Königreichs Marokko.
Die Bundesregierung beobachtet die Entwicklung der
Menschenrechtslage in den von Marokko besetzten Gebieten intensiv. Das Thema wird regelmäßig bei bilateralen Gesprächen auf allen Ebenen angesprochen. Außenminister Westerwelle hat im Gespräch mit seinem
marokkanischen Amtskollegen am 15. November 2010
Zu Protokoll gegebene Reden
die Bedeutung einer friedlichen, konsensuellen Lösung
des Westsahara-Konflikts im Rahmen der Vereinten Nationen unterstrichen. Der marokkanische Außenminister
hat seinerseits die Bereitschaft zu und das Interesse Marokkos an fortgesetzten Verhandlungen auf Grundlage
der Resolutionen der Vereinten Nationen betont. Dies
gilt es weiter zu fordern und zu fördern.
Deutschland wird auch weiterhin alle Bemühungen
der Vereinten Nationen unterstützen, um zu einer friedlichen und konsensuellen Lösung des Konfliktes zu gelangen. Das Auswärtige Amt trägt zu den vertrauensbildenden Maßnahmen des UNHCR bei. In den Jahren 2008
bis 2010 wurden hierfür zusammen gut 600 000 Euro
zur Verfügung gestellt. Das BMZ hat von 1981 bis 2006
knapp 12 Millionen Euro im Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe beigetragen. Über die
EU, ECHO, wurden seit Bestehen des Konfliktes rund
130 Millionen Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt, das jährliche ECHO-Budget für die
Flüchtlingslager beträgt rund 10 Millionen Euro. Über
die Vereinten Nationen, Mediationsfonds, unterstützt
Deutschland indirekt den Sondergesandten. Über das
Programm „Deutsche Akademische Flüchtlingsinitiative“ beim UNHCR werden derzeit Stipendien für über
20 sahrauische Studierende finanziert.
Auch im EU-Rahmen fordern die Bundesregierung
und ihre Partner regelmäßig schriftlich und über
Demarchen Aufklärung zu akuten Vorfällen bei den Konfliktparteien Marokko, der POLISARIO und den Nachbarstaaten, insbesondere Algerien. Im Rahmen der
europäischen Nachbarschaftspolitik werden regelmäßig
die Themen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angesprochen. Der politische Dialog des
Aktionsplans mit Marokko sieht dies genauso vor wie
das Assoziierungsabkommen, welches den Menschenrechten eine grundlegende Bedeutung für die Innen- sowie Außenpolitik der EU und Marokkos zuweist.
Ein von der Welt verdrängter Konflikt ist neu entflammt. In der Westsahara, dort, wo seit 35 Jahren Marokko völkerrechtswidrig als Besatzungsmacht regiert.
Der Konflikt begann bereits mit der Berliner AfrikaKonferenz, sogenannte Kongo-Konferenz, 1884 bis 1885
in Berlin, als die Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten. Spanien wurde die Westsahara zugesprochen.
Nachdem die UNO-Generalversammlung von Spanien
ab 1965 wiederholt in Resolutionen die Dekolonialisierung der Westsahara verlangte, zog die spanische Kolonialmacht 1975 ab. Doch eine Dekolonisation scheiterte, da Marokko und Mauretanien die Westsahara
militärisch besetzten. Nachdem sich Mauretanien 1979
zurückgezogen hatte, besetzte Marokko das gesamte
Territorium und erklärte 1976 die Annexion des Territoriums. Seitdem wurden Hunderttausende Sahrauis aus
ihrer Heimat vertrieben. Sie leben in Flüchtlingslagern
in Algerien, oft getrennt von ihren Familienangehörigen, die zurückblieben. Diejenigen, die nicht vertrieben
wurden oder geflohen sind, müssen abgeriegelt hinter
einem 2 700 Kilometer langen elektronisch gesicherten
und verminten Wall leben. Sie sind den alltäglichen
Schikanen und Diskriminierungen der marokkanischen
Polizei und Besatzungsbehörden ausgesetzt. Regelmäßig kommt es zu willkürlichen Inhaftierungen und Anklagen. Hinsichtlich Inhaftierter berichtet Amnesty International über Folter. Prozesse insbesondere gegen
Sahrauis, die sich für die Unabhängigkeit der Westsahara aussprechen, halten laut zahlreichen Menschenrechtsorganisationen nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren stand.
Sowohl der Hungerstreik der Menschenrechtsaktivistin Aminatou Haidar im November/Dezember 2009,
aber auch der Protest von circa 20 000 Sahrauis im Oktober 2010 in dem „Camp der Würde“ drängte den letzten Kolonialkonflikt in Afrika in den Blickpunkt der
Weltöffentlichkeit. Diese protestierten friedlich gegen
ihre soziale Benachteiligung, gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen durch die marokkanischen
Sicherheitsbehörden und die Besetzung. Am Morgen des
8. November 2010 räumten marokkanische Sicherheitskräfte gewaltsam das Protestcamp in der Wüste vor den
Toren der Stadt El-Aaiún. Dabei starben nach sahrauischen Angaben zwölf Menschen, Marokko spricht von
zwei getöteten Polizisten und einem Feuerwehrmann.
Mehrere Hundert Demonstranten wurden schwer verletzt. Das Camp wurde dem Erdboden gleichgemacht,
die Zelte in Brand gesteckt. Dabei haben diese Menschen zu Recht gegen die völkerrechtswidrige Besetzung
der Westsahara durch Marokko, gegen die illegale Plünderung ihrer Naturschätze sowie gegen ihre Diskriminierung protestiert.
Das alles passierte und passiert in unmittelbarer
Nachbarschaft der EU, unweit von beliebten Reisezielen
auch deutscher Touristinnen und Touristen wie den Kanarischen Inseln. Und die Bundesregierung schweigt.
Aber sie schweigt nicht nur und schaut nicht einfach nur
weg. Nein, die Bundesregierung belohnt auch noch Marokko dafür, dass es durch die Besatzung Völkerrecht
bricht und sich kontinuierlich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig macht. Sie lässt die
sahrauische Bevölkerung für die schmutzigen Dienste
Marokkos bei der vermeintlichen Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Flüchtlingsabwehr bezahlen.
Die Linke sagt deutlich, wie die Bundesregierung
Marokko belohnt: Die Bundesregierung belohnt Marokko, indem sie seit 1966 militärische Ausbildungshilfe
für die marokkanischen Streitkräfte leistet, obwohl sie
an der völkerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara
beteiligt sind. Mehrere marokkanische Offiziere haben
Lehrgänge an Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr und Studiengänge an den Hochschulen der Bundeswehr absolviert.
Die Bundesregierung belohnt zusammen mit der EU
Marokko durch Ausrüstungs- und Ausstattungshilfen für
marokkanische Polizei- und Gendarmeriekräfte, also
genau jene, die auch an der Räumung des „Camps der
Würde“ und den Gewalttaten gegen die sahrauische Bevölkerung beteiligt waren und sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Die Bundesregierung belohnt Marokko auch, indem
sie die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes zugunsten der Opfer des Westsahara-Konfliktes 2007 eingestellt hat. Nicht einmal mehr die zuletzt 2006 gezahlten
100 000 Euro wollte die alte Bundesregierung mehr für
die Opfer aufbringen. Auch die Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung für die sahrauischen Flüchtlinge im
Rahmen der Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe
wurde bereits 2007 eingestellt.
Und auch die EU belohnt Marokko - mit wohlwollender Zustimmung der Bundesregierung - seit Jahren in
der EU-Nachbarschaftspolitik mit einem hervorgehobenen Status. Marokko erhielt in diesem Rahmen 1 Milliarde Euro allein zwischen 2007 und 2010.
Die Bundesregierung belohnt Marokko für seine völkerrechtswidrige Besatzungspolitik und die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen auch im Rahmen der
Flüchtlingsabwehr mit der Unterstützung für eine Verlängerung des EU-Fischereiabkommens - und das trotz
der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Fischereiabkommens durch den UN-Rechtsberater Hans Corell in
2002. Damit missachten Bundesregierung und EU die
unveräußerlichen Rechte der „Völker der Gebiete ohne
Selbstregierung“ auf ihre natürlichen Ressourcen. Das
meint auch der Juristische Dienst des Europaparlaments. Dieser vertritt die Rechtsauffassung, dass der
Fischfang im Rahmen eines partnerschaftlichen Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko weder in
Konsultation mit der sahrauischen Bevölkerung der
Westsahara stattfindet, noch die Bevölkerung die Einnahmen aus der Verwertung ihrer eigenen reichen
Fischbestände erhält. Folglich ist das Abkommen völkerrechtswidrig.
Alle diese erwähnten Belohnungen waren nicht umsonst und sollen es natürlich auch in Zukunft nicht sein.
Die reichen Fischgründe vor den Küsten und die großen
Phosphatvorkommen im Inland der Westsahara sollen
weiter quasi zum Nulltarif europäischen Fischfangflotten und internationalen Konzernen preisgegeben
werden. Auch der nationale Energieplan Marokkos, der
mithilfe der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, GTZ, erstellt wurde und ganz selbstverständlich Standorte in der Westsahara miteinschließt,
soll deutschen Profitinteressen dienen. Er sieht die Einführung und Privatisierung erneuerbarer Energien
durch gewaltige Windparks und Solaranlagen vor, die
als Vorstufe des Desertec-Projektes gelten. Der Plan des
von deutschen Großunternehmen wie zum Beispiel Münchener Rück, Siemens, Eon, RWE und Deutsche Bank
dominierten und von der Bundesregierung unterstützten
Projekts besteht darin, bis 2050 15 bis 20 Prozent der in
Europa verbrauchten Energie aus solchen Großanlagen
in Nordafrika zu beziehen - ohne Befragung und Hinzuziehung der Saharauis oder deren Interessenvertretungen bei den Planungen. Die Linke lehnt das Projekt
„Desertec“ ab. Dieses Projekt wirft neben umweltpolitischen vor allem außenpolitische, menschenrechtliche
und entwicklungspolitische Fragen auf, die auch mit der
von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara
zusammenhängen.
Die Bundesregierung darf nicht weiter die sahrauische Bevölkerung für die schmutzigen Dienste Marokkos
bei der vermeintlichen Bekämpfung des internationalen
Terrorismus, der Flüchtlingsabwehr und den Profitinteressen der deutschen Wirtschaft opfern. Sie muss endlich
die permanenten Rechtsverletzungen der marokkanischen Regierung deutlich öffentlich verurteilen und
Konsequenzen ziehen. Sie darf Marokko nicht weiter darin bestärken, ungehindert das seit über 20 Jahren fällige Referendum über den Status der Westsahara und damit das Recht der Sahrauis auf Selbstbestimmung, das
ihnen im Zuge der Dekolonisation zusteht, sabotieren zu
können.
Ich stelle nun dar, welche Konsequenzen die Linke
fordert:
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass Marokko endlich die Resolution 690 des
UN-Sicherheitsrates vom 29. April 1991 umsetzt und das
Referendum über die Zukunft der Westsahara unter UNAufsicht nicht weiter blockiert.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die gewaltsame Auflösung des Protestcamps Anfang November 2010 und die Niederschlagung der anschließenden
Demonstrationen zu verurteilen und eine internationale
Untersuchung der Vorfälle einzufordern.
Jegliche Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für marokkanische Polizei- und Armeekräfte ist einzustellen.
Wir fordern, dass sich die Bundesregierung innerhalb
der EU endlich energisch dafür einsetzt, dass das Assoziationsabkommen der EU mit Marokko sowie der fortgeschrittene Status der Beziehungen zur EU zumindest
solange ausgesetzt werden, bis Marokko seine völkerrechtswidrige Besatzung beendet hat.
Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sich
in der EU dafür einzusetzen, dass das EU-Fischereiabkommen bis zum 27. Februar 2011 gekündigt wird, damit es sich nicht automatisch verlängert. Eine automatische Verlängerung des Fischereiabkommens zwischen
der EU und Marokko muss so lange verhindert werden,
wie die Westsahara nicht eindeutig vom Vertrag ausgeschlossen ist.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, insbesondere im Lichte der aktuellen Ereignisse in Tunesien und
Ägypten, ihre Unterstützung gegenüber autoritären Regimen zu beenden und ihre Außenpolitik auf Rechts- und
Sozialstaatlichkeit sowie auf das Völkerrecht zu orientieren.
Beide vorliegenden Anträge benennen die Schikanen
und Menschenrechtsverletzungen durch marokkanische
Behörden in Westsahara und die unerträgliche Situation, in der große Teile des Volkes der Sahrauis seit
Jahrzehnten leben und weisen darauf hin, dass der Staat
Marokko sich beharrlich weigert, die UN-Resolution
690 aus dem Jahre 1991 umzusetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Schon in den 70er-Jahren habe ich den Befreiungskampf der Frente POLISARIO gegen die Kolonialherrschaft Spaniens mit großem Interesse verfolgt. Wir haben versucht, diesen solidarisch zu unterstützen.
Als Bundestagsabgeordneter befasse ich mich seit
vielen Jahren mit der verzweifelten Lage der Sahrauis
und dem ungelösten Problem des politischen und rechtlichen Status der Westsahara. Die Repression des marokkanischen Staates hat ständig zugenommen, wie auch
die Ungeduld und Unzufriedenheit der Sahrauis.
Ich war im Gebiet Westsahara. Dort gibt es einen unpassierbaren Schutzwall, der Westsahara teilt. Die
140 000 Flüchtlinge, die in Lagern in der Sahara leben,
können nicht ins Gebiet Westsahara reisen, Besucher
der Lager werden nicht durchgelassen. So hätte auch ich
Tausende von Meilen fliegen müssen, um über Algier zu
den Flüchtlingen zu gelangen.
Ich bin im andauernden Kontakt mit dem Vertreter
der POLISARIO. Ich habe mich 2009 mit der Menschenrechtsaktivistin Frau Haidar solidarisiert, als diese über
30 Tage im Hungerstreik in Lanzarote festsaß, weil ihr
die Rückkehr in ihre Heimat Westsahara von Marokko
verweigert wurde.
Ich weiß, dass 1991 die POLISARIO den Kampf eingestellt und einen Waffenstillstand verkündet hatte, weil
die UNO einen Friedensplan vorgelegt hatte, der dem
sahrauischen Volk versprach, mit einer Volksabstimmung darüber entscheiden zu können, ob es in einem eigenen Staat oder im Staat Marokko mit einem autonomen Status leben will. Dieses Versprechen wurde vom
Weltsicherheitsrat der UN in der Resolution 690 bekräftigt.
20 Jahre warten die Sahrauis auf die Einlösung dieses Versprechens der Völkergemeinschaft vergebens.
Marokko weigert sich, überhaupt ernsthaft über die
Volksabstimmung zu reden. Die Sahrauis sind wütend
und enttäuscht, auch von der UN und dem Sicherheitsrat. Sie sehen sich von der Völkergemeinschaft, der
UNO im Stich gelassen, von der EU, den Regierungen
der europäischen Länder verraten und vergessen. Zu
Recht. Ich habe auch mit Vertretern Marokkos gesprochen, nicht nur mit dem Botschafter in Berlin, und auch
mit Marokkanern in Marokko. Daher weiß ich, wie
schwer eine Lösung des Problems heute ist. Durch das
lange Zuwarten mit der Umsetzung der UN-Resolution
ist großer Schaden entstanden.
Große Teile der Bevölkerung Marokkos sehen heute
Westsahara als untrennbaren Teil des eigenen Landes.
Das gilt nicht nur für den König und die Regierung Marokkos. Schon 1975 hatte der König 350 000 Marokkaner nach Westsahara in Marsch gesetzt. Seither ist weit
mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Viel hat sich
geändert. Es wurden Fakten geschaffen. Viele Marokkaner wurden inzwischen in Westsahara angesiedelt. So ist
es zum Beispiel heute ein Problem, zu bestimmen, wer in
Westsahara bei dem Referendum abstimmungsberechtigt
ist.
Die Zugehörigkeit von Westsahara zu Marokko ist zur
nationalen Frage hochstilisiert worden. Schon als Kinder haben die Marokkaner in der Schule gelernt, dass
Westsahara ein Teil Marokkos ist. Ein durchaus liberal
eingestellter Regierungsvertreter Marokkos hat mir
dazu gesagt, keine Regierung könnte sich im Amt halten,
die der Loslösung der Westsahara von Marokko zustimmen würde.
Die Propaganda ist allgegenwärtig. Die Überhöhung
der Westsahara-Frage habe ich in Marokko in den Medien, in der Öffentlichkeit und in der Bevölkerung vielfach bestätigt gefunden. Gerade das macht heute eine
vernünftige Lösung so schwer. Kein Premier verhandelt
gern über eine Lösung, die seinen Sturz bedeutet. Das
heißt nicht, dass die Verschleppung des Referendums honoriert werden darf, weil die Durchsetzung schwieriger
geworden ist. Das rechtfertigt vor allem nicht die Aufrechterhaltung der Vertreibung von 160 000 Sahrauis in
Lager in der Wüste Sahara, nicht die Gewalt gegen die
15 000 Menschen in dem Zeltlager bei El Ajun, die Tötung des 14-jährigen Nayem El-Garhi, die willkürliche
Verhaftung von Sahrauis durch marokkanische Sicherheitskräfte, die Einschränkung der Medienfreiheit und
all die vielen Menschenrechtsverletzungen.
Marokko tut seinen wohlverstandenen Interessen keinen Gefallen und verspielt sein internationales Prestige.
Immer mehr Verbote, Repression und Gewalt sind falsche Reaktionen auf das Freiheits- und Unabhängigkeitstreben der Sahrauis.
Deshalb fordern wir die marokkanische Regierung
auf: Öffnet den Schutzwall zwischen den Flüchtlingslagern und dem übrigen Land. Auch diese Mauer muss
weg. Alle Sahrauis, Journalisten, humanitären Organisationen, internationalen Beobachter und Abgeordnete
müssen freien Zugang nach Westsahara und die Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen. Gefängnisse und
Strafverfahren müssen internationalen Standards entsprechen. Die Meinungs- und Pressefreiheit muss auch
in Westsahara und für Sahrauis gelten. Diese Forderungen zu erfüllen, ist eine Selbstverständlichkeit und im Interesse Marokkos. Das wäre der richtige Beitrag zur Deeskalation. Die Bundesregierung muss das deutsche
Verhältnis zu Marokko von der Erfüllung dieser Forderung abhängig machen.
Ansehen und Glaubwürdigkeit der UNO und der Völkergemeinschaft leiden, wenn UN-Beschlüsse durch
jahrzehntelanges Nichtstun und Nichtbefolgung faktisch
außer Kraft gesetzt werden können und stattdessen Menschenrechte verletzt werden. Deshalb sollte die UNO
ihre Verantwortung wahrnehmen, die Ereignisse der
letzten Monate, die Todesfälle und das Verschwinden
von Personen durch ein internationales Gremium untersuchen, die Einhaltung der Menschenrechte überwachen
und eine konstruktive Rolle bei der Lösung des Westsahara-Konflikts übernehmen. Das heißt, Gespräche und
Verhandlungen müssen aufgenommen werden, um eine
faire, dauerhafte und für alle Seiten akzeptable politische Lösung im Einklang mit den UN-Resolutionen zu
erreichen. Die Bundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrates muss die Initiative dafür ergreifen.
Ehemals reiche Fischgründe und Ölfunde vor der
Küste Westsaharas sowie Bodenschätze im Land dürfen
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht zum Fluch werden, sondern können eine große
Chance für die geschundene sahrauische Bevölkerung
und die Lösung der Probleme sein. Auch Marokko
könnte davon profitieren.
Der Westsahara-Konflikt muss auf der Tagesordnung
bleiben, hier und international, bis er gelöst ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 17/4271 und 17/4440 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke,
Britta Haßelmann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Wertpapierhandelsgesetzes
- Drucksache 17/4053 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/4507 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Der vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen zielt darauf ab, die Situation von Anlegern zu
verbessern, die Ansprüche aus Falschberatung geltend
machen wollen. Ziel des Gesetzentwurfes ist es, einer
bestimmten Gruppe von Anlegern eine längere Verjährungsfrist für die Geltendmachung Ihrer Schadensersatzansprüche zu gewähren.
Hintergrund des Gesetzentwurfes ist, dass Schadensersatzansprüche aus Falschberatung bis zum 4. August
2009 einer Sonderverjährungsfrist von drei Jahren ab
Entstehung des Anspruchs unterlagen. Durch das Gesetz
zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus
Falschberatung wurde diese Sonderverjährung abgeschafft. Damit gilt grundsätzlich auch im Bereich der
Falschberatung das allgemeine Verjährungsrecht. Nach
der damals mitbeschlossenen Übergangsregelung gilt
für bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes entstandene
Ansprüche die alte Sonderverjährungsfrist. Für nach
dem 4. August 2009 entstandene Ansprüche gilt die regelmäßige Verjährungsfrist.
Der vorliegende Gesetzentwurf will auch Ansprüche,
die vor dem 4. August 2009 entstanden und noch nicht
verjährt sind, den allgemeinen längeren Verjährungsfristen unterstellen. Von dieser Gesetzesinitiative würden insbesondere Geschädigte aus der Insolvenz von
Lehman profitieren. Denn eine erhebliche Zahl der später ausgefallenen Lehman-Zertifikate wurde Anfang
2008 auf den Markt gebracht. Mögliche Ansprüche gegen die Banken, die diese Zertifikate vertrieben haben,
würden nach geltendem Recht gegebenenfalls in den
nächsten Monaten verjähren.
Diesem Umstand möchten die Grünen durch ihren
Gesetzentwurf zur Verlängerung der Verjährungsfristen
abhelfen. Leider ist der vorliegende Gesetzentwurf nur
sehr schwer verständlich und so, wie er formuliert ist,
nicht umzusetzen. Trotzdem möchte ich die Gelegenheit
nutzen, die Argumente für und wider diesen Gesetzentwurf gegenüberzustellen.
Für den Antrag sprechen die erheblichen Auswirkungen der Finanzkrise auf Privatanleger. Das gilt insbesondere für die Insolvenz von Lehman. Durch diese
Insolvenz ist gerade Kleinanlegern ein erheblicher
Schaden entstanden. Viele Anleger wussten definitiv
nicht, was für ein Risikopapier sie gekauft haben. Darunter sind tragische Fälle: Bürgerinnen und Bürger, die
teilweise ihre kompletten Ersparnisse verloren haben.
Besonders betroffen sind ältere Menschen, die ihre Altersversorgung auf diese Zertifikate aufgebaut und einen
erheblichen Schaden erlitten haben. Aufgrund ihres Alters haben sie in ihrem Leben nicht mehr die Chance,
das verlorene Geld wieder hereinzuholen. Sie haben bisher nie etwas mit Gerichten zu tun gehabt und sind verständlicherweise mit ihrer Situation überfordert.
Für die schwierige Situation dieser Anleger habe ich
allergrößtes Verständnis. Ihre Bank oder ihr Finanzdienstleister haben sie in vielen Fällen nicht richtig beraten und über die Risiken der Anlage aufgeklärt. Sie
stehen jetzt vor der schwierigen Frage, ob sie - trotz der
Kosten einer Klage und deren ungewissen Erfolgsaussichten - gerichtlich gegen ihre Bank oder ihren Finanzdienstleister vorgehen sollen. Auf den ersten Blick würde
ihnen eine Verlängerung der Verjährungsfrist für die
Klageeinreichung durchaus helfen, vor allem helfen,
wenn man davon ausgehen könnte, dass durch die Entscheidung bereits anhängiger Klagen bzw. durch
höchstrichterliche Rechtsprechung mehr Klarheit für
die Betroffenen entsteht.
Was wären aber die Nachteile einer Verlängerung der
Verjährungsfristen?
Die Verjährungsvorschriften dienen dem Zweck,
Rechtsfrieden herbeizuführen. Unjuristisch ausgedrückt
heißt das: Irgendwann soll es dann auch einmal gut sein.
Verjährungsfristen an sich sind daher nicht zu kritisieren. Zu kritisieren war aber, dass für Wertpapiergeschäfte abweichend von anderen Rechtsgebieten eine
kurze dreijährige Sonderverjährungsfrist galt. Aufgrund
der Erfahrungen aus der Finanzkrise hat man daher im
Sommer 2009 den die Sonderverjährungsfrist begründenden § 37 a WpHG abgeschafft. Für alle Fälle vor
dem Inkrafttreten des Gesetzes am 4. August 2009 sollte
aber aus Gründen der Rechtssicherheit die alte Verjährungsfrist von drei Jahren weitergelten.
In diesem Zusammenhang hat sich der Gesetzgeber
bewusst für die jetzt geltende Übergangsregelung mit
dem Stichtag 4. August 2009 entschieden. Er hätte sich
damals auch anders entscheiden und alle noch nicht
verjährten Ansprüche dem allgemeinen Verjährungsrecht unterstellen können. Dies hat er aber gerade nicht
getan. Es sollte einen klaren Schnitt geben.
Eine nachträgliche Änderung dieser Übergangsvorschrift ist grundsätzlich möglich, auch wenn eine Übergangsregelung bisher wohl kaum jemals nachträglich
noch einmal geändert worden ist. Durch jede Änderung
des Verjährungsrechts entsteht aber Unsicherheit. Es
bedarf daher gewichtiger Gründe für Änderungen.
Gegen die Annahme gewichtiger Gründe spricht,
dass nur verhältnismäßig wenige Anleger von dieser Änderung profitieren würden. Denn auch bei einem schnellen Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzentwurfes
wären wohl nur Ansprüche betroffen, die zwischen
Frühjahr 2008 und Anfang August 2009 entstanden
sind. Im Fall Lehman dürfte es sogar nur um Ansprüche
gehen, die bis September 2008 entstanden sind. Denn
nach der Eröffnung des Lehman-Brothers-Insolvenzverfahrens dürfte es kaum noch neue Fälle in diesem Zusammenhang geben. Allen Anlegern, die bereits vor dem
Frühjahr 2008 Lehman-Zertifikate erworben haben,
hilft der Gesetzentwurf nicht mehr. Ihre Ansprüche wären, sofern sie in den letzten Jahren nichts unternommen
haben, zum Zeitpunkt eines möglichen Inkrafttretens
dieses Gesetzesvorschlags bereits verjährt.
Aber auch der Gruppe Anleger, die ab Frühjahr 2008
Lehman-Zertifikate erworben haben, hilft der Vorschlag
nur sehr begrenzt. Die Regelverjährung träte nach dem
vorliegenden Entwurf in den meisten Fällen nicht mehr
im Laufe des Jahres 2011, exakt drei Jahre nach dem
Entstehen ihres individuellen Anspruchs, sondern erst
mit Ablauf des 31. Dezember 2011 ein. Sie gewännen
also lediglich einige Monate.
Doch selbst für diese begrenzte Anzahl von Fällen
und diesen begrenzten Zeitraum könnte man ja eine Gesetzesänderung in Betracht ziehen, wenn die Betroffenen
dadurch etwas gewännen. Aber auch dagegen sprechen
gute Argumente:
Denn es ist nicht zu erwarten, dass sich ihre unbefriedigende Situation im Hinblick auf die oben angesprochene Rechtsunsicherheit in diesen Monaten entscheidend klärt. Zwar ist ein Verfahren vor dem BGH
anhängig. Allerdings betrifft es eine sehr spezielle
Rechtsfrage, die nur für einen Teil der Anleger relevant
ist. In den meisten Schadensersatzfällen dürfte es auf die
Frage der individuellen Anlagesituation und -beratung
ankommen. In diesen Fällen ist von anderen Verfahren
keine Klärung der Erfolgsaussichten zu erwarten. Daher würde es durch die vorgeschlagene Änderung der
Übergangsvorschrift auch nicht einfacher, eine individuelle Entscheidung über die Klageerhebung zu fällen.
Weiterhin ist zu beachten, dass viele Anleger diese
Entscheidung trotz unsicherer Erfolgsaussichten bereits
getroffen und Klagen eingereicht haben. Ihnen droht daher keine Verjährung mehr. Aber auch Anlegern, die mit
ihren Banken über mögliche Ersatzansprüche verhandelt haben, droht oftmals keine sofortige Verjährung.
Denn diese Verhandlungen - auch die im Rahmen eines
Kulanzverfahrens mit Beteiligung der Verbraucherzentrale, eines Güteverfahrens oder Ombudsmannverfahrens - hemmen gegebenenfalls ebenso den Eintritt der
Verjährung. Anleger hatten und haben also vielfältige
Möglichkeiten, den Eintritt der Verjährung zu verhindern, auch kostengünstiger als mit einer Klage.
Verbraucherschützer und Rechtsanwälte, die Anleger
vertreten, können bestätigen, dass die Verjährung von
Ersatzansprüchen nicht das entscheidende Problem ist.
Denn in vielen Fällen haben in irgendeiner Form Verhandlungen beziehungsweise Güteverfahren stattgefunden.
Durch die intensive Berichterstattung in den Medien
wissen viele Anleger von ihren Ansprüchen - und auch
von der Verjährungsproblematik. Schwieriger als die
Vermeidung des Verjährungseintritts ist aber die Beweisführung für einen schadensersatzauslösenden Beratungsfehler der Bank. Dieses Problem wird vom vorliegenden Gesetzentwurf nicht gelöst.
Die Situation der Betroffenen würde sich daher durch
die vorgeschlagene Änderung der Übergangsvorschrift
nicht wesentlich verbessern. Für eine Neubewertung der
Übergangsregelung besteht auch deshalb kein Grund,
weil alle Umstände, die wir heute diskutieren, auch
schon im Sommer 2009 bekannt waren.
Die grundsätzliche Verlängerung der Verjährungsfrist von drei auf maximal zehn Jahre erfolgte im Übrigen nicht, um dem Anleger die Gelegenheit zu geben,
länger darüber nachzudenken, ob er in das Klagerisiko
geht. Die Verlängerung erfolgte deshalb, weil Schäden
aus Falschberatung vom Anleger oftmals erst Jahre
nach dem Beratungsvorgang entdeckt werden. Daher
beginnt die regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist
jetzt erst mit Kenntnis des Anlegers von allen anspruchsbegründenden Umständen. In den Lehman-Fällen dürfte
allen Betroffenen aber zumindest seit dem Zusammenbruch bekannt sein, dass sie möglicherweise Ansprüche
aus Falschberatung haben.
Im Übrigen ist es schwer zu erklären, warum ein Anleger, der im Frühjahr 2008 ein Lehman-Zertifikat erworben hat, anders behandelt werden sollte als ein Anleger, der im Januar 2008 oder Herbst 2007 Zertifikate
erworben hat. Einen sachlichen Grund dafür gibt es
nicht. Dem Gesetzentwurf stehen somit gewichtige Argumente entgegen.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Vorteile, die
mithilfe des Gesetzesvorschlages erreicht würden, sind
sehr begrenzt. Für wenige Anleger würde der Ablauf der
Verjährungsfrist hinausgezögert, für die meisten von ihnen wohl auch nur um einige Monate. Dies können Betroffene aber auch auf anderen Wegen kostengünstig erreichen. Auf der anderen Seite ist aber zu bedenken, dass
Verjährungsfristen unabhängig vom Ansehen der Parteien Rechtssicherheit schaffen und den Rechtsfrieden
schützen sollen. Der Gesetzgeber hat sich im Sommer
2009 bewusst dafür entschieden, die Aufhebung der Sonderverjährung auf neue Sachverhalte zu beschränken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese beiden Aspekte, die möglichen Vorteile für geschädigte Anleger und die Nachteile aufseiten der
Rechtssicherheit, sind gegeneinander abzuwägen. Die
Richtung des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen ist
nachvollziehbar. Ich denke, wir haben alle sehr großes
Verständnis für jeden einzelnen von der Lehmann-Insolvenz betroffenen Kleinanleger. Es sprechen aber sehr
gewichtige Argumente gegen den Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen. In Abwägung der verständlichen Interessen der Anleger und der Argumente gegen
eine Änderung haben wir uns daher entschlossen, den
Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Damit aber eine derartige Häufung von Fällen von
Falschberatungen, wie wir sie mit Anlagen in LehmanZertifikaten erlebt haben, nicht wieder vorkommt, haben
wir einiges für den Verbraucherschutz im Finanzbereich
getan:
So beraten wir aktuell das Anlegerschutzgesetz, das
wir in der nächsten Sitzungswoche verabschieden wollen. Ganz ausschließen können wir Beratungsfehler
auch durch dieses Gesetz nicht; das können wir nie.
Aber wir sind auf einem guten Weg, Strukturen zu schaffen, die eine bessere Beratungsqualität ermöglichen.
Das hilft den Lehman-Altanlegern aber nicht weiter.
Ich weiß, dass sich gerade einige dieser Anleger erhofft
haben, dass durch den Antrag der Grünen die Verjährungsfrist verlängert wird. Es ist bedauerlich, dass wir
diese Erwartung nicht erfüllen können. Ich denke aber,
die Argumente gegen eine Änderung überwiegen, wie
ausführlich ausgeführt, eindeutig.
Im Jahr 2009, in den Hochzeiten der Finanz- und
Wirtschaftskrise, hat die Große Koalition das sogenannte Schuldverschreibungsgesetz auf den Weg gebracht, das eine ganze Reihe von Verbesserungen für die
Anlegerinnen und Anleger zum Inhalt hatte. So wurde
damals unter anderem die Protokollpflicht bei der Anlageberatung eingeführt und damit einhergehend auch Beweiserleichterungen für die Anlegerinnen und Anleger,
sollten sie falsch beraten worden sein. Außerdem hat die
SPD damals gegen den Widerstand der Union das Sonderverjährungsrecht für die Banken bei Falschberatung
abgeschafft. Jetzt haben potenzielle Geschädigte bis zu
zehn Jahre Zeit, ihre Ansprüche durchzusetzen. Davor
waren es maximal drei Jahre. In der Gesetzesbegründung hieß es damals:
… teilweise kann ein Anleger erst nach Jahren erkennen, dass er nicht richtig beraten wurde. Es ist
deshalb sachgerecht, für den Beginn der dreijährigen Verjährung an die Kenntnis des Anlegers anzuknüpfen.
Das gilt noch heute.
Von dieser Regelung profitieren schon heute viele Anlegerinnen und Anleger und werden das auch in Zukunft
tun. Die Große Koalition hat damit eine Menge geschafft. Das sehen offenbar auch die Grünen so, die in
einem Punkt das umfassende Gesetzesvorhaben aus dem
Jahr 2009 behutsam weiterentwickeln wollen: Bisher
profitieren nur die Anlegerinnen und Anleger von der
verlängerten Verjährungsfrist, die nach dem 5. August
2009 falsch beraten wurden. Der vorliegende Gesetzentwurf will die Verjährungsvorschrift noch weiter ausdehnen und auch Fälle erfassen, in denen der Wertpapierkauf ab 1. Januar 2008 stattfand. Gerade die viel
zitierten Lehman-Zertifikate wurden in den Jahren 2007
und 2008 verkauft. Wenn Sie sich jetzt nicht mit einer
Klage beeilen, sind die Ansprüche verjährt und nicht
mehr einklagbar.
Wie lief denn damals die Beratung? Da kamen - so ist
der Bankjargon - die „A&D-Kunden“, die „Alt-unddumm-Kunden“, in die Bank und wollten ihre Ersparnisse für die Altersvorsorge anlegen. Und der Berater
hatte einen schicken Hochglanzprospekt von der
Lehman-Bank. Die ging pleite und die Altersvorsorge
war futsch. Das sind Geschäftsgebaren, die unverantwortlich sind. Dem wollen wir entgegentreten.
Jetzt sagen manche, die Pleite von Lehman hat ja niemand vorhersehen können. Das stimmt. Aber wenn in
Deutschland eine Bank pleitegeht, dann greift die Einlagensicherung, die für jeden Kunden mindestens 50 000 Euro
absichert, seit diesem Jahr sogar 100 000 Euro. Aber
eine solche notwendige Einlagensicherung gab es für
die Lehman-Bank nicht. Das stand natürlich nicht in
dem glänzenden Prospekt, nicht einmal im Kleingedruckten. Das hat kein Bankberater den Kunden gesagt.
Das war schlicht Fehlberatung der Banken.
Von den Koalitionsfraktionen wird jetzt kommen: Die
Opfer hätten doch in den letzten Monaten schon längst
klagen könnten. Längere Fristen braucht es nicht. - Das
zeigt wieder einmal: Die Koalitionsfraktionen haben
das Problem nicht verstanden. Eine Klage gegen eine
Bank muss gut vorbereitet sein, die Beweislage ist
schwierig, ganz zu schweigen von den drohenden Kosten. So eine Entscheidung und Vorbereitung braucht
Zeit, die wir den Menschen geben müssen, die um ihre
gesamten Ersparnisse bangen.
Die Koalition hat in der Plenardebatte und im Ausschuss auch immer wieder das Argument der Rechtssicherheit vor sich hergetragen. Doch das Argument ist
wirklich schief: Rechtssicherheit ist das Argument für
jede Verjährungsvorschrift, gleich welcher Dauer. Und
wenn man sich die Genese der Sonderverjährungsvorschriften im Bankenbereich einmal genauer anschaut,
dann hat das auch nicht viel mit Rechtssicherheit zu tun:
Für die § 34 b Abs. 4 und § 34 c Abs. 4 Wertpapierhandelsgesetz wurde mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz die absolute Verjährung von drei Jahren
eingeführt, für § 46 Börsengesetz, § 13 Abs. 5 Verkaufsprospektgesetz und § 127 Abs. 5 Investmentgesetz wurden die Verjährungsfristen dagegen von sechs Monaten
auf ein Jahr verlängert. Die Sonderverjährung des § 37 d
Abs. 4 Wertpapierhandelsgesetz wurde wiederum 2007
abgeschafft. Für § 37 a Wertpapierhandelsgesetz hat
das die SPD, wie schon erwähnt, gegen den Widerstand
der Union in der Großen Koalition dann 2009 gemacht.
Das ist mittlerweile auch mehr als unübersichtlich und
trägt sicher nicht unbedingt zum Rechtsfrieden bei - gerade wenn man erst nach Jahren merkt, dass man falsch
Zu Protokoll gegebene Reden
beraten wurde. Deshalb fordert die SPD: Weg mit allen
Sonderverjährungsvorschriften für die Banken und Anpassung an die normalen Verjährungsfristen des bürgerlichen Rechts.
Was in diesem Zusammenhang auch immer wieder
gesagt wird: Rückwirkende Verlängerungen von Verjährungsvorschriften gehen rechtlich nicht. - Das ist nun
wirklich juristischer Unfug. Auf diesem Niveau müssen
wir nicht diskutieren.
Ursprünglich hatte das Finanzministerium im aktuellen Anlegerschutzgesetz immerhin die Streichung der
Sonderverjährung bei falschem Börsenprospekt vorgesehen. Die ist sang- und klanglos wieder aus dem Gesetz
herausgeflogen - wie die ganze Regulierung des grauen
Kapitalmarkts, die jetzt auf Druck der betroffenen Lobby
und des Wirtschaftsministeriums den Gewerbeämtern
überlassen werden soll.
Das hat wenig mit umfassendem Anlegerschutz zu
tun. Deshalb setzt sich die SPD hier für ein Gesamtkonzept ein, das alle Produkte und Vertriebswege umfasst
und geeignet ist, die Transparenz, Verständlichkeit und
Sicherheit für die Anleger zu erhöhen. Das hierzu notwendige Maßnahmenpaket, das wir „Finanz-TÜV“ nennen, bezieht mit den Finanzvermittlern und -beratern,
den Instituten, der Finanzaufsicht und den Verbraucherorganisationen alle Akteure ein und stellt auf ihre spezifische Rolle bei der Vermögensanlage der Privatanleger
ab.
Die von den Grünen mit diesem Gesetzentwurf vorgeschlagene behutsame Weiterentwicklung des Gesetzes
der Großen Koalition ist auf diesem Weg ein richtiger
Schritt. Deshalb stimmen wir der Vorlage zu.
Die Übergangsvorschrift im § 43 des Wertpapierhandelsgesetzes ist eine breite Lösung, die kleine und private Sparer und Anleger vor den Folgen von Fehlberatung auf weiter Ebene schützt, indem die regelmäßige
Verjährungsfrist aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur
Basis genommen wird. Die Änderungswünsche der grünen Fraktion, die noch weitere Einzelfallgerechtigkeit
herstellen möchte, sind zwar sicherlich gut gemeint, wirken in diesem Fall aber leider kontraproduktiv.
Es können durchaus viele weitere Szenarien existieren, welche von der Übergangsregelung nicht im Detail
abgedeckt werden. Wenn man nun diesen ersten Schritt
geht und dann beginnt, für alle weiteren Einzelfälle Sonderregelungen zu finden, so entsteht zum einen eine
bürokratische Zumutung, deren Verwaltung wohl mehr
Kosten verursacht, als sie Nutzen bringt. Zum anderen
treffen die vom Finanzminister geäußerten Bedenken zu,
dass ein rückwirkender Eingriff in den Anlegerschutz
nur noch weiter das Vertrauen der Anleger in eine stabile Situation untergräbt und damit womöglich viel
Schaden für einen verhältnismäßig kleinen, da selten
auftretenden Nutzen und politische Profilierung in Kauf
genommen wird.
Die für jeden Bürger bestehende Rechtsweggarantie
mag wie hier für Einzelne auch mal etwas ungünstigere
Rechtswege bereithalten; diese Wege stehen ihnen
gleichwohl offen. Wenn es, wie von den Grünen in der
ersten Beratung vorgetragen, an den nötigen Mitteln für
einen Rechtsstreit fehlt, blieb es ihnen unbenommen, in
der dreijährigen Verjährungsfrist einen Zusammenschluss zu bilden und einen Musterprozess zu führen.
Einfach nur abzuwarten, dass andere die juristischen
Kastanien aus dem Feuer holen, war vielleicht doch etwas überschlau; und das kann dann auch einmal schiefgehen. Wir werden den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen daher ablehnen.
Bei dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
geht es um die Verjährungsfrist bei Falschberatung.
Dies ist ein berechtigtes Anliegen bei der Verbesserung
des Anlegerschutzes. Denn in der Tat steht die Bundesregierung hier nach wie vor in der Bringschuld. Das, was
sie bislang in Sachen Anlegerschutz auf den Weg gebracht hat, ist völlig unzureichend. Lehren aus Falschberatungen etwa bei Lehman-Zertifikaten wurden nicht
gezogen, dem milliardenschweren Verlust vieler privater
Kleinanlegerinnen und Kleinanleger zum Trotze. Hier
setzt die Initiative von Bündnis 90/Die Grünen an: Sie
schafft auf kurze Sicht mehr Rechtssicherheit für die
hiervon betroffenen Anleger entgegen der bisherigen
({0})Regelung, welche die Anlagebanken begünstigt. Dieser Schritt geht zweifelsohne in die richtige
Richtung. Doch reicht er auch aus, um Anlegern bei
Produkten mit längeren Laufzeiten angemessene Sicherheit zu bieten?
Zunächst einmal muss man sich Folgendes zur gegenwärtigen Rechtslage vor Augen führen: Nach der letzten
einschlägigen Gesetzesänderung verjähren Schadensersatzansprüche nicht mehr drei Jahre nach Erwerb eines
Wertpapiers, sondern drei Jahre, nachdem der bzw. die
Geschädigte von der Schädigung Kenntnis erlangt hat.
Spätestens aber endet die Frist nach zehn Jahren ab dem
schadensbegründenden Ereignis - der Falschberatung
bzw. dem anschließenden Erwerb. Diese zweifellos bessere Rechtslage kommt aber nur für solche Fälle zur Anwendung, in denen die Falschberatung nach dem 4. August 2009 stattgefunden hat. Für all diejenigen Anleger,
bei denen die Falschberatung bis zu diesem Datum geschah, gilt weiter die alte Rechtslage.
Vonseiten der Koalitionsfraktionen war in der Debatte über den Gesetzentwurf mit der rechtlichen Unvereinbarkeit einer Rückwirkung argumentiert worden, gemäß dem Motto: Wir würden ja, wenn wir könnten.
- Doch dass Sie tatsächlich wollen, nehmen wir Ihnen
nicht ab - das geäußerte Verständnis mit der Gruppe der
Lehman-Geschädigten in allen Ehren. Denn rechtlich
gesehen dürften sich überhaupt keine Bedenken stellen:
Es soll nämlich nicht die Rechtslage für gegenwärtig bereits abgeschlossene Sachverhalte verändert werden,
also nach der bisherigen Rechtslage endgültig verjährte
Ansprüche. Nein, die Regelung soll nur für solche Ansprüche gelten, bei denen die Verjährungsfrist noch
läuft, wegen noch nicht eingetretenem Schadensereignis
oder aus Unkenntnis der Betroffenen von ihrer eigenen
Schädigung, die aber demnächst verjähren könnte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein solches Herumreden um den heißen Brei benachteiligt eine ganze Reihe von Kleinanlegern, die damit um
die Möglichkeit gebracht werden, einen Anspruch wegen Falschberatung geltend zu machen. Doch darf aus
unserer Sicht gerade beim Anlegerschutz nicht in zu kurzen Fristen gedacht werden. Zu bedenken ist, dass im
Zuge der privaten Altersvorsorge viele Menschen dazu
übergehen, auch Papiere mit einer viel längeren Laufzeit als zehn Jahre zu erwerben. Die „Stiftung Warentest“ hat 2010 errechnet, dass Bundesbürgern jährlich
Schäden von insgesamt 700 Millionen Euro durch
Riester-Verträge mit zu hohen Dispozinsen und Abgabegebühren entstehen. Stellen Sie sich vor, Sie bemerken
eine derartig hohe Schädigung erst nach Ablauf dieser
Zeitspanne von zehn Jahren. Der Gesetzentwurf nützt
Ihnen dann gar nichts. Aus diesem Grund haben wir in
unserem Antrag vom März 2010 gefordert, dass die Verjährungsfrist bei Falschberatung und fehlerhafter Information auf 30 Jahre ab Kaufdatum des Finanzprodukts
zu erhöhen ist.
Verbraucherinnen und Verbrauchern muss ein fairer
Umgang garantiert werden, auf den sie gegenwärtig als
Anlegerinnen und Anleger nachweislich nicht vertrauen
können. Hierzu gehören lange Fristen, um Falschberatung und Ansprüche auf Schadensersatz geltend machen
zu können. Auch sind längere Fristen aus Verbrauchersicht noch am ehesten dazu geeignet, das Dilemma einer
angemessenen Anlegerberatung zu lösen. Dieses Dilemma besteht einerseits darin, dass für den Kleinanleger zu viele Informationen nicht mehr zu bewältigen
sind. Und andererseits verweisen übersichtliche Informationen dann vielleicht doch nicht auf die entscheidenden Risiken.
Ich möchte heute erneut dafür werben, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen und damit einen Fehler zu korrigieren, welcher der Großen Koalition im Rahmen der
Novellierung des Schuldverschreibungsrechts unterlief.
Damals wurde die kurze Sonderverjährungsfrist des
§ 37 a Wertpapierhandelsgesetz gestrichen. Das war zu
begrüßen, da Sonderverjährungsfristen im Kapitalmarktrecht vor allem im Hinblick auf das mit dem
Schuldrechtsmodernisierungsgesetz verfolgte Ziel der
Vereinheitlichung aller zivilrechtlichen Verjährungsfristen keine Rechtfertigung haben. Vor allem das immer
wieder ins Feld geführte Argument der Schnelllebigkeit
des Geschäftsverkehrs als besondere Gegebenheit des
Wertpapierbereichs sprach seit jeher eher für eine Verlängerung als für eine Herabsetzung der Verjährungsfristen.
Ganz konkret war die Aufhebung der kurzen Sonderverjährungsfrist von § 37 a Wertpapierhandelsgesetz
aber deshalb erfreulich, weil Schadensersatzansprüche
wegen schuldhafter Verletzung von Beratungspflichten
fortan nicht länger bereits drei Jahre nach Erwerb des
Wertpapiers, sprich regelmäßig dem Zeitpunkt der
Falschberatung, verjährten, sondern die Dreijahresfrist
erst dann zu laufen begann, wenn die Anlegerin oder der
Anleger von dem schadensbegründenden Ereignis erfuhren. Unabhängig von der Kenntnis bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis der fehlerhaften Beratung verjähren
die Ansprüche seitdem spätestens in zehn Jahren. Damit
eröffnete man Verbraucherinnen und Verbrauchern eine
faire Chance, Schadensersatzansprüche zu erkennen
und durchzusetzen. Bis dato waren die Auswirkungen einer Fehlberatung - infolge der Langfristigkeit einer
Finanzanlage - oftmals erst nach Ablauf der alten an
objektive Umstände anknüpfenden Verjährungsfrist zu
erkennen.
Ein gesetzgeberischer Fehler war es jedoch, die neue,
günstigere Verjährungsfrist lediglich für jene Anlageberatungen einzuführen, die ab dem 5. August 2009 stattfanden. Denn damit kann all jenen, die vor diesem Stichtag falsch beraten wurden, nach wie vor seitens der
Bank die kurze Sonderverjährung entgegengehalten
werden. Das heißt, dass vor allem die Verbraucherinnen
und Verbraucher, die am meisten unter den Folgen der
Finanzkrise zu leiden haben, nach wie vor einem drastischen zeitlichen Druck für die Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche ausgesetzt sind.
Revidieren kann man diesen gesetzgeberischen Fehler, indem die Verjährungsfrist für - jedenfalls heute
noch nicht verjährte - Schadensersatzansprüche aus
Falschberatung, die vor dem 5. August 2009 entstanden
sind, rückwirkend verlängert wird. Diese Korrektur bedarf keines großen Aufwandes und ist verfassungsrechtlich keinen Bedenken ausgesetzt. Sie würde jedoch Tausenden von Anlegern helfen, zu ihrem Recht zu kommen.
Denn wenn die hier in Rede stehende Änderung zum
1. Februar 2011 in Kraft treten würde, käme die günstigere kenntnisabhängige Verjährung immerhin all jenen
Ansprüchen zugute, die zwischen dem 1. Februar 2008
und dem 4. August 2009 entstanden sind.
Nun wird seitens der Koalitionsfraktionen eingewendet, dass Verbraucherinnen und Verbraucher, die innerhalb von drei Jahren nicht ihr Recht wahrgenommen haben, mögliche Falschberatungen im Wege einer Klage
überprüfen zu lassen, auch infolge einer Verjährungsverlängerung nicht klagen würden. Dem ist insofern
zuzustimmen, als dass man Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich nicht zwingen kann, ihr Recht einzufordern. Allerdings ist es Aufgabe des Parlaments, den
Ordnungsrahmen dafür zu setzen, dass die Anlegerinnen
und Anleger Beratungssituationen überhaupt gerichtlich überprüfen können.
Zudem gibt es Gründe, warum geschädigte Anlegerinnen und Anleger zunächst davon absehen, ihre Schadensersatzansprüche im Wege der Klageeinreichung
oder der Einleitung eines förmlichen Güteverfahrens zu
verfolgen. Für sie ist es infolge der hohen finanziellen
Verluste, die sich gerade aus den Falschberatungen ergeben, oftmals ein extrem hohes Risiko, die Prozesskosten aufzubringen. Deshalb verzichten sie auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche trotz des zeitlichen
Drucks und warten höchstrichterliche Entscheidungen
ab, um beurteilen zu können, ob die Chancen auf eine
erfolgreiche Schadensersatzklage das Risiko der Prozesskosten überwiegen. Das ist auch sehr verständlich
und aus den individuellen Umständen nachvollziehbar.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und ein Blick auf die Rechtsprechung zeigt, dass es
hinsichtlich der Feststellung von Pflichtverletzungen
durch Banken im Rahmen von Anlageberatungen zu den
Lehman-Zertifikaten keinerlei Tendenz gibt. Gegenteilig
spitzt sich die Rechtsunsicherheit derart zu, dass teilweise einzelne Kammern innerhalb eines Gerichtes unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten. Fraglich
ist beispielsweise nach wie vor, inwieweit die sogenannte Kick-Back-Rechtsprechung bzw. die hinter dieser
Rechtsprechung stehenden Gedanken auf die LehmanVerfahren und das Verschweigen von Gewinnmargen
Anwendung finden. Immerhin ist bezüglich dieser Frage
nunmehr die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen, der wohl im Frühsommer dieses Jahres entscheiden
wird.
Darüber hinaus wird seitens des Bundesfinanz- und
Bundesjustizministeriums argumentiert, mit einer rückwirkenden Verlängerung der Verjährungsfristen gehe
stets eine Störung des Rechtsfriedens einher. Zwar mag
es stimmen, dass jede Änderung des Verjährungsrechts
Unsicherheiten in der Rechtsanwendung mit sich bringt.
Letztlich vermag der Einwand jedoch nicht zu überzeugen. Denn es ist gleichfalls ein wichtiger Bestandteil des
Rechtsfriedens, jenen die Möglichkeit auf rechtliches
Gehör einzuräumen, die so zahlreich Opfer von Falschberatung wurden. Rechtsfrieden verlangt immer einen
Blick auf beide Seiten möglicher rechtlicher Auseinandersetzungen.
In der Gesamtschau zeigt sich zum Ersten ein offenkundiger Befund, nämlich, dass im Rahmen einer Gesetzesänderung etwas übersehen wurde. So etwas sollte
man als Gesetzgeber doch eingestehen können und eine
Korrektur ermöglichen.
Zum Zweiten besteht eine gegenwärtige Notwendigkeit, diesen Fehler zu korrigieren.
Und darüber hinaus - drittens - liegt uns die juristische Einschätzung vor, dass eine rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist noch nicht verjährter Ansprüche keinerlei rechtlichen Bedenken ausgesetzt wäre.
Insofern stellt sich die Frage, wie man diesem Gesetzentwurf überhaupt ablehnend gegenüberstehen kann.
Wer diesem Gesetzentwurf nicht folgt, kann es mit dem
Anlegerschutz nicht ernst meinen. Ein trauriges Zeugnis
wäre das vor allem für eine Koalition, die sich - dem
Koalitionsvertrag nach - dem Anlegerschutz verpflichtet fühlt.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4507, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4053 abzulehnen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung abgelehnt. Für den Gesetzentwurf
gestimmt haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und die SPD-Fraktion. Abgelehnt haben den Gesetzentwurf die Koalitionsfraktionen. Die Fraktion Die Linke
hat sich enthalten. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Damit sind wir auch schon am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
- Ich sehe, Sie bedauern das. Ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Januar 2011, um
9 Uhr, ein.
Ich schließe die Sitzung.